Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
({0})
Einen wunderschönen guten Morgen!
Ich habe gleich zu Beginn eine besonders erfreuliche
Mitteilung zu machen. Der Kollege Dr. Heinz
Riesenhuber feiert heute seinen 70. Geburtstag.
({1})
Er ist nicht nur einer der mit weitem Abstand dienstältesten, sondern darüber hinaus auch einer der nettesten und
beliebtesten Kollegen im Hause.
({2})
Diese Kombination ist schon aus statistischen Gründen
besonders selten. Deswegen möchte ich ihm zu diesem
besonderen Anlass meine persönlichen Glückwünsche
und gleichzeitig die Gratulation des ganzen Hauses aussprechen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten - - Die Verwaltung ist Gott sei Dank schnell genug, um übersehene
Ereignisse rechtzeitig nachzuholen. Ich werde nämlich
gerade darauf aufmerksam gemacht, dass die Kollegin
Petra Sitte ihren 65. Geburtstag feiert.
({3})
- Entschuldigung, es ist der 45. Geburtstag.
({4})
Frau Kollegin Sitte, wir werden ein geeignetes Verfahren
finden, um diesen Fauxpas wieder auszugleichen, zumal
dafür Wahlgänge nicht erforderlich sind.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, begrüße ich
den Kollegen Hermann Josef Scharf sehr herzlich, der
gestern für den ausgeschiedenen Kollegen Peter Müller
die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben
hat.
({5})
Ich möchte noch auf eine Änderung des zeitlichen
Ablaufs der heutigen Tagesordnung aufmerksam machen. Interfraktionell ist vereinbart, den Themenbereich
Kultur mit den Themenbereichen Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu tauschen,
({6})
gemäß der berühmten brechtschen Parole: „Erst kommt
das … “ - Sie wissen schon - „und dann die Moral.“ Ich sehe, Sie sind mit dieser Vereinbarung einverstanden. Dann verfahren wir so.
Wir setzen die Aussprache zur Regierungserklärung
der Bundeskanzlerin fort und ich rufe daher Tagesordnungspunkt 1 auf:
Regierungserklärung der Bundeskanzlerin
mit anschließender Aussprache
Ich erinnere daran, dass wir gestern für die heutige
Aussprache zehn Stunden vereinbart haben. Wir beginnen heute mit dem Bereich Wirtschaft.
Außerdem rufe ich den Zusatzpunkt 2 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Dr. Thea Dückert, Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Hongkong als Zwischenschritt einer fairen
und entwicklungsorientierten Welthandelsrunde
- Drucksache 16/86 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Michael Glos.
({8})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Ziel der Bundesregierung für diese Legislaturperiode ist eindeutig: Wir wollen, dass wieder mehr
Menschen Arbeit in Deutschland haben. Dazu brauchen
wir wirtschaftliches Wachstum. Um wirtschaftliches
Wachstum zu erzeugen, brauchen wir geeignete Rahmenbedingungen und vor allen Dingen wieder mehr Zuversicht bei den Menschen. Nur Wachstum, das über die
Beschäftigungsschwelle hinausgeht - wir hoffen, dass
die Beschäftigungsschwelle durch die Maßnahmen, die
die Bundesregierung insgesamt trifft, auf 1 Prozent gesenkt wird -, bringt neue Arbeitsplätze.
Wir müssen also dem Trend sinkender Wachstumsraten entgegentreten. Mit einem durchschnittlichen
Wachstum von 1 Prozent in den vergangenen fünf Jahren
sind wir nur halb so schnell gewachsen wie der OECDDurchschnitt. Unser Ziel ist es, das aufzuholen.
Das reicht natürlich nicht, um den Arbeitsmarkt insgesamt wieder flottzumachen. Wir müssen darüber hinaus Maßnahmen ergreifen. Diese werden wir auch im
Laufe der Legislaturperiode nacheinander angehen.
Nicht nur das, was im Koalitionsvertrag steht, wird gemacht. Ich hoffe vielmehr, dass das gute Klima, das sich
zwischen den großen politischen Kräften entwickelt hat,
dazu beiträgt, dass man mehr machen kann, und zwar
insbesondere dort, wo es kein Geld kostet.
({0})
Die größte Hypothek, gegen die wir ankämpfen müssen, ist die Tatsache, dass es bei uns im Land Zukunftspessimismus gibt. Diesen Zukunftspessimismus müssen
wir überwinden. Es geht auch darum, die öffentlichen
Haushalte zu sanieren. Denn wenn wir der jungen Generation immer mehr Schulden hinterlassen, dann schafft
das nicht Optimismus, sondern Pessimismus.
({1})
Ich bin, wie selten ein Wirtschaftsminister zu Beginn
seiner Amtszeit, in der glücklichen Lage, dass ich heute
sagen kann: Wenn das stimmt, was mir auf den Tisch geweht worden ist, dann haben wir das erste Mal seit zehn
Jahren einen November, der eine steigende Erwerbstätigkeit und keine Zunahme der Arbeitslosigkeit mit sich
gebracht hat.
({2})
- Natürlich arbeiten wir schnell, gnädige Frau.
({3})
Es hilft nichts; das müssen wir auch.
Jetzt könnte ich zwar sagen: Dieses Ergebnis lag an
dem günstigen Wetter im November, in dem es sonst oft
schon kalt ist. Aber ich erinnere mich an die Zeit nach
der ersten Wahl der rot-grünen Koalition, als der Bundeskanzler sagte, der Aufschwung, der ein Vierteljahr
vorher eingesetzt hatte, sei sein Aufschwung. Jetzt haben
wir eine breite Regierungsmehrheit. Seitdem gibt es im
Land auch einen Aufschwung.
({4})
Wir müssen insgesamt eine verlässliche Politik gestalten. Nur mit einer verlässlichen Politik, mit immer
wieder konkreten Schritten lässt sich unser Land sanieren und reformieren. Dann wird auch wieder investiert.
Das hat gestern auch Frau Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Regierungserklärung dargelegt.
Wir brauchen wieder eine solide finanzielle Basis.
Wir müssen die öffentliche Neuverschuldung 2007
unter die 3-Prozent-Grenze des Maastricht-Vertrages
drücken. Das wirkt natürlich darauf, welches Vertrauen
unserem Land entgegengebracht wird und wie sich zum
Beispiel die Zinsen bzw. das Rating deutscher Anleihen
entwickeln. Auch das ist ungeheuer wichtig für unsere
Zukunft.
Sanieren allein reicht zur Stärkung der Wachstumskräfte nicht aus. Wir brauchen auch Reformen der sozialen Sicherungssysteme. Wir müssen also weiter an der
Flexibilisierung und Verbesserung der wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen arbeiten und dabei verstärkt Maßnahmen ergreifen, die keine zusätzlichen Haushaltsmittel binden, sondern da reformieren, wo es nichts kostet.
Schließlich brauchen wir wieder mehr Investitionen.
Nur so werden wir es schaffen, die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft zu stärken. Um die
Wachstumsschwäche zu überwinden bzw. die Wachstumskräfte zu stärken, haben wir uns auf ein 25-Milliarden-Euro-Investitionspaket für die neue Legislaturperiode verständigt. Ich hoffe, dass es zu den privaten
Investitionen, die wir wieder anregen wollen, hinzukommt und dass wir damit insgesamt einen Aufschwung
erreichen.
Schon ein halbes Prozent mehr Wachstum würde zu
höheren Steuereinnahmen von 2,5 Milliarden Euro und
zu Mehreinnahmen von 2,3 Milliarden Euro jährlich bei
den Sozialversicherungssystemen führen. Hier zeigt sich
also der Zusammenhang von Wachstum und öffentlichen
Einnahmen.
Wir müssen schauen, dass die Investitionen anspringen. Deswegen enthält die Koalitionsvereinbarung steuerpolitische Anreizmaßnahmen wie zum Beispiel die
Anhebung der degressiven Abschreibung von derzeit
20 auf 30 Prozent. Das Ganze wird dann zum 1. Januar
2008 von einer Unternehmensteuerreform abgelöst, die
die Rahmenbedingungen für investierende Unternehmen
insgesamt verbessern soll.
Wir werden die Verkehrsinvestitionen in dieser Legislaturperiode um 4,3 Milliarden Euro erhöhen und verstetigen. Damit verbessern wir nicht nur die LeistungsfäBundesminister Michael Glos
higkeit unserer Verkehrssysteme, sondern stärken auch
die Nachfrage und sichern Arbeitsplätze in der Bauwirtschaft, die sich ungeheuer schwer tut.
({5})
Insgesamt erreichen wir eine Senkung der Lohnzusatzkosten um 1 Prozentpunkt. Ich glaube, das ist ein
wichtiger und richtiger Schritt.
Natürlich wollen wir die mittelständischen Unternehmen ins Zentrum unserer Wirtschaftspolitik rücken.
Deshalb starten wir eine breite Mittelstandsoffensive, die
sich, wie ich meine, sehen lassen kann.
Wir werden durch eine Änderung des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuerrechts die Unternehmensnachfolge erleichtern. Für jedes Jahr der Unternehmensfortführung soll die Erbschaftsteuerschuld für das
übertragene Unternehmen reduziert werden. Wenn das
Unternehmen mindestens zehn Jahre fortgeführt wird,
entfällt die Steuer ganz. Ich halte das für ungeheuer
wichtig, um einem Konzentrationsprozess entgegenzuwirken. Es macht keinen Sinn, wenn wir mittelständische Firmen, die oft hoch innovativ sind, bzw. deren Anteilseigner aufgrund der Schmälerung der Kapitalbasis
durch die Erbschaftsteuer zum Verkauf zwingen. Die
großen, international tätigen Konzerne oder Fonds, die
diese Firmen dann kaufen, tun dies oft nur wegen der
Marktzugangskanäle und des Know-hows. Die Arbeitsplätze landen aber letztlich anderswo. Deswegen ist der
Mittelstand immer noch der beste Garant für möglichst
viel Beschäftigung im Inland.
({6})
Um auch etwas für die kleineren Unternehmen zu tun,
werden wir im Rahmen einer Sofortmaßnahme die
Umsatzgrenze für die Istbesteuerung in den alten
Bundesländern von 125 000 Euro auf 250 000 Euro jährlich anheben. In den neuen Bundesländern werden wir
die entsprechende Regelung über das Jahr 2006 hinaus
verlängern.
({7})
Wir wollen vor allen Dingen investitionshemmende
Kapitalengpässe aus dem Weg räumen, indem wir das
Angebot an Beteiligungskapital für den breiten Mittelstand weiter ausbauen. Wir haben gestern Abend im Mittelstandsrat der Kreditanstalt für Wiederaufbau intensiv
darüber diskutiert. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau
wird entsprechende Programme dafür anbieten.
Ich meine auch, dass es ein wichtiger Schritt ist, Aufwendungen für Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen im Privathaushalt bei der Einkommensteuer
künftig begrenzt absetzbar zu machen. Wir hoffen, dass
dies zu Beschäftigung insbesondere im Handwerk und
bei den haushaltsnahen Dienstleistungen führt.
({8})
Ein Punkt, den wir in dieser Legislaturperiode verstärkt angehen müssen - das taucht immer wieder auf
wie das Ungeheuer von Loch Ness; trotzdem muss man
stetig dagegen anarbeiten -, ist der Abbau der Bürokratie. Wenn kleine Unternehmen zwischen 4 und
6 Prozent ihres Umsatzes für Bürokratie ausgeben müssen und dieses Geld dann nicht für Investitionen oder als
Gewinn zur Verfügung steht, dann läuft da etwas falsch.
Deswegen müssen die Entbürokratisierungsmaßnahmen
verstärkt werden.
({9})
Wir müssen die wachsende Überregulierung bekämpfen.
Dazu jetzt Einzelheiten auszuführen würde zu weit führen. Ich freue mich, dass dieser Bereich direkt beim Bundeskanzleramt angesiedelt sein wird, um entsprechend
Druck auf alle Ressorts ausüben zu können. Das Wirtschaftsministerium wird seinen Teil dazu beitragen.
Wir wollen ein einfacheres und moderneres Vergaberecht. Dabei werden wir insbesondere auf die mittelstandsgerechte Ausgestaltung achten, zum Beispiel auf
die Aufteilung der Lose, um die Mittelständler nicht zu
Unterauftragnehmern großer Konzerne zu machen, die
den Rahm bereits abgeschöpft haben.
Wir werden, wie es neudeutsch so schön heißt, OneStop-Anlaufstellen schaffen,
({10})
- bayerisch ist es nicht; aber in Bayern können wir zum
Teil auch Englisch -, damit Existenzgründer nicht länger
durch den Behördendschungel entmutigt werden, bevor
sie überhaupt ihre Geschäftsideen verwirklichen können.
Wir wollen vor allen Dingen auch, dass die Jugendlichen wieder mehr Chancen bekommen. Deswegen werden wir den Ausbildungspakt, den mein Vorgänger, Minister Clement, angeregt hat, weiter ausbauen und
verstärken. Denn es gibt nichts Schlimmeres, als in der
Jugend, am Beginn des Erwerbslebens, arbeitslos zu
sein.
({11})
Vor allen Dingen wollen wir natürlich vermeiden, dass
dann ansonsten staatliche Maßnahmen einsetzen. Das
kostet wieder nur Geld, verursacht Bürokratie und bringt
im Prinzip keinen weiteren Ausbildungsplatz.
Kreativität und Innovation, das sind zentrale Stichworte für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Deshalb
werden wir den Anteil der Ausgaben für Forschung und
Entwicklung bis 2010 in kontinuierlichen Schritten auf
mindestens 3 Prozent des Bruttosozialproduktes anheben. Bisher sind wir bei zweieinhalb Prozent. Auch das
ist eine gewaltige Anstrengung in Zeiten, in denen die
öffentlichen Mittel sehr knapp sind. Ich glaube, das ist
ganz wichtig.
Ein erster Aufgabenbereich, bei dem dies zur Anwendung gebracht werden soll, kommt schon am Wochenende auf mich zu - Frau Bulmahn hat das Ganze noch in
die Wege geleitet; inzwischen liegt die Raumfahrt in der
Zuständigkeit des Wirtschaftministers -: Es ist die ESA176
Konferenz. Für die, die es nicht wissen: Das heißt European Space Agency.
({12})
- Schauen Sie, wir Bayern können Englisch.
({13})
Außerdem bin ich Franke.
Das ist ein Beispiel für die Verpflichtungen, die zu erfüllen sind. Dies umfasst vielleicht ein paar kleine neue
Beteiligungen an Hochtechnologieprogrammen, die wir
als Europäer nicht nur den Amerikanern oder Chinesen
überlassen dürfen. Dass es überhaupt wieder möglich
wird, etwas zu zeichnen, hängt damit zusammen, dass
wir natürlich die Erhöhung der Forschungsmittel einplanen, die dann nicht nur dem Forschungsministerium,
sondern auch dem Wirtschaftsministerium zugute kommen.
({14})
Es geht nicht um Ressortegoismus, sondern es geht darum, unser Land insgesamt weiterzubringen.
Wir brauchen auch Leuchtturmprojekte, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Technologiestandortes ({15})
- Herr Kuhn, ich nehme Ihren Zwischenruf gleich auf Deutschland und damit auch Bayern stärken. Ich freue
mich, dass Herr Kuhn immer wieder auf Bayern hinweist. Er hat Angst, ich würde es vergessen. Aber ich bin
deutscher Wirtschaftsminister und habe mich natürlich
in allererster Linie um die deutsche Wirtschaft zu kümmern. Die Bayern sind so tüchtig, dass sie das immer
schon selber getan haben.
({16})
Ich sprach über Leuchtturmprojekte. Damit habe ich
nicht nur den bayerischen Wirtschaftsminister gemeint,
sondern den Bau einer Referenzstrecke des Transrapid.
Die Bayern sollen nicht alle nach China fliegen müssen,
um ein Stück im Transrapid zu fahren, so wie ich das in
Schanghai einmal getan habe.
Wir wollen die Brennstoffzellentechnologie weiterentwickeln und wir wollen vor allen Dingen auch die
Entwicklung von konventionellen, hocheffizienten
Kraftwerken mit dem Ziel der Nullemission vorantreiben. Ich glaube, das ist gerade in einem Land, in dem
sehr viele Kohle verstromt wird, sehr wichtig.
Wir werden insbesondere in den Bereichen Bio- und
Gentechnik, Informations- und Kommunikationstechnologie, Chemie, Medizin und Pharmazie sowie Energie
und Verkehr die Rahmenbedingungen innovationsfreundlicher gestalten. Es muss Schluss damit sein, dass
durch Technikfeindlichkeit Forschung und Arbeitsplätze
aus Deutschland in Konkurrenzländer vertrieben werden.
({17})
Wir wissen auch, dass junge und besonders innovative
Technologieunternehmen oft nicht über die ausreichenden Sicherheiten verfügen, um ihre Ziele zu verwirklichen. Deswegen müssen wir Anreize für Risikokapital
schaffen, um dies zu unterstützen. In der Koalitionsvereinbarung steht, dass wir diese verbessern werden. Daran
wird rasch gearbeitet. Auch die Kreditanstalt für Wiederaufbau hat zugesagt, sich hier einzubringen.
Lassen Sie mich noch ein Wort zur Energiepolitik sagen. Die jüngste Entwicklung auf den Energiemärkten hat uns drastisch vor Augen geführt, wie eng die
Verbindung zwischen Energie und Wachstum ist. Wir
wissen auch, dass hohe Energiepreise die realen Einkommen reduzieren, dass sie die Möglichkeiten für andere Ausgaben einschränken und dass sie vor allen Dingen ein Produktionskostenfaktor für die Wirtschaft sind.
Auch die Energiepolitik muss sich insbesondere diesem
Wachstumsziel, das wir erreichen wollen, anpassen. Wir
setzen große Hoffnungen in die neu erfolgte Regulierung
des Strom- und Gasmarktes, um auf die Netzentgelte
und damit auch auf die Preise Druck zu ermöglichen.
Ich werde in der kommenden Woche nach Russland
reisen, um beim ersten Spatenstich für die neue Erdgaspipeline dabei zu sein, die gebaut werden muss, weil wir
unsere Rohstoffversorgung auch langfristig sichern müssen. Das Erdgas aus Russland gehört ganz sicher dazu.
Insofern gibt es auch ein Stück Kontinuität in der Politik
mit Russland.
({18})
Zum Beispiel habe ich meinen russischen Kollegen Gref
auch schon in Hamburg getroffen, wo sich EADS bemüht, auch Russland in die Airbus-Kooperation einzubeziehen.
Ich bin besonders dankbar, dass ich jetzt wieder für
die Luft- und Raumfahrt und somit auch für Airbus zuständig bin. Denn am Beginn meiner parlamentarischen
Laufbahn stand die Berichterstattung für das Wirtschaftsministerium im Haushaltsausschuss und die
Durchsetzung der Entscheidung für die ersten Airbusse.
Dann einmal ein solches Flugzeug, einen Airbus wie den
A 380, zu sehen und zu erleben, das war für mich schon
ein bewegender Augenblick, wenn ich das einmal sagen
darf.
({19})
Wir müssen bei solchen Projekten vorne mit dabei sein;
oft haben sie ja erst nach Jahren oder Jahrzehnten zur
Folge, dass in Deutschland neue Arbeitsplätze entstehen.
Vor allen Dingen wollen wir auch unsere Außenwirtschaftspolitik vorantreiben, mit den Zielen der Schaffung weltweit offener Märkte und der Herstellung von
Chancengleichheit für deutsche Unternehmen im internationalen Wettbewerb. Das dient auch dem Ziel, den
Entwicklungsländern weiterhin zu helfen. Deswegen
hoffe ich, dass auf der WTO-Konferenz in Hongkong
entsprechende Vereinbarungen getroffen werden. Dafür
werde ich mich gemeinsam mit vielen Kolleginnen und
Kollegen einsetzen, auch wenn ich persönlich leider
nicht so lange dort bleiben kann.
Natürlich ist es auch sehr wichtig, dass wir die Exportkreditgarantien für deutsche Lieferungen und die
Garantien für deutsche Investitionen im Ausland dort
weiterführen, wo sie - dadurch, dass wir Kunden gewinnen - bei uns für Beschäftigung sorgen.
In Europa gibt es ungeheuer viel zu tun. Es ginge zu
weit, jetzt über die Dienstleistungsrichtlinie zu diskutieren. Dieses Thema haben wir im Koalitionsvertrag niedergelegt; es wird noch sehr intensive Arbeit erfordern.
Allerdings denke ich, dass wir bei der Zusammenarbeit
zwischen dem Wirtschaftsministerium und dem Umweltministerium - hierfür bedanke ich mich beim Kollegen Gabriel - auf erste Erfolge verweisen können.
Ich glaube, dass wir im Zusammenhang mit der Chemikalienrichtlinie REACH, nachdem sich an einem Tag
der Wirtschaftsminister und am nächsten Tag der Umweltminister darum gekümmert haben, auf einem sehr
guten Weg sind, um eine Lösung zu finden, die sowohl
dem berechtigten Interesse an Verbraucherschutz als
auch der Wettbewerbsfähigkeit unserer Chemieunternehmen dient. Auch hier wird es, wenn die britische Präsidentschaft dieses Vorhaben noch vorantreibt, bald zu
einem guten Abschluss kommen.
Zum Schluss möchte ich Folgendes sagen: Wir müssen die Eigeninitiative stärken und den Ordnungsrahmen, der unsere Wirtschaftspolitik in Sachen soziale
Marktwirtschaft von Beginn an getragen hat, wieder ausbauen, damit in viele Vorhaben, die anstehen, Ordnungspolitik hineingetragen wird. Dazu möchte ich gerne beitragen.
Ganz zum Schluss möchte ich darum bitten - dazu
fordere ich auch die Verbände der Wirtschaft und die
Manager auf -, unser Land nicht nur schlecht zu reden
und so zu tun, als stünden immer Tarifverhandlungen an.
({20})
Je schlimmer man eine Lage darstellt, desto besser - so
wird es erwartet - soll letztlich der Abschluss sein, je
nachdem, für welche Seite.
({21})
Abschließend möchte ich - das wird mir noch gestattet sein - den Bundespräsidenten zitieren. Ich habe gestern eine Agenturmeldung gelesen, nach der er unter anderem gesagt hat, das Motto der Koalitionsvereinbarung
„Gemeinsam für Deutschland - mit Mut und Menschlichkeit“ solle alle angehen. Er hat vor allen Dingen darauf hingewiesen, dass er von den Wirtschaftsführern
das notwendige Einfühlungsvermögen erwarte, wo der
verdiente Lohn des Tüchtigen ende und wo die pure Gier
beginne, und hat gesagt, das solle man sich - man darf
den Bundespräsidenten ja zitieren; ich hätte mich das gar
nicht so zu sagen getraut - auch einmal hinter die Ohren
schreiben.
({22})
Wenn wir alle wieder zusammenhalten - und mit
„alle“ meine ich die Großen und die Kleinen, die Starken
vor allen Dingen, aber auch die Schwächeren -, damit
unser Land insgesamt wieder weitergebracht wird, dann
wird diese Koalition Erfolg haben.
Danke schön.
({23})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Brüderle,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
möchte ich Ihnen, Herr Minister Glos, zu Ihrer Ernennung zum Bundeswirtschaftsminister gratulieren und im
Interesse des Landes alles Gute und viel Erfolg wünschen. Ich schätze Sie persönlich sehr. Aber Koalitionsvertrag, Regierungserklärung und Ihre Ausführungen erfordern klare Worte der Opposition.
Zunächst einmal zu den Arbeitsmarktzahlen. Die
Zahl der Arbeitslosen ist gegenüber dem Vormonat um
25 000 gesunken, gegenüber dem Vorjahr aber um
274 000 gestiegen. Hier hat sich eine Tradition fortgesetzt; die Sozialdemokratisierung geht weiter: Die Statistik wurde geändert und fünf Tage vorgezogen, sodass
das schlechte Wetter nicht berücksichtigt wird. Von Entspannung oder Tendenzwende kann also keine Rede
sein.
({0})
Im Übrigen kann ich Ihnen sagen, dass das Wachstum
im dritten Quartal ein Stück besser war. Das war die Periode, wo wir faktisch keine Regierung hatten.
({1})
Daraus resultiert der Hinweis: Halten Sie sich raus aus
der Wirtschaft, geben Sie der Wirtschaft eine Chance,
sich entfalten zu können!
({2})
Es stellt sich die Frage: Wo ist das wirtschaftspolitische Leitmotiv dieser Regierung? Es ist weit und breit
nichts zu sehen; es muss ja mehr sein als die Konkursverwaltung von Rot-Grün. Rot-Grün hat bewiesen, dass
sie es nicht können. Will es die CDU jetzt ebenfalls beweisen?
({3})
Die Regierung bekennt sich in ihrem Koalitionsvertrag dazu, die Fundamente der sozialen Marktwirtschaft
zu stärken. Das ist lobenswert; nur so kommen wir zu
mehr Wachstum und Beschäftigung. Doch die Vorstellungen, die die Regierung äußert, zeigen deutlich: Diese
Absichtserklärung ist ein Lippenbekenntnis. Im Wahlkampf hat Frau Merkel die deutsche Maggie Thatcher
gespielt; jetzt spielt sie die Frau Holle, die überall weiße
Flocken auf die Problemfelder streut.
({4})
Wenn der Inhalt des Koalitionsvertrags umgesetzt wird,
wird die Marktwirtschaft nicht gestärkt, im Gegenteil:
Sie wird geschwächt. Die geplanten Steuererhöhungen
entspringen einer übertriebenen Staatsgläubigkeit. Haushaltssanierung ist nicht zu beanstanden, im Gegenteil:
Sie ist dringend notwendig. Aber die Bundesregierung
sollte auf der Ausgabenseite sparen, statt zusätzliche
Steuern wie die so genannte Reichensteuer zu erfinden.
Damit leistet sie nur der Kapitalflucht ins Ausland Vorschub. Das Geld brauchen wir aber in Deutschland, es
muss hier investiert werden.
({5})
Es gab doch einen ganz primitiven Kuhhandel: Gibst du
mir meine Mehrwertsteuer, bekommst du deine Reichensteuer; schluckst du meine Kröte, schluck ich deine.
Aber das ist keine Strategie für mehr Wachstum. Mehr
Steuern ist immer ein Weniger an Freiheit: weil ich weniger über die Verwendung dessen, was ich mir selbst
hart erarbeite, entscheiden kann, sondern andere an meiner Stelle entscheiden, was damit geschieht. Das ist ein
Abbau von Freiheit und nicht ein Mehr an Freiheit!
({6})
Trotz der derzeitigen Staatsquote in Deutschland
maßt sich der Staat erneut an, dem Bürger tiefer in die
Tasche zu greifen. Wir müssten weniger statt mehr
Staatseingriffe haben. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer ist das Gegenteil. Herr Glos sprach von einer Offensive für den Mittelstand. „Offensive“ bedeutet Angriff - und das klingt nicht nur so: Die Erhöhung der
Mehrwertsteuer ist ein Angriff auf den deutschen Mittelstand.
({7})
Über die Verteilungswirkung der Mehrwertsteuer ist
viel gesagt worden; aber einen Aspekt hat man bisher
ausgeblendet, nämlich die Wirkung einer Mehrwertsteuererhöhung auf die Preisstabilität und die Beschäftigung.
Wenn die Unternehmen die Steuererhöhung auf die
Preise aufschlagen können, handeln wir uns Zweitrundeneffekte ein: Die Gewerkschaften haben schon angekündigt, höhere Löhne zu fordern, um kommende Preiserhöhungen zu kompensieren. Schon die Erwartung
einer höheren Inflation heizt Preissteigerungen an. Eine
Folge davon sind letztlich auch höhere Zinsen.
({8})
Ich kann, so wie Herr Juncker, die Bundesregierung nur
davor warnen, zu versuchen, Druck auf die Europäische
Zentralbank auszuüben.
Hält die gegenwärtige Konsumflaute an - das vermute ich -, dann können die Unternehmen die Mehrwertsteuererhöhung nicht auf die Abnehmer abwälzen.
Dadurch verschlechtert sich die Gewinnsituation der Unternehmen. Der Mittelstand hat aber keine Polster, über
die er das abfangen und so verkraften könnte. Die Steuererhöhung wird, da sie die Gewinne mindert, zum Abbau
von Arbeitsplätzen führen. Diese Mehrwertsteuererhöhung wird zu einer stärkeren Preiserhöhung und weniger
Beschäftigung führen. Das ist also kein Programm für
mehr Wachstum und Beschäftigung, das ist ein Programm zur Verhinderung von Wachstum und Beschäftigung.
({9})
Die Schätzungen seitens der OECD bezüglich des Preiseffekts schwanken zwischen 0,6 Prozent bis 2 Prozent.
Das ist jedenfalls kein Beitrag, um Deutschland voranzubringen.
Sie wagen ein sehr gefährliches Experiment. Sie arbeiten, salopp formuliert, ein Jahr nach Keynes, greifen
also nicht ein - schließlich stehen ja auch acht Wahlen
an -, und danach nach Brüning. Das kann keine erfolgreiche Strategie sein. Wir haben in Deutschland im Kern
strukturelle Probleme. Diese kann man nicht mit einem
keynesianischen Ansatz bewältigen. Sie legen eine
Roadmap vor, die ein Strohfeuer entfachen, aber nicht
zur Überwindung unserer Probleme beitragen wird.
({10})
Die Japaner haben 1997 etwas Ähnliches gemacht
wie das, was Sie jetzt vorhaben. Damals hat die Regierung Hashimoto kräftig die Mehrwertsteuer erhöht, um
den Haushalt zu sanieren. Die Folge waren Jahre der
Stagnation. Es folgte eine der schlechtesten Phasen für
die japanische Volkswirtschaft.
({11})
Das kann nicht das Vorbild sein. Im Gegenteil: Das muss
abschrecken. Sie sollten Ihre Strategie überdenken, erst
mit Ansätzen nach Keynes anzufangen, um dann mit
Ansätzen nach Brüning den Haushalt zu sanieren.
Es gibt im Koalitionsvertrag kein Kapitel über Subventionsabbau. Stattdessen findet sich dort ein Bekenntnis zur Fortsetzung der Steinkohlesubventionen.
15 Milliarden Euro echte Einsparungen und 150 Milliarden Euro zusätzliche Steuererhöhungen bis 2009 bedeuten alles andere als eine Stärkung der Marktwirtschaft,
alles andere als mehr Freiheit. Es bedeutet das Gegenteil
davon.
({12})
Die Freiheit der Unternehmen zu stärken, hieße,
Güter- und Faktormärkte zu flexibilisieren, vor allem
den Arbeitsmarkt. Was Sie im Bereich des Kündigungsschutzes machen, ist Augenwischerei. Schon bisher
konnte die Probezeit bis zu 24 Monate dauern. Jetzt geben Sie dem einen neuen Titel. Das ist faktisch keine
Veränderung.
Die Philosophie dieser Regierung ist eher, Märkte abzuschotten, anstatt sie zu liberalisieren. Die Entsenderichtlinie auf Gebäudereiniger auszudehnen, ist ein Beispiel dafür. Die europäische Dienstleistungsrichtlinie
ist der Koalition suspekt. Der europäische Binnenmarkt
könnte ja zu mehr Wettbewerb führen. Der SPD wäre
eine Dienstleistungsverhinderungsrichtlinie lieber, sie
könnte auch gleich eine Wirtschaftsverhinderungsrichtlinie fordern. Als Exportweltmeister sind wir auf offene
Weltmärkte angewiesen. Diese nutzen wir gern. Wir
können uns aber nicht mit einer Dienstleistungsrichtlinie
von den Dienstleistungsmärkten abschotten.
Ebenso suspekt sind der Bundesregierung unterschiedliche Steuersätze in Europa. Gegenüber Ländern, die das marktwirtschaftliche Prinzip verstanden
haben, den Vorwurf des Steuerdumpings zu erheben, ist
absurd. Statt selbst besser zu werden, sollen andere
schlechter werden. Nein, wir müssen bei uns die Dinge
in Ordnung bringen, damit wir bessere Wettbewerbschancen haben.
({13})
Dies alles atmet den Geist von Mindestlöhnen, Reglementierung, Abschottung und Unfreiheit. Marktwirtschaft ist etwas anderes. Mehr Freiheit zu wagen, wie
die Bundeskanzlerin angekündigt hat, sieht anders aus.
Aber ihr fehlt es offenbar an marktwirtschaftlichen
Ideen. Für Anfang 2006, rechtzeitig vor den drei Landtagswahlen, wird ein Energiegipfel angekündigt; das ist
wahrscheinlich ein Beitrag zum Wahlkampf.
Wettbewerb ist anstrengend. Deshalb ist dieses
Thema im Koalitionsvertrag wohl auch mit keinem Kapitel bedacht. Dass die CDU, die sich so oft auf Ludwig
Erhard beruft, darauf verzichtet, wundert mich. Mit dem
Bekenntnis zum Wettbewerb ist es im Koalitionsvertrag
nicht weit her. Wenn Sie von Wettbewerb sprechen, dann
meinen Sie Industriepolitik und Markteingriffe. Das gilt
für erneuerbare Energien, für den europäischen Binnenmarkt und natürlich für die Lex Telekom. Ich halte es für
skandalös, wenn der Telekom im Koalitionsvertrag versprochen wird, die vorhandenen und die noch zu erstellenden Breitbandtelekommunikationsnetze für einen gewissen Zeitraum aus der Regulierung herauszunehmen.
Dadurch wird ein Sonderkartellrecht geschaffen. Wo
sind wir denn? Bekommt jeder nach Hausmannsart was
gebacken? Morgen wird dem Nächsten eine Sonderposition von dieser Regierung gewährt.
({14})
Die Bundesregierung leidet an einer Machbarkeitsillusion. Sie glaubt, sie könne den Erfolg für die Wirtschaft machen. Sie wissen offenbar genau, welche Branchen Zukunftsbranchen sind, in denen künftig mehr
Geld verdient werden kann. Sie reden von den Leuchtturmprojekten und hoch innovativen Bereichen. Das
muss über den Markt ermittelt werden. Das weiß der
Staat nicht besser als die Wirtschaftsunternehmen, die
jeden Tag draußen an der Front sind.
Sie sind auch nicht konsequent. Bei dem 25-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm geht es in weiten Teilen um ganz andere Bereiche und kaum um Technologieförderung. Es geht um die steuerliche Absetzbarkeit von
Handwerkerrechnungen und haushaltsnahen Dienstleistungen sowie um Gebäudesanierungsprogramme. Das ist
kein Beschäftigungsprogramm, das ist ein Besänftigungsprogramm, um die Wirkung der katastrophal hohen Steuererhöhung zu verdecken. Damit kommen wir
auch nicht voran.
({15})
Wir brauchen mehr Investitionen. Die staatliche Investitionslenkung passt nicht in den Instrumentenkasten
einer Marktwirtschaft. Monopole und Kartelle stehen
nicht im Ruf, besonders innovativ zu sein. Im Bereich
der Energiewirtschaft hat Rot-Grün die Fusion von Eon
und Ruhrgas genehmigt, deren Marktanteil nun 87 Prozent beträgt. Dann beklagte sich der frühere Kanzler
auch noch darüber, dass die Gaspreise steigen! Bereits in
der zweiten Stunde der Einführung in die Volkswirtschaft wird an der Volkshochschule in Mainz-Süd gelehrt, dass Monopolpreise höher als Wettbewerbspreise
sind. Hier liegt ein Teil der Schwierigkeiten. Die Monopolisierung und Kartellierung der deutschen Wirtschaft
sind falsche Wege; auf diesen kommen wir nicht voran.
({16})
Wir leben nämlich nicht primär von den Großkonzernen, sondern vom Mittelstand.
Sie wollen die Abschreibungsbedingungen für zwei
Jahre verbessern. Das belebt die Konjunktur doch nicht
langfristig. Damit werden die Ausgaben jetzt von diesem
ins nächste Jahr geschoben und im nächsten Jahr vorgezogen. Das alles haben wir schon gehabt. Das ist doch
keine dauerhafte Politik. Das sind keine verlässlichen
Rahmenbedingungen. Das ist auch kein Beitrag zum Abbau von Bürokratie, das ist ein Zuwachs an Bürokratie,
eine Verkomplizierung. Man muss über Zuschüsse und
Abschreibungen strategisch entscheiden, anstatt nüchtern rechnen zu können. Das ist Ihr Fehler.
({17})
Auch der Sachverständigenrat sagt, dass eine umfassende Unternehmensteuerreform, durch die Freiräume
geschaffen werden - nicht erst 2008, sondern jetzt -,
eine Reform des Arbeitsmarktes und die Umstrukturierung der sozialen Sicherungssysteme nötig wären. Hier
machen Sie nichts. Zeitmangel war es nicht. Sie sind
sich nicht einig und wissen nicht, was Sie gemeinsam
wollen. Ich kann mir auch nur schlecht einen Kompromiss zwischen der Bürgerversicherung und der Kopfpauschale vorstellen. Am besten wäre es, Sie würden unser Modell des Wettbewerbs nehmen, aber ich fürchte,
dass Sie dazu nicht den Mut haben.
({18})
Herr Minister Glos, Aufgabe eines Wirtschaftsministers ist es, das ordnungspolitische Gewissen einer Regierung zu sein. Ludwig Erhard hat betont: Der Wirtschaftsminister muss Mut zum Widerstand haben. Herr
Minister Glos, diesen Mut werden Sie gegenüber Ihren
Kabinettskollegen ausgiebig gebrauchen müssen, wenn
Ihnen die deutsche Wirtschaft am Herzen liegt. Wenn
Sie mutig sind, sind wir an Ihrer Seite. Als Girlande einer falschen Politik geben wir uns nicht her. Ordnungspolitisch müssen Sie klotzen und nicht kleckern, sonst
bleiben Sie unter der Aufbruchschwelle.
Das merkelsche Trippelschritttheorem ist falsch.
Seit Paracelsus weiß man: Wenn die Dosierung nicht
stimmt, gibt es keine Wirkung. Deutschland darf kein
Versuchskaninchen für Trippelschritte sein, sondern benötigt eine mutige Politik, durch die die Situation verändert wird, damit sich die Wachstumsgeschwindigkeit erhöht.
Unsere Probleme sind seit Jahren bekannt. Sie werden
nicht angepackt. Diese minimale Konsenslösung der
großen Koalition aus einer sozialdemokratischen Fraktion und einer sozialdemokratisierten Fraktion führt natürlich nicht dazu, dass es zu einem neuen Denken
kommt. Sie setzen die falsche Politik ein bisschen modifiziert und rhetorisch breit gestärkt fort. Wenn wir nicht
den Mut zu Veränderungen haben, kommen wir nicht
voran.
Herr Kollege Brüderle.
Durch die Regierungserklärung wurde schwarz auf
weiß gezeigt: Schwarz-Rot schafft es nicht.
Vielen Dank, Herr Präsident.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Ludwig Stiegler für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
wirklich fast wie eine List der Geschichte, nach Herrn
Brüderle reden zu dürfen.
({0})
Selbst diejenigen, die bei uns die neue Liebe zu den
neuen Partnern noch nicht vollständig entdeckt haben,
wissen nach der Rede von Herrn Brüderle, dass es doch
besser ist, in dieser Formation zu arbeiten, als eine andere Kombination zu erleiden.
({1})
Man stelle sich einmal vor, Herr Brüderle und Herr
Merz würden durch die Arbeitnehmerlandschaft dieses
Landes reisen. Da sind wir schon froh, dass wir im Dreischritt den Menschen ihre Freiheit und ihre Freiheitsrechte durch soziale Sicherheit erhalten können.
({2})
- So entstehen neue Freundschaften. Herr Brüderle, Sie
sind der reinste Stifter.
({3})
Wir wollen eine starke Wirtschaft, wie Franz
Müntefering nie zu erwähnen vergisst, aber eben auch
den sozialen Zusammenhalt. Herr Brüderle, die Arbeitsmarktreformen, die Sie anmahnen, sind nichts anderes
als eine Rechtlosstellung der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer.
({4})
Wir werden in dieser großen Koalition viel dafür tun,
dass sich die Wirtschaft entwickeln kann, aber wir werden auch dafür sorgen, dass die Menschen daran ihren
fairen Anteil haben. Herr Brüderle, Sie sollten in sozialdemokratischer Gesellschaft bleiben. Dann verhalten Sie
sich ordentlich.
({5})
Schon die Startvereinbarungen zu den Koalitionsverhandlungen beinhalteten das Bekenntnis zur Tarifautonomie, die Erhaltung der Steuerfreiheit der Sonntags-, Schicht- und Nachtarbeit,
({6})
die Konzentration auf Forschung und Entwicklung sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das ist
eine ganz entscheidende Weichenstellung. Diese Koalition wird eben beide Seiten der Medaille berücksichtigen: eine starke Wirtschaft und eine faire Beteiligung
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({7})
Gerade angesichts der Eingangsdaten, die der Minister und auch Herr Brüderle genannt haben, danken wir
durchaus Wolfgang Clement,
({8})
unserem früheren Bundeswirtschaftsminister, für die
Rahmenbedingungen, die er geschaffen hat. Ein Beispiel
ist das Energiewirtschaftsgesetz. Der Wettbewerb, Herr
Brüderle, den Sie gefordert haben, ist darin bereits installiert worden. Dafür danken wir Wolfgang Clement.
({9})
Der Minister hat sich zu den internationalen Themen
nur sehr zurückhaltend geäußert. Wir werden uns mit der
Konzentration der Europazuständigkeiten auf das
Wirtschaftsministerium auf eine enge parlamentarische
Zusammenarbeit einstellen. Dabei beziehen wir uns auf
die Vereinbarungen zum Zusammenarbeitsgesetz. Wir
gehen schon davon aus, dass wir bereits drei Monate vor
und nicht drei Monate nach den Ereignissen informiert
werden und dass die Zusammenarbeit hier funktioniert.
Wir haben bei der Dienstleistungsrichtlinie die notwendigen Grundvereinbarungen erzielt. Herr Brüderle,
ich wette, dass Sie dann, wenn Sie vor Handwerkern,
wie etwa Fliesenlegern, in Rheinland-Pfalz reden, nicht
so über die Dienstleistungsrichtlinie reden, wie Sie das
hier eben getan haben.
({10})
Ich sage Ihnen: Wir wollen europäische Dienstleistungen, aber - in Bayern sagt man: Die kleinen Leute dürfen nicht immer das Bummerl sein - die Umsetzung der
Richtlinie darf nicht auf Kosten der breiten Schichten
geschehen.
Wir werden eine Menge über Wettbewerbspolitik zu
reden haben. Der Minister hat das nur zart angedeutet.
Zum Thema Pressefusion: Man sollte nicht schon von einer Ministererlaubnis reden oder über eine solche spekulieren, bevor überhaupt das Bundeskartellamt und die
KEK die Probleme angepackt haben. Wecken Sie hier
also keine falschen Erwartungen!
({11})
Wir sollten gerade vor dem Hintergrund der aktuellen
Ereignisse hinsichtlich der Stromversorgung darauf
drängen, dass die Anreizregulierung beschleunigt umgesetzt wird. Im Rahmen einer vernünftigen Anreizregulierung werden die großen Energieversorger Rücklagen
oder Rückstellungen für solche Katastrophenereignisse
bilden müssen. Selbst wenn nach der gegenwärtigen
Rechtslage noch keine Haftung besteht, darf ein großes
Unternehmen seine Abnehmer in der Stunde der Not
nicht im Stich lassen. Es ist die Zeit der Kulanz und des
Entgegenkommens. Das rufe ich den großen Energieversorgern zu.
({12})
Wir werden gemeinsam mit den beteiligten Ländern
die Kohlevereinbarungen angehen müssen. Der Minister hat das zwar noch nicht so deutlich angesprochen,
aber ich denke, da gibt es noch einige schwarze Warzen
auf der Kröte; das Thema ist noch zu bearbeiten. Aber
Franz Müntefering sagt schließlich immer, Schwarz sei
ein besonders dunkles Rot. Insofern gibt es einen dialektischen Übergang von der einen Seite zur anderen. Lassen Sie uns also dieses Thema angehen.
Zur Bürokratie wird der Kollege Rainer Wend das
Notwendige sagen. Selbstverständlich - darin stimmen
wir dem Minister zu - werden wir im Wirtschaftsbereich
dem Kanzleramt freudig zuarbeiten, wenn es darum
geht, die kleinen und mittleren Unternehmen und die
Wirtschaft insgesamt von Bürokratielasten zu befreien.
({13})
Herr Brüderle hat uns vorgeworfen, wir würden
nächstes Jahr Politik nach Keynes und ab dem übernächsten Jahr eine Politik wie seinerzeit Brüning machen. Mit Keynes mögen Sie noch Recht haben. Aber
wenn Sie die Haushaltsplanung für die Jahre danach mit
der Politik Brünings gleichstellen, dann empfehle ich Ihnen, die Wirtschaftsgeschichte nachzulesen. Dieser Vergleich klingt ad hominem gut, aber wenn Sie sich in Erinnerung rufen, was Meister Brüning wirklich getan hat
und was wir vorhaben, dann merken Sie, dass dieser Vergleich zwar schön klingt und dass man ihn in einer
Narrhalla-Sitzung als Knaller bringen könnte, dass er
aber die ökonomische Lage nicht richtig abbildet.
({14})
Alle, die kritisiert haben, wie wir nächstes Jahr die
Wirtschaft ankurbeln werden, und die gemeint haben, es
liege ein Verstoß gegen Art. 115 des Grundgesetzes vor,
erinnere ich auch an Art. 109: Bund, Länder und Gemeinden haben bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts
Rechnung zu tragen. Insofern ist die Haushaltswirtschaft
im nächsten Jahr gerechtfertigt.
Herr Brüderle, wenn wir Ihrem Rezept folgen würden, mit beiden Beinen auf die Bremse zu treten, dann
würden Sie hier die Opfer beklagen. Es geht aber nicht
an, dass Sie hier zuerst mit den Jägern jagen und anschließend mit den Hasen flüchten. Sie müssen schon
eine einheitliche Linie verfolgen.
({15})
- Es ist wirklich toll, dass Herr Brüderle vor mir geredet
hat. So kann ich meine neuen Freunde immer wieder erfreuen. Das ist wirklich eine Erleichterung der rhetorischen Situation.
Wir gestalten mit der energetischen Gebäudesanierung eine langfristige Strukturpolitik. Das hilft den Verbrauchern, der Umwelt, dem Handwerk und dem Mittelstand. Diese Programme werden mit einem Volumen
von 10 bis 15 Milliarden Euro Impulse setzen, die uns
langfristig wirtschaftlich gut tun werden. Sie werden
auch bei Herrn Ramsauer wirken, der noch so skeptisch
blickt.
({16})
Aber selbst Mühlen kann man damit energetisch sanieren.
({17})
Wir werden den Privathaushalt als Arbeitgeber
weiterentwickeln. Auch das ist ein großes Projekt.
({18})
- Gut, aber Sie wissen, dass man dann endlich Fortschritte erzielt hat. Wir beschreiten den richtigen Weg,
den Haushalt als Arbeitgeber zu entwickeln und die Absetzbarkeit von Handwerksdienstleistungen als Mittel
zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und zur Förderung
des Handwerks einzusetzen. Haus, Hof und Garten als
neues Dienstleistungszentrum - das hilft uns gewaltig.
({19})
Wir haben mit dem Abbau und der Stabilisierung der
Lohnnebenkosten wichtige Schritte unternommen. Zur
öffentlich-privaten Partnerschaft wird Rainer Wend noch
einiges ausführen, zum Thema Tourismus die Kollegin
Faße. Wir haben mit der Verlängerung der Investitionszulage eine wichtige Weichenstellung für die Förderung
des Aufbaus Ost gesetzt. Herr Brüderle, die Zeichen
stehen also auf Wachstum. Steigen Sie ein und fahren
Sie mit!
({20})
- Sie wissen ja, wie es dem ungläubigen Thomas ergangen ist.
Wir haben gute Chancen auf mehr Wachstum und Beschäftigung. Gleichwohl müssen wir die langfristige Investitionsfähigkeit und Investitionstätigkeit der kleinen
und mittleren Unternehmen verbessern. Um an Karl
Schiller zu erinnern, der zu Beginn der ersten großen
Koalition einmal gesagt hat: Die Pferde müssen wieder
saufen. - Damals hatten die Pferde kein Wasser in der
Tränke. Nun stehen die großen Pferde bis zum Hals im
Wasser, saufen aber nicht, während die kleinen nicht genügend haben. Wir fordern Banken und Sparkassen auf,
die Kreditversorgung der kleinen und mittleren Unternehmen so zu gestalten, dass eine breite, nachholende Investitionstätigkeit des Mittelstandes erreicht
wird.
({21})
- Das war erst später. Zu diesem Zeitpunkt war der Aufschwung schon da und musste bereits gebremst werden.
Sie sind wie immer zeitlich nicht auf der Höhe. Wir sind
erst am Beginn der zweiten großen Koalition und nicht
schon in der Zeit, in der wir den Aufschwung bremsen
müssen. Wir wünschen uns, dass wir dorthin kommen.
({22})
Wir werden alles zur Verbesserung der Eigenkapitalausstattung der kleinen und mittleren Unternehmen tun.
Wir werden daran arbeiten, dass die Bundesrepublik
Deutschland der Weltausstatter bleibt. Deshalb werden
wir Forschung und Entwicklung sowie den Technologietransfer fördern, die ganze Bildungskette erneuern und,
wie gesagt, vor allem die Finanzierungsgrundlagen der
kleinen und mittleren Unternehmen verbessern. Es müssen nicht immer amerikanische Pensionsfonds Unternehmen in Deutschland kaufen. Vielmehr gibt es auch in
Deutschland genügend Geld, um die Unternehmen, die
unserer Volkswirtschaft dienen, zu fördern und mit den
notwendigen Mitteln auszustatten. Lasst uns daran arbeiten! Dann kommt der Aufschwung und dann werden wir
eines Tages wieder bremsen müssen.
Glückauf!
({23})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Oskar Lafontaine,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In vielen Debatten über die Wirtschaftspolitik der
Bundesrepublik stand der jeweilige Vertreter der Regierung hier am Pult und erklärte: Unser wichtigstes Ziel
ist, die Arbeitslosigkeit abzubauen, die Beschäftigung
zu steigern und das Wachstum zu fördern. - Insofern
sind die Ziele der Regierungen, auch wenn sie gewechselt haben, gleich geblieben. Wer aber die Entwicklung
in den letzten Jahren kritisch betrachtet - einiges klang
bereits ganz leise an -, wird zugeben müssen, dass diese
Ziele oft nicht erreicht worden sind. Der Schwerpunkt
der heutigen Debatte müsste also eigentlich sein, darüber
zu sprechen, warum diese Ziele in den letzten Jahren
trotz guter Absichten nicht erreicht worden sind.
({0})
Wenn man dem zustimmt, ist die Frage aufzuwerfen,
ob wir uns in diesem Parlament über die Erfolgskriterien der Politik noch verständigen können. Es hat uns
schon überrascht, dass gestern mehrfach festgestellt
worden ist, und zwar von den Vertretern beider Fraktionen, die die große Koalition tragen, dass die letzten Jahre
sehr erfolgreich gewesen seien. Für meine Fraktion und
wahrscheinlich für die anderen Oppositionsfraktionen
- ob das auch auf die Grünen zutrifft, da bin ich mir
nicht ganz sicher - möchte ich aber feststellen, dass das
Kriterium der Arbeitslosigkeit nach wie vor darüber entscheidet, ob eine Wirtschaftspolitik erfolgreich ist oder
nicht.
({1})
Ich bitte die Vertreter der großen Koalition sehr herzlich,
bei 5 Millionen Arbeitslosen nicht zu behaupten: Wir haben eine sehr erfolgreiche Wirtschaftspolitik gemacht. Das ist Zynismus und wird von den Betroffenen als Verhöhnung verstanden. Deshalb können wir solche Sätze
nicht unwidersprochen stehen lassen.
({2})
Wenn wir darüber reden, was in den letzten Jahren
falsch gelaufen ist, möchte ich mit einem Papier beginnen, das meiner Fraktion - genauso wie allen anderen aus dem Bundeskanzleramt zugestellt worden ist und das
mich überrascht hat. In diesem Papier mit der Überschrift „Abstimmung zum nationalen Reformprogramm
Deutschlands“, das noch von Herrn Mirow unterschrieben worden ist - er teilt gleichzeitig mit, dass er in seiner
Funktion nicht weiterarbeiten wird -, wird festgestellt:
Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum ist ein
„spannungsfreies Zusammenwirken der makroökonomischen Politikbereiche“. Das hat mich deshalb wirklich
überrascht, weil davon in den letzten Jahren in diesem
Haus quer durch alle Fraktionen überhaupt nichts mehr
zu hören war. Wir lesen dort weiter:
Günstige makroökonomische Rahmenbedingungen
sind eine wichtige Voraussetzung für mehr Wachstum und Beschäftigung und verbessern das Umfeld
für strukturelle Reformen.
- Meine Fraktion stimmt diesem Satz ohne jede Einschränkung zu. Oskar Lafontaine
Diese wiederum verstärken den Wirkungsgrad von
gesamtwirtschaftlichen Wachstumsimpulsen.
- Auch dieser Satz ist richtig. Dazu müssen Finanz-, Geld- und Lohnpolitik spannungsfrei zusammenwirken und mit Strukturreformen verzahnt sein.
- Das ist ein wirklich grundsätzlich richtiger Ansatz.
Das Erstaunliche ist nur, dass dieses Papier aus dem
Bundeskanzleramt kommt und bisher in dieser Debatte
davon überhaupt nicht die Rede war. Nicht im Ansatz
konnte man erkennen, dass irgendjemand, bevor er hier
ans Podium trat, dieses Papier überhaupt gelesen hatte.
({3})
Nun beginne ich einmal, da es um die makroökonomischen Rahmenbedingungen geht, mit der Geldpolitik.
Auch wenn es richtig ist, dass die Geldpolitik von einer
Bundesregierung nicht direkt beeinflusst werden kann,
so hätte man doch erwarten können, dass, wenn nicht die
Bundeskanzlerin, dann zumindest der Wirtschaftsminister irgendetwas zur europäischen Geldpolitik und zu den
Rückwirkungen auf die deutsche Wirtschaftsentwicklung sagt. Ich möchte für meine Fraktion im Gegensatz
zu einem Nebensatz des Wirtschaftsministers angesichts
unserer ökonomischen Situation hier in Deutschland
feststellen: Bei fallenden Löhnen - ich komme darauf
zurück - und steigenden Energiepreisen ist es völlig
falsch, wenn die Europäische Zentralbank jetzt die Zinsen anheben will. Das wird die Wachstumskräfte in
Deutschland nicht stärken, sondern eher bremsen.
({4})
Ich hätte mir gewünscht, dass zumindest einer einen Gedanken an diese wichtige Rahmenbedingung der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland verschwendet
hätte.
Nun komme ich zu dem zweiten Punkt, der Lohnpolitik, die richtigerweise in dem Papier des Kanzleramts angesprochen worden ist. Hier gibt es natürlich
keine direkte Mitwirkungsmöglichkeit der Bundesregierung, aber indirekt wirkt sie in großem Umfang auf die
Lohnentwicklung in Deutschland hin. Ich werde darauf
noch eingehen. Es ist für mich unvorstellbar, wie diese
Koalition ökonomischen Erfolg haben will, wenn sie den
Sachverhalt zum ersten Mal fallender Bruttolöhne in
Deutschland hier noch nicht einmal erwähnt. Sie hat das
offenbar überhaupt noch nicht bemerkt.
({5})
Die Zahlen, die bei Tarifabschlüssen genannt werden,
sagen überhaupt nichts mehr aus, weil, wie das Konjunkturforschungsinstitut der deutschen Gewerkschaften
richtig festgestellt hat, die Tarifentwicklung den Tarifpartnern völlig entglitten ist. Was ist damit gemeint? Es
nützt nichts mehr, wenn Tarifverträge mit Lohnerhöhungen von 2 Prozent abgeschlossen werden, gleichzeitig
aber Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld und andere Leistungen zusammengestrichen werden.
Meine Damen und Herren, verehrte Frau Merkel, hören Sie einmal zu! Es ist wirklich ein entscheidender
Punkt, dass zum ersten Mal in Deutschland die Bruttolöhne fallen. Wenn Sie das nicht bemerken, dann sind
Sie wirklich nicht geeignet, Ihr Amt auszuführen. Dann
hat Müntefering Recht gehabt: Sie kann es einfach nicht.
({6})
Es wäre auch zu erwarten gewesen, dass sonst jemand in
dieser Koalition vielleicht einmal bemerkt hätte, dass
wir in Deutschland in einer völligen Ausnahmesituation
sind, die es in anderer Form in anderen Ländern überhaupt nicht gibt.
Ich sage Ihnen: Wenn die Löhne fallen, dann fallen
die Renten, und wenn Löhne und Renten fallen, dann gehen auch die sozialen Leistungen zurück. Wer ernsthaft
glaubt, in einer solchen Situation könnte die Wirtschaft
wachsen, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen.
({7})
Ich nenne für die Öffentlichkeit - man hat manchmal
Zweifel, ob Zahlen überhaupt noch etwas bewirken können - die Lohnentwicklung der letzten Jahre in
Deutschland, in der Europäischen Gemeinschaft und in
einigen Schlüsselstaaten. Wir hatten in den letzten zehn
Jahren eine Reallohnentwicklung von minus 0,9 Prozent.
Eine solch miserable Entwicklung hatte kein Industriestaat in der ganzen Welt. In den hier vielfach beschworenen konkurrierenden Ländern Schweden, Großbritannien
und USA haben sich die Reallöhne wie folgt entwickelt:
USA plus 20 Prozent, Großbritannien plus 25 Prozent,
Schweden plus 25 Prozent. Wer also glaubt, dies habe
keine Aussagekraft für die ständige Binnenmarktschwäche in Deutschland, der muss das zunächst einmal erklären. Wir bleiben dabei: Ohne eine gerechte Beteiligung
der arbeitenden Bevölkerung am wachsenden Wohlstand
wird es kein Wachstum und auch keinen Zuwachs der
Beschäftigung in Deutschland geben.
({8})
Nun sagen Sie alle, die entscheidende Schlüsselgröße
seien die Lohnzusatzkosten. Sie sagen weiterhin, es sei
das zentrale Anliegen der Politik, die Lohnzusatzkosten
zu senken. Hier möchte ich darauf hinweisen, dass die
Lohnzusatzkosten nur von den Unternehmen so bezeichnet werden. Sie sollten vielleicht einmal darüber nachdenken, dass Sie in einem zentralen so genannten Reformbereich eine Sprache übernehmen, die das Volk so
nie verwenden würde: Keiner käme auf die Idee, das,
was mit Lohnzusatzkosten gemeint ist, Lohnzusatzkosten zu nennen. Ein Rentner würde über seine Rente nie
sagen: Das sind Lohnzusatzkosten. Ein Kranker würde
über das Geld, das ausgegeben wird, um seine Krankheitskosten zu decken, nie sagen: Das sind Lohnzusatzkosten. Auch ein Pflegebedürftiger würde die Kosten für
seine Pflege nicht als Lohnzusatzkosten bezeichnen, genauso wenig wie jemand, der arbeitslos ist. Aber aus der
Sicht der Unternehmen sind das alles natürlich Lohnzusatzkosten.
Sie sagen hier: Im Mittelpunkt unserer Politik steht
das Senken der Lohnzusatzkosten. Das heißt: Im Mittelpunkt Ihrer Politik steht, die finanziellen Mittel für
Kranke, für Rentner, für Arbeitslose und für Pflegebedürftige zu senken. Zusammengefasst lässt sich sagen:
Nichts anderes hat in den letzten Jahren stattgefunden.
Aber eine solche Politik wird keinen Erfolg haben, sondern sie ist zum Scheitern verurteilt.
({9})
Mir ist wichtig, auf folgenden Sachverhalt zu sprechen zu kommen: Diese Regierung beeinflusst massiv
die Lohnentwicklung - sie ist in Deutschland hundsmiserabel; kein anderer Industriestaat hat eine so negative
Lohnentwicklung -, und zwar über die so genannten
Strukturreformen und über die so genannte Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“ ist eine Ihrer Lieblingsvokabeln. Leider
denkt keiner darüber nach, was das eigentlich heißt. Flexibilisierung des Arbeitsmarktes heißt: weniger Kündigungsschutz. Da werden die Liberalen sagen: Wunderbar! Flexibilisierung des Arbeitsmarktes heißt: befristete
Arbeitsverträge. Auch da werden noch viele sagen:
Wunderbar! Flexibilisierung des Arbeitsmarktes heißt,
dass der Niedriglohnbereich in Deutschland immer größer wird.
Zwischen Flexibilisierung des Arbeitsmarktes - Herr
Kollege Kauder, ich habe Ihnen gestern zugehört - und
der Anzahl der Familiengründungen gibt es einen untrennbaren Zusammenhang. Ich hoffe, dass Sie darüber
einmal nachdenken. Ich möchte Ihnen eine These vortragen: Wenn die jungen Leute nur noch befristete Arbeitsverträge haben, wenn sie nur noch niedrige Löhne haben, dann werden die jungen Leute keine Familie mehr
gründen und keine Kinder mehr bekommen - da können
Sie noch so viele Betreuungseinrichtungen schaffen -,
weil sie nicht wissen, ob sie in ein paar Monaten noch
Geld auf dem Konto haben.
({10})
Über diesen Zusammenhang müssen Sie nachdenken.
Sie haben ihn völlig übersehen.
Die so genannte Flexibilisierung des Arbeitsmarktes
drückt in großem Umfang auf die Lohnentwicklung in
Deutschland. Die Zahlen sind so erschütternd und so
eindeutig, dass man hätte erwarten können, dass darauf
irgendjemand einmal eingeht.
Nun komme ich zur Finanzpolitik. Sie sagen: Im
nächsten Jahr - die genauen Zahlen liegen noch gar nicht
vor; es kommt allein auf den tatsächlichen Umfang des
Haushaltes an - wollen wir mit der Sparkeule nicht voll
zuschlagen. Das ist durchaus ein vernünftiger Ansatz. Im
Bundeshaushalt sind - soweit die Zahlen bekannt sind noch Investitionen in Höhe von 23 Milliarden Euro vorgesehen. Das ist eine erschütternd niedrige Zahl. Auch
daran lässt sich festmachen, wo die Probleme in der
Bundesrepublik liegen. Es kann nicht angehen, dass wir
in Deutschland auf Dauer halb so viel in die öffentliche
Infrastruktur investieren wie andere Industriestaaten.
Dass das bisher so ist, ist eine der entscheidenden Ursachen für den konjunkturellen Rückgang und für die
Schwäche der Beschäftigungsentwicklung in Deutschland.
Nur wenn die öffentlichen Investitionen auf einem
normalen Niveau sind - das ist mindestens das Doppelte
des jetzigen Niveaus -, werden wir wieder eine vernünftige Beschäftigungsentwicklung in Deutschland haben.
({11})
- Nun fragen Sie, verehrter Herr Kauder: Wo kommt das
Geld her? Sehen Sie: Wenn man die Lage hier in
Deutschland überhaupt analysieren will, dann muss man
zu zwei Dingen bereit sein: zum Ersten, die Steuer- und
Abgabenquote der Nachbarstaaten zur Kenntnis zu nehmen - in der großen Koalition weigern sie sich permanent, das zu tun -, und zum Zweiten, die Prozentrechnung zu beherrschen. Das ist ja bekanntermaßen
schwierig. Allerdings gibt es Sachverständige, die in der
Lage sind, die letzte Übung zu machen.
({12})
- Verehrter Herr Wend, ich möchte Ihnen hier entgegenhalten: Ihre ganze Reformpolitik beruht auf einer einzigen Lüge, nämlich auf der Lüge, dass der Sozialstaat in
der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr finanzierbar
sei.
Nun können Sie folgenden Satz widerlegen: Mit der
Steuer- und Abgabenquote unserer Nachbarstaaten - die
Frankreichs würde schon ausreichen - wäre keine einzige soziale Kürzungsmaßnahme der letzten Jahre nötig
gewesen; die ganze Reformpolitik war ein einziger
Schwindel und hat Wachstum und Beschäftigung gebremst.
({13})
Sie, Herr Kauder, fragen: Woher kommt denn das
Geld? Sie sind nicht verlegen, wenn es darum geht, woher das Geld kommt. Sie kassieren es nur an der falschen
Stelle ein.
({14})
Wer in einer Situation, in der die Schere bei den Einkommen in Deutschland immer weiter auseinander geht,
in der die Verteilung von Vermögen immer schiefer
wird, nichts anderes zu tun hat - für eine christlichsoziale Partei ist das doch unglaublich! -, als rund
25 Milliarden Euro bei den kleinen Leuten einzukassieren, und zu feige ist, das Geld bei den großen Vermögen
einzusammeln, der sollte hier nicht die Frage stellen,
verehrter Herr Kauder: Woher kommt denn das Geld?
({15})
Wenn wir nur den Mut hätten - von Mut war doch so
viel die Rede -, die Wohlhabenden und die Reichen in
Deutschland genauso zur Kasse zu bitten, wie sie in
Großbritannien oder in den USA zur Kasse gebeten werden, dann hätten wir pro Jahr 50 Milliarden Euro Mehreinnahmen in den öffentlichen Kassen. Das trifft vielleicht Ihre Vorurteile, aber es ist überprüfbar; jeder kann
sich das aus dem Internet herunterladen.
Ich schließe mit dem Wort eines Millionärs, des Hamburger Reeders Peter Krämer, der Ihre Politik wirklich
auf den Punkt gebracht hat. Er sagte: Sie sollten Politik
für das Volk machen. Sie machen aber nur Politik für die
oberen zehntausend. Das ist wirklich traurig.
({16})
Eine große Koalition gegen die kleinen Leute wird
bei Wachstum, Beschäftigung und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit keinen Erfolg haben.
({17})
Das Wort hat nun die Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Vorab doch eine Bemerkung
zu Herrn Lafontaine; das kann ich mir nicht verkneifen.
Herr Lafontaine, Sie haben eben alle aufgefordert, Politik fürs Volk zu machen. Sie sind einer derjenigen, die
eine große Gelegenheit dazu hatten. Wenige von uns hatten eine Gelegenheit in dieser Art und Weise. Sie waren
Finanzminister dieses Landes. Sie haben offenbar überhaupt keine Lust gehabt, weil es für Sie zu unbequem
geworden war, Politik fürs Volk zu machen, obwohl Sie
die Gelegenheit hatten. Sie haben sich in die Büsche geschlagen, Herr Lafontaine!
({0})
Was Sie hier vorgetragen haben, ist unglaublich, unseriös und feige, Herr Lafontaine. Ich war zu dieser Zeit
frisch im Bundestag. Ich war rentenpolitische Sprecherin
meiner Fraktion. Ich kann mich sehr gut daran erinnern,
dass Sie einer der Hauptprotagonisten waren, die verhindert haben, dass wir bei der Rentenreform schnell in die
nachhaltige Reform der sozialen Sicherungssysteme eingestiegen sind. Wir hatten schon damals einen großen
Nachholbedarf, aber Sie haben auf der Bremse gestanden, weil Sie nicht in der Lage sind, die Realitäten in
diesem Land, zum Beispiel die demographische Entwicklung, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, Herr
Lafontaine.
({1})
Zu Ihren semantischen Übungen in der Frage, ob es
nun „Lohnnebenkosten“ oder „Lohnzusatzkosten“ heißt,
kann ich nur sagen: Darum geht es nicht. Sie sollten einmal zur Kenntnis nehmen, dass die Unternehmen in unserem Land auch ein Problem mit den Zusatzkosten, das
heißt mit den zusätzlichen Belastungen, haben. Insbesondere für den Mittelstand sind die Lohnnebenkosten
eine hohe Beschäftigungshürde. Wenn wir in Deutschland zukünftige Arbeitsplätze erschließen wollen - darüber reden Sie nicht; darüber redet übrigens auch Herr
Glos nicht -, dann müssen wir auch sagen, wie und wo,
und dann sind die Lohnnebenkosten ein ganz zentraler
Punkt.
Sie drücken sich hier um die Verantwortung. Deswegen will ich zu dem Übrigen, was Sie zu sagen hatten,
keine weiteren Kommentare mehr abgeben.
({2})
Sehr geehrter Herr Glos, Sie sind der neue Wirtschaftsminister. Ich gratuliere Ihnen dazu. Sie sind
Nachrücker für Herrn Stoiber. Interessant ist: Herr
Stoiber ist hier körperlich nicht mehr anwesend;
({3})
von Herrn Ramsauer haben wir aber vernommen, dass
sein Geist noch über dem Kabinettstisch schwebt.
({4})
Ich hoffe, dass das nicht der einzige Geist ist, der die Arbeit dort beseelt.
({5})
Herr Glos, Sie sind mit großen Vorsätzen ans Podium
getreten. Sie haben wie alle anderen in Ihrer neuen Regierung das Mantra wiederholt: Vorfahrt für Arbeit. Ich
habe gestern genau zugehört. Ich habe auch heute genau
zugehört. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Das Geheimnis,
wie Sie Arbeit für die vielen arbeitslosen Menschen in
diesem Lande schaffen wollen, haben Sie immer noch
nicht gelüftet. Das Konzept gleicht jedenfalls eher einem
Schweizer Käse
({6})
als einem ganzheitlichen Ansatz. Ich will das an verschiedenen Stellen aufzeigen.
Zunächst einmal haben Sie aus einem Ministerium
zwei gemacht; das heißt, wir haben eine wundersame
Vermehrung von Ministerien und Posten erlebt. Sie haben sich dann - das ist relevant für die Wirtschafts- und
Beschäftigungspolitik in diesem Lande - den Technologiebereich aus dem Forschungsministerium herausgeschnitten, also dort geplündert. Es geht um einen Bereich, dessen Unternehmen vor allem im CSU-Land
Bayern angesiedelt sind. Sie haben uns aber nicht sagen
können, was Sie an Technologiepolitik machen wollen.
Ich finde, das hat durchaus einen Beigeschmack.
Aber ich will gar nicht weiter darauf herumreiten. Ich
habe darauf gewartet, dass Sie sagen, was Sie denn nun
bezüglich der Herausforderungen in diesem Lande, vor
denen die Technologie- und Wirtschaftspolitik steht,
konzeptionell anzubieten haben. Eines der größten Probleme der Unternehmen in unserem Lande ist die
Abhängigkeit vom Öl. Tatsache ist, dass wir die Ölpreisentwicklung als eine große, auch zukünftige Belastung einrechnen müssen. Ich habe von Ihnen, Herr Glos,
der Sie doch zukünftig auch für Technologiepolitik zuständig sein werden, nichts darüber gehört, wie Sie unser
Land und unsere Unternehmen aus der Abhängigkeit
vom Öl herausführen wollen. In der Verkehrs-, Chemieund Pharmaindustrie sowie im gesamten Energiebereich
bedeutet diese Abhängigkeit relevante Kostenbelastungen für die Unternehmen. Es geht hier um Zukunftsbereiche, die in Bezug auf die Beschäftigung eine große
Rolle spielen. Auf der Basis Ihrer Konzeptionslosigkeit
stolpern wir orientierungslos in diese Zukunftsaufgaben.
Ich erwarte von Ihnen, Herr Glos, dass Sie eine der
größten wirtschaftspolitischen Herausforderungen in
diesem Lande annehmen und uns Konzepte dazu liefern,
wie die Entwicklung Deutschland zukunftsträchtig, vom
Öl nicht so stark abhängig und beschäftigungsintensiv
gestaltet werden kann.
({7})
Frau Merkel hat gesagt, wir wollen innerhalb von
zehn Jahren mindestens auf den dritten Platz in Europa
kommen. Das ist gut. Aber, Herr Glos, dann hätte ich
von Ihnen gerne einmal gehört, was Sie dazu zu sagen
haben, dass einer unserer größten Beschäftiger, die
Automobilindustrie, in technologischer Hinsicht hinten
herunterzukippen droht; diese Branche kann im internationalen Konkurrenzkampf keine Zukunftskonzepte
mehr aufweisen. Sie hätten uns als Wirtschafts- und
Technologieminister einmal sagen sollen, wie wir damit
umgehen sollen, dass in Deutschland fortschrittlichste
Technologie entwickelt wird, zum Beispiel auf dem Gebiet der Motoren, dass aber diese Technologie von unseren Unternehmen nicht angewandt, sondern verschlafen
wird, sodass sie gegenüber den ausländischen Unternehmen in Rückstand geraten. Herr Glos, wenn Sie darauf
keine Antwort haben, dann werden Sie auch keine Antwort darauf haben können, wie wir in den Charts in Europa unter die ersten drei kommen sollen.
Interessant fand ich auch, was Sie nicht erwähnt
haben, beispielsweise - auch das ist eine Zukunftsbranche, auf der Sie bisher immer herumgehackt haben - die
boomende Branche der Solarindustrie. Ich habe von Ihnen, Herr Glos, nichts dazu gehört. Das macht mich
froh; denn immerhin hacken Sie jetzt auf diesem Zukunftsbereich nicht mehr herum.
({8})
Möglicherweise haben Sie nach der Wahl tatsächlich begriffen, dass wir, Deutschland, die Wirtschaft, der Mittelstand, gerade im Bereich der alternativen Energien
eine große Chance haben.
({9})
Neben dem, was fehlt, bekommen wir einen Flickenteppich von vielen Maßnahmen angeboten: Dass das
KfW-Programm weitergefahren wird, finde ich richtig.
Die Abschreibungserleichterungen sind richtig. Die
Möglichkeit der steuerlichen Absetzbarkeit von Handwerksrechnungen ist vernünftig. Das kleine Investitionsprogramm - 6 Milliarden Euro, ein bisschen durchwachsen - ist okay. Das ist sozusagen ein Teil der Politik der
Trippelschritte, die Sie machen. Dagegen will ich auch
nichts einwenden. Ich frage mich nur, Herr Glos, ob
diese Trippelschritte der Keule der Mehrwertsteuererhöhung standhalten können, die Sie ja gleichzeitig androhen.
Interessant bei dieser 3-prozentigen Mehrwertsteuererhöhung ist - Sie haben das heute noch einmal
ausdrücklich gesagt -, dass es insgesamt als Ausgleich
nur eine Senkung der Lohnnebenkosten von 1 Prozent
geben wird. Herr Glos, ich hätte gern von Ihnen eine
ernsthafte Auseinandersetzung mit denjenigen Wissenschaftlern, Unternehmern, Inländern und Ausländern gehört, die zu Recht darauf aufmerksam machen, wie Sie
angesichts dieser Keule der 3-prozentigen Mehrwertsteuererhöhung, deren Aufkommen hauptsächlich zum
Stopfen der Haushaltslöcher verwendet werden soll, der
Gefahr der Preissteigerung, der Zinserhöhung und insbesondere der Vernichtung von Arbeitsplätzen im Mittelstand begegnen wollen. Sie setzen sich mit diesem Problem noch nicht einmal auseinander.
Ich finde: Das ist wirklich ein risikoreicher Kurs, der
in der Presse auch als „Thatcher-Stunt“ bezeichnet worden ist. Das Mindeste, was wir erwarten können, ist, dass
Sie das wenigstens einmal prüfen.
Sie werden sich damit auseinander setzen müssen
- da hat Herr Lafontaine Recht -, dass die EZB, wie wir
heute in den Nachrichten hören konnten, den Zinssatz
nach oben setzen wird. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden: Deutschland ist, was die wirtschaftliche
Entwicklung in Europa angeht, noch nicht in der vorderen Reihe zu finden - das wird auch über längere Zeit
noch so bleiben; das ist einfach die Realität - und wird
daher erhebliche Schwierigkeiten bei einer Anhebung
der Zinssätze bekommen. Das gilt besonders für die kleinen Unternehmen. Auch deswegen müssten Sie sich
noch einmal mit den Wirkungen der Mehrwertsteuererhöhung auseinander setzen.
Sie versprechen den Abbau der Arbeitslosigkeit und
neue Arbeitsplätze. Aber Sie bieten wenig dafür an. Die
Lohnnebenkosten habe ich eben angesprochen; deren
Senkung um 1 Prozent ist mager im Vergleich zu dem,
was wir in diesem Land erreichen müssen. Erschwerend
kommt hinzu, wie Sie diese Senkung der Lohnnebenkosten verwenden. Sie verteilen dieses steuerfinanzierte
1 Prozent auf alle Lohngruppen gleich. Wir alle wissen,
dass die Beschäftigungswirkungen von Lohnnebenkosten besonders bei Geringqualifizierten und den Beziehern kleinerer Einkommen zum Tragen kommen. Sie
verschenken hier Geld. Wenn wir wenig Mittel zur Verfügung haben, wenn wir in diesem Land sparen müssen
- das ist richtig -, müssen wir die wenigen Steuermittel
gezielt, und zwar zugunsten der Bezieher kleinerer Einkommen, einsetzen. Für diese müssen wir Arbeit günstiger machen; den Leuten muss hinterher mehr in der Tasche bleiben. Hier können wir, wie Frau Merkel gesagt
hat, auch vom Ausland lernen.
({10})
Wir brauchen kein Kombilohnmodell - Sie wollen
das ja erst noch recherchieren -, das heißt eine flächenDr. Thea Dückert
deckende Subventionierung von niedrigen Einkommen.
Das ist übrigens auch sehr teuer. Vielmehr brauchen wir
den gezielten Einsatz für mehr Beschäftigung im Dienstleistungssektor und in der Pflege, in den Bereichen, wo
neue Tätigkeitsfelder entstehen können. Da ist bei Ihnen
Fehlanzeige.
Unsere Alternativen sehen wie folgt aus: Lassen Sie
uns gezielt neue Beschäftigungsmöglichkeiten in den
Bereichen Umwelt- und Energietechnologie - weg vom
Öl - fördern und die knappen Mittel, mit denen wir sparsam umgehen müssen, gezielt zur Senkung der Lohnnebenkosten in dem Bereich gering qualifizierter Beschäftigung verwenden! Dann werden wir, auf zwei
Standbeinen, zukünftige Beschäftigung möglich machen
und müssen nicht solchen Modellen wie dem Kombilohnmodell aus den USA hinterherlaufen.
Ich muss zum Schluss kommen.
Ich hätte gerne - das werde ich jetzt aber nicht tun noch etwas zum Bürokratieabbau gesagt.
Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Aber Sie hätten
schon längst zum Schluss kommen müssen.
Ja, das habe auch ich gerade gesehen. Über den Bürokratieabbau werden wir noch in Zukunft reden können.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Laurenz Meyer das Wort.
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Frau Dückert, ich möchte zunächst auf
Ihre Ausführungen eingehen. Es ist doch einfach so, dass
wir vor dem Hintergrund derjenigen Situation diskutieren, die Sie in diesem Hause zum Teil mit verschuldet
haben - ich würde sogar fast sagen: wesentlich mit verschuldet haben -,
({0})
was Staatsverschuldung, Wirtschaftswachstum und Erwerbstätigenzahlen betrifft. Aber wir schauen in der großen Koalition nicht zurück, sondern nach vorne, wie wir
die Probleme lösen können. Angesichts der Vorgaben für
das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigtenzahlen
kann man sagen, dass ehrgeizige Ziele Grundlage für die
Haushaltskonsolidierung sind.
Die Koalitionsvereinbarung zeigt vor allen Dingen eines - ich glaube, das ist für uns und für viele in der Öffentlichkeit ganz wichtig zu begreifen -: Es gibt nicht
den einen Schalter, den man umlegen muss, um zu neuen
Arbeitsplätzen und zu mehr Wirtschaftswachstum zu
kommen, sondern es handelt sich um eine Vielzahl von
verschiedenen Einzelmaßnahmen, die zusammenwirken
müssen, damit sich hinterher Erfolge einstellen.
Ich will einen zweiten Punkt ausdrücklich herausstreichen. In dieser Koalitionsvereinbarung wird eine Erkenntnis umgesetzt, die ich für ganz wichtig halte, nämlich die Erkenntnis, dass zwischen kleinen und großen
Unternehmen Welten liegen. Die kleinen Unternehmen
haben ganz andere Probleme und Sorgen als die großen
Unternehmen, die sich zu einem guten Teil in der globalisierten Welt zu helfen wissen.
Wir wollen mit den Maßnahmen anfangen, die kein
Geld kosten. Ich bin sehr froh darüber, dass die Zuständigkeit für den Bürokratieabbau, was die Koordinierung betrifft, zur Chefsache gemacht worden ist. Es
wurden hier schon Punkte angesprochen, die für die kleinen Unternehmen wichtig sind. Herr Brüderle, da
werden wir sicherlich zusammenarbeiten können. Jede
gute Idee von Ihnen in diesem Zusammenhang ist wertvoll. Ich nenne beispielsweise Statistikpflichten, Dokumentationen, Buchführungsprobleme, Probleme bei
Planungs- und Genehmigungsverfahren, Mehrfachprüfungen, Schwellenwerte und das „Beauftragtenunwesen“. Lassen Sie uns das alles gemeinsam angehen und
zusammen mit den Ländern den Förderdschungel lichten, damit insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen bessere Zukunftschancen haben!
({1})
In dem Zusammenhang ist ein Punkt von besonderer
Bedeutung. Wir wollen nicht mehr danach gehen, wie
viele Vorschriften abgeschafft werden können, sondern
danach, wie viele Kostenfaktoren für den Mittelstand beseitigt werden können. Diese zentrale neue Frage, die in
den Niederlanden schon länger Grundlage der Beurteilung ist - an das dortige Standardkostenmodell können
wir anknüpfen -, sollten wir uns zur Vorgabe machen.
In Sachen Bürokratieabbau muss die Vereinbahrung
zwischen Parlament und Regierung umgesetzt werden
und ein Vorwarnsystem, was die EU-Bürokratie angeht,
aufgebaut werden. Das hat der Kollege Stiegler schon
angesprochen. Es ist eine neue Erfahrung für mich, Herr
Stiegler - für Sie sicher auch -, dass wir uns gegenseitig
in diesem Parlament Recht geben. Das ist eine lehrreiche
Erfahrung. Ich gewöhne mich erst langsam daran.
({2})
Wir sollten auch überlegen, wie wir unseren Vorschlag zu den Bündnissen für Arbeit - da hatte die
SPD zunächst noch große Vorbehalte - mit den Kollegen
in den Betrieben umsetzen können. Wir müssen im Rahmen der Tarifverträge mehr Beweglichkeit schaffen.
Dieser Punkt ist sicherlich noch offen. Aber gerade für
die mittelständischen Betriebe müssen wir mehr Beweglichkeit schaffen.
({3})
Ein weiterer großer Schwerpunkt. Neu ist, welche
Breite das Problem der Unternehmensfinanzierung in
der Koalitionsvereinbarung einnimmt. Dieses Problem
ist gerade für die kleinen und mittleren Unternehmen
Laurenz Meyer ({4})
entscheidend. Ich nenne in diesem Zusammenhang die
Stichworte: Beteiligungs-/Wagniskapital, Rolle der
KfW, Basel II, Verbesserung der Eigenkapitalsituation in
den Unternehmen.
Diese Fragen hängen nach meiner Meinung auch
- damit müssen wir uns intensiv auseinander setzen mit der Alterssicherung zusammen. Wenn es uns gelingen würde, Ansätze zu finden, die Eigenkapitalbildung
in mittleren Unternehmen mit der betrieblichen Altersvorsorge von Mitarbeitern zu verbinden, ohne dass das
Arbeitsplatzrisiko und das Vermögensrisiko kumulieren, dann hätten wir einen richtig großen Wurf geschafft.
Auch mit diesen Fragen sollten wir uns beschäftigen.
Der Wirtschaftsminister hat die Punkte Forschung
und Entwicklung, Bildung und Innovationen im Verbund
von Wirtschaft und Wissenschaft angesprochen. Dies ist
eine zentrale Frage. Ich kann dazu nur den Satz wiedergeben, den die Bundeskanzlerin seit einiger Zeit fast wie
eine Fahne vor sich herträgt und der so einfach und richtig ist wie nichts anderes. Sie sagt: Wir müssen so viel
besser sein, wie wir teurer sind. - Genau das ist die
Kernbotschaft, die wir umsetzen müssen.
({5})
Wir müssen endlich die Innovations- und Erneuerungsfeindlichkeit in diesem Land beseitigen. Das geht bis
weit in die Bevölkerung hinein; das betrifft nicht nur alle
Mitglieder in diesem Parlament.
Herr Brüderle, Sie haben das Stichwort Steuererhöhungen angesprochen. Steuererhöhungen tun weh, und
zwar uns allen schon bei der Beschlussfassung. Die tun
sicherlich jedem weh. Aber Sie werden gewiss so redlich
sein, zuzugeben, dass auch jede Ausgabenkürzung, die
Sie vorschlagen, das Portemonnaie von Unternehmen
und Bürgern betrifft. Jede Ausgabenkürzung im Staatshaushalt hat volkswirtschaftlich die gleiche Wirkung wie
Steuererhöhungen.
({6})
Die Frage ist nur: Wo kommen sie an und woher kommen sie? Wenn ich mir dazu die FDP-Programme ansehe, dann komme ich zu dem Ergebnis, dass es die FDP
war, die die Umschichtung von direkten auf indirekte
Steuern besonders markig gefordert hat.
({7})
Der Unterschied ist - lassen Sie uns darüber wirklich
ernsthaft reden -, dass ein Teil dieser Steuererhöhungen
- leider Gottes ist es aufgrund der Haushaltssituation nur
ein Teil - dafür verwendet wird, die Sozialkosten zu senken. Richtiger als Ihr Konzept, von direkten auf indirekte Steuern umzuschichten, ist es nämlich, Sozialversicherungskosten über Steuern zu finanzieren. Wenn es
uns gelingt, die Haushaltssituation in den Griff zu bekommen, müssen wir auf diesem Weg weiter voranschreiten, damit wir eine sozial gerechtere Verteilung der
Sozialversicherungskosten hinbekommen.
({8})
Ich möchte zumindest kurz - die Zeit verbietet es,
mehr dazu zu sagen - auf den Aufbau Ost eingehen. Voraussetzung für das Gesunden der deutschen Volkswirtschaft ist, dass wir insbesondere im Osten weiterkommen. Zuallererst müssen wir darangehen, den Anteil der
Langzeitarbeitslosen - im Osten sind fast 45 Prozent aller Arbeitslosen langzeitarbeitslos; in Deutschland insgesamt sind es 40 Prozent - zu reduzieren. Deshalb,
Frau Dückert, müssen wir sehr wohl über Kombilohnmodelle sprechen: Wie wollen wir diejenigen, die länger
als ein Jahr arbeitslos sind und weder Schulabschluss
noch Berufsausbildung haben, in den Arbeitsmarkt integrieren, wenn wir nicht zu Lösungen kommen, wie wir
sie im Rahmen des Kombilohns vorsehen? Wollen wir
diese Menschen abschreiben, weil sie angesichts unserer
heutigen Beschäftigungsverhältnisse möglicherweise
nur noch zu ganz niedrigen Löhnen eine Beschäftigung
finden können, oder finden wir intelligente Lösungen,
die dem Einzelnen einen höheren Lebensstandard ermöglichen, als er ihn mit reinen Sozialtransfers hätte,
und ihn zusätzlich in die Lage versetzen, einer Arbeit
nachzugehen?
({9})
Meine Damen und Herren, ich muss aus Zeitgründen
zum Abschluss kommen und möchte Ihnen sagen:
Wachstum und Arbeitsplätze sind die Voraussetzung für
all das, was wir uns in Bezug auf die sozialen Sicherungssysteme und bei der Haushaltssanierung vorgenommen haben. Herr Lafontaine, es war schon ziemlich
eindimensional, was Sie hier vorgetragen haben. Eine
wichtige Voraussetzung dafür, dass die Menschen im
Land wieder Geld ausgeben können, ist, dass wir ihnen
die Angst nehmen, den Arbeitsplatz zu verlieren. Diese
Angst muss den Menschen genommen werden. Mehr
Planbarkeit, mehr Verlässlichkeit, mehr Sicherheit, das
sind die richtigen Voraussetzungen für die Unternehmen
und die Menschen in diesem Land. Darum geht es uns.
({10})
Wir haben für 2006, 2007 und 2008 bestimmte Zeitpläne
aufgestellt, damit die Unternehmen wieder Vertrauen gewinnen zu investieren, die Bürger keine Angst mehr haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, und die Konsumfreudigkeit im Land insgesamt wieder steigt.
Wir als Wirtschaftspolitiker werden den Wirtschaftsminister nach Kräften unterstützen, wenn er sich in andere Gebiete einmischt. Wirtschaftspolitik ist eine Querschnittsaufgabe und da hat Herr Glos unsere volle
Unterstützung.
({11})
Das Wort hat nun der Kollege Rainer Wend, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch ich möchte zunächst Ihnen, Herr Glos, ganz
herzlich zu der nicht zu jedem Zeitpunkt nach der Bundestagswahl erwarteten Ernennung zum Bundesminister
für Wirtschaft und Technologie gratulieren. Gleichzeitig
möchte ich Ihnen auf Basis der Koalitionsvereinbarung
die loyale Unterstützung der SPD-Fraktion für die Zeit
der großen Koalition „androhen“.
Ich habe mich natürlich besonders darüber gefreut,
dass Sie die Manager, die Unternehmer in diesem Land
dazu aufgefordert haben, dieses Land nicht länger
schlecht zu reden. Noch mehr würde ich mich freuen,
wenn auch bei der parlamentarischen Basis von FDP und
PDS endlich ankommen würde, dass unser Land Optimismus und Vertrauen braucht und dass sich die Investition in Vertrauen in dieses Land lohnen wird.
Zu FDP und PDS generell möchte ich sagen, dass ich
es durchaus genieße, wenn sie sich wechselseitig Beifall
zollen. Das ist eine ganz interessante Erfahrung. Herr
Brüderle, Sie sagen, dass die Koalitionsvereinbarung
eine Sozialdemokratisierung unseres Landes bedeute.
Die andere Seite sagt zur Koalitionsvereinbarung, sie
führe zu einer Neoliberalisierung unseres Landes. Wenn
die beiden Ränder des politischen Spektrums zu diesen
unterschiedlichen Bewertungen kommen, kann das, was
die große Koalition in ihren Koalitionsvertrag geschrieben hat, nicht so ganz falsch sein, meine Damen und
Herren.
({0})
Herr Lafontaine, Sie haben gerade den Versuch einer
populärwissenschaftlichen Vorlesung, gemischt mit populistischen Verführungen, unternommen. Ich nenne ein
Beispiel: Sie sagen, wenn wir die Steuerquote in unserem Land endlich so hoch setzen würden wie andere Industrieländer, dann könnten wir die finanziellen Wohltaten viel besser finanzieren.
({1})
Die Wahrheit ist aber, dass Länder, die eine höhere Steuerquote haben, geringere Lohnnebenkosten und geringere Abgaben haben, weil sie einen höheren Anteil der
Ausgaben für die sozialen Sicherungssysteme über die
Steuern finanzieren. Wenn Sie den Anteil der Steuern
und Abgaben zusammen betrachten würden, wüssten
Sie, dass in unserem Land an dieser Stelle Handlungsbedarf besteht.
({2})
Lassen Sie mich überhaupt etwas zum Thema „PDS
und Populismus“ sagen. Herr Lafontaine, wenn Sie in
dieser sich rasant verändernden Welt, in einer Welt, in
der ein Land, das vor 25 Jahren noch Entwicklungsland
war, uns heute auf den Weltmärkten Konkurrenz macht,
in der ein Land wie China die Rohstoffe unserer Welt
aufkauft - verbunden mit den entsprechenden Problemen -, in der der Wegfall des Eisernen Vorhanges zu
Konkurrenzsituationen um Investitionen und Arbeitsplätze führt, in der die demographische Entwicklung
derart ist, dass die Menschen vor 40 Jahren noch
66 Jahre alt wurden und in 30 Jahren schon jede dritte
Frau 100 Jahre alt werden wird, mit den alten Rezepten
antworten wollen, dann sind Sie populistisch. Sie versprechen den Menschen Sicherheiten, die keine Sicherheiten mehr sind. Das ist der wirkliche Schaden für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land.
({3})
Was ist die Aufgabe, vor der wir als große Koalition
stehen? Die Bundeskanzlerin hat es zu Recht vorgegeben: Wir wollen wieder Wachstumslokomotive in Europa werden. Wie schaffen wir das? In der Koalitionsvereinbarung haben wir einen Dreiklang aus Reformieren der sozialen Sicherungssysteme - darüber wird an
anderer Stelle zu sprechen sein -, Sanieren, das heißt
Haushaltskonsolidierung, und Investieren, das heißt Setzen von Wachstumsimpulsen, festgelegt.
Zum Thema Haushaltskonsolidierung. Haushaltskonsolidierung ist kein Selbstzweck, sondern liegt im Interesse der kommenden Generationen. Sie ist aber auch
aus ökonomischen Gründen erforderlich; denn mittelund langfristig wird es kein Vertrauen in einen Investitionsstandort Deutschland geben, wenn es uns nicht gelingt, den Haushalt unseres Landes in den Griff zu bekommen. Von daher kommen wir an einer Sanierung
unseres Haushalts, auch wenn es schmerzhaft ist, nicht
vorbei.
Ich möchte kurz einige Projekte zum Thema Investieren nennen; denn wir Wirtschaftspolitiker haben natürlich Wert darauf gelegt, in der Koalitionsvereinbarung
festzulegen, dass wir auf Wachstumsimpulse setzen, idealerweise in einer Form, dass sie den Haushalt nicht zusätzlich belasten.
Ich nenne als Erstes das Projekt öffentlich-private
Partnerschaften oder Public Private Partnership, nachdem die Bayern nun auch das Englische hier eingeführt
haben. Es ist ohne Zweifel so, dass die öffentlichen Institutionen, vor allen Dingen die Gemeinden, nicht mehr
ausreichend investieren und dass unser Wachstum darunter leidet. Wir wissen, dass vor allen Dingen die
Handlungsmöglichkeiten der Kommunen begrenzt sind.
Zum Thema Verschuldung habe ich schon etwas gesagt.
Es liegt auf der Hand, dass wir privates Kapital stärker
nutzen wollen, um gemeinsam mit der öffentlichen Hand
Investitionen vorzunehmen. Dies ist nicht ganz neu. In
anderen Ländern allerdings wird es besser umgesetzt.
Wir haben Hemmnisse, die es erschweren, gemeinsam - private und öffentliche Hand - zu investieren.
Diese Hemmnisse werden wir beseitigen. Dabei geht es
um Veränderungen im Krankenhausfinanzierungs- und
Sozialhilfegesetz. Dabei geht es zum Beispiel auch darum, steuerliche Gleichbehandlung von solchen PublicPrivate-Partnership-Projekten bzw. öffentlich-rechtlichen Projekten zu gewährleisten. Das ist Kärrnerarbeit,
das ist schwierige gesetzgeberische Arbeit. Wir als große
Koalition werden uns an diese Arbeit machen.
Das zweite große Thema ist bereits von mehreren angesprochen worden: Bürokratieabbau. Ich will jetzt
nicht mehr lange darüber lamentieren und nur noch eines
sagen: Es haben sich Regierungen, und zwar mit den
besten Absichten, egal ob sozialdemokratisch oder
christdemokratisch geführt, egal ob mit Grünen oder Liberalen, an diesem Thema versucht. Teilweise sind Erfolge erzielt worden; ich will das nicht kleinreden. Aber
unter dem Strich ist wenig dabei herausgekommen, weil
die Beamten, die damit befasst wurden, eher neue Hürden gefunden haben, als alte abzuschaffen. Deswegen
brauchen wir einen neuen Ansatz.
Der neue Ansatz ist folgender Versuch: In den Niederlanden ist ein Modell entwickelt worden - Kollege
Meyer hat das angesprochen -, mit dem die volkswirtschaftlichen Kosten berechnet werden, die den Unternehmen nur aufgrund von Berichtspflichten, die ihnen
die Europäische Union, der Staat, das Land und die
Kommune auferlegt haben, entstehen. Es geht nur um
Berichtspflichten. Die Holländer haben festgestellt, dass
diese Berichtspflichten auf ihr Land bezogen 20 Milliarden Euro volkswirtschaftliche Kosten verursachten. Sie
haben im Parlament beschlossen - übrigens einstimmig;
es wäre prima, wenn auch wir so etwas erreichten -, ein
Viertel dieser 20 Milliarden Euro im Laufe einer Legislaturperiode einzusparen. Das sind über den Daumen gepeilt 5 Milliarden Euro.
Wenn wir das einmal auf das deutsche BIP übertragen
würden - wir können fast sicher sein, dass die Bürokratiekosten bei uns nicht niedriger liegen als bei den Holländern -, würden wir feststellen, dass das 80 Milliarden
Euro volkswirtschaftliche Kosten nur durch bürokratische Berichtspflichten für die Unternehmen sind. Wenn
wir hier beschlössen, dass wir diese volkswirtschaftlichen Kosten ebenfalls innerhalb von vier Jahren um
25 Prozent reduzieren, dann könnten wir den Unternehmen rund 20 Milliarden Euro ersparen.
({4})
Die Holländer haben allein aus diesen Maßnahmen
ein Wirtschaftswachstum von etwa 1,5 Prozent geschöpft.
({5})
Wir sollten die Chance ergreifen, wenn wir sehen, dass
andere Länder etwas gut machen, und es dann einfach
nachmachen. Vielleicht machen wir es sogar noch ein
bisschen besser. Das ist ein Erfolg versprechendes Modell von Bürokratieabbau, um das sich diese Koalition
kümmern wird.
({6})
Ich nenne als dritten Bereich Investitionen und
Unterstützung für Handwerk und Mittelstand. Genannt wurde bereits die deutliche Verbesserung der Abschreibungsbedingungen bis zum 31. Dezember 2007.
Wir wollen bei der Umsatzsteuer die Grenze für den
Umsatz, ab der die Istbesteuerung und nicht die Sollbesteuerung greift, anheben, um dem Handwerk eine
Liquiditätsunterstützung zu geben.
Wir werden das Erbschaftsteuerrecht verändern. Wie
lange wurde darum gekämpft? In dieser Legislaturperiode werden wir umsetzen, dass Mittelständlern, wenn
ein Unternehmen von den Erben zehn Jahre fortgeführt
wird, die Erbschaftsteuer erstattet wird. Das ist ein klares
Angebot an Handwerk und Mittelstand.
({7})
Wir wollen ermöglichen, dass private Aufwendungen
für Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen im
Haushalt von der zu zahlenden Einkommensteuer abgesetzt werden können, um damit für das Handwerk bessere Bedingungen zu schaffen.
({8})
Wir machen, was den Haushalt angeht, übrigens noch etwas - darüber bin ich persönlich sehr froh -: Wir wollen
dafür sorgen, dass auch die Kosten für Haushaltskräfte
in Zukunft steuerlich absetzbar sind.
({9})
Warum ist das gut? Erstens ist das vor dem Hintergrund des Arbeitsmarktes gut, weil in dem Bereich der
weniger gut Qualifizierten etwas brachliegt; hier können
Arbeitsplätze entstehen. Zweitens ist das aber auch aus
gesellschaftspolitischen Gründen wichtig; denn es geht
darum, im Haushalt die Kindererziehung und in Zukunft
in zunehmendem Maße auch die Pflege älterer Menschen möglich zu machen. Wenn wir dieses gesellschaftspolitische Anliegen mit einem arbeitsmarktpolitischen Effekt verbinden können, dann wären wir töricht,
wenn wir das nicht tun würden.
({10})
Herr Kollege Wend, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Niebel?
Selbstverständlich, Herr Kollege Niebel, Herr Generalsekretär, Entschuldigung.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Wend,
würden Sie mir zustimmen, dass gerade Ihre Fraktion
den privaten Haushalt als Arbeitgeber unter dem Stichwort „Dienstmädchenprivileg“ in steuerrechtlicher und
natürlich auch in politischer Hinsicht immer diskriminiert hat,
({0})
und würden Sie mir auch zustimmen, dass die von Ihnen
genannten positiven Effekte der Schaffung zusätzlicher
Arbeitsplätze auch mit Blick auf private Haushalte als
Arbeitgeber bereits in der Vergangenheit hätten genutzt
werden können, wenn bestimmte ideologische Denkschemata früher hätten aufgebrochen werden können?
Herr Kollege Niebel, ich würde mich in ganz besonderer Weise darüber freuen, wenn Sie in den nächsten
Monaten die Kraft aufbringen würden, uns bei den Maßnahmen, die erforderlich sind, zu unterstützen. Wenn die
FDP-Fraktion in einer ähnlichen Geschwindigkeit wie
andere Fraktionen Lerneffekte erzielen könnte, dann
könnten wir gemeinsam in diesem Haus noch einiges zustande bringen, Herr Kollege Niebel.
({0})
Einen letzten Punkt würde ich gerne noch erwähnen,
weil er besonders wichtig ist, auch wenn er wahrscheinlich nicht kurzfristig wirkt. Dabei geht es um Investitionen in Forschung und Wissenschaft. Wir alle wissen:
Das Grundproblem in unserem Land ist nicht so sehr die
Grundlagenforschung; hier sind wir verdammt gut. Das
Problem ist die Umsetzung der Forschung in die Produktion. An dieser Stelle liegen die Schwierigkeiten.
Wie wollen wir dieses Problem anpacken? Wir wollen
die Zusammenarbeit von Forschung und Wirtschaft verbessern. Wir wollen Ausgründungen aus der Universität
durch die Zusammenarbeit von universitärer Forschung
und Wirtschaft verbessern und an dieser Stelle die Clusterbildung fördern. Wir wollen ferner insbesondere den
Mittelstand bei der Entwicklung neuer Technologien unterstützen. Als Stichwörter nenne ich die Nanotechnologie, die Luft- und Raumfahrt und den Anlagebau. Wie
Sie sehen, kümmern wir uns also nicht nur um Maßnahmen, die kurzfristig wirken sollen, sondern wir wollen
die Strukturen in unserem Land auch mittel- und langfristig verändern, um die Voraussetzungen für Wachstum
und Beschäftigung zu verbessern.
Meine Damen und Herren, die große Koalition hat
sich in den letzten Tagen nicht zugejubelt. Das muss bei
einem solchen Start auch nicht sein. Diese Koalition ist
eine Arbeitsbeziehung, die vielleicht noch nicht von solchen Emotionen geprägt ist, wie es bei anderen Koalitionen der Fall war. Aber so, wie unser Land derzeit aufgestellt ist, muss das nicht die schlechteste Voraussetzung
für erfolgreiche Politik sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Letzte Rednerin zu diesem Themenbereich ist die
Kollegin Annette Faße, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Regierung will mehr Wachstum und diese Regierung will mehr Beschäftigung. In einem Sektor, der
heute noch gar nicht angesprochen worden ist, ist dies
bisher gut geleistet worden. In diesem Sektor, dem Tourismus, haben wir gute Chancen, in der Zukunft Wachstum und Beschäftigung zu verwirklichen.
({0})
Im Tourismusbereich sind allein in Deutschland
2,8 Millionen Menschen direkt und indirekt beschäftigt.
Das sind mehr Menschen, als in der Elektro- und der Automobilindustrie sowie im Maschinen- und Anlagenbau
zusammen arbeiten, und diese Arbeitsplätze können
nicht verlagert werden.
({1})
Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, auch die kritischen Bereiche anzugehen. Auf diesen Arbeitsfeldern
zum Beispiel haben wir es in großem Umfang mit
Schwarzarbeit zu tun. Auch das ist ein Ziel der Koalition: diese illegalen Arbeitsplätze in legale Arbeitsplätze
zu verwandeln.
({2})
Mit über 104 000 Ausbildungsplätzen in zwölf Ausbildungsberufen stellt diese Branche 7 Prozent aller
Ausbildungsplätze in Deutschland. Um es auch an dieser
Stelle ganz klar zu sagen: Am Jugendarbeitsschutzgesetz
wird nicht gerüttelt werden; damit wissen die Verbände
gleich, woran sie sind.
({3})
Auf zwei Dinge möchte ich besonders aufmerksam
machen: Erstens. Die Tourismuswirtschaft schafft Binnennachfrage. Zweitens. Die Tourismuswirtschaft ist ein
Beschäftigungsmotor - beides Dinge, denen in den
nächsten Jahren unser ganzes Handeln gelten muss.
2004 war ein Rekordjahr: Es wurden über 42 000 neue
Ausbildungsverträge abgeschlossen; das ist eine Steigerung von 4,9 Prozent. Über 116 Millionen Gäste brachten den Beherbergungsbetrieben einen noch nie da gewesenen Höchststand; das ist gegenüber dem Vorjahr ein
Plus von 3,4 Prozent. Mit über 338 Millionen Übernachtungen konnte dies auf dem hohen Niveau des Vorjahres
stabilisiert werden. Die Zahlen machen deutlich, dass es
mit der Tourismuswirtschaft um einen Bereich geht, in
den zu investieren sich lohnt und in dem aktiv zu werden
sich für die neue Regierung ebenfalls lohnt.
({4})
Nach den Prognosen der Welttourismusorganisation
wird der europäische Markt bis 2020 jährlich um
3 Prozent wachsen. Unser Auftrag muss es sein, von diesem Kuchen ein großes Stück für Deutschland herauszuschneiden. Um dieses zu erreichen, indem wir die Werbung für Deutschland im Ausland und auch das
Inlandsmarketing weiter stärken, steht in der Koalitionsvereinbarung, dass wir die Deutsche Zentrale für Tourismus weiter auf einem hohen Niveau fördern werden.
({5})
Jeder Euro, der für Marketing eingesetzt wird, kommt
drei- bis vierfach wieder zurück. Das ist eine lohnende
Branche und darum begrüße ich diesen Part in unserer
Koalitionsvereinbarung sehr.
Wir müssen uns im Tourismusbereich sehr schnell anpassen - und damit auch die gesamte Tourismuswirtschaft: Wir haben es mit neuen Trends zu tun, auf die wir
nicht erst mit einem halben oder einem Jahr Verzögerung
reagieren dürfen, sondern die wir vorbereiten müssen,
um dann auch das Angebot machen zu können, das die
Menschen in unserem Lande und das die ausländischen
Gäste von uns verlangen.
({6})
Die Menschen in diesem Lande werden in Zukunft
weiterhin sehr reisefreudig sein, aber wir werden gerade
bei den Senioren ein anderes Reiseverhalten haben. Ich
sage ganz deutlich: Die Auswirkungen des demographischen Wandels auf den Tourismus werden in diesem Jahr
und in dieser Legislaturperiode ein Schwerpunkt für uns
sein. Denn wir haben nicht mehr die Senioren, die alleine mit dem Reisebus durch die Gegend fahren wollen,
sondern wir haben die, die im Reisen erfahren sind. Die
Senioren wollen auch nicht unbedingt ein Kurkonzert
besuchen, sondern vielleicht einen Jazzfrühschoppen.
Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, werden
auch wir sein: die reisen wollen in Deutschland und die
reiseerfahren sind. Darauf muss die Branche sich einstellen.
Wir haben 2006 besondere Ereignisse in Deutschland.
Ein besonderes Ereignis möchte ich ansprechen, weil es
für den Tourismus einfach eine Chance ist: Das ist die
Fußballweltmeisterschaft. Die Branche ist darauf eingestellt, viele Gäste zu empfangen: Es wird damit gerechnet, dass wir 3 Millionen zusätzliche Besucher in
Deutschland begrüßen können. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, das sind Multiplikatoren aus der ganzen Welt.
Diese Chance gilt es zu nutzen. Nicht nur die Fernsehübertragung sollte Deutschland als gastfreundliches
Land darstellen, sondern auch Deutschland sich selbst.
Dieser Aspekt ist für unser Land ein sehr wichtiger Aspekt.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir die Tourismuswirtschaft in diesem Land weiter stärken können, zusammen mit unserem Wirtschaftsminister, den ich hiermit ganz herzlich auch in den Ausschuss einladen
möchte. Denn die Tourismuswirtschaft ist ein boomender Markt für Deutschland und ich hoffe, dass Sie alle
mitmachen, dass das auch so bleibt.
({7})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich
liegen nicht vor.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/86 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zum Themenbereich Umwelt.
Außerdem rufe ich Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Den Klimawandel wirksam bekämpfen Deutschland muss Vorreiter bleiben
- Drucksache 16/59 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundeskanzlerin hat gestern in ihrer Regierungserklärung
den Satz von Willy Brandt „Mehr Demokratie wagen“
aufgegriffen und mit den Worten „mehr Freiheit wagen“
ergänzt.
Wollte man dem Umweltkapitel des Koalitionsvertrages von CDU, CSU und SPD ein ähnliches Motto geben,
so würde es wohl lauten: Mehr Fairness wagen.
({0})
Denn darum geht es, um mehr Fairness im Umgang mit
den Lebenschancen überall auf der Welt und um mehr
Fairness im Umgang mit der Zukunft unserer eigenen
Kinder und Enkelkinder. Diese Fairness haben viele
Menschen schon heute und haben in Zukunft wir selber
bitter nötig.
Es ist unfair, dass nach Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation schon heute jährlich 150 000 Menschen an Gesundheitsproblemen infolge des Klimawandels sterben. Es ist unfair, dass Hunderttausende Kinder
sterben, weil sie infolge des Klimawandels nicht ausreichend Wasser zur Verfügung haben. Es ist auch unfair,
dass der Kontinent mit den niedrigsten CO2-Emissionen,
nämlich Afrika, am meisten unter den Folgen von zunehmender Erwärmung, Trockenheit und Dürre zu leiden
hat. Wer riesige Flüchtlingsströme, Krieg und Bürgerkrieg in Zukunft verhindern will, der muss dafür sorgen,
dass Wasser vorhanden ist und dass die Menschen in ihrer Heimat überhaupt Lebenschancen haben.
({1})
Es ist unfair, dass die weltweite Vernichtung des Naturkapitals zukünftige Generationen in riesige Schwierigkeiten bringen wird. Urwälder verschwinden, die
Meere und die großen Süßwasserseen werden ausgeraubt, Lebensräume werden zerstört und mit Nährstoffen
überfrachtet. Ohne intakte Ökosysteme ist eine nachhaltige Nutzung undenkbar. Gerade in den ärmsten der armen Länder dieser Erde führt dies zu einem Teufelskreis
aus Armut, Zerstörung und Hunger.
Es ist übrigens auch unfair, unseren eigenen Kindern
und Enkelkindern, die in den Alpen oder an der Küste
Norddeutschlands leben wollen, ihre Heimat zu nehmen,
wenn sie in 50 oder 100 Jahren Schnee oder Gletscher
nicht mehr kennen und die Sturmfluten an den Deichen
immer gefährlicher werden.
Deshalb ist das zentrale Projekt der Umweltpolitik
dieser Bundesregierung der Klimaschutz. Das Umweltkapitel des Koalitionsvertrages von CDU, CSU und SPD
umfasst weit mehr Themen, die auch von großer Bedeutung sind. Wenn ich diese heute nicht im Einzelnen referiere, hat das nichts damit zu tun, dass wir sie vernachlässigen wollen. Aber es gibt, wie ich glaube, wirklich
ein menschheitsbedrohendes Problem, das in den letzten
Jahren immer deutlicher geworden ist.
Wir knüpfen damit nicht nur an die Politik der Vorgängerregierung von SPD und Grünen an, sondern übrigens auch an die Erfolge der heutigen Bundeskanzlerin
in ihrer Zeit als Bundesumweltministerin. Sie war es, die
das Berliner Mandat auf der Vertragsstaatenkonferenz
zum Kioto-Protokoll 1995 hier in Berlin durchsetzen
konnte.
({2})
Heute wissen wir: Klimaschutz ist zu einer Überlebensfrage der Menschheit geworden. Klimaschutz ist ein
Gebot der Fairness und der Gerechtigkeit. Klimaschutz
wahrt Zukunftschancen und sichert, ohne dass man dafür
viel Pathos aufwenden muss, in vielen Teilen der Welt
das Recht der Menschen auf Leben. Deshalb setzt sich
die neue Bundesregierung in Montreal für ein internationales Klimaschutzregime für die Zeit ab 2012 ein. Die
Europäische Union sollte sich multilateral verpflichten,
bis 2020 30 Prozent ihrer Treibhausemissionen zu reduzieren. Ich werbe dafür, dass sich Deutschland dann verpflichten kann - auch das steht im Koalitionsvertrag -,
deutlich mehr einzusparen, als wir uns bereits heute vorgenommen haben.
({3})
Meine Damen und Herren, wir wissen, dass viele
Länder der Welt in Gefahr sind, die Kioto-Ziele zur Senkung der Treibhausgase zu verfehlen. Der frühere Bundesumweltminister Klaus Töpfer hat in diesen Tagen gesagt: Die Weltgemeinschaft reagiert zu langsam. Wir
wissen, dass der Bremsweg im Klimaschutz sehr lang
ist. Was wir heute falsch machen oder unterlassen, wird
sich in 30 oder 40 Jahren bitter rächen.
({4})
Man muss aber auch sagen, dass man bei aller Kritik
an dem, was wir bisher trotz Kioto erreicht oder nicht erreicht haben, kein anderes Instrument so gut ausbauen
kann wie das Kioto-Protokoll. Wenn ein Baby noch
nicht richtig laufen, sondern nur krabbeln kann, dann geben wir es ja auch nicht zur Adoption frei, sondern dann
wollen wir ihm das Laufen beibringen.
Allerdings brauchen wir mehr Anreize für die Entwicklungsländer, ihre Entwicklung unter Vermeidung zu
hoher Kohlendioxid- oder Methanemissionen voranzutreiben. Dabei brauchen die Entwicklungsländer vor allen Dingen eine massive Unterstützung in Bildung, bei
der Aufforstung und vor allem auch bei Investitionen in
moderne Technologien.
({5})
Man wird die Entwicklungsländer zur Teilhabe am
Kioto-Mechanismus, mit dem klare Minderungsziele
verbunden sind, aber nur dann überzeugen können, wenn
die Industrieländer selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Wir brauchen in den Industrieländern mehr Anreize
für ihre Energieproduktion, um neue Technologien zu
entwickeln und in erneuerbare Energien zu investieren.
Umweltpolitik muss dafür in den kommenden Jahren
mehr denn je Innovations- und Technologiepolitik sein.
Die neue Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD
hat sich deshalb vorgenommen, den Forschungsbereich
für erneuerbare Energien auszubauen und übrigens
auch international zu vermarkten. Durch den Koalitionsvertrag wird gezeigt, dass Deutschland Vorreiter mit seiner nationalen Klimaschutzpolitik bleiben will und diese
Rolle auch ausbaut. Es bleibt bei den ambitionierten Zielen im Klimaschutz. Das gilt auch für den Nationalen
Allokationsplan II und auch auf der Grundlage des bereits beschlossenen Zuteilungsgesetzes 2005/2007.
Wir setzen weiter auf den Ausbau erneuerbarer Energien, wir bauen die Nutzung von Biomasse aus, es bleibt
bei der Kraftstoffstrategie „Weg vom Öl“ und wir wollen
gerade die Biomasse stärker dazu nutzen, die Biokraftstoffe in einem Industrieland wie Deutschland, das auf
Mobilität angewiesen ist, aus ihrer Nische herauszuholen. So wichtig es ist und war, den Einstieg über das
Rapsöl zu schaffen, um zu zeigen, dass Mobilität auch
mit anderen Kraftstoffen möglich ist: Für ein 82-Millionen-Volk, eine automobile Gesellschaft, brauchen wir
eine industrielle Strategie für Biomasse, um daraus
Kraftstoff herzustellen. Ich bin froh, dass wir uns im
Koalitionsvertrag darauf haben verständigen können.
({6})
Die Förderung der erneuerbaren Energien sorgt schon
heute für mehr Arbeit. Ob Lauchhammer in der Lausitz,
Solar World in Freiberg, Windkraft in Niedersachsen
oder Mecklenburg-Vorpommern: Über 150 000 Menschen arbeiten inzwischen im Bereich der regenerativen
Energien. Die Branche ist längst ein echter Exportschlager. Insofern freue ich mich, dass auch die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung gestern erklärt hat, sie
wolle mithelfen, den Export der Technologien für die erneuerbaren Energien in die gesamte Welt zu erhöhen.
Die Aufgabe, vor der wir stehen, ist in der Tat riesig.
Wir müssen unseren Energie- und Rohstoffverbrauch
vom notwendigen wirtschaftlichen Wachstum entkoppeln. Es darf keinen Widerspruch zwischen dem Ziel,
Wachstum in unserer Volkswirtschaft zu erreichen, und
der gleichzeitigen Reduktion von Treibhausgasen geben.
Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die
schrittweise Veränderung unserer über 100 Jahre lang
gewachsenen Struktur der Energieerzeugung.
Das schaffen wir erstens, indem wir im Bereich der regenerativen Energietechnologien weiterhin weltweiter
Vorreiter sind. Im Bereich von Windkraft, Photovoltaik
und Biomasse müssen wir unsere Innovations- und Technologieführerschaft behaupten. Das bedeutet übrigens
auch, dass wir im Bereich des Infrastrukturbeschleunigungsgesetzes dafür sorgen müssen, dass die Netzanbindung für Offshore-Windparks tatsächlich möglich wird.
Die Informations- und Kommunikationstechnologien
waren Schlüsseltechnologien. Erneuerbare Energien und
Energieeffizienz werden in Zukunft weitere Motoren des
Fortschritts sein. Die Märkte für Umweltgüter wachsen.
Hier müssen wir Weltspitze bleiben; denn nur umweltverträgliche Arbeitsplätze sind am Ende sichere Arbeitsplätze.
({7})
Zweitens. Die Modernisierung und auch die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft erfordert natürlich den Einsatz moderner Technologien zur Reduktion
der Treibhausgase bei der Nutzung von fossilen Brennstoffen. SPD und Grüne hatten sich vorgenommen, bis
zum Jahr 2020 20 Prozent der erneuerbaren Energien
zur Stromerzeugung zu nutzen. Es bleibt bei diesem
Ziel. Das ist ein bereits ambitioniertes Ziel, das wir sogar
übertreffen zu können hoffen. Aber am Ende bleiben
80 Prozent der Energieerzeugung bei fossilen Brennstoffen übrig.
Deswegen kann es keinen anderen Weg geben, als dafür zu sorgen, durch den Einsatz moderner Technologien
deutlich zur Reduktion der Treibhausgase bei der Nutzung fossiler Brennstoffträger zur Energieerzeugung
beizutragen. Wir sehen in diesen Tagen zum Beispiel bei
Bion Petroleum, früher British Petroleum, BP, dass solche neuen Technologien entwickelt werden, die uns helfen können, auch dort zur Verringerung der Klimaprobleme beizutragen.
Drittens. Wir müssen mit Ressourcen effizienter umgehen. Die Nutzung der Umwelt hat ihren Preis. Es ist
ein guter und marktwirtschaftlicher Weg gewesen, dazu
beizutragen, dass die Nutzung von Umwelt, aber auch
die Verschmutzung von Umwelt ein Kostenfaktor in der
betriebswirtschaftlichen Rechnung wird. Das ist beim
Zertifikatshandel, besser „Cap and Trade“, gelungen.
Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass marktwirtschaftliche Anreize und Systeme nicht nur in den Lehrbüchern der Universitäten stehen, sondern sie dann,
wenn es gilt, sie anzuwenden, in der Praxis akzeptiert
werden. Ich staune manchmal, wie diejenigen Vertreter
von Wirtschaft und Wissenschaft, die ansonsten marktwirtschaftliche Positionen vertreten, ausgerechnet dann,
wenn es darum geht, die volkswirtschaftlichen Kosten
für Umweltverbrauch und die Nutzung von Umwelt in
die betriebswirtschaftliche Kostenrechnung zu internalisieren, von marktwirtschaftlichen Anreizen nichts mehr
wissen wollen.
({8})
Wir glauben, dass das Ziel sein kann, am Ende Megawattstunden, nicht Menschen arbeitslos zu machen.
Wenn man dieses Ziel in der Industriepolitik verfolgen will, heißt das auch, dass man den Wirtschafts- und
Wettbewerbsstandort Deutschland nicht überfordern
darf. Auch das gehört zur Realität. Wenn wir sachbezogene und erfolgreiche Umweltpolitik machen wollen,
kann das nicht bedeuten, eine Inselpolitik zu betreiben
oder im Ergebnis bei uns exzellente Anforderungen zu
formulieren, wenn dann der CO2-Ausstoß in anderen
Ländern der Welt stattfindet und in Deutschland Arbeitsplätze abgebaut werden. Auch das gehört zu einer realitätsbezogenen Umweltpolitik. Um genau diese Balance
geht es. Wir brauchen die Partnerschaft mit der Wirtschaft; denn wir dürfen die Wirtschaft nicht aus der Verantwortung entlassen.
Man kann aus der Atomenergie aussteigen, aber eben
nicht aus der Industriegesellschaft und dem globalen
Wettbewerb. Aber mit Umwelt- und Klimaschutz kann
man Gott sei Dank inzwischen richtig Geld verdienen.
Allein in diesem Jahr beträgt der Umsatz im Bereich der
erneuerbaren Energien über 11 Milliarden Euro mit steil
ansteigender Tendenz. Längst ist der Umweltschutz
nicht nur in diesem Bereich Impulsgeber für Innovation
und Wettbewerbsfähigkeit. Umweltverträgliche Technologien sind auf dem Weltmarkt ein echter Wettbewerbsvorteil. Das Welthandelsvolumen für potenzielle Umweltgüter hat sich seit 1993 fast verdoppelt. Deutschland
ist mit einem Marktanteil von knapp 19 Prozent weltweit
der größte Exporteur von Umweltschutzgütern.
Der Verknüpfung von wirksamem Klima- und Umweltschutz mit erfolgreicher wirtschaftlicher Entwicklung dient auch das, was wir im Koalitionsvertrag für
das Altbausanierungsprogramm festgeschrieben haben. 1,5 Milliarden Euro zur energetischen Gebäudesanierung hilft den Handwerksbetrieben, Bauaufträge zu
bekommen, der Dämmstoffindustrie und dem Klima.
Das zeigt, wie praxisorientiert die große Koalition an die
Lösung solcher Probleme herangegangen ist.
({9})
Ein weiteres Thema, das in der großen Koalition eine
hohe Bedeutung hatte, ist das so genannte Grüne Band.
Wir wollen bis zu 125 000 Hektar gesamtstaatlich repräsentative Naturschutzfläche des Bundes unentgeltlich in
eine Bundesstiftung einbringen oder an die Länder oder
Private übertragen.
Natürlich sind wir in der Debatte um die Umweltpolitik - das gehört zur Redlichkeit in der Debatte über die
Regierungspolitik der kommenden Jahre dazu - nicht in
allen Fragen übereingekommen. Das in der Öffentlichkeit breit diskutierte Thema Atomenergie bzw. Nutzung
der Kernenergie zur Stromerzeugung ist zwischen den
Koalitionspartnern nicht einvernehmlich zu regeln gewesen.
Ich bin froh, dass wir das im großen gegenseitigen Respekt vor den unterschiedlichen Positionen debattiert und
nicht versucht haben, Formelkompromisse zu finden, die
verschleiern, dass es unterschiedliche Ausgangspositionen gibt.
Vor diesem Hintergrund bleibt es aber dabei, dass die
geltende Atomgesetznovelle und auch die Ausstiegsverträge eine klare Ausstiegsposition und -option geschaffen und eine Entwicklung in Gang gesetzt haben, durch
die die Kernenergie in Zukunft nicht mehr zu den zukunftsträchtigen Energieträgern in Deutschland zählen
wird.
({10})
Beide Koalitionspartner widmen allerdings einer
Frage besondere Aufmerksamkeit, nämlich dem sicheren Betrieb der vorhandenen Atomkraftwerke. Auch diejenigen, die aus der Atomenergie aussteigen wollen und
auf den Verträgen und der Atomgesetznovelle beharren,
wissen, dass die Atomkraftwerke noch 20 Jahre in Betrieb sind und zum Energiemix in Deutschland beitragen. Deswegen werden wir das Sicherheitsmanagement in den Anlagen selbst überprüfen, aber auch die
staatliche Atomaufsicht den Erfordernissen anpassen.
Wir müssen das kooperativ mit den Ländern machen.
Aber wir wollen wirklich wissen, ob es stimmt, dass es
mit unserer Art des Umgangs mit der Atomaufsicht bzw.
dem Sicherheitsmanagement besser bestellt ist als in
anderen Ländern der Erde. Ich meine, das sind wir den
Menschen in Deutschland schuldig.
({11})
Die gleichen Bemühungen um höchstmögliche Sicherheit gelten bei der Endlagersuche. Ich bin der
Überzeugung, dass die Festlegung auf den Standort Gorleben ohne Standortvergleich nicht vertretbar ist. Es ist
übrigens auch unfair gegenüber den nachfolgenden Generationen; denn sie müssen sich darauf verlassen können, dass wir unterschiedliche Standorte verglichen haben, um dann den sinnvollsten Standort auszuwählen.
({12})
Aber eines ist auch klar: Gerade diejenigen, die sich
für den Ausstieg aus der Kernenergie entschieden haben,
sind verpflichtet, nach einem sicheren Endlager zu suchen. Das ist Bestandteil eines denkbaren Ausstiegs. Insofern bin ich auch darüber froh, dass wir uns darin einig
sind, diese Frage nicht unendlich vor uns herschieben zu
können.
({13})
- Bei dem Thema Atomenergie klatscht immer jeder so,
wie es ihm gerade in den Kram passt. Ich finde übrigens,
wir sollten die unterschiedlichen Auffassungen wirklich
nicht verschleiern. Ich bin dafür, dass wir das in großer
Offenheit miteinander bereden.
Gestern wurde mehrfach appelliert, nicht in den alten
Schützengräben zu bleiben. Ich finde, das gilt auch in
dieser Frage. Wir brauchen eine offene Diskussion. Das
sind wir den Menschen schuldig, und zwar nicht nur unseren Wählern, sondern allen. Wir müssen die Frage
letzten Endes sachbezogen klären. Auch das gehört zum
fairen Umgang nicht nur innerhalb der Koalition, sondern vor allen Dingen mit denjenigen, die von unseren
Entscheidungen betroffen sind.
({14})
Umweltschutz ist praktizierte Gerechtigkeit und
Fairness. Weltweit wird auch in der Politik viel zu sehr
nach dem Motto „Das Hemd ist mir näher als der Rock“
gehandelt. Der Rock wäre in unserer modernen Sprache
wohl der Mantel. Als Mantel sind die Erdatmosphäre,
die Süßwasservorräte, der Boden, die Wälder und die
Meere zu verstehen. Das Hemd ist die Art, wie wir heizen, welche Art von Mobilität wir pflegen und welche
Produkte wir kaufen.
Die Dresdner an der Elbe, die Münsterländer in diesen Tagen und die Bewohner im chinesischen Harbin
wissen, dass das Hemd nur noch ein dünner Fetzen ist,
sobald der Rock einen kleinen Riss bekommt. Wir müssen den Rock, der allen gehört, instand halten und wieder instand setzen.
Dabei geht es übrigens auch darum, Schulden abzutragen. Es gibt nicht nur Schulden im finanziellen Sinn.
Vielmehr hat eine bestimmte Form der industriellen Entwicklung zu unseren gegenwärtigen Problemen beigetragen. Das ist nicht zu verhindern, weil Menschen immer
auf dem jeweiligen Stand der Technik arbeiten. Aber wir
müssen erkennen, dass es eine Schuld gibt, und zwar gegenüber unseren Enkeln, die wir ebenso abzutragen haben wie die staatlichen Defizite in unseren Haushalten.
({15})
Herr Bundesminister, ich darf Sie darauf hinweisen,
dass Ihre Redezeit überschritten ist und Ihr Fraktionskollege die Konsequenzen daraus zu tragen hat.
Vielen Dank für den Hinweis. Ich muss mich erst eingewöhnen. Aber ich bin gleich fertig. Ich hoffe, der Kollege hat Verständnis dafür.
Ich finde, das sollten auch die Skeptiker erkennen:
Umweltpolitik zu gestalten heißt, als Vertreter späterer
Generationen fairen Wirtschaftskreisläufen den Weg zu
bahnen und gerechtere Lebensstile zu stimulieren. Der
Koalitionsvertrag, das Regierungsprogramm, stellt dafür
aus meiner Sicht die richtigen Weichen.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich erteile nun dem Kollegen Michael Kauch von der
FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Schutz der Umwelt ist Teil einer Politik für Generationengerechtigkeit. Er steht für einen verantwortlichen
Umgang mit den Ressourcen und dafür, die Lebensräume der Tiere und die Gesundheit der Menschen zu
bewahren. Umweltpolitik ist nicht zuletzt auch langfristige Wirtschaftspolitik. Markt, Wettbewerb und Unternehmertum, Bürokratieabbau und Innovation, das müssen auch und gerade Kategorien ökologischer Politik
werden.
({0})
Das Ende der grünen Regierungsbeteiligung bietet die
Chance auf Abkehr von einer staatswirtschaftlichen,
überregulierenden und ökoromantischen Umweltpolitik.
Diese Chance müssen Sie, Herr Gabriel, nun ergreifen.
Es reicht nicht, sich zum Innovationsminister zu erklären. Vielmehr muss man das auch leben.
({1})
Wir, die FDP, erwarten von der neuen Bundesregierung, dass sie insbesondere auf den Feldern aktiv wird,
die in der Vergangenheit vernachlässigt wurden. Die
Lärmbekämpfung gehört dazu. Umfragen zeigen:
Lärm ist für viele Menschen ein großes Umweltproblem.
Studien belegen: Dauerhafter Lärm ist eine ernsthafte
Gefahr für die Gesundheit. Sieben Jahre lang hat RotGrün ein modernisiertes Fluglärmgesetz angekündigt.
Aber ein Ergebnis gibt es bis heute nicht.
({2})
Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, unverzüglich einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen.
Ich bitte Sie, die Pläne der Exminister Trittin und Stolpe
über Bord zu werfen, die Anwohner erster, zweiter und
dritter Klasse vorsahen. Wir, die FDP, sind der Meinung,
dass alle Anwohner, egal ob von neuen oder bestehenden
Flughäfen, von Verkehrs- oder Militärflughäfen, den
gleichen Schutz verdient haben.
({3})
Auch auf der Schiene muss mehr passieren. Wir müssen vor allem den Lärm an der Quelle mindern. Aber das
werden wir mit öffentlichen Mitteln allein nicht schaffen. Lärmschutz muss sich für die Bahnunternehmen
rechnen. Das wird durch lärmabhängige Trassenpreise
gelingen. Das blockiert die Deutsche Bahn Netz AG allerdings bisher. Sie sind als Bundesregierung und Eigentümer dieses Unternehmens gefordert, hier zu handeln.
({4})
Der Wettbewerb in der Entsorgungswirtschaft
kommt ebenfalls nicht voran. Das geht zulasten der Bürger, die die Zeche zahlen müssen. Die Koalitionsvereinbarung zementiert das Umsatzsteuerprivileg der kommunalen Unternehmen bei Abwasser und Abfall.
({5})
Diese Lobbypolitik zugunsten öffentlicher Unternehmen
verzerrt den Wettbewerb. Die Kunden zahlen die Zeche.
({6})
In der Abfallwirtschaft werden innovative Konzepte behindert, und zwar sowohl von den Grünen als auch von
Schwarz-Rot, und das unabhängig von der Erkenntnis,
dass es in ökologischer Hinsicht teilweise sinnvoller ist,
den Müll in Ballungsgebieten gesammelt abzufahren
und dann maschinell zu trennen. Alle drei Fraktionen haben argumentiert, man habe doch die Menschen zum
Mülltrennen erzogen und das sei ein Symbol für Umweltbewusstsein. Genau das ist der Unterschied zwischen rationaler und symbolorientierter Umweltpolitik.
Wir Liberale stehen für klar definierte ökologische Ziele
und nicht für zum Symbol erhobene Instrumente.
({7})
Kommen wir zu einem anderen Symbol, zur Endlagerfrage. Seit Jahren ist hier nichts vorangekommen,
weil die Grünen diese Frage zum Symbol ihrer Antiatompolitik erhoben haben. Rationale Umweltpolitik
darf sich dagegen nicht vor der Erkenntnis verschließen:
Unabhängig davon, wie man zur Atomenergie und zu ihrer weiteren Nutzung steht, haben wir alle eine gemeinsame Verantwortung für die kommenden Generationen.
Wir haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, den
Müll, den wir produziert haben, sicher zu entsorgen. Die
Lösung dieser Aufgabe darf nicht um weitere Jahre verschleppt werden.
({8})
Die Koalition hat angekündigt, in dieser Legislaturperiode zu einer Entscheidung zu kommen. Wir verlangen, dass man den Weg dorthin ergebnisoffen und ideologiefrei verfolgt und dass das Moratorium betreffend
Gorleben aufgehoben wird; denn es geht darum, die Erkundung fortzuführen, und nicht, sich auf Gorleben festzulegen.
({9})
Ich bitte die Union, sich an das zu erinnern, was sie in
der Opposition vertreten und im Deutschen Bundestag
beantragt hat, und sich insbesondere zur Zwei-EndlagerStrategie zu bekennen. Wenn Sie auch hier Ihre Inhalte
preisgeben, dann wird Ihnen die FDP als Oppositionsführerin dies nicht durchgehen lassen.
({10})
Wir begrüßen die Entscheidung der Koalition für ein
Umweltgesetzbuch. Das haben wir lange gefordert.
Aber es darf keine Mogelpackung werden. Das heißt, Sie
müssen die Schaffung des Umweltgesetzbuches tatsächlich mit Bürokratieabbau verbinden, ohne dass wir materielle Schutzstandards aufgeben. Wenn das gelingt, sind
wir als FDP ganz bei Ihnen.
({11})
Derzeit findet die Klimakonferenz in Montreal statt.
Der Klimaschutz braucht globale Lösungen und multilaterale Ziele. Die FDP tritt deshalb für die Fortsetzung
von Kioto ein. Weitere Länder wie die USA und China
müssen bewegt werden, sich dieser Gemeinschaft anzunähern. Kanada hat in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, dass einzelne Regionen, beispielsweise USBundesstaaten, am internationalen Emissionshandel teilnehmen können. Wir finden diese Idee ausgezeichnet
und bitten die Bundesregierung, in diese Richtung zu
verhandeln.
({12})
Beim Klimaschutz brauchen wir verbindliche und anspruchsvolle ökologische Vorgaben. Die FDP steht zum
Ziel, die CO2-Emission in der EU um 30 Prozent bis
zum Jahr 2020 zu verringern. Wir sagen aber auch: Wir
brauchen eine faire Lastenverteilung in der EU. Deshalb
finde ich es falsch, dass wir, bevor die Verhandlungen in
der EU überhaupt begonnen haben, nationale Ziele hinterherschieben. Die Franzosen und andere müssen sich
ebenso beteiligen wie wir.
({13})
Der Klimaschutz muss kostengünstiger werden. Pro
eingesetztem Euro müssen soviel Treibhausgase wie
möglich eingespart werden. Wir brauchen mehr Möglichkeiten für Unternehmer, Klimaschutzinvestitionen in
anderen Ländern zu erbringen. Deutschland muss rasch
in Verhandlungen über zwischenstaatliche Übereinkommen zur gemeinsamen Durchführung von internationalen Klimaschutzprojekten eintreten. Der Emissionshandel sollte alle klimarelevanten Gase einbeziehen und
er sollte auf Verkehr und Gebäude ausgeweitet werden.
Hier liegen die größten wirtschaftlich sinnvollen Einsparpotenziale.
({14})
Die Koalition hat zwar nun ein Programm zur
Gebäudesanierung angekündigt; das kann aber nur der
Anfang und nicht die Lösung sein. Wir brauchen ein umfassendes Energiekonzept für den Gebäudesektor, das
Maßnahmen zur Energieeffizienz und zum Einsatz erneuerbarer Energien im Wärmebereich einschließt. Das
notwendige Kapital - machen wir uns nichts vor - kann
nur aus dem privaten Sektor kommen. Deshalb brauchen
wir den Emissionshandel, der privates Kapital aus der
Industrie auch für den Gebäudesektor mobilisieren kann.
({15})
Im Verkehrsbereich bieten alternative Kraftstoffe eine
gute Lösung für Alternativen jenseits vom Öl. Die Antwort kann aber nicht allein Biokraftstoffe heißen. Die
Anbauflächen in Europa sind begrenzt, Monokulturen
nicht wünschenswert und der Import von Palmöl aus
Übersee fördert die Abholzung der Regenwälder. Biokraftstoffe können allerdings ein erster Schritt sein. Aber
was macht die Koalition? Sie plant einen ordnungspolitischen Sündenfall. Sie will die Steuerbefreiung für Biokraftstoffe abschaffen und durch eine Beimischungspflicht ersetzen.
({16})
- Das steht in Ihrem Koalitionsvertrag. Sie interpretieren
das hinterher alle anders.
({17})
Was aber bedeutet das? Der Biokraftstoff wird teurer als
Benzin und der planwirtschaftliche Zwang zur Beimischung erhöht den Benzinpreis insgesamt. Das Ergebnis:
Mehreinnahmen für den Staat und Erhöhung der Benzinpreise. Das ist eine Mineralölsteuererhöhung durch die
Hintertür. Sagen Sie das bitte den Menschen auch so
klar!
({18})
Große, allerdings langfristige Perspektiven jenseits
vom Öl bietet der Einstieg in die Wasserstoff- und
Brennstoffzellentechnologie. Die Halbherzigkeit bei
der Förderung der Wasserstofftechnologie in den letzten
Jahren muss beendet werden. Forschung und Entwicklung in diesem Sektor müssen zu einem Schwerpunkt
werden. Ich habe den Eindruck, dass hier vielleicht Bewegung hineinkommt. Das würde Wind- und Sonnenenergie neue Perspektiven für einen wirtschaftlich sinnvollen Einsatz geben: gespeicherte Energie, wenn die
Sonne nicht scheint und wenn der Wind nicht weht.
CO2-Einsparoptionen dürfen generell nicht ideologisch begrenzt werden. Die CO2-Abscheidung, effizientere Kohlekraftwerke und Effizienztechnologien in
Haushalt und Verkehr müssen vorangetrieben werden,
aber eben auch die Kernfusionsforschung; denn auch
sie bietet Potenziale für CO2-freie, sichere Energie.
({19})
Auch im Umweltsektor gilt: Wir brauchen mehr Freiheit für Unternehmertum und weniger staatliche Intervention, mehr marktwirtschaftliche Anreize und weniger
Ordnungsrecht. Nur so werden wir den Unternehmergeist für neue, innovative, wettbewerbsfähige Produkte
und Technologien wecken.
Herr Minister Gabriel, Sie haben in einem Interview
in der „Zeit“ erklärt, dass Sie Innovationsminister sein
wollen und dass das Umweltministerium Innovationsministerium werden soll. Wir Liberale begrüßen das und
werden Sie beim Wort nehmen. In diesem Sinne bieten
wir Ihnen als liberale Opposition eine kritische, aber
konstruktive Zusammenarbeit an.
Vielen Dank.
({20})
Das Wort hat nun die Kollegin Katherina Reiche,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Umweltkatastrophen wie der Chemieunfall in
China führen uns immer wieder auf erschreckende Art
und Weise vor, dass weltweit noch ein erheblicher Nachholbedarf im Umweltschutz besteht; schließlich handelt
es sich dabei um keinen Einzelfall. Die Europäische
Umweltagentur hat in dieser Woche einen Bericht vorgelegt, in dem sie darauf hinweist, dass Europa der
schlimmste Klimawandel seit 5 000 Jahren droht, sollte
sich die derzeitige Erderwärmung fortsetzen. Diese
Agentur schreibt, dass bis zum Jahr 2050 bei unveränderten Bedingungen drei Viertel der Schweizer Gletscher weggeschmolzen sind. Das ist wahrlich keine gute
Aussicht. Der Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen gehört in Deutschland inzwischen zum gesellschaftlichen Selbstverständnis. Wir haben seit vielen
Jahren ein sehr hohes Umweltschutzniveau und arbeiten
ständig auch an einem Umweltbewusstsein.
Die eben genannten Beispiele machen jedoch auch
deutlich, dass wir im Umweltschutz weltweit noch sehr
viel zu leisten haben. Es müssen neue Konzepte entwickelt werden, um wirtschaftliches Wachstum und den
Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Einklang zu
bringen. Das ist eine große Aufgabe. Wir werden nur erfolgreich sein, wenn uns der Ausgleich zwischen ökonomischen und ökologischen Interessen gelingt.
({0})
Es ist deshalb richtig, dass sich CDU, CSU und SPD in
ihrem Koalitionsvertrag verpflichtet haben, dass
Deutschland seine führende Rolle im Klimaschutz auch
weiterhin wahrnimmt, dass Deutschland im Umweltschutz auch weiterhin Vorbild ist.
({1})
Gerade beim Klimaschutz stehen wir vor großen Herausforderungen. So haben die Vereinten Nationen erst
in diesem Jahr einen Bericht vorgelegt, nach dem allein
die Industriestaaten im Jahr 2010 knapp 11 Prozent mehr
Treibhausgase ausstoßen werden als noch 1990. In den
Entwicklungs- und Schwellenländern wird dieser Anstieg noch höher sein.
Es müssen weitere, neue Wege gefunden werden, den
Treibhausgasausstoß weiter zu reduzieren. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass bis zum Jahr 2009 ein internationales Klimaschutzabkommen für die Zeit nach
2012 geschaffen wird, dass auf dem Kioto-Protokoll aufbaut. Dabei müssen auch andere Industriestaaten wie die
USA und die Entwicklungs- und Schwellenländer eingebunden werden. Insbesondere mit den USA muss es wieder zu einem konstruktiven Dialog kommen. Wir wollen
den Klimaschutz in einem partnerschaftlichen Verhältnis
mit den USA besprechen und aufbauen. Da wurde in den
vergangenen Jahren sicherlich einiges versäumt. Die
derzeitige Klimakonferenz in Montreal ist ein wichtiger
Schritt, um den Dialog wieder aufzunehmen.
Auch international wollen wir unserer Verantwortung
im Klimaschutz gerecht werden. Hierzu gehört beispielsweise eine Partnerschaft für Klima und Innovation,
die wir gemeinsam mit der deutschen Wirtschaft und den
gesellschaftlichen Gruppen anstoßen wollen.
({2})
Einen Schwerpunkt bildet für uns die energetische
Sanierung von Altbauten. Hier wollen wir das große
Potenzial zur Einsparung von Energie und CO2 angehen.
Ein beträchtliches Fördervolumen soll dafür aktiviert
werden. Das ist angesichts der schwierigen Haushaltslage sicherlich ein Kraftakt. Dass ungefähr zwei Drittel
der Gebäude in Deutschland wärmetechnisch sanierungsbedürftig sind, zeigt, dass wir hier auf dem richtigen Weg sind.
({3})
Die Bundeskanzlerin hat gestern in ihrer Regierungserklärung auf die großen Potenziale in der energetischen
Gebäudesanierung Bezug genommen. Dieses Programm ist nicht nur ein Beitrag zum Klimaschutz, sondern auch zur Förderung von Arbeitsplätzen im Mittelstand.
({4})
Die Energie- und Rohstoffpreise sind in den vergangenen Monaten deutlich gestiegen. Diese Entwicklung
hat unmittelbar Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit unserer deutschen Unternehmen. Wir müssen uns
von dieser Entwicklung unabhängiger machen und die
Energieversorgung in Deutschland auf eine breite Basis
stellen. Wir brauchen einen breiten Energiemix, der
keine Energieform ausschließt. Wir müssen noch stärker
auf erneuerbare Energien setzen, insbesondere auf nachwachsende Rohstoffe und Biomasse; wenn Sie so wollen: weg vom Öl.
Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang ein paar
Sätze zur Weißen Biotechnologie, also Ersatz endlicher
fossiler Brennstoffe durch nachwachsende Rohstoffe
bzw. Einsatz von biologischen Systemen wie Zellen oder
Enzymen als Katalysatoren in industriellen Prozessen.
Gerade die technologischen Durchbrüche auf den Forschungsgebieten der Enzymentwicklung, der Biokatalyse und der genetischen Modifizierung von Mikroorganismen stoßen in der chemischen Industrie auf ein
breites Interesse und auf eine große Nachfrage.
In der Weißen Biotechnologie sind wir zudem in einer
Situation, die wir leider nicht mehr in allen innovativen
Forschungsbereichen haben; denn wir haben hier eine
Position, die der der USA mindestens gleichwertig,
wenn nicht vorteilhafter ist. Diesen Vorteil dürfen wir
nicht verspielen, sondern müssen ihn ausbauen.
Die erneuerbaren Energien haben sich in den vergangenen Jahren zu einer wichtigen Säule der Stromversorgung entwickelt. Im Jahr 2004 betrug der Gesamtumsatz im Bereich der erneuerbaren Energien
11,5 Milliarden Euro, insgesamt wurden in diesem Bereich 6,5 Milliarden Euro investiert. Diese Branche hat
mittlerweile 100 000 Arbeitsplätze.
Katherina Reiche ({5})
Die erneuerbaren Energien entwickeln sich damit zu
einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. Allerdings müssen
wir bei ihrer Förderung auch immer die damit verbundenen Kosten berücksichtigen. Die Förderung der erneuerbaren Energien erfolgt nämlich vornehmlich durch eine
Umlage über die Strompreise. Nach Angaben des Verbandes der Elektrizitätswirtschaft betrug die Gesamtbelastung der Stromverbraucher im Jahr 2004 rund
2,3 Milliarden Euro. Wir müssen darauf achten, dass die
Förderung in einem ausgewogenen Verhältnis erfolgt.
Die Überprüfung der wirtschaftlichen Effizienz der Förderung im Jahr 2007 ist hierfür eine wichtige Festlegung
im Koalitionsvertrag.
({6})
Für die energieintensiven Unternehmen brauchen
wir zudem bessere Rahmenbedingungen. Stilllegungen
wie die des Aluminiumwerks in Hamburg soll es nicht
mehr geben. Die Härtefallregelung im EEG werden wir
novellieren.
Bisher sind die erneuerbaren Energien noch nicht
wettbewerbsfähig. Hier bedarf es vermehrter Anstrengungen in Forschung und Entwicklung, nicht nur im
öffentlichen, sondern auch im unternehmerischen Bereich. Die Innovationsinitiative „Energie für Deutschland“, die Union und SPD gemeinsam auf den Weg bringen wollen, ist hierfür ein zentraler Baustein. Wir wollen
die Ausgaben für Energieforschung schrittweise erhöhen, damit die erneuerbaren Energien und die Biomasse
sowie ein nationales Investitionsprogramm für die Wasserstofftechnologie gefördert werden können. Gleichzeitig wollen wir mit der Wirtschaft vereinbaren, dass sie
ebenfalls zusätzliche Mittel für Forschung und für Markteinführung von Energietechnologien investiert.
In den vergangenen Jahren wurde Umweltpolitik in
Deutschland oftmals als Wachstums- und Innovationshemmnis wahrgenommen. Wir müssen uns ernsthaft die
Frage stellen, welche Entwicklungen in der Umweltpolitik falsch gelaufen sind. Wenn der Feldhamster das Symbol für Investitionshemmnisse geworden ist und Umweltschutz als Wachstumsbremse erscheint, dann läuft
etwas falsch.
({7})
Leider waren die Vorwürfe nicht immer unbegründet;
das muss ich sagen, wenn ich an die EU-Chemikalienpolitik oder an die Energieforschung denke. Für viele Bürger und Unternehmen ist die Umweltpolitik sehr kompliziert; sie erscheint bürokratisch und ist auch teuer.
Deshalb muss die Umweltpolitik selbst einem Modernisierungsprozess unterzogen werden. Umweltpolitik
selbst muss effektiver und bürgerfreundlicher werden.
Die Bewahrung der Schöpfung und qualitatives Wachstum sind nicht zu trennen.
({8})
Deutschland verfügt über ein großes Wissen in der
Umwelttechnik, beispielsweise in der Wasserreinigung,
in der Abfallentsorgung, beim effizienten Einsatz von
Energie, bei Klimaschutz und auch bei erneuerbaren
Energien. Deutsche Unternehmen und Wissenschaftler
haben sich in diesem Bereich große Kompetenzen erworben und sind in der Umwelttechnik weltweit führend. Genau hier liegen auch die Chancen und ein ungeheures Innovations- und Wirtschaftspotenzial für
unser Land. Im Jahr 2003 lieferte Deutschland Umweltschutzgüter im Wert von 35 Milliarden Dollar ins Ausland. Das ist ein Welthandelsanteil von 19 Prozent. Damit sind wir in der Tat Exportweltmeister.
Wir brauchen aber auch einen Paradigmenwechsel
in der Umweltpolitik. Die Eigenverantwortung und die
Kooperation müssen gestärkt werden. Die Zusammenarbeit zwischen Politik und Wirtschaft muss auf eine neue
Vertrauensbasis gestellt werden. Daran hat es in den vergangenen Jahren manchmal gemangelt; oftmals war die
Umweltpolitik konfrontativ aufgestellt.
Unternehmen, die freiwillig umweltfreundliches Verhalten und umweltfreundliche Standards jenseits gesetzlicher Anforderungen eingeführt haben, müssen durch
Erleichterungen im rechtlichen Vollzug oder im Rahmen
von Berichtspflichten belohnt werden. Da reicht es nicht
aus, in einem Informationsblatt lobend erwähnt zu werden. Es geht um tatsächliche Erleichterungen.
({9})
Durch die Vereinbarungen zur Föderalismusreform
im Koalitionsvertrag ist eine wichtige Voraussetzung dafür geschaffen worden, die Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Ländern im Umweltrecht vernünftig
aufzuteilen. Zukünftig wird es möglich sein, das Umweltrecht schlanker und transparenter zu gestalten. Insbesondere die Schaffung eines Umweltgesetzbuches
kann nun angegangen werden.
Noch ein paar Worte zum Naturschutz, der in den vergangenen Jahren nicht immer im Zentrum des Interesses
lag. Auch hier wollen wir neue Impulse setzen. Bundesminister Gabriel hat dies schon angesprochen.
Wir wollen die gesamtstaatlich repräsentativen
Naturschutzflächen des Bundes wie das grüne Band an
der ehemaligen innerdeutschen Grenze in einer Größenordnung von 80 000 bis 125 000 Hektar in eine Bundesstiftung einbringen oder an die Länder übertragen. Das
ist für mich ein Beitrag, um für kommende Generationen
ein reiches Naturerbe unserer Heimat zu erhalten.
Meine Damen und Herren, der Bundespräsident hat
bei der Verleihung des Umweltpreises in Lübeck am
16. Oktober dieses Jahres die Bedeutung des Umweltschutzes wie folgt beschrieben:
Umwelt, Wirtschaft und Arbeit gehören zusammen.
Umweltschutz hilft, Kosten zu senken, Umweltschutz schafft Arbeitsplätze, Umweltschutz sichert
unsere natürlichen Lebensgrundlagen. Kurzum:
Umweltschutz ist nicht Mode, sondern modern. Er
gehört zu unseren Stärken in Deutschland.
Dieser Auffassung des Bundespräsidenten ist, so
denke ich, nichts hinzuzufügen. In diesem Sinne sollten
wir die Umweltpolitik und den Umweltschutz in unserem Lande in den kommenden Jahren begreifen.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun die Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wie einige von Ihnen sicher wissen, hatte ich die letzten
drei Jahre Gelegenheit, den Parlamentsbetrieb mit einiger Distanz zu beobachten. Ich will Ihnen jetzt nicht erzählen, dass das für Parlamentarier besonders erstrebenswert wäre. Aber es schärft doch gehörig den
Realitätssinn, gelegentlich vom Berliner Raumschiff auf
die Erde zurückzukehren, und zwar Vollzeit.
({0})
Gerade in der modernen Umweltpolitik geht es ja oft
um Dinge, die draußen kaum noch jemand versteht, entweder weil sie sehr kompliziert sind - siehe die EU-Chemikalienverordnung REACH, bei der kaum noch Experten durchblicken - oder weil sie im politischen Gezerre
derartig zerrupft werden, dass Bürgerinnen und Bürger
meinen, das Ganze sei vor allem ein Auswurf absurder
Regelungswut.
Die Geschichte des Dosenpfandes ist wohl ein Beispiel dafür, wie durch Blockaden von Teilen der Wirtschaft und Tricks im Bundesrat ein im Grunde sinnvolles
Instrument zum Abschuss freigegeben wurde. Einer
glaubhaften Umweltpolitik hat das mit Sicherheit geschadet.
({1})
So wird bei den Bürgerinnen und Bürgern Politikmüdigkeit und Frust systematisch organisiert.
Noch mehr Schaden richtet in diesem Zusammenhang
aber eine Politik an, die zynisch einen Teil der Gesellschaft zugunsten von Konzernen und Spitzenverdienern
in permanente Existenzangst versetzt oder gar in die Armut treibt, so wie es in den letzten Jahren unter RotGrün geschehen ist. Wenn zusätzlich zu den unsozialen
Kürzungen bei Hartz IV die Öl- und Gaspreise steigen,
braucht niemand bei Arbeitslosengeld-II-Empfängern
um Verständnis für endliche Ressourcen zu werben,
({2})
vor allem dann nicht, wenn die Energieversorger in einer
kaum noch zu überbietenden Dreistigkeit ihre Vormachtstellung für traumhafte Profite ausnutzen. Darüber hat
Frau Reiche nicht gesprochen.
({3})
Auch über die Gefahren des Klimawandels und über
umweltfreundliche Mobilität lässt es sich in Berliner
Szenecafés netter diskutieren als auf überfüllten Arbeitsämtern in Prenzlau, Erfurt, Bremen oder Coburg.
({4})
Wenn dann dort jemand einen 200 Kilometer entfernten
Job bekommt, wird er oder sie morgens und abends eben
pendeln, erstens weil sie es ja müssen - ansonsten wird
ihnen nämlich das Arbeitslosengeld gestrichen - und
zweitens weil sie wegen eines vielleicht befristeten Vertrages in einer Firma, die dazu wahrscheinlich auch noch
regelmäßig mit Abwanderung oder Stellenabbau droht
- wir kennen das; zumindest ich kenne das -, klugerweise nicht Haus und Hof aufgeben und die Familie umsiedeln wollen.
({5})
Hinzu kommt, weil die Bahn in der Fläche platt gemacht wird - dazu würde ich gern von Ihnen Vorschläge
hören - und der ÖPNV ständig verteuert wird: Es muss
wohl das Auto benutzt werden. Auch Frau Merkel will ja
die Zuschüsse für den Nahverkehr drastisch kürzen. Leider ist sie jetzt nicht da.
Sind es nun wirklich solche Beschäftigten, die das
Klima schädigen, oder sind es diejenigen, die die Menschen dazu zwingen,
({6})
oder gar diejenigen, die von diesen unsozialen Rahmenbedingungen profitieren, etwa die Unternehmen, die mit
Ihrer Hilfe die Löhne drücken und die Arbeitszeiten verlängern können? Und das, obwohl Deutschland reicher
ist denn je! Über Nachhaltigkeit lässt sich auch so herum
diskutieren, meine ich.
Nicht zu vergessen: Von den weltweit 100 umsatzstärksten Konzernen der Forbes-Liste verdienen 60 ihr
Geld mit Öl, Ölverarbeitung oder Automobilen. Unternehmen wie BMW, Daimler-Chrysler, Shell oder Exxon
geben damit vor, was produziert wird und welche Stoffströme fließen.
({7})
Sie haben dadurch auch die Macht, zu diktieren, welche
Infrastruktur für ihre Gewinnmaximierung vom Staat bereitgestellt wird.
Aus dem Autokanzler ist nun gerade eine Autokanzlerin geworden. Schließlich nehmen die Koalitionsfraktionen laut Koalitionsvertrag klaglos hin, dass der Güterverkehr bis 2015 gegenüber 1997 um gigantische 64 Prozent steigen soll. Private Lösungen beim Autobahnbau
werden das flankieren. Und wir werden wohl in absehbarer Zukunft auf der Fahrt zur Allianz-Arena auf dem
Coca-Cola-Ring im Stau stehen.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist alles klimaund verkehrspolitischer Wahnsinn. Wie die Bundesrepublik damit ihr Kioto-Ziel erreichen will, ist uns schleierhaft. Die glücklicherweise beibehaltene Förderung der
erneuerbaren Energien wird das niemals rausreißen,
auch nicht die begrüßenswerte Initiative zur Wärmesanierung. Dass dort etwas nicht stimmt, hat sogar Frau
Merkel bemerkt. Im Papier ist bei der Selbstverpflichtung bis 2020 gegenüber 1990 dann folglich nur noch
von minus 30 Prozent bei den Klimagasen die Rede. Das
ursprüngliche Ziel war einmal bei minus 40 Prozent; das
sollten wir nicht vergessen.
Wahrscheinlich wird auch diese Light-Variante im
Klimaschutz ähnlich still und heimlich begraben werden
wie das einstmals von den Vorgängerregierungen Kohl
und Schröder bis zum Jahr 2005 vorgegebene 25-Prozent-Reduktionsziel.
Apropos: Hat eigentlich jemand von Ihnen bemerkt,
dass hierzulande der Ausstoß des wichtigsten Klimagases Kohlendioxid in allen folgenden Jahren seit 2000 jeweils höher war als im Jahr 1999, dem ersten vollen
Amtsjahr der abgewählten rot-grünen Regierung?
Bevor ich zur Klimakonferenz in Montreal komme,
noch ein Wort zur Chemikalienpolitik. Die Linke findet
es sehr bedauerlich, dass es der chemischen Industrie gelungen ist, den längst überfälligen EU-Verordnungsvorschlag mittels Präsidentschaft und Parlament aufzuweichen.
({9})
Wie man heute in der „taz“ lesen kann, hat der neue
Umweltminister, Herr Gabriel, nichts anderes zu tun, als
in Brüssel weiter Druck im Sinne der Chemiekonzerne
auszuüben. Die Registrierungsanforderungen für die
30 000 Altstoffe, über die den Behörden bislang kaum
Daten und Tests vorliegen, sind schon jetzt deutlich gesunken. Soll der jahrzehntelange Menschenversuch
wirklich weitergehen?
({10})
Ein Rückschritt ist übrigens auch die Offensive der
Koalition für den Ausbau der hochriskanten Gentechnik.
Ich bin der Meinung, wir brauchen diese Technologie in
der Landwirtschaft eben nicht. Sie ist gefährlich und zerstört deutlich mehr Arbeitsplätze, als sie schafft.
({11})
Die USA haben in Montreal gerade die Ausweitung
von Klimaschutzvereinbarungen für die Zeit nach
2012 abgelehnt. Trotz New Orleans und einer Rekordhurrikansaison wollen sie für die Reduzierung der Treibhausgase weder konkrete Mengenziele noch einen Zeitplan. Wir halten das für einen Skandal.
Die Linke unterstützt den Antrag der Grünen zu
Kioto II, auch wenn darin fälschlicherweise von einer
gegenwärtigen Vorreiterrolle Deutschlands und Europas
die Rede ist. Aber geschenkt!
({12})
Wichtig ist, dass ein Nachfolgeabkommen für die Zeit
ab 2012 das Kioto-Protokoll als Vorbild haben muss,
und zwar mit Zielen, die weltweit eine Reduktion der
Treibhausgasemissionen um 50 Prozent bis 2050 ermöglichen. Das Kioto-Protokoll lässt genügend Raum für
unterschiedliche Typen von Verpflichtungen und Sanktionsverfahren. So können auch Entwicklungsländer entsprechend ihren jeweiligen nationalen Besonderheiten
eingebunden werden. Dazu gehören auch so genannte
flexible Mechanismen mit ihren handelbaren Emissionsrechten, auf die sich die Bundesregierung anscheinend
ganz besonders freut.
Die Linke warnt hier ausdrücklich, die Kriterien zur
Registrierung aufzuweichen. CDM, JI und Emissionshandel dürfen nicht dazu missbraucht werden, sich hierzulande vor tatsächlichem Klimaschutz zu drücken. Ansonsten holen wir uns Millionen von Tonnen heißer Luft
ins Kioto-System. Das wäre genau das Gegenteil von
Klimaschutz.
({13})
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Reinhard
Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, auch im Namen meiner Fraktion viel
Glück für Ihre Arbeit. Wir werden Sie mit Herzblut, mit
Sachverstand, aber auch, wenn es nötig ist, mit der notwendigen Angriffslust begleiten. Das verspreche ich Ihnen.
Das Amt, das Sie jetzt innehaben, ist ein sehr wichtiges Amt. Eigentlich ist es das Ministerium für existenzielle Angelegenheiten: für sauberes Wasser, für saubere
Luft, für die biologische Vielfalt, für die Bewahrung der
Natur im weitesten Sinne, für den Schutz der Böden und
für den Beitrag unseres Landes zum Schutz der globalen
Umweltgüter wie der Meere, des Klimas und der Ozonschicht.
Das Umweltministerium ist, wenn man so will,
gleichzeitig Verteidigungsministerium und Innovationsministerium. Es muss Natur und Umwelt verteidigen gegen machtvolle Interessengruppen, gegen Schadstoffe,
gegen Übernutzung, gegen Rücksichtslosigkeit und gegen schlechte Gewohnheiten. Dieser Verteidigungsaspekt ist und bleibt wichtig. Man darf ihn nicht unterschätzen.
Aber dieses Ministerium ist auch - diese Auffassung
teilen wir; das sagen wir schon seit Jahren - ein Innovationsministerium. Denn die Förderung von umweltentlastenden Innovationen ist ein ganz zentraler Baustein
der Innovationspolitik. Dies betrifft Technologien aller
Art - einige wurden schon genannt -: von den erneuerbaren Energien bis zur Weißen Biotechnologie, von effizienter Kraftwerkstechnik bis zur Bionik oder von neuen
Antriebstechniken im Verkehr bis zu Biokraftstoffen und
Brennstoffzellen. Es liegt ein weites Feld der unbegrenzten Möglichkeiten vor uns. Wir sollten uns dazu entscheiden, es wirklich entdecken zu wollen. Da sollten
wir alle an einem Strang ziehen.
({0})
Wir sollten auch denjenigen die rote Karte zeigen, die
wie der BDI in seinem Positionspapier, über das heute
berichtet wird, immer noch so tun, als seien Ökologie,
Umweltschutz und Nachhaltigkeit eines der zentralen
Entwicklungshemmnisse. Nein, meine sehr verehrten
Damen und Herren vom BDI, das Gegenteil ist der Fall.
Bitte begreifen Sie das endlich! Es ist wirklich zwingend.
({1})
Es ist genauso wichtig, darauf hinzuweisen, dass Umweltpolitik als Innovationspolitik eben nicht nur Technologiepolitik ist. Es geht auch um intelligente Instrumente. Es geht zum Beispiel um das ErneuerbareEnergien-Gesetz und um die Ökosteuer, also um gezielte
Anreize zur Einsparung von Energie. Es geht um neue
Instrumente wie das Contracting, also quasi um das
Geldverdienen mit Energieeinsparung, und um den TopRunner-Ansatz, den wir schon eingebracht haben. Dieser Ansatz beinhaltet, dass nicht mehr der Staat, sondern
der Beste den Standard setzt. Alle sollen vom Markt fliegen, die diesen guten Standard nicht innerhalb einer gewissen Frist erreichen.
Ein ganz wichtiger Punkt ist auch die Nachhaltigkeitsstrategie. Hier muss der Dialog gesucht werden.
Man könnte sagen, dass Nachhaltigkeit im 21. Jahrhundert ein anderes Wort für Generationengerechtigkeit, für
Nord-Süd-Gerechtigkeit und für Solidarität ist. So sollten wir Nachhaltigkeit begreifen.
({2})
Das Umweltministerium - ich wiederhole es - ist
zwar ein wichtiges, aber auch ein sehr schwieriges
Ministerium, weil die meisten umwelt- und technologiepolitischen Entscheidungen natürlich in anderen Ministerien fallen: im Verkehrsministerium, im Bauministerium, im Wirtschaftsministerium, im Agrarministerium
und im Forschungsministerium. Das heißt, der Umweltminister muss sich qua Amt in andere Ressorts einmischen. Das ist unbequem. Sein Erfolg hängt davon ab, ob
sich die gesamte Regierung an dem Ziel der Nachhaltigkeit orientiert.
Ein Vorgehen nach dem Motto, macht ihr eures, ich
mache meines, wird definitiv zum Scheitern verurteilt
sein. Herr Gabriel, ich muss leider sagen - diese Kritik
meine ich durchaus ernst -, dass wir ein bisschen die Befürchtung haben, dass Sie Ihre Arbeit so angehen wollen.
Sie müssten sich eigentlich in die Chemikalienpolitik,
die Agrogentechnik oder die Verkehrspolitik einmischen.
Wenn jetzt zum Beispiel in der Zeitung zu lesen ist,
dass Sie sich dafür einsetzen, das EU-Chemikalienrecht weiter zu entschärfen, dann muss ich dazu sagen:
Das ist ein starkes Stück. Sie wollen verhindern, dass der
Einsatz von besonders giftigen Chemikalien nur noch für
fünf Jahre genehmigt wird, was wir für richtig halten.
Sie wollen verhindern, dass besonders giftige Chemikalien einem Substitutionsgebot unterliegen, dass also
zwingend nach Alternativen gesucht werden muss, was
wir für richtig halten. Ich muss sagen: Es ist falsch und
ein ganz schlechtes Signal, wenn der Bundesumweltminister auf seiner ersten Sitzung im Ministerrat nicht für
die Interessen der Verbraucher und der Umwelt streitet,
sondern für vermeintliche Industrieinteressen. Das ist
auf der ganzen Linie falsch.
({3})
Denn man muss ja wissen: Die Chemikalienrichtlinie
ist bereits im Europaparlament deutlich verwässert worden. Es ist völlig unakzeptabel, dass ausgerechnet die
deutsche Bundesregierung sie weiter verwässern will.
Ich halte diesen Ansatz auch innovationspolitisch für
völlig falsch. Es kann doch nicht richtig sein, dass ungetestete Altstoffe gegenüber Neustoffen, die einem langwierigen Testverfahren unterzogen werden müssen, bevorteilt werden. Das ist keine Innovationspolitik.
({4})
Wir fordern Sie deshalb auf, Ihre Blockadehaltung im
Ministerrat aufzugeben. Das wollte ich Ihnen von hier
aus sagen. Sie sollten dort nicht nur die Positionen des
VCI und der IG BCE vortragen, sondern auch die Interessen der deutschen Öffentlichkeit vertreten. Das ist in
diesem Fall wirklich wichtiger.
({5})
Wenn ich schon einmal beim Thema Ministerrat bin
- auch das ist so eine Sache -: Sie haben sich laut Ihrem
Koalitionsvertrag vorgenommen - das finde ich gut -,
die Energieeffizienz in den Mittelpunkt zu stellen.
Gleichzeitig - noch gestern - hat das deutsche Wirtschaftsministerium versucht, die Energieeffizienzrichtlinie der Europäischen Union in den zuständigen Gremien
in Brüssel zu zerschießen. So geht das nicht. Wenn man
Effizienzpolitik wirklich betreiben will, dann sollte das
auf allen Ebenen erfolgen, also auch in Brüssel. Anderenfalls wird man unglaubwürdig.
({6})
Das Feld der Agrogentechnik wollen Sie anscheinend der Union überlassen. Es ist ja bekannt, dass die
Union die Zwangsbeglückung der Bevölkerung mittels
Genfood will. Wir haben das Gentechnikgesetz beschlossen, das Wahlfreiheit, Koexistenz und das Verursacherprinzip sicherstellt und das ökologisch sensible
Gebiete in besonderer Weise schützt. Für Letzteres sind
Sie zuständig. Denn eine der Hauptquellen der Kritik an
der Agrogentechnik ist, dass die ökologische Vielfalt
durch Auskreuzung gefährdet wird. Ich fordere Sie wirklich auf, ganz genau hinzuschauen und nicht nach dem
Motto zu verfahren: Na ja, das will die CDU/CSU, das
lasse ich mal passieren. Das wäre grottenfalsch; das
möchte ich ganz klar sagen.
({7})
Es kann nicht sein - wir haben ja die Haftungsregelung
eingeführt -, dass demnächst nach dem Motto verfahren
wird: Wer den Schaden hat, soll selbst herausfinden, wo
die Ursache dafür liegt. Nein, wir brauchen auf diesem
Gebiet ganz eindeutig die Verursacherhaftung.
Auch sollten Sie sich in den Bereich der Verkehrspolitik stärker einmischen. Denn es kann nicht richtig
sein, einerseits Klimaschutz zu propagieren und andererseits die Regionalisierungsmittel für die Bahn zusammenzustreichen. Das passt nicht zusammen. Es kann
auch nicht richtig sein, Klimaschutz zu propagieren und
in Zukunft wieder mehr Geld für den Straßenbau und
weniger für den Schienenbau auszugeben, obwohl wir
bereits eines der am dichtesten geflochtenen Straßennetze in Europa haben. Es kann auch nicht richtig sein,
Klagemöglichkeiten der Bürger und Naturschutzverbände zu beschneiden und Revisionsmöglichkeiten einzuschränken. Das ist auch rechtspolitisch äußerst fragwürdig.
({8})
Ich finde es gut, dass im Bereich der Atompolitik zumindest einstweilen nicht am Atomausstieg gerüttelt
wird. Aber wir müssen höllisch aufpassen, dass die bestehende Übertragungsregelung nicht derart missbraucht
wird, dass Reststrommengen von neuen Kraftwerken auf
alte mit dem Ziel übertragen werden, dass es in dieser
Legislaturperiode bloß keine Abschaltungen gibt. Das
würde mehr Atommüll und weniger Sicherheit bedeuten.
Ich wünsche mir, dass Sie sich dafür einsetzen, dass das
nicht geschieht. Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit.
({9})
Die Äußerungen des Kollegen Michael Müller im
Hinblick auf die Endlagersuche haben bei uns einige
Zweifel hinterlassen. Sie sagen, Sie wollten diese Suche
nicht mehr so vertieft und so langwierig durchführen.
Langwierigkeit ist natürlich schlecht. Aber die Suche
muss gründlich und solide erfolgen. Wir verlangen
- dazu werden wir in Bälde einen Gesetzentwurf vorlegen -, dass Sie ein ergebnisoffenes Verfahren gestalten,
bei dem alle geologischen Formationen in einem Vergleich daraufhin untersucht werden, ob und, wenn ja,
wie sie als atomares Endlager geeignet sind. Das erwarten wir von Ihnen.
({10})
Ich will ausdrücklich anerkennen, dass es im Koalitionsvertrag durchaus Kontinuität gibt. Bei der Altbausanierung haben Sie sogar noch eins draufgesetzt. Herr
Eichel hat uns dies immer verweigert. Bei ihm hieß es
immer: Streichen, streichen, streichen. Jetzt wird dies
gemacht. Ich kann nur sagen: Gut so.
Auch beim EEG und im Bereich Klimaschutz sind
richtige Ansätze vorhanden. Es gibt aber auch viele Fragezeichen, Dinge, die man jetzt noch gar nicht beurteilen
kann. Sie sagen, das EEG werde weitergeführt. Gut so.
Gleichzeitig wollen Sie der Industrie weitere Sonderregelungen einräumen. Das muss man sich einmal genau
ansehen. Auch der Klimaschutz soll weiter forciert werden. Gut so. Gleichzeitig streichen Sie das 40-ProzentZiel für das Jahr 2020.
({11})
Das halte ich für falsch.
Sie treten für ein Umweltgesetzbuch ein und wollen
endlich die Bundeskompetenz. Das halte ich für richtig.
Gleichzeitig eröffnen Sie Abweichungsmöglichkeiten,
die möglicherweise dazu führen, dass es vor allen Dingen im Bereich des Naturschutzes einen „Wettbewerb
nach unten“ gibt. Das wäre falsch.
Die Kraft-Wärme-Kopplung benennen Sie als wichtige Klimaschutztechnologie; das notwendige Instrument, sie zu fördern, benennen Sie jedoch nicht. Sie haben also viel Richtiges in den Koalitionsvertrag
geschrieben. Wie Sie es aber tatsächlich umsetzen werden, wird man noch sehen.
Was uns vor allen Dingen fehlt, ist eine langfristige
Strategie, um das Ziel „Weg vom Öl“ zu realisieren.
Man muss mehr von der Automobilindustrie verlangen.
Sie hat bereits wichtige Technologien wie die Hybridtechnologie oder den Diesel-Ruß-Filter verschlafen. Wir
wollen nicht, dass sie auch noch die Effizienzentwicklung verschläft.
Ein letzter Satz zu Montreal; ich werde wie Sie und
einige Abgeordnetenkollegen auch dort sein. Ich glaube,
dass es unsere Aufgabe ist, den Kioto-Prozess am Laufen zu halten. Es ist ganz wichtig, endlich mit den Verhandlungen für die zweite Verpflichtungsperiode - 2012
bis 2020 - zu beginnen und klar zu machen, dass alle
Technologiekooperationen wichtig sind, jedoch ergänzend zum Klimaschutzprotokoll, nicht als Ersatz. Zum
Kioto-Prozess gibt es nach unserer festen Überzeugung
keine Alternative.
Danke schön.
({12})
Nun hat das Wort der Kollege Ulrich Kelber von der
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Man kann eines feststellen: So viel Platz hat
Umweltpolitik in einem Koalitionsvertrag nie zuvor eingenommen, weder inhaltlich noch räumlich.
({0})
Das Erste ist natürlich ein klares Bekenntnis zum
Klimaschutz. Was Reinhard Loske gerne vernachlässigt, wenn er sagt, dass das 40-Prozent-Ziel nicht im
Koalitionsvertrag steht, ist, dass dort das Ziel der Europäischen Union aufgenommen worden ist, den Anstieg
der Erderwärmung auf 2 Grad zu begrenzen. Dadurch ist
ganz klar definiert, wie wir mit Zwischenschritten zu einer 80-prozentigen Reduktion der Treibhausgase bis
zum Jahr 2050 kommen wollen.
In dem Koalitionsvertrag gibt es auch eine ganz klare
Aussage zum massiven Ausbau der erneuerbaren Energien, zu neuen Instrumenten im Naturschutz und vor allen Dingen zur Umweltpolitik als Innovationspolitik und
Innovationsmotor. Es ist richtig, wenn der Bundesumweltminister sagt, dass er seinem Ministerium den Ruf
eines Innovationsministeriums verschaffen möchte. Wir
werden nämlich trotz der Haushaltsprobleme mehr Geld
für Forschung ausgeben. Denn wir wollen den Anreiz
für Investitionen in allen Bereichen der Umweltpolitik
setzen. Die erneuerbaren Energien sind ja nur ein Beispiel. Auch Grenzwerte sind ein Anreiz für Investitionen. Dafür gibt es in der deutschen Wirtschaft viele Beispiele.
({1})
Die genannten Beispiele, Rußfilter und Hybridautos,
verdeutlichen ja gerade, dass solche Investitionen vielleicht durch etwas stärkere Vorgaben seitens der Politik
hätten angereizt werden können.
({2})
Ich glaube jedoch, dass eine Effizienzrevolution der
eigentliche Innovationsmotor sein wird. Welche Bedeutung ein geringerer Verbrauch an Rohstoffen und Energie in ökologischer Hinsicht hat, ist jedem klar. Die ökonomische Bedeutung ist jedoch ebenso evident: Die
Kosten für Produktion und Konsum sinken. Das heißt, es
kann mehr nachgefragt werden und es kann mehr produziert werden mit geringerer Umweltbelastung. Es entstehen neue Jobs, weil wir heimische Wertschöpfung an die
Stelle des Imports von Energieträgern und Rohstoffen
setzen. Wir lösen Innovationen bei Produkten und
Dienstleistungen des Weltmarkts aus, werden also wettbewerbsfähiger. Außerdem senken wir dadurch die Abhängigkeit von Öl-, Gas-, Kohle- und Uranimporten. Es
ist daher ein gutes Signal, dass wir vor zwei Wochen hören konnten, dass die Windenergie - ein Teilbereich der
erneuerbaren Energien, auf die wir setzen - bereits preisgünstiger ist als der Strom an der Strombörse. Wir schlagen also mit der Wertschöpfung im eigenen Land den
richtigen Weg ein, um zu stabilen Preisen zu kommen.
({3})
Die Effizienz als Markenzeichen der Umweltpolitik
ist in der Koalitionsvereinbarung offensichtlich. Das
Programm zur energetischen Gebäudesanierung ist ein
Punkt in diesem Bereich. Dies dient dem Schutz der
Umwelt und auch dem Schutz der Geldbeutel derer, die
die Rechnung bezahlen müssen. Wir können nicht verhindern, dass das Öl teurer wird. Aber wir können dafür
sorgen, dass die Menschen weniger Öl benötigen und
dadurch ihre Rechnungen nicht steigen. Dies tun wir an
dieser Stelle.
In der Bauindustrie entstehen natürlich neue Arbeitsplätze. Ich habe mich vor einigen Wochen über ein Zitat
des Kollegen Loske gefreut. Während der Koalitionsverhandlungen hat er gesagt: Die SPD wird sich daran messen lassen müssen, ob es gelingt, das Programm zur
energetischen Gebäudesanierung wirklich aufzustocken.
Die Grünen hätten sich immer eine Verdoppelung gewünscht; daran müsse sich die SPD messen lassen. Herr
Loske, wir haben mehr als eine Vervierfachung erreicht.
Von daher erwarte ich Ihren Beifall für diese Koalitionsvereinbarung.
({4})
Die Kraft-Wärme-Kopplung und die Endenergieeffizienz sind andere Bereiche, in denen wir vorangehen
wollen. Ich sage noch einmal: Auch ich schaue mir natürlich die Beratungen zur EU-Effizienzrichtlinie in
Brüssel ganz genau an. Ich weiß aber noch aus der alten
Koalition, dass beide Parteien damals sehr kritisch zu
den Methoden, die in dieser Effizienzrichtlinie niedergelegt worden sind, gestanden haben. Diese Methoden haben wir nicht für richtig gehalten. Es ist moderner, den
Ansatz zu wählen, den wir selber in der Spätphase entwickelt haben und der in der Koalitionsvereinbarung
steht, nämlich den Top-Runner-Ansatz, der eine Abkehr vom alten System ist, das sich beim Energieverbrauch immer am Mittelmaß orientiert hat, und besagt:
Das beste Produkt einer Art setzt den Standard und alle
müssen innerhalb von wenigen Jahren diesen Standard
erreichen. Das wird ein Innovationswettlauf. Damit wollen wir auf den Weltmarkt kommen und den Energieverbrauch senken.
({5})
Im Koalitionsvertrag finden sich natürlich auch die
traditionellen Themen des Umwelt- und Naturschutzes
wieder. An dieser Stelle ist die Übertragung von über
100 000 Hektar der ökologisch wertvollsten Flächen an
eine Stiftung herausragend, durch die sie optimal bewirtschaftet werden können. Denn wir wissen alle: Heute
werden sie nicht in der Form gepflegt, wie es zum Erhalt
dieses Naturerbes, dieses Kulturlandes eigentlich sein
müsste.
Maßnahmen gegen Flächenversiegelung sind angekündigt, aber sicherlich noch mit Inhalt zu füllen. Zum
ersten Mal wird aber versucht, sich dieses Themas intensiv anzunehmen.
Ein weiterer Punkt ist das Umweltgesetzbuch, das in
der Tat die Chance schafft, Abläufe unbürokratischer zu
gestalten, Genehmigungsverfahren aus einer Hand zu
machen. Aber für mich gehört zu einem Umweltgesetzbuch auch, Umweltstandards nicht nur zu halten, sondern die materielle Auswirkung noch zu verbessern. Darum geht es auch. Wir sind nämlich nicht nur die
Verteidiger erreichter Standards, sondern wir müssen
weiter voranschreiten können.
Dazu gehört natürlich, dass man bei der Frage der
Umsetzung europäischen Rechts genau unterscheidet,
was deutsches Interesse ist. Deswegen ist eine automatische Umsetzung eins zu eins nicht zu haben. An bestimmten Stellen wollen wir deswegen mehr machen,
weil wir daraus einen Wettbewerbsvorteil im Sinne von
Innovation machen wollen. Wir wollen nicht nur das tun,
was andere machen, und dann veraltete Produkte auf
dem Markt anbieten.
({6})
Letzter Bereich ist die Energiepolitik. Natürlich war
auch ich am Ende der Koalitionsverhandlungen froh,
dass es ganz klar beim Atomausstieg bleibt. Biblis A
wird 2006 stillgelegt. Weitere drei Atomkraftwerke werden stillgelegt, wenn die Betreiber die Produktion von
Strom in diesen Atomkraftwerken nur deshalb nicht
deutlich reduzieren, um sich damit über die Zeit zu retten. Es gibt also ganz eindeutig eine Abnahme des Anteils von Atomenergie.
Beim Endlager gibt es einen einfachen Dreischritt:
Erstens. Wir haben die Verantwortung für ein nationales Endlager für Atomabfälle.
Zweitens. Wir müssen eine gewissenhafte Untersuchung machen und zwar aufgrund der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen und der Menschen,
die am Ende in der Nähe dieses Endlagers wohnen werden. Jegliche vorherige Festlegung, Herr Kauch, wie Sie
sie immer wieder vornehmen, auch wenn Sie es anders
umschreiben, ist falsch. Sie müssen den Menschen nachweisen, dass es der geeignetste Standort ist.
({7})
Drittens. Ein wichtiger Unterschied ist - das betrifft
jetzt nicht die Abgeordneten, die vor mir sitzen, sondern
jemanden, der früher auf der Regierungsbank gesessen
hat -: Man muss zu einem Ergebnis kommen wollen und
das Verfahren nicht nur dafür verwenden, möglichst
nicht entscheiden zu müssen.
({8})
Zum Bereich der erneuerbaren Energien: Die volle
Förderung bleibt erhalten. Wir geben mehr Geld für Forschung aus und wir werden ein Gesetz hinsichtlich der
regenerativen Wärme einfordern. Ich habe auch eine private Ansicht dazu, wie das aussehen sollte. Ich glaube,
dass das ein ganz einfaches Gesetz sein sollte, das jeden
zwingt, einen bestimmten Anteil erneuerbarer Energien
bei Neubau zu nehmen und sich mit dem Thema zu beschäftigen. Viele werden sich dann freiwillig für die
100-Prozent-Lösung entscheiden, wenn sie sich erst einmal damit beschäftigt haben. Das muss kein kompliziertes Gesetz werden.
Bei den Biokraftstoffen gibt es eine zusätzliche Förderung. Diese ist in den letzten Tagen beschrieben worden. Herr Kauch, das haben Sie bestimmt mitbekommen. Man muss die Wahrheit sagen, wenn man auf die
Steuerbelastung und Preise von Treibstoffen eingeht. Ich
habe das einmal nachgelesen: 80 Prozent der heutigen
Steuern auf Kraftstoffe sind unter Regierungsbeteiligung
der FDP beschlossen worden. Keine andere Fraktion
hier im Saal ist so sehr für die hohen Treibstoffpreise in
Deutschland verantwortlich wie die FDP. Das muss man
den Bürgerinnen und Bürgern einmal sagen.
({9})
Mein letzter Punkt betrifft eine gute Nachricht, die
uns letzte Woche erreicht hat: Der Verband der Netzbetreiber erwartet, dass der Anteil der erneuerbaren
Energien bereits im Jahr 2011 bei 20 Prozent liegen
wird, dass also das Mindestziel für das Jahr 2020 bereits
dann erreicht ist. Ich teile diese Einschätzung. Bis zum
Jahr 2020 können wir es sogar schaffen, dass der Anteil
der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung eine
Größenordnung von einem Drittel erreicht. Wir sind in
Deutschland auf dem Weg in die Solarwirtschaft. Das ist
ein guter Weg.
Vielen Dank.
({10})
Nun erteile ich das Wort der Kollegin Marie-Luise
Dött von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir legen Wert darauf, den Umwelt- und Naturschutz mit den
Menschen zu betreiben, nicht gegen sie.
({0})
Das wird der rote Faden sein, der sich durch die Umweltpolitik der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zieht. Wir
sehen und berücksichtigen, was die Menschen heute bewegt:
({1})
Da ist der Wunsch nach einer intakten Natur, einem Lebensraum, der eine hohe Lebensqualität bietet. Da ist die
Sorge um die Gesundheit, die eigene und die der Familie.
({2})
Und da ist nicht zuletzt der Wunsch nach finanzieller
Absicherung durch einen Beruf und einen sicheren Arbeitsplatz.
In unserer Umweltpolitik werden wir die Beweggründe der Menschen ernst nehmen und einen gemeinsamen Weg finden, der alle Belange gleichermaßen berücksichtigt. Daher werden wir in der Umweltpolitik
neue und andere Akzente setzen. Einen ersten Schritt tun
wir beispielsweise auf dem Gebiet der europäischen
Chemikalienpolitik, bei REACH. Im Laufe der langwierigen Verhandlungen über den Kommissionsvorschlag ist das ursprüngliche Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu steigern, immer weiter in den
Hintergrund gerückt. Wir wollen diesen Aspekt wieder
verstärkt in die Diskussion auf europäischer Ebene einbringen.
Bundesumweltminister Sigmar Gabriel hat bereits am
Montag dieser Woche im EU-Wettbewerbsfähigkeitsrat
die neue Position der Bundesregierung vertreten. In den
noch ausstehenden Verhandlungen des Rates werden wir
uns dafür einsetzen, dass der Verordnungsentwurf
grundlegend verändert wird und sich an den LissabonZielen der EU orientiert.
({3})
Wichtig ist vor allen Dingen, dass die überbordende Bürokratie auf ein vernünftiges Maß zurückgefahren wird,
damit REACH nicht zum Betonklotz am Bein der deutschen Wirtschaft und insbesondere des Mittelstandes
wird.
({4})
Dafür sind Veränderungen am Registrierungsverfahren genauso notwendig wie eine unbefristete Zulassung
der Stoffe. Für den Bereich der Registrierung haben die
Abgeordneten von EVP und SPE im Europäischen Parlament einen hervorragenden Kompromiss gefunden und
verabschiedet. Er sieht Erleichterungen für kleine und
mittlere Unternehmen sowie für nachgeschaltete Anwender vor. Durch eine einheitliche Vorregistrierung,
eine expositionsorientierte Datenanforderung und die
Anwendung von Verwendungs- und Expositionskategorien zur Kommunikation in der Produktkette wird das
REACH-System effizienter und praktikabler. Das ist
auch für den Schutz der Menschen besonders wichtig.
({5})
Ich hoffe, dass der Kompromiss des Europäischen
Parlaments auch in die anstehenden Verhandlungen im
Rat Eingang finden wird. Die Ergebnisse, die unsere
Kollegen im Europäischen Parlament gefunden haben,
stellen einen guten Ausgleich zwischen dem Gesundheitsschutz, dem Umweltschutz und der ökonomischen
Belastung der betroffenen Branchen dar.
Über den Kompromiss im Bereich der Registrierung
hinaus sind im Bereich der Stoffe, die ein Zulassungsverfahren durchlaufen müssen, weitere Verbesserungen
des Kommissionsvorschlags notwendig. Die derzeit vorgesehene Befristung bedeutet einen wiederkehrenden
bürokratischen Aufwand, der in meinen Augen unverhältnismäßig ist.
({6})
Ein Schwerpunkt unseres Interesses liegt bei REACH
auf Forschung und Entwicklung; Katherina Reiche hat
dieses Thema bereits angesprochen. Hier sind die Freiräume zu schaffen, die für ein innovatives Klima notwendig sind. Mit neuen Stoffen und neuen Verwendungen
von Stoffen, zum Beispiel im Bereich der Energieeffizienz, kann aktiver Umwelt- und Klimaschutz betrieben
werden. Dieses Potenzial sollte nicht beschränkt, sondern vielmehr gefördert werden.
Der Klimaschutz bleibt eine zentrale Aufgabe der
Umweltpolitik der Bundesregierung; alle Redner haben
davon gesprochen. Es werden aber auch hier neue Akzente sichtbar werden: Realistischer und verlässlicher
Klimaschutz braucht eine breite Basis. Er kann nur erfolgreich sein, wenn er weltweit betrieben wird. In diesen Tagen findet in Montreal die erste Klimakonferenz
nach In-Kraft-Treten des Kioto-Protokolls statt - ein
schöner Erfolg der Staatengemeinschaft. Das darf jedoch
nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir noch viele Herausforderungen zu bewältigen haben: Es ist kein Geheimnis, dass viele Kioto-Staaten weit davon entfernt
sind, ihre Klimaschutzziele zu erfüllen. Trotz dieser
Schwierigkeit warne ich davor, mitten im Ritt die Pferde
zu wechseln, das heißt, vom Kioto-Protokoll abzurücken. Ich sehe auch im Asiatisch-Pazifischen Klimapakt,
APP, keine Alternative:
({7})
Diese auf Freiwilligkeit basierende Übereinkunft kann
das Kioto-Protokoll mit seinen verbindlichen Reduktionszielen nicht ersetzen, sondern nur ergänzen.
Wir dürfen auch nicht vergessen, dass mit dem KiotoProtokoll nur ein Teil der weltweiten Treibhausgasemissionen abgedeckt ist: weil wichtige Staaten nicht
teilnehmen. In den Schwellenländern muss das Wirtschaftswachstum von der Zunahme der Treibhausgasemissionen entkoppelt werden. Darüber hinaus haben
wir uns nach Kräften zu bemühen, bisher abseits stehende Industriestaaten in Zukunft einzubeziehen. Wichtige Emittenten wie die USA, China und Indien nehmen
noch nicht an der Verpflichtung des Kioto-Protokolls
teil. Gegenüber diesen Ländern dürfen wir uns wirtschaftlich nicht isolieren. Denn eines möchten wir auf
keinen Fall: unsere Minderungsziele dadurch erreichen,
dass in Deutschland weniger produziert wird.
({8})
Ganz im Gegenteil wollen wir Anreize setzen, dass
Investitionsentscheidungen für Deutschland getroffen
werden und neue Anlagen gebaut werden. Deswegen
werden wir den Emissionshandel in Zukunft ökonomisch effizienter gestalten.
({9})
Bei der Fortschreibung des Zuteilungsgesetzes kommt es
uns darauf an, Mitnahmeeffekte zulasten des Strompreises zu beseitigen.
({10})
Kurz- bis mittelfristige Liquidität im Emissionshandelsmarkt und damit eine stabilisierende Wirkung auf die
Energiepreise bringen auch die flexiblen Instrumente
Joint Implementation und Clean Development Mechanism. Wir wollen sie schneller und unbürokratischer
nutzbar machen und damit den internationalen Klimaschutz nach Deutschland holen.
Im Rahmen einer nachhaltigen Klima- und Energiepolitik ist der Energieeffizienz stärkere Bedeutung beizumessen. Bis zum heutigen Tage spielen Energieeffizienz und Energie sparendes Verhalten nur eine
untergeordnete Rolle. Diskutiert wird vor allem über das
Angebot an Energie, also darüber, aus welchen Quellen
wir unsere Energie beziehen. Die Nachfrageseite, über
die auch einiges beeinflusst werden kann, wird noch immer vernachlässigt.
({11})
Gerade hier liegen aber erhebliche Potenziale: Einem
durchschnittlichen Haushalt entstehen durch unnötigen
Stand-by-Betrieb und andere Leerlaufformen jährlich
Stromkosten von etwa 70 Euro. Die rund 38 Millionen
Haushalte in Deutschland haben also ein großes Potenzial, einen Beitrag zum sparsamen Einsatz von Energie
und somit im Ergebnis zum Klimaschutz zu leisten.
Durch das Ausschalten der Geräte und die Verwendung
von Netzschaltern kann mit geringem Aufwand ein großer Erfolg erzielt werden. Für den einzelnen Haushalt
führt dies zur Reduzierung der Kosten, für die gesamte
Bevölkerung zu einem nicht unerheblichen Beitrag zum
Klimaschutz.
Weitere Einsparpotenziale finden sich auch im Gebäudebereich, hier insbesondere bei der Altbausanierung. Um
die nationalen und internationalen Klimaschutzziele zu
erreichen, wollen wir das CO2-Gebäudesanierungsprogramm auf ein Fördervolumen von mindestens 1,5 Milliarden Euro pro Jahr erhöhen - das freut besonders
Herrn Loske, der heute so krank ist - und einen Gebäudeenergiepass einführen. Jährlich sollen 5 Prozent des
Gebäudebestandes mit Baujahr vor 1978 energetisch saniert werden. Alle passiven und aktiven energetischen
Sanierungsmaßnahmen sind zugleich ein Jobmotor für
die beteiligten Industriezweige, den Mittelstand und das
Bauhandwerk.
({12})
Durch die Erneuerung des Kraftwerksparks, vorwiegend von Stein- und Braunkohlekraftwerken, könnten erhebliche CO2-Einsparungen bewerkstelligt werden. Allein in Deutschland müssen in den kommenden
zehn bis 20 Jahren etwa die Hälfte aller Kraftwerke ersetzt werden. Dies betrifft ein Investitionsvolumen von
vielen Milliarden Euro. Eine Verbesserung der Wirkungsgrade bedeutet zugleich eine Verbesserung der
CO2-Bilanz und damit aktiven Klimaschutz zu verträglichen Vermeidungskosten.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird sich in der großen Koalition dafür einsetzen, die Schöpfung zu bewahren und die natürlichen
Lebensgrundlagen zu erhalten. Gleichzeitig wollen wir
der Umweltpolitik nicht ihre wirtschaftliche Grundlage
entziehen. Die Koalitionsvereinbarung zwischen CDU,
CSU und SPD bildet die Basis zur Erreichung dieser
Ziele. Ich bin überzeugt davon, dass dieser Vertrag den
Beginn einer zukunftsorientierten, effizienten und erfolgreichen Umweltpolitik der großen Koalition darstellt.
({13})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich
liegen nicht vor.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/59 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Wie ich sehe, ist das nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Damit kommen wir zum Themenbereich Familie,
Senioren, Frauen und Jugend. Ich erteile das Wort der
Bundesministerin, Frau Dr. Ursula von der Leyen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Koalitionsvertrag ist ein Meilenstein zu einer modernen Familienpolitik. Wir haben darin klar gemacht: Wir wollen
mehr Kinder in den Familien und mehr Familie in
der Gesellschaft. Wir investieren in Familie.
Das Leitbild, an dem wir uns orientieren, meint mehr
als einen Familienlastenausgleich - das auch, aber nicht
nur. Familie ist mehr als eine Oase der Innerlichkeit oder
des Rückzugs - das auch, aber nicht nur. Familie ist der
Ort, wo Menschen für andere und für sich Verantwortung übernehmen. Familie ist der Ort, von dem Kinder
hoffentlich in ein glückliches Leben aufbrechen. Familie
ist der Ort, wo Menschen immer wieder neu ein gemeinsames Leben handeln und verhandeln. Familie ist der
Ort, wo sich beide Eltern für beides verantwortlich fühlen, für das wirtschaftliche wie für das emotionale und
seelische Wohl der Kinder.
({0})
Um das zu erreichen, müssen wir aber auch bereit
sein, unsere Einstellungen, Klischees und schnellen Urteile zu überprüfen. Die Botschaft, die heute aus allen
Kanälen und Chefetagen auf die jungen Menschen niederprasselt, ist ziemlich eindeutig und verheerend: „Wer
beruflichen Erfolg im Leben nicht ausschließen will,
sollte Kinder und Familie, Sorge und Verpflichtung für
andere meiden, weil sie auf dem Weg durch ein spannendes Leben nur behindern.“ - Ich weiß erstens aus Erfahrung: Das ist nicht wahr. Ich bin zweitens der Meinung:
Eine Gesellschaft, die so programmiert ist, wird in doppelter Hinsicht scheitern;
({1})
sie wird dadurch sozial kälter und ökonomisch nicht erfolgreicher werden.
({2})
Familien brauchen vor allem drei Dinge: Zeit, eine
unterstützende Infrastruktur und Einkommen. Aber damit Familien überhaupt erst entstehen, müssen wir die
Rahmenbedingungen so verändern, dass junge Männer
und Frauen Kindern, Familie und Beruf in ihrem Lebenslauf besser als gegenwärtig Raum geben können,
Raum verschaffen können. Somit ist es eine konservative, weil bewahrende Aufgabe, Familie auch und gerade
unter veränderten Bedingungen wieder leichter möglich
zu machen.
Mögen sich manche noch so nostalgisch an die 50erJahre erinnern: Sie kommen nicht wieder zurück. Darüber, ob Familienwerte heute, 2005, und in Zukunft gelebt werden können, entscheiden unser Handeln und unsere politische Tat.
({3})
Es ist eine soziale Aufgabe, mit und durch Familien den
Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stärken und
dafür zu sorgen, dass möglichst alle Kinder ihre Talente
und Fähigkeiten von Anfang an optimal entfalten können.
({4})
So betrachtet rückt die Politik für Familien vom Rand
in die Mitte einer zukunftsorientierten Gesellschaftspolitik. So oder so stellt sie die Weichen in viele Richtungen.
Ob wir in den Bildungsbilanzen - sprich: PISA - wieder
nach vorne kommen, ob wir Wohlfahrt und Wohlstand
nachhaltig sichern, ob wir ein lebendiges Land werden,
das lebenswert und attraktiv im globalen Wettbewerb ist:
Politik für die Familien ist eine Politik für die
Zukunft! Wer die Zukunft gewinnen will, der muss bereit sein, neue Wege zu gehen und starke Akzente zu setzen.
Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag entscheidende Meilensteine für eine ganzheitliche und nachhaltige Familienpolitik verankert: Im Jahre 2007 wird das
einkommensabhängige Elterngeld das derzeitige Erziehungsgeld ablösen. Die Eltern erhalten dann 67 Prozent
des vorherigen Nettoerwerbseinkommens für ein volles
Jahr bis zu einer Höchstgrenze von 1 800 Euro. Dies ermöglicht es den Familien, sich ihrem Kind gerade in seinem ersten Lebensjahr ohne Geldsorgen intensiv zu widmen. Wir wissen, dass dies von entscheidender
Bedeutung für die meisten jungen Eltern ist. Das Signal
des Staates ist ganz eindeutig: Jedes Kind ist eine Bereicherung für uns alle als Gesellschaft.
({5})
Deshalb mildern wir Einkommenseinbrüche im ersten
Lebensjahr nach der Geburt eines Kindes ab. Das gilt für
Eltern, die sich zur Betreuung des Kindes entschließen,
und das gilt ebenso für Eltern, die weiter erwerbstätig
bleiben und damit hohe Kinderbetreuungskosten haben.
Außerdem wollen wir es Müttern und auch Vätern erleichtern, Elternzeit zu nehmen. Acht Monate lang ist es
den Eltern völlig freigestellt, wie sie die Elternzeit aufteilen und ob und in welchem Maße sie erwerbstätig
sind. Zwei Monate sind zusätzlich für den Vater und
zwei Monate sind zusätzlich für die Mutter reserviert.
Die Muttermonate sieht wohl jeder als selbstverständlich
an. Die Vatermonate sollten es eigentlich auch sein.
({6})
Meine Damen und Herren, Kinder brauchen Mütter,
Kinder brauchen aber auch Väter. Sowohl Väter als auch
Mütter wollen ihre Fähigkeiten im Arbeitsmarkt entfalten können. Ich denke, die Vatermonate werden ein
wichtiger weiterer Schritt auf dem Weg zu einer veränderten Arbeitskultur sein, die hoch effizient und dennoch
familienverträglich sein wird.
Diese elementare Erfahrung, dass die Kindererziehung und die Talente der Eltern in der Arbeitswelt einander nicht ausschließen, sondern bestärken können, nutzen wir in Deutschland viel zu wenig.
({7})
Sie ist aber Grundvoraussetzung, wenn die Kindererziehung in einem modernen Land inmitten einer globalisierten Welt eine Zukunft haben soll.
Norwegen und Schweden beispielsweise haben bereits gute Erfahrungen mit diesen Vatermonaten gemacht. Fast 40 Prozent der schwedischen Männer nutzen
dieses Angebot. Diesen Ländern, ihrer Prosperität und
ihren Kindern hat es nicht geschadet, sondern genutzt.
({8})
Das Elterngeld in Verbindung mit dem Ausbau der
Kinderbetreuung für unter 3-Jährige bedeutet auch,
dass in Zukunft die Möglichkeit einer spürbaren Senkung von Familienarmut besteht. Wenn junge Frauen
- auch aus einfachen Berufen - nach der Geburt eines
Kindes aufgrund des Elterngeldes zunächst ein Jahr in
ihrem Berufsleben pausieren können und danach eine
gesicherte und bezahlbare Kinderbetreuung vorfinden
und nutzen, dann wird es viel weniger Familien geben,
die nur von einem Einkommen oder nur von Transfereinkommen leben müssen. Nicht Kinder machen arm,
sondern Kinder leben in Armut, weil ihre Eltern keine
Arbeit haben oder den Wiedereinstieg in den Beruf nicht
mehr finden.
({9})
Das Elterngeld fördert eine feste Berufsidentität von
Frauen. Es verdeutlicht, dass sie in ihrem Beruf verankert bleiben, setzt eben Familienzeit nicht länger in einen Gegensatz zur Erwerbstätigkeit.
({10})
Wir müssen aber auch wieder entdecken, dass Familien, die sich nach dem Prinzip der Subsidiarität einsetzen, um ihre Kinder zu erziehen und ihr Einkommen zu
erwerben, Arbeitsplätze schaffen. Deshalb wird diese
Bundesregierung dafür sorgen, dass Eltern bei den Kinderbetreuungskosten und den haushaltsnahen Dienstleistungen steuerlich entlastet werden, und wir werden den
Kinderzuschlag weiterentwickeln, um Kinder- und Familienarmut zu verhindern.
({11})
Wir brauchen eine Politik, die Mut zu Kindern macht.
Wir brauchen aber auch eine Politik, die sich mehr um
die Kinder kümmert, die heute heranwachsen. Kein Kind
darf verloren gehen. Jedes Kind ist wichtig, um die wirtschaftliche, emotionale und soziale Zukunft unseres
Landes zu sichern. Es gibt zunehmend in unserem Land
Kinder, die in einer Atmosphäre der Erziehungsohnmacht aufwachsen. Sie erfahren und erleiden körperliche
und seelische Verwahrlosung. Der zuverlässigste Ansprechpartner ist vielleicht der Fernseher im Wechsel mit
dem Computer. Diese Kinder lassen wir an ihrem Lebensanfang verkümmern. Hier müssen wir mehr hinschauen.
({12})
Mit Modellprojekten zur Frühförderung gefährdeter
Kinder werden wir dafür sorgen, dass Hilfe in diese Familien und damit zu den Kindern kommt.
Die Familienstrukturen verändern sich. Die Großfamilie verschwindet. Das kann man beklagen, aber es ist
eine Tatsache. Damit schwindet auch der selbstverständliche Zusammenhalt der Generationen. Erziehungswissen und Alltagskompetenzen gehen verloren, aber auch
Erfahrung, Gelassenheit und Muße der älteren Generation bleiben oft ungenutzt. Stattdessen wird Einsamkeit
immer mehr zum Altersproblem.
Wir wollen den familienpolitischen Horizont auf die
Mehrgenerationenfamilie ausweiten. Die Öffnung des
Horizontes geschieht nicht nur aus menschlichen und
emotionalen Gründen, sondern auch deshalb, weil sich
nur mit diesem erweiterten Blick ganz handfeste Chancen nutzen und Probleme lösen lassen. Wir wollen ein
Leitbild des „produktiven Alterns“. Die älteren Menschen sind eine Bereicherung für unsere Gesellschaft.
Das muss uns leiten.
({13})
Familie ist im wahrsten Sinne des Wortes der ursprüngliche Ort, wo Alltagssolidaritäten gelebt werden.
Auch wenn Familien kleiner, bunter und mobiler werden: Auf das Geben und Empfangen von Alltagssolidaritäten können wir nicht verzichten. Wir müssen deshalb
neue moderne Netzwerke schaffen, gewissermaßen die
Vorteile der früheren Großfamilie in moderne Sozialstrukturen übertragen. Wir werden deshalb Mehrgenerationenhäuser als familienunterstützende Zentren schaffen. Sie erschließen bürgerschaftliches Engagement. Sie
machen Zusammenhalt erfahrbar. Sie geben Alltagskompetenzen und Erziehungswissen weiter. Sie geben
Antworten darauf, wie sich die Generationen in einer
Gesellschaft des langen Lebens untereinander helfen
können.
({14})
Politik für die Familien ist alles andere als ein „weiches“ Thema oder eine Unterabteilung der Sozial- und
Transferpolitik. Ganz im Gegenteil, sie ist ein Handlungsfeld, das Weichen stellt und so darüber mitentscheidet, wie in dieser Gesellschaft Bildung, Wachstum,
Wohlstand und Wohlfahrt sein werden. Das Ziel, mehr
Kinder in die Familien und mehr Familie in die Gesellschaft zu bringen, erfordert eine schöpferische Politik.
Es erfordert zum Teil auch andere Wege, als sie frühere
Regierungen gegangen sind.
Wir wollen erneuern, um zu bewahren. Der demographische Wandel kann nicht nur Krise, sondern auch
Chance bedeuten. Er kann gestaltet werden und wir wollen diese Herausforderung annehmen.
Ich danke Ihnen.
({15})
Das Wort hat nun die Kollegin Ina Lenke von der
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
von der Leyen, als niedersächsische Bundestagsabgeordnete möchte ich Ihnen meinen herzlichen Glückwunsch
zu Ihrem wichtigen Amt aussprechen. Von Ihnen und der
Bundeskanzlerin erwarten die Frauen in Deutschland
eine starke Interessenvertretung für mehr Beschäftigung
und endlich bessere Rahmenbedingungen für Familien
und Kinder.
Die FDP wird jede Maßnahme unterstützen, die Kinderarmut beseitigt und Frauen und besonders auch Männer ermutigt, sich für Kinder zu entscheiden. Denn Kinderlärm ist Zukunftsmusik.
({0})
Die FDP-Bundestagsfraktion hat deshalb beantragt,
dass wieder eine Kinderkommission - eine Lobby für
Kinder - eingesetzt wird. Wir hoffen, dass wir uns auch
diesmal einigen und fraktionsübergreifend diesen wichtigen Unterausschuss einrichten.
({1})
Alles, was die rot-grüne Bundesregierung nicht geschafft hat, soll jetzt angepackt werden, zum Beispiel
das einjährige Elterngeld. Frau von der Leyen, als ich
Ihrer Rede zuhörte, habe ich mich immer wieder gefragt,
wo die Kindergarten- oder Krippenplätze sind, wenn
Frauen ab 2007 nach einem Jahr wieder arbeiten gehen,
aber erst ab dem dritten Lebensjahr des Kindes einen
Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz haben.
Hier gibt es eine Betreuungsfalle.
({2})
Ich bitte Sie, dazu Stellung zu nehmen.
Die FDP wird aber Ihr Konzept unterstützen, Frau
von der Leyen, wenn es hinsichtlich des Elterngelds auf
einer soliden finanziellen Grundlage steht. Mit der Vorgängerregierung haben wir in diesem Zusammenhang
schlechte Erfahrungen gemacht. Das macht misstrauisch. Die SPD hatte 230 000 Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren versprochen. Diese Maßnahme
sollte durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und
Sozialhilfe finanziert werden. Doch bisher ist bei den
Städten und Gemeinden nichts angekommen. Die Bundeskanzlerin hat trotzdem dieses Wahlversprechen erneuert.
Herr Staatssekretär Gerd Hoofe, Sie haben noch aus
der niedersächsischen Landesregierung heraus im Oktober kritisiert, dass die versprochene Entlastung der
Kommunen ausbleibt. Ich zitiere aus der Pressemitteilung vom 5. Oktober 2005: „Bundesminister Clement
plündert die Kassen der Kommunen“. Wir erwarten von
Ihnen als neuem Staatssekretär im Bundesfamilienministerium, dass innerhalb von 100 Tagen das Finanzierungskonzept für die Kommunen vorliegt.
({3})
Die angekündigten familienpolitischen Verbesserungen, die bessere steuerliche Absetzbarkeit der Kinderbetreuung, die Berücksichtigung von haushaltsnahen
Dienstleistungen und die Abschaffung der Lohnsteuerklasse 5, für die die FDP und ich jahrelang gekämpft haben, unterstützen wir, wenn es vernünftige Lösungen
gibt. Persönlich begrüße ich die Neuregelungen zur anonymen Geburt, die Sie vornehmen wollen. Das derzeitige Recht - das wissen wir alle - stimmt nicht mit der
Realität überein. Wenn wir gemeinsam zu einer Neuregelung kämen, würde ich mich freuen.
({4})
Die FDP wird aufmerksam verfolgen, ob sich diese
Regierung tatsächlich für die Familien einsetzt. Denn die
Gesamtbilanz ist maßgebend. Wie verhalten sich Belastungen und Entlastungen zueinander? Wenn die Pendlerpauschale drastisch gekürzt wird, die Eigenheimzulage wegfällt und die Mehrwertsteuer erhöht wird, sind
das zunächst einmal Belastungen, die mit den angekündigten Entlastungen verrechnet werden, ehe für die Familien ein Mehrwert entsteht.
Eine zentrale Forderung der FDP ist die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familienarbeit. Für
Frauen bedeutet das mehr Berufstätigkeit und für Väter
mehr Familienarbeit.
({5})
Dabei bitte ich zu beachten, dass zwar die Zahl der berufstätigen Frauen seit 1991 deutlich zugenommen hat,
nicht aber - das ist wichtig - das von ihnen geleistete
Arbeitsvolumen. Dieses verteilt sich lediglich auf mehr
Personen. Frau von der Leyen, das ist ein schlechtes Zeichen. Nur wenn es der Bundesregierung gelingt, die Arbeitslosigkeit erfolgreich zu bekämpfen, wird es Familien und Frauen in Deutschland besser gehen.
Frau von der Leyen, zum Schluss möchte ich noch
eine Bemerkung zum Zivildienst machen. Er fehlte mir
in Ihrer Rede. Wie Sie sicherlich wissen, müssen der Zivildienst und die Wehrpflicht in dieser Legislaturperiode
besonders beachtet und - unserer Meinung nach - ausgesetzt werden. Was unter der alten Regierung geschehen
ist, ist eine jugendpolitische Todsünde, vor der ich die
neue Regierung nur warnen kann. Der Verteidigungsminister hat sich jedenfalls mit seiner Ankündigung, einen Pflichtdienst für junge Männer und Frauen einzuführen - dazu hätte ich gerne etwas von Ihnen gehört -, ein
schlechtes Entree verschafft. Das ist ein verheerendes
politisches Signal. Ich bitte Sie sehr herzlich, dem etwas
entgegenzusetzen; denn wenn die Bundesregierung einen Pflichtdienst einführt, dann werden 700 000 - so
groß ist jedes Jahr die Zahl der tauglichen jungen Männer und Frauen - sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze wegrationalisiert. Das wollen wir alle doch nicht.
Recht herzlichen Dank.
({6})
Nun hat das Wort die Kollegin Nicolette Kressl von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich will mit einem Satz beginnen, den wir
schon oft formuliert haben und den wir in den Koalitionsvertrag wieder aufgenommen haben: Familien sind
die Leistungsträger unserer Gesellschaft. Neben ökonomischen Aspekten sind emotionale zu berücksichtigen, wenn es um Familie geht. In sehr vielen Familien
konzentriert sich die Hoffnung auf Solidarität, Geborgenheit und Weiterentwicklung. Diese kann leider nicht
immer erfüllt werden. Aber in vielen Familien ist das der
Fall. Deshalb ist es unsere Aufgabe, die Rahmenbedingungen für Familien ständig zu verbessern. Die Politik
darf sich nicht einfach ausdenken, wie Familie funktionieren soll, und danach handeln. Unsere Aufgabe muss
vielmehr sein, ständig zu analysieren, unter welchen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sich Familien gut
entwickeln. Wenn sich die Gesellschaft weiterentwickelt, muss natürlich auch der äußere Rahmen für Familien verändert werden.
Wir müssen die Wünsche der Menschen betreffend
Familie und ihrer Entwicklung aufnehmen und die gesellschaftliche Situation der Familien analysieren. Das
halte ich für ganz wichtig. Wir müssen darüber reden,
unter welchen Rahmenbedingungen sich Familien gut
entwickeln. Wir wissen, dass es sehr viel mehr ältere
Menschen in unserer Gesellschaft gibt, dass sich viele
Menschen im Moment ihren Kinderwunsch nicht erfüllen, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch
immer schwierig ist und dass es auch deshalb sehr häufig
Defizite bei der Rollenverteilung zwischen Männern und
Frauen in der Familie gibt. Zu einer Analyse gehört, daraus die Konsequenzen für das politische Handeln zu
ziehen.
({0})
Wir wissen des Weiteren - das ist ebenfalls eine Aufgabe der Familienpolitik -, dass es zunehmend Familien
gibt, die von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen sind. Deshalb ist es ganz entscheidend, dass
Familienpolitik ein ganzes Bündel an Maßnahmen umfasst.
Wer auch immer glaubt, mit nur einer Maßnahme
könnte erreicht werden, dass mehr Kinderwünsche erfüllt werden, oder mit nur einer Maßnahme könnte sich
die Rollenverteilung in der Familie verändern, täuscht
sich. Wir brauchen ein Bündel von verschiedenen Maßnahmen und wir brauchen eine Verzahnung mit anderen
Politikfeldern. Ich freue mich, dass es in diesem Koalitionsvertrag gelungen ist, Familienpolitik und Politik für
Kinder und Jugend keineswegs nur in diesem Kapitel
Familienpolitik zu verankern. Wir sehen vielmehr, dass
es ganz viele Bereiche gibt, in denen diese eine entscheidende Rolle spielt. Ich will einige Beispiele dazu nennen.
Wir haben familienpolitische Maßnahmen mit dem
Bereich Bildungspolitik verzahnt, weil wir in beiden
Fällen zu Recht Wert auf frühkindliche Förderung legen.
({1})
Wir haben - auch das finde ich ganz entscheidend - Familien- und Gleichstellungspolitik mit der Arbeitsmarktpolitik verzahnt. Auch dazu zwei Beispiele.
Wenn wir betonen und unterstreichen, dass es für uns
wichtig ist, dass unter 25-Jährige auch das Recht auf
eine Ausbildung, eine Qualifikation oder einen Arbeitsplatz haben,
({2})
dann ist das ein entscheidender Beitrag dazu, familienpolitisch weiterzukommen.
({3})
Dass wir unseren Wunsch verankern, dass alle Maßnahmen der Arbeitsmarktreform auch unter frauenpolitischen Gesichtspunkten evaluiert werden, ist für mich
entscheidend für die Frage der Rollenverteilung und
Chancengleichheit. Das gehört auch zur Familien- und
Gleichstellungspolitik.
({4})
Im Bereich der Steuerpolitik haben wir verankert,
dass es nun weitere Verbesserungen - ich betone: weitere Verbesserungen - bei der steuerlichen Anerkennung
von Betreuungskosten geben wird. Es war während unserer Regierungszeit, als die Anerkennung von erwerbsbedingten Betreuungskosten in das Steuerrecht aufgenommen wurde. Auch das ist ein entscheidender Punkt.
Wir haben vor, schon im nächsten Jahr zu Verbesserungen im Bereich der steuerlichen Anerkennung von Kinderbetreuung zu kommen.
({5})
Ich will einen letzten Bogen zu einem anderen Politikbereich spannen. Es ist nicht der letzte insgesamt, aber
ein letztes Blitzlicht, nämlich der Bereich Innenpolitik
und Integration. Ich habe vorhin angesprochen, dass
wir wissen, dass es Kinder gibt, die nicht mehr an dem,
was sie für ihre Entwicklung brauchen, teilhaben. Es
liegt in der Verantwortung der Integrations- und der Innenpolitik, aber auch - das sage ich ausdrücklich - der
ehemals im Familienministerium verankerten Integrationsbeauftragten, zu überlegen, wie die Chancen von
Kindern von Migrantinnen und Migranten deutlich verbessert werden können. Da müssen wir in den nächsten
Jahren noch weitere Schritte gehen.
({6})
Wir sichern von hier aus Frau Böhmer unsere Unterstützung zu, aber wir garantieren auch, dass wir immer darauf schauen, dass sie sich entsprechend weiterentwickelt.
({7})
In diesem Koalitionsvertrag - darüber freuen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns ganz besonders - stellen wir fest, dass es wirklich gelungen ist,
gemeinsam den Schritt zur modernen Familienpolitik zu
gehen. Ich will die Gelegenheit hier nutzen, der ehemaligen Bundesministerin Renate Schmidt - sie ist krank
und kann nicht da sein - ein Dankeschön zu sagen, weil
wir wissen, dass sehr viele von diesen neuen Gedanken
und Entwicklungen im Bereich der Familienpolitik auch
ihrer Arbeit zu verdanken sind.
({8})
Gestatten Sie mir einen Gedanken zu der Frage, die
gestern in der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin
angedeutet worden ist, nämlich der Frage der Freiheit.
Mir ist schon wichtig, im Bereich der Familienpolitik
mit zu definieren, wo für uns Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten Freiheit wichtig ist. Wir sehen da eine
Verbindung, nämlich dass auf der einen Seite Frauen und
Männer individuelle Lebenschancen erhalten, während
sie auf der anderen Seite selbstständig und eigenständig
ihre wirtschaftliche Grundlage autonom sichern können.
Diese Verbindung gehört für uns zum Freiheitsbegriff.
({9})
Deshalb gibt es das Maßnahmenbündel, das auch Sie,
Frau Ministerin, beschrieben haben: Wir wollen den
Betreuungsausbau verstetigen; wir unterstützen den
Ausbau der Betreuung von unter Dreijährigen mit dem
Tagesbetreuungsausbaugesetz. Wenn es den Kommunen
nicht gelingt, ihrer Verpflichtung zum Ausbau von Betreuungseinrichtungen nachzukommen, dann werden wir
einen Rechtsanspruch auf Betreuung von Kindern ab
dem zweiten Lebensjahr einführen, um deutlich zu machen, dass Betreuungsausbau und Elterngeld, also der
zweite Bereich des Maßnahmenbündels, ganz eng zusammenhängen. Es ist selbstverständlich notwendig,
dass auch Eltern, die kürzere Zeit zu Hause bleiben, auf
eine gut ausgebaute Infrastruktur an Betreuungsangeboten zurückgreifen können.
({10})
Wir wollen - auch dies ist ganz wichtig - den Kinderzuschlag deutlich erhöhen. Wir wollen das Ganze so gestalten, dass es einfacher und transparenter wird. Das ist
notwendig. Wir wollen, dass auch die Zahl der Anspruchsberechtigten deutlich steigt. Das heißt, wir haben
die ganz wichtige Aufgabe zu lösen, die Teilhabechancen und die materielle Absicherung von Familien mit
niedrigem Einkommen zu verbessern. Das ist ein entscheidender Bestandteil dieses Maßnahmenbündels.
({11})
Vor uns liegt sehr viel Arbeit in diesem Bereich. Ich
kann Ihnen sagen, Frau Ministerin: Wir freuen uns darauf, diese gemeinsam mit Ihnen zu schultern. Wir finden nämlich, dass es sich für die Frauen, für die Kinder
und für die Familien lohnen wird, diese Arbeit zu tun.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat nun der Kollege Jörn Wunderlich von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wer die Regierungserklärung aufmerksam
verfolgt und den Koalitionsvertrag mit Interesse gelesen
hat, der kann doch nur feststellen, dass der Eindruck erweckt werden soll, Deutschland sei kinder- und familienfreundlich. Jeder kann seine Meinung sagen und jeder kann Festlegungen treffen. Wie weit sie zutreffen,
das wird sich im Ergebnis zeigen. Die Regierung wird
nicht an den Worten, sondern an den Taten gemessen.
Ich kann gegenwärtig nur feststellen: Die Worte höre
ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.
({0})
Denn eine Gesellschaft, die sich im Wesentlichen dem
Diktat des Geldes und der Ökonomie unterwirft, eine
Gesellschaft, die nach dem Motto „Rechnet sich das
überhaupt?“ handelt, kann nicht familien- und kinderfreundlich sein.
Ein weiterer Grund, der mich zweifeln lässt: Bundeskanzlerin Merkel hat gestern vom Elterngeld als Einkommensersatz mit dem so genannten Vaterfaktor gesprochen. In einem Entschließungsantrag der CDU/CSU
vom 19. April 2005 zur Regierungserklärung von
Gerhard Schröder am 18. April 2002 stand:
Gerade die geplante Einführung des Elterngeldes
widerspricht dem Prinzip einer bedarfsgerechten
Förderung und verstößt gegen den Grundsatz der
Wahlfreiheit … Das Elterngeld verstößt aber auch
gegen den Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit.
Das bisherige Erziehungsgeld ist eine Anerkennung
der Erziehungsleistung der Eltern. … Das Elterngeld hingegen begünstigt höhere Einkommensgruppen. Dies ist sozial ungerecht und widerspricht dem
Gleichheitsgrundsatz.
({1})
Da frage ich mich natürlich: Mit wie vielen Richtungsänderungen ist denn noch zu rechnen?
Ein weiteres Problem: Zu den notwendigen Rahmenbedingungen, die die Koalition bezüglich einer besseren
Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit schaffen
will, gehört auch eine familienfreundliche Arbeitswelt
mit flexiblen Arbeitszeiten. Das klingt zunächst gut;
aber die Wirklichkeit auf dem Arbeitsmarkt sieht doch
ganz anders aus. In der Industrie, in der Wirtschaft und
im öffentlichen Dienst wird eine ganz andere Sprache
gesprochen. Der Vater pendelt über viele Kilometer zum
Arbeitsplatz und ist nur am Wochenende zu Hause.
Demnächst bekommt er noch nicht mal mehr die Pendlerpauschale; das ist ja machbar. Die Mutter wird von
der Agentur für Arbeit in einen 80 Kilometer entfernten
Arbeitsort - das ist laut Agentur für Arbeit zumutbar vermittelt. Oder: Bei Erkrankung der Kinder stehen im
gesamten Jahr nur vier bis zwölf Tage - je nachdem, wo
man beschäftigt ist - für eine Freistellung zur Verfügung. Nun weiß jeder von Ihnen, dass Kinder krankheitsanfälliger sind. Masern sind nicht nach vier Tagen
auskuriert. Was passiert mit den Kindern? Die Lösung
kann doch nicht der Griff zum Jahresurlaub sein.
An dieser Stelle geht meine Kritik und die Kritik meiner Fraktion an Sie alle - ich wiederhole: an Sie alle -:
Sie lassen seit Jahren soziale Ungerechtigkeiten zu. Sie
lassen es zu, dass Familien übermäßig belastet und zerrissen werden, fordern stringent Mobilität ein. Jetzt meinen Sie, das Ganze mit einem Unternehmensprogramm
zur betrieblichen Betreuung der Kinder, mit Mehrgenerationenhäusern und Modellprojekten lösen zu können.
Das alles klingt nicht schlecht. Über die Ansätze lässt
sich reden. Nur, das Verwerfliche ist die Umsetzung. Da
wollen Sie nämlich wieder soziale Ungerechtigkeiten
zulassen.
Die bereits erwähnten Modellprojekte als Lösung aller bzw. fast aller Probleme. - Mal ehrlich: Wenn wir mit
offenen Ohren und offenen Augen durch die Wahlkreise
gehen, dann erfahren wir doch, dass es Projekte in Hülle
und Fülle gibt. Aber alle haben ein gemeinsames Problem: die Finanzierung bzw. die Anschlussfinanzierung.
Da müssen Gelder gestrichen werden, um die Finanzierungslücken in den Kommunen und Kreisen zu schließen, die durch die verfehlte Hartz-IV-Politik entstanden
sind. Das ist der falsche Weg. So kann es nicht weitergehen und so wird es auch nicht weitergehen.
({2})
Noch ein Wort zu den Mehrgenerationenhäusern.
Auch das klingt gut. Aber soll generationenübergreifende Alltagssolidarität unter Erwerbslosen, verarmten
Rentnern und Kindern ohne Kitaplatz bestehen? Ist das
die Lösung in der Familienpolitik? Initiieren Sie nicht
immer wieder neue Projekte zulasten bereits laufender
Projekte! Was wir brauchen, ist eine soziale Grundsicherung für alle, Kontinuität bei der Ausnutzung der Ressourcen als Investition in die Familie; denn - darüber,
denke ich, sind wir uns einig - Familie ist Zukunft.
Danke schön.
({3})
Herr Kollege Wunderlich, das war Ihre erste Rede in
diesem Haus. Ich gratuliere Ihnen dazu und wünsche alles Gute.
({0})
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Das Wort hat nun die Kollegin Ekin Deligöz von der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich vorneweg eines feststellen: Die
neue Regierung hat die Bedeutung von Familienpolitik
erkannt. Sie hat einige richtige politische Ansätze. Dennoch bin ich an vielen Punkten skeptisch und die will ich
auch benennen.
Viele Ihrer guten Ansätze münden nur in halbherzigen Ankündigungen. Viele entscheidende Punkte in diesem Koalitionsvertrag sind ungeklärt. Sie sind offen. Sie
sind nicht konkret. Im Bereich der Frauen-, Jugend- und
Altenpolitik fehlen sogar konkrete Beschlüsse. Fehlanzeige! Nichts ist zu finden!
({0})
Viel Prosa, nichts Konkretes. So kann man die wichtigsten Entscheidungen in einem Zukunftsfeld dieser Nation
nicht lösen. Schöne Worte reichen da nicht aus. Wir
brauchen die Taten hierzu.
({1})
Wir haben jetzt schon einiges über das Elterngeld gehört. Ich möchte das als ein Beispiel herausgreifen. Eine
richtig fundierte Bewertung und Debatte dazu ist im Moment noch gar nicht möglich. Wie das Ganze ausgestaltet werden soll, wer darauf Anspruch hat, wer profitiert
und wer Verlierer ist - das sind die absolut entscheidenden Punkte -, können wir im Moment noch gar nicht sagen. Die wichtigen Punkte fehlen, sind noch nicht präsentiert. Ganz im Gegenteil: Es gibt eine ganze Menge
von Punkten, bei denen Unklarheiten dominieren und
präzise Fakten fehlen. In den öffentlichen Äußerungen
vonseiten der Koalitionspolitikerinnen und -politiker
tauchen im Übrigen Widersprüche auf.
Einerseits behaupten Sie im Koalitionsvertrag, das
Ganze koste 3 Milliarden Euro. So viel kostet das Erziehungsgeld heute. Das heißt, irgendwo müssen an den
bisherigen Modellvorschlägen rasante Kürzungen vorgenommen werden, die aber nicht benannt werden. Andererseits sagt die Ministerin in einem Interview, das
Ganze koste vielleicht doch 4 Milliarden Euro. Was
stimmt denn nun, 3 oder 4 Milliarden Euro?
({2})
Sie sagen: Es bleibt alles ein Stück weit, wie es ist.
Einerseits sprechen Sie im Koalitionsvertrag dann von
der Alternative A und der Alternative B in Bezug auf die
Bemessungsgrundlage. Andererseits sagt die Ministerin,
wieder in einem Interview, die Alternative B, die von der
Union vorgeschlagen wird, sei längst durchgesetzt und
werde auch so umgesetzt. Das heißt für mich eigentlich,
dass Union und SPD sich in der Ausgestaltung und in
den wichtigen Punkten noch gar nicht einig sind. Wenn
das Elterngeld das zentrale familienpolitische Projekt
dieser Koalition sein sollte, dann ist das eine sehr bescheidene Leistung, die Sie hier präsentieren.
({3})
Es freut mich, dass das Tagesbetreuungsausbaugesetz bestätigt worden ist. Es freut mich umso mehr, als
wir dazu mehrere Gespräche auch mit der CDU/CSUFraktion geführt haben. Insbesondere freut es mich, weil
dieses Gesetz maßgeblich von den Grünen initiiert
wurde; denn es ist gut für die Eltern und für die Kinder.
Mit Blick auf die Zukunftschancen ist es wichtig, Frühförderung und Elementarbildung anzugehen. Bei aller
gegensätzlichen Debatte über das Elterngeld: Wir wissen, dass der Schlüssel zur Vereinbarkeit von Beruf und
Familie in der Tagesbetreuung liegt.
({4})
Gleichzeitig sage ich Ihnen: So zu tun, als sei diese Aufgabe schon gelöst und man könne dieses Kapitel schließen und das nächste aufmachen, ist eine Lebenslüge; das
stimmt so nicht.
({5})
Sie sagen zwar, für Sie sei erst einmal das Elterngeld
wichtig, über die Kinderbetreuung könne man in ein
paar Jahren noch einmal reden.
({6})
Aber das ist viel zu spät. Sie verdrehen die Notwendigkeiten. Sie müssen erst die Grundlagen für eine Kinderbetreuung schaffen, damit die Vereinbarkeit von Beruf
und Familie möglich wird, und in einem zweiten Schritt
können wir über das Elterngeld reden.
({7})
Weil die SPD so dazwischenschreit, noch ein Satz:
Wenn Sie jetzt so tun, als sei die Debatte über die Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten vom ersten
Euro an eine ganz neue Erfindung, dann ist das doch
nicht wahr, Frau Kressl. Ich kann mich sehr gut an Veranstaltungen und Verhandlungen gerade mit Ihnen erinnern, bei denen Sie etliche Argumente hatten, warum das
alles nicht so gut ist, warum das unsinnig viel Geld verschlingt, weshalb man das nicht machen kann. Wir haben das immer wieder, in jeder Debatte von neuem gefordert. Da verwechseln Sie die Tatsachen.
({8})
Noch eines zum TAG. Warum schaffen Sie einen
Rechtsanspruch auf Betreuung, wenn Sie ihn schon einführen, erst ab dem zweiten Lebensjahr? Warum sind Sie
nicht mutig genug, diesen gleich ab dem ersten Jahr zu
ermöglichen?
({9})
Wenn nämlich das Elterngeld auf acht Monate gekürzt
werden soll, dann stehen die Eltern bereits im ersten Jahr
vor der Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie
und nicht erst ab dem zweiten Jahr.
({10})
Sie lassen die Frauen im Stich, indem Sie das Elterngeld
nach dem ersten Jahr abschaffen, aber den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung erst nach dem zweiten Jahr
ermöglichen. In der Zeit, die dazwischen liegt, überlassen Sie die Frauen sich selbst.
({11})
- Ich lese diese Dokumente und dort lese ich vor allem
eines nicht, nämlich das, was die Union uns im Wahlkampf versprochen hat. Wir haben über die Erhöhung
des Kindergrundfreibetrages und des Kindergeldes gesprochen. Wir haben gehört, dass es sehr wichtig ist,
dass es einen Kinderbonus in der Rente gibt. Von alldem
ist inzwischen nichts mehr übrig geblieben. Die gesamten CDU/CSU-Konzepte sind in diesem Koalitionsvertrag nicht vorhanden. Ich frage mich, wohin sie gekommen sind oder ob Sie inzwischen einsichtig geworden
sind und gemerkt haben, dass genau diese Maßnahmen
Unsummen verschlingen würden, ohne dass dem tatsächlichen Bedarf der Eltern, Kinder und Familien entsprochen würde.
({12})
Ein Letztes. Frau von der Leyen, ich finde es richtig,
dass Sie den Teilbereich der vernachlässigten Kinder
ansprechen und entsprechende Modelle haben. Das finde
ich sehr wichtig und darin werden Sie auch unsere Unterstützung haben. Aber Sie dürfen nicht so tun, als
würde irgendeinem Kind allein dadurch etwas Gutes getan, dass man Selbstverständlichkeiten in der Gesellschaft propagiert. Vor allem geschieht den Kindern
nichts Gutes, wenn nur irgendwelche Projekte initiiert
werden, gleichzeitig aber, auch von den Ländern, wichtige Jugendhilfemaßnahmen gekürzt werden, im Bundesrat darüber gesprochen wird, Kürzungen im KJHG
durchzusetzen, und die Jugendhilfe schon heute nicht
mehr gewährleistet werden kann, weil die finanzielle
Basis fehlt. Es ist eine Lebenslüge, wenn man behauptet,
man könne die Jugendhilfe kürzen und gleichzeitig den
Präventionsgedanken stärken. Jugendhilfe ist Prävention. Ich bitte Sie, Ihr Augenmerk darauf zu richten.
({13})
Die Mehrgenerationenhäuser sind ein wichtiges
Ziel. Auch ich halte sie als Grundidee für richtig; dagegen kann man nicht viel einwenden. Auch das ist ein Initialmodell. Was aber passiert, wenn die Modellfinanzierung ausläuft?
Wir haben eine ganze Reihe von Modellen - das ist
mein letztes Argument, Frau Präsidentin - und Praxisbeispielen bei den Eltern-Kind-Zentren durchgeführt.
Diese Zentren existieren und bekommen einen Preis
nach dem anderen. Jetzt aber starten Sie ein neues Projekt, anstatt darüber nachzudenken, wie man gut laufende Projekte auf eine solide finanzielle Basis stellen
kann.
({14})
Liebe Ministerin, das Programm, das hier vorgelegt
worden ist, ist kleinteilig, es ist nicht konsistent, es ist
Stückwerk. Es geht in vielen Punkten an dem vorbei,
was Eltern jetzt brauchen. In den Bereichen der Jugend-,
Familien- und Altenpolitik wird die Umsetzung sehr
schwer werden, weil Sie keine Konzepte vorlegen. Ein
schlüssiges Gesamtkonzept ist nirgendwo erkennbar.
Dazu kommt, dass die Generationenverhältnisse nicht
zukunftstauglich austariert sind.
Trotz allem können Sie in diesem Land sehr viel erreichen. Wir brauchen nicht nur eine Politik der schönen
Worte; wir brauchen eine Politik der Taten. Das ist
meine Aufforderung an Sie.
({15})
Jetzt hat das Wort der Kollege Johannes Singhammer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Zuallererst, Frau Ministerin, gratuliere ich Ihnen
zu Ihrem neuen Amt. Ich wünsche Ihnen Erfolg und
Gottes Segen.
({0})
Deutschland braucht ein weites Herz für seine Kinder
und für seine Familien und eine große Koalition für
mehr Kinderfreundlichkeit und mehr Familienfreundlichkeit.
({1})
Als Schicksalszahlen der Nation gelten allgemein
die hohen Arbeitslosenzahlen und die Zahlen über die
hohe Verschuldung des Staates. Aber wenn sich die Geburtenzahlen seit vielen Jahren im freien Fall befinden
und sich das Idealbild einer Bevölkerungspyramide in
einen bedrohlichen Pilz mit einem dünnen Stiel von
nachwachsenden Generationen verengt, dann ist diese
Perspektive für unser Land mindestens ebenso schicksalhaft.
({2})
Deshalb ist nicht nur die Zahl von Existenzgründungen
in der Wirtschaft, sondern auch die Zahl der Familiengründungen und der Kinder ein Indikator für Zuversicht
und Vertrauen. Dabei wollen wir die Familienpolitik
nicht auf eine Zahlenideologie von Geburtenziffern verengen. Für uns ist wichtig, dass sich immer mehr Kinder
auf der Sonnenseite des Lebens und immer weniger auf
der Schattenseite befinden.
({3})
Um das zu erreichen, werden wir ein Bündel von
Maßnahmen verwirklichen. Zum Beispiel wollen wir
mehr finanzielle Gerechtigkeit für Familien und Kinder
durch ein Elterngeld mit Wahlrecht der Eltern, Frau
Deligöz, erreichen. Das Wahlrecht bezieht sich darauf,
ob sie den gleichen Gesamtbetrag für ein Jahr oder für
zwei Jahre erhalten wollen.
({4})
- Das ist dann logischerweise auf zwei Jahre verteilt.
({5})
Mit einem Kinderzuschlag werden wir erreichen, dass
Eltern ohne Bezug von Arbeitslosengeld II für ihre Kinder besser sorgen können. Mit der Absetzbarkeit von
Kinderbetreuungskosten und haushaltsnahen Dienstleistungen sollen Mütter und Väter künftig bis zu einem Gesamtvolumen von jährlich 5 Milliarden Euro gefördert
werden. Von diesen 5 Milliarden Euro werden rund
2 Milliarden Euro auf die Kinderbetreuungskosten konzentriert. Beginnen soll das bereits im kommenden Jahr,
2006.
({6})
Künftig werden Mütter und Väter gefördert, wenn sie als
Privathaushalt Arbeitgeber sind - natürlich unter der
selbstverständlichen Voraussetzung, dass es sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse sind.
({7})
Damit erreichen wir mehreres. Wir schaffen damit einen Treibsatz für mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, für mehr Jobs; die Schwarzarbeit wird eingedämmt und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
in Schwung gebracht.
({8})
Das ist kein Dienstmädchenprivileg; vielmehr ist das ein
Gerechtigkeitsprivileg für die Familien.
({9})
Wir wissen: Finanzieller Ausgleich allein leitet in
Deutschland noch keinen Trend zu mehr Geburten ein.
Notwendig ist ein Klimawechsel in vielen Lebensbereichen: Dazu gehören familienfreundliche Arbeitszeiten,
sodass Kinder und Karriere zunehmend besser vereinbart werden können. Dazu gehören aber auch Respekt
und gesellschaftliche Anerkennung für alle Lebensentwürfe, insbesondere für Lebensentwürfe derjenigen
Frauen, die sich trotz Ausbildung für ihre Familie entschieden haben. Auch das verdient Respekt und Anerkennung.
Kinder und Jugendliche müssen in einem geschützten
Umfeld heranwachsen können. Die Union hat im Koalitionsvertrag darauf gedrängt, dass nicht die Vertreiber
und Verkäufer von so genannten Killerspielen in geschütztem Umfeld agieren können, während Kinder und
Jugendliche ungeschützt mit Gewalt konfrontiert werden. Wir wollen nicht, dass virtuelles Töten und Verletzen von Mitspielern und der Einsatz von Schusswaffen
zur Selbstverständlichkeit, andererseits Rücksicht und
Hilfsbereitschaft zur Ausnahmeerscheinung werden.
Wir wollen mehr Chancen für Jugendliche auf dem
Arbeitsmarkt; denn es gibt nichts Schlimmeres für junge
Menschen, als wenn ihnen bei ihrem ersten Schritt in die
Erwerbstätigkeit die Tür buchstäblich vor der Nase zugeschlagen wird.
({10})
Wir werden deshalb Schulverweigerer und Jugendliche
ohne Schulabschluss besonders fördern, aber auch fordern.
Wir wollen das Leben in jeder Phase schützen. Deshalb haben wir den unerträglichen Zustand von Spätabtreibungen im Koalitionsvertrag aufgegriffen. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber im Jahr
1992 in seinem Urteil eine Beobachtungs- und eventuelle Nachbesserungspflicht auferlegt. Wir nehmen diesen Auftrag und diese Verpflichtung des höchsten deutschen Gerichtes ernst.
Wir fühlen uns verantwortlich für alle Menschen, die
bei uns leben. Wir wollen nicht, dass Frauen ohne deutsche Staatsangehörigkeit herabgewürdigt oder instrumentalisiert werden. Wenn Zehntausende junger türkischer Frauen mitten unter uns leben, die als Folge von
Zwangsheirat oder arrangierten Ehen das Wort Gleichberechtigung nicht sprechen, nicht schreiben oder nicht
lesen können, dann hat das Wegschauen nichts mit Toleranz zu tun. Menschenwürde gilt für alle in unserem
Land.
({11})
Wir werden deshalb dafür sorgen - so steht es im Koalitionsvertrag geschrieben -, dass Zwangsverheiratungen als Straftatbestand in das Strafgesetzbuch aufgenommen werden.
Deutschland ist seit einigen Jahren auf einem abschüssigen Weg und in der Gefahr, ein kinderentwöhntes
Land zu werden. Wir wollen gemeinsam Kinder wieder
mehr in den Mittelpunkt rücken. Mein Rat an uns Erwachsene ist: Die Welt gelegentlich aus der Augenhöhe
eines Kindes, also aus 80 oder 90 Zentimeter Höhe, zu
betrachten muss nicht zu einer Verzwergung der Politik
führen, sondern kann zu einer neuen Humanität führen,
die wir brauchen.
Deutschland braucht einen neuen Schwung an
Menschlichkeit, Mut und Zuversicht. Damit wollen wir
neu beginnen.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf die
Aussage von Herrn Singhammer, dass es Frauen gibt,
die sich für die Familie entscheiden, muss ich sagen:
Leider können sich aus wirtschaftlichen Gründen immer
weniger Frauen ausschließlich für ein Leben in der Familie entscheiden.
Frau Ministerin, bei Ihrer Rede hatte ich zunächst die
Sorge, dass Sie die älter werdende Gesellschaft außer
Acht lassen. Zum Schluss Ihrer Rede haben Sie das
Thema demographischer Wandel dann aber doch angeschnitten.
Was heißt eigentlich alt? Sind wir es mit Erreichen
des neuen Renteneintrittsalters von 67 Jahren oder
schon mit Ende 40, wenn es zunehmend schwierig wird,
einen Arbeitsplatz zu finden? 60 Prozent aller Unternehmen in Deutschland beschäftigen keine Mitarbeiter über
50 Jahre mehr. Die jüngste Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, der die Regelung von Hartz IV über
die Befristungsmöglichkeit von Arbeitsverträgen mit Arbeitnehmern über 52 Jahre als altersdiskriminierend bewertet hat, erscheint mir kennzeichnend für die deutsche
Fehlentwicklung durch Einführung der Frühverrentung.
({0})
Hier möchte ich auch darauf hinweisen, dass die Neuregelung, mit 45 Versicherungsjahren in Rente gehen zu
können, von Eltern, insbesondere von Müttern, kaum in
Anspruch genommen werden kann.
({1})
Denn bei ihnen werden die Kindererziehungszeiten nur
mit je drei Jahren angerechnet. Ich glaube, Frau Ministerin, dass Sie hier etwas ganz wesentliches Familienpolitisches übersehen haben.
({2})
Alt werden heißt heutzutage, nicht mehr am Rand stehen zu müssen, sondern den dritten Lebensabschnitt aktiv gestalten zu wollen, um möglichst lange ein selbst
bestimmtes Leben führen zu können. Hier geht es um ureigenste Freiheitsrechte gerade auch alternder Menschen, die Entmündigung und Abgeschobenwerden in
Altenheime und Pflegeheime fürchten.
Wir brauchen deshalb verstärkt ein bürgerschaftliches
Engagement, an dem sich gerade auch Senioren gesellschaftlich beteiligen. Die Absicht der Bundesregierung,
mit einer Weiterentwicklung des Stiftungsrechts und
steuerlicher Anreize Möglichkeiten der Finanzierung
ehrenamtlicher Aufgaben zu schaffen, begrüßen wir.
({3})
Ich möchte in dieser gesellschaftspolitischen Debatte
aber auch darauf hinweisen, dass die Integrationspolitik
jetzt offenbar Chefsache ist; so hoffe ich zumindest. Die
Anbindung der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung an das Kanzleramt möchte ich so deuten.
Die FDP hat sich lange dazu bekannt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Für uns ist die Integrationspolitik traditionell von hoher Bedeutung. Im sechsten Ausländerbericht stellte die Beauftragte der
Bundesregierung fest, dass die FDP-Fraktion schon
2004 ein integrationspolitisches Gesamtkonzept vorlegte, das über die Enge der integrationspolitischen Debatte im Zusammenhang mit dem Zuwanderungsgesetzprozess hinauswies.
Fast 14 Millionen Menschen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Jede fünfte Ehe ist binational; jedes vierte Neugeborene hat mindestens einen ausländischen Elternteil. Auf keinen Fall lassen sich
Integrationsdefizite nur mit dem Polizeirecht oder dem
Strafrecht lösen.
({4})
Wir wollen in Deutschland keine Parallelgesellschaften
und müssen uns deshalb mit dem besonderen Problem
auseinander setzen, wie wir eine nachholende Integration für bereits in Deutschland lebende Migranten gestalten.
Im Koalitionsvertrag - damit komme ich zum
Schluss - haben sich Union und SPD zur Migrationsund Integrationspolitik manches vorgenommen, was
dringend notwendig ist. Wenn sie Vorhaben wie das
frühe Deutschlernen von Kindern mit Migrationshintergrund, die Stärkung des interkulturellen und interreligiösen Dialogs und die Förderung der Gleichstellung von
Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund in gute
Gesetze und Programme gießen, wird die FDP gerne an
ihrer Seite stehen.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Christel Humme, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich erlebe zurzeit, dass in jeder Bürgermeisterrunde, in jeder Bürgermeisterrede, auf jedem Arbeitgeberempfang und auf jedem Neujahrsempfang die
Forderung nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf
in den Vordergrund gestellt wird.
({0})
Ich sage Ihnen: Damit ist der ehemaligen Ministerin
Renate Schmidt etwas gelungen, was niemand erwartet
hat, nämlich dass die Familienpolitik inzwischen im
Mittelpunkt der Politik, ja im Mittelpunkt unserer Gesellschaft gelandet ist.
({1})
Sieben Jahre hartnäckige Arbeit für Familien haben sich
in der Tat gelohnt. Ich glaube, dass die große Koalition
an diesen guten Vorarbeiten anknüpfen kann und dass
wir diese Politik gemeinsam fortsetzen können.
Wenn ich auf die siebenjährige Arbeit im Ausschuss
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zurückblicke,
dann stelle ich fest, dass wir gerade in diesem Ausschuss
sehr häufig gemeinsame Ziele formuliert haben. Wir alle
wollten die Bedingungen für das Aufwachsen von
Kindern verbessern. Wir waren davon überzeugt, dass
Frauen bessere Chancen im Erwerbsleben brauchen.
Niemand von uns wollte leugnen, dass wir für Mütter
und Väter gute Rahmenbedingungen schaffen müssen,
damit Eltern Beruf und Familie miteinander vereinbaren
können. Aber zu einem gemeinsamen Handeln kam es
nur sehr selten. - Frau Lenke, Sie schütteln den Kopf.
Aber so ist es.
Bedauerlicherweise muss ich feststellen, dass wir uns
vom Ritual der ideologischen Grabenkämpfe nicht ganz
lösen konnten. Allerdings gab es ein Beispiel dafür, dass
wir dies geschafft haben. Daran möchte ich gern erinnern, weil es deutlich macht, dass in Zukunft vieles geht.
Ich erinnere an die Einführung der so genannten Unisextarife bei der Riester-Rente. Alle Vertreter der Fraktionen, die der damaligen rot-grünen Koalition und die der
damaligen Opposition aus CDU/CSU und FDP, haben
gleiche Tarife für Frauen und Männer gefordert.
({2})
- Sie haben sich damit zwar in Ihrer Partei nicht durchgesetzt, Frau Lenke, aber in unserem Ausschuss schon.
({3})
Damals ist es uns in eindrucksvoller Weise gelungen,
die ideologischen Grabenkämpfe zu überwinden, und
ich glaube, dass die Koalitionsverhandlungen gezeigt
haben, dass wir, Union und SPD, die Chance haben, dies
wieder zu schaffen und gemeinsame Lösungswege in
den Vordergrund zu stellen. Der Koalitionsvertrag ist ein
Erfolg, ein Erfolg für Familien, Senioren, Frauen, Kinder und Jugendliche. Dieser Vertrag kann sich meiner
Ansicht nach durchaus sehen lassen.
({4})
An dieser Stelle möchte ich Ihnen, Frau Ministerin, für
die konstruktive Zusammenarbeit bei den Verhandlungen recht herzlich danken.
({5})
Mit diesem Koalitionsvertrag bleiben die Familien im
Mittelpunkt unserer Politik. Es bleibt auch bei dem Ziel,
Deutschland zum kinderfreundlichsten Land Europas zu
machen. Es bleibt auch dabei, dass wir uns um das
Wichtigste zuerst kümmern, Frau Deligöz, nämlich um
den Ausbau der Kinderbetreuung.
({6})
Lesen Sie das bitte noch einmal nach! Das steht nach
wie vor an erster Stelle.
Wenn ich die Rede der Bundeskanzlerin noch einmal
Revue passieren lasse, freue ich mich über einen Satz
ganz besonders. Sie hat gesagt: Die soziale Herkunft eines Kindes darf nicht den Bildungsabschluss und damit
die Lebenschancen bestimmen.
({7})
Wenn wir dieses Ziel verfolgen, muss der Ausbau der Infrastruktur der wichtigste familienpolitische Schwerpunkt bleiben.
Der Ausbau der Betreuungsplätze für unter Dreijährige - das gilt für Kinder ab dem zweiten Lebensjahr,
Frau Deligöz, also ab dem ersten Geburtstag - ist gut,
und zwar gut für die Bildungschancen und für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Er ist aber auch gut
für die Bekämpfung von Familien- und Kinderarmut.
Dabei haben wir eine Gruppe ganz besonders im Blick,
nämlich die der Alleinerziehenden. Es ist nicht von der
Hand zu weisen, dass sie ein besonderes Armutsrisiko
tragen. Gerade für diese Gruppe möchten wir daher das
Erziehungsgeld in ein Elterngeld umwandeln.
({8})
Das bedeutet, dass wir dann zwei Komponenten haben:
auf der einen Seite die Betreuung und auf der anderen
Seite das Elterngeld. Dieses Maßnahmenbündel wird
dazu beitragen, Familien- und Kinderarmut zu bekämpfen.
({9})
Alle Familien werden von dem Elterngeld profitieren,
und zwar schon dadurch, dass wir den Vätern die
Chance geben, sich an der Erziehung zu beteiligen und
zu beobachten, wie ihre Kinder aufwachsen. Ich habe
mich gestern und auch heute Morgen über die Presse
sehr gewundert. Das Argument, das immer wieder in den
Vordergrund gestellt wurde, war, dass diese Regelung
verfassungsfeindlich sei. Darüber wundere ich mich
ganz gewaltig. Seit wann ist in der Verfassung eine Rollenverteilung festgeschrieben? So habe ich die Verfassung noch nie ausgelegt.
({10})
Ich habe mich darüber gefreut, dass Bundeskanzlerin
Angela Merkel gestern gesagt hat, dass wir einen sanften
Druck auf die Männer ausüben müssen, sich stärker an
der Familienarbeit zu beteiligen. Das tun wir mit der
Einführung des Elterngelds. Vielleicht werden wir dann
die Erfolge, die in Schweden zu verzeichnen sind, auch
hier verzeichnen können.
({11})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf ist der Schlüssel zu einer zukunftsweisenden Frauen- und Gleichstellungspolitik.
In der Frauen- und Gleichstellungspolitik haben wir in
den letzten Jahren viel geschafft. Wir haben aber nicht
alles erreicht. Hier sind die Erwartungen der Frauen sehr
hoch.
Gerade im Bereich des Arbeitsmarktes ist aus frauenpolitischer Sicht noch einiges zu erledigen. Nach wie vor
haben wir keinen gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit. Hier sind wir uns alle einig - das ist ganz
wichtig -, dass dringender Handlungsbedarf besteht.
({12})
Die Koalition wird die Hartz-Gesetze auch in puncto Geschlechtergerechtigkeit überprüfen müssen. Das hatten
wir uns schon vorher vorgenommen. Ich denke, das werden wir umsetzen.
Wie wichtig dieses Thema ist, möchte ich an einem
Beispiel deutlich machen: Frauen, die ihren Anspruch
auf Arbeitslosengeld II verlieren, weil ihr Partner, mit
dem sie nicht verheiratet sind, zu viel verdient, verlieren
gleichzeitig ihren Kranken- und Pflegeversicherungsschutz. Das darf nicht sein. Das müssen und das werden
wir schnell ändern.
({13})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, ich möchte noch
einen Punkt ansprechen. Sie wissen, es gibt eine freiwillige Vereinbarung zwischen der letzten Bundesregierung
und den Spitzenverbänden der privaten Wirtschaft zur
Gleichstellung am Arbeitsplatz. Diese Vereinbarung
ist ja, denke ich, mit der großen Koalition nicht außer
Kraft gesetzt. Wir sollten uns deren zweite Bilanz, die sicherlich kommen wird, kritisch ansehen. Die SPD war
immer der Auffassung, wenn Familienfreundlichkeit und
Chancengleichheit nicht freiwillig zum Thema Nummer
eins in den Betrieben werden, müssen wir uns über entsprechende gesetzliche Regelungen Gedanken machen.
Auch das sind wir den Frauen schuldig.
Ich hoffe, Frau Ministerin, dass Sie genauso wie Ihre
Vorgängerin die Bündnisse für Familie weiterführen, damit an dieser Stelle endlich Bewegung in den Laden
kommt.
({14})
Das Antidiskriminierungsgesetz wäre für die Gleichstellung am Arbeitsmarkt ein wichtiger Schritt in die
richtige Richtung gewesen und hätte den Frauen geholfen.
({15})
- Ja, Frau Schewe-Gerigk, so ist es. - Ich bin froh, dass
die Koalitionspartner - hören Sie gut zu! - im Koalitionsvertrag unterstrichen haben, dass die europäischen
Gleichbehandlungsrichtlinien umgesetzt werden müssen.
({16})
In der letzten Legislaturperiode haben wir heftig über das
Antidiskriminierungsgesetz gestritten. Aber ich denke,
dass wir es jetzt schaffen werden, dieses Gesetz im Interesse der Frauen und im Interesse einer diskriminierungsfreien Gesellschaft endlich in die Tat umzusetzen.
({17})
Ich freue mich auf die neue, spannende Herausforderung, in einer großen Koalition die bestehenden gesellschaftspolitischen Aufgaben zu lösen, und zwar jenseits
- ich hoffe, dass das gelingt - aller ideologischen Gräben. Das sage ich auch in Richtung Opposition.
Schönen Dank.
({18})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Diana Golze, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! In ihrer Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin ausgeführt, dass sich
die neue Bundesregierung viele Taten vorgenommen hat.
Ich hoffe, dass diesen Worten auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpolitik wirklich Taten im Sinne der jungen Menschen unseres Landes folgen.
({0})
Unter anderem sollen junge Menschen ermutigt werden, sich für ein Leben mit Kindern zu entscheiden. Dafür wurde im Koalitionsvertrag die Schaffung von
230 000 zusätzlichen Betreuungsplätzen für Kinder unter 3 Jahren bis zum Jahr 2010 festgeschrieben. Der
zwölfte Kinder- und Jugendbericht der rot-grünen Bundesregierung vom Herbst 2005 geht jedoch weiter und
empfiehlt einen Rechtsanspruch bis 2010 für alle Kinder
von Geburt an. Diese Empfehlung sollte die neue Bundesregierung in die Tat umsetzen.
({1})
Die Länder und Kommunen müssen damit verbunden
aber auch die Möglichkeit bekommen, diesen Rechtsanspruch zu erfüllen. Vermutungen, die Kommunen könnten dies durch Einsparungen im Zusammenhang mit der
Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe
gewährleisten, sind mehr als vage und derzeit nicht belegbar.
Zum Thema Rechtsansprüche von Kindern sollte
bei der Bundesregierung jedoch noch einiges mehr auf
der Tagesordnung stehen. Trotz Protesten hat die Bundesregierung die UN-Kinderrechtskonvention bislang
nur unter ausländerrechtlichen Vorbehalten unterschrieben, nach denen das deutsche Ausländerrecht Vorrang
vor den Verpflichtungen der Konvention hat.
Dieser Zustand muss schnellstens überwunden werden.
({2})
Eine wichtige Frage ist weder im Koalitionsvertrag
noch in der Regierungserklärung ausreichend beantwortet worden: Wie will die Bundesregierung gegen die
wachsende Kinderarmut vorgehen? Kinderarmut hat in
der Bundesrepublik eine historisch neue Dimension erreicht. Nach einer Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes hat die Einführung von Hartz IV zum Jahresbeginn die Zahl der von Armut betroffenen Kinder auf
ein Rekordhoch von 1,7 Millionen steigen lassen. Insgesamt leben 14,2 Prozent der Kinder in Deutschland in
Armut; das ist jedes siebte Kind, in Ostdeutschland sogar jedes vierte.
Kinderarmut nimmt den jüngsten Mitgliedern unserer
Gesellschaft die Zukunftschancen; denn die Weichen für
die Entwicklung werden in den ersten Lebensjahren gestellt. Ich zitiere aus der Regierungserklärung: „Die
Menschlichkeit unserer Gesellschaft entscheidet sich daran, wie wir mit ihnen umgehen.“ Gemeint waren damit
auch die Kinder.
Werte Kolleginnen und Kollegen, das Verständnis der
großen Koalition von Jugendlichen in unserem Land ist
äußerst widersprüchlich. Auf der einen Seite wird gerade
von Schulabgängern erwartet, dass sie sich auf die Suche
nach einem Ausbildungsplatz begeben und dabei flexibel sind. Ebenso sollen sie dem Arbeitsmarkt nach einem erfolgreichen Abschluss, so sie denn überhaupt in
den Genuss eines solchen kommen, uneingeschränkt zur
Verfügung stehen. Andererseits sollen sie bis zum Alter
von 25 Jahren am elterlichen Rockzipfel hängen, um den
Staat nicht zu belasten. Von in der Verfassung festgeschriebenen Bürgerrechten kann hier wohl keine Rede
sein, wenn wir sie den jungen Menschen nur dann gewähren, wenn es uns passt.
({3})
Wir müssen ihnen doch wenigstens die Chance auf ein
selbstbestimmtes und erfolgreiches Leben bieten. Der
Pakt für Ausbildung bietet diese Chance nicht.
Die Kinder und Jugendlichen sind die Zukunft unseres Landes. Wir sollten es uns heute nicht mit ihnen verscherzen. Wir selbst werden im Alter die Folgen dessen
zu tragen haben und uns den Fragen der nachkommenden Generation stellen müssen.
Vielen Dank.
({4})
Frau Kollegin, dies war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Ich gratuliere Ihnen recht herzlich und wünsche Ihnen persönlich und für Ihre Arbeit hier im Parlament alles Gute.
({0})
Dies war die letzte Rednerin in dieser Debatte.
Wir kommen nun zu den Themenbereichen Finanzen
und Steuern.
Außerdem rufe ich die Tagesordnungspunkte 5 a und
5 b sowie die Zusatzpunkte 3 und 4 auf:
5 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Beschränkung der Verlustverrechnung im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen
- Drucksache 16/107 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Abschaffung der Eigenheimzulage
- Drucksache 16/108 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm
- Drucksache 16/105 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oskar
Lafontaine, Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost
und der Fraktion der LINKEN
Hedgefondszulassung zurücknehmen
- Drucksache 16/113 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Peer
Steinbrück.
({5})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Dies ist meine erste Rede hier im Bundestag,
meine Jungfernrede, die ich nicht mehr von der Bundesratsbank, sondern von der Regierungsbank kommend
halte.
({0})
- Es gibt ja einen alten Aphorismus, der lautet: Hochverrat ist eine Frage des Datums.
({1})
Ich möchte mich sehr herzlich für die vielen Glückwünsche bedanken, die ich bekommen habe. Ich gebe
zu: Es ist auch das eine oder andere Kondolenzschreiben
dabei gewesen,
({2})
das ich gebührend beantworten werde. In wenigen Tagen
mache ich eine Erfahrung, die auch viele Privatleute in
Deutschland machen: die Erkenntnis, dass das schöne
Gefühl, Geld zu haben, weitaus weniger intensiv ist als
das klamme Gefühl, kein Geld zu haben.
({3})
Um ernsthaft zu werden, meine Damen und Herren,
sage ich: Wir haben unabweisbar erhebliche Haushaltsprobleme. An den Beginn meiner Ausführungen stelle
ich daher sehr gezielt die Feststellung, dass diese
Haushaltsprobleme nicht ausschließlich aus fiskalischer
Perspektive und nicht allein über fiskalische Anstrengungen zu lösen sind.
Ich halte das für aussichtslos. Diese unabweisbaren
Haushaltsprobleme sind nur in einem Gesamtzusammenhang zu lösen. Sie werfen uns sehr direkt zurück auf
Fragen, die alle Seiten dieses Hauses - in den unterschiedlichsten Ausschüssen, in den unterschiedlichsten
Ministerien - beschäftigen.
({4})
Diese Fragen lauten: Wird die Wachstumsdynamik in
Deutschland in den nächsten Jahren hinreichend sein,
um diese Probleme zu lösen? Wie können wir unsere Sozialversicherungssysteme robuster machen
({5})
gegen konjunkturelle Ausschläge, aber auch gegenüber
den Folgen der Demographie, wenn - was eine Tatsache
ist - das Normalarbeitsverhältnis als Bezugsgröße für
die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge zunehmend erodiert? Wir wissen, dass jede Entspannung auf
dem Arbeitsmarkt uns näher an eine solide Haushaltsführung heranführt. Wir haben es über die Folgen der
Demographie hinaus, die ich bisher angesprochen habe,
auch mit weiteren Folgen dieser Entwicklung zu tun.
Ich stelle das an den Anfang, um die Notwendigkeit
aufzuzeigen, dass wir diese Haushalts- und Fiskalpolitik
mit den anderen politischen Aufgabenfeldern mehr denn
je vernetzen. Es kann keine Arbeitsteilung geben, dass
im Hohen Hause die Haushalts- und Finanzpolitiker auf
der einen Seite und die anderen Politiker auf der anderen
Seite stehen, dass der Finanzminister im Kabinett für die
kruden, für die schlechten Nachrichten zuständig ist und
die anderen sich populär, auch mit Blick auf ihr Ausgabeverhalten, aufstellen können.
({6})
Solide Staatsfinanzen sind, das weiß ich, nicht alles
und ich will sie auch nicht überbewerten. Aber ohne solide Staatsfinanzen werden wir viele der uns gemeinsam
beschäftigenden Aufgaben definitiv nicht erfüllen, geschweige finanzieren können.
({7})
Ich glaube - und ich mache gar keinen Hehl daraus -,
dass eine große Koalition die beste Voraussetzung dafür
ist, einen solchen Gesamtzusammenhang herzustellen
und diese Aufgaben zu lösen. Deshalb ist es auch nahe
liegend, dass der Koalitionsvertrag keiner rein fiskalischen Logik folgt. Ich selber als einer in der Verhandlungskommission habe versucht, dem zu entsprechen.
Wir haben gesagt: „Ja, wir brauchen eine ordentliche
Haushaltsführung“, aber auf der anderen Seite hat diese
große Koalition auch Gestaltungsansprüche formuliert
und wir wollen diesen Gestaltungsansprüchen auch entsprechen, zum Beispiel mit Blick auf die Förderung der
gewerblichen Wirtschaft, insbesondere des Mittelstandes; mit Blick auf die Familienförderung, die eben eine
große Rolle gespielt hat; mit Blick auf Forschung und
Entwicklung - das berühmte 3-Prozent-Ziel, das in vier,
fünf Jahren erreicht sein soll; was übrigens bedeutet,
dass wir 6 Milliarden Euro mehr in die Hand nehmen
müssen -, um auf diesem Gebiet international wieder die
Nase vorn zu haben; mit Blick auf die Verkehrsinfrastruktur und das wichtige Thema, wie wir private Haushalte zunehmend auch als Arbeitgeber mobilisieren
können, und zwar mit Blick auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse.
Glaubwürdige Politik muss sich den Realitäten stellen; das weiß ich. Diese Realitäten heißen zum Beispiel:
Rund 20 Prozent des Bundeshaushaltes, also insgesamt
etwa 50 Milliarden Euro, sind nicht nachhaltig durch
Einnahmen gedeckt. Um es auf den Punkt zu bringen
- wahrscheinlich bei manchen Kritik hervorrufend -:
Dieser Bundeshaushalt hat sehr viel weniger ein Ausgabenproblem und sehr viel mehr ein Einnahmeproblem!
({8})
Mit fast 80 Milliarden Euro machen die Leistungen des
Bundeshaushaltes an die gesetzliche Rentenversicherung annähernd ein Drittel des gesamten Bundeshaushaltes aus. Insbesondere mit Blick auf Herrn Solms, der
gleich nach mir reden wird, möchte ich darauf hinweisen, dass alleine fünf große Ausgabenblöcke 72 Prozent
dieses Bundeshaushaltes festlegen: der Zuschuss zur
Rentenversicherung, die Arbeitsmarktausgaben, die Zinsen, die Personalausgaben und die Zuwendungen. Die
restlichen 28 Prozent betreffen teilweise wichtige Ausgabenfelder, nach der Rechtschreibreform zu bezeichnen
mit den drei Fs: nämlich Verkehr, Verteidigung und Forschung und Entwicklung.
({9})
Angesichts dieser Verkarstung - in Form dieser fünf
Blöcke - und mit Blick auf die hoch investiven Anteile
der drei Fs ist klar: Wenn jemand glaubt, er könnte aus
diesem Bundeshaushalt in einer Radikaloperation 10, 15,
20, 25 Milliarden Euro auf einmal herausschneiden,
dann irrt er! Das ist Voodoo-Fiskalpolitik!
({10})
Denn wenn Sie dies wollen, Herr Solms, dann müssen
Sie sich jetzt hierhin stellen und sagen, ob Sie den
80-Milliarden-Euro-Zuschuss an die Rentenversicherung kürzen wollen! Sind Sie bereit, den Menschen zu
sagen, dass sie, wenn Sie zum Beispiel 8 Milliarden Euro herausholen wollen, um die Mehrwertsteuererhöhung zu vermeiden, es mit Rentenkürzungen von
4 Prozent zu tun haben werden? Ich habe von Kollegin
Schmidt gelernt, dass 50 Prozent der Rentner in
Deutschland ihre Rente alleine aus der gesetzlichen Rentenversicherung beziehen. Sie müssten diesen Frauen
und Männern die Rente also um real 4 Prozent kürzen! Bei den Zinsen können Sie nicht sparen. Bei den Zuwendungen sparen wir. Auch beim Personal sparen wir. Das
heißt, die Spielräume sind sehr gering. Wenn diese
Mehrwertsteuererhöhung so des Teufels ist, dann müssten Sie, um sie zu vermeiden, mit Vorschlägen kommen,
wie ich sie von Ihnen nie gehört habe; ich komme darauf
zurück.
({11})
Das Problem bei diesem Haushalt ist nicht allein dessen Niveau. Wir haben vielmehr ein Strukturproblem:
Wir zahlen für die Vergangenheit zu viel und geben für
die Zukunft zu wenig aus.
({12})
Das ist die Realität. Ich könnte noch weitere Punkte aufzählen, wie zum Beispiel die Zinsquote, die zu geringe
Investitionsquote und dergleichen mehr. An diesen
Sachverhalten kommt niemand vorbei, weder die FDP
- auch nicht Sie, Herr Solms, wenn Sie bei einer anderen
Konstellation meine Funktion übernommen hätten noch die Linkspartei. Ich habe den Eindruck, dass es einfache, gar populäre Antworten auf diese komplexen,
sehr ineinander verwobenen Probleme nicht gibt.
Die FDP tut so, als ob sie durch Steuersenkungen die
Regelgrenze des Art. 115 Grundgesetz einhalten
könnte. Gelegentlich habe ich den Eindruck, dass sie
vornehmlich über Haushaltskürzungen den Konsolidierungsbeitrag erbringen will. Wie Sie das machen wollen,
weiß ich nicht. Diese Zauberformel ist mir nicht geläufig. Das ist die von mir schon angesprochene VoodooFiskalpolitik. Wo sollen denn die 35 Milliarden Euro
herkommen, Herr Solms? Wenn Sie weitere Steuersenkungen wollen und gleichzeitig die Regelgrenze des
Art. 115 Grundgesetz einhalten wollen, dann müssen Sie
dem Parlament und der Öffentlichkeit belegen, wie diese
Defizitlücke über Haushaltskürzungen gedeckt werden
soll.
({13})
Außerdem müssen Sie belegen, mit welchen Verwerfungen und Kollateralschäden das verbunden ist. Übrigens
ist das alles kontraproduktiv für Wachstum und Beschäftigung. Diese Antwort bleibt die FDP schuldig.
Dass Sie persönlich manchmal mit einer großen
Chuzpe antreten und sagen, das, was diese große Koalition, diese Bundesregierung im nächsten Jahr mache, sei
verfassungswidrig, lasse ich Ihnen nicht durchgehen.
Denn Art. 115 Grundgesetz lässt, wie Sie wissen müssen, eine Ausnahme zu. Diese Bundesregierung nimmt
diese Ausnahme in Anspruch. Das ist nicht verfassungswidrig, sondern durchaus verfassungskonform.
Das wirkt deshalb als eine so große Chuzpe auf mich,
weil ich habe nachzählen lassen, wie oft die FDP an einem solchen Verfahren beteiligt war. Sie war es fünfmal.
({14})
Die FDP ist in den Jahren 1994, 1991, 1984, 1979 und
1976 an einem solchen Verfahren beteiligt gewesen, wie
es die große Koalition diesmal macht, nämlich im Haushaltsaufstellungsverfahren die Regelgrenze nicht einzuhalten, aber dies mit der Erlaubnis, der Ausnahmeregelung, die Art. 115 Grundgesetz enthält. Weshalb die
Kritik? Sie waren fünfmal dabei.
({15})
- Ja, ja, die FDP lebt vom Kurzzeitgedächtnis der Bürgerinnen und Bürger. Das ist richtig.
({16})
- Ich könnte Ihnen das Verfahren genau beschreiben.
Das hätte aber einen zu starken Seminarcharakter. Ersparen Sie mir das bitte. Es ging um eine Rücklagenbildung.
({17})
Sie von der FDP sind auch an anderer Stelle Gefangener Ihrer Terminologie, nämlich dann, wenn Sie die Abschaffung jeder Steuervergünstigung automatisch als
eine Steuererhöhung definieren. Dann kommen Sie
dazu, solche Beiträge zu halten, wie Herr Brüderle das
heute getan hat. Wenn Sie mit mir darin einig wären,
dass wir viele Steuervergünstigungen haben, die eigentlich obsolet sind, und dass deren Abschaffung nicht automatisch Steuererhöhungen sind, sondern Einsparungen, die man erbringen kann, dann kämen Sie zu ganz
anderen Zahlen.
Ich will Sie daran erinnern: In einem Jahr wie 2008,
in dem sich die volle Wirksamkeit vieler Maßnahmen,
die sich diese Regierung vorgenommen hat, entfalten
wird, haben wir es zu tun mit Ausgabenkürzungen von
ungefähr 10 Milliarden Euro, mit der Abschaffung von
Steuervergünstigungen in der Dimension von 6,3 Milliarden Euro, mit Steuermehreinnahmen über höhere
Versicherungsteuer und Mehrwertsteuer von 9,8 Milliarden Euro und bei den Einmaleffekten und Privatisierungen etwa mit 9 Milliarden Euro. Das sind die Proportionen. Diese stehen im Widerspruch zu dem, was Herr
Brüderle heute hier mit großer Emphase vorgetragen hat.
Niemand zahlt gerne Steuern. Aber die Steuerquote
in Deutschland ist - das betone ich - auch nicht das
Hauptproblem. Ich stimme sogar Herrn Lafontaine begrenzt zu,
({18})
dass selbst die addierte Steuer- und Abgabenquote im internationalen Vergleich nicht das Hauptproblem ist. Was
er darüber zu sagen versäumt, ist, dass wir in Deutschland zu hohe Lohnzusatzkosten haben, die sich aus gesetzlichen und tariflichen Regelungen zusammensetzen.
Was er in seiner Rede heute Morgen nicht beschrieben
hat, ist, dass die Lohnzusatzkosten inzwischen 100 Prozent der Lohn- und Gehaltssumme ausmachen.
({19})
- Er verschweigt, dass wir in Deutschland im Bereich
des Arbeitsmarktes nach wie vor ein riesengroßes Problem haben. Ich möchte nicht polemisch werden, aber es
ist bildlich so zu beschreiben: Ein Malergeselle hat zu
Hause einen Wasserrohrbruch und lässt diesen von einem Installateurgesellen reparieren. Der Malergeselle
muss fünf Stunden arbeiten, um eine Arbeitsstunde des
Installateurgesellen bezahlen zu können. Das beschreibt
das Hauptproblem auf dem Arbeitsmarkt.
({20})
Was Sie von der Linkspartei dazu darstellen, hilft uns
definitiv nicht weiter.
Abgesehen davon sind an dieser Stelle auch die leichten Hinweise erlaubt, dass die Steuersysteme in Europa
inzwischen miteinander konkurrieren und dass wir mit
unserem Steuersystem dafür sorgen müssen, dass es bei
der hohen Mobilität des Kapitals nicht zu Abwanderungen kommt.
Ich will auf das Thema zurückkommen, das in der
Debatte heute Morgen, die Herr Brüderle mit entfacht
hat, schon eine Rolle spielte, nämlich auf die Mehrwertsteuer. Ja - wir müssen uns doch nicht wechselseitig
naiver machen, als wir sind -, die Erhöhung der Mehrwertsteuer hat einen kontraproduktiven Effekt für die
Wirtschaft. Jeder, der das leugnet, macht sich etwas vor.
({21})
- Es ist so. - Die Frage ist nur, mit welchen anderen Verwerfungen und anderen Nachteilen für die Konjunktur
und die solide Haushaltsführung eine alternative Strategie verbunden wäre. Darauf haben Sie keine Antwort.
({22})
- Wissen Sie: Gelegentlich hat die Politik auch einen Erkenntnisfortschritt zu verzeichnen.
({23})
- Ach, entschuldigen Sie bitte. Sie haben vor der Wahl
Steuersenkungen versprochen. Wenn Herr Solms an
meiner Stelle wäre, dann müsste er heute hier die politische Lebenslüge der FDP vertreten, da Steuersenkungen
gar nicht möglich sind. Das ist genau dieselbe Lebenslüge.
({24})
Ich bin mir ganz sicher: Wenn er in meinem Amt wäre
und wenn er heute Ihre Aussagen im Bundestagswahlkampf verteidigen müsste, dann müsste er sich von ihnen genauso verabschieden. Tun Sie also doch nicht so
und spielen Sie sich doch nicht vollmundig auf.
({25})
Wenn Sie sagen, dass Sie diese Erhöhung der Mehrsteuer nicht wollen - den einen Mehrwertsteuerpunkt,
durch den die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gesenkt werden sollen, lasse ich einmal weg -, dann müssen Sie diesem Hause erklären, wie die 10 Milliarden
Euro - ich addiere immer die Versicherungsteuer und die
Mehrwertsteuer - auf anderem Wege finanziert werden
sollen. Das können Sie nicht. Das ist Ihr Offenbarungseid. Da gibt es nichts,
({26})
es sei denn, Sie würden sagen: Wir senken die Renten
und die Investitionen und wir setzen in den Zukunftsfeldern - was immer dabei in Rede steht - keine Akzente
mehr.
Ich sage sehr bewusst: Um seine Aufgaben erfüllen
zu können, benötigt dieser Staat Ressourcen. Wir brauchen einen handlungsfähigen Staat. Die Menschen erwarten, dass wir die Infrastruktur finanzieren, dass wir
Daseinsvorsorge betreiben, dass wir die innere und äußere Sicherheit finanzieren und dass wir in Bildung, Forschung und Entwicklung investieren.
({27})
Wir wollen aber keinen fetten Staat haben. Wir wollen
nicht länger einen Vater und eine Mutter Staat haben.
Wir brauchen auch keine Alimentationsveranstaltungen,
wie sich die Linken das gelegentlich vorstellen, sondern
wir brauchen einen leistungsfähigen Staat, der dafür
auch die entsprechenden finanziellen Ressourcen benötigt.
({28})
Wir brauchen einen handlungsfähigen Staat, der auch
dadurch Vertrauen und Sicherheit schafft, dass er die
großen Lebensrisiken der Menschen absichert und ihnen
mehr Chancengerechtigkeit beim Zugang zu Bildungseinrichtungen garantiert, damit sie ein selbst verantwortetes Leben führen können. Deshalb trete ich in einer
solchen Rede auch der verbreiteten und modischen DisBundesminister Peer Steinbrück
kreditierung des Staates und seiner Institutionen entgegen.
({29})
Dies ist auch bei Ihnen mit ordnungspolitischen Vorstellungen unterlegt, von denen ich sehr weit entfernt bin.
({30})
Nur die sehr Begüterten können sich einen schwachen
Staat leisten, die anderen nicht.
({31})
Abstrakt sind alle überall für Haushaltskonsolidierung: bei den Verbänden, in den Medien und auch bei
uns. Wehe aber, es wird konkret! Abstrakt sind alle für
den Abbau von Steuervergünstigungen - aber bitte bei
den anderen. Diese Debatte haben wir schon jetzt. Mir
ist jede Kritik willkommen, die uns weiterhilft, gerade
auch dann, wenn sie in Sorge um das Gemeinwohl geäußert wird. Mir ist es aber vielleicht auch erlaubt, solche
Kritik zurückzuweisen, die klar von Gruppeninteressen
geprägt ist.
({32})
Ich will ein Beispiel aus der jüngsten Zeit nennen,
nämlich die geplante Verlustverrechnungsbeschränkung im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen.
Die Art und Weise, wie die FDP dort Klientelpolitik betrieben hat und glaubte, dort Klientelinteressen vertreten
zu müssen, hat mit einer Orientierung an den Interessen
des Gemeinwohls nichts zu tun.
({33})
Sie müssen wissen: Allein das Lavieren über diesen
Stichtag hätte den Steuerzahler 500 Millionen Euro kosten können, nur weil man denjenigen, die diese Fonds
verwalten, vielleicht die Hand hat reichen müssen: Aus
verfassungsrechtlichen Gründen müsste das alles noch
verschoben werden und dergleichen mehr. Da ist nichts
dran.
({34})
Diese Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen werden daran festhalten, weil wir wissen, dass sehr viel Geld daran hängt.
In aller Deutlichkeit: Wenn wir Gruppeninteressen
bedienen, haben wir keine Chance, zu einem wirtschaftlichen Aufschwung zu kommen, schon gar nicht zu mentalen Veränderungen, wobei ich glaube, dass uns diese
Mentalitäten gelegentlich sehr hemmen.
({35})
So ernüchternd das Bild der öffentlichen Finanzen
auch sein mag, so besteht doch in meinen Augen kein
Anlass zu Hoffnungslosigkeit oder Fatalismus. Wie in
vielem, können wir auch hier einiges von den Chinesen
lernen. Sie verwenden zwei Pinselstriche, um das Wort
„Krise“ zu schreiben. Der eine Pinselstrich steht für die
Gefahr, der andere für die Gelegenheit. Will sagen: Hüte
dich in einer Krise vor der Gefahr, aber erkenne auch die
Gelegenheiten. Solche Gelegenheiten gibt es.
In der vergangenen Legislaturperiode hat es immerhin
eine beachtliche Zunahme der so genannten Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen im Zuge von Reformen
gegeben, für die ich meinem Vorgänger Hans Eichel, der
daran maßgeblich beteiligt war, noch einmal danken
möchte.
({36})
Die Experten weisen aus, dass wir durch eine Reihe von
gesetzlichen Vorhaben, die im Vermittlungsausschuss
durchaus Zustimmung gefunden haben, diese Tragfähigkeitslücke, das heißt die Differenz zwischen den langfristigen Ausgaben und den Einnahmen des Staates, in
nur zwei Jahren um 20 Prozent verringern konnten. Es
gibt keinen Grund, warum eine große Koalition hierauf
nicht aufbauen sollte. Wir werden es tun.
({37})
Die Bundesregierung hat ein ausgewogenes und aufeinander abgestimmtes Maßnahmenpaket in der, wie
ich glaube, richtigen Schrittfolge vorgelegt. Wir wollen
2006 Rückenwind organisieren. Wir wollen 2007 das
Maastricht-Kriterium hinsichtlich der Verschuldung und
auch die Regelgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes
einhalten.
({38})
Das wird uns erhebliche Anstrengungen abverlangen.
Ich kündige hier noch einmal an, dass die Einhaltung des
Maastricht-Kriteriums von 3 Prozent im Jahre 2007 auch
mit Blick auf die europapolitische Aufstellung der
Bundesrepublik Deutschland von einer erheblichen Bedeutung sein wird.
Wir befinden uns im Augenblick in einer Verfassungskrise. Wir verfügen im Augenblick über keine
finanzielle Vorausschau. Ob dies die britische Präsidentschaft bis Weihnachten noch liefern wird, ist nicht sicher. Das heißt, es stehen möglicherweise noch offene
Fragen zur Finanzierung der EU zur Behandlung an. Das
bedeutet, dass wir uns eine dritte Krise, eine mögliche
Währungskrise bezüglich der Infragestellung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, nicht werden leisten können. Das ist der Hintergrund.
({39})
Das Kabinett hat bereits erste Schritte eingeleitet, auf
die ich aus Zeitgründen nicht zu sprechen kommen
möchte. Der zweite Schritt wird sein, dass wir bereits im
nächsten Jahr folgende Impulse setzen wollen: Familienförderung, Stärkung von Forschung und Entwicklung, Programm zur energetischen Gebäudesanierung
sowie Förderung der gewerblichen Wirtschaft. Der dritte
Schritt wird sein, dass wir uns um die großen Reformvorhaben schon 2006 werden kümmern müssen. Herausragendes Beispiel ist dafür das Gesundheitssystem vor
dem Hintergrund sehr zielantinomischer Positionen, die
wir vorher eingenommen haben. Aber ich gehöre zu
denjenigen, die wissen, dass hier die Musik spielt, wenn
wir jemals von dem hohen Bundeszuschuss für die versicherungsfremden Leistungen in der Krankenversicherung wegkommen wollen.
({40})
Der nächste Schritt ist eine Erhöhung der Umsatzsteuer und der Versicherungsteuer zum 1. Januar 2007.
Dazu habe ich das Notwendige gesagt. Wir bleiben auch
im Sinne einer sozialen Balance für die davon Betroffenen bei dem halben Mehrwertsteuersatz.
({41})
- Ich meine den ermäßigten Satz von 7 Prozent. Danke
sehr, mathematisch haben Sie Recht, Frau Scheel.
Der fünfte Schritt wird eine große Unternehmensteuerreform zum 1. Januar 2008 sein, für die der
Grundsatz gilt: Solidität vor Schnelligkeit. Wir werden
unsere Zeit brauchen, um die vorliegenden Vorschläge
des Sachverständigenrates und der Stiftung Marktwirtschaft so auszuloten, dass dabei etwas Vernünftiges herauskommt.
({42})
Ich will zum Schluss sagen: Es ist ein Ziel dieser großen Koalition und vielleicht auch ihre Chance, Vertrauen
wiederzugewinnen. Wir wollen uns ernsthaft und intensiv um einen glaubwürdigen Politikstil bemühen, der
von den Wählerinnen und Wählern anerkannt wird. Die
Menschen haben einen Anspruch darauf, dass wir ihnen
ohne Umschweife die Realität so beschreiben, wie sie
ist, dass wir ihnen keine raschen Lösungen dort versprechen, wo wir sie nicht haben, dass wir aber versuchen,
Wege aufzuzeigen. Die Menschen haben jedoch auch einen Anspruch darauf, dass nicht alles zerredet und zerfasert wird, was in die politische Debatte gebracht wird.
Sie haben eine Bringschuld, die Informationsangebote
der Politik so abzurufen, dass sie sich ein eigenes, von
öffentlichen Aufgeregtheiten unabhängiges Bild machen
können. Diese Bringschuld mahne ich bei den Bürgerinnen und Bürgern an.
({43})
Die große Koalition hat die Chance, zu einem Politikstil zu finden, mit dem Vertrauen zurückgewonnen werden kann. Wir müssen aus Überzeugung handeln und wir
wollen durch Handeln überzeugen.
Vielen Dank.
({44})
Herr Minister, ich wünsche Ihnen für Ihre Arbeit auch
im Namen des Parlaments alles Gute.
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nachdem Herr Steinbrück seine erste Rede hier
gehalten hat, gebietet es die Höflichkeit, zurückhaltend
darauf zu antworten. Ich habe mich aber gewundert, dass
Sie Ihre Rede mit einer umfassenden Beschimpfung der
Opposition begonnen haben. Ich bin nicht der Finanzminister. Unser Programm steht nicht zur Disposition
und Diskussion. Vielmehr diskutieren wir hier über die
Regierungserklärung der neuen Koalition und Sie sind
für die Finanzpolitik verantwortlich. Um dieses Thema
geht es.
({0})
Sie müssen nun Ihre Finanzpolitik rechtfertigen, sagen, ob sie schlüssig ist und zu den erwähnten Zielen
führt oder ob Sie diese Ziele verfehlen werden. Ich bin
ebenso wie viele Fachleute in diesem Land davon überzeugt, dass diesem Programm die sinnstiftende Linie,
wie Professor Straubhaar festgestellt hat, fehlt.
({1})
Sie haben keine ökonomische Orientierung. Sie haben
Einzelvorschläge vorgelegt, die nicht zusammengehören
und sich widersprechen. Dabei ist kein finanzpolitisches
Leitmotiv zu erkennen. Dem finanzpolitischen Programm mangelt es an inhaltlicher Konsistenz und konzeptioneller Klarheit. Das will ich mit einigen Bemerkungen untermauern.
Zunächst einmal muss ich mich dagegen verwehren,
dass Sie uns falsche Vorwürfe machen. Wir haben die
Abschaffung der Verlustzuweisungsfonds seit Jahren
- auch schriftlich und im Deutschen Bundestag - gefordert,
({2})
und zwar unabhängig davon, wer davon betroffen ist.
({3})
Die Regierung, die damals von der SPD mit Ihrem Parteifreund Hans Eichel und den Grünen gebildet wurde,
hätte das längst vollzogen haben können. Richten Sie
deshalb keine Vorwürfe an die falsche Adresse!
({4})
Entscheidend ist aber, ob Ihre finanzpolitische Strategie, die von einer Fülle von Steuererhöhungen und einer
kleinen Zahl von Einsparungen geprägt ist, zum Ziel
führt. Sie haben die großen Probleme der öffentlichen
Haushalte in den Mittelpunkt Ihrer Strategie gestellt. Es
ist richtig: Sie sind riesig und ich glaube, dass Sie, die
Sie erst jetzt nach Berlin gekommen sind, nicht geahnt
haben, dass das strukturelle Defizit ein Volumen von
über 60 Milliarden Euro erreicht hat. Das haben auch
wir, die wir uns damit beschäftigt haben, nicht gedacht.
({5})
Wir sind von 50 Milliarden Euro ausgegangen; dass es
65 Milliarden Euro sind, haben wir nicht erkannt, Herr
Eichel. Sie haben uns das jedenfalls nicht vorgetragen.
Darauf muss ich an dieser Stelle hinweisen.
({6})
Sie haben in allen der letzten fünf Haushaltsberatungen Haushaltsplanentwürfe vorgelegt, die offenkundig
schon zum Zeitpunkt der Beratung falsch waren.
({7})
Wenn Herr Steinbrück jetzt dazu übergeht, saubere Zahlen vorzulegen, dann halte ich das für richtig und bedanke mich dafür. Es ist aber noch nicht die Lösung des
Problems.
({8})
Immerhin ist ein Anfang in Ehrlichkeit besser, als wieder
zu falschen Zahlen zu greifen.
Was ist der Grund für die Löcher im Staatshaushalt? Es gibt viele Gründe, aber lassen Sie mich zwei
Hauptgründe nennen: zum einen ausufernde Staatsausgaben und zum anderen eine immer schmalere Basis für
die Staatseinnahmen durch die hohe Arbeitslosigkeit.
Wenn Sie die Haushalte des Bundes, der Länder und
Gemeinden sanieren wollen, dann müssen Sie Ausgaben senken, Aufgaben des Staates zurücknehmen, Bürokratie abbauen und mehr Freiheit für die Bürger, Unternehmen, Investoren und Sparer schaffen,
({9})
um auf diese Weise das Haushaltsdefizit zu reduzieren.
Eine weitere zentrale Aufgabe besteht darin, alles zu
tun, das dazu beiträgt, dass in Deutschland wieder Arbeitsplätze entstehen können. Denn nur dann, wenn es
Ihnen gelingt, Arbeitsplätze zu schaffen, wird es wieder mehr Steuer- und Beitragszahler geben.
({10})
Ich erinnere an die einfache Faustregel: Wenn 1 Million Bürger, die heute von Sozialleistungen leben, wieder in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden könnten, dann würde sich die finanzielle Bilanz des Staates
um etwa 20 Milliarden Euro verbessern. In diesem Zusammenhang möchte ich an die 80er-Jahre erinnern, als
wir die gleichen Probleme - zwar nicht im selben Umfang, aber in struktureller Hinsicht waren sie vergleichbar - hatten. Damals wurde unter Finanzminister
Stoltenberg und Wirtschaftsminister Otto Graf
Lambsdorff eine Entlastungsreform begonnen. Es war
eine dreistufige Steuerreform mit einem Entlastungsvolumen von 60 Milliarden Euro. Das hat dazu beigetragen, dass zwischen 1983 und 1990 die Zahl der Beschäftigten auf dem ersten Arbeitsmarkt um mehr als
2,2 Millionen gestiegen ist. Das Ergebnis war, dass der
Staatshaushalt 1989 nahezu ausgeglichen war, und zwar
im Gesamtstaat. Die Haushalte von Bund, Ländern und
Gemeinden sowie der Sozialkassen wiesen damals nur
noch ein Defizit in Höhe von circa 3 Milliarden Euro
auf. Das ist im Vergleich zu heute fast nichts. Sie sehen:
Die Sanierung war nur über den Aufbau von Beschäftigung möglich. Deswegen ist Ihre finanzielle und ökonomische Strategie völlig falsch.
({11})
Sie können sicherlich sagen: Die blöde Opposition! Warum soll ich mich um sie kümmern? Was sie erzählt,
stimmt sowieso nicht. Jeder Vorschlag der FDP ist eo
ipso unsozial. - Ich kenne diese Argumentation. Aber
das ist egal; denn letztendlich müssen Sie sich vor dem
Wähler rechtfertigen.
Ich möchte nun kurz auf Ihre Strategie eingehen. Da
die Defizite im nächsten Jahr nicht beherrscht werden
können - das wäre in der Tat sehr schwierig; das gebe
ich zu -, wollen Sie ein konjunkturpolitisches Strohfeuer entfachen - mehr wird es auch nicht sein -, bevor
Sie 2007 die Bürger zur Kasse bitten. Sie überwälzen die
Verantwortung für die falsche Politik, die Sie seit Jahren
und Jahrzehnten machen - seit 1970 ist der Haushalt
nicht mehr ausgeglichen -, auf die Bürger. Diese müssen
die Lasten tragen. Was wird passieren? Im nächsten Jahr,
insbesondere was das Weihnachtsgeschäft angeht, wird
es vielleicht ein konjunkturpolitisches Strohfeuer geben.
Aber danach bricht die Konjunktur völlig ein. Wenn Sie
ein Ausgabenprogramm mit einem Volumen von - über
die ganze Legislaturperiode - 25 Milliarden Euro auflegen, gleichzeitig aber 150 Milliarden Euro an Liquidität
abschöpfen, dann ist klar, dass es keine positive konjunkturelle Entwicklung, kein Wachstum und keine zusätzliche Beschäftigung geben kann. Das ist ein ganz
einfacher Grundsatz der Makroökonomie.
({12})
Wie gesagt, Sie wollen ab 2007 rund 150 Milliarden
Euro einschließlich Privatisierungs- und Einmalerlöse
abschöpfen und legen gleichzeitig ein Ausgabenprogramm mit einem Volumen von 25 Milliarden Euro bis
2009 vor. Das kann nicht funktionieren. Ab 2007 wird
Ihnen die Rechnung präsentiert werden. Ich weise Sie
schon heute darauf hin, dass Sie scheitern werden, wenn
Sie Ihre Strategie nicht ändern.
({13})
Wir wollen aber nicht, dass Sie scheitern, sondern,
dass Sie Erfolg haben und für mehr Beschäftigung in
Deutschland sorgen.
({14})
- Ich weiß nicht, ob Sie das richtig verstanden haben,
was Sie gelesen haben. Aber nicht die OECD, sondern
wir im Deutschen Bundestag sind für unsere Politik verantwortlich.
({15})
Lesen Sie einmal die Gutachten des Sachverständigenrates und der wirtschaftswissenschaftlichen Institute!
Überall wird die Meinung vertreten, dass Ihrer Politik
die ökonomische Linie fehlt.
Letztendlich wird sich herausstellen, ob Ihre Vorstellungen helfen, Menschen in Lohn und Arbeit zu bringen.
Darauf müssen sich - jedenfalls nach unserer Meinung die Wirtschafts- und die Finanzpolitik konzentrieren.
Der neue Wirtschaftsminister Michael Glos, der die Debatte heute Morgen eröffnet hat, hat gesagt: Unser zentrales Ziel ist, für mehr Wachstum und Beschäftigung zu
sorgen. - Der Mann hat Recht. Aber warum tun Sie
nichts dafür? Warum machen Sie eine falsche Politik?
Die Rechnung wird Ihnen präsentiert werden.
({16})
Das Interessante dabei ist: Uns wird gerade von sozialdemokratischer Seite oft vorgehalten, man dürfe
nicht alles ökonomisieren; der blanke Kapitalismus sei
völlig unsozial und ungerecht. Hier haben wir nun ein
typisches Beispiel dafür, dass eine ökonomische Strategie auch eine soziale Gerechtigkeitsstrategie beinhaltet.
Das alles passt genau zusammen.
({17})
Die größte soziale Ungerechtigkeit ist die Arbeitslosigkeit.
({18})
Das ist nicht nur eine Frage des Einkommens bzw. des
Einkommens- oder Beschäftigungsverlustes, sondern
auch eine Frage des menschlichen Status, des Selbstbewusstseins. Hier werden ganze Familien einem traurigen
Schicksal überlassen. Daher müssen wir uns auf den Abbau der Arbeitslosigkeit konzentrieren. Wenn Sie eine
vernünftige ökonomische Politik machen und für Steuerund Abgabenentlastung, Bürokratieabbau, also Abschaffung von Vorschriften und Kontrollen, und für mehr
Freiraum sorgen, und zwar unter der Maßgabe, internationale Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen, dann
werden Sie auch das soziale Problem lösen. Ich halte es
durchaus für möglich, in absehbarer Zeit 2 Millionen
Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Nur müssen da mutige Entscheidungen getroffen
werden.
({19})
Eine Koalition mit einer Mehrheit von 70 Prozent hier
im Deutschen Bundestag hat doch alle Möglichkeiten.
Wir können unsere Kritik dagegenstellen, aber wir können Sie am Handeln nicht hindern. Sie müssen aber auch
handeln, aber Sie handeln nicht richtig. Das ist mutlos.
({20})
Schauen Sie sich doch das Abgabenprogramm an, das
Sie aufgestellt haben. Elterngeld - soll das die Konjunktur in Gang bringen? Handwerkerrechnungen können
von der Steuer abgesetzt werden. Das mag ja für die
Handwerker schön sein, führt aber wieder zu einer steuerlichen Komplizierung und zu zusätzlichen Manipulationsmöglichkeiten. So ist es doch.
({21})
Alle Parteien haben erklärt, sie wollten eine grundsätzliche Steuerreform mit einer Steuervereinfachung:
niedrig, einfach und gerecht. Die CDU hat das sogar von
uns abgeschrieben. Wo ist das denn geblieben? Wo sind
denn die mutigen Vorschläge von Friedrich Merz geblieben, die Sie von der CDU auf Ihrem Parteitag beschlossen haben? Kein Wort ist mehr davon zu hören. Alles
verschoben auf 2008.
({22})
Seit Jahren kennen wir die Probleme, seit Jahren hätten
Sie Ihre Hausaufgaben machen können. Die Gesetze hätten schon längst eingebracht werden können.
({23})
Wir haben das alles in einem Gesetzestext formuliert. Da
können Sie natürlich über jede Einzelheit streiten - das
weiß ich auch; es gibt für alles Alternativen -, aber Sie
müssen erst einmal ein neu konzipiertes Steuerrecht vorlegen, damit man darüber streiten kann.
({24})
Das verträgt keinen Verzug. Die Wirtschaft hat damit gerechnet, dass wir ein neues Unternehmensteuerrecht
im Jahr 2007 in Kraft setzen. Das hat übrigens, glaube
ich, im Wahlprogramm der CDU gestanden.
({25})
Wo ist es denn jetzt? Auch Sie, Herr Poß, werden doch
zugeben, dass es gut wäre, wenn wir ein Unternehmensteuerrecht hätten, das wenigstens europarechtskonform
wäre und wenigstens Rechtsformneutralität bewirken
würde ({26})
- das haben Sie nicht gemacht; Sie wollen es machen,
sagen Sie, aber bis jetzt habe ich davon nichts gesehen. ({27})
- und das dazu führen würde, dass aus steuerlicher Sicht
Investitionen in Deutschland so attraktiv sind wie in Österreich. Das ist doch der einfache Maßstab, den wir uns
setzen.
({28})
Daran werden Sie gemessen werden, und zwar nicht von
uns, nicht einmal von der öffentlichen Meinung, sondern
die Wirtschaft, die Unternehmen in Deutschland werden
Ihre Politik beurteilen. Angesichts der heutigen globalisierten Wirtschaft können Sie niemanden in Deutschland einschließen. Wem das nicht passt, der geht. Das
mag man mögen oder nicht mögen, aber so ist es.
Wenn Sie verhindern wollen, dass noch mehr Unternehmen und sogar mittelständische Unternehmen ins
Ausland abwandern,
({29})
dann müssen Sie unverzüglich ein solches Programm
auflegen und durch das Parlament bringen. Wenn Sie das
nicht tun, versagen Sie. Jetzt, am Anfang der Legislaturperiode, weise ich Sie darauf hin: Wenn Sie das machen,
werden wir Sie konstruktiv und kritisch unterstützen.
Wir halten das für zwingend notwendig, wenn wir in
Deutschland wieder Chancen für Arbeit und Brot bekommen wollen. Wenn Sie das mutwillig verzögern und
keine ausreichenden Reformen auf den Weg bringen,
dann werden wir scheitern. Wir werden dann alle scheitern, wir als Opposition auch, weil das verlorene Vertrauen der Bürger in die politischen Kräfte nicht mehr
zurückgewonnen werden kann.
({30})
Das trifft die Bundesregierung, das trifft die Parlamente.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit.
Das trifft uns alle. Deswegen - das können Sie mir
glauben - ist uns daran gelegen, dass Sie eine erfolgreichere Politik machen, jedenfalls erfolgreicher als das,
was sich in diesem Koalitionsprogramm ankündigt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Meister,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Deutschland hat wieder eine handlungsfähige Bundesregierung unter der Führung von Angela Merkel. Die Zeit
des Stillstands ist vorbei. Wir legen alleine heute im
Rahmen dieser Debatte drei Gesetzentwürfe vor, die in
den nächsten Wochen beraten und beschlossen werden
sollen.
({0})
Das zeigt, es geht zügig voran. Es wird nicht nur diskutiert, Frau Scheel, sondern es wird in Deutschland wieder gehandelt.
({1})
Ich möchte ausdrücklich für unseren Bereich begrüßen, dass die Bundeskanzlerin das Motto ihrer Regierung unter das Leitmotiv „Mehr Freiheit wagen“ gestellt hat. Ich glaube, dass das ein gutes und richtiges
Motiv ist und wir unsere Arbeit an diesem Motiv ausrichten wollen.
Herrn Bundesfinanzminister Steinbrück möchte ich
im Namen meiner Fraktion zunächst einmal eine gute
und vertrauensvolle Zusammenarbeit anbieten. Ich
glaube, vor uns liegen sehr schwierige Aufgaben, die wir
hoffentlich gemeinschaftlich anpacken und in diesen
vier Jahren bewältigen wollen.
({2})
Die jüngste Konjunkturumfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln oder die schon eben von Herrn
Solms zitierte OECD-Prognose verkünden eine positive
Entwicklung. Wir sollten diese positive Perspektive nutzen, ohne sie zu überschätzen; denn es reicht uns nicht,
wenn sich allein die Konjunktur bessert. Wir müssen den
konjunkturellen Aufschwung nutzen, um notwendige
strukturelle Veränderungen in Deutschland voranzubringen und die Lage unseres Landes damit dauerhaft zu
verbessern.
Hier wurde eben angemerkt, dass die Strukturreformen dieser Bundesregierung nicht weit genug gehen. Ich
möchte deshalb aus dem Monatsbericht der Deutschen
Bundesbank vom November 2005 zitieren, in dem sich
die Bundesbank mit dem Koalitionsvertrag auseinander
setzt:
In zentralen Bereichen werden im Koalitionsvertrag
für die Legislaturperiode grundlegende finanzpolitische Reformen in Aussicht gestellt. … Hier bestehen Chancen, dass die finanzpolitischen Rahmenbedingungen deutlich verbessert werden.
Es wird an uns allen liegen, in welcher Weise wir die
Chancen, die in diesem Koalitionsvertrag stecken, tatsächlich nutzen. Ich rate uns dazu, diese Chancen nicht
zu zerreden; vielmehr sollten wir gemeinschaftlich versuchen, diese Chancen zu nutzen, um zu Ergebnissen zu
kommen. Vor dieser Aufgabe stehen wir gemeinschaftlich.
({3})
Die Ausgangslage, die wir vorfinden - Stichworte:
Haushaltslage; Arbeitsmarkt; Strukturen, insbesondere
der Sozialsysteme -, ist ungeheuer schwierig. Hier
wurde eben gefordert, dass die Staatsfinanzen saniert
werden. Auch wenn manch einer diesen Eindruck erweckt, ist es natürlich nicht so, dass die Koalitionsverhandlungen der vergangenen Wochen zu dem Defizit geführt haben, das wir jetzt zu beseitigen haben; vielmehr
hat diese Koalition dieses Defizit in Höhe von etwa
60 Milliarden Euro vorgefunden. Wir stellen uns der
Aufgabe, diesen Haushalt wieder in Ordnung zu bringen.
Ich finde es ausgesprochen gut, dass Herr Steinbrück
bei einem gemeinsamen Interview auf einer Pressekonferenz gesagt hat: Diese Koalition startet, indem wir uns
zuerst einmal ehrlich machen und die Problemlage zu
Beginn der Arbeit klar und deutlich benennen. Ich
glaube, der einzig sinnvolle Weg ist, bei den Realitäten
zu beginnen und keine Wunschbilder zu malen.
({4})
Herr Kollege Solms hat eben erklärt, er vermisse ein
ökonomisches Leitmotiv. Ich glaube, dass wir in dieser
Koalition angesichts dieser schwierigen Ausgangslage
sehr wohl ein ökonomisches Leitmotiv gefunden haben:
Erstens wollen wir sanieren, Herr Solms. Das ist bei einer Unterdeckung des Bundeshaushalts in Höhe von
60 Milliarden Euro dringend geboten.
Zweitens wollen wir durch Sanieren nicht abwürgen da widerspreche ich Ihrem Kollegen Brüderle -, sondern, begleitend zum Sanieren, Investitionen anregen
und damit dazu beitragen, dass Wachstum und Beschäftigung gefördert werden. Beides tun wir gemeinsam.
Drittens wollen wir durch die Reformen, die wir anpacken - etwa im Unternehmensteuerbereich und im Bereich der Sozialsysteme -, Perspektiven langfristiger Art
eröffnen.
Ich glaube, dass dieser Dreiklang wichtig ist. Wenn
wir erfolgreich sein wollen, dann wird es wichtig sein,
diese drei Bereiche - Sanieren, Investieren und Reformieren - gleichermaßen zu berücksichtigen und keine
dieser Aufgaben aufzugeben.
Wir bekennen uns klar und deutlich dazu, dass wir ab
dem Jahre 2007 den Vertrag von Maastricht einhalten
wollen, und zwar sowohl nach dem Wortlaut als auch
nach dem Geist dieses Vertrages. Wir wollen auch die in
Art. 115 des Grundgesetzes festgelegte Regelgrenze ab
2007 wieder einhalten. Damit schlagen wir finanzpolitisch endlich wieder einmal Pflöcke ein, die deutlich machen, auf welcher Basis unser Land finanzpolitisch geführt wird. Ich glaube, das ist eine riesige Anstrengung
und eine klare Ansage. Es wird sehr viel Kraft erfordern,
diese Ziele zu erreichen und über das Jahr 2007 hinaus
wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen.
({5})
Wenn bei einer Lücke von 60 Milliarden Euro gesagt
wird: „Wir schaffen es allein über die Ausgabenseite,
diese Lücke zu schließen“, dann will ich betonen: Wir
reden über die Zielerreichung im Jahr 2007! Das bedeutet, dass wir bis 2007 nicht nur jährliche Sparvolumina
in einer Größenordnung von mehr als 30 Milliarden
Euro brauchen, sondern dass wir diese Beträge kassenwirksam im Bundeshaushalt brauchen.
({6})
Das ist etwas ganz anderes, als wenn jahreswirksame
Veränderungen beschlossen werden, die zum Teil auch
Länder und Kommunen betreffen. Deshalb müssen wir
uns auch bei dieser Debatte ehrlich machen, indem wir
klar und deutlich sagen: Wer es anstrebt, in 14 Monaten
mehr als 30 Milliarden Euro zu bewegen, der hat sich
durchaus ein ehrgeiziges Programm vorgenommen. Das
sollte man an dieser Stelle auch nicht kleinreden.
({7})
Herr Steinbrück hat vorhin die Aufteilung genannt.
Wir werden sparen. 10 Milliarden Euro in 14 Monaten
bedeutet eine gewaltige Herausforderung. Indem wir in
die steuerliche Bemessungsgrundlage eingreifen, werden wir etwa 6 Milliarden Euro bewegen. Darüber hinaus stehen wir vor der Notwendigkeit - dazu will ich
mich klar und deutlich bekennen -, in den Bereich der
Umsatzsteuer und der Versicherungsteuer hineinzugehen.
An der Stelle will ich eine Aufforderung aussprechen.
All dies wird gesetzlich umgesetzt werden müssen. Wir
sind da offen; Herr Poß, das kann ich, glaube ich, auch in
Ihrem Namen sagen. Wenn der Kollege Solms uns in
den Haushaltsberatungen Einsparvorschläge im Volumen von 12 Milliarden Euro vorlegt,
({8})
die belegt sind und im Jahr 2007 kassenwirksam sind,
dann bin ich durchaus bereit, darüber zu reden. Ich verspreche Ihnen: Wir schauen uns Ihre Einsparvorschläge
von 12 Milliarden Euro an. Wenn sie deckungsfähig
sind, werden wir offen über die Frage reden, ob wir uns
dort in anderer Weise aufstellen.
({9})
Aber es muss klar sein, dass das Sparvolumen gehoben
wird. Herr Solms, Sie haben jetzt Zeit - wir beginnen
zur Jahreswende mit den Haushaltsberatungen -, Ihren
Vorschlag auf den Tisch zu legen - additiv zu dem, was
die Koalition vorgelegt hat. Dann sind wir gern bereit,
uns mit Ihnen darüber auszutauschen.
({10})
Zur Mehrwertsteuer will ich Folgendes sagen: Wir
haben ausdrücklich darauf Wert gelegt, dass eine Senkung der Lohnzusatzkosten zustande kommt.
({11})
Wir wollen die Lohnzusatzkosten dauerhaft auf ein
Niveau von unter 40 Prozent führen. Das ist für die Arbeitsplätze am Standort Deutschland und für die Investitionstätigkeit am Standort Deutschland eine ganz zentrale Aussage. Deshalb halte ich es für richtig, dass wir
einen Teil über Veränderungen in den Sozialsystemen
und einen Teil über Refinanzierung über die Umsatzsteuer realisieren.
Ich will noch einen weiteren Punkt nennen. Herr
Eichel, Sie können das, glaube ich, bestätigen; Sie haben
das mehrfach in Bezug auf die Rentenversicherung und
die Krankenversicherung angesprochen. Die Dynamik,
die aus den Sozialsystemen kommt, erschlägt sozusagen
den Bundeshaushalt. Diese Koalition hat jetzt den Mut
gefunden, zu sagen: Wir schließen diese Schleuse und
werden dafür sorgen, dass diese Dynamik aus dem Bundeshalt herausgenommen wird. Als Strukturentscheidung ist das eine ganz zentrale Weichenstellung. Ich
weiß nicht, ob eine Koalition anderer Konstellation
überhaupt den Mut gehabt hätte, diese zentrale Weichenstellung vorzunehmen.
({12})
Das Impulsprogramm, das Thema Investieren also,
ist von Herrn Steinbrück schon dargestellt worden. Ich
will deshalb das Impulsprogramm nicht näher ausführen,
aber zwei Bemerkungen machen. Den Privathaushalt als
Arbeitgeber zu entdecken halte ich für extrem wichtig.
Von vielen Rednern ist in diesen beiden Tagen schon betont worden, dass wir gerade im Niedriglohnsektor ein
Problem mit Arbeitskräften haben. Jetzt haben wir endlich die Offenheit, zu sagen: Dort, wo viel ohne Rechnung, unter der Hand, geht, wollen wir im legalen
Bereich, nämlich nur dann, wenn sozialversicherungspflichtige Beschäftigung entsteht, zu einer steuerlichen
Anerkennung kommen. Damit verfolgen wir nicht
Schwarzarbeit, sondern setzen einen Anreiz, sozusagen
Arbeit aus der Schwarzarbeit herauszuholen. Ich glaube,
dass das ein richtiges Prinzip ist. Wir sollten diesen Weg
einschlagen, um mehr legale Arbeit in Deutschland zu
schaffen.
({13})
Hier wird die Behauptung aufgestellt, dieses 25-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm werde nur ein Strohfeuer bewirken. Da hat der eine oder andere die Konzeption noch nicht ganz verstanden. Wir müssen massiv
sanieren. Die Erhöhung des regulären Satzes der Umsatzsteuer um 3 Prozentpunkte hat natürlich Auswirkungen auf die Binnenwirtschaft. Deshalb muss über den
1. Januar 2007 hinweg eine Brücke gebaut werden, mit
der wir dafür sorgen, dass die Wirtschaft weiter läuft.
Wenn wir jetzt das Signal setzen „Ihr könnt in den Jahren 2006 und 2007 zu günstigen Rahmenbedingungen
investieren“, dann schaffen wir genau die Brücke, die
wir brauchen.
Wir werden in den Gesetzesberatungen darüber reden
müssen, wie belastbar diese Brücke ist. Sehr viel wird
daran liegen, wie wir das im Einzelnen ausgestalten. Ziel
ist, dass die erwarteten Investitionen tatsächlich zustande kommen. Deshalb muss vom Investitionsanreiz
aus dem ersten Jahr bis zum Jahr 2008, in dem dann die
langfristigen Reformen greifen sollen, ein Weg entstehen, der kontinuierlich beschritten werden kann. Dann
haben wir ein ökonomisches Konzept, das auch in der
Zeitschiene ausgereift ist und trägt.
Jetzt zum nächsten Teil, den Reformen. Ich glaube,
dass wir das von Herrn Glos heute Morgen genannte
durchschnittliche reale Wachstum von 1 Prozent nicht
akzeptieren können. Das ist für unser Land viel zu wenig, weil so keine Arbeitsplätze entstehen. Wir brauchen
mehr reales Wachstum, und zwar dauerhaft und nachhaltig.
({14})
Wir brauchen einen anderen Wachstumspfad; sonst werden wir von der hohen Dauerarbeitslosigkeit in Deutschland nicht herunterkommen.
Wir haben über Bürokratieabbau gesprochen. Das ist
etwas, was uns kein Geld kostet, aber massiv zu einem
besseren Wachstumspfad beitragen kann. Wir haben vereinbart, dass Planungs- und Genehmigungsverfahren
schneller durchgeführt werden. Warum muss es so sein,
dass Geld, das investiert werden soll, lange zurückgehalten wird, weil Genehmigungen nicht erteilt werden? Außerdem haben wir eine bessere Mittelstandsfinanzierung
vereinbart. Auch das ist ein Punkt, der vernünftig ausgestaltet werden muss.
Wir haben - damit komme ich zu den Steuern - auch
darüber gesprochen, dass wir in Deutschland eine belastbare Unternehmensteuerreform brauchen. Ich will hier
keine Debatte darüber führen, ob die Steuerquote zu
hoch oder zu niedrig ist. Das ist doch für den Entscheider im Unternehmen völlig irrelevant. Er entscheidet
nicht aufgrund der Steuerquote, sondern ihn interessieren die Durchschnittsbelastung und, wenn er Zusatzinvestitionen tätigen will, die Grenzbelastung. An dieser
Stelle sind wir nicht richtig aufgestellt. Im Koalitionsvertrag haben wir uns auf international wettbewerbsfähige Steuersätze festgelegt, um hier etwas Vernünftiges
zu tun. Dabei nehmen wir, Herr Solms, selbstverständlich die Personengesellschaften mit, indem wir eine
rechtsformneutrale Unternehmensteuerreform machen. Auch die EU-Probleme haben wir dabei im Blick;
die Unternehmensteuerreform soll nach dem Koalitionsvertrag EU-konform ausgestaltet werden. Die Verfahren,
die beim EuGH in Luxemburg anhängig sind und ungeheuere Risiken darstellen, wollen wir in diesem Rahmen
klären.
Jetzt kann man natürlich leicht sagen, der 1. Januar
2008 sei zu spät. Aber wenn wir bei der Unternehmensteuerreform eine grundsätzliche Weichenstellung wollen - daran hängt ja die Kapitalertragsbesteuerung und
vieles andere mehr -, können wir doch nicht einfach aus
der Hüfte schießen. Wir müssen deshalb die beiden Konzepte, die zurzeit ausgearbeitet und demnächst vorgelegt
werden sollen - sie sind vorhin schon genannt worden:
ein Konzept des Sachverständigenrates und ein Konzept
der Stiftung „Marktwirtschaft“ -, prüfen und anschließend eine Entscheidung treffen, welches dieser Konzepte zugrunde gelegt wird. Darauf kann man dann eine
vernünftige Gesetzgebung aufbauen. Das ist auch im
Sinne der Vertrauensbildung, der Verlässlichkeit und der
Planbarkeit. Ich glaube, dass der Zeitpunkt 1. Januar
2008 realistisch ist.
({15})
Dieser Zeitpunkt zeigt auch, dass das Ganze nicht auf
den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben ist.
({16})
Wir alle werden uns erheblich anstrengen müssen, diesen Termin einzuhalten.
({17})
Wir halten das ein, was wir den Unternehmen versprochen haben: Es wird eine Regelung zur Erbschaftsteuer, eine Umstellung bei den Buchführungspflichten
sowie durch die verbesserte Istbesteuerung eine Verbesserung der Liquiditätssituation von kleinen Unternehmen geben. Dies wird relativ zügig noch im kommenden
Jahr angegangen werden.
Abschließend zu den drei vorliegenden Gesetzentwürfen: Die Abschaffung der Eigenheimzulage haben
wir in Verbindung mit der Frage der Integration der Immobilie in die private Altersvorsorge gesehen. Vor diesem Hintergrund sind wir bereit, zu sagen: Wenn die
Immobilie in geeigneter Weise in die private Altersvorsorge integriert ist, kann auf das Förderinstrument der
Eigenheimzulage verzichtet werden.
Zu den Steuersparfonds will ich nur sagen: Mir liegt
im Sinne der Vertrauensbildung daran, dass wir an dieser
Stelle versuchen, so weit als möglich auf rückwirkendes
In-Kraft-Treten zu verzichten
({18})
und den Menschen zu sagen, was wir in der Zukunft tun
werden. Deshalb werden diese drei Gesetzentwürfe bis
zum Jahresende im Bundestag und im Bundesrat abschließend beraten werden, damit die Menschen zum
Jahreswechsel wissen, was in steuerlicher Hinsicht im
nächsten Jahr auf sie zukommt.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und freue
mich auf die Debatten. Es ist jetzt viel leichter, hier zu
reden, weil man viel größeren Zuspruch hat.
({19})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit jedem Regierungswechsel mutiert der Bundeshaushalt zum Überraschungsei. Auch bei einem Überraschungsei weiß man eigentlich, was drin ist; trotzdem
schaut man hinein und tut dann sehr überrascht über das
vorhandene Spielzeug - jedes Mal das Gleiche. Genauso
ist es beim Haushalt: Die Regierung wechselt, alle
schauen ganz ernsthaft und ganz tief in den vorliegenden
Haushalt, analysieren ihn ehrlich und sind erschrocken,
wie schlecht die Lage ist und wie hoch die Defizite sind.
({0})
Herr Meister beziffert sie auf 64 Milliarden Euro, der
Finanzminister auf 50 Milliarden Euro und im Koalitionsvertrag stehen 35 Milliarden Euro. Was macht es
schon?
({1})
Die Zahlen sind da und Sie sind entsetzt darüber, obwohl
Sie hier in gemeinsamer neoliberaler Einheitsfront in
den letzten Jahren im Unternehmensteuerbereich die
Körperschaftsteuersätze von 56 auf 25 Prozent gesenkt
haben.
({2})
Sie haben den Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt. Jährlich
kostet das die Haushalte der öffentlichen Hand 60 Milliarden Euro. Ja, Herr Steinbrück, wir haben ein Problem
auf der Einnahmeseite, ein Problem, das Sie gemeinsam,
über Bundestag und Bundesrat, zu verantworten haben.
({3})
Aus dieser schier katastrophalen Lage resultiert dann
ein unwahrscheinlicher Handlungsdruck, den Haushalt
zu konsolidieren. Das wollte Herr Kohl bereits 1982; er
hat es nie geschafft. Jetzt sollen, natürlich, die Kleinen
zur Kasse gebeten werden. Dabei bieten Sie einen richtigen Strauß von Maßnahmen an. Nehmen wir als erstes
die Mehrwertsteuer. Herr Steinbrück, war denn Ihre
Rede die Rechtfertigung der politischen Lebenslüge der
SPD?
({4})
Natürlich wird die Mehrwertsteuererhöhung um
3 Prozent - da langen Sie richtig kräftig zu; das hat sich
noch keine Regierung in der bundesdeutschen Geschichte getraut - die Nachfrage schwächen. Sie machen
das, obwohl Sie im Koalitionsvertrag richtigerweise formuliert haben, dass wir seit zehn Jahren in Deutschland
ein Wachstumsproblem haben, das sich daraus ergeben
hat, dass wir keine Binnennachfrage in ausreichender
Höhe haben.
Sie verkünden hier großartig: Ein Teil des Geldes
fließt doch zurück. - Ja, laut Ihrer Planung fließen
4 Milliarden an die Arbeitgeber zurück. Wir wissen allerdings nicht genau, was sie damit machen werden.
4 Milliarden fließen an Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zurück. Aber 16 Milliarden werden im Nirwana
von Bundeshaushalt und Länderhaushalten verschwinden.
({5})
So werden Sie die Probleme nicht lösen.
({6})
Ich bin schon erstaunt darüber, dass die Koalition genau
das macht, da Sie ja in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben haben, dass es Ihnen um die Stärkung des Verbrauchervertrauens geht, um den privaten Konsum zu
beleben. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Mit solchen Maßnahmen wollen Sie eine Stärkung
des Vertrauens erreichen? Sie wissen genau, dass das
kontraproduktiv ist. Ob es nun Dummheit oder Zynismus ist, wird sich zeigen.
Sie schaffen des Weiteren ab: die Eigenheimzulage,
die teilweise Steuerfreiheit von Abfindungen, und das in
einer Situation, in der uns fast täglich Nachrichten erreichen, dass insbesondere große Unternehmen mit Massenentlassungen in der nächsten Zeit drohen.
Sie wollen im Steuerrecht einiges ändern. Ich möchte
einen Punkt herausgreifen, der mich besonders interessiert. Sie begründen die Einführung des Anteilsverfahrens im Einkommensteuerrecht mit gleichstellungspolitischen Ansätzen. Ich muss sagen: Ich begrüße die
psychologische Wirkung, die von einer Streichung der
Steuerklassen ausgeht. Das heißt, dass die Ehepartner jeweils gemäß ihrem Einkommen veranlagt werden. Aber
warum machen Sie das? Das kann man im Koalitionsvertrag eindeutig nachlesen: Es geht Ihnen um Liquiditätsvorteile für die Haushalte des Bundes und der
Länder. Denn nach der neuen Regelung werden die Ehegatten im Laufe des Jahres mehr Steuern zahlen als nach
der bisherigen Regelung. Ich unterstelle Ihnen, dass Sie
beabsichtigen, diesen Liquiditätsvorteil auch noch zu
veredeln. Sie rechnen nämlich damit, dass eben nicht
alle Ehepaare am Jahresende ihre Steuererklärung abgeben werden, weil sie es einfach satt haben und nicht
durchblicken. Somit werden sie sich noch nicht einmal
die Vorteile, die ihnen aufgrund des Splittingverfahrens
zustehen, zurückholen. Sie gehen also in dieser Frage in
doppelter Hinsicht auf Kosten der Ehegatten vor.
Sie sind zu feige, das Ehegattensplitting selber anzufassen. Aufgrund der Halbherzigkeit des eben von mir
beschriebenen Verfahrens werden Sie es nicht schaffen
- das hat Frau Merkel hier ja gestern großartig verkündet -, dass die Familien und das Zusammenleben mit
Kindern wichtig werden bzw. dass uns die Familien viel
wert sind. Vielmehr erreichen Sie es mit diesem Verfahren, dass es eine große Gruppe gibt, die weiterhin verliert; das sind die Alleinerziehenden, die Sie auf diese
Art und Weise tendenziell schlechter stellen.
Die große Frage ist natürlich: Was tun Sie mit dem
Geld? Wollen Sie damit tatsächlich Arbeitsplätze schaffen? Sie haben im Koalitionsvertrag richtigerweise formuliert, dass die Senkungen der Unternehmensteuern in
den letzten Jahren nicht zu mehr Arbeitsplätzen und zu
Investitionen geführt haben. 5 bis 7 Millionen Arbeitsplätze fehlen in Deutschland.
Als Ausweg bieten Sie eine kurzfristige Verbesserung
bei der Abschreibung an. Das ist gut. Dann stellen Sie
aber einen weiteren Einstieg in den Steuersenkungswettbewerb nach unten in Aussicht. Das ist keine Konsolidierungspolitik. Das ist auch keine Politik, die auf die
Zukunft gerichtet ist, sondern einfach pure Abzocke, Sozialabbau und eine weitere Umverteilung von unten nach
oben.
({7})
Frau Merkel, Sie betonten in Ihrer Rede gestern, dass
Sie sehr wohl wissen, dass Sie den Menschen viel abverlangen. Ich würde mich freuen, wenn Sie im Hause sich
selber mehr abverlangen und mehr Mut zeigen würden,
Reformen tatsächlich anzupacken und sich vielleicht etwas mit Lobbygruppen anzulegen, die hier sehr wohl
Beiträge zur Konsolidierung des Haushalts und zur Belebung der Wirtschaft leisten könnten.
Herr Steinbrück, seien Sie auf der Einnahmenseite
doch nicht blind! Sehen Sie nicht nur die Mehrwertsteuer, sondern auch die Vermögensteuer! Reformieren
Sie die Erbschaftsteuer, sodass sie Geld einbringt! Tun
Sie etwas, um die Steuerschlupflöcher zu schließen! Auf
diesem Wege werden Sie unsere Unterstützung haben.
Wir werden aber nicht zulassen, dass Sie Ihre Politik als
alternativlos verkaufen. Denn das ist sie nicht.
Ich danke Ihnen.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Dr. Höll, ich bin froh, dass es uns in den letzten
Jahren gelungen ist, gerade bei den kleinen und mittleren
Einkommen die Steuerbelastung zu senken.
({0})
83 Prozent aller Unternehmen sind einkommensteuerpflichtig. Indem wir diese Unternehmen massiv entlastet
haben, haben wir Arbeitsplätze gesichert. Darauf bin ich
stolz.
({1})
Es ist richtig, Herr Steinbrück, dass die jetzige Situation nicht einfach ist. Insgesamt müssen wir aber doch
feststellen, dass der Auftakt der neuen großen politischen Freundschaft sehr schlecht war. Denn Sie machen
im nächsten Jahr neue Schulden in Höhe von
41,5 Milliarden Euro. Das ist eine Größenordnung, wie
es sie in der Bundesrepublik Deutschland noch nie gegeben hat.
({2})
Für die kommenden Generationen ergibt sich das Problem, dass die dadurch entstehenden Zinsen dauerhaft
bezahlt werden müssen. Deswegen sind wir der Meinung, man hätte sich hier mehr anstrengen können, als
Sie das getan haben.
({3})
Herr Dr. Meister hat aus dem Monatsbericht November 2005 der Deutschen Bundesbank zitiert. Er sagt, die
Deutsche Bundesbank sei der Meinung, dass die neue
Koalition alles sehr gut mache. Ich möchte Ihnen aus
diesem Bericht der Deutschen Bundesbank folgende
Stelle aus der Zusammenfassung vorlesen:
Insgesamt ist die im Koalitionsvertrag angelegte finanzpolitische Strategie allerdings auch mit deutlichen Vorbehalten zu versehen. So ist der Umfang
der Konsolidierung im kommenden Jahr unzureichend.
({4})
Das ist das Ergebnis, zu dem die Deutsche Bundesbank
in ihrem neuesten Monatsbericht kommt. Ich möchte
einmal wissen, wie Sie zu dem Schluss kommen, dass in
diesem Bericht Ihre politische Linie massiv unterstützt
wird.
({5})
- Ich weiß, dass Sie gerne im Kleingedruckten herumstöbern, sich daraus irgendwelche Passagen heraussuchen, die Ihnen in den Kram passen, und den Rest einfach unterschlagen.
({6})
Das kennen wir von Ihnen.
({7})
Aber ich bin dafür gerüstet und habe die entsprechenden
Unterlagen zur Verfügung, damit ich Ihre Einwände gut
kontern kann.
Ich halte es auch für sehr problematisch, dass mit
Blick auf den Haushalt gesagt wird: Wir brechen im
nächsten Jahr bewusst die Verfassung. - Gerade die Vertreter der Union haben in den Debatten der letzten Jahre
immer wieder betont, wie wichtig es sei, die Verfassungsgrenze einzuhalten. Da ist es schon sehr verwunderlich, dass von den ehemaligen Verfassungspatrioten
jetzt zu hören ist: Ja, wir sind Verfassungsbrecher und
das ist in Ordnung. Sie sollten mir einmal erklären, wie
es möglich ist, dass über Nacht eine solche Wandlung
zustande kommt und Sie einen solchen Satz über die
Lippen bringen, ohne rote Ohren zu bekommen.
({8})
Ich habe auch gesagt, dass eine nachhaltige Finanzpolitik stärkere Anstrengungen nötig macht, um aus der
Schuldenfalle herauszukommen. Aber man muss die Finanzpolitik und die Haushaltskonsolidierung zeitlich mit
den notwendigen Strukturreformen verbinden. Das tun
Sie eben nicht. Sie haben kein Konzept für die Gesundheitspolitik. Die Rentenreform verschieben Sie in Wahrheit in die nächste Legislaturperiode. Auch bei der
Pflege haben Sie kein Konzept; auch dieses Thema wird
vertagt.
Wir üben Kritik daran, dass Ihre Politik nicht konsistent ist, sondern nur Bruchstücke enthält, die aneinander
gereiht werden. Das schafft nicht das notwendige Vertrauen, nicht das Gefühl, dass die Finanzpolitik ein klares Bild, eine Struktur, eine Perspektive hat. Was Sie
vorgelegt haben, ist Stückwerk.
({9})
Mit Blick auf die Union frage ich: Was ist jetzt eigentlich mit Friedrich Merz los?
({10})
Ich habe ihn gestern nicht gesehen. Auch heute ist er
nicht da.
({11})
- Entschuldigung, Frau Merkel. Gestern war er also da.
Er hat Ihnen gestern sogar zugehört. Das freut mich für
Sie.
Da er sich hier nicht mehr meldet,
({12})
sollte man sich einmal anschauen, was er den Zeitungen
sagt. Er hat deutliche Worte an seine politischen Freunde
und Freundinnen gerichtet. Dazu drei Beispiele. Er hat
erstens gesagt:
Aus der Steuersenkungspartei wird jetzt eine
Steuererhöhungspartei.
Zweitens hat er gesagt:
Aus der Partei, die den Arbeitsmarkt öffnen wollte,
wird die Partei der fortgesetzten Regulierung.
Drittens hat er gesagt:
… die Anhebung der Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte ist eine Steuererhöhung, die die Unternehmen im Wettbewerb zur Schattenwirtschaft
massiv benachteiligt.
({13})
Dazu kann ich nur feststellen: Wo Herr Merz Recht hat,
hat er Recht. Auch das kann man einmal sagen.
({14})
Jetzt legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der sich
„Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm“ nennt. Er
beinhaltet viele, wichtige Einzelaspekte. Was vernünftig
ist, das werden wir vonseiten der Grünen mittragen; das
sage ich an dieser Stelle ganz eindeutig. Aber es ist ein
Gestückel und zeigt keine finanzpolitische Linie.
Im Jahr 2007 treten Sie dann - das haben wir heute
schon mehrmals und auch gestern gehört - die Flucht in
Steuererhöhungen an. Es kommt, wenn man den Planungszeitraum im Ganzen übersieht, zu Steuererhöhungen von 150 Milliarden Euro. Das ist für die Bürger und
die Bürgerinnen in diesem Land massiv.
({15})
Wir hätten uns gewünscht, dass Sie bei den Subventionskürzungen nicht so zaghaft sind.
({16})
Wir hätten uns gewünscht, dass nicht einfach aus Lobbyinteressen bestimmte Bereiche ausgeklammert, sondern
benannt werden.
({17})
Abbau der Kohlesubventionen - Fehlanzeige! Abbau
von ökologisch schädlichen Subventionen - Fehlanzeige! Streichung von Steuervergünstigungen und der
Verlagerung von Einnahmen ins Ausland - Fehlanzeige!
({18})
Voller Mehrwertsteuersatz für grenzüberschreitende
Flüge usw. - Fehlanzeige!
Frau Kollegin, Ihre Zeit ist zu Ende.
({0})
Sofort, Frau Präsidentin.
Es gäbe noch Spielräume. Sie haben sie nicht genutzt.
Sie haben die Unternehmensteuerreform auf 2008 verschoben, was ich für hoch problematisch halte. Wir
brauchen mehr Dynamik und keine Verschleppung. Dafür werden wir uns einsetzen.
Danke.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Poß, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, dass wir alle miteinander aufpassen müssen, dass
wir bei diesem Rollenwechsel, den wir in diesen Tagen
erleben, unsere Glaubwürdigkeit nicht verspielen, liebe
Kollegin Scheel.
({0})
Ihr uneingeschränktes Bekenntnis zu Friedrich Merz hat
mich gewundert; das muss ich schon sagen.
({1})
Ich weiß nicht, ob Sie da im Namen der Grünen gesprochen haben. Ob angesichts Ihres konkreten Verhaltens
im Zusammenhang mit den Windkrafträdern Ihre Forderungen im Hinblick auf den Abbau von Steuersubventionen überzeugend und glaubwürdig sind, ist eine andere
Frage.
({2})
Man muss hier über alles reden können, wohl wissend, dass wir unterschiedliche Rollen haben. Wir Sozialdemokraten sind im Gegensatz zu Ihnen in der Regierung geblieben. Sie sollten aber nicht nach wenigen
Wochen so reden, als seien Sie schon seit fünf Jahren in
der Opposition. Das erhöht nämlich nicht Ihre Glaubwürdigkeit.
({3})
Dass wir einen verfassungsgemäßen Haushalt aufstellen, ist doch wohl selbstverständlich - was immer
auch dazu zu lesen war, Christine Scheel; man sollte nicht
irgendwelche Medienzitate zum Maßstab machen -, und
zwar in dem Sinne, wie es Herr Steinbrück, dem wir Sozialdemokraten eine glückliche Hand wünschen, hier dargestellt hat.
({4})
Zum Zusammenspiel mit den Strukturreformen: Lesen Sie den Koalitionsvertrag noch einmal genau durch!
In Sachen Rente sind darin bereits sehr weit gehende
Festlegungen getroffen worden. Im Bereich Gesundheit
hat Frau Bundeskanzlerin Merkel gestern den Dissens
festgestellt und gesagt, dass wir diesen im nächsten Jahr
ausräumen müssen. Wir sollten doch nicht so tun, als
könnten große Probleme von heute auf morgen gelöst
werden.
Lieber Kollege Solms, Ihnen sei einiges nachzusehen,
weil Sie erst kürzlich 65 Jahre alt wurden.
({5})
In diesem freundlich gemeinten Geiste - ich glaube, Sie
haben auch gerade eine schöne Weihnachtsfeier hinter
sich - will ich Ihnen antworten. Der Koalitionsvertrag
enthält durchaus einen strategischen Ansatz. Herr Kollege Meister hat das hier dargestellt. Ich will es einmal
mit meinen Worten sagen: Der Koalitionsvertrag ist zugleich ein Wirtschafts- und Finanzpakt für ganz
Deutschland und hat Bedeutung nicht nur für die Bundesebene, sondern auch für die Länder und Kommunen.
Das ist die neue Qualität, die wir erreichen wollen: Wir
müssen gleichgerichtet handeln, was die staatlichen
Rahmenbedingungen angeht. Das war lange Zeit nicht
der Fall.
({6})
Bei allem Recht zur Kritik der Opposition darf Handlungsmaxime einer Opposition eines nicht sein, nämlich
Täuschung und Selbsttäuschung. Das müsste auch für
Sie gelten. Man kann die Mehrwertsteuererhöhung
kritisch bewerten; Herr Steinbrück hat dies ja eingeräumt. Die SPD hat sie nicht gewollt. Es ist jedoch
unrealistisch, zu glauben, es gäbe eine andere Möglichkeit der Haushaltskonsolidierung mit einem ähnlichen
Volumen, die nicht zu noch schwereren ökonomischen
und sozialen Zumutungen führte oder die - das muss
man zugeben - in einer großen Koalition durchsetzbar
wäre. Gäbe es eine solche Alternative, hätten wir sie gewählt. Wir tun ja bereits jetzt alles für eine Haushaltskonsolidierung, wie die Steuergesetze, die wir heute mitberaten, zeigen. Die Streichung der Eigenheimzulage für
Neufälle, die Schließung noch verbliebener Steuerminderungsmöglichkeiten für Spitzenverdiener und die anderen Veränderungen sind erhebliche Eingriffe.
Herr Solms, Sie sollten ganz offen und ehrlich sein
und sagen, dass Sie zwar in Ihrem Konzept die Schließung dieser Steuerschlupflöcher vorgesehen haben, aber
immer dann, wenn im Parlament oder im Finanzausschuss darüber abgestimmt wurde, reine Klientelpolitik
betrieben haben.
({7})
Herr Westerwelle hat noch letzte Woche vor laufenden
Kameras erklärt, es sei eine Schweinerei, dass diese
Steuersparmöglichkeiten abgeschafft werden.
({8})
Schauen Sie sich das bitte einmal genau an!
Was PDS und FDP bisher zur Haushaltskonsolidierung vorschlagen, ist keine Alternative mit Erfolgsaussichten.
Das Einsparbuch der FDP ist zwar dick, enthält aber
bei näherer Betrachtung wenig Brauchbares. Wenn Sie
hier Österreich als Vorbild anführen, empfehle ich Ihnen
die Lektüre eines Untersuchungsberichts der Bayerischen Staatsregierung.
({9})
Darin kommt man zu dem Ergebnis, dass hinsichtlich
der individuellen Besteuerung, der Einkommensteuer,
Österreich kein Wunderland ist. Im Bereich der Unternehmensbesteuerung kann man über einiges reden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Solms?
Aber gerne, immer.
Nur der Wahrheit halber, Herr Kollege Poß: Sind Sie
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Kollege Guido
Westerwelle die Abschaffung der Verlustzuweisungsfonds voll unterstützt und auch seit langem unterstützt
hat? Die kritische Diskussion bezog sich nur auf den
Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens.
({0})
Wir halten die Rückwirkung auf einen Beschluss einer
Regierung, die schon abgewählt ist, für verfassungsrechtlich bedenklich. Verfassungsrechtlich wäre es aber
durchaus möglich, für das In-Kraft-Treten den Beschlusstermin der neuen Regierung heranzuziehen. Das
ist genau der Unterschied, das ist sozusagen etwas für
Spezialisten. Aber die grundsätzliche Abschaffung wird
von uns seit Jahren gefordert.
Herr Kollege Solms, Sie können davon ausgehen,
dass die Koalitionsfraktionen natürlich eine verfassungsgemäße Lösung präsentieren werden. Das ist doch
selbstverständlich. Diese Frage wurde von drei Häusern
der Bundesregierung geprüft und eindeutig beantwortet.
Davon gehen Sie einmal aus!
Aber was hinter den Äußerungen von Herrn
Westerwelle deutlich wurde - ich selbst habe das in der
ARD oder im ZDF gesehen -, war ein Vorstoß reinen
Klientelismus. Das ist nun einmal Ihr Kennzeichen, Herr
Solms, da können Sie hier noch so seriös auftreten. Es
war reiner Klientelismus.
({0})
Die PDS auf der anderen Seite ergeht sich in einer
Steuererhöhungsorgie: Körperschaftsteuer, Wiedereinführung der Börsenumsatzsteuer, Wertschöpfungsteuer
und anderes.
({1})
Das führt uns ökonomisch nicht weiter und hat in dieser
Massivität mit ausgleichender Gerechtigkeit nichts zu
tun.
({2})
- Sie werden mir doch gestatten, dass ich als Sozialdemokrat Sie nicht für links halte. Das will ich deutlich
machen.
({3})
Deswegen sind Sie für mich die PDS.
({4})
Wir leben doch nicht auf einer Insel, Herr Ramelow.
Man kann über Einzelpunkte bei der Besteuerung sicherlich reden und das werden wir tun. Wir werden ein Urteil
des Bundesverfassungsgerichts zur Erbschaftsbesteuerung bekommen. Wir als Sozialdemokraten haben auf
unserem Parteitag in Bochum eine klare Beschlusslage
verabschiedet.
Wenn von der FDP oder aus der Öffentlichkeit gefordert wird, anstelle der Mehrwertsteuererhöhung müssten
wir nur bei den Ausgaben richtig rangehen, dann will ich
wiederholen, was hier bereits von Herrn Steinbrück gesagt wurde. Sagen Sie bitte den Menschen: Das bedeutet
entweder massive Kürzung der Renten oder des ArbeitsJoachim Poß
losengeldes II. Alles andere ist Augenwischerei, Herr
Solms, das muss man in dieser Deutlichkeit sagen.
({5})
Diese Alternative ist aber untauglich und unzumutbar.
Wenn etwas ideologische Traumtänzerei ist, dann ist
es diese neoliberale Welt der FDP. Wie verträgt sich das
denn mit Ihrer Forderung nach der nötigen Rückführung
der öffentlichen Verschuldung? Wie verträgt sich Ihre
ständige Forderung nach Steuersenkung mit der Notwendigkeit, die öffentliche Infrastruktur, die Daseinsvorsorge zu erhalten oder im Interesse von Chancengerechtigkeit an einigen Stellen noch auszubauen? Diese
Fragen müssen Sie doch einmal beantworten! Sie können sich die Welt doch nicht so schnitzen, wie Sie sie
gerne haben möchten. Sie müssen sich endlich den Realitäten stellen! Das tun Sie nicht. Sie verweigern sich der
wirtschaftlichen, der sozialen und der finanziellen Realität.
({6})
Die massiven Steuerentlastungen der letzten Jahre
- ich habe mich gefreut, Christine Scheel, dass Sie zumindest nicht vergessen haben, diese hier zu erwähnen -,
({7})
von denen insbesondere Mittelstand, Niedrigverdiener,
Arbeitnehmer und Familien mit Kindern profitiert haben,
haben aber zu einem, was wir uns erhofft hatten, nicht
geführt. Diese Entlastungen haben zwar den weiteren
Rückgang der Ökonomie verhindert, der sonst hinsichtlich der Wachstumszahlen eingetreten wäre, sie haben
aber, gemessen an unseren Erwartungen bezüglich Wirtschaftswachstum und Beschäftigungswachstum, nicht
das gebracht, was wir uns von ihnen versprochen hatten.
Das muss man hier ehrlich sagen. Das gilt für die Angebots- wie für die Nachfrageseite.
Ich habe deswegen in dieser Situation kein Verständnis für Forderungen nach weiteren Steuersenkungen, die
unseriös sind, ob sie nun von der FDP, Herrn Merz oder
wem auch immer kommen. Ihr Entschließungsantrag,
den ich sorgfältig gelesen habe, bietet nur Lyrik wie im
Feuilleton, nichts anderes, keine harten Fakten, mit denen man arbeiten könnte.
Ausgangspunkt für uns - das sage ich hier jedenfalls
für die SPD ganz klar - ist: Keine weitere Senkung der
Steuerbelastung, auch nicht für Unternehmen, für die das
Geld auch gar nicht vorhanden wäre. Allerdings dürfen
wir das nicht mit den Steuersätzen verwechseln. Diese
Differenzierung wird in der Öffentlichkeit nicht hinreichend gemacht. Anders als der Koalitionspartner will ich
ganz offensiv vertreten, dass die volkswirtschaftliche
Steuerquote, die bei uns derzeit bei knapp unter
20 Prozent liegt, nicht ausreicht, um die nötigen öffentlichen Güter zur Verfügung zu stellen. Auch das soll nicht
verschwiegen werden.
({8})
Wenn wir über Unternehmensbesteuerung reden,
dann reden wir Sozialdemokraten in erster Linie über die
Struktur der Unternehmensbesteuerung. Jeder, der die
komplizierten Fragen kennt, weiß auch, dass es richtig
ist - das sage ich mit Blick auf Frau Scheel und Herrn
Solms -, erst 2008 dieses große Unternehmen anzupacken. Denn man braucht Planspiele und anderes vorweg.
2007 können Sie dies nicht auf seriösem Weg erreichen.
Sie beide müssten das besser wissen.
({9})
Sagen Sie das also auch in der Öffentlichkeit.
({10})
Wir haben auch noch andere Punkte zu klären, zum
Beispiel die Frage der Besteuerung von Einkünften
aus Kapitalvermögen vor dem Hintergrund der mittlerweile weit geöffneten Grenzen. Auch die Kapitalflucht
aus Deutschland mit der Absicht der Steuerminimierung
ist immer noch ein großes Problem. Das darf - auch das
muss man deutlich sagen - aus Gerechtigkeitsgründen
nicht so weitergehen. Hier brauchen wir tragfähige Antworten, die wir aber nicht nur in der Bundesrepublik
Deutschland finden. Vielmehr müssen wir sie auch
europa- und sogar weltweit suchen. Eine Bewährungsprobe für diese Koalition besteht darin, auf europäischer
Ebene Lösungen durchzusetzen, die in diesem Sinne
wirklich tragfähig sind; denn der Blick durch die nationale Brille reicht nicht aus, um diese Probleme zu lösen.
({11})
Der Einkommensteuerzuschlag für Spitzenverdiener, den SPD und CDU/CSU gemeinsam realisieren
wollen, wird zu keiner weiteren massiven Steuerflucht
führen, wie uns vor allen Dingen so genannte Experten,
die in der Beratung Vermögender und Betroffener tätig
sind, fast täglich in Zeitungsartikeln weismachen wollen.
Einkommen ab 250 000 Euro bzw. bei Verheirateten ab
500 000 Euro werden auf einen Steuerstatus geführt, der
auch schon bis zum Beginn dieses Jahres für sie galt.
Sich vor diesem Hintergrund, Herr Solms, an Panikmache zu beteiligen ist angesichts der Probleme, die wir in
diesem Lande haben und die wir auch lösen wollen, unverantwortlich.
({12})
Dass wir diesen Vorsatz haben, können Sie uns glauben; denn wir pflegen weder finanzpolitische Illusionen
noch unreflektierten Populismus.
({13})
Wir halten nichts von den Vorstellungen der PDS und ihrer Westimporte, die den Eindruck erwecken, als sei die
Staatsverschuldung letztlich kein Problem 236
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
- und als müsse man nur Geld in die Hand nehmen,
damit es wieder rund läuft in der Ökonomie. Simpler
geht es nicht. Ich empfehle Ihnen von der PDS: Nähern
Sie sich der Realität an, werden Sie realitätstüchtig! Das
sind Sie Ihren Wählerinnen und Wählern schuldig.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Axel Troost für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Koalitionsvertrag geht es im Bereich der Finanzpolitik insbesondere um zwei Ziele: die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Haushaltskonsolidierung. Ich sage Ihnen
schon jetzt: In beiden Fällen werden Sie erneut scheitern.
Der Kollege Solms hat, was die Ausgabenseite des
Haushalts angeht, erwähnt, hier könne man von einem
Strohfeuer reden. Heute Morgen war sogar von einem
Jahr Keynes die Rede. Ich denke aber, dieser Haushalt
reicht nicht einmal für ein Strohfeuerchen. Er wird der
Herausforderung der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
überhaupt nicht gerecht.
({0})
Wir brauchen in einem ganz anderen Ausmaße und
längerfristig ausgerichtete öffentliche Investitionen, um
den Binnenmarkt bzw. die Binnennachfrage zu stärken.
Wir müssen weg von der ausschließlichen Exportorientierung; dieser Wachstumstyp hat die letzten 15 Jahre in
der Bundesrepublik beherrscht. Die Bundesrepublik ist
das einzige Land, das eine solche Ausrichtung vornimmt, und das einzige Land, das, was Wachstum und
Beschäftigung angeht, in den letzten Jahren so schlecht
abgeschnitten hat.
({1})
Ich stimme Herrn Meister völlig zu, wenn er sagt,
dass wir einen anderen Wachstumstyp brauchen. Aber
wenn man von einem anderen Wachstumstyp spricht,
heißt das nicht Bürokratieabbau oder Beschleunigung
von Genehmigungsverfahren.
({2})
Ein anderer Wachstumstyp muss die Stärkung des Binnenmarktes zum Ziel haben. Wenn uns das nicht gelingt,
werden wir auch die Arbeitslosigkeit nicht abbauen.
({3})
Zum zweiten Punkt: der Haushaltskonsolidierung.
Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang schon genannt worden:
Erstens. Die Massenarbeitslosigkeit kostet bei 5 Millionen Arbeitslosen Jahr für Jahr circa 100 Milliarden
Euro, die in den Sozialversicherungssystemen und bei
den Steuereinnahmen fehlen.
Zweitens. Bedingt durch die Steuerreformen der letzten Jahre - auch das ist bereits angesprochen worden betragen unsere Einnahmeausfälle inzwischen 60 Milliarden Euro jährlich, die in allen öffentlichen Haushalten
- in dem des Bundes und in denen der Länder und Gemeinden - fehlen, wodurch jetzt natürlich ein Konsolidierungszwang hervorrufen wird, allerdings ein durch
diese Steuerpolitik selbst verschuldeter. Von wenigen
sinnvollen Maßnahmen im unteren Einkommensbereich
abgesehen kam es zu massiven Steuersenkungen für
Konzerne und Spitzenverdiener. Wenn jetzt versucht
wird, den Haushalt durch einen massiven Verkauf von
Bundesvermögen zu sanieren, dann kann ich dazu nur
sagen: Das geht nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“. Das kann es nicht sein!
({4})
Der Verkauf von Tafelsilber muss gestoppt werden. Dies
ist eine Politik zulasten der Bürger und zulasten der dort
Beschäftigten: weil anschließend ein entsprechender
Personalabbau erfolgt.
Angesichts der fortgeschrittenen Zeit ein weiteres
Thema nur knapp: Wir haben in die Debatte hier einen
Antrag zur Abschaffung der Hedge-Fonds eingebracht. Diese Frage hat im Bundestagswahlkampf ja
durchaus eine große Rolle gespielt; der Heuschreckenkapitalismus wurde von Herrn Müntefering in den Mittelpunkt gestellt. Die Frage ist, warum man jetzt nach der
Wahl, warum man im Koalitionsvertrag dazu überhaupt
nichts mehr hört bzw. liest.
({5})
- Zumindest ich habe dort nichts in dieser Richtung
gefunden. - Wenn wir dafür nicht hier im Parlament gemeinsam Lösungen finden, dann werden wir damit konfrontiert werden, dass DAX-Unternehmen zunehmend in
Bedrängnis geraten. Über die Hälfte der 30 DAX-Unternehmen sind bereits von diesen so genannten Heuschrecken sozusagen „angefressen“. Es ist ein Unding, dass
Flaggschiffe der bundesdeutschen Wirtschaft wie Siemens oder Daimler-Benz Angst haben müssen, dass sich
solche Hedge-Fonds bei ihnen einkaufen und sie zerlegen. Denn das sind die Konsequenzen: Filetierung und
massiver Abbau von Arbeitsplätzen in diesen Bereichen.
Das müssen wir hier gemeinsam diskutieren; dann erfährt auch dieses Hohe Haus für meine Begriffe einen
Bedeutungszuwachs.
({6})
Wir brauchen dringend einen grundlegenden Wechsel
in der Finanz- und Wirtschaftspolitik, wenn wir Haushaltskonsolidierung über den Abbau von Arbeitslosigkeit, über zusätzliches Wachstum erreichen wollen. Dafür gibt es ganz konkrete Konzepte: nicht nur bei der
Partei der Linken, auch im Bereich der Gewerkschaften
und bei einzelnen Vertretern des Sachverständigenrats.
Danke schön.
({7})
Auch für Sie, Herr Kollege Troost, war das die erste
Rede hier in diesem Hohen Haus. Auch Ihnen wünsche
ich persönlich und in Ihrer beruflichen Laufbahn alles
Gute.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Steffen Kampeter,
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Angela Merkel hat in ihrer Regierungserklärung
({0})
den Dreiklang Reformieren, Investieren, Konsolidieren
in den Zusammenhang der Generationengerechtigkeit
gestellt. Sie hat damit deutlich gemacht, dass die große
Koalition sparen nicht um des Sparens willen beabsichtigt, sondern im Rahmen einer ganzheitlichen und nachhaltigen Politik, auch im Hinblick auf die nachfolgenden
Generationen. Wir können nicht dauerhaft über unsere
Verhältnisse leben. Wir müssen deutlich machen, dass
Konsolidierung auch eine wesentliche Zukunftsinvestition, die Bewahrung der Chancen zukünftiger Generationen, ist. Konsolidierung muss man als Chance begreifen,
weil sie alternativlos ist im Vergleich zu allen Strategien,
die sowohl die wirtschaftliche, aber auch die sonstige
Leistungsfähigkeit unseres Gemeinwesens einschränken
wollen.
Am Anfang einer solchen ganzheitlichen Finanzpolitik muss die Erkenntnis stehen, in welcher finanziellen
Situation sich unser Gemeinwesen befindet: Das strukturelle Defizit in einer Größenordnung von rund 60 Milliarden Euro ist hier bereits in der vergangenen Legislaturperiode von den Haushälterinnen und Haushältern der
Union wiederholt kritisiert worden. Es ist schon ein großer Schritt, dass sich die große Koalition von dem Startpunkt dieses enormen Defizits aus zu entschiedenen
Konsolidierungsmaßnahmen - auf der Ausgaben-, aber
auch auf der Einnahmeseite - entschlossen hat.
Dies ist ein ehrlicher Anfang und eine klare Strategie
zur Gesundung der Staatsfinanzen.
({1})
Ich möchte mich bei Bundesfinanzminister
Steinbrück für die Verhandlungsführung bei den Koalitionsverhandlungen bedanken. Es war sicherlich kein
einfacher Weg für die SPD, diesen Schritt mit uns gemeinsam zu gehen, weil wir auch unangenehme Wahrheiten im Koalitionsvertrag gemeinsam eingestanden haben.
({2})
Es ist ein Stück Vertrauen gewachsen, auf dem wir aufbauen können, um diese vier Jahre in der Finanzpolitik
gemeinsam eine Konsolidierungsstrategie aus einem
Guss umzusetzen. Sehr geehrter Minister Steinbrück, ich
sage Ihnen zu, dass die Haushälter der Unionsfraktion
Sie bei allen vernünftigen Vorschlägen aktiv unterstützen werden.
({3})
Nicht durchgehen lassen möchte ich - das will ich in
diesem Zusammenhang sagen -, was die Kollegin
Scheel gemacht hat.
({4})
Nachdem sie Sondierungsgespräche mit der Union relativ rasch und frustriert abgebrochen hat, „schwampelt“
sie in ihren Reden in einer unerträglichen Art und Weise
herum. Dabei versucht sie, vergessen zu machen, dass
sie mit ihren Leistungen im Finanzausschuss an vielem,
wo wir jetzt Aufräumarbeiten zu verrichten haben, im
Wesentlichen beteiligt war. Sie ist mit eine Verursacherin
der finanzpolitischen Krise. Sie können doch nicht so reden, als hätten Sie in den vergangenen Jahren keine Verantwortung dafür getragen!
({5})
Wir haben in den Koalitionsverhandlungen - das ist
in der Regierungserklärung deutlich geworden - die
Ursachen dieses strukturellen Defizites schonungslos
offen gelegt: Es sind die lang anhaltende Wachstumsschwäche, die nicht erst seit der rot-grünen Koalition besteht, die kontinuierliche Zugrundelegung zu optimistischer Annahmen für die mittel- und langfristige
finanzielle Entwicklungsplanung sowie die ebenfalls seit
langem vonstatten gehende Einbetonierung des Haushaltes durch immer mehr gesetzliche und sonstige Rechtsansprüche. Wir als große Koalition haben festgelegt,
dass wir uns diesen drei Ursachen entschieden widmen
wollen. Wir wollen dauerhaft höheres Wachstum. Diesen
Pfad wollen wir beschreiten.
Herr Kollege Solms, Sie haben vorhin gesagt, wir
würden keine Maßnahmen zur Unterstützung des
Wachstums ergreifen.
({6})
Ich bitte Sie, selbstkritisch zu überprüfen, ob Sie sich am
Anfang der Koalitionsgespräche hätten vorstellen können, dass wir als große Koalition es schaffen, diese Liberalisierungs- und Vorfahrtsmaßnahmen für den Arbeitsmarkt zu vereinbaren, und dass CDU, CSU und SPD
bereit sind, gemeinsam diesen Weg zu gehen.
Wir werden die Fehlsteuerungen bei Hartz IV beseitigen. Wir werden wesentliche Einsparungen auch im
konsumtiven Bereich vornehmen. Wir wollen im Rahmen der Tarifautonomie erste Schritte hin auf Bündnisse
für Arbeit gehen. Das ist ein großer Erfolg und ein wesentlicher Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigung
in den nächsten Jahren.
({7})
Darüber hinaus hat diese Koalition vereinbart,
3 Prozent im Bereich der Forschung investieren zu wollen. Das ist langfristig ein Wachstumstreiber. In die
Köpfe zu investieren, in diejenigen, die zukünftig für
Wachstumsprodukte in diesem Land sorgen, das ist ein
entschiedenes Anliegen der großen Koalition. Wir werden den Pfad zu mehr Wachstum - das ist der Partner der
Konsolidierung - gehen.
({8})
Wir von der Union haben gemeinsam mit der SPD beschlossen, dass wir zukünftig mit konservativen, das
heißt zurückhaltenderen Annahmen unsere Haushaltsund Finanzplanungen durchführen. Es ist vorbei mit der
Trickserei, der Täuscherei und den zu optimistischen
Annahmen.
({9})
Wir wollen konsolidierte Haushalte auch auf Grundlage
zurückhaltender Wachstumsschätzungen erreichen.
({10})
Außerdem werden wir den Anteil der Rechtsansprüche
am Haushaltsvolumen zurückführen. Das bedeutet eine
höhere Flexibilisierung bei den Leistungsgesetzen. Dies
wird auch deutlich im Hinblick auf die Bereiche von
Bund und Ländern.
({11})
- Herr Kollege Poß, ich weiß nicht, warum Sie an dieser
Stelle aufstehen.
({12})
Wir wollen diese Konsolidierung nicht nur als Bundesaufgabe begreifen, sondern wollen gemeinsam mit
den Ländern dafür Sorge tragen, dass die Erfüllung
staatlicher Dienstleistungen bei Qualitätssicherung für
die Menschen gleichzeitig effizienter organisiert wird.
Wir werden Leistungsgesetze und Standards auf den
Prüfstand stellen und so zu einer strukturellen Entlastung
in unseren Haushalten kommen.
Es bestehen in den nächsten Jahren aber auch erhebliche Risiken. Ich erinnere beispielsweise an das Risiko
durch Zinsänderungen. Diese werden uns auf unserem
Weg begleiten. Wir wollen und wir werden diesen Risiken gemeinsam entgegentreten, sollten sie uns zu zusätzlichen Anpassungen herausfordern. Aber wir werden im
Jahr 2007 im Sinne der Generationengerechtigkeit, aber
auch im Sinne der Auflagen von Verfassung und
Maastricht-Vertrag einen konformen Haushaltsentwurf
und -abschluss vorlegen. Dies ist ein ehrgeiziges Ziel.
Wir wollen solide Haushalte als ein Kernmerkmal der
großen Koalition.
({13})
Diesem Konsolidierungsziel dienen eine ganze Reihe
von anderen Maßnahmen, wie zum Beispiel die Förderung des Mittelstandes oder der Bürokratieabbau.
All diejenigen, die beispielsweise im Hinblick auf die
Ausgabensenkungen der Auffassung sind, man könne
das nicht tun, sind aufgefordert, bessere Vorschläge zu
machen. Der Kollege Poß hat in diesem Zusammenhang
richtigerweise darauf hingewiesen, dass es eben nicht
reicht, zu sagen, was nicht geht, sondern wir sind darauf
angewiesen, deutlich zu machen, was in diesem Land
geht. Wir wollen das tun, was möglich ist. Manchmal ist
das vielleicht etwas weniger als das, was wünschenswert
ist.
Wir sind die Koalition, die die Möglichkeiten nutzt.
Eine der Möglichkeiten, die wir nutzen wollen, ist die
Wiederherstellung eines soliden Haushaltswirtschaftens
als Kennzeichen und Kernanliegen nicht nur der Bundeskanzlerin, sondern auch der gesamten großen Koalition, die dieses Land in den nächsten vier Jahren führen
wird.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Der Kollege Meister hat hier am Anfang seiner Rede gesagt, es sei notwendig gewesen, sich ehrlich zu machen,
um hier etwas für den Haushalt vorlegen zu können.
Ich kann Ihnen nur sagen: Wer vorher so viele Unwahrheiten über die Notwendigkeit eines Abbaus der
Steuersubventionen gesagt hat, der musste sich hier
heute wirklich ehrlich machen. Insofern musste auch die
Union, die erst heute bereit ist, die Eigenheimzulage abzuschaffen, endlich mit der Wahrheit herausrücken. Für
dieses Land ist das reichlich spät und für den Haushalt
2006, der noch kommen soll, bedeutet das eine milliardenschwere Belastung; das wissen auch Sie. Deswegen
ist diese Ehrlichkeit zwar die Wahrheit, aber zu spät sind
Sie leider dennoch gekommen.
({0})
Die SPD müsste jetzt eigentlich vollzählig klatschen;
denn, wie Herr Poß sagt: Das ist die Wahrheit.
({1})
Ich möchte deswegen ganz deutlich sagen: Ich will
Sie nicht dafür kritisieren, dass Herr Steinbrück stolz
darauf sein kann, dass bei der Union die Erkenntnis eingezogen ist, dass der Abbau von Steuervergünstigungen
nichts anderes als eine sinnvolle Ausgabenkürzung im
Haushalt ist. Es ist notwendig, dass das diffamierende
Gerede in Ihren Reihen - „von der linken Tasche in die
rechte Tasche“ - aufhört. Ich will Sie nicht für die richtige Einsicht heute kritisieren, aber ich muss sagen - das
trifft auch auf die
Sie haben in der Vorwahlzeit und in der Wahlkampfzeit nicht
den Mut zur Wahrheit gehabt.
({0})
Sie haben angekündigt, 2006 einen nicht verfassungskonformen Haushalt aufzustellen.
({1})
Sie haben das nach erheblichen Streitereien, die auch die
Öffentlichkeit erreicht haben, korrigiert. Daraus kann
man zwei Punkte ableiten:
Erstens. Sie haben eine kurze Zeit überlegt, ob Sie
Skrupel haben müssen, Ihre Zweidrittelmehrheit auch
brutal gegen die Verfassung anzuwenden.
({2})
Sie sind dabei zu der Einsicht gekommen, dass das vielleicht nicht ganz klug wäre. Aus den Reihen der CDU ist
das aber gefordert worden.
Zweitens. Das zeigt, dass Sie bei den Privatisierungserlösen für 2007 und 2008 eigentlich ein Polster benötigen; denn der Satz, dass es unmöglich ist, nach der üblichen Regel einen verfassungskonformen Haushalt für
2006 aufzustellen, stimmt nicht. Den Schluck aus der
Pulle, den jetzt die rote Koalition
({3})
- Entschuldigung -, die große Koalition mit 40 Milliarden Neuverschuldung für 2006 nimmt, hätte sich RotGrün nicht genehmigt und Finanzminister Eichel hätte
so etwas nie vorgeschlagen. Das ist die Wahrheit.
({4})
Ich will Ihnen sagen, dass ich es mir hier nicht leicht
machen möchte. Herr Steinbrück, auch wir hätten große
Probleme mit der Neuverschuldung in 2006 gehabt.
40 Milliarden Euro sind aber eine ganze Menge, dies ist
zu viel. Das könnten mehrere Milliarden weniger sein.
Ich sage das auch mit Blick auf die Zinsentwicklung, die
es in Zukunft geben wird.
Was Sie mit dieser Rekordverschuldung machen - es
sind von vornherein 40 Milliarden Euro -, ist der doppelte Waigel. Ich will Ihnen dazu sagen: Dieser Haushalt
soll auffallend spät kommen. Es ist der doppelte Waigel,
weil er erst im Juli nächsten Jahres in Kraft treten soll.
Dieser Haushalt wird bewusst spät geliefert und erst
zwei Tage nach den Landtagswahlen - am 26. März
2006 sind in den süddeutschen Bundesländern Landtagswahlen - eingebracht, um die erste Bewährungsprobe
dieser großen Koalition zu lindern.
({5})
Das ist der doppelte Waigel; denn der Haushalt, der 1991
aufgestellt wurde - damals war es eine große neue Leistung, nach der Wiedervereinigung einen Haushalt aufzustellen -, stand einen Monat früher im Gesetzblatt, als
dieser Haushalt 2006 der großen Koalition stehen soll.
({6})
Ich komme abschließend zu dem Punkt, der mir mit
Blick auf die finanzpolitische Aufstellung der Koalition
am meisten Sorge bereitet. Haushaltskonsolidierung
funktioniert nur mit dem Abbau von Arbeitslosigkeit.
Ich will es präziser sagen: Haushaltskonsolidierung
funktioniert nur mit der Zunahme von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Ich habe die große
Sorge, dass Sie diesen Zusammenhang definitiv nicht
ausreichend berücksichtigen. Sie entlasten den Haushalt
durchaus von versicherungsfremden Leistungen im Bereich Gesundheit. Da wollen Sie im Haushalt mehr als
4 Milliarden Euro einsparen.
({7})
Sie legen aber keine Gesundheitsreform vor. Das macht
deutlich: Die Beiträge zur Krankenversicherung werden
steigen.
Sie haben schon ganz klar gesagt, dass Sie sich mit einem Jahr Abstand nicht in der Lage sehen, den Beitragssatz zur Rentenversicherung stabil zu halten. Er wird um
mindestens 0,4 Prozentpunkte steigen. Der Beitragssatz
zur Pflegeversicherung wird - das wissen Sie, Herr
Thönnes - spätestens ab 2007 wahrscheinlich auch steigen, wenn Sie nicht mit einer Reform mehr als das erreichen, was Sie in den Koalitionsverhandlungen vereinbart haben.
({8})
Ich sage Ihnen voraus: Das, was Sie als Senkung der
Arbeitslosenversicherung angekündigt haben - die
Hälfte von diesen 2 Prozentpunkten sind Auswirkungen
der rot-grünen Arbeitsmarktreform -, ist in Ihrem Reformstau mit Blick auf die gesamten Lohnnebenkosten
schon längst aufgefressen. Bei den Lohnnebenkosten ist
diese Koalitionsvereinbarung trotz saftiger Erhöhung der
Mehrwertsteuer ein Nullsummenspiel. Das ist mit Blick
auf Impulse zur Modernisierung der Haushalte und die
Steuerfinanzierung von versicherungsfremden Leistungen ein Desaster. Das ist ein richtig schwaches Ergebnis
und ein schlechter Start für die große Koalition.
({9})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Bartholomäus Kalb von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Koalitionsfraktionen haben sich zu Beginn
ihrer Verhandlungen mit der Ausgangslage sehr genau
befasst und eine gründliche Bestandsaufnahme vorgenommen.
({0})
Wir mussten leider feststellen, dass die Lage dramatischer ist, als bisher angenommen werden konnte. Wir
mussten zur Kenntnis nehmen, dass der Konsolidierungsbedarf weit höher als bisher angenommen ist, dass
es nicht möglich sein wird, schon für 2006 einen Haushalt vorzulegen, der die Regelgrenze des Art. 115 des
Grundgesetzes einhält, zumindest dann nicht, Frau
Hajduk, wenn man nicht in einer insgesamt unwirtschaftlichen Art und Weise Einmaleffekte erzielen
möchte, und dass es auch sehr schwierig sein würde, das
Maastricht-Kriterium von 3 Prozent 2007 wieder einzuhalten.
Leider hat sich mehr als bestätigt, was Ihr Amtsvorgänger, Herr Bundesminister - das muss man zugeben -,
schon im Juni dieses Jahres gesagt hat:
Die Haushaltslage ist dramatisch …
Das hat Hans Eichel schon im Frühsommer dieses Jahres
erkannt. Leider wollte diese bittere Wahrheit niemand
hören. Sie ist im Wahlkampfgetöse untergegangen. Insbesondere die eine Seite dieses Hauses wollte sie gar
nicht hören.
Diese neue Koalition hat sich in den finanzpolitischen
Verhandlungen - professionell geführt von Herrn Minister Steinbrück und Ministerpräsident Roland Koch schonungslos mit den Fakten auseinander gesetzt und
die erforderlichen Schlussfolgerungen gezogen. Dazu
gehört die Erkenntnis, dass für irgendwelche wünschenswerte Leistungsverbesserungen, außer den vereinbarten
Maßnahmen zur Stärkung von Wachstum, Beschäftigung und Familie, kein Spielraum besteht, dass Leistungen beschränkt werden müssen, dass für steuerliche Entlastungen keine Möglichkeit besteht, sondern stattdessen
die Einnahmeseite des Staates verbessert werden muss.
Es ist schon erstaunlich, wie viele gute Vorschläge
hinsichtlich Einsparmöglichkeiten und Subventionsabbau gemacht werden und wurden und wie viel Mut zu
diesen Einschnitten angemahnt wird und wurde. Dies
geschah auch von solchen, die dies aus ordnungspolitischer Überzeugung fordern, aber dann Einwände formulieren, wenn sie bzw. ihre Interessengruppe selber davon
betroffen sein könnte. Wir, die großen Volksparteien, die
diese Koalition tragen, können nicht einfach in einer Art
Prinzipienreiterei über die Köpfe der Menschen hinweg
sparen, kürzen und streichen.
({1})
Wir müssen die Menschen mitnehmen. Wir müssen
erklären, warum manche Maßnahmen unumgänglich
sind.
({2})
Wir müssen auch erkennen, wo die Belastungs- und
Zumutbarkeitsgrenzen der Bürger verlaufen, die entweder auf Transferleistungen angewiesen sind oder die
Steuer- und Beitragslast tragen müssen.
({3})
Deshalb müssen wir auch erklären, warum wir sparen
und konsolidieren: eben nicht in erster Linie, weil wir
die Verfassungsbestimmungen einhalten oder den
Maastricht-Vertrag erfüllen müssen. Wir müssen erklären, dass alle diese Regelungen ihren Sinn haben, nämlich sicherzustellen, dass es nicht zu einer Desinvestition
bei gleichzeitig überbordender Verschuldung, einem
Substanzverlust und einem Wert- und Vermögensschwund kommt. Auch die Maastricht-Kriterien müssen eingehalten werden, wenn wir vermeiden wollen
- heute ist schon darüber gesprochen worden -, dass ein
dauerhafter Schaden für die Währung und für die gesamte wirtschaftliche Entwicklung im Euro-Raum entsteht.
({4})
Aber es geht nicht nur aus diesen Gründen um die
Einhaltung der Belastungsgrenzen. Wir müssen dem von
verschiedener Seite gern geschürten Eindruck entgegentreten, es würde zulasten der Menschen gespart. Nein,
das Gegenteil ist der Fall: Wir sparen im Interesse der
Menschen. Wir sparen im Interesse der Zukunft der
Menschen, weil sie sonst in einer nicht so fernen Zukunft nicht mehr in der Lage wären, die Lasten aus der
Verschuldung zu tragen.
Wenn, wie so häufig, der Vorwurf erhoben wird, der
Staat kürze hier, streiche dort und erhöhe die Belastung,
dann ist die Frage zu stellen: Wer ist der Staat? Woher
kommt das Geld des Staates? Dann müssen wir eine banale Grundwahrheit aussprechen: Der Staat bzw. die öffentlichen Hände haben kein anderes Geld als jenes, das
sie vorher über Steuern, Abgaben, Beiträge und Gebühren dem Bürger aus der Tasche gezogen haben.
Eine zweite Grundwahrheit ist, dass in einer Volkswirtschaft nicht mehr verteilt werden kann - weder über
gesetzliche noch private Sicherungssysteme -, als vorher
gemeinsam erwirtschaftet wird.
Wir handeln als Bundesgesetzgeber nicht nur im Interesse des Bundes und des Bundeshaushaltes, sondern wir
tragen auch in hohem Maße Mitverantwortung für die
übrigen Ebenen, die Länder und Kommunen. Deshalb
haben wir uns darauf verständigt, dass keine Lastenverschiebung auf andere Ebenen erfolgen darf. Im Gegenteil: Die bereits eingeleiteten Maßnahmen werden über
die Steueranteile von Ländern und Kommunen ganz wesentlich zu deren Entlastung und zu EinnahmeverbesseBartholomäus Kalb
rungen führen. Insofern kann ich die Kritik der letzten
Tage, die von mancher Seite geäußert wurde, nicht nachvollziehen.
Die Frau Bundeskanzlerin hat gestern unter anderem
ausgeführt:
Gerecht ist, wenn den Schwachen geholfen wird.
Sie führte weiter aus:
Ungerecht ist, wenn sich Starke als Schwache verkleiden und damit die Gemeinschaft ausnutzen.
Gleichzeitig war gestern in der Zeitung ein anderes
Zitat zu lesen:
Jeder wird den gesetzlichen Rahmen maximal ausnutzen. Da hat es keinen Zweck, den moralischen
Zeigefinger zu erheben. Das ist rechtmäßig und
muss akzeptiert werden.
({5})
Angesichts solcher Aussagen kommt man zum Nachdenken darüber, was getan werden muss, um Gesetze
zielgenauer wirken zu lassen und möglichem Leistungsmissbrauch besser vorzubeugen. Ich denke aber, dass es
uns selbst bei allerbestem Willen und gründlichster
Arbeit nicht gelingen wird, jeden Missbrauch zu verhindern. Es wird auch nicht möglich sein, Gesetze zu machen, die für 80 Millionen Menschen Einzelfallgerechtigkeit gewährleisten.
Umso mehr wird es darauf ankommen, dass es uns
gelingt, wieder einen gesellschaftlichen Grundkonsens
über die Eigenverantwortung herzustellen.
({6})
Ich habe in meiner Kindheit und Jugend viele, insbesondere ältere Menschen erlebt, die vermutlich auch damals schon Anspruch auf gesetzliche Leistungen gehabt
hätten, aber nach dem Motto „Ich will mir selber helfen;
ich will nicht der Allgemeinheit zur Last fallen“ gelebt
haben. Für viele in dieser Generation galt der Grundsatz:
Das tut man nicht; das macht man nicht.
({7})
- Gerade diese Menschen haben das größte Verständnis
für die Allgemeinheit aufgebracht, Frau Kollegin
Scheel. - Es mag sehr altmodisch klingen, aber es war
vielleicht ein hohes Maß an Eigenverantwortung, Bescheidenheit, Gemeinsinn und Solidarität.
({8})
Möglicherweise fehlt uns ein wesentlicher Teil davon.
({9})
Wie wichtig eine Trendumkehr in der Haushalts- und
Finanzpolitik ist, wird bei einem Blick auf die demographische Entwicklung unserer Bevölkerung, wie sie sich
schon in nächster Zeit ergeben wird, sehr deutlich.
Schon in wenigen Jahren, bis zum Jahr 2020, wird der
Anteil der unter 20-Jährigen von rund 21 Prozent auf
17 Prozent sinken. Zugleich steigt der Anteil der über
65-Jährigen von 17 Prozent auf über 21 Prozent an. Das
allein zeigt, vor welchen Herausforderungen unsere Gesellschaft und unsere Volkswirtschaft stehen. Es macht
deutlich, dass Sparen und Reformieren kein Selbstzweck
sind, sondern unabdingbar notwendig sind, um der Verantwortung gegenüber den Menschen und ihren Problemen sowie den Herausforderungen bereits in den nächsten Jahren gerecht zu werden.
Wenn wir das bedenken, wird klar, dass wir in der
Haushalts- und Finanzpolitik dringend und unverzüglich
eine Trendumkehr erreichen müssen. Dafür bietet die
neue, große Koalition eine gute Chance. Nutzen wir
diese Chance!
Herzlichen Dank.
({10})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich
liegen nicht vor.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/107, 16/108, 16/105 und 16/113 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 16/107 - Tagesordnungspunkt 5 a - soll zusätzlich an den Ausschuss
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Themenbereichen Bildung
und Forschung. Als erste Rednerin hat das Wort die
Bundesministerin Dr. Annette Schavan.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Unser Land zu einer international anerkannten Talentschmiede zu entwickeln, das
ist unser Ziel in den kommenden Jahren. Dafür sind
mehr Bildungsbeteiligung, die konsequente Förderung
von Exzellenz und mehr Investitionen in Forschung und
Entwicklung notwendig.
({0})
Dafür brauchen wir Freiraum für junge Talente, für neue
Ideen sowie für unsere Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Bildungs- und Forschungspolitik darf sich
nicht im Management der Gegenwart erschöpfen. Wir
richten den Blick nach vorne erstens auf den globalen
Wettbewerb. Andere Länder holen auf. Zu oft werden
Ideen aus Deutschland anderswo in Wachstum und Arbeit umgesetzt. Zu wenige Spitzenwissenschaftler aus
dem In- und Ausland sehen ihre Zukunft in unserem
Land. Zweitens auf die demographische Entwicklung.
Sie stellt dauerhaft unsere sozialen Sicherungssysteme
und die Innovationskraft unserer Gesellschaft infrage,
wenn wir nicht alle Begabungspotenziale nutzen.
Schließlich muss der Blick auf eine neue Gerechtigkeit
gerichtet werden. Ein wachsender Teil unserer Gesellschaft sieht sich bei Bildungschancen und damit bei Zukunftschancen ausgegrenzt. Die soziale Herkunft darf
nicht über die persönliche Zukunft entscheiden.
({1})
Mehr Geld, mehr Freiheit und mehr Chancen für Bildung und Forschung, das bedeutet konkret: Diese Bundesregierung wird mehr Geld in Forschung und Entwicklung investieren als jede Bundesregierung zuvor.
6 Milliarden Euro sind in dieser Legislaturperiode zusätzlich vorgesehen. Ich appelliere vor allem an die deutsche Wirtschaft, diesem Beispiel zu folgen,
({2})
damit gelingen kann, was wir uns vorgenommen haben,
nämlich bis zum Jahre 2010 den Anteil der Investitionen in Forschung und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt auf 3 Prozent zu erhöhen.
Schließlich werden wir Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Deutschland mehr Freiraum
einräumen: Freiheit von unnötiger Bürokratie und überflüssiger Reglementierung, die Freiheit, eigene Wege zu
gehen. Dazu müssen wir uns mit einem längst überholten Arbeits- und Dienstrecht für die Wissenschaft beschäftigen und die Möglichkeiten eines Wissenschaftstarifs prüfen.
({3})
Wir haben eine Föderalismusreform verabredet, die
Vielfalt und Wettbewerb zulässt.
({4})
- Sie können das Manuskript ja noch einmal korrigieren,
Frau Pieper. - Wir erwarten dann von den Ländern aber
auch, dass die gewonnenen Freiräume an die Hochschulen weitergegeben werden.
({5})
Der Bund wird in der Bildungspolitik auch nach der Föderalismusreform kein Zuschauer sein. Wir werden uns
verstärkt um die Bildungsforschung kümmern und mit
den Ländern gemeinsam Impulse für die Standardsicherung für Benachteiligten- und Begabtenförderung setzen.
Ein Land der neuen Möglichkeiten braucht bessere
Chancen für alle. Das bedeutet mehr Qualität und mehr
Teilhabe an Bildung. Wir geben keine Generation verloren, die Jungen ebenso wenig wie die Älteren. Deshalb
werden wir den nationalen Pakt für Ausbildung und
Fachkräftenachwuchs weiterentwickeln, das Programm
für Ganztagsschulen umsetzen, die Reformen für Berufsausbildung vorantreiben und die Bedingungen für
die Qualifizierung älterer Arbeitnehmer verbessern.
({6})
Kein Jugendlicher unter 25 Jahren - das steht fest verankert im Koalitionsvertrag - darf länger als drei Monate
ohne die Möglichkeit zu Ausbildung und Arbeit sein.
Das halte ich für einen zentralen Punkt unserer Regierungsarbeit in den nächsten Jahren.
({7})
Die duale Ausbildung muss das Herzstück der beruflichen Bildung bleiben.
Bildung ist der Schlüssel für Lebenschancen. Wissenschaft und Forschung schaffen Innovation und Arbeitsplätze. Gleichzeitig sichern sie die geistige Vitalität und
die intellektuelle Strahlkraft unseres Landes. Deshalb
dürfen Wissenschaft und Forschung auch nicht auf ihre
ökonomische Verwertung reduziert werden. Herausragende Leistungen der Geistes- und Sozialwissenschaften
und die freie Erkenntnissuche der Grundlagenforschung
sind elementarer Ausdruck einer Wirtschafts- und Kulturnation.
({8})
Ohne diese Freiheit hätte es Max Plancks Erkenntnisse
nicht gegeben. Ohne Max Planck wären viele moderne
technologische Anwendungen nicht entstanden.
({9})
Unsere Forschungs- und Technologiepolitik ist ideologiefrei und wertegebunden. Wir stehen für Forschung
ohne Fesseln, aber nicht ohne Grenzen.
({10})
Deshalb werden wir in den kommenden Jahren etwa in
den ethischen Fragen der Biowissenschaften vor schwierige Abwägungen gestellt.
({11})
Hier gilt als zentrales Kriterium, liebe Frau Flach, nicht
Wettbewerbsfähigkeit, sondern die Achtung der Menschenwürde.
({12})
In unserer Forschungspolitik geht es nicht um Entweder-oder. Es geht nicht um Staatssteuerung oder Staatsabstinenz, um Grundlagenforschung oder Anwendung,
um universitäre oder außeruniversitäre Forschung. Unsere Forschungspolitik setzt auf drei Prinzipien: Erstens
auf Exzellenz. Wir messen uns national und international an den Besten. Deshalb werden wir mit den Ländern
die Exzellenzinitiative zum Erfolg führen.
({13})
Deshalb werden wir die Förderung des Bundes auf herausragende Vorhaben konzentrieren, wie die neue Generation der Großgeräte. Deshalb setzen wir auf den
Wettbewerb in der Forschungsförderung und den Pakt
für Forschung und Innovation. Wenn wir auf Exzellenz
setzen, sind wir attraktiv für die weltweit Besten aus
Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung. Die Erfolge
von Bio-Regio und anderen Projekten zeigen, welche
Hebelwirkung Wettbewerb für den Fortschritt haben
kann.
({14})
Zweitens. Vorrang für Innovation. Das gilt für die
gesamte Innovationskette von der Idee bis zum Produkt
und zur eigenen Firma. Innovationsfreundlichkeit muss
das Kriterium staatlichen Handelns schlechthin sein.
Wir werden mit dem Aktionsplan „High-Tech-StrategieDeutschland“ Spitzentechnologien gezielt fördern und
Innovationshemmnisse beseitigen. Das gilt für Urheber-,
Patent- und Steuerrecht. Das gilt für die Gründung von
Hightechs, Start-ups und für neue Technologien wie
Nano- und Biotechnologie. Wir besitzen einen Wissensvorsprung in der Nanotechnologie, den wir nutzen müssen, um Marktführer zu werden.
({15})
Dazu werden wir Nanotechnologie in deutschen Kernbranchen wie der Automobilindustrie integrieren, neue
Anwendungsbereiche erschließen und interdisziplinäre
Ansätze ermöglichen.
Drittens. Wir werden Kräfte bündeln, und zwar in
Politik, Wissenschaft und Wirtschaft, in universitärer
und außeruniversitärer Forschung, in den Geistes- und
Naturwissenschaften. An den Schnittstellen zwischen
Strukturen und Disziplinen entstehen Innovationen. Deshalb setzen wir auf Innovations- und Wachstumspole,
die Anziehungskraft für Wissenschaftler und Investoren
über unsere nationalen Grenzen hinaus entwickeln. Die
Trennung von Hochschulen und außeruniversitärer Forschung muss zugunsten von mehr Vernetzung, Arbeitsteilung und Wettbewerb minimiert werden.
({16})
Die Einheit von Forschung und Lehre war der Kern
der humboldtschen Universitätsidee. Das heißt heute
auch: Wir müssen dafür sorgen, dass die universitäre
Forschung in der Struktur unserer Forschungsförderung
gestärkt wird. Sie ist in den vergangenen Jahren geschwächt worden.
({17})
- Bitte?
({18})
- Nicht nur in den letzten sieben Jahren. Man kann auch
sagen: in den letzten Jahrzehnten. - Deshalb wollen wir
im Laufe dieser Legislaturperiode den Einstieg in eine
neue Forschungsförderungsstruktur durch Berücksichtigung von Overheadkosten schaffen.
Nachhaltige Wissenschafts- und Forschungspolitik
braucht schließlich einen besonderen Blick auf die
Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler. Wir brauchen verlässliche Karrierewege.
Deshalb werden wir die Befristungsregelungen für Juniorprofessuren lockern.
({19})
Wir werden neben den genannten zentralen Zukunftstechnologien Forschungsschwerpunkte in der Sicherheitsforschung ebenso wie in der Gesundheits- und Alternsforschung setzen.
Die Studierendenzahlen steigen in den kommenden
Jahren ebenso wie die Zahl der Schulabsolventen, die
sich für eine berufliche Ausbildung bewerben. Schon
jetzt wird deshalb von „Studentenbergen“ und „Bewerberüberhang“ gesprochen. Schon die Wortwahl offenbart
altes Denken. Diese jungen Leute, die etwas lernen und
etwas leisten wollen, sind keine Last für unser Land.
({20})
Sie, ihre Talente, ihre Ideen, ihre Bereitschaft, etwas zu
leisten: Genau dahinter stecken die neuen Möglichkeiten
für unser Land. Es ist deshalb unsere Verantwortung,
also die Verantwortung des Bundes, der Länder, aller
Beteiligten, damit sorgsam umzugehen; denn es wird der
Tag kommen, an dem wir dort den Mangel beklagen
werden, wo heute der Ansturm befürchtet wird.
({21})
Eine international anerkannte Talentschmiede ist die
Voraussetzung für die Innovationskraft unseres Landes.
Das ist ein Fundament für Leistungsfähigkeit, Zusammenhalt und soziale Entwicklung. Das ist der Motor für
ökonomische Entwicklung und die Quelle unseres künftigen Wohlstandes. In diesem Sinne sollten wir gemeinsam Bildungs- und Forschungspolitik betreiben.
Ich danke Ihnen.
({22})
Das Wort hat nun die Kollegin Cornelia Pieper von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte als Erstes
die Gelegenheit nutzen, Frau Ministerin Schavan im Namen der FDP-Bundestagsfraktion zu ihrem neuen Amt
zu gratulieren. Wir wünschen Ihnen Glück und auch Erfolg im Interesse des Wohles unseres Landes. Frau Ministerin, wir wissen natürlich, dass Sie an der Spitze eines Ministeriums stehen, das für die Zukunftsfähigkeit
Deutschlands eine Schlüsselstellung hat.
({0})
Uns ist natürlich auch bewusst, dass gerade Ihr Ministerium die richtigen und mutigen Weichenstellungen für
die Zukunft vornehmen muss. Das heißt, Sie müssen
zukünftig mehr auf Freiheit für die Forschung, Autonomie der Hochschulen und auch mehr Wettbewerb der
Bildungseinrichtungen insgesamt setzen. Dann können
wir wieder an die Spitze in Europa kommen. Dafür stehen auch wir als Liberale. Dafür haben wir bei der Föderalismusreform mit Ihnen gestritten.
({1})
Wir können Ihnen auch zustimmen, wenn es um mehr
Investitionen in Bildung und Forschung geht. Wir alle
wissen, dass im OECD-Vergleich gerade diejenigen Industrienationen ein höheres Wirtschaftswachstum haben,
die mehr in Bildung und Forschung investieren. Daraus
müssen wir lernen. Es ist gut, dass die Bundesregierung
jetzt sagt, sie wolle jährlich eine halbe Milliarde Euro in
Forschung und Entwicklung investieren. Es ist gut, dass
sie sagt: Die Mittel der großen Forschungsgesellschaften
sollen bis 2010 ebenso jährlich um 3 Prozent steigen.
({2})
Nur, den Worten müssen auch Taten folgen, Herr
Tauss, und darauf bin ich gespannt. Wir brauchen die
haushaltspolitische Untersetzung.
({3})
Ich vernehme, dass der Finanzminister und die Bildungsministerin in dieser Frage zum Teil mit gespaltener
Zunge reden.
({4})
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen, dass die in
der Regierungserklärung in Aussicht gestellten Steigerungsraten nicht ausreichen werden, um schrittweise das
3-Prozent-Ziel zu erreichen. Sie müssen ein Finanzpaket
von rund 8,3 Milliarden Euro schnüren, um von heute
rund 9 auf 12 Milliarden Euro in 2010 zu kommen. Das
ist eine Kraftanstrengung ohnegleichen. Wir sind aber
bereit, das zu unterstützen. Dazu bedarf es mehr Subventionsabbau. Dazu bedarf es mehr Ausgabenkürzungen,
als Sie sie nach dem geplanten Haushalt vornehmen wollen.
({5})
Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung
gestern zu Recht von Leuchtturmprojekten geredet. Wir
brauchen Leuchtturmprojekte. Da war auch von der
Transrapid-Referenzstrecke die Rede. Diesen Leuchtturm gibt es bereits, meine Damen und Herren, allerdings
an der chinesischen Küste. Dort fährt der Transrapid seit
zwei Jahren störungsfrei mit einer 93-prozentigen Verfügbarkeit. Es geht um die Umsetzung, um die Anwendung von Forschungsergebnissen, von neuen Technologien und nicht nur um Referenz.
({6})
Was wir brauchen, ist eine in sich geschlossene Strategie für Forschung und Innovationen. Anstatt die
Forschung dadurch zu stärken, dass die Aktivitäten gebündelt werden, schreitet der Ausverkauf des Forschungsministeriums nach dem Koalitionsvertrag weiter
voran. Was wird ein jährlicher Aufwuchs nutzen, so wie
er jetzt im Pakt für Forschung von Bund und Ländern
beschlossen wurde, wenn die einzelnen Bundesressorts
gegeneinander arbeiten und vielleicht ihre Projektfördermittel aus Sparzwängen heraus herunterfahren? All das
haben wir hier schon erlebt. Das werden wir als Liberale
nicht mittragen.
({7})
Wir brauchen eine neue Dekade der Forschung, Gründung und Innovation. Wir brauchen eine nationale Biotechnologiestrategie. Deutschland war einst die Apotheke der Welt. Wir müssen die Rahmenbedingungen für
die pharmazeutische Forschung verbessern.
Wir brauchen ein geändertes Gentechnikgesetz. Dabei
wollen wir Sie gern unterstützen.
({8})
Wir werden den wachsenden Bedarf an Energie nicht
decken können, Herr Tauss, ohne einen ganzheitlichen
Energieforschungsansatz mit einer ambitionierten
Grundlagenforschung - ich nenne nur das Stichwort:
Fusionsforschung -, mit einer Spitzenforschung für moderne Kraftwerkstechnik und mit einer kerntechnischen
Sicherheitsforschung.
Wir wollen Nanokompetenznetzwerke stärken und international ausrichten.
Die Informationstechnologie ist eine Querschnittstechnologie, die als Forschungs- und Wettbewerbsbeschleuniger wirkt.
Ich denke auch an die Forschung im Dienstleistungssektor, der immerhin zu 70 Prozent der Bruttowertschöpfung beiträgt.
Die Frau Ministerin hat zu Recht gefordert, dass es
mehr Freiheit für Forschung in Deutschland geben muss.
Frau Ministerin, wenn Sie das ernst meinen, dann verhindern Sie, dass deutsche Stammzellforscher, die im
Ausland arbeiten, in Deutschland durch deutsches Strafrecht kriminalisiert werden! Schaffen Sie endlich Freiheit für die Forschung, auch bei der embryonalen
Stammzellforschung,
({9})
einem der wichtigsten Forschungsbereiche der Zukunft,
weil schwerstkranke Menschen große Hoffnungen auf
die medizinische Forschung und eben insbesondere auf
die embryonale Stammzellforschung setzen!
({10})
Wir werden dazu unsere Gesetzentwürfe zum Stammzellenimport, aber auch zur Novellierung des Embryonenschutzgesetzes wieder einbringen.
Meine Damen und Herren, es geht längst nicht mehr
allein um Deutschland. Es geht darum, den europäischen
Bildungs- und Forschungsraum zu stärken. Globalisierung bedeutet Wettbewerb um die besten Köpfe weltweit. Viel zu viele kluge Köpfe verlassen Deutschland.
Deswegen müssen wir handeln. Wir brauchen mehr Autonomie der Hochschulen und eine modernere Wissenschaftslandschaft, Frau Ministerin. Wir haben zu Recht
mehrmals darauf hingewiesen, dass wir Bürokratie abbauen müssen. Aber wir wollen bei der Diskussion über
die Föderalismusreform vor allen Dingen mit der Autonomie der Hochschulen weiterkommen. Wir wollen,
dass die Autonomie der Hochschulen im Grundgesetz
verankert wird. Das ist die beste Voraussetzung für internationale Wettbewerbsfähigkeit. Helfen Sie mit, dass das
gelingt!
({11})
Ich sage Ihnen aber auch: Wir sind als Bildungs- und
Forschungspolitiker der FDP-Fraktion nicht ganz zufrieden mit den Ergebnissen der Föderalismuskommission.
Ich sage das ganz bewusst mit Blick auf eine Tatsache,
die Sie zu Recht angesprochen haben: Wir wollen mehr
Studierende in unserem Land haben. Bis 2011, hat die
KMK ausgerechnet, wird die Zahl der Studierenden um
22 Prozent steigen. Das begrüßen wir. Wir brauchen
exzellente Studienbedingungen und exzellente Bedingungen für die Lehre. Das setzt natürlich voraus, dass
sozialverträgliche Studienentgelte zugelassen werden.
Dazu bekennen wir uns. Das sollen die Hochschulen autonom entscheiden können. Aber wir müssen die Bedingungen in dem föderalistischen System in Deutschland
so gestalten, dass den jungen Menschen, die studieren
wollen, keine Hürden in den Weg gestellt werden. Wenn
der junge Mensch, der aus Baden-Württemberg kommt,
an einer Hochschule in Berlin nicht zugelassen wird,
weil die Hochschulzulassungen in den 16 Bundesländern unterschiedlich sind, dann wird das einem europäischen Bildungsraum nicht mehr gerecht. Hier müssen
wir handeln.
({12})
Exzellente Bedingungen für die Hochschulen und
Anreize für die Spitzenwissenschaftler werden wir nur
bekommen, wenn das öffentliche Dienst- und Beamtenrecht an den Hochschulen fällt und durch einen Wissenschaftstarifvertrag ersetzt wird. Dazu haben wir in der
Vergangenheit mehrmals Anträge eingebracht. Dabei
werden wir Sie unterstützen.
({13})
Kluge Köpfe sind in der Tat die wichtigste Ressource
unseres Landes. Aber welche Verschwendung an
menschlichen Ressourcen, an Lebensarbeitszeit junger
Menschen haben wir in Deutschland! 80 000 Schüler
jährlich ohne Schulabschluss, 1,3 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 30 Jahren ohne Berufsabschluss;
das sind die sozialen Härtefälle von morgen. Das ist ein
Thema, dem wir uns als Liberale ganz besonders stellen
wollen. Chancengleichheit ist ein wichtiges Credo unserer Bildungspolitik. Deswegen begrüßen wir die Novelle
zum Berufsbildungsgesetz. Wir sind für eine gestufte
Ausbildung. Wir konnten uns schon immer vorstellen,
auch im Interesse von eher praktisch orientierten jungen
Menschen von einer zweijährigen Grundausbildung auszugehen, auf die mit Qualifizierungsbausteinen, so genannten Modulen, aufgebaut werden kann.
Wir sehen die Weiterbildung in unserer älter werdenden Gesellschaft als immer wichtiger werdenden Teil
unseres Bildungssystems an. Ich halte es auch für wichtig, dass wir uns der Themen E-Learning und Blended
Learning annehmen und uns der Forschung in diesem
Bereich stellen. Da sind manche europäischen Partner
viel weiter als wir. Wir müssen mit diesem Thema vorankommen. Nur so kann Deutschland in Europa wieder
an die Spitze kommen. Das ist unser Ziel und dabei wollen wir mithelfen. Ich kann es auch anders sagen, sehr
verehrter Herr Tauss: Investitionen in Wissen bringen
immer noch die besten Zinsen.
({14})
Das hat Benjamin Franklin gesagt. Daran werden wir arbeiten.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat der Kollege Jörg Tauss von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Koalitionspartner!
({0})
Lieber ehemaliger Koalitionspartner! Das mit dem künftigen Partner wird sich erweisen; aber ich sage an dieser
Stelle trotzdem noch einmal: Ich bekenne mich zu Letzterem ausdrücklich. Wir haben trotz vieler unterschiedlicher Auffassungen mit Frau Kollegin Bettin und mit
Herrn Kollegen Fell gut zusammengearbeitet.
({1})
Wir haben in der rot-grünen Koalition die geforderte
Priorität für Bildung, Forschung und Innovation seit
1998 in unserem Regierungshandeln umgesetzt. Darauf
sind wir stolz. Das bleibt ein Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit.
({2})
Ich will an dieser Stelle nochmals ausdrücklich
Edelgard Bulmahn für ihr großes Engagement für den
Bildungs- und Forschungsstandort Deutschland danken.
({3})
Sie stand mit uns für wichtige Initiativen: für das
Ganztagsschulprogramm, für den Pakt für Forschung
und Innovation - er ist angesprochen worden -, für die
Exzellenzinitiative in der Spitzenforschung, für ein in
unserer Regierungszeit wieder erstarktes BAföG, das
junge Menschen in die Lage versetzt, zu studieren.
Wir haben die umfassende Modernisierung der beruflichen Bildung auf den Weg gebracht. Ich freue mich,
dass dies gemeinsam mit Ihnen möglich war. Es war eines der ganz wenigen Gesetze, das gemeinsam durchgebracht wurde, das nicht im Bundesrat blockiert wurde.
Auch dafür herzlichen Dank. Ich glaube, damit haben
wir einen jahrzehntelang währenden Reformstau auflösen können.
Nichtsdestotrotz: Wir stehen auch in Zukunft im Bereich Bildung und Forschung vor großen Herausforderungen. Ich spreche hier nicht nur für meine Fraktion.
Ich stimme der neuen Ministerin - ({4})
- Das weiß ich. Wie könnte mir das entgehen? Ich kenne
Frau Dr. Schavan schon aus Baden-Württemberg, Herr
Meinhardt. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergangen ist.
Ich wünsche der neuen Ministerin alles Gute. Ich
freue mich auf eine gute Zusammenarbeit. Ich werde
darauf zurückkommen.
Nur Erfolge bei Bildung, Wissenschaft und Innovationen werden darüber entscheiden, wie wir künftig unsere Probleme bewältigen. Das gilt in Zeiten der zunehmenden Globalisierung, des wachsenden internationalen
Wettbewerbs in allen Bereichen und insbesondere der
Europäisierung des Bildungs- und Forschungswesens.
Ich stimme der Kanzlerin ausdrücklich zu, die gestern
gesagt hat, wir müssten international um so viel besser
sein, wie wir teurer seien. Die Sicherung Deutschlands
als Exportnation Nummer eins, die Sicherung unserer
Sozialversicherungssysteme und unser gesamter künftiger Wohlstand hängen - umso mehr, je besser die anderen werden - davon ab, wie wir insbesondere mit diesen
Fragen von Bildung, Wissenschaft und Forschung umgehen, wie wir mit der Kompetenz der Menschen in diesem Lande - der Beschäftigten, der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer - und mit der Kompetenzerhaltung
umgehen.
Wir müssen alles tun, um die geburtenstarken Jahrgänge, die jetzt in die Schulen und aus den Schulen kommen - es sind für viele Jahre die letzten geburtenstarken
Jahrgänge -, gut auszubilden. Wir stimmen in all diesen
Punkten ausdrücklich zu, auch dem, was Sie, Frau Ministerin, in den Koalitionsverhandlungen unter der Überschrift „Kein Talent darf verloren gehen“ angesprochen
haben.
({5})
Wir können es uns in diesem Lande nicht leisten, dass
Talente verloren gehen und dass das gesamte Potenzial
von jungen Menschen nicht genutzt wird.
Wir konnten in der Vergangenheit viele Strukturreformen in der Wissenschafts- und Forschungslandschaft durchsetzen. Ich nenne den Bologna-Prozess, die
Juniorprofessur und die programmorientierte Förderung
bei der Helmholtz-Gemeinschaft. Wir haben uns um
neue Zukunftstechnologien gekümmert. In Ostdeutschland haben wir die Initiativen Inno-Regio und „Unternehmen Region“ vorangetrieben. Wir haben vonseiten
des Bundes insbesondere die Geistes- und Sozialwissenschaften gestärkt. Ich sehe da Defizite bei den Ländern.
Schauen Sie in die Haushalte verschiedener Bundesländer!
Herr Kollege Schmidt, wir konnten die Friedens- und
Konfliktforschung mit der Stiftung Friedensforschung
wieder beleben.
Wir haben mit dem Ausbildungsplatzumlagegesetz
einen Beitrag dazu geleistet, die Motivation der Wirtschaft zu erhöhen, wieder mehr Ausbildungsplätze für
junge Menschen zur Verfügung zu stellen. Wir bekennen
uns ausdrücklich zum Ziel des Paktes, jedem ausbildungsfähigen jungen Menschen ein Angebot machen zu
können. Wir erwarten aber - ich sage das in aller Deutlichkeit -, dass die Wirtschaft ihre Zusagen einhält.
({6})
Das, was im Moment in Baden-Württemberg passiert,
beispielsweise die Ankündigung des Abbaus von Ausbildungsplätzen durch Daimler-Chrysler, empfinde ich
persönlich als Provokation, als eine ganz bewusste
Kampfansage an den Geist des Paktes, den wir gemeinsam mit den Arbeitgeberverbänden geschlossen haben.
({7})
Ich schließe mich der Forderung der Vorsitzenden meines Landesverbandes Ute Vogt ausdrücklich an, diese
Provokation - als solche empfinde ich es - rückgängig
zu machen.
Bei allen Problemen: Wir sind im Bereich Bildung
und Forschung wieder etwas besser aufgestellt. Wir können noch viel besser werden, gerade auch mithilfe des
Finanzministers. Wir hatten in der Vergangenheit die
Unterstützung von Hans Eichel; wir rechnen fest mit der
Unterstützung des neuen Finanzministers Steinbrück
und mit Ihrer Unterstützung, Frau Bundeskanzlerin. Das
wird ein zentraler Punkt sein, um das 3-Prozent-Ziel zu
erreichen.
({8})
Ich freue mich, dass Sie das gestern auch ausdrücklich in
Ihrer Regierungserklärung angesprochen haben. Dass
uns dies gelungen ist, halte ich für richtungsweisend.
Zur Erreichung des 3-Prozent-Zieles benötigen wir
etwa 600 Millionen Euro aus dem Haushalt. Dieses Geld
brauchen wir für all die Punkte, die angesprochen worden sind. Mein Kollege Röspel aus dem Forschungsbereich und mein Kollege Rossmann aus dem Bildungsbereich werden noch auf einige Punkte detaillierter
eingehen.
Die Hochschulen warten auf unsere konkreten Signale. Frau Ministerin Schavan, wir sind Ihnen für Ihre
Initiative zu einem Sonderprogramm für die Hochschulen ausdrücklich dankbar.
({9})
In der Föderalismusdebatte muss es deswegen darum gehen, entsprechende Instrumente zur Durchführung eines
solchen Programms zu schaffen.
Auf europäischer Ebene existieren viele Probleme,
von der Dienstleistungsrichtlinie bis zur Anerkennung
unserer beruflichen Abschlüsse. Wie geht es weiter mit
den Bachelor- und Masterstudiengängen, die in Deutschland bzw. anderswo in Europa abgeschlossen werden?
Die Koalition muss sich solcher Fragen annehmen.
Wenn es uns nicht gelingt, darauf Antworten zu geben,
dann werden wir Probleme für den Bildungsstandort
Deutschland bekommen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich freue mich,
wie gesagt, auf die Zusammenarbeit. Frau Schavan, ich
bedanke mich sehr für Ihre Glückwünsche zu meiner
neuerlichen Wahl zum Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion in diesem Bereich. Ich gratuliere Ulla Burchardt
zu ihrer Wahl als unserer neuen Ausschussvorsitzenden
als Nachfolgerin von Frau Pieper, die Obfrau der FDP
wird.
({10})
Bei der Union freue ich mich auf die Zusammenarbeit
mit Frau Aigner, bei der Linken mit Frau Sitte und bei
den Grünen mit Frau Hinz.
Sie sehen, im Kreise der Obleute bin ich das einzig
verbliebene männliche Wesen. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen, um freundliche Quotenrespektierung und freue
mich auf eine gute und angenehme Zusammenarbeit.
Ich hoffe, dass für diese große Koalition am Ende genau das gelten wird, was auch für die erste große Koalition galt.
({11})
Sie war ein Aufbruch für Bildung, Wissenschaft und
Forschung in diesem Lande. Es gab viele Initiativen und
Grundgesetzänderungen. Ich hoffe, dass wir an diese
Tradition anknüpfen können.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Petra Sitte von der
Fraktion der Linken.
({0})
Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einem Zitat aus der Koalitionsvereinbarung beginnen:
Deutschlands Zukunft liegt in den Köpfen seiner
Menschen. Bildung ist ein zentrales Anliegen, das
eine große Kraftanstrengung von Bund, Ländern
und Kommunen erfordert. Bildung ist Voraussetzung zur gesellschaftlichen Teilhabe. Bildung ist
ein Schlüsselthema für die weitere Entwicklung unserer Wirtschaft und unseres Landes.
Alles in allem handelt es sich in zweierlei Hinsicht um
bemerkenswerte Sätze, erstens der Absender wegen und
zweitens ihres Inhaltes wegen.
Ich will etwas zu den Absendern sagen. CDU/CSU
und SPD tragen seit Jahrzehnten auf verschiedene Weise
in verschiedenen Koalitionen auf den Ebenen der Kommunen, der Länder und auf Bundesebene Bildungsverantwortung für ganze Generationen. Die Ergebnisse sind
bekannt. Ich zitiere jetzt nicht die PISA-Studie, obwohl
das allemal verlockend ist. Ich verweise vielmehr auf
eine Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, die
vor kurzem unter dem Titel „Zu wenig für zu viele“ veröffentlicht worden ist. Die Kernaussage in dieser Studie
ist: Armut grenzt aus und verbaut den Weg zur Bildung.
Was steht in der Koalitionsvereinbarung? Sie schauen
von oben auf das Bildungswesen: strukturell, finanziell,
institutionell und personell. Das ist zwar alles in Ordnung. Aber Sie schauen vor allem punktuell auf das Bildungswesen. Aus dieser punktuellen Sicht heraus gehen
Ihnen ganz wesentliche Zusammenhänge verloren bzw.
sie finden sich nicht in den vorgeschlagenen Maßnahmen wieder.
Ursache und Wirkung zeigt aber die Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Er schaut wiederum von
ganz unten nach oben. In diesem Zusammenhang ist
eben festzustellen, dass seit Einführung von Hartz IV am
1. Januar 2005 beispielsweise in meiner Heimatregion
Halle die Kinderarmut drastisch gewachsen ist.
34,6 Prozent - ich betone: 34,6 Prozent - aller Kinder
unter 14 Jahren leben von 207 Euro Sozialgeld monatlich. Von diesen 207 Euro monatlich sind die wichtigsten
Dinge für ein Kind zu bestreiten: Schulutensilien, Kleidung, Bücher und vielleicht noch der Beitrag für den
Sportverein. Das bedeutet doch am Ende, dass in den Familien die Kinder selbst zu kurz kommen.
Schauen Sie sich einmal an, was aufgrund der Beschlussfassungen der Länder passiert - denn Sie haben ja
die Verantwortung der Länder angemahnt -: Da wird
eben ab der elften Klasse keine Schülerbeförderung
mehr bezahlt. Da müssen von diesen 207 Euro im
schlimmsten Falle 70 Euro für die Schülerbeförderung
ausgegeben werden, und das monatlich für jedes Kind.
Sie wissen, wie wichtig die Schülerbeförderung im ländlichen Raum ist.
Sozialpädagogen konstatieren in diesem Zusammenhang: Kinder leiden unter psychosomatischen Störungen, klagen über Kopfschmerzen, leiden unter Schlafstörungen oder haben Angstzustände. Was ich ganz
schlimm finde: Die Gewalt in den Familien selbst nimmt
zu.
({0})
- Frau Pieper, Ihr Problem ist, dass Sie nicht glauben,
dass das mit dem Thema zu tun hat.
({1})
Armut macht schwach. Armut macht krank. Armut
nimmt Mut, vor allem den Mut auf einen selbst bestimmten Lebensweg. Armut begrenzt Freiheit. Wenn
Sie vor diesem Hintergrund in diesem Haus davon sprechen, Freiheit wagen zu wollen, kann ich aus dieser konkreten Erfahrung heraus nur feststellen: Da haben Sie ein
Problem mit der Verarbeitung der Realität.
({2})
Es zeigt sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Armut in früher Kindheit, Armutsdauer und künftiger Schullaufbahn. Auf dem Gymnasium hat nur jedes
elfte Kind Armutserfahrungen, auf der Realschule allerdings schon jedes dritte. Auf der Hauptschule hat jedes zweite Kind Armutserfahrungen. Die Agenda 2010
und Hartz IV, also das Umschwenken vom status- zum
höchstens noch existenzsichernden Sozialstaat, hat Kinderarmut in Ost und West in nie gekanntem Ausmaß mit
sich gebracht, und das in einem der reichsten Länder dieser Erde.
({3})
Deshalb, Frau Pieper, sage ich: Wer über das Bildungssystem dieses Landes redet, muss auch über das
Sozialsystem dieses Landes sprechen. Beides ist nicht
mehr voneinander zu trennen.
({4})
Wenn die Kinder dieses Landes mehr Bildungserfolge
haben sollen, dann brauchen sie einen anderen, einen sichereren sozialen Hintergrund. Damit die Kinder eine erfolgreiche soziale Perspektive vor sich haben, brauchen
sie einen anderen Bildungshintergrund; ansonsten - das
ist ganz klar - wird die Ursache wiederum zur Folge.
Das ist der entscheidende Zusammenhang, den ich in der
Koalitionsvereinbarung vermisse.
Ungelöste soziale Probleme können dann dazu führen, dass die positiven Maßnahmen, die sich in der Koalitionsvereinbarung in allen Bereichen des Bildungswesens allemal wiederfinden, völlig konterkariert
werden. Das anzugehen, denke ich, ist Aufgabe genug.
Es geht also nicht nur um die Qualifizierung des Bildungssystems im weitesten Sinne, eingeschlossen die
Forschung. Es geht nicht nur um eine schlüssige Reformierung des gesamten Bildungswesens, um eine Reform
der Bildungsfinanzierung sozusagen. Es geht nicht nur
um die Anerkennung von Bildungsausgaben als das, was
sie nämlich wirklich sind: Investitionen in die sich immer wieder erneuernde Ressource Wissen. Es geht
schlicht und ergreifend darum, dafür zu sorgen, dass die
Potenziale von Kindern, und zwar die von hoch begabten Kindern genauso wie die von Kindern aus benachteiligten Haushalten, erkannt und ihnen gemäß gefördert
werden.
({5})
Ich will an dieser Stelle eines hinzufügen: Es ist völlig paradox, in dieser Situation über die Erhebung von
Studiengebühren zu reden und zur gleichen Zeit nichts
dagegen zu tun, dass Kinder aus solchen Elternhäusern,
wie ich sie vorhin beschrieben habe, real so gut wie
keine Chance haben, in universitärer Bildung anzukommen. Darum geht es doch. Das Problem ist doch nicht,
ob es ungerecht ist, dass die Krankenschwester mit ihren
Steuern dem Arztsohn das Studium bezahlt. Der Arzt
seinerseits zahlt ja höhere Steuern; das wird meistens
vergessen. Das Problem ist, dass die Kinder der Schwester allemal schlechtere Chancen haben als die Kinder der
Ärzte, auf der Universität anzukommen.
({6})
Selbst wenn die Kinder der Schwester über die gleiche
Leistungsfähigkeit verfügen, ist die Chance des Arztsohnes - das belegt eine Studie des Wohlfahrtsverbandes sechsmal höher, eine universitäre Bildung zu erhalten,
als die der Kinder der Schwester.
({7})
Natürlich ist jede Verbesserung im Bildungswesen zu
begrüßen. Da werden Sie uns an Ihrer Seite haben, so
schrecklich Ihnen - insbesondere den Kollegen der
CSU - das vielleicht erscheinen mag. Aber wenn wir
insgesamt nicht nachhaltig sozial umsteuern, werden
viele Bemühungen vergeblich bleiben, werden wir zivilisatorischen Rückschritt einleiten und werden uns Stück
für Stück die Fundamente dieser Gesellschaft zerbröseln.
Dagegen muss man endlich Politik machen.
Danke schön.
({8})
Frau Kollegin Sitte, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Krista Sager vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sind uns hier doch alle einig, dass wir wegen der zunehmenden Herausforderungen durch den internationalen
Wettbewerb, der Herausforderungen aufgrund der demographischen Entwicklung, der Mängel, die in internationalen Vergleichen deutlich werden, aber auch wegen der
zentralen Frage, mit der wir es hier zu tun haben, nämlich mit der Gerechtigkeit in Bezug auf die Teilhabechancen eines jeden, mehr für Bildung, Forschung und
Innovation tun müssen.
Wenn wir uns darin aber so einig sind, ist es natürlich
besonders interessant, sich einmal anzusehen, wie diese
große Koalition startet.
({0})
Sie startet damit, dass sie der Bildungsministerin Zuständigkeiten nimmt, ihre Kompetenzen beschneidet und ihren Forschungsbereich zerstückelt. Das ist ein schlechter
Start.
({1})
Ich hätte mir in einer neuen Regierung lieber eine gestärkte als eine geschwächte Bildungsministerin gewünscht, auch wenn es eine schwarze ist.
({2})
Frau Merkel hat gestern gefordert, dass wir unsere
Schulen und Hochschulen wieder an die Spitze Europas
bringen müssen. Sie hat auch gesagt - das war mir besonders wichtig -, Bildungschancen dürften nicht mehr
von der sozialen Herkunft abhängen. Richtig! Dann
stellt sich aber doch die Frage, wie wir das hinbekommen. Ich sage Ihnen: Wir schaffen das nur durch verstärkte gesamtstaatliche - ich betone: gesamtstaatliche Anstrengungen.
({3})
Wir schaffen das nicht, wenn sich der Bund aus der Bildungs- und Hochschulpolitik herausdrängen lässt und
sich auf schöne Worte beschränkt.
({4})
Frau Ministerin Schavan, Sie müssen aufpassen, dass
Sie nicht als Ministerin der warmen Worte in die Geschichte der großen Koalition eingehen. Das wäre wirklich zu wenig.
({5})
Wenn ich mir den Koalitionsvertrag anschaue, muss ich
feststellen, dass Sie hauptsächlich von der Vorarbeit Ihrer Vorgängerin leben wollen, und dies leider teilweise
auch noch schlecht. Das Ganztagsschulprogramm mit
einem Volumen von 4 Milliarden Euro muss natürlich
weiterlaufen; alles andere wäre verrückt. Erzählen Sie
doch einmal den Menschen im Lande, dass jetzt aber
eine Verfassungsänderung erfolgen soll, wodurch unterbunden wird, dass jemals etwas Ähnliches fortgeführt
oder auf den Weg gebracht wird. Das ist verrückt. Kein
Mensch in diesem Land begreift das.
({6})
Man fragt sich doch, was hier eigentlich passiert ist.
Offensichtlich haben sich die Bildungspolitiker zusammengesetzt und über die Gestaltung der Wissensgesellschaft geredet und die Arbeitsgruppe zur Föderalismusreform hat daneben gesessen und den Bildungspolitikern
den Boden unter den Füßen weggezogen und das Licht
ausgemacht.
({7})
Hier weiß die eine Hand nicht, was die andere tut. Frau
Merkel hat uns doch eine Politik aus einem Guss versprochen. Herr Müntefering hat ja schon damals befürchtet, dass nur ein Aufguss dabei herauskommt.
Im Wesentlichen haben Sie heute die von der rot-grünen Regierung erbrachte Vorarbeit als Ihre Highlights
verkauft. Ich nenne beispielsweise den Schwerpunkt
Nanotechnologie, das 3-Prozent-Ziel im Bereich Forschung, die Exzellenzinitiative und den Pakt für Forschung. Ich habe nichts gegen die Weiter- und Wiederverwendung von Vorhaben im politischen Raum. Das ist
besser, als sie wegzuschmeißen. Man sollte aber nicht
vergessen, dass gerade Ihre schwarzen Freunde diese Erfolge zum Teil heftig bekämpft haben.
({8})
Auf der anderen Seite fragt man sich aber doch, was
sich diese Regierung über die „Verwaltung dieser Vorräte“ hinaus vorgenommen hat. Sie sagen im Koalitionsvertrag, dass 17 Prozent der jungen Menschen eines
Jahrgangs zu der Risikogruppe gehören, die keinen
Schulabschluss und keine Berufsausbildung haben.
Ich finde wichtig, dass das im Koalitionsvertrag steht.
Was aber werden Sie mit dieser Risikogruppe tun? Glauben Sie im Ernst, dass das Problem ohne Zusammenarbeit, ohne Kooperation zwischen Bund, Ländern und
Gemeinden irgendwie zu lösen sein wird? Sie schreiben
in Ihrem Koalitionsvertrag: Menschen mit Berufsabschluss soll der Weg in die Hochschulen erleichtert werden. Die Verfassungsreform, die Sie vereinbart haben,
sieht aber vor, dass der Bund in diesem Bereich gar
keine Einflussmöglichkeiten mehr hat.
({9})
Sie sagen, die Quote der Studienanfänger - das war
Ihnen heute ein wichtiger Punkt - soll auf 40 Prozent eines Jahrgangs erhöht werden. Das ist bitter nötig. Das
wissen wir alle. Das ist hier Konsens. Diese Steigerung
ist im OECD-Vergleich noch nicht einmal besonders
viel. Wir haben das Glück - das haben Sie richtig
gesagt -, dass bis zu den Jahren 2012 bis 2014 eine
große Zahl von Studienanfängern in die Hochschulen
will. Das ist wirklich ein Glück und keine Tatsache, über
die man sagen muss: Oh Gott, oh Gott! Aber jetzt fragt
man sich doch: Was passiert denn im Moment? In fast
allen Ländern werden Studienplätze abgebaut.
Wie sieht die Situation aus, in die wir in Deutschland
hineinlaufen? Wir laufen doch in die Situation, dass es
real in den Hochschulen weniger Studienplätze geben
wird oder schlechtere Studienbedingungen oder beides.
Dafür sollen die jungen Leute dann auch noch Gebühren
zahlen. Die sind doch zu Recht auf der Straße.
({10})
Die jungen Leuten haben den Eindruck, die Bildungspolitiker erzählen ihnen nur, sie wollen mehr Studienanfänger haben, aber real wird eine Politik gemacht, die darauf hinausläuft, die jungen Leute von einem Studium
abzuschrecken. Das passt doch nicht zusammen. In diesem Bereich brauchen wir eine andere Politik.
Dazu sage ich Ihnen - auch als ehemalige Landessenatorin - eines: Wir müssen den Hilfeschrei der Hochschulrektorenkonferenz wirklich ernst nehmen.
({11})
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Hochschulen das
Problem nicht alleine in den Griff bekommen werden.
Aber so, wie diese Verfassungsreform geplant ist, wird
es die Hochschulsonderprogramme der Vergangenheit
- von Möllemann bis Bulmahn - in der Zukunft nicht
mehr geben können. Auch das ist eine falsche Entscheidung.
({12})
Es geht hier nicht um den Widerspruch zwischen Zentralisten und denen, die bürgernahe Entscheidungen wollen. Auch ich bin für bürgernah und ortsnah. Das heißt
aber mehr Autonomie, mehr Freiheit für die Bildungseinrichtungen und nicht ein Flickenteppich von staatlichen Länderregelungen, die die Mobilität von Schülerinnen und Schülern, von Familien, von Studierenden und
von wissenschaftlichem Personal erschweren. Das ist
nicht bürgernah.
({13})
Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass
wir uns einig sind, dass wir mehr gesamtstaatliche Anstrengungen brauchen, dass wir dafür auch eine gesamtstaatliche Agenda brauchen, die alle Einrichtungen vom
Bund über die Länder bis zu den Gemeinden und Bildungseinrichtungen jeweils in ihrem Kompetenzbereich
umsetzen müssen. Was wir aber nicht brauchen, ist ein
Kuhhandel hinsichtlich der Verfassung auf Kosten eines
zentralen Zukunftsbereichs wie Bildung und Wissenschaft.
({14})
Lassen Sie mich eines zum Schluss sagen. Herr
Struck betont immer, ein Gesetz geht aus dem Bundestag
nicht so heraus, wie es hineinkommt.
({15})
Das ist gestern noch einmal bekräftigt worden. Aber
dann dürfen wir uns erst recht keine Fehler bei einer Verfassungsänderung leisten, weil man diese Fehler nicht
mal so eben korrigieren kann. So eine Änderung bindet
die Politik auf Jahrzehnte.
({16})
Auch die Ministerpräsidenten merken jetzt langsam,
dass ihre Interessen in den Händen Bayerns schlecht aufgehoben gewesen sind.
({17})
Wenn wir als Bildungspolitiker es schaffen, zu sagen,
bei dieser Verfassungsreform ist das letzte Wort noch
nicht gesprochen, dann können Sie mich davon überzeugen, dass man auch in der Opposition manche fröhliche
Stunde erleben kann.
({18})
Das Wort hat jetzt der Kollege René Röspel von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich freue mich, wieder als Mitglied einer Regierungsfraktion an dieses Rednerpult treten zu dürfen,
auch wenn es kein Geheimnis ist, dass ich mir durchaus
eine andere Konstellation hätte vorstellen können.
({0})
Ich freue mich auch deswegen, weil nicht nur die Umwelt- und die Familien-, sondern gerade auch die Bildungs- und Forschungspolitiker der Sozialdemokratischen Partei dadurch in die Lage versetzt werden, nicht
nur die Früchte ihrer Arbeit, die sie in den letzten sieben
Jahren gesät haben, wachsen zu sehen und vielleicht sogar zu ernten, sondern auch in den nächsten Jahren weiter zu säen. Das ist, glaube ich, mit dieser Koalition
durchaus möglich.
({1})
Wir haben in den letzten Jahren im Bereich Bildung
und Forschung wirklich eine erfolgreiche Politik gemacht. Mein Dank geht ausdrücklich an unseren ehemaligen Koalitionspartner, das Bündnis 90/Die Grünen, der
dabei mitgeholfen und wirklich gute Sachen gemacht
hat.
({2})
Aber nun schauen wir nach vorne. Wir haben in den
letzten sieben Jahren in der Tat so viel in Bildung und
Forschung investiert wie keine andere Regierung zuvor,
Frau Sitte. Die Ausgaben für Bildung und Forschung
haben wir von 1998 bis zum Jahr 2005 um 37 Prozent
erhöht; das war ein schwieriger Kraftakt. Während
Deutschland bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung 1998, gemessen am Anteil des Bruttoinlandsproduktes, noch im unteren Mittelfeld lag, haben wir es
geschafft, uns auf Platz drei in Europa hinter Finnland
und Schweden vorzuarbeiten. Das ist der richtige Weg.
Wir haben - das ist wirklich von sozialer Bedeutung die Zahl der Studienanfänger um 40 Prozent erhöht.
({3})
Auch haben wir den Studierendenanteil der Kinder aus
Arbeitnehmerfamilien und aus schwächeren, bildungsfernen Schichten, wie es so schön heißt, deutlich erhöht.
Auch beim BAföG kam es zu deutlichen Erhöhungen:
Der Kreis der Studierenden, der BAföG erhält, ist heute
um 45 Prozent größer als noch vor sieben Jahren. Bei allem Konsens in vielen Fragen wird das allerdings einer
der strittigen Punkte bleiben; denn was Studiengebühren anbelangt, haben wir eine deutlich andere Position
als die Unionsfraktion.
({4})
Im Jahr 2004 haben wir den Pakt für Forschung und
Innovation auf den Weg gebracht. Diejenigen, die die
parlamentarischen Abende oder die Forschungseinrichtungen besuchen, wissen, wie wichtig er für die Deutsche Forschungsgemeinschaft oder die Max-Planck-Gesellschaft ist. Gestern haben wir das auch vom
Fraunhofer-Institut gehört. Eine jährliche Erhöhung der
Mittel in Höhe von 3 Prozent für die nächsten Jahre verlässlich zugesagt zu bekommen, das ist eine Art von Forschungspolitik, die hin und wieder durchaus Applaus
verdient, auch von der Opposition. Was mich freut, ist,
dass wir diese Art von Forschungspolitik fortsetzen werden.
Wir haben in Mikrosystemtechnologie, Nanotechnologie und Materialforschung investiert und die Investitionen in die Biotechnologie um 82 Prozent erhöht, sie
also fast verdoppelt, Frau Flach.
({5})
Sie wissen das, versuchen es aber immer zu negieren.
Wir geben aber auch Geld aus für die Geisteswissenschaften, die Konflikt- und Friedensforschung, die Arbeitsforschung, die Gesundheitsforschung und die Frauenförderung. Ich sage Ihnen - auch das ist nicht zu
vernachlässigen -: Den Anteil der Frauen in der Professorenschaft haben wir von 9,5 Prozent auf 14 Prozent
gesteigert; das muss allerdings noch besser werden. Ich
glaube, dazu werden wir in den nächsten Jahren unseren
Beitrag leisten können.
({6})
Wir sehen nicht nur die forschungspolitischen Erfolge
unserer Politik, sondern auch ihre wirtschaftlichen Erfolge. Auch hierzu möchte ich Ihnen einige Aspekte
nennen: Im Jahr 2002 betrug unser Exportüberschuss
allein bei Gütern der Hoch- und Spitzentechnologie
132 Milliarden Euro. Das heißt, Deutschland ist nach
wie vor das Land, das Spitzentechnologie exportiert.
Darauf können wir uns nicht ausruhen, sondern das müssen wir weiter fördern.
({7})
Bei forschungsintensiven Gütern belegen wir mit
einem Weltmarktanteil von 15 Prozent Platz zwei hinter
den USA, bei den weltmarktrelevanten Patenten
Platz zwei hinter Japan. Wir werden diese Liste ausbauen können; denn mittlerweile ist Deutschland ein guter Forschungsstandort.
({8})
Das haben wir auch gestern von den Vertretern des
Fraunhofer-Instituts gehört.
Dank unserer Förderung überlegen sich mittlerweile
amerikanische Unternehmen, zum Beispiel im Raum
Dresden - sicherlich eine interessante Region -, ihre Forschungseinrichtungen und -abteilungen nach Deutschland zu verlegen.
({9})
Das heißt, wir haben es geschafft, Deutschland wieder
zu einem guten Forschungs- und damit auch Wirtschaftsstandort zu machen, was uns in die Lage versetzt,
eine vernünftige Sozialpolitik zu betreiben.
({10})
- Das ist keine alte Rede, sondern das sind immer wieder
gute Fakten.
({11})
Wir verzeichnen nicht nur wirtschaftlichen und forschungspolitischen Erfolg, sondern - das habe ich in den
letzten fünf, sechs Jahren gespürt und das ist anders als
vor zehn Jahren - erleben auch einen Stimmungswandel bei den Menschen, auch bei den Studentinnen und
Studenten. Mein Eindruck ist, dass sie nicht mehr die
Universität mit Diplom verlassen - zum Beispiel als
Physiker, Elektroingenieur oder Maschinenbauer -, ohne
zu wissen, was ihnen die Zukunft bringt. Mein Eindruck
ist vielmehr, dass es ihnen wieder Spaß macht, in
Deutschland zu studieren und zu forschen; das ist nicht
zu unterschätzen. Dazu haben wir beigetragen und das
werden wir auch in Zukunft fortsetzen.
Ein großer, bedeutender deutscher Dichter des
21. Jahrhunderts hat einmal gesagt: Opposition ist
Mist. - Da hat er zweifelsohne Recht. Ich freue mich
deswegen, in dieser Regierungsfraktion und auch in dieser großen Koalition mitarbeiten zu können; denn wir
werden diese wichtige Bildungs- und Forschungspolitik
fortsetzen. Das steht im Koalitionsvertrag und das ist
eine gute Basis: im Sinne des Fortschritts in Deutschland, im Sinne der Menschen und im Sinne unserer Gesellschaft.
Meine Bitte und Aufforderung an Sie ist: Machen Sie
mit! Es ist wirklich eine sinnvolle Sache, wenn wir zusammen die Bildungs- und Forschungspolitik gestalten.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Ilse Aigner von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Neue Koalitionspartner! Frühere
Oppositionsmitstreiter! Sehr geehrte Frau Pieper, Sie haben unserer Ministerin gratuliert und ihr Glück für ihre
neue Aufgabe gewünscht - auch für die künftigen Auf252
gaben, dass alles gut geht - und damit auch der großen
Koalition. Ich finde es toll, dass Sie das mit Ihrer
schwarz-roten Kleidung heute sogar optisch unterstrichen haben; das ist ein sehr gutes Zeichen.
({0})
Das gilt ja auch für Herrn Winkler.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, wenn
es aus den letzten Jahren eine gute Botschaft gibt, dann
ist es die Verankerung der Bedeutung von Bildung und
Wissenschaft und Innovation in den Köpfen der Menschen. Bildung und Forschung sind die Megathemen des
21. Jahrhunderts und Zukunft pur. Sie entscheiden über
unsere Innovationsfähigkeit, unsere Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Welt, über unseren Beitrag zur Lösung der großen Herausforderungen der
Menschheit. Spitzenforschung und die Anwendung von
Wissen sind im 21. Jahrhundert letztendlich die Währung, in der sich der Wohlstand misst. Wir stehen jetzt an
dem Punkt, unsere Erkenntnisse in konkrete Politik und
letztlich in Erfolge umzusetzen. Wir müssen im Zusammenspiel mit Wissenschaft, Wirtschaft und Ländern die
Grundlage schaffen für einen neuen Aufbruch, für die
zweiten Gründerjahre Deutschlands.
Zum Sanieren und Reformieren gehört das Investieren in die Zukunft. Schon das Signal aus den Sondierungsgesprächen der großen Koalition war eindeutig:
Wir wollen bis zum Jahr 2010 das 3-Prozent-Ziel erreichen. Das ist ein starkes Zeichen für die Zukunft.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir geben
diese Zusagen in einem extrem schwierigen Umfeld:
Wir haben eine mehr als dramatische Haushaltslage,
aber wir müssen eben diesen Kraftakt meistern;
Deutschland braucht diesen Aufbruch. Bildungs- und
Forschungspolitik ist Chancenpolitik.
({2})
Ich messe uns daran, welche Chancen wir der jungen
Generation eröffnen.
({3})
Es bedrückt mich wie schon eine Reihe von Vorrednern,
dass Ausbildungsplätze trotz aller Anstrengungen
knapp sind. 17 Prozent der unter 25-Jährigen in Deutschland haben weder eine abgeschlossene Berufsausbildung
noch einen Schulabschluss der Sekundarstufe II. Theorieschwächere Jugendliche finden schon gar keinen Einstieg mehr in das Berufsleben, das heißt, sie starten ins
Leben mit Frustration und Ausgrenzung. Das darf nicht
so bleiben.
({4})
Um unser duales System werden wir überall in der Welt
beneidet. Es hat nach wie vor erhebliches Potenzial - wir
müssen es nur nutzen. Deshalb werden wir den Ausbildungspakt mit Wirtschaft und Gewerkschaften erneuern
und weiterentwickeln. Unser Ziel ist nach wie vor, dass
jeder Jugendliche eine echte Ausbildungsstelle bekommt.
Zum Zweiten werden wir das neue Berufsbildungsgesetz, das wir eben, sehr geehrter Herr Tauss, in vorauseilender großer Koalition beschlossen haben, jetzt
auch umsetzen. Durch die Stufung von Ausbildungsberufen wollen wir die Eintrittsbarriere für bisher Benachteiligte, die eher praktisch als theoretisch begabt sind,
senken.
({5})
Ausbildung darf nicht mehr mit dem Berufsabschluss
oder dem Universitätszeugnis enden. Wissen und Arbeit
gehören über die gesamte Strecke der beruflichen Tätigkeit zusammen. Wir wollen eine Kultur des ständigen
Lernens in unserer Gesellschaft verankern. Dazu gehört
auch die Sicherung des Meister-BAföGs. Auch ältere
Arbeitnehmer, Quereinsteiger und bisher bildungsferne
Schichten müssen zunehmend berücksichtigt werden.
Die Koalition wird das Vermögensbildungsgesetz novellieren und so ein neues Finanzierungsinstrument für das
Bildungssparen etablieren. Wir geben einen starken
Anreiz und ein Signal an Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Im Hochschulbereich wagen wir mit der Föderalismusreform eine Entflechtung: Der Bund wird in Zukunft alleine über Hochschulzugang und -abschlüsse sowie deren Vergleichbarkeit bestimmen.
({6})
Dafür wird das Hochschulrahmengesetz mit seinen Detailregelungen entfallen; wir hoffen, dass das an die
Hochschulen auch entsprechend weitergegeben wird.
Dem Bund bleibt trotzdem noch eine Menge zu tun:
Seine Rolle wird gestärkt bei der Finanzierung von
Großgeräten und Investitionen von überregionaler Bedeutung. Der Exzellenzwettbewerb zeigt bereits erhebliche Wirkungen: 319 Projektanträge haben die Hochschulen gestellt und es herrscht Aufbruchstimmung.
Wenn sich einige unserer Hochschulen in Richtung
internationaler Spitze entwickeln wollen, wenn sie
starke Marken werden wollen mit internationaler Anziehungskraft, brauchen sie ebenso selbstverständlich wie
ihre Konkurrenten in anderen Ländern auch privates
Geld. Hochschulen der Zukunft entscheiden nicht alleine
über die Ausgabe ihrer Geldmittel, sondern werben einen Teil auch selbst ein. Zurzeit fließen jährlich
500 Millionen Euro aus Stiftungen in die Wissenschaft.
({7})
- Viel zu wenig, genau. - Aber das Potenzial dafür ist
längst nicht ausgeschöpft. Uns als Bundespolitikern
stellt sich die Aufgabe, stifterisches Handeln im Bereich
der Wissenschaft zu erleichtern.
({8})
Der Bund zieht sich mit der Föderalismusreform also
nicht aus der Verantwortung zurück, sondern stellt an
den entscheidenden Kreuzungen die Ampeln für die
Hochschulen auf Grün.
Es steht uns gut zu Gesicht, auch die Forschung wieder stärker zu betonen, im Ausschuss und in der Bundesregierung. Dabei kommt es auf folgende Punkte an:
Erstens. Wir brauchen Verlässlichkeit. Der Pakt für
Forschung wird umgesetzt. Forschung braucht Planungssicherheit und Stabilität.
({9})
Das hat auch der diesjährige Nobelpreisträger Professor
Hänsch als absolutes Plus des Wissenschaftsstandortes
Deutschland hervorgehoben. An ihn sende ich von hier
aus ausdrücklich meine Glückwünsche. Deutschland ist
stolz auf ihn. Seiner Ansicht nach fehlt es im Vergleich
zu den USA allerdings an dem freiheitlichen und stimulierenden intellektuellen Reizklima und an der Begeisterung für alles Neue. Wir werden den fehlenden Schuss
Wettbewerb und Freiheit in das deutsche Forschungssystem hineinbringen.
Zweitens. Das Potenzial, das unsere Forschungslandschaft hat, gilt es vollständig auszunutzen. Wir sind auf
einem guten Weg. Forschungseinrichtungen und Hochschulen haben verstanden, dass sie stark sind, wenn sie
ihre Kräfte bündeln. Sie beginnen, das Beste aus ihren
jeweiligen Welten zu kombinieren: den Enthusiasmus
des Nachwuchses aus den Hochschulen mit der guten
Ausstattung der außeruniversitären Forschung. Die
Helmholtz-Gemeinschaft stellte ihre diesjährige Jahrestagung unter das Motto „Helmholtz und die Hochschulen“, gründet virtuelle Institute und richtet Nachwuchsgruppen ein. Die Max-Planck-Gesellschaft ist in
derselben Richtung unterwegs, 70 der 78 Institute sind
bei den Anträgen zur Exzellenzinitiative beteiligt. Alle
Professoren der Leibniz-Gemeinschaft lehren gleichzeitig an Hochschulen.
Drittens. Wir machen eine Innovationspolitik aus einem Guss. Förderung von Grundlagenforschung, angewandter Forschung und entsprechende Rahmenbedingungen gehören zusammen. Die Koalition hat sich zu
innovationsfreundlichem Handeln in Gänze verpflichtet. Wenn sich in Zukunft nicht nur die Forschungsministerin für Innovationen zuständig fühlt, sondern sich
auch Umwelt- und Wirtschaftsminister ausdrücklich die
Förderung der Technologie auf die Fahnen schreiben,
dann sind wir auf einem guten Weg.
({10})
Zu Bildung, Wissenschaft und Innovation gab es noch
von keiner Bundesregierung und keiner Koalition zuvor
ein so starkes und in allen Teilen untermauertes Bekenntnis. Wir wollen den Rahmen schaffen für das, was
wirklich zählt: Chancen für die junge Generation, herausragende Wissenschaft und Innovationskraft für unser Land.
Ich möchte schließen mit einem Zitat von Albert
Einstein:
Politik ist schwieriger als Physik.
Wir wissen, dass unsere Aufgabe nicht einfach ist, aber
wir haben den festen Willen, sie zu lösen.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Ernst Dieter
Rossmann von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundeskanzlerin hat ihre Rede gestern damit eingeleitet,
dass sie sich manches so nicht hatte vorstellen können.
Wie ich glaube, geht das vielen von uns so. Für uns Sozialdemokraten will ich aber ausdrücklich sagen: Wir
haben uns manches immer gewünscht. Wir haben uns
zum Beispiel gewünscht - nicht weil wir das bräuchten,
sondern weil es ein gutes Zeichen für eine gute Politik
ist -, für das, was wir bisher im Bereich Bildung und
Forschung geleistet haben, Anerkennung auch von der
anderen großen Volkspartei zu bekommen. Das ist dann
übrigens auch ein Kompliment an die Grünen. Wir können nicht so schlecht regiert haben, wenn der erreichte
Stand nun weiterentwickelt werden soll.
({0})
Wir als Bildungs- und Forschungspolitiker sind dann
stark - damit möchte ich aufgreifen, was Frau Dr. Sitte,
aber auch andere Redner gesagt haben -, wenn wir mit
anderen Politikbereichen und durch diese hindurch wirken können. Deshalb ist der Hinweis richtig, dass
Deutschland in der Innovationspolitik gut ist, wenn
diese nicht nur aus dem Forschungsbereich heraus verstanden wird, sondern auch aus dem Wirtschaftsbereich
und dem sozialpolitischen Bereich.
Es ist auch richtig, dass wir bei uns nicht nur Wirtschaft auf höchstem Niveau haben, sondern auch sozialen Frieden möglich machen, wenn wir anerkennen
- damit nehme ich die Einwände von Frau Dr. Sitte auf -,
dass mangelnde Bildung und Armut in einem Zusammenhang stehen. Das muss man aussprechen können.
Das muss man mit im Blick haben.
({1})
Wir sind dankbar dafür, dass die Bundeskanzlerin
ausdrücklich folgende Leitlinie dargestellt hat - ich
komme damit auf ihre Rede zurück -: Die Herkunft darf
nicht über die Zukunft entscheiden. Ich denke, darin ist
sich das ganze Haus einig.
({2})
Wir müssen uns vorsichtig daran herantasten, was
diese neue Regierungskonstellation eigentlich in die Gesellschaft hinein vermitteln kann. Diese Botschaft bekommt jedenfalls eine Tragfähigkeit durch alle Aufga254
ben und Felder der Bildungspolitik hindurch. Für uns
heißt das übersetzt: Es gibt für alle ein Recht auf Bildung und optimale Förderung vor der Schule und in
der Schule. Für uns heißt das auch, dass es für alle ein
Recht auf Ausbildung, Studium und Durchlässigkeit in
der Bildung und ein Recht auf Weiterbildung gibt.
({3})
Dazu möchte ich einige Anmerkungen machen. Frau
Dr. Schavan, es geht mir zunächst um das Recht auf Bildung vor der Schule und in der Schule. Bei diesem Punkt
haben Sie schon früh darauf hingewiesen, wie wichtig
das ist, was vor der Schule passiert, und zwar nicht nur
unter dem Gesichtspunkt der Betreuung, sondern auch
unter dem Gesichtspunkt der optimalen Förderung. Wir
müssen das in das einbinden, was mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz als zusätzliche gemeinschaftliche
Chance einer frühen Förderung von Kindern gegeben ist.
Eines will ich hier ausdrücklich ansprechen: Viele
Kinder mit einem Migrationshintergrund kommen zu
uns und bringen vieles mit - eben auch Qualität. Sie
müssen aber auch die Chance bekommen, optimal gefördert zu werden. Das ist nicht nur ein Migrationsphänomen, sondern auch ein Phänomen des sozialen Zusammenhalts in anderen Milieus unserer Gesellschaft.
({4})
Dies müssen wir mit in den Mittelpunkt stellen; denn wir
halten es für wichtig, dass die Herkunft nicht über die
Zukunft entscheiden soll. Das soll weiterhin die Leitlinie
unserer Politik sein.
Frau Sager, ich will gar nicht anstehen, zu sagen: Die
größte Ehrung für die Grünen, die es jetzt geben kann,
ist, zu sagen, dass Sie eben viele gute Argumente genannt haben. Es geht nämlich darum, dass es auch eine
Gemeinschaftsverpflichtung ist. Vielleicht gibt es ja
noch mal ein Nachdenken darüber, ob modernes Regieren wirklich heißen muss, dass man das Angebotsprinzip
ausschließt, wenn man die Subsidiarität akzeptieren beziehungsweise das Subsidiaritätsprinzip anerkennen
will. Vielleicht gibt es ja noch die Möglichkeit, zumindest über das Angebotsprinzip nachzudenken, sodass
sich der moderne Staat in Zukunft auch gegenüber anderen Ebenen angebotsfähig halten kann, damit er in der
Lage ist, sie zu unterstützen.
({5})
Diese etwas außerhalb des Vertrages liegende, aber
nachdenkenswerte Bemerkung wollte ich mir erlauben.
In Bezug auf das Recht auf Ausbildung und Studium und die Durchlässigkeit in der Bildung haben
wir ein Bekenntnis zur dualen Ausbildung. Aber große
Koalitionen ermöglichen es ja auch, manches offener zu
sehen. Die duale Ausbildung ist gut, doch faktisch haben wir schon einen Dualismus in der Ausbildung. Es
gibt die duale Ausbildung und es gibt auch die schulische Ausbildung.
({6})
- Sie sagen „leider“. Deshalb ist es gut, dass der Pakt
für Ausbildung neu begründet wird und dass auch dort
eine Offenheit im Denken entstanden ist, die wir für bemerkenswert halten.
Franz Müntefering hat bereits bei anderer Gelegenheit darauf hingewiesen: Dass eine CDU Mindestlöhne
nicht nur in den Mund nimmt, sondern sie sich auch vorstellen kann, ist genauso bemerkenswert wie branchenbezogene Umlagefonds, wenn die Tarifpartner das wollen. Auch das steht im Koalitionsvertrag und auch das
finden wir gut.
({7})
Wir wissen noch, wie manchmal über das hergezogen
worden ist, was sich bei der IG BAU, den Arbeitgebern
und anderswo ergeben hat. Wir freuen uns also darüber.
Wir sehen darin auch Chancen, dass das zukünftig neue
Horizonte eröffnet, zumal der bisherige Pakt eben nicht
unter Einschluss der Gewerkschaften beschlossen worden ist. Diese Qualität wollen wir gerne hinzugewinnen.
Ein ganz wichtiger Punkt ist auch die zweite Chance
für Jugendliche und Erwachsene ohne Ausbildung.
Die Berufsausbildung muss Basis dafür sein, dass man
in die Fachhochschulen und Universitäten durchsteigen
kann. Das ist von großer Bedeutung. Frau Dr. Schavan,
insofern haben wir die Bitte und die Erwartung, dass die
Fragen der beruflichen Bildung, die sehr viele junge
Menschen berühren, genauso ernst genommen werden
wie die Fragen der hochschulischen Bildung; denn beides gehört unmittelbar zusammen.
({8})
Der nächste Punkt bezieht sich auf das lebenslange
Lernen. Frau Aigner, dankenswerterweise haben Sie bereits die ganz konkreten Punkte positiv angesprochen.
Wir haben auch früher schon darum gerungen und mit
dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz zwischendurch bereits manches auf den Weg gebracht.
Das führt mich zu einem letzten Gedanken, nämlich
zu der Frage, ob diese große Koalition - man darf es
nicht übertreiben, wenn man am Anfang steht - nicht
durchaus eine Raison d’Etre hat, die speziell auch in Bezug auf die Weiterbildung eine Bedeutung bekommen
kann. Raison d’Etre kann sein, dass es eben nicht nur um
einen politischen Pakt geht, sondern man muss auch einen gesellschaftlichen Pakt schließen, einen Pakt, durch
den wir Vertrauen gewinnen und in dem man die Interessen, die mehr in der Wirtschaft, und die, die in der Arbeitnehmerschaft begründet liegen, zusammenbringt.
Wenn genau dies gelingt, dann kann auch Weiterbildung
eine Vision für die Zukunft sein, die nicht nur den demographischen Faktor, nicht nur Menschen mit einem Renteneintrittsalter von 67 Jahren - dafür benötigt man zur
Weiterbildung qualifizierte Menschen -, einschließt,
sondern die Weiterbildung als ein Grundprinzip, das sich
in einer innovativen Gesellschaft wiederfindet, abbildet.
({9})
Ich habe mich über die heutige Ausgabe der „Zeit“
gefreut, weil auf der ersten Seite eine Polemik von Herrn
Greiner zu finden ist, worin er sich gegen diejenigen
wendet, die sich sehr stark als „blinde Eliten“ in Unternehmen, Wissenschaftseinrichtungen und anderswo erweisen. Von ihnen fordert er ein, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Nach dieser Mahnung auf
der ersten Seite findet sich auf der zehnten Seite die Information, dass sich der Zentralverband des Deutschen
Handwerkes und die Gewerkschaften gemeinsam überlegen, zu einem nationalen Bildungspakt zusammenzukommen.
Dieser Unterschied zwischen der ersten und der zehnten Seite beschreibt auch das, was für diese große Koalition eine Chance sein kann, nämlich ein neuer Gesellschaftsvertrag, aus dem hervorgeht, dass Bildung eine
Grundessenz ist, die unsere Gesellschaft den Menschen,
egal wo sie stehen und wie sie sich entwickeln, anbieten
können muss.
Danke schön.
({10})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich
liegen nicht vor.
Ich rufe nun den Themenbereich Gesundheit auf.
Außerdem rufe ich die Tagesordnungspunkte 6 a und
6 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den
Ausgleich von Arbeitgeberaufwendungen und
zur Änderung weiterer Gesetze
- Drucksache 16/39 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über den Arbeitgeberausgleich bei Fortzahlung des Arbeitsentgelts
im Fall von Krankheit und Mutterschaft
({1})
- Drucksache 16/46 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Als erste Rednerin hat das Wort die Bundesministerin
Ulla Schmidt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
den vergangenen Tagen ist oft davon gesprochen worden, dass im Bereich Gesundheit kein großer Wurf zustande gekommen sei. Eines ist richtig: Wir haben uns in
der Kürze der Zeit nicht auf ein neues Finanzierungssystem, eine nachhaltige Finanzierung einigen können;
denn die beiden Konzepte der großen Parteien - auf der
einen Seite die Gesundheitsprämie, auf der anderen
Seite die Bürgerversicherung - sind nicht so ohne weiteres zusammenzuführen. Keiner der beiden Partner
wollte auf sein Modell verzichten.
Eines aber haben wir festgelegt: Wir werden im
nächsten halben Jahr ein Gesamtkonzept vorlegen, das
allen Ansprüchen an eine gerechte, solidarische und
nachhaltige Finanzierung entspricht. Wir werden dies
tun, ohne dass sich auf der einen Seite das Modell der
Gesundheitsprämie oder auf der anderen Seite das der
Bürgerversicherung in Reinform durchsetzt. Vielmehr
werden wir uns um eine Einigung bemühen. Ich bin davon überzeugt: Weil wir gezwungen sind, zu einer Lösung zu kommen, werden wir gemeinsam ein Konzept
vorlegen, das nicht nur kurzfristig die Finanzierungsprobleme des Gesundheitswesens angeht, sondern mit dem
wir eine nachhaltige, solidarische Finanzierung im Gesundheitswesen erreichen werden, die auch für die Zukunft die Finanzbasis der gesetzlichen Krankenversicherung stabilisiert.
({0})
Dieses Konzept sieht - da kann ich so manchen beruhigen, der sich schon Sorgen machte - keine Abschaffung der privaten Krankenversicherung vor. Es wird
keine Einheitsversicherung geben. Ich darf hier vielleicht verraten: Das war auch gar nicht Teil des Konzepts
der Bürgerversicherung der SPD, sondern dieses Konzept beruht darauf, dass wir einen wirklich fairen Wettbewerb im Gesundheitswesen organisieren wollen, in
dem private und gesetzliche Krankenkassen nebeneinander Bestand haben, dass aber auch den Bürgerinnen und
Bürgern eine verlässliche Finanzierung gesichert wird.
Deshalb wäre es gut, wenn wir ab heute auf die Debatte über dieses Thema verzichten. Darum geht es
nicht.
({1})
Es geht darum: Wie können wir ein hocheffizientes und
wettbewerbsorientiertes Gesamtsystem, das Leistung
und Wettbewerb mit Gerechtigkeit verbindet, ein Gesundheitssystem, das weltweit als eines der besten gilt,
aber reformbedürftig ist, weiterentwickeln, und zwar mit
dem Ziel, dass Menschen, die in Deutschland erkranken,
ohne Ansehen ihres Einkommens, Alters oder Geschlechts die bestmögliche Versorgung auf der Höhe des
medizinischen Fortschritts erhalten?
({2})
Das ist unser Ziel und ich bin davon überzeugt, dass wir
es gemeinsam erreichen werden.
Der Koalitionsvertrag bietet viele neue Aufgabenbereiche und Arbeitsgrundlagen. Wir setzen dabei an, die
Strukturen zu verändern, und zwar so, dass langfristig jeder Euro, der in dieses System fließt, zielgenau an der
Stelle eingesetzt wird, wo es für die Menschen den größten Nutzen bringt. Dies ist die Grundvoraussetzung dafür, dass eine Reform der Finanzierung auf Dauer nachhaltig wirken kann.
Im Koalitionsvertrag ist vieles enthalten, das den
Menschen direkt - im Vorgriff auf die große Reform, die
wir durchführen wollen - und spürbar Nutzen bringt. So
haben wir im Koalitionsvertrag beschlossen - das erwähne ich nicht nur deshalb, weil heute Weltaidstag
ist -, die Strategie der Bundesregierung zur Bekämpfung von HIV/Aids bundesweit wie auch auf internationaler Ebene weiter auszubauen. Wir wollen die Verbindung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen
Organisationen, die Stärkung der Prävention und die
Forschungsinvestitionen fördern, um Heilungschancen
zu verbessern oder einen Impfstoff zu entwickeln. Das
wollen wir in Kooperation mit unseren europäischen
bzw. internationalen Partnern weiter fortsetzen.
Wir sind uns einig, dass wir auf europäischer Ebene
dafür sorgen wollen, dass das Thema Aids in Europa
- das beziehe ich auch auf Osteuropa - auf die Tagesordnung der Regierungschefs kommt, damit die in Afrika
begangenen Fehler nicht in Osteuropa oder Mittelasien
wiederholt werden.
({3})
Des Weiteren wollen wir die palliativmedizinische
Versorgung von schwerkranken oder todkranken Menschen, die starke Schmerzen erleiden, wohnortnah aufbauen. Wir wollen in diesem Bereich Investitionen vornehmen, um mit den so genannten Palliativ-Care-Teams
sicherzustellen, dass an allen Orten, wo Menschen diese
Hilfe brauchen, entsprechende Kräfte zur Verfügung stehen. Wir wollen damit eine humane Antwort auf die
Forderung nach Legalisierung der aktiven Sterbehilfe geben. Wir wollen, dass schwerkranke Menschen
keine Angst haben müssen, nicht in Würde sterben zu
können, und dass alles getan wird, damit sie ihre letzten
Lebenstage so schmerzfrei wie möglich verbringen können. Das ist unsere humane Antwort auf die Diskussion
um die aktive Sterbehilfe. Wir werden alles tun, um dieses Vorhaben so schnell wie möglich auf den Weg zu
bringen.
({4})
Wir wollen die Versorgung chronisch kranker
Menschen verbessern. Wir werden in die Versorgungsteams auch die Qualifikation und die Erfahrungen der nichtärztlichen Berufe stärker einbeziehen. In
diesem Bereich wird derzeit vieles an Qualifikation und
Wissen nicht in dem Maße in die medizinische Versorgung einbezogen, wie es notwendig und auch möglich
wäre. Dies werden wir angehen. Vor allem für ältere
Menschen mit Multimorbidität hängt eine gute medizinische Versorgung davon ab, dass entsprechende Angebote
vor Ort zur Verfügung stehen.
Wir werden auch Antworten darauf geben, dass es
Menschen gibt, die keinen Versicherungsschutz haben.
Wir sind als Koalition der Auffassung, dass ein moderner Sozialstaat nicht zulassen darf, dass ein Mensch
ohne Versicherungsschutz bleibt.
({5})
Deshalb werden wir dafür sorgen, dass dies in Zukunft
nicht mehr vorkommt. Wir wollen den Menschen, die ihren Versicherungsschutz auf manchmal sehr tragische
Weise verloren haben - sicherlich kennen auch Sie einen
solchen Fall -, ein Recht auf Rückkehr in ihre jeweilige
Krankenkasse ermöglichen, damit sie wieder versichert
sind.
({6})
Wir sind der Meinung, dass Krankenkassen zwar Inkassoverfahren einleiten sollten, dass Menschen aber nicht
ohne Versicherungsschutz bleiben dürfen. Auch dieses
Problem werden wir direkt angehen.
({7})
Darüber hinaus werden wir den Wettbewerb fördern
und vieles von dem umsetzen, was wir vor zwei Jahren
noch nicht machen konnten. Wir werden auf diesem
Weg aber weitergehen. Wir werden die integrierte Versorgung fördern und für mehr Möglichkeiten der
Vertragsgestaltung im direkten Verhältnis zwischen
Krankenkassen und Ärzten sorgen. Wir wollen kassenartenübergreifende Fusionen ermöglichen, ohne dass es zu
Monopolstellungen kommt. Wir glauben, dort, wo es
sinnvoll ist, sollten sich unterschiedliche Krankenkassen
und ihre Vorstände zusammentun und gemeinsam für die
Organisation einer guten medizinischen Versorgung sorgen. Wir wollen nicht - das ist auch für die Menschen in
den neuen Bundesländern entscheidend -, dass es Regionen in Deutschland gibt, in denen eine ausreichende medizinische Versorgung nicht mehr gewährleistet ist.
({8})
- Es nutzt nichts, wenn Sie schreien, Herr Kollege
Seifert. Wir handeln. Das ist der Unterschied.
Wir wollen nicht, dass das so bleibt. Deshalb werden
wir das gesamte Vertragsarztrecht, das heute noch ein
Hemmschuh ist, liberalisieren. Wir wollen, dass Ärzte,
die in Krankenhäusern tätig sind, zusätzlich eine Praxis
eröffnen können.
({9})
Wir wollen, dass Ärzte in ihrer Praxis andere Ärzte anstellen können. Beispielsweise könnten Ärzte aus Berlin
eine Praxis in Brandenburg eröffnen und dort Kollegen
anstellen. Wir wollen hier für mehr Möglichkeiten sorgen, weil wir der Meinung sind, dass wir nur damit den
neuen Herausforderungen gerecht werden. Wir werden
außerdem den Bundesländern das Recht einräumen, von
dem ausgewogenen statistischen Verhältnis in den Zulassungsgebieten abzuweichen, damit sie in medizinisch
gut versorgten Regionen entsprechende Maßnahmen
treffen können. Wir hoffen, dass dies ein Beitrag ist, um
nach vorne zu kommen.
Lassen Sie mich noch einen letzten Satz zu etwas, das
mir wichtig ist, sagen - ich weiß, dass meine Kollegin
bereit ist, mir noch eine Minute zu geben -, bevor meine
Zeit abgelaufen ist.
({10})
Wir werden das ärztliche Honorarsystem neu ordnen.
Darüber ist schon viel diskutiert worden. Niemand hat
behauptet, dass die Gebührenordnung der Ärzte auf das
Niveau der gesetzlichen Krankenversicherung reduziert
werden soll. Aber das heutige Honorarsystem ist in vielfacher Hinsicht ungerecht; denn ob ein Arzt bei der Honorarverteilung gut oder schlecht dasteht, hängt davon
ab, zu welchem Fachbereich bzw. zu welcher KV er gehört. Des Weiteren muss ein Arzt für die schlechte Arbeit seiner Kollegen mithaften, auch wenn er selber wirtschaftlich arbeitet und vernünftig agiert. Außerdem ist es
ungerecht, wenn ein Arzt eine Leistung erbringt und
nicht weiß, wie viel er dafür erhält. Damit wollen wir
Schluss machen; denn wir sind der Meinung, dass auch
ein Arzt Anspruch darauf hat, zu wissen, wie viel eine
medizinische Leistung wert ist. Nur so kann er seine Praxis entsprechend organisieren.
Wir wollen mit der Neuordnung des Honorarsystems
ebenfalls verhindern - das ist entscheidend -, dass ein
gesetzlich Versicherter keinen Termin bekommt, weil
das Budget vorzeitig aufgebraucht ist, und im Vergleich
zu anderen Versicherten benachteiligt wird. Wir wollen
hier zu vernünftigen Regelungen kommen. Wir schätzen
es sehr, dass 90 Prozent der Menschen in die gesetzliche
Krankenversicherung einzahlen, und zwar oft hohe Beiträge. Wir verstehen daher die Empörung eines gesetzlich Krankenversicherten darüber, dass er, der - auch als
Gesunder - ständig hohe Beiträge in das System eingezahlt hat, größere Schwierigkeiten hat, einen Termin zu
bekommen, oder andere Untersuchungsmethoden akzeptieren muss, wenn er krank ist, als diejenigen, die sich
schon in jungen Jahren privat versichert haben, vielleicht
120 Euro Monatsbeitrag zahlen und bevorzugt behandelt
werden. Wir wollen das nicht. Wir werden gemeinsam
die Kraft haben, entsprechende Änderungen auf den
Weg zu bringen.
Eines ist klar: Wer denn sonst, wenn nicht eine große
Koalition, sollte die Kraft haben, das Gesundheitswesen
effizient und gerecht zu gestalten? Ich bin mir sicher,
dass wir diese Kraft haben.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Daniel Bahr von der FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Ministerin Ulla Schmidt, die Ankündigung, die Aidskampagne am Weltaidstag aufzufrischen, findet die volle
Unterstützung der FDP-Fraktion. Wir finden, das ist ein
gutes Signal heute am Weltaidstag; denn wir wissen,
dass immer mehr junge Menschen die Gefahren von
HIV und Aidsinfektion unterschätzen. Insofern haben
Sie hier die volle Unterstützung der liberalen Oppositionsfraktion. Ich bin auf konkrete Vorschläge in den
nächsten Wochen gespannt.
({0})
Jede Regierung verdient eine 100-Tage-Frist.
({1})
Erst dann lässt sich wirklich beurteilen, wie sie arbeitet.
In der Gesundheitspolitik fällt das aber ziemlich schwer;
denn da ist überhaupt noch keine Richtung zu erkennen.
Die Mannschaft ist in See gestochen, ohne zu wissen,
welchen Hafen sie erreichen will. Der Kurs soll nun auf
offener See diskutiert werden. Es rächt sich für die
Union, dass wichtige Kursentscheidungen noch nicht getroffen worden sind. Die Ministerin steht nämlich am
Steuer und schon kleine Kursfestlegungen können über
eine unumkehrbare Richtung entscheiden.
({2})
Es ist ein Fehler, erst im nächsten Jahr über eine Strukturreform zu debattieren. Um im Bild zu bleiben: Die
See wird stürmisch sein, wenn Union und SPD über den
Kurs debattieren. 2006 wird der Druck auf den Beitragssatz enorm sein, sodass vermutlich wieder nur kurzfristige Maßnahmen vereinbart werden. Die Gesundheitspolitik ist die Sollbruchstelle für diese große Koalition.
({3})
Das Ziel der Koalitionsvereinbarung, die Lohnzusatzkosten zu senken, unterstützt die FDP voll und ganz, wie
auch andere Ziele, die in der Koalitionsvereinbarung stehen. Daran werden wir die große Koalition messen. Es
ist nicht so, dass wir zum ersten Mal eine große Koalition in der Gesundheitspolitik haben. Es ist gerade einmal zwei Jahre her, dass eine große Koalition mit den
Grünen eine Jahrhundertreform in der Gesundheitspolitik beschlossen hat.
({4})
Wir sehen heute, dass die ganzen hehren Beitragssatzversprechen bei weitem nicht eingehalten worden sind.
({5})
In der Gesundheitspolitik hätte als erster Schritt der
Arbeitgeberbeitrag festgeschrieben werden müssen. Damit hätten wir die Gesundheitskosten vom Lohn entkoppelt. Leistungen wie Krankengeld und Zahnersatz hätten
Daniel Bahr ({6})
konsequent ausgegliedert werden müssen, um finanziellen Spielraum zu bekommen. Ich weiß, das sind unbequeme Botschaften. Das alles haben Sie nicht geschafft.
({7})
Sie haben die falschen Signale auf dem Arbeitsmarkt gesetzt.
({8})
Stattdessen, Frau Schmidt, haben Sie weitere Belastungen für die gesetzliche Krankenversicherung beschlossen. Der Wegfall des Bundeszuschusses entspricht übrigens fast einem halben Beitragssatzpunkt und die
Mehrwertsteuererhöhung, die auch für Arzneimittel gelten soll, belastet die gesetzliche Krankenversicherung
mit 900 Millionen Euro. Ich erwarte vor diesem Hintergrund im nächsten Jahr eine ernsthafte Debatte über Beitragserhöhungen. Ihre bisherigen Vorschläge erhöhen
den Krankenversicherungsbeitrag, statt ihn, was Ihr eigentliches Ziel ist, zu senken. Sie werden Ihren eigenen
Zielen nicht gerecht.
({9})
Ich frage mich, warum wir eigentlich in den letzten
Jahren die grundlegenden Debatten über Kopfpauschale,
Bürgerversicherung und das liberale Versicherungsmodell geführt haben. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt und
die Altersentwicklung in Deutschland zwingen uns doch
zu nachhaltigem Handeln. Die FDP hat hierfür Vorschläge für einen Systemwechsel gemacht. Wir wollen
eine Pflicht zur Versicherung bei einem Versicherer
freier Wahl.
({10})
Wir brauchen den Aufbau von Altersrückstellungen, um
die Altersentwicklung zu bewältigen. Wir wollen Freiheit, Eigenverantwortung und Wettbewerb stärken.
({11})
Freie Therapie- und Arztwahl sind für uns hohe Güter.
Der mündige Patient ist unser Leitbild. Die Gesundheitsministerin hingegen geht stur den Weg in die Bürgerversicherung. Die Angleichung von Honoraren
({12})
bei gesetzlich und privat Versicherten - das stand in dem
Interview; Frau Schmidt, lesen Sie doch noch einmal das
Interview in der „Berliner Zeitung“ - wird eine Mangelverwaltung fortsetzen. Ursache ist die Kostendämpfungspolitik und Budgetierung der letzten Jahre.
({13})
Da helfen auch keine weiteren Neidkampagnen. Frau
Schmidt, machen Sie doch nicht glauben, dass die gesetzlich Versicherten besser behandelt würden, wenn die
Privatpatienten weniger zahlen.
Es ist ein irriger Glaube, Qualität durch immer mehr
staatliche Vorgaben und staatlichen Einfluss quasi zu
verordnen. Das ist der falsche Weg. Wir setzen auf Einsicht und Leistungsbereitschaft.
({14})
Wer Wettbewerb will, muss Unterschiede zulassen. Das
Ziel von Wettbewerb kann doch nicht die Gleichmacherei sein. Dann funktioniert Wettbewerb nicht, sondern
führt zu Ineffizienz. Ihre Vorschläge, Frau Ministerin,
führen zur Bürgerversicherung durch die Hintertür.
Wenn die Union zwei Tage braucht, um auf die Ankündigung in Ihrem Interview zu reagieren und anscheinend
erst einmal die Koalitionsvereinbarung zu lesen, dann
dauert das zu lange. Wenn Sie das Motto der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin von gestern „Mehr
Freiheit wagen“ ernst nehmen wollen - dazu ist gerade
die CDU/CSU meiner Meinung nach verpflichtet -,
dann sollten Sie in der Gesundheitspolitik endlich aufwachen und aktiv werden und diese Gesundheitsministerin in die Schranken weisen. An einem nachhaltigen
Vorschlag zur Lösung der Probleme in der Gesundheitspolitik wird sich die FDP beteiligen. Gegen Vorschläge,
die nur auf eine kurzfristige Kostendämpfung abzielen,
wird sich die FDP stellen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Zöller von der
CDU/CSU-Fraktion.
Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kollege Bahr, ich möchte einen Altkanzler zitieren: Wichtig ist nicht das, was in den Zeitungen
steht, sondern das, was hinten herauskommt.
({0})
Vielleicht könnten wir uns daran halten. Sie können sich
darauf verlassen, dass dabei etwas Vernünftiges herauskommt.
Das deutsche Gesundheitswesen ist in den letzten
Monaten ganz besonders in den Mittelpunkt der sozialpolitischen Diskussion gerückt. Ich glaube, es ist ganz
gut, wenn wir zu Beginn einer Legislaturperiode einmal
kurz innehalten und uns Klarheit darüber verschaffen,
wo wir mit unserem Gesundheitssystem stehen und wo
Probleme liegen. Dieses Thema ist bestimmt nicht neu.
Aber lassen Sie mich gerade aus diesem Grund mit einem Zitat beginnen:
Das Grundgesetz geht von dem freiheitlichen,
selbstverantwortlichen Individuum aus; in der Realität aber versperrt der Gesetzgeber durch dauernd
steigende soziale Belastungen dem einzelnen Beschäftigten nicht nur die Möglichkeit, sondern auch
den Antrieb zur individuellen Vorsorge.
Diese Aussage stammt vom ersten Sozialminister einer
großen Koalition, von Herrn Katzer. Er hat das 1967 gesagt.
({1})
Wenn wir unser Handeln danach ausrichten, dann können wir etwas Sinnvolles tun und etwas bewegen.
Diese Aussage zeigt auch, dass unser Sozialsystem
bisher wie ein chronisch Kranker war. Wir werden jetzt
handeln, damit diese chronische Krankheit behandelt
werden kann. Über die Tatsache, dass wir es seit vielen
Jahren mit einer Finanzierungskrise in der gesetzlichen Krankenversicherung zu tun haben, besteht
Konsens. Es besteht aber auch darüber Konsens, dass
eine nachhaltige Finanzierung nur dann möglich ist,
wenn wir die Gesundheitsleistungen nicht mehr allein
über die Arbeitskosten finanzieren.
Über die Diagnose sind wir uns jetzt eigentlich einig.
Das ist schon ein Wert an sich. Wir werden uns in den
nächsten Monaten über eine geeignete Therapie unterhalten und eine gemeinsame Lösung finden. Ich bin da
sehr zuversichtlich. Eines ist klar: Wenn wir es als große
Koalition nicht schaffen, dieses Problem zu lösen, dann
wird unser Gesundheitssystem dauerhaft Schaden nehmen.
Noch haben wir es in Deutschland nicht mit einer
Krise bei der Versorgung kranker Menschen zu tun.
({2})
Aber wir dürfen die Anzeichen des Ärztemangels in bestimmten Bereichen nicht unterschätzen. Dieses Problem tritt ganz besonders in den neuen Ländern zutage.
Ich glaube, wir haben gerade in der Koalitionsvereinbarung sinnvolle Vorschläge gemacht, wie dieses Problem
effektiv gelöst werden kann. Für die Menschen hat nämlich der Erhalt der Sicherheit der medizinischen Versorgung höchste Priorität. Diejenigen, die im Gesundheitsbereich in verschiedenen Berufen, insbesondere als
Mediziner oder als Pflegekräfte, tagtäglich einen sehr
kompetenten und in vielen Bereichen auch sehr humanen Dienst für kranke Menschen leisten, sind nicht die
Verursacher der Probleme im deutschen Gesundheitswesen.
Sicher ist auch dort nicht alles perfekt. Überall dort,
wo Menschen arbeiten, sind auch Fehler nicht ganz zu
vermeiden. Aber hier liegt nicht das Kernproblem.
Ich halte es für einen großen Erfolg der Koalitionsvereinbarungen, dass wir uns auch darauf verständigt haben, die freie Arztwahl, die freie Krankenhauswahl und
die freie Krankenkassenwahl der Bürger in Deutschland
zu erhalten. Die Stärkung der Wahlfreiheiten und die
Stärkung der Entscheidungsrechte der Bürger ist für uns
eine entscheidende Voraussetzung für mehr Qualität und
auch für mehr Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen.
({3})
Denn Qualität und Effizienz kann man nicht mit Planwirtschaft, sondern nur mit Wettbewerb und freier Arztwahl erhalten.
({4})
Dabei werden wir sicherstellen, dass bei einer wettbewerblichen Orientierung der gesetzlichen Krankenversicherung alle Teilnehmer grundsätzlich gleichen Rahmenbedingungen unterliegen. Damit ist aber nicht
gemeint, dass alle Leistungserbringer unabhängig von
ihrer Qualifikation, ihrem Leistungsangebot oder dem
Versicherungsumfang der Patienten eine einheitliche
Vergütung erhalten. Wer Einheitsvergütungen möchte,
der ebnet den Weg zu einer Einheitsmedizin. Dann wird
die Versorgung aller Versicherten nicht besser.
({5})
Dies konnte man vor Jahren in der ehemaligen DDR
leidvoll erfahren und in Großbritannien ist man leider
auch in diese Richtung unterwegs.
Von der einen oder anderen Seite wird behauptet, dass
wir in Deutschland eine Zweiklassenmedizin und längere Wartezeiten für gesetzlich Krankenversicherte haben. Ich möchte doch darum bitten, dass wir an die Ursache gehen. Die Ursache liegt nicht darin, dass privat
Versicherte überzogene Honorarforderungen bedienen
müssen; die Ursache liegt woanders, nämlich darin: Solange die Ärzte in Deutschland für die Versorgung gesetzlich Krankenversicherter ständig sinkende Honorare
erhalten und immer nur unter den Vorgaben des Budgets
agieren müssen, werden sie planbare medizinische Eingriffe von einem Quartal ins andere Quartal verschieben.
({6})
Dies ist sicherlich nicht schön und nicht gewollt, aber es
ist Konsequenz unseres Vergütungssystems.
Deshalb bin ich froh darüber, dass wir darangehen,
die Budgets aufzuheben. Dann wird es wieder eine mehr
patientenorientierte Versorgung geben können.
({7})
Auch Folgendes gehört einmal in der Öffentlichkeit
gesagt: Ich zumindest kenne keinen Arzt - Sie werden
ähnliche Erfahrungen haben -, der eine notwendige
Operation bei einem privat Versicherten anders durchführt als bei einem gesetzlich Krankenversicherten.
Wir brauchen auch weiterhin den Wettbewerb zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung.
Wir sind zurzeit auf die zusätzlichen Honorarzahlungen
der privaten Versicherungen angewiesen - so ist unser
System angelegt -; ohne diese Gelder haben die Leistungserbringer keine ausreichende Planungssicherheit.
({8})
Man sieht das ganz besonders in den neuen Ländern. Investitionen in moderne Medizintechnik oder in qualifiziertes Personal würden mehr oder weniger unterbleiben. Letztlich werden sich viele deutsche Ärzte dann
auch überlegen, ob sie sich noch in Deutschland niederlassen.
({9})
Wer Ärzten für ihre schwierige und verantwortungsvolle
Arbeit die dafür angemessene Honorierung verweigert,
schadet letztlich der medizinischen Versorgung unserer
Bevölkerung.
({10})
Wir werden deshalb - auch darüber sind wir uns
einig - die ärztliche Honorierung leistungsgerechter gestalten. Ärzte werden künftig für Qualität und nicht mehr
nur für Ausweitung der Menge honoriert. Das wird zu
einer wesentlich besseren medizinischen Versorgung
führen. Es wird also die Qualität und nicht die Menge finanziert.
({11})
Ärzte sollen sich wieder mehr auf die Versorgung ihrer
Patienten konzentrieren können und sich nicht ständig
mit Richtlinien und Bürokratie beschäftigen müssen.
Dies ist auch eine Voraussetzung für mehr Motivation
und Leistungsbereitschaft der Mediziner.
({12})
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch etwas zur
aktuellen Protestsituation an den Krankenhäusern sagen. Es reicht schon, glaube ich, wenn wir die Übergangsfrist um ein Jahr verlängern und klar das Signal
setzen, dass es keine weitere Verlängerung der Übergangsfrist geben kann. Das sind wir den Ärzten in den
Krankenhäusern, aber auch den Patienten schuldig, die
wir vor einer Behandlung durch übermüdete und in ihrer
Leistung eingeschränkte Ärzte schützen wollen. Deshalb
ist diese Lösung, wie wir sie gefunden haben, zu vertreten.
({13})
- Wenn Sie eine Frage stellen, würde ich die Zeit gerne
nutzen, um das für Sie weiter auszuführen.
({14})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich wenigstens stichpunktartig noch einiges ansprechen, was im Koalitionsvertrag geregelt bzw. abgesprochen wurde. Wir werden die Prävention stärken. Darüber sind sich in diesem Hause, glaube ich, alle einig.
Wir geben in Deutschland sehr viel Geld für die Bekämpfung von Krankheiten aus und nach wie vor zu wenig für die Verhütung von Krankheiten. Wenn es uns gelingt, einen Entwurf zu formulieren, der sich an einer
lebensnahen Vorgehensweise orientiert und nicht mit
übermäßiger Bürokratie belastet, dann wird ein solches
Präventionsgesetz sehr sinnvoll und von Nutzen sein.
Wir wollen zudem den Trend der letzten Jahre beenden, dass immer mehr für Bürokratie im Gesundheitswesen und immer weniger für die Medizin ausgegeben
wurde. Die Beitragsmittel sollten für die Versorgung
kranker Menschen und nicht zur Finanzierung von Verwaltung und Bürokratie eingesetzt werden. Das zu erreichen sollte eine unserer Hauptaufgaben sein, weil wir
dann Gelder unmittelbar für eine bessere Versorgung der
Versicherten verwenden können. Damit ich meine Redezeit einhalte, zum Schluss nur noch ein Satz als Gesundheitspolitiker. Wir könnten uns in den Sozialsystemen zu
Tode reformieren; wenn es uns nicht gelingt, für eine
Belebung des Arbeitsmarktes zu sorgen, brechen uns die
Einnahmen immer mehr weg. Deshalb gilt nach wie vor:
Sozial ist, was Arbeit schafft.
Ich bedanke mich.
({15})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Martina Bunge
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
„Gesundheit ist das höchste Gut“ - wie schnell und
leicht geht uns dieser Ausspruch oft über die Lippen.
Doch was tun wir in der Politik dafür? Wenn ich im Leitbild der Koalitionäre für die Gesundheitspolitik Worte
wie „qualitativ hoch stehende Versorgung“ und „solidarische Finanzierung“ finde, dann lässt das hoffen. Doch
im Konkreten sieht das anders aus. Nicht eine Maßnahme der sozialen Grausamkeiten wurde zurückgenommen, weder die unsägliche Praxisgebühr noch die horrenden Zuzahlungen. So wird der Zug weiterfahren: Je
ärmer, desto kränker.
({0})
Obwohl die Belange der Versicherten in Bezug auf
Prävention, Akutversorgung, Rehabilitation und Pflege
im Mittelpunkt des politischen Agierens stehen müssten,
diskutieren wir seit Jahren vor allem über den Knackpunkt der Finanzierung. Ich bin gespannt, wie die unvereinbaren Vorschläge von Bürgerversicherung und
Gesundheitsprämie in ein Konzept für eine zukunftsfähige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung gepresst werden sollen. Ich denke, das kommt einer
Quadratur des Kreises gleich.
({1})
Als Linke sage ich jedoch: Nichts vereinbart zu haben
ist besser als die Kopfpauschale, der völlige Systembruch. Natürlich stellen uns die demographische Entwicklung und der medizinische Fortschritt vor riesige
Herausforderungen. Ich denke, wir sind schon mittendrin. Wir müssen realistisch an die Probleme herangehen
und zuallererst mit der Legende der angeblichen Kostenexplosion im Gesundheitssystem aufhören.
({2})
Die Relation zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts
belegt das genaue Gegenteil.
Natürlich gibt es auch Effektivitätsreserven im
Gesundheitssystem. Ich denke da an solche Aspekte
wie den Stellenwert der Prävention, die Arzneimittelverordnungspraxis, Reserven bei der integrierten Versorgung oder die Unterbelichtung der Geriatrie. Doch eines
muss klar sein: Für die demographischen und medizinischen Herausforderungen muss mehr Geld ins System.
Wir müssen endlich wegkommen von einer einnahmeorientierten Ausgabenpolitik und hinkommen zu einer
aufgabenorientierten Ausgabepolitik.
({3})
Gemeinsam fixierte Gesundheitsziele müssen der Ausgangspunkt der Gesundheitspolitik werden.
Vollmundig versprechen Sie, bei der Klärung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung die Erfahrungen anderer Länder und wissenschaftliche Konzepte vorurteilsfrei zu prüfen. Die
Einhaltung dieses Versprechens wird die Fraktion Die
Linke testen. Wir sind gespannt, wie vorurteilsfrei die
Prüfung ausgeht, wenn wir unseren Vorschlag einer
Wertschöpfungsabgabe vorlegen. Wir meinen, dass die
Berechnung der Arbeitgeberanteile an den sozialen Sicherungssystemen aufgrund der Lohnsumme nicht mehr
den wirtschaftlichen Realitäten entspricht
({4})
und sich die Beiträge der Unternehmen vielmehr an der
Bruttowertschöpfung orientieren müssten. Das wäre
nicht nur mit Blick auf die Belastung der verschiedenen
Unternehmen gerechter, sondern böte auch finanzielle
Spielräume.
Einige hier im Haus, nicht nur aus meiner Fraktion,
wissen, dass ich eine glühende Verfechterin dieser Idee
bin. Immer wieder wird dieser Vorschlag abgelehnt, mit
der stupiden Begründung: nicht umsetzbar. Wenn Sie
- ich sage das in Richtung Regierung - einmal so viel
Energie, wie Sie in zig Kommissionen, die über immer
neue Leistungskürzungen nachdenken, stecken, für eine
Kommission zur Prüfung der Machbarkeit der Wertschöpfungsabgabe aufwenden würden, hätten wir endlich einmal etwas Fundiertes auf dem Tisch.
({5})
Ich bin mir sicher: Wir hätten auch eine auf die Veränderungen in der Arbeitswelt ausgerichtete Neuorientierung der paritätischen Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme.
Sie aber gehen einen anderen Weg: Der Bundesetat
soll zulasten der Versichertengemeinschaft schöngerechnet werden. Allein durch die Mehrwertsteuererhöhung
werden den Versicherten Mehrkosten bei den Arzneimitteln in Höhe von jährlich 1 Milliarde Euro zugemutet.
Hier müsste stattdessen zugunsten der Patientinnen und
Patienten und der Krankenkassen eine Absenkung der
Mehrwertsteuer für Arzneimittel auf 7 Prozent her, wie
wir es fordern.
({6})
Die Einnahmen aus der erst mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz eingeführten Erhöhung der Tabaksteuer, mit denen ein Teil der so genannten versicherungsfremden Leistungen gegenfinanziert werden sollte,
werden wieder ins Staatssäckel gepackt. An diesem Beispiel zeigt sich exemplarisch, welche Halbwertszeit
steuerfinanzierte Elemente in der gesetzlichen Krankenversicherung haben.
Natürlich werden auch wir einige Ihrer Vorhaben unterstützen: das Bekenntnis zu einem Präventionsgesetz,
die stärkere Berücksichtigung von Demenzerkrankungen, die Stärkung der Palliativmedizin, die Neuordnung
der geriatrischen Versorgung. Es bleibt die Frage: Wie
soll all das in Angriff genommen werden, wenn die Finanzierungsgrundlagen nicht klar sind? Zu begrüßen
sind auch Vorhaben wie das Ermöglichen kassenartübergreifender Fusionen, Reformen bei der Selbstverwaltung, die Angleichung der Vergütung für ambulante
Leistungen im Krankenhaus und im niedergelassenen Bereich. Ich begrüße auch eine - hoffentlich nachhaltige Vorbeugungs- und Hilfsstrategie im Bereich HIV und
Aids sehr.
Wir appellieren auch, alles dafür zu tun, dass die
europäische Arbeitszeitrichtlinie schnell auf das Personal in Krankenhäusern in Deutschland angewendet
werden kann. Ich bin froh, dass der Ärztemangel in den
neuen Bundesländern Eingang in den Koalitionsvertrag
gefunden hat. Ich möchte sagen: „endlich“, denn in dieser Sache bin ich persönlich jahrelang gegen Wände gelaufen. Ich habe allerdings die Befürchtung, dass die lapidare Bemerkung, hier seien „geeignete Maßnahmen“
zu ergreifen, dem Ernst der Lage nicht gerecht wird.
Eines sollten wir immer im Blick haben: Das solidarische System der Gesundheitsversorgung ist in einem solchen Maße zu erhalten und auszubauen, dass jede und
jeder die benötigten Behandlungen erhält, unabhängig
von Alter, Geschlecht, sozialem Status oder Nationalität.
({7})
Das hier Gesagte ist im Bereich meiner fachpolitischen Heimat angesiedelt. Gestern wurde mir der Vorsitz des Gesundheitsausschusses dieses Hohen Hauses
übertragen. Sie können versichert sein, dass ich diesen
Ausschuss fair und neutral leiten werde,
({8})
auch wenn ich angesichts der politischen Mehrheitsentscheidungen nicht selten leiden werde.
({9})
Ich hege die Hoffnung, dass wir unsere Gesetzgebungskompetenz so wahrnehmen, dass wir nicht häufig
vom Bundesverfassungsgericht zu Korrekturen aufgefordert werden, wie es beim heute eingebrachten Gesetzentwurf zum Mutterschaftsgeld erfolgen muss. Ich hoffe,
dass wir uns bei allen widerstreitenden Vorschlägen immer von dem Grundsatz leiten lassen, dass die Gesundheit das höchste Gut ist und sie nicht zur Ware verkommen darf.
Ich danke.
({10})
Frau Kollegin Bunge, auch Ihnen gratuliere ich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen
Glückwunsch!
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In manchem Leitartikel vor und insbesondere nach der Wahl
war zu lesen, eine große Koalition sei geeignet, große
Probleme zu lösen. Große Probleme gibt es wahrlich bei
den anstehenden Reformen im Bereich von Gesundheit
und Pflege. Doch was lesen wir im Koalitionsvertrag?
Da steht: Wir sind uns nicht einig. Wenn man einmal
nachfragt, dann heißt es hinter vorgehaltener Hand:
Nach den Landtagswahlen nächstes Frühjahr wird alles
anders; 2006 wird das Reformjahr. - Da kann ich nur sagen: Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der
Glaube.
({0})
Es fehlt in dieser Koalition ganz offensichtlich an verhandelbaren Leitideen ebenso wie an der Einigungsbereitschaft. Als Leitidee ist bei der SPD immerhin die
Bürgerversicherung angesagt - richtigerweise. Wie sieht
es bei der Union aus? CDU und CSU haben zwei Jahre
lang die Republik damit beschäftigt, dass das Gesundheitssystem angeblich eine Kopfgeldprämie brauche und
dass dann Steuermittel den notwendigen sozialen Ausgleich herbeiführen würden.
({1})
Denn im Steuersystem - Herr Zöller, so haben wir es immer gehört, jedenfalls von der CDU - sei der soziale
Ausgleich viel besser untergebracht. Sie brauchen für
die Finanzierung Ihres Modells nach konservativer Berechnung 20 Milliarden Euro.
Was tun Sie aber jetzt? Sie ziehen zu Beginn Ihrer Regierungszeit den Steuerzuschuss in Höhe von
4 Milliarden Euro aus der GKV heraus. Sie haben also
nicht nur die 20 Milliarden Euro nicht mitgebracht, Sie
handeln auch noch nach dem Prinzip: Die Union verspricht erst viel mehr Steuermilliarden für das Gesundheitssystem; die Koalition, deren Teil Sie dann werden,
zieht die wenigen Steuermilliarden aus dem Gesundheitssystem heraus. So etwas nenne ich eine politische
Geisterfahrt.
({2})
Man kann sich darüber nicht einmal lustig machen,
auch wenn es natürlich das Kopfgeldmodell der Union
diskreditiert.
({3})
Denn die Folgen hinsichtlich der Lohnnebenkosten
sind schlimm. Die Union hat im Wahlkampf versprochen, die Lohnnebenkosten zu senken. Die SPD war bisher wenigstens für deren Stabilisierung. Jetzt sinken
nach der Mehrwertsteuererhöhung die Beiträge in der
Arbeitslosenversicherung ein wenig, in der Rentenversicherung werden sie steigen. Was passiert im Gesundheitswesen? 4 Milliarden Euro entsprechen 0,4 Beitragssatzpunkten. Zusätzlich schlägt die Mehrwertsteuererhöhung bei den Medikamentenkosten zu Buche. Da ist man
bei 5 Milliarden Euro, mithin bei einem halben Beitragssatzpunkt, den Sie als Erhöhung der Lohnnebenkosten
riskieren. Gelegentlich höre ich von Ihrer Seite das Argument: Wenn das so kommt, wird der Reformdruck erhöht. - Diese Art von Verelendungsstrategie gegenüber
dem Gesundheitssystem ist politisch unverantwortlich.
({4})
Auch an der Einigungsbereitschaft in der Koalition
darf man so seine Zweifel haben. Wie war es denn bisher? Die Ministerin kommt mit einem provokativen Vorschlag und spricht von gleichen Arzthonoraren für Kassen- und Privatpatienten. Dieser isolierte Vorschlag ist
nicht umsetzbar, weil er dem System nur Geld entziehen
würde. Aber dieser Vorschlag hat das Verdienst, dass damit die Zweiklassenmedizin bei uns zum Thema wird.
({5})
Die Union muss daraufhin erst den Koalitionsvertrag
lesen und feststellen, dass sie jedenfalls für bestimmte
Gruppen von Privatversicherten in der Tat versprochen
hat, die Arzthonorare abzusenken. Nun schweigt sie.
Schließlich erklären Sie, Herr Kollege Zöller - Sie haben das heute etwas moderater wiederholt -, dieses sei
kein Beitrag zur Vertrauensbildung. Sie versprechen im
Übrigen den Ärzten, dass sich nichts ändert, und der
PKV, dass alles so wie gehabt weitergeht. Da kann ich
nur sagen: Provokation der einen und pawlowscher Reflex - wenn auch verzögert - der anderen - das dient
vielleicht der Profilbildung der Ministerin, der gemeinsamen Politikfähigkeit dient es ganz sicher nicht.
({6})
Wo Sie sich einmal einig geworden sind, nämlich darin, das In-Kraft-Treten des Arbeitszeitgesetzes für die
Krankenhausärzte hinauszuschieben, da senden Sie das
Signal, dass überlastete und übermüdete Ärzte kein Problem für sich selber und für die Patienten sind. Dazu
kann ich nur sagen: Sie haben nicht nur ein Problem mit
dem Vertrauen untereinander. So verspielen Sie auch
Vertrauen in der Bevölkerung. Dieses ist aber für die Reformbereitschaft notwendig.
In diesem Sinne kann ich Ihnen, meine Kollegen und
Kolleginnen von der SPD und der Union, nur sagen: Das
war ein ganz verkorkster Einstieg.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Elke Ferner, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Frau Bender, es ist schön, dass Sie jetzt über
einen öffentlich ausgetragenen Unterschied diskutieren.
({0})
Aber ich meine mich zu erinnern: So ganz ohne Streit ist
es in den letzten sieben Jahren auch zwischen uns nicht
gewesen.
({1})
Insofern würde ich das nicht überbewerten.
Lassen Sie mich zu Beginn etwas zu dem Kollegen
Bahr von der FDP sagen. Sie haben deutlich gemacht,
was Sie eigentlich möchten. Sie wollen die private Krankenversicherung für alle.
({2})
Sie möchten die gesetzliche Krankenversicherung im
Prinzip zerschlagen.
({3})
Wenn Sie sagen, der Arbeitgeberbeitrag solle festgeschrieben werden und es solle zur Ausgliederung weiterer Leistungen kommen, heißt das: Sie wollen die Patienten und Patientinnen mehr belasten. Das hat
sicherlich mit dem System, das wir im Moment haben
und das es zu erhalten gilt, mit der solidarischen Krankenversicherung, überhaupt nichts zu tun.
({4})
Sie sind mit dieser Haltung hier im Haus und in der Bevölkerung im Übrigen völlig isoliert.
({5})
Sie können diesen Gedanken gerne weiterverfolgen. Uns
kann das nur recht sein.
Das Prinzip, das wir in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der sozialen Pflegeversicherung haben,
das Prinzip der Solidarität, wird und muss auch in Zukunft tragen. Wie soll das anders funktionieren und finanziert werden, wenn nicht mehr die Jungen für die Alten, die Gesunden für die Kranken und die finanziell
Stärkeren für die finanziell Schwächeren einstehen? Wir
sind der Meinung: Das muss so bleiben.
Das Ziel der Gesundheitspolitik muss sich zum einen
daran ausrichten, Krankheiten durch mehr und bessere
Prävention zu vermeiden. Gerade am Weltaidstag ist es
der richtige Zeitpunkt, deutlich zu machen, dass durch
Prävention viel vermieden werden kann. Wir dürfen darin nicht nachlassen. Wir haben leider gesehen, dass sich
an dieser Stelle einiges verschlechtert hat. Man darf bei
der Prävention nicht nachlassen, wenn sie zu wirken beginnt, weil das Problem sonst vernachlässigt bzw. aus
dem Bewusstsein der Menschen verdrängt wird.
Wir müssen zum anderen allen im Krankheitsfall die
medizinisch notwendige Leistung auf hohem Niveau gewähren, und zwar unabhängig davon, ob es Männer oder
Frauen und ob sie arm oder reich sind, und unabhängig
davon, wie sie krankenversichert sind.
({6})
Ich bin Ulla Schmidt sehr dankbar, dass sie die Unterschiede in der Behandlung - und nicht nur in der Therapie - von Privatpatienten und Kassenpatienten bei den
Ärzten, aber auch in den Krankenhäusern thematisiert
hat. Ich glaube, es ist höchste Zeit dafür gewesen. Wenn
ich es richtig verstanden habe, ging es auch nicht darum,
Einheitshonorare und damit, wie Sie, Herr Zöller, eben
sagten, die Einheitsmedizin einzuführen. Es ging vielmehr lediglich darum, auf einen seit langem bestehenden
Missstand aufmerksam zu machen. Ich kann mich noch
an Zeiten erinnern, in denen AOK-Patienten anders behandelt worden sind als Patienten der Ersatzkassen und
Privatpatienten ohnehin anders als diejenigen, die in den
gesetzlichen Kassen versichert gewesen sind.
Ich begreife nicht, warum dann, wenn jemand mit einem Schnupfen, einer Gehirnerschütterung oder einer
anderen Krankheit zum Arzt kommt und behandelt wird,
für den einen zumindest das 1,7- bis 3,5-Fache des
Arzthonorares und für den anderen nur das einfache Honorar abgerechnet werden kann. Die Vergütung der
Ärzte und Ärztinnen muss sich doch an der Leistung, die
sie erbringen, orientieren und nicht daran, welcher Versicherung derjenige oder diejenige, den oder die sie behandeln, angehört. So kann doch nur ein Schuh daraus
werden. Das hat Ulla Schmidt gemeint.
({7})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bahr?
Ja.
Frau Kollegin Ferner, Sie haben eben gesagt, dass Sie
Frau Schmidt nicht so verstanden haben, dass es zu einer
Angleichung der Arzthonorare bei privat und gesetzlich
Versicherten kommen soll. Ich möchte deshalb aus dem
Daniel Bahr ({0})
Interview der Ministerin mit der „Berliner Zeitung“
zitieren. Darin sagt sie:
Unser Ziel ist, dass medizinische Leistungen gleich
honoriert werden, egal ob sie für einen privat oder
einen gesetzlich versicherten Patienten erbracht
werden.
Wie passt dieses Zitat von Frau Schmidt zu Ihrem Verständnis?
Bei der Angleichung der Honorare stellt sich zunächst
die Frage, auf welches Niveau angeglichen werden soll.
({0})
- Das ist von Frau Schmidt nicht anders gesagt worden.
({1})
Zudem gibt es aber, wie Sie wissen, durchaus Fälle
- zum Beispiel die Beamten und Beamtinnen wegen der
Beihilferegelung oder andere privat Versicherte, die sich
zum GKV-Tarif bei einer privaten Versicherung versichert haben -, in denen die Ärztinnen und Ärzte einen
höheren Satz berechnen, der den Patienten und Patientinnen von ihren Kassen nicht erstattet wird, sodass sie
auf den Mehrkosten sitzen bleiben, obwohl sie eigentlich
nur eine medizinisch notwendige Leistung erhalten wollten. Ich muss sagen, dass ich das nicht in Ordnung finde.
Insofern sage ich noch einmal: Wichtig ist, dass die
Ärzte und Ärztinnen für die Qualität ihrer Leistungen
bezahlt werden, unabhängig davon, wie der Patient oder
die Patientin versichert ist. Das ist unsere Haltung dazu.
Eben ist bereits über Einnahmen und Ausgaben gesprochen worden. Richtig ist, dass wir in den Koalitionsverhandlungen keine Einigung haben erzielen können,
was die Systemfrage anbelangt. Es gibt zwei Modelle,
auf der einen Seite die solidarische Bürgerversicherung
und auf der anderen Seite - ich muss mir abgewöhnen,
Kopfprämie zu sagen - die solidarische Gesundheitsprämie.
({2})
- Nur weil ich den Begriff jetzt in Ihrem Sinne benutze,
heißt das nicht, dass ich Ihr System gutheiße.
({3})
Wir sind nach wie vor der Meinung, dass die Bürgerversicherung die richtige Antwort ist. Wir haben auf der
einen Seite ein Einnahmeproblem bei den gesetzlichen
Krankenversicherungen, bedingt durch die hohe Arbeitslosigkeit, möglicherweise aber auch durch Maßnahmen,
die wir in der letzten Wahlperiode gemeinsam beschlossen haben, zum Beispiel die Minijob-Regelung. Wir müssen überprüfen, welche Auswirkungen diese Regelung
auf die Einnahmesituation der Sozialversicherungskassen hat. Auf der anderen Seite haben wir ein Ausgabenproblem. So werden zum Beispiel im Arzneimittelbereich die Kosten in diesem Jahr voraussichtlich um gut
13 Prozent höher sein als im vergangenen Jahr, auch
deutlich höher, als es mit der Pharmaindustrie vereinbart
worden ist. Ich muss sagen: Das geht nicht. Die Patienten und Patientinnen zahlen immer mehr zu, aber trotzdem wird nicht signifikant anders verordnet. Es kann
doch nicht sein, dass die Kosten für die Krankenkassen
immer weiter ansteigen. Hier muss nachgesteuert werden. Darauf haben wir uns auch im Koalitionsvertrag
verständigt.
Ich möchte noch ganz kurz etwas zum Thema Pflege
sagen. Auch in diesem Bereich stehen wir vor großen
Herausforderungen. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, die Leistungen zu dynamisieren und für Demenzkranke und da, wo sonst Hilfebedarf notwendig ist,
mehr zu tun.
({4})
Ich weiß, dass die Finanzierung nicht leicht werden
wird.
({5})
Wir haben uns beispielsweise auf einen Risikoausgleich
zwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherung
verständigt und werden uns darüber hinaus darum kümmern müssen, wie wir in der gesetzlichen Pflegeversicherung auf der Beitragsseite weiter kommen.
({6})
- Herr Lanfermann, Sie sind doch gleich an der Reihe.
Dann können wir weiter diskutieren.
Ich glaube, dass wir in Zukunft noch viel miteinander
zu diskutieren haben. Wenn zwei Koalitionspartner aus
relativ unterschiedlichen Lagern kommen, ist es nicht
einfach, sie zusammenzuführen. Die Lösung kann aber
nicht darin bestehen, dass die Patienten und Patientinnen
am Ende stärker belastet werden und im Übrigen alles
bleibt wie gehabt. Das ist zumindest nicht der Lösungsweg, den wir anstreben. Ich bin aber sehr zuversichtlich,
dass wir in den kommenden vier Jahren hier noch zu vernünftigen Ergebnissen kommen werden.
({7})
Das Wort hat der Kollege Heinz Lanfermann, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Leider hat die Ministerin nichts zu den Protesten der Klinikärzte gesagt. Ich darf an dieser Stelle sagen, dass wir volles Verständnis haben, wenn Menschen
dagegen protestieren, dass sie so lange Arbeitszeiten haHeinz Lanfermann
ben, dass sie zu einer Gefahr für ihre Patienten werden
können. Ich möchte auch daran erinnern, dass es sich
hier immerhin um ein rechtskräftiges Urteil handelt,
({0})
das wir umsetzen müssen. Man hat zwei Jahre Übergangszeit eingeräumt. Das ist bei einem rechtskräftigen
Urteil sehr viel.
({1})
Dann wird gesagt: Wir verlängern die Übergangsfrist
noch um ein weiteres Jahr, danach nicht noch einmal. Die Situation ist schwierig.
Ich möchte ferner darauf hinweisen: Es gibt zum Beispiel in Brandenburg Proteste von Ärzten, die wirtschaftlich gar nicht mehr in der Lage sind, ihre Praxen
offen zu halten. Sie schaffen das nur noch durch die Honorare der Privatpatienten. Aber das soll ja, wie wir erfahren haben, demnächst unterbunden werden. Auch
dazu hätte ich gern etwas von der Ministerin gehört.
Verehrte Kollegin Ferner, dass Sie sagen, die Vergütung der Ärzte muss sich an der Leistung orientieren,
finde ich hervorragend. Sie sind aber eine derjenigen, die
kräftig daran mitgearbeitet haben, dass wir ein Vergütungssystem haben, das niemand mehr versteht. Versuchen Sie einmal, jemanden zu finden, der dieses Punktesystem versteht, bei dem man am Ende des Jahres
weniger als das erhält, von dem man am Anfang des Jahres ausgehen konnte.
({2})
Wir haben in diesem Lande eine private Versicherung, die funktioniert. Sie geben sich alle Mühe, sie kleiner zu machen und abzuschaffen; wir haben für
90 Prozent der Bevölkerung eine Versicherung, die nicht
funktioniert.
({3})
Sie versuchen dauernd, durch Verträge zulasten Dritter,
durch Beiträge, die Sie zusätzlich einnehmen wollen,
dieses schwache System aufrechtzuerhalten.
Jetzt möchte ich etwas zur Pflegeversicherung sagen. Das ist der zweite große schwierige Bereich, bei
dem Sie sich nicht geeinigt haben. Es gibt im Koalitionsvertrag einige Formelkompromisse, die aber nichts taugen. Man hat sich vor gut zehn Jahren für das falsche
System entschieden. Man wollte das kapitalgedeckte
System nicht und Union und SPD haben einvernehmlich
das Umlagesystem durchgesetzt. Heute stehen Sie vor
den Scherben der eigenen Politik und dürfen als Regierungsfraktionen immerhin versuchen, sie gemeinsam zusammenzukehren.
({4})
- Die Pflegeversicherung ist in dieser Form Ihr Werk,
nicht unseres.
823 Millionen Euro Defizit im letzten Jahr sprechen
für sich. Die Rücklagen sind demnächst aufgebraucht.
Die Auswirkungen des demographischen Wandels werden immer höhere Defizite erzeugen. Der Koalitionsvertrag bietet erst einmal nichts Konkretes. Sie versprechen
reichlich zusätzliche Leistungen. Darüber kann man diskutieren. Sie sagen aber faktisch nichts Konkretes dazu,
wie das finanziert werden soll.
({5})
Sie sagen wohl - das ist in der Tat interessant -, Sie wollen die Ergänzung des „Umlageverfahrens durch kapitalgedeckte Elemente als Demographiereserve“ einführen.
Verständliche Sprache und klare Aussagen sind etwas
anderes.
Erstens. Sie wollen auf Dauer am Umlageverfahren
festhalten. Das ist falsch. Das führt in die Irre.
Zweitens. Was heißt schon kapitalgedeckte Elemente? Das hätten wir gern genauer erläutert.
Drittens. Sie wissen, dass der Ansatz zu schwach ist,
wenn Sie nicht auf die Kapitaldeckung umsteigen. Der
Sachverständigenrat sagt Ihnen übrigens dasselbe. Aber
dieses Gutachten nehmen Sie geflissentlich nicht zur
Kenntnis.
Man kann das System nicht mit einem Ruck wechseln. Die FDP tritt schon seit Jahren dafür ein, dass wir
jetzt den Umstieg in einen Systemwechsel schaffen, um
dann einen gleitenden Übergang in ein kapitalgedecktes
Finanzierungssystem zu erreichen.
({6})
Das nimmt erstens Druck von den Arbeitskosten, weil
wir die Finanzierung von den Arbeitskosten abkoppeln
wollen. Zweitens macht es die Versicherung konjunkturunabhängig. Das war der Fehler, der in den letzten Jahren zu diesen Defiziten geführt hat.
({7})
Im Koalitionsvertrag ist von einem Finanzausgleich
zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung
die Rede. In Wirklichkeit ist die Einbeziehung der privaten Versicherung eine Belastung der privat Versicherten.
Sie von der Union haben in den Verhandlungen den Zugriff auf den Kapitalstock verhindert - das wäre nackte
Enteignung gewesen -, aber den Finanzausgleich haben
Sie nicht verhindert.
({8})
Sie wollen die Rücklagen, die in dem einen System gebildet werden sollen, auf das andere System übertragen.
Das heißt natürlich nicht: Mehr Freiheit wagen. Vielmehr bedeutet das mehr Unfreiheit. Im Grunde genommen ist das der Weg in die Bürgerversicherung.
Da haben Sie von der Union bei den Koalitionsverhandlungen leider nicht richtig aufgepasst. Ich denke,
Sie werden genug Arbeit damit haben, das wieder zu revidieren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Annette WidmannMauz, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Unser Land steht am Beginn einer Reformexpedition. Doch die Menschen werden nur mit uns gehen,
wenn sie unserem Kurs vertrauen und wir ihrem Vertrauen auch gerecht werden.
({0})
Vertrauen wächst nur dort, wo ein ehrlicher Umgang
miteinander herrscht. Das gilt im Übrigen nicht nur für
das Verhältnis zwischen Bundesregierung und Bevölkerung, sondern auch für das Verhältnis zwischen den Regierungsfraktionen untereinander.
({1})
Liebe Frau Ministerin, wir sitzen jetzt im selben Boot.
({2})
Wir werden mit diesem Boot nur vorankommen, wenn
wir gemeinsam miteinander und nicht gegeneinander rudern.
({3})
In der Gesundheitspolitik gehört zur Ehrlichkeit erst einmal eine nüchterne Analyse der Lage. Überfüllte Wartezimmer, Wartezeiten, Praxisschließungen, strukturschwache Regionen, in denen sich kein Arzt mehr
niederlassen will, Ärztestreiks und vieles andere mehr
weisen ja auf die Probleme hin, die wir gemeinsam zu
lösen haben.
Es sei mir eine kleine Replik auf Frau Bender gestattet, die von einer Verelendungsstrategie gesprochen hat.
Ich kann nur sagen: Im Jahr 2003 hatte die gesetzliche
Krankenkasse 8,3 Milliarden Euro Schulden, 1998, als
Rot-Grün die Regierung übernommen hat, hatte sie aber
noch Überschüsse. Deshalb würde ich mich an Ihrer
Stelle einmal mit meiner eigenen Vergangenheit auseinander setzen, bevor ich denjenigen, die die Probleme
aus dem Weg räumen, schon zu Beginn Vorwürfe mache.
({4})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es wäre ebenso
falsch - das werde ich auch nicht tun -, die Lage im Gesundheitswesen schlechter zu reden, als sie tatsächlich ist.
Unser Gesundheitswesen gehört im internationalen Vergleich nachweislich zu den besten: mit einer qualitativ
hochwertigen Versorgung, einem umfassenden Leistungskatalog, vergleichsweise niedrigen Selbstbeteiligungen, einer hohen Arztdichte, einer hohen Krankenhauskapazität, freier Arzt- und Krankenhauswahl und
praktisch keinen Barrieren beim Zugang zum Gesundheitswesen. Das alles trägt zur hohen Patientenzufriedenheit bei, die in unserem Land herrscht.
Deshalb sind wir uns in der Koalition auch einig, dass
wir das deutsche Gütesiegel der sozialen Sicherheit und
der medizinischen Leistungsfähigkeit erhalten und
stärken wollen. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung und des medizinischen Fortschritts
wollen wir auch in Zukunft soziale Sicherheit made in
Germany gewährleisten. Darum ringen wir. Das müssen
wir auch tun; denn Gesundheit ist ein hohes und vor allen Dingen ein hoch sensibles Gut.
Große Reformen müssen von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen sein. Die große Koalition
bietet uns jetzt die Chance, die Dinge wirklich voranzutreiben; denn andererseits wäre der soziale Friede gefährdet. Ich bin mir sicher: Wir als Union werden unseren Beitrag dazu leisten, dass Union und SPD auf
unideologisch-pragmatische Weise einen Lösungsweg
hinsichtlich der Gestaltung der Finanzierungsseite der
gesetzlichen Krankenversicherung finden werden.
({5})
Auch hier sollten wir nicht länger fragen, was nicht
geht, sondern überlegen, was geht. Wir wollen dies vorurteilsfrei, aber kritisch, ergebnisoffen, aber zielführend
tun, einen Perspektivwechsel durchaus eingeschlossen.
Die Erfahrungen unserer Nachbarländer - zum Beispiel
die der Niederlande, die man dort bei der Einführung der
Standardpflichtversicherung gesammelt hat - sollten wir
uns einmal näher anschauen. Ein bisschen frische Luft
und auch einmal ein Tapetenwechsel, das hat noch niemandem geschadet.
({6})
Wir werden sehen, ob das holländische Modell oder
einzelne seiner Elemente Anregungen für Deutschland
darstellen. In jedem Fall werden die Deutschen ein neues
Finanzierungssystem daran messen, ob es in der Lage
ist, eine hochwertige und wohnortnahe Versorgung zu
gewährleisten, Beitragsbelastungen zwischen starken
und schwachen Schultern gerecht zu verteilen und niemanden finanziell zu überfordern oder gar ohne Versicherungsschutz dastehen zu lassen.
Für die Politik muss es darüber hinaus aber noch um
mehr gehen. Die Politik ist verantwortlich dafür, dass
dieses Versicherungssystem nachhaltig, demographiefest
und somit zukunftsfest gestaltet wird. Zurzeit klafft die
Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben doch auseinander: Trotz der Finanzierungsüberschüsse im ersten
Halbjahr dieses Jahres lag die Einnahmenentwicklung
um 1,5 Milliarden Euro unterhalb der Ausgabenentwicklung. Ursächlich dafür ist ja zum einen die hohe Arbeitslosigkeit, zum anderen aber auch - insbesondere mit
Blick auf die Zukunft - die zunehmende Alterung unserer Gesellschaft. Wenn wir uns weiterhin medizinischtechnischen Fortschritt für alle leisten wollen, ist es daher notwendig, die Finanzierungsseite nachhaltig zu gestalten. Gesundheit ist ein hohes Gut, das seinen Preis
hat. Und der wird nicht auf dem Niveau von gestern eingefroren werden können: Die Gesamtausgaben werden
steigen, wenn wir das individuelle Gesundheitsniveau
behalten und mit dem Fortschritt mitkommen wollen;
das gehört zur Wahrheit dazu. Es wird nicht gelingen,
die Dynamik dieses Sektors allein durch die Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven aufzufangen.
({7})
Nun weiß auch ich, dass unser neuer Kollege, der
Professor aus Köln, großen Wert auf die Qualitätssicherung legt und dezidiert der Meinung ist, dass Über-, Unter- und Fehlversorgung abgebaut werden können, wenn
die Qualitätssicherung verbessert wird. Ich persönlich
gehe davon aus, dass es im solidarischen System einen
zielgenaueren Mitteleinsatz nicht ohne einen stärkeren
Einsatz von Kosten-Nutzen-Bewertungen geben wird.
Qualitätssicherung darf aber nicht ständig einhergehen mit einer Bürokratie, die die Ärzte auf die Straße
treibt und den Pflegekräften die Zeit für die persönliche
Zuwendung und die Versorgung der Patienten raubt. Die
Arbeit am Patienten darf nicht zugunsten der Arbeit in
der Verwaltung immer weiter eingeschränkt werden. Die
Koalition will Bürger, Wirtschaft und Behörden von einem Übermaß an Vorschriften entlasten und diese auf
das unbedingt notwendige Maß beschränken.
Neben der Bürokratisierung der Medizin geht es aber
auch um überlange Arbeitszeiten und eine unzureichende Honorierung. Nun kann man hoffen, dass die Tarifvertragsparteien zumindest einen Teil dieser Probleme
lösen werden. Aber es wäre fatal, es dabei zu belassen.
Denn der Protest und die Unzufriedenheit haben ja weitere Ursachen: Budgetierte Honorare und Medikamentenbudgets führen dazu, dass bei planbaren Behandlungen - nicht bei schweren Erkrankungen wie zum
Beispiel bei Krebs - Wartezeiten entstehen. Es ist deshalb die Aufgabe der Koalition, vom Patienten her zu
denken. Wer krank ist, muss so schnell wie möglich behandelt werden können.
({8})
Wir müssen die Probleme dort lösen, wo sie entstanden sind - und das ist nun einmal nicht in der privaten
Krankenversicherung, sondern in der gesetzlichen. Der
Kassenpatientin, die gynäkologisch untersucht werden
muss, ist nicht geholfen, wenn die Privatpatientin in Zukunft genau so lange auf einen Termin warten muss wie
sie. Nein, Gleichbehandlung, wie sie die Kassenpatientin
will, wird es nur dann geben, wenn die Budgetierung in
der gesetzlichen Krankenversicherung beendet und eine
leistungsgerechte Vergütung eingeführt wird.
({9})
Wir jedenfalls wollen, dass Ärzte eine angemessene Vergütung für ihre Leistungen erhalten. Denn nur dann erhalten auch die gesetzlich Versicherten angemessene
Leistungen ohne Wartezeiten.
({10})
Wir wollen eine Neuordnung der Honorare für Vertragsärzte im Sinne einer pauschalierten Vergütung, ähnlich
wie wir es aus dem stationären Sektor kennen, nicht zuletzt wegen der angestrebten besseren Verzahnung beider
Sektoren über die Integrationsversorgung. Wir wollen
ein neues gesetzliches Vergütungssystem, das Schluss
macht mit Punktwerten, die durch Budgetierung ständig
fallen. Wir wollen feste, leistungsgerechte Preise für vereinbarte Mengen und Qualitäten.
({11})
Schließlich wollen wir, dass die Ärzte weiterhin auch
privat behandeln und privat abrechnen können. Aber dabei muss ausgeschlossen werden, dass Menschen, die einen Standardtarif in der privaten Krankenversicherung
haben oder die beihilfeberechtigt sind, obwohl sie jahrelang oder jahrzehntelang in das System eingezahlt haben, nicht mehr ärztlich versorgt werden.
({12})
Es muss doch auch Ihnen ein inneres Bedürfnis sein, dieses Problem anzugehen. Denn viele Menschen sind aus
wirtschaftlicher Not gezwungen, in den Standardtarif zu
wechseln.
({13})
Deshalb müssen wir für diese Gruppe eine Lösung finden. Das steht im Koalitionsvertrag; das haben wir entgegen allen anders lautenden Meldungen vereinbart nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen, dass
alte Menschen, sozial Schwache und Kranke sich auch
in Zukunft auf die sozialen Sicherungssysteme verlassen
können. Gerade als Christlich-Demokratische und als
Christlich-Soziale Union sehen wir uns in der Pflicht, alles zu tun, damit sich unsere solidarische Gesellschaft zu
einer Verantwortungsgesellschaft weiterentwickeln
kann, in der Eigenverantwortung und Verantwortung für
andere wieder zusammenkommen.
Herzlichen Dank.
({14})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich
liegen uns nicht vor.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/39 und 16/46 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zum Themenbereich Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Außerdem rufe ich Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Konsequenzen aus den Fleischskandalen: Umfassende Verbraucherinformation und bessere
Kontrollen
- Drucksache 16/111 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Das Wort hat der Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Horst Seehofer.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die gesundheitliche Unbedenklichkeit aller Lebensmittel hat Priorität.
({0})
Dieser Satz aus dem Koalitionsvertrag hat schneller aktuelle Bedeutung erhalten, als es einem lieb sein kann.
Deshalb möchte ich mit diesem Thema beginnen.
Im Namen der ganzen Koalition und der Bundesregierung möchte ich klar feststellen, dass die Missstände im Fleischhandel in keiner Weise akzeptabel und
durch nichts zu rechtfertigen sind. Die Bundesregierung
und die Koalition werden diesen gewissenlosen Geschäftemachern mit aller Entschiedenheit entgegentreten.
({1})
Ich habe gestern dem zuständigen Ausschuss des
Deutschen Bundestages ein Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der Missstände im Fleischhandel vorgestellt.
Dieses Maßnahmenpaket umfasst ein Zehnpunktesofortprogramm, angefangen bei der Verbesserung des
Informationsflusses zwischen Bund und Ländern über
die Ausweitung von Meldepflichten bis hin zur Verbesserung bei den Kontrollen. Unabhängig von diesem
Zehnpunktesofortprogramm werden wir in den kommenden Wochen auf höchster politischer Ebene gemeinsam mit den Bundesländern eine weitere Zehnpunkteliste abarbeiten, von der wir uns eine durchgreifende
Verbesserung der bestehenden Strukturen versprechen.
Für die Lebensmittelüberwachung in Deutschland
heißt das: Wir wollen einerseits die Vorteile des Föderalismus, nämlich die Nähe zur Produktion und zur Verarbeitung, nutzen. Denn ich halte nichts davon, Kontrollen und Überwachungen zu zentralisieren und aus der
Zuständigkeit der Länder herauszunehmen.
({2})
Andererseits wollen wir die Schwächen des Föderalismus, nämlich die mangelnde Koordination und Kommunikation zwischen den zuständigen Behörden, beseitigen. Für mich war es nicht ganz erklärlich, um nur ein
kleines Beispiel zu nennen, dass es bis zum Wochenende
kein automatisiertes Verfahren zwischen den Ländern
und dem Bund gab, damit der Bund mit seinen zuständigen Behörden automatisch über solche Vorkommnisse
unterrichtet wird.
({3})
In diesen Tagen ist oft vom Verbraucherinformationsgesetz die Rede gewesen, und zwar nach dem
Motto „Hätte man im Bundesrat zugestimmt, gäbe es
heute eine ausreichende Information der Öffentlichkeit“.
Nachdem ich Zeit hatte, zu recherchieren, muss ich festhalten: Die Dinge, die von den Behörden an die Öffentlichkeit gegeben worden sind, standen auf Betreiben und
mit Zustimmung der Grünen im Gesetz, nämlich dass
die Behörden bei gesundheitlichen Risiken sowie bei
schwer wiegenden Täuschungs- und Ekelfällen die Öffentlichkeit auch über den Namen der Firma unterrichten
können. Das ist in einem Fall, nämlich bei der Firma Domenz aus NRW, so geschehen. Es steht aber im gleichen
Gesetz, dass die Namensnennung von Firmen dann
nicht mehr möglich ist, wenn die Erzeugnisse nicht mehr
am Markt vorhanden oder bereits verbraucht worden
sind.
Der Richtigkeit halber möchte ich hier erstens noch
einmal feststellen, dass diese gesetzlichen Regelungen
- wie mir aufgeschrieben worden ist - insbesondere von
den Grünen mitgetragen worden sind.
({4})
Die Aussage, der schlimme Bundesrat habe das verhindert, ist unsinnig. Sie haben das vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen im Vermittlungsausschuss nicht moniert
und auch keinen entsprechenden Gesetzentwurf mehr
eingebracht.
Zweite Feststellung. Es gab in der zuständigen Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses ein völliges
Einvernehmen bezüglich der so genannten passiven Beteiligung der Bürger, nämlich des Akteneinsichtsrechts.
Es gab dort eine Einigung. Nach der Wahl in NordrheinWestfalen haben Sie das parlamentarisch nicht mehr
weiterverfolgt. Auch das ist Realität. Deshalb geht der
ständige Hinweis der Grünen, es sei an der Union gescheitert, schlicht und einfach ins Leere.
({5})
Wir werden das Verbraucherinformationsgesetz wieder einbringen und dafür sorgen - dabei bitte ich um die
Unterstützung des Parlaments -, dass es auf der einen
Seite vernünftige Informationsmöglichkeiten für die
Bürger hinsichtlich gesundheitsgefährdender Produkte
gibt und dass es bei solchen gewissenlosen kriminellen
Tätern auch zu Namensnennungen kommen kann. Auf
der anderen Seite müssen bürokratische Unsinnigkeiten
vermieden werden; denn wir können ja nicht einerseits
in der Koalitionsvereinbarung schreiben, dass wir für
Entbürokratisierung sind, und andererseits ein Verbraucherinformationsgesetz erlassen, welches ein bürokratisches Ungeheuer ist. Es geht also um einen wirksamen Verbraucherschutz verbunden mit der Vermeidung
von Überbürokratisierung in unserem Lande.
({6})
Ich möchte einen zweiten Punkt nennen, der in der
letzten Woche eine große Rolle gespielt hat und den ich
mit dem Stichwort „Perspektive für ein europäisches
Agrarmodell“ überschreiben will. Manche schmunzeln
ja bei den Worten „Vereinbarung über die Zuckermarktordnung“. Im Grunde ging es bei dieser letzten
Reform einer Agrarmarktordnung in Europa darum, das
europäische Agrarmodell gewissermaßen zukunftsfähig
zu machen. Auf der einen Seite soll es den Anforderungen des Weltmarktes und der Entwicklungsländer im
Hinblick auf die WTO gerecht werden, auf der anderen
Seite sollen aber auch die Interessen unserer Landwirte
und der Agrarwirtschaft in Deutschland berücksichtigt
werden.
Ich glaube, mit der Einigung über die Zuckermarktordnung ist es gelungen, die deutschen Interessen, die
Interessen unserer Landwirte und die Interessen der
Agrarwirtschaft, ebenso zu berücksichtigen wie die Anforderungen, die sich aus dem Welthandel und den Interessen der Entwicklungsländer ergeben. Das ist das
europäische Agrarmodell der Zukunft: Beide Interessenlagen müssen so in einen Ausgleich gebracht werden,
wie dies bei der Zuckermarktordnung einvernehmlich
geschehen ist.
({7})
Ich möchte eine dritte Maßnahme aus dem Bereich
unseres Ressorts nennen: Uns geht es um eine Politik
der Verlässlichkeit. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich betrachte die drei Zuständigkeitsbereiche des
Ministeriums - Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz - als gleichgewichtige Bestandteile, die nicht
im Gegensatz zueinander stehen. Diese drei Bestandteile
werden von uns auch gleichgewichtig behandelt. Den alten Gegensatz zwischen der Landwirtschaft und dem
Verbraucherschutz, den es in den letzten sieben Jahren
bei meiner Vorgängerin gab, sehen wir als nicht gegeben
an.
({8})
Es ist unsinnig, einen Gegensatz zwischen der Landwirtschaft und dem Verbraucherschutz herzustellen. Die
deutsche Landwirtschaft steht im Dienste des Verbraucherschutzes. Deshalb werde ich alles in die Waagschale
werfen, um die Diskriminierung der Landwirtschaft
während der letzten sieben Jahre zu beenden und ihre
Bedeutung wieder in den Mittelpunkt der Gesellschaftspolitik zu stellen.
({9})
Ich möchte einen neuen Gesellschaftsvertrag zwischen der Politik und der Agrarwirtschaft in ihrer Gesamtheit. Dort gibt es immerhin 4 Millionen Beschäftigte. Der Anteil an der Wertschöpfung in unserem Land
beträgt etwa 7 Prozent. Ich möchte, dass die drei Funktionen der deutschen Bauern auch im Rahmen der
Koexistenz zwischen dem ökologischen Landbau und
der konventionellen Landbewirtschaftung so ausgestaltet
werden, dass unsere Landwirte in Deutschland wieder
eine Perspektive haben: die Funktion als Nahrungsmittelproduzent, die Funktion als Landschaftspfleger und
die Funktion als Rohstoffproduzent, als Energiewirt, wie
die Fachleute sagen. Ich finde, alle drei Funktionen zusammen sind für uns volkswirtschaftlich unentbehrlich,
weshalb ich sehr für eine Achtung der Gesellschaft gegenüber den Leistungen der Landwirtschaft werbe. Es ist
für die Entwicklung des ländlichen Raumes unerlässlich,
dass wir den Landwirten in Deutschland wieder eine
Perspektive geben.
({10})
In der Koalition haben wir vereinbart, dass wir eine
Strategie zur Entwicklung des ländlichen Raumes formulieren. Ich werde in enger Abstimmung mit den Koalitionsfraktionen dazu Mitte des nächsten Jahres einen
großen Kongress in Berlin veranstalten, auf dem wir
über all diese Fragen, wie der Entwicklung des ländlichen Raumes und die Funktion der Landwirtschaft, einen intensiven Dialog führen.
Ich werde darüber hinaus alle Anstrengungen unternehmen, die Wachstums- und Entwicklungspotenziale
im Zusammenhang mit den nachwachsenden Rohstoffen auszubauen. Ich bin seit jeher ein großer Verfechter
der Nutzung der Biomasse. Bevor wir Windkrafträder in
Regionen aufstellen, in denen der Wind nie bläst, ist es
viel besser, die Biomasse stärker zu fördern.
({11})
Das ist deshalb besser, weil die Biomasse als grundlastfähig geeignet und in der Lage ist, andere Energieträger,
zum Beispiel fossile Energieträger, zu ersetzen und nicht
nur zu ergänzen. Gerade bei der Nutzung regenerativer
Energien sollten wir viel stärker darauf achten, welche
Energieträger grundlastfähig sind und damit herkömmliche Energieträger ersetzen und nicht nur ergänzen können.
({12})
Für die Landwirtschaft gilt ganz besonders das Gesamtziel der Koalition, nämlich der Bürokratieabbau.
Ich habe die Mitarbeiter meines Hauses beauftragt, eine
Aufstellung zu machen, in welchem Umfange in den
letzten Jahren bei der Umsetzung von EU-Richtlinien
oder internationalem Recht in Deutschland noch draufgesattelt wurde, was zu einem großen Bürokratieaufwand geführt hat. Ich dachte immer, dass die Bürokratie
im Gesundheitswesen, mit der ich bisher, Wolfgang
Zöller, konfrontiert war, nicht mehr steigerungsfähig sei.
Aber ich höre jetzt aus Gesprächen mit den Bauern in
Deutschland, dass in den letzten sieben Jahren in der
Landwirtschaft eine gigantische Bürokratie installiert
worden ist. Deshalb müssen wir uns gemeinsam anstrengen, nicht nur in der Zukunft die Richtlinien eins zu eins
umzusetzen, sondern auch einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, um festzustellen: Was können wir an bürokratischen Ungeheuern aus der Vergangenheit beseitigen?
({13})
Das Amt des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auszuüben macht ungeheuer Freude und ist spannend. Es hat mit sehr interessanten Themen zu tun, wie Lebensmittel, Lebensraum,
Lebensgrundlagen und Lebensqualität. Es geht also um
die unmittelbare Lebenssituation der Menschen im ländlichen Raum. Das macht mir eine Menge Freude.
Deshalb möchte ich mit einem Satz von Erich Kästner
schließen, der einmal gesagt hat:
Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.
Ich möchte Sie einladen: Tun wir etwas Gutes für unsere
Verbraucher und für die Landwirtschaft.
({14})
Das Wort hat der Kollege Michael Goldmann, FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich schließe mich nahtlos an, Herr Minister.
Lassen Sie uns das Gute gemeinsam tun, damit wir in
diesem Bereich für die Menschen in Deutschland insgesamt erfolgreich sind. Aber, Herr Minister, Sie müssen
es auch wirklich tun und nicht nur davon reden. Ich
glaube, ich werde den einen oder anderen Widerspruch
zwischen dem aufzeigen, was Sie gesagt haben, und
dem, was bis jetzt festgeschrieben wurde.
Die FDP wird ihre klare Linie des unternehmerischen
Landwirtes, der leistungsfähigen Ernährungswirtschaft
und eines klugen und intensiven Verbraucherschutzes
genau so fortsetzen, wie sie das in der letzten Legislaturperiode getan und damit für die Agrarwirtschaft, die Ernährungswirtschaft in Deutschland, ja in der Welt die
richtigen Weichen gestellt hat.
Sehr geehrter Herr Minister, eine Anmerkung sei mir
erlaubt: Als ich vor einiger Zeit Ihren Erfolg im Zusammenhang mit der Zuckermarktordnung im Parlament
vorstellte, flogen mir hier ganze Zuckerrüben - nicht
etwa in geschnitzelter Form - um die Ohren.
Die Idee, die jetzt verwirklicht worden ist, war die
Originalidee der FDP.
({0})
- Es war die Originalidee der FDP:
({1})
eine Preissenkung in Verbindung mit einem 60-prozentigen Ausgleich. Dass jetzt ein Ausgleich in Höhe von
64 Prozent beschlossen worden ist, begrüße ich. Der
Wahrheit halber muss ich aber hinzufügen, dass Norbert
Schindler mir damals - im übertragenen Sinn - fast an
den Kragen gegangen wäre.
({2})
Ich begrüße es sehr, dass Sie jetzt darangehen, das bürokratische Monstrum, das auf der Agrarwirtschaft lastet, zu entflechten. Aber dann seien Sie bitte auch konsequent! Hampeln Sie bei der Altersgrenze für BSE-Tests
nicht wieder herum!
({3})
Wir waren auf dem Weg zu einer europäischen Lösung,
die vorsah, das Testalter zu erhöhen. Sie wollen aber an
den 24 Monaten festhalten. Das schadet dem Unternehmensstandort Deutschland und der Agrarwirtschaft. Damit sind Sie auf dem falschen Weg.
({4})
Wenn Sie in Ihrem Koalitionsvertrag das Ziel formulieren, Bürokratie abzubauen - es ist übrigens interessant, dass Sie zu den Koalitionsvereinbarungen nicht
sehr viel gesagt haben -, dann wundere ich mich darüber, dass Sie ein Prüf- und Genehmigungsverfahren
für Stalleinrichtungen einführen wollen. Das ist doch
ein klassischer Fall von Bürokratieaufbau.
({5})
Sie sprechen davon, dass Sie die Bauern entlasten
wollen. Da frage ich mich, wie diese Entlastung im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer aussieht. Erstens
trifft sie die Bauern als Verbraucher und zweitens belastet sie diese in Millionenhöhe, und das bei den Defiziten,
die sich jetzt durch die Pauschalierung ergeben.
Ich kann Sie nur auffordern, Herr Minister, den Worten konkret und mit großem Mut die richtigen Schritte
hin zu mehr Freiheit in diesem Bereich folgen zu lassen.
Lassen Sie mich noch ein wichtiges Thema ansprechen, zu dem sich auch die Kollegin Connemann heute
geäußert hat, und zwar den Wegfall der Mineralölsteuerbefreiung. Trägt Herr Steinbrück diese Regelung, die
Sie jetzt offenbar auf den Weg gebracht haben, mit? In
den Koalitionsvereinbarungen steht etwas anderes. Aber
der Kollege Schindler hat bereits darauf hingewiesen,
dass der Koalitionsvertrag in diesem Punkt nicht gilt.
Ist Herr Steinbrück bereit, auf 1,7 Milliarden Euro ab
2007 zu verzichten oder ist eine Lösung in Sicht, die
dazu führt, dass der Verbraucher über höhere Mineralölpreise eine Kostenlast auferlegt bekommt und es im
Kern nicht zu dem kommt, was sich die Bauern als Energiewirte von diesem Bereich versprechen?
Es bleibt noch eine Menge zu tun und das werden wir
in den Fällen, in denen wir Gemeinsamkeit herstellen
können, angehen. Aber das, was im Koalitionsvertrag
dazu enthalten ist, ist eine glatte Enttäuschung für all
diejenigen, die die Weichen zugunsten eines starken unternehmerischen Landwirts stellen wollen, wie Sie es angesprochen haben.
Lassen Sie mich noch etwas zum Fleischskandal
ausführen. Ich habe sicherlich zu dieser Branche eine besondere Beziehung. Aber ich wünschte mir, Herr Minister, dass Sie nicht von Missständen im Fleischhandel,
sondern von einigen Unternehmern im Fleischhandel
sprechen, deren Vorgehen völlig daneben ist. Es gibt
keine Mafia in dieser Branche, sondern es gibt dort zu
meinem sehr großen Bedauern Unternehmer, die die anderen in dieser Branche, die sich um höchste Qualität bemühen, auf unerträgliche Weise diskreditieren. Darin bin
ich mit Ihnen völlig einer Meinung.
({6})
Aber auch dazu kann ich Sie nur auffordern: Lassen
Sie Ihrem Zehnpunkteprogramm konkrete Schritte folgen! Verzichten Sie auf Ankündigungen. Sonst sind in
der Presse wieder ähnliche Formulierungen zu lesen wie
heute: „Zukünftig wird“, „Es könnte sein“ oder „Wir
wollen das und das“.
Ich bin sehr für Zusammenarbeit in dieser Frage, aber
wir sollten dann auch die Schritte gehen, die jetzt schon
möglich sind. Im Bereich der Namensnennung von Unternehmen haben Sie schon jetzt alle Chancen.
Wir wollen ein Verbraucherinformationsgesetz, das
dazu beiträgt, die Stellung des Verbrauchers zu stärken,
aber auch dazu, uns eine überbordende Bürokratie zu ersparen. In allen Fragen, bei denen es darum geht, die
deutsche Landwirtschaft und Ernährungswirtschaft sowie den Verbraucherschutz besser zu stellen, finden Sie
uns an Ihrer Seite.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Waltraud Wolff, SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Der Koalitionsvertrag steht. Ich möchte im Hinblick auf den Bereich Verbraucher und Agrar deutlich
sagen, dass wir nicht nur die Verhandlungen auf gleicher
Augenhöhe geführt haben, sondern auch ein Ergebnis erzielt haben, das den Positionen beider großen Volksparteien Rechnung trägt. Dafür möchte ich mich heute noch
einmal bei Ihnen, Herr Minister Seehofer, und bei Frau
Ministerin Zypries, die auf unserer Seite die Verhandlungen geführt hat, ganz herzlich bedanken. Die Verhandlungen waren zwar sehr gut. Aber heute hatte ich das
Gefühl, dass wir die große Koalition noch ein bisschen
üben müssen.
({0})
Dass Herr Seehofer gleich zu seiner Amtseinführung
mit einem Lebensmittelskandal konfrontiert wurde,
zeigt, dass wir ständig mit Herausforderungen zu rechnen haben und sehr schnell reagieren müssen. Die Antwort kann in diesem Fall nur ein umfassendes Verbraucherinformationsgesetz sein. Mein Kollege Ulrich
Kelber wird darauf noch näher eingehen.
Der wirtschaftliche Verbraucherschutz wird als
Querschnittsaufgabe ebenfalls auf unserer Agenda stehen. Stichwort Telekommunikation: Ein Mehr an Preistransparenz ist notwendig. Dabei müssen wir den Jugendschutz ganz gezielt unter die Lupe nehmen. Schon
so mancher Familie ist die Neugier ihres Sprösslings
teuer zu stehen gekommen. Familien brauchen mehr
Schutz.
({1})
Schon in der letzten Legislaturperiode haben wir einzelne Vereinbarungen getroffen. Ein Beispiel ist die
Selbstverpflichtung der Anbieter zu Jugendschutzklauseln in Handyverträgen. Aber der Jugendschutz und die
allgemeinen Regeln des Vertragsrechtes zum Schutz von
Jugendlichen und Kindern müssen im Telekommunikationsbereich uneingeschränkt gelten. Klingeltöne und
Logos dürfen nicht zur Schuldenfalle für Familien werden.
({2})
Stichwort Fahrgastrechte: Mit der „Qualitätsoffensive öffentlicher Personenverkehr“ haben wir bereits in
den vergangenen Jahren eine umfassende Bestandsaufnahme der Fahrgastrechte begonnen. Die Bahn hat sich
bereits in ihrer Kundencharta zu verbindlichen Kundenrechten verpflichtet. Das ist gut und richtig. Öffentlicher
Personenverkehr ist aber mehr als nur die Bahn. Ich
nenne den Flugverkehr als Beispiel. Wir wissen, dass
auch hier die Passagiere auf umfassende und verlässliche
Kundenrechte warten.
Verbraucherrechte und Verbraucheraufklärung bleiben uns wichtig. Deshalb werden wir weiterhin eine
unabhängige Verbraucherberatung ermöglichen. Dies
haben wir im Koalitionsvertrag festgehalten.
({3})
Energieversorgung und Energiepreise spielen für
Verbraucherinnen und Verbraucher im täglichen Leben
Waltraud Wolff ({4})
eine entscheidende Rolle; das wissen wir alle. Gerade
bei den explodierenden Preisen für fossile Energieträger
ist es umso wichtiger, dass auch die neue Bundesregierung auf regenerative Energien setzt. Die letzten sieben
Jahre haben gezeigt, dass die günstigen Rahmenbedingungen für Biokraftstoffe die Grundlage für einen neuen
Markt bereitet haben. Wir alle kennen diesen Markt und
sind froh darüber, dass wir hier Arbeitsplätze nicht nur
im ländlichen Raum gesichert haben. Mit dem Ausbau
der erneuerbaren Energien haben wir einen neuen Wirtschaftszweig in Gang gesetzt. Wir haben ihn nun wieder
auf die Agenda gesetzt und werden ihn voranbringen.
({5})
Die Aussagen aller Fraktionen zur Besteuerung von
Biotreibstoffen sind - Herr Goldmann hat das eben angesprochen - übereinstimmend und eindeutig.
({6})
Klar ist sicherlich, dass steuerlichen Überkompensationen begegnet werden muss. Das verlangt auch das EURecht. Aber wir wollen Planungssicherheit vom Erzeuger bis zum Vertreiber.
({7})
Außerdem gilt es die Klimaschutzziele einzuhalten. Das
geht natürlich nur, wenn wir die Position der erneuerbaren Energien im Energiemix weiterhin stärken.
({8})
Von daher ist es ganz besonders wichtig, dass wir nicht
zu einer Einheitsbesteuerung von reinem Biokraftstoff
und beigemischten Biokraftstoffen kommen. Wenn eine
sofortige Besteuerung von reinen Biokraftstoffen greifen
würde, würden wir einem im Aufschwung befindlichen
Wirtschaftszweig empfindlich schaden. Das wollen wir
alle nicht.
({9})
Für Landwirte wie auch für Verbraucherinnen und
Verbraucher werden in der landwirtschaftlichen Produktion Tier- und Umweltschutz weiterhin groß geschrieben bleiben. Bauern können durch ihr Engagement im
Bereich des Vertragsnaturschutzes Einkommensalternativen nutzen. An dieser Stelle ist es wichtig, dass sie
auch ihr Engagement zeigen, um die Akzeptanz in der
Bevölkerung zu erlangen.
Die Grüne Gentechnik bewegt nach wie vor alle Gemüter. Unsere Aufgabe als Politiker ist es, die EU-Freisetzungsrichtlinie endlich und schnellstmöglich umzusetzen. Wir als SPD werden auch in Zukunft dafür
stehen, dass wir beim Erlangen dieser Ziele wichtige
Größen nicht aus den Augen verlieren.
({10})
Ich nenne da die Koexistenz zwischen dem Gentechnikanbau und dem gentechnikfreien Anbau. Wir wissen,
80 Prozent der Bevölkerung lehnen den Einsatz von
Gentechnik in der Lebensmittelwirtschaft ab. Wir haben
im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass wir die Wirtschaft auffordern werden, einen Haftungsfonds einzurichten.
({11})
Wer mich kennt, weiß, dass ich an dieser Stelle nicht
umhin kann, das Thema zu benennen, das mir persönlich
am Herzen liegt: Das sind die agrarsozialen Sicherungssysteme.
({12})
Wir haben uns im Koalitionsvertrag auf eine Reform der
landwirtschaftlichen Sozialversicherung und der landwirtschaftlichen Unfallversicherung verständigt. Ich
weiß - ich mache das seit sieben Jahren -, dass das dicke
Bretter sind, die gebohrt werden müssen. Wir haben jetzt
aber eine breite Mehrheit, um das durchzuführen. Einheitliche Beitragsmaßstäbe und an die gesetzliche Kranken- und Unfallversicherung angepasste Leistungen sind
dabei sicherlich wichtige Kriterien. Außerdem steht
noch die Bewertung der Organisationsreform aus. Das
alles wird dazu beitragen, dass wir mit unserer Modernisierung Anpassungen an die gesetzlichen Systeme erlangen werden.
Sie sehen, ich habe nur einige Aufgaben aus dem
Koalitionsvertrag benannt. Es gibt viele Aufgaben. Packen wir sie gemeinsam an. Ich lade an dieser Stelle
auch die Opposition ein, mitzumachen und gemeinsam
an diesen großen Aufgaben zu arbeiten.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann,
Fraktion Die Linke.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Unsere ostdeutschen ländlichen Räume drohen zu verarmen, zu vergreisen und zu verdummen. Das war neulich eine Aussage in einer Expertenrunde
zur Regionalplanung.
({0})
Mein Wahlkreis ist ein Kronzeuge dieser Einschätzung.
Er liegt im Nordwesten Brandenburgs, also mitten im
märkischen Sand, der für viele Menschen zum Treibsand
wird. Das Durchschnittseinkommen liegt in dieser Gegend unter 15 000 Euro - im Jahr wohlgemerkt. In meinem Heimatkreis kamen im Monat Oktober auf jede der
139 gemeldeten offenen Stellen 70 Arbeitslose. Die sich
verfestigende Langzeitarbeitslosigkeit droht im ländlichen Raum existenziell zu werden.
Die Menschen reagieren auf diese Perspektivlosigkeit
entweder mit Abwanderung oder mit Resignation. Beides verschärft die Probleme vor Ort. Es gehen vor allen
Dingen die jungen, gut ausgebildeten Menschen und es
gehen überproportional viele flexible junge Frauen.
Die „Mitteldeutsche Zeitung“ vermeldete am 17. November, dass im Landkreis Uekker-Randow unterdessen
auf 100 Männer nur noch 72 Frauen kommen. Das
müsste in dieser männerdominierten Welt eigentlich alle
aufschrecken.
({1})
Doch die Bundesregierung ignoriert bisher die Brisanz der Situation. Vielleicht deswegen, weil dieses Szenario im Moment vor allem Ostdeutschland trifft? Aber
es ist wie bei anderen zugespitzten Problemen: Sie werden schnell auch den Westen unseres Landes erreichen,
wenn wir nicht handeln. Vor uns steht also die Frage: Wie
können wir auch Menschen fern der Städte eine Perspektive geben? Wir brauchen für die ländlichen Regionen
nachhaltige Entwicklungs- und Gestaltungskonzepte.
Dazu gehören verbesserte politische Rahmenbedingungen für eine wettbewerbsfähige Landwirtschaft, aber
eben nicht nur. Der ländliche Raum muss als sozialer
Raum gestaltet werden: Es sind erreichbare Schulen nötig, ein dichtes, bezahlbares öffentliches Nahverkehrsnetz, eine ärztliche Grundversorgung, ein bisschen
Kultur und Kunst. Das alles droht aber bereits wegzubrechen.
Was also ist zu tun? Für die vorgeschlagene „nationale Strategie zur ländlichen Entwicklung“ erscheinen
mir ein paar Linke-Ideen hilfreich. Uns ist wichtig, dass
wirtschaftliche, ökologische und soziale Interessen der
Menschen nicht gegeneinander ausgespielt werden - nirgendwo. Wir bestreiten nicht, dass das ein Spannungsfeld ist. Aber nur eine Gesellschaft, die dies positiv auflöst, ist zukunftsfähig.
({2})
Natürlich sind Arbeitsplätze in der und im Umfeld der
Landwirtschaft eine tragende Säule im ländlichen Raum.
Die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit ist wichtig.
Spannend ist die Frage, wie das erreicht wird. Hohe Umwelt-, Tier- und Verbraucherschutzstandards können
Wettbewerbsvorteile sein. Kaufkraft ist für solche Qualitätsentscheidungen aber wichtig. Eine vertrauensbildende Maßnahme wäre der Verzicht auf die von der
übergroßen Mehrheit der Verbraucherinnen und Verbraucher nicht gewollte Grüne Gentechnik. Das Ergebnis der Volksabstimmung in der Schweiz sollte auch für
die Bundesregierung ein Signal sein.
({3})
Ungeachtet dessen brauchen wir im ländlichen Raum
einen Transformationsprozess, der nach unserem Leitbild hin zu einer multifunktionalen Landwirtschaft mit
einer flächendeckenden Land- und Forstbewirtschaftung
als traditionellem Kern der ländlichen Wirtschaft führt.
So mancher Landwirt wird demnächst auch zum Energiewirt, zum Landschaftspfleger, zum Tourismusanbieter, manchmal vielleicht sogar zum Umweltlehrer. Voraussetzung ist eine gerechte, den Standortbedingungen
angepasste Bezahlung dieser gesellschaftlich gewollten
Leistungen. Das wäre ein kluger Ersatz für die bloße
Alimentierung der Landwirtschaft durch Fördermittel.
Mit Cross-Compliance sind erste Schritte gemacht worden. Allerdings ist uns eine Überwachung der konkreten
Folgen der Einzelentscheidungen wichtig, um auf Probleme zeitnah reagieren zu können.
Wir brauchen neue Wertschöpfungsquellen im ländlichen Raum. Das kann zum Beispiel die stoffliche und
energetische Nutzung von nachwachsenden Rohstoffen
sein. Wenn die politischen Rahmenbedingungen stimmen und verlässlich sind, kann die Landwirtschaft der
Motor dieser Entwicklung sein.
Zu den neuen Chancen in diesem Bereich gehört auch
die Ansiedlung von kleinen und mittelständischen Technologieentwicklern sowie von regionalen Verarbeitungsund Vermarktungskapazitäten. Anders gesprochen: Es
geht um regionale Wirtschaftskreisläufe. Sie sind ein
nachhaltiges Stabilisierungskonzept und müssen politisch unterstützt werden.
({4})
Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte noch auf
ein weiteres ostdeutsches Problem aufmerksam machen.
Die Regierung will beim weiteren Umgang mit den ehemals volkseigenen Flächen die agrarstrukturellen Belange der neuen Länder berücksichtigen. Wir werden
darauf achten, dass das auch geschieht. Allein in Brandenburg laufen die Pachtverträge für circa 185 000 Hektar in den Jahren 2010 bis 2012 aus. In meinem Heimatkreis bewirtschaften 84 Prozent der Betriebe 50 und
mehr Prozent Pachtfläche. Diese Landwirtschaftsbetriebe brauchen verlässliche, faire Chancen und die Regionen brauchen eine sozial ausgewogene Eigentumsstruktur.
({5})
Wir werden auch darauf bestehen, dass eine Reform
der agrarsozialen Sicherungssysteme sozial und gerecht
gestaltet wird. Zusätzliche Beitragsbelastungen werden
viele nicht schultern können.
Zum Fleischskandal nur so viel: Verlässliche Informationen sind wichtig. Noch besser wäre allerdings ein
vorsorglicher Handlungsansatz, zum Beispiel über Zertifizierungen von Erzeugerketten „vom Stall bis zur
Theke“. Hier sind Industrie und Behörden gefragt.
Dass Infektionskrankheiten bei Nutztieren im Koalitionsvertrag gar keine Rolle spielen, ist angesichts der
aktuell sehr drastischen Maßnahmen gegen die Einschleppungsgefahr der aviären Influenza sehr verwunderlich. Der globale Handel stellt eine permanent bestehende Gefahr für unsere Tierbestände dar. Es sollte
daher geprüft werden, ob ausreichende personelle und finanzielle Ressourcen für diesbezügliche Risikobewertungen und ein reaktionsfähiges Krisenmanagement verfügbar sind.
Zur BSE hat Herr Goldmann bereits einiges gesagt.
Auch darüber wird man sprechen müssen.
({6})
Am Ende ist uns vor allem eines wichtig: Wir müssen
auch im ländlichen Raum Politik für die Menschen und
mit den Menschen machen.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Frau Kollegin Tackmann, ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im deutschen Parlament und wünsche Ihnen persönlich und für
Ihre berufliche Laufbahn alles Gute.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Höfken,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Minister Seehofer, meine Herren Staatssekretäre Lindemann, Paziorek und Müller, erst einmal
möchte ich Ihnen zum neuen Amt gratulieren; so viel
Zeit muss sein.
({0})
Auch Erfolg wünsche ich Ihnen. Die Grünen kämpfen
seit vielen Jahren für
({1})
gute Lebensmittelproduktion, mehr Verbraucherschutz
und Arbeitsplätze in ländlichen Räumen. Dafür stand
auch unsere Ministerin Künast.
({2})
Für diese auch grünen Politikziele wünsche ich Ihnen
viel Erfolg.
({3})
Die erste Bewährungsprobe für Sie ist jetzt der
Fleischskandal. Frau Merkel hat gestern ausführlich formuliert, was sie will: „mehr Freiheit wagen“. Da wollen
wir doch mal sehen, wessen Freiheit gemeint ist, die der
Fleischpanscher oder die der Verbraucher.
({4})
Wir fordern Informationsfreiheit für die Verbraucher
und Herr Minister Seehofer, mit Geschichtsklitterung
kommen Sie bei uns nicht durch.
({5})
Zweimal hat der Bundesrat unser Verbraucherinformationsgesetz abgelehnt. Bei den Formulierungen, die Sie
eben zitiert haben, handelt es sich um die Ergebnisse der
Arbeitsgruppe. Für dieses Recht auf Information durch
die Behörden musste man die CDU - Herr Goldmann
nickt; daran können Sie sehen: ich habe Recht ({6})
zum Jagen tragen, die CSU sowieso. Bayern und BadenWürttemberg waren die hartnäckigsten Widerständler.
Aber man kann ja lernen und durchaus etwas besser machen. Nach der Auflösung des Parlaments haben wir
keine Gesetzentwürfe mehr eingebracht - das stimmt -,
aber wir können das für Sie gern weiter übernehmen.
Deshalb werden wir auch einen Entwurf einbringen.
({7})
Wir fordern null Toleranz - jawohl! - für Scheinlösungen. Die Öffentlichkeit muss erfahren, was drin ist
und was los ist und darf dabei nicht der Behördenwillkür
ausgesetzt sein; denn die Behörden haben offensichtlich
keine großen Ambitionen, die Leute zu informieren. Die
Verbraucher aber wollen wissen, wer panscht, wer abzockt, wer betrügt, nicht nur bei Lebensmitteln, auch bei
Produkten und Dienstleistungen, übrigens nicht nur von
den Behörden, sondern auch von den Unternehmen, und
ganz selbstverständlich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit. Herr Minister Seehofer, geben Sie den Verbrauchern und den Medien also die Sanktionsmöglichkeiten
in die Hand! Dann werden die Fleischpanscher keine
Deckung mehr haben. Das ist die effektivste Maßnahme.
({8})
Wir unterstützen Sie auch gern bei den Maßnahmen,
zum Beispiel bei der Rückverfolgbarkeit. Ich nenne nur
einmal die Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Regelung.
Schon bei der ersten Gelegenheit haben Sie dieses Prinzip verlassen. Dafür habe ich übrigens Verständnis. Natürlich gibt es von uns auch Unterstützung bei den Sanktionsverschärfungen. Selbstverständlich tun wir das,
wenn etwas Gutes gemacht wird. Dafür bringen wir
heute den Antrag ein; ein Gesetzentwurf wird folgen.
Den Glaubwürdigkeitsbeweis müssen Sie antreten.
Das gilt übrigens für die gesamte Palette. Es heißt ja
jetzt: Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
So ein Unsinn mit der Umbenennung! Dafür, dass die
drei Wörter umgestellt werden, müssen der Name des
Ausschusses, alle Briefköpfe, Stempel und Briefumschläge geändert werden. Das ist wahrscheinlich der
Praxisbeweis für Entbürokratisierung und dann eben
auch für Haushaltskonsolidierung von Schwarz-Rot.
({9})
- Das war ein qualitativer Unterschied. Ihr habt doch nur
die gleichen Begriffe umgestellt. Das wollen wir mal sehen!
Ansonsten kann ich zum Koalitionsvertrag nur sagen:
Da droht eine Politik gegen die Landwirtschaft und gegen die Verbraucher.
Das Erste, was da nun massiv einschlägt, ist die Steuererhöhung. Schon jetzt sind die Verbraucher und der
Mittelstand hochgradig verunsichert. Dagegen war das,
was von Ihnen vorher angeklagt wurde, nur ein harmloses Wehen. Die Verunsicherung sieht man übrigens sehr
deutlich an den Wirtschaftsdaten. Diese massive SteuerUlrike Höfken
erhöhung wird sich massiv auf den Lebensmittelmarkt
auswirken. Nehmen wir einmal die Berechnungen aus
der „Zeit“: über 4 000 Euro Mehrbelastung für eine Familie mit zwei Kindern. Das ist irre und vollkommen unsozial und es erhöht den Druck auf die Lebensmittelpreise; denn damit werden die Discounter mit ihrer
Vermarktung nach dem Motto „Geiz ist geil“ gestärkt.
Das ist Ihre Politik.
({10})
Da nutzt das Verbot des Verkaufs unter Einstandspreis
gar nichts.
Und die pisseligen paar Euro, die durch die Lohnnebenkostenentlastung hereinkommen, können Sie sich in
die Haare schmieren.
({11})
In Landwirtschaft und Handel kann dafür kein Mensch
zusätzlich eingestellt werden. Da wären Potenziale vorhanden.
Der Ökolandbau und die regionale Qualitätsproduktion werden wieder in die Nische gedrängt und als Spielwiese diffamiert. Dabei haben sich gerade diese Bereiche als Jobmotor entwickelt. Da war Innovation; dort
sind 100 000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen worden.
„Freiheit wagen“; kommen wir darauf einmal zurück.
Darunter versteht Frau Merkel wohl die ungehemmte
Aktionsfreiheit für die Konzerne im Gentechnikbereich.
({12})
Wir wollen gentechnikfreie Lebensmittel; dafür brauchen wir die Freiheit. Wir versprechen Ihnen, dass wir
auf die Barrikaden gehen, wenn Sie diese Freiheit durch
eine Verschlechterung des Gentechnikgesetzes aufs
Spiel setzen.
({13})
Zu den Biokraftstoffen. Auch da haben Sie ein Meisterstück vollbracht. Mit dem Koalitionsvertrag nehmen
Sie den Bauern die unternehmerische Freiheit, sich dezentral einen Markt zu erarbeiten, wie sie es bisher
konnten. Stattdessen geben Sie den Mineralölkonzernen
die Macht über Preisgestaltung und Markt. Sie erhöhen
die Spritpreise aus Biokraftstoffen und behindern damit
eine umweltfreundliche Innovation. Das werden wir
nicht hinnehmen.
({14})
Wir verlangen von Ihnen, Herr Minister Seehofer, dass
Sie eine Änderung des Koalitionsvertrages durchsetzen
und die Steuerfreiheit für die Biokraftstoffe beibehalten.
({15})
Beim wirtschaftlichen Verbraucherschutz - sowohl
im Telekommunikationsbereich als auch in Bezug auf
die Gas- und Strompreise - erwarten wir, dass die Verbraucher auf Augenhöhe mit den Unternehmen gebracht
werden. Da hat meine Kollegin Höhn ganz Recht, wenn
sie die unverschämte Preiserhöhung der Monopole und
die Intransparenz des Marktes anprangert und eine Entschädigung für die Bürger verlangt, die durch die unzureichende Netzpflege der RWE zu Schaden gekommen
sind. Milliardengewinne und Privatisierung der Schäden,
das geht nicht. Bei diesem Freiheitskampf, Herr Minister
Seehofer, wollen wir sehen, für wessen Freiheit die Koalition steht.
({16})
Sie wollen über das gesamte Ressort 800 Millionen Euro einsparen. Die Kürzung der Pendlerpauschale
haben Sie beschlossen; okay. Aber es darf nicht dazu
kommen, dass die Gemeinschaftsaufgabe und die Verordnung „Ländlicher Raum“ kaputt gespart werden. Hier
liegen nämlich die Potenziale für eine nachhaltige Entwicklung, für eine multifunktionale Landwirtschaft. Das
ist ein Gebot der Zukunft, gerade angesichts der WTOVerhandlungen. Marktverzerrungen zulasten der Entwicklungsländer darf es nicht geben. Geben Sie einer
nachhaltigen Landwirtschaft
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
({0})
- und dem Verbraucherschutz eine Chance! Unterstützen Sie die nachhaltige Landwirtschaftspolitik, statt
sie zu verspielen! Dann werden wir sicher Gemeinsamkeiten finden.
Danke.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Kelber, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Auch von meiner Seite zunächst einmal herzlichen Glückwunsch an den Bundesminister zu seiner Ernennung. Herzlichen Glückwunsch auch an die Kollegin
Höfken zur offensichtlichen Belegung eines Seminars in
Oppositionsrhetorik!
Die Geschichte mit der zweimaligen Umbenennung
des Ministeriums erinnert mich ein bisschen an meine
Heimatstadt: Als 1994 Rot-Grün die Kommunalwahlen
gewonnen hatte, musste unbedingt der Verkehrsausschuss umbenannt werden. Als 1999 Schwarz-Gelb gewann, musste er wieder umbenannt werden. In beiden
Fällen war es übrigens die erste Maßnahme, einmal vorgeschlagen von den Grünen, das andere Mal vorgeschlagen von der CDU. 2004 musste der Ausschuss wieder
umbenannt werden; es war wieder der erste Vorschlag
der Grünen. In dieser Frage geben sich CDU und Grüne
nicht so viel.
({0})
Entscheidend ist: Deutschland braucht endlich und
zügig ein Verbraucherinformationsgesetz. Dann kann
man auch nachlesen, wer was vorgeschlagen hat. Deswegen ist es zu Recht einer der Kernpunkte der Koalitionsvereinbarung im Bereich Ernährung, Landwirtschaft, Verbraucherschutz. Der Skandal um das so
genannte Gammelfleisch, den wir jetzt hatten, zeigt, dass
insbesondere die Möglichkeit zur Benennung schwarzer
Schafe der entscheidende Punkt ist, und zwar nicht nur
aus Sicht der Verbraucher, sondern auch aus Sicht der
Behörden und vor allem der betroffenen Wirtschaft. Ich
freue mich daher besonders über die klare Ankündigung
einer Mehrheit für die Einführung eines Verbraucherinformationsgesetzes, nicht nur von Bundesminister
Seehofer, sondern zum Beispiel auch von Landesminister Schnappauf.
Die Einbringung kann und muss schnell erfolgen,
denn die Vorarbeiten sind längst erledigt. Es hat 2002
und 2005 die entsprechenden Initiativen gegeben. Der
Deutsche Bundestag hat eine solche Gesetzgebung vorgenommen; sie ist nur nie in Kraft getreten.
Es war in der Tat der Bundesrat, der beide Initiativen
aufgehalten hat. Ich war gerade kurz unsicher und habe
deswegen den Koordinator der SPD-Seite im Vermittlungsausschuss gefragt: Wie war denn das nach der
Landtagswahl in NRW? Er sagte mir noch einmal, Bayern, Baden-Württemberg und die FDP - auch eine interessante Troika; nicht nur in der SPD gibt es Troikas hätten klar angekündigt: Wenn ihr das weiter verfolgt,
werden wir das im Bundesrat scheitern lassen.
({1})
Das heißt, wir hatten zweimal die Möglichkeit und haben sie zweimal nicht genutzt. Aber auch hier eröffnet,
um mit Frau Merkel zu sprechen, die große Koalition
neue Möglichkeiten. Jetzt gibt es eine klare Mehrheit.
({2})
Ich erwähne das nur deswegen, weil sich manche Bundesratsvertreter in der Zeit der Not - bei einem Skandal,
der zeigt, dass man eigentlich dieses Gesetz gebraucht
hätte - in der Geschichte etwas vertan haben und der
Bundesminister von diesen Irrungen einiger Bundesratsvertreter aus dem Süden unserer Republik nicht völlig
unbeeindruckt geblieben ist.
({3})
Neben den Verbrauchern - ich habe das gerade kurz
erwähnt - ist es natürlich die große Zahl der ehrlichen
und verantwortlich handelnden Unternehmen, die darauf
besteht, dass wir ein solches Gesetz schaffen. Wenn man
mit diesen Unternehmen - auf sie wird bei dem Skandal
in diesen Tagen wenig geachtet - spricht, dann erfährt
man, dass der Skandal auch Unternehmen betrifft, die in
ihrem Bereich verantwortlich gehandelt haben, die in der
Konkurrenz nicht auf billig, sondern auf Qualität gesetzt haben und die in dieser Angelegenheit eben nicht
mit gefangen sein wollen. Vor allem diese drängen auf
eine Möglichkeit, die schwarzen Schafe zu benennen,
was die größtmögliche Sanktion ist, die es an dieser
Stelle gibt.
({4})
Es muss aber eine sehr umfangreiche Benennung sein
- nicht nur die, die wir heute haben -, und zwar aus einem einfachen Grund: Es nützt nichts, nur zu sagen, man
dürfe im Augenblick das Produkt xy nicht kaufen oder
die Dienstleistung xy - auch das gehört bei einem etwas
übergreifenden Verbraucherinformationsgesetz dazu nicht in Anspruch nehmen. Vielmehr muss ein Druck
entstehen, damit auch innerhalb der Wirtschaftskette
mehr auf Qualitätskontrolle, mehr auf Selbstkontrolle
Wert gelegt wird. Das ist dann der Fall, wenn man mit
solch einer Sanktion rechnen muss, falls man diese Ware
weiterverarbeitet. Deswegen kann man, wenn ein Unternehmen von Preisen profitiert, die eigentlich nicht real
sind, verlangen, dass eine Qualitätseingangskontrolle
durchgeführt wird, wie das bei vielen Unternehmen
längst üblich ist. Das muss bei jedem einzelnen Unternehmen in der Breite erreicht werden. Und die Branche
selbst muss natürlich ebenfalls solche Selbstkontrollen
einführen.
({5})
In den Medien wurde diese Koalition oft als Koalition
der gleichen Augenhöhe bezeichnet. Ich glaube, mit dem
Verbraucherinformationsgesetz können wir dafür sorgen,
dass informierte Verbraucherinnen und Verbraucher auf
gleiche Augenhöhe mit der Wirtschaft gelangen. Um es
in einer Anlehnung an Frau Merkel und Herrn Platzeck
zu sagen: Lassen Sie uns mehr Transparenz wagen!
({6})
Das Wort hat der Kollege Peter Bleser, CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die vorgezogene Bundestagswahl hat für die Agrarwirtschaft
und für die Verbraucher zweifellos entscheidende Vorteile gebracht. Es ist jetzt Schluss mit der grün durchtränkten Ideologie in der Agrarpolitik und mit sachfremden Entscheidungen, die viele Arbeitsplätze in dieser
Branche gekostet haben. Es ist jetzt Schluss mit dem
Konfrontationskurs von Frau Künast gegenüber dem Berufsstand, der darin gipfelte, den Bauernverband als
„mafiöses Gebilde“ zu bezeichnen.
({0})
Es ist jetzt Schluss mit dem sinnlosen Verpulvern von
Haushaltsmitteln für Propaganda, die für die Ökobauern
nichts bewirkt hat und die nur der Verbreitung der grünen Ideologie diente.
({1})
Ich könnte jetzt diese Liste der Fehlleistungen beliebig fortsetzen.
({2})
Aber mit Rücksicht auf unseren neuen Koalitionspartner
und in Kenntnis der Schmerzen, die er in der Koalition
mit den Grünen erlebt hat, möchte ich jetzt darauf verzichten.
({3})
Deshalb sage ich: Jetzt ist Schluss mit diesen Schmerzen. Sie werden sehen, dass wir eine gute Zusammenarbeit zum Nutzen der Menschen in diesem Bereich und
der Verbraucher haben werden.
({4})
Frau Höfken, ich will Ihnen gleich sagen, Ihre Argumentation, dass die Mehrwertsteuererhöhung gerade in
den unteren Einkommensschichten zu erhöhten Belastungen führen würde, ist völlig daneben. Sie wissen das
ganz genau. Wir haben mit der Beibehaltung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes in Höhe von 7 Prozent sehr
darauf geachtet, insbesondere die Bedürfnisse dieser
Schichten zu berücksichtigen.
({5})
Das war unser Ziel und ist in der Koalitionsvereinbarung
so vorgesehen.
Wir richten jetzt den Blick nach vorne. Unsere Landwirte wissen ganz genau, dass aufgrund der katastrophalen Haushaltslage keine finanziellen Wohltaten mehr
möglich sind. Sie erwarten diese auch gar nicht. Aber
was sie mit Recht fordern, ist, dass Land-, Fischerei-,
Forst- und Ernährungswirtschaft sowie Gartenbau mehr
Freiheit für Leistung bekommen. Die Bereiche brauchen verlässliche Rahmenbedingungen und verlässliche
Partner in der Politik.
({6})
Das ist unsere Aufgabe. Das sind wir dieser Branche
schuldig.
({7})
Minister Seehofer hat schon die Bedeutung der
Agrarwirtschaft geschildert. Ich will das um die Aussage
ergänzen, dass wir es bei der Landwirtschaft mit einem
der dynamischsten Wirtschaftssektoren unserer Volkswirtschaft zu tun haben. Es gibt hier Produktivitätssteigerungen um fast 100 Prozent in den letzten zehn Jahren.
Das zeigt, wie leistungsbereit die Menschen in diesem
Sektor sind. Deswegen haben sie es verdient, dass die
Politik ihnen hilft und ihnen nicht im Weg steht.
({8})
Wir werden deshalb im BMELV eine Arbeitsgruppe
einrichten, die sich mit der Stärkung des Agrarstandortes
Deutschland durch Investitionsförderung und Bürokratieabbau beschäftigt. Diese Arbeitsgruppe wird alles
nach überflüssiger Bürokratie und nach Investitionshemmnissen durchforsten. Wir waren uns einig darin,
dass dies sehr zielstrebig auch mit Beteiligung des Parlamentes geschehen soll.
Ein wichtiger Punkt wird sicher sein, dass wir - das
ist längst überfällig - die Hennenhaltungsverordnung
mit der Möglichkeit der Einführung von Kleinvolieren
umsetzen.
({9})
In diesem Bereich gibt es einen Investitionsstau in Höhe
von fast 1 Milliarde Euro. Diesen Stau wollen wir auflösen, um Arbeitsplätze zu erhalten und neue zu schaffen.
Wir werden auch die Agrarforschung stärker vernetzen und die nachwachsenden Rohstoffe fördern.
({10})
Wir werden neuen Technologien wie der Grünen Gentechnik zum Durchbruch verhelfen. Dabei ist klar, dass
die Wahlfreiheit des Verbrauchers erhalten bleibt
({11})
und dass die Koexistenz im Anbau möglich bleibt.
({12})
Das alles werden wir angehen.
Frau Wolff hat diesen Punkt richtigerweise angesprochen: Über die Steuerbefreiung von Biokraftstoffen
müssen wir noch einmal reden.
({13})
Darüber müssen wir noch im Detail diskutieren, um hier
eine vernünftige, an die Praxis angepasste Regelung zu
finden.
Die wichtigsten Akteure am Markt sind natürlich die
Verbraucher. Ohne sie ist jede Produktion sinnlos. Deswegen sind wir darauf aus, dass die Verbraucher auf Augenhöhe - dieser Begriff ist mehrfach gefallen; ich
nehme da auch eine gewisse Urheberschaft in Anspruch - am Markt teilnehmen können. Der Verbraucher
will auch eine Politik, die zu einem Maximum an Lebensmittelsicherheit führt. Er will aber keine Bevormundung. Er will, dass wir das Leitbild des mündigen Verbrauchers in unseren Zielen festhalten.
Diese Ziele werden mit dem Koalitionsvertrag für die
Bereiche Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz sicher erreicht. Ich will auch hier gerne bestätigen, dass diese Koalitionsverhandlungen in einem sehr
guten Geist stattgefunden haben, sehr konstruktiv und
von großer Sachlichkeit geprägt waren. Es ist wichtig,
dass die Menschen das wissen, damit sie Vertrauen in die
Verlässlichkeit unserer Aussagen haben.
Deswegen sage ich: Das Ergebnis ist ein Neuanfang
in der Verbraucher- und Agrarpolitik in Deutschland.
Dieser Handlungsrahmen ist ein Zeichen der Hoffnung,
der Zuversicht und der Befreiung von unnötiger Bürokratie, staatlicher Bevormundung und beruflicher Diskriminierung. Das sollten die Menschen draußen wissen,
damit sie Mut fassen, die Ärmel hochkrempeln und investieren.
Neben diesen Koalitionsvereinbarungen ist es wichtig, welcher Mann an der Spitze des Ministeriums diese
Politik umsetzt. Ich bin in der Tat sehr froh, dass wir jemanden haben, der sein Geschäft offensichtlich versteht.
Gleich zu Beginn hat Minister Seehofer zwei Bewährungsproben exzellent bestanden.
Während Frau Künast noch vollmundig der Reform
der Zuckermarktordnung zugestimmt hat, ist es ihm
quasi am zweiten Arbeitstag gelungen, die Vorgaben, die
für die deutschen Landwirte und die deutsche Zuckerwirtschaft nachhaltig negativ waren, zum Besseren zu
wenden. Es wird geringere Preissenkungen, höhere Ausgleichszahlungen und einen Restrukturierungsfonds geben, der dabei hilft, Produktionspotenziale hier zu halten. Auch was die Importe aus den Geberländern angeht,
gibt es Grenzen, die hier nicht marktstörend wirken können.
({14})
Es besteht natürlich kein Anlass, über die Neuordnung
im Bereich der Zuckerwirtschaft zu jubeln. Allerdings
muss man sehen, dass ein ganz wesentliches, entscheidendes Ziel erreicht worden ist: Die Produktionspotenziale bleiben im Land und damit besteht die Chance, die
dort Beschäftigten - eine Größenordnung von 50 000 zu halten. Das ist die entscheidende Vorgabe, die gemacht worden war. Die ist erreicht worden.
({15})
Der zweite Bereich, der diese Regierung kurz nach
der Amtsübernahme beschäftigt hat, war der Fleischskandal. Auch hier galt es, sehr schnell und zielgerichtet
zu handeln. Ich sage Ihnen ganz offen: Hier wird eine
ganze Branche verunglimpft, die das natürlich nicht verdient hat. Aber es gibt einzelne schwarze Schafe, die wir
mit aller Entschiedenheit und aller Entschlossenheit fangen und ausgrenzen müssen. Da muss die volle Härte
des Gesetzes greifen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit einem
Verbraucherinformationsgesetz und dadurch mit der Namensnennung eine abschreckende Wirkung erzielen
können,
({16})
um das, was hier geschehen ist, in Zukunft zu erschweren.
Aber, Frau Höfken, dazu brauchen wir weder unser
Wahlprogramm noch den Koalitionsvertrag umzuschreiben. Wir wollten schon immer ein Verbraucherinformationsgesetz, aber ein anderes als das, das Sie vorgelegt
haben. Ihres war nicht durchdacht; es war Murks und
nicht zielführend.
({17})
Wir möchten, dass diejenigen genannt werden, die gegen
Gesetze verstoßen haben. Das muss die entscheidende
Hürde sein, damit hier kein Missbrauch geschieht. Ich
bin der festen Überzeugung, dass wir das Ganze in der
Detailberatung in entsprechender Weise hinbekommen.
Wir werden des Weiteren dazu beitragen, dass die Bürokratie nicht überhand nimmt, und ein Pilotprojekt initiieren, mit dem überprüft wird, ob man in Verbindung
mit staatlichen Kontrollmaßnahmen private Zertifizierungs- und Qualitätssicherungssysteme nutzen kann, um
die Bürokratie zu reduzieren und Kosten zu sparen.
Meine Damen und Herren, die Lampe hier am Rednerpult blinkt; ich muss zusammenfassen.
Nein, Herr Kollege, Sie müssten eigentlich aufhören.
({0})
In Deutschland ist eine neue Epoche angebrochen,
Frau Präsidentin. Ich bin sicher, dass wir dann, wenn wir
unsere Aufgaben, die wir uns selber gestellt haben, in
der Geschlossenheit angehen, wie es die Verhandlungen
um den Koalitionsvertrag gezeigt haben, eine gute Politik für die Menschen in diesem Land werden machen
können.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel HappachKasan, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister Seehofer, ich habe mich riesig gefreut,
dass Sie an den Anfang Ihrer Rede gestellt haben: LandDr. Christel Happach-Kasan
wirtschaft und Verbraucherschutz sind keine Gegensätze. - Ich finde, Sie hätten für dieses Wort den Beifall
des ganzen Hauses verdient. Ich bedauere ein bisschen,
dass die schwarz-rote Koalition noch nicht dabei angekommen ist, auch schwarz-rot Beifall zu klatschen. In
diesem Punkt hätten Sie ihm wirklich zustimmen können, liebe Kollegin Wolff. Ich finde, das hätte er verdient.
({0})
Das große Thema der Debatte lautet: Mehr Arbeit und
mehr versicherungspflichtige Arbeitsplätze schaffen.
Das muss auch für das Ministerium für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz gelten. Im Koalitionsvertrag gibt es Licht und Schatten. Beides ist angesprochen worden. Die Regierung will sich ihrer Pflicht
stellen und das Gentechnikgesetz grundlegend novellieren. Das halten wir für gut. Sie folgen weitgehend den
FDP-Vorstellungen. Herr Minister, ich lade Sie ein, sich
auch weiterhin an unseren Vorstellungen zu orientieren.
Dann sind Sie immer auf dem richtigen Weg.
({1})
Im Mittelpunkt steht insbesondere die Haftungsregelung. Für die FDP steht fest: Finanzielle Schäden müssen ausgeglichen werden. Das kann durch Haftungsregelungen, die nicht darauf abzielen, die Grüne Gentechnik
ganz zu verhindern, erreicht werden. Wir setzen darauf,
dass es eine solche Regelung geben wird. Wir sind nicht
der Meinung, dass ein Haftungsfonds die erste Wahl ist,
weil er ein Präjudiz für zukünftige Verfahren wäre. Üblicherweise werden finanzielle Risiken durch die Versicherungswirtschaft abgesichert. Das muss auch in diesem Fall so sein.
Herr Minister, für Ihr Vorhaben der Novellierung des
Gentechnikgesetzes erhalten Sie Rückenwind durch die
Volksabstimmung in der Schweiz. Bei einer Beteiligung
von knapp über 40 Prozent stimmten 55 Prozent der
Schweizer für das Moratorium. Das heißt, 77 Prozent
der Schweizerinnen und Schweizer stimmten gegen das
Moratorium oder betrachteten die Abstimmung als unwesentlich und gingen gar nicht zur Wahl.
({2})
Das heißt, die Grüne Gentechnik hat Marktchancen.
Man muss nur ein bisschen besser rechnen können als
Sie.
({3})
Für die Nutzung der nachwachsenden Rohstoffe
gibt es dagegen nur Lippenbekenntnisse. Dabei ist dies
unser zentrales Zukunftsthema. Nachwachsende Rohstoffe dienen der Nachhaltigkeit und schaffen Wertschöpfung und Arbeitsplätze im ländlichen Raum.
({4})
Die Aussage im Koalitionsvertrag, dass „die Mineralölsteuerbefreiung für Biokraftstoffe durch eine Beimischungspflicht“ ersetzt wird, ist schlicht und ergreifend
eine Katastrophe.
({5})
Solange wir hierzu nicht ein Wort vom Finanzminister gehört haben - der stand heute Morgen eher mit dem
Rücken an der Wand denn gestaltend im Raume -, müssen wir davon ausgehen, dass Sie dieser Zukunftsbranche von heute auf morgen das Licht ausblasen wollen.
Wir finden das extrem schädlich für die ländlichen
Räume.
({6})
Die FDP-Fraktion wird darauf achten, dass die
Charta für Holz umgesetzt wird und dass auch in diesem Bereich eine Entbürokratisierung erfolgt. Dafür gibt
es viele Möglichkeiten.
Wir wollen verlässliche Rahmenbedingungen für unsere Fischer, für die Hochsee- und Kutterfischerei, für
die Binnenfischerei und für die Aquakulturen. Diese
Branchen wurden von der letzten Regierung total vernachlässigt. Wir brauchen Chancen, insbesondere an der
Küste. Lieber Kollege Michael Goldmann, ich hoffe, du
stimmst zu.
({7})
- Er tut es nicht. Entschuldigung, das ist Künstlerpech.
Wir wollen eine Ausrichtung des Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf eine
Politik, die mehr Arbeitsplätze im ländlichen Raum
schafft. In diesem Bereich gibt es extrem viel zu tun. Packen wir es an.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier,
SPD-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
nehme für mich heute nicht in Anspruch, dass wir in
dem Koalitionsvertrag die Agrarpolitik grundsätzlich
neu definiert haben. Das einzige Kontinuum zwischen
den zurückliegenden sieben Jahren und den uns bevorstehenden vier Jahren ist natürlich die SPD-Agrarpolitik.
Da die Diktion bei den einzelnen Redebeiträgen noch
nicht so ganz passt, gestehe ich ein, dass das Ganze gewöhnungsbedürftig ist. Man sollte rückblickend aber
auch die Leistung des Koalitionspartners würdigen. Es
mag aus Sicht der damaligen Opposition - dort, wo Sie
damals als Oppositionsvertreter gesessen haben, sitzen
Sie heute als Koalitionspartner - immer mal wieder Probleme gegeben haben. Ich glaube aber, wir finden ganz
gut zusammen. Gemeinsam werden wir - das müssen
wir ja auch - dieses große Projekt angehen.
Es gibt keine revolutionären Brüche in der deutschen
Agrarpolitik; es hat sie nie gegeben. Es gab Positionsbestimmungen und Neuorientierungen. In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass wir auch jetzt, mit
diesem Koalitionsvertrag, gehalten sind, eine Positionsbestimmung vorzunehmen. Wir werden das tun. Wir
werden ein Grünbuch vorlegen und daraus Konsequenzen ziehen.
Die Gelegenheit haben wir und müssen wir nutzen,
um jetzt vorausschauend für eine mittelfristige und auch
längerfristige Perspektive die Pflöcke einzuschlagen, die
unsere Agrarwirtschaft braucht, damit sie in Zukunft
wettbewerbsfähig ist. Denn das ist, glaube ich, das erste
Essential aus dem Koalitionsvertrag: Wie erreiche ich
Wettbewerbsfähigkeit?
Ich ziehe mir den Schuh an; denn ich habe ein bisschen dazu beigetragen. Auch wenn Agrarpolitik von mir
nicht nur auf der Verstandesebene, sondern auch aus
dem Innern heraus und mit vielen Emotionen gestaltet
wird, glaube ich: Es wird uns gelingen - wenn wir die
Emotionen ein bisschen dämpfen -, das eine oder andere
in Zusammenarbeit - unter Umständen mit der Opposition - hier ganz vernünftig über die Bühne zu bekommen.
Ich weiß nicht, ob die Philippika, die Sie eben von
sich gegeben haben, Frau Kollegin Höfken, liebe Ulrike,
so ganz am Platz war. Ich habe schon fast Angst bekommen, dass ich bei alldem, was du uns aufgezählt hast, gar
nicht in den Himmel komme.
({0})
Da steht man hier als armer Sünder! Aber wenn man die
Rede auf das herunterbricht, was wirklich enthalten war,
dann ist das ungefähr so, als ob man sich mit einer ökologisch aufgezogenen Gans über Weihnachten unterhält.
Mehr war das nicht.
({1})
Verehrte Frau Kollegin Tackmann, die Linke soll ja
auch nicht ganz ungestraft bleiben. Sie müssen einmal
Ihre Perspektive bedenken. Es gibt nicht nur die Landwirtschaft und die ländlichen Räume in den neuen Bundesländern.
({2})
Es gibt auch die alten Bundesländer. Es gilt auch in diesem Bereich, unter Umständen einen Ausgleich zwischen den spezifischen Interessen der neuen Bundesländer und der alten Bundesländer zu finden. Das ist uns
bisher relativ gut gelungen.
({3})
Aus diesem Grunde sind wir bereit, in dem Bereich so
weiterzumachen, dass die berechtigten Interessen gewahrt werden. Wir haben das im Koalitionsvertrag dargelegt. Wir haben uns zu den BVVG-Flächen geäußert
({4})
und eine ganz klare Ansage gemacht. Auf dieser Grundlage werden wir auch weiterhin Politik machen. Niemand muss Angst haben, dass ihm Grund und Boden
und damit die Existenz entzogen wird. Dafür werden wir
Sorge tragen; da können Sie ganz sicher sein.
({5})
Die deutsche Agrarpolitik hat sich vor dem Hintergrund dessen, was wir in den letzten zehn, 15 Jahren an
Veränderungen im Rahmen von Globalisierungsprozessen erlebt haben, entsprechend neu auszurichten. Ich
habe es gerade schon gesagt: Vornan steht natürlich die
Wettbewerbsfähigkeit, vor allen Dingen wenn man Umwelt- und Tierschutzstandards halten und auch ausbauen
will. Das kann nur gelingen, wenn die Betriebe wettbewerbsfähig sind und wenn durch zusätzliche Innovationen in den Betrieben Kostenvorteile entstehen, die es
möglich machen, das alles zu bezahlen. Denn letztendlich werde ich, wenn ich die Bedingungen, unter denen
ich zu wirtschaften habe, so gestalte, dass mir das nicht
mehr gelingt, meine Produktion verlieren.
Deshalb muss man den schmalen Grat - auf der einen
Seite die Anforderungen aus dem Bereich des Tierschutzes und andere wichtige Dinge, die wir als politisches
Ziel und als Forderung an die Landwirtschaft richten,
und auf der anderen Seite die Wirtschaftlichkeit und die
Wettbewerbsfähigkeit, die wir sicherzustellen haben gehen. Übermäßige Auflagen in diesem Bereich führen
nicht unbedingt dazu, dass sie hinterher umsetzbar sind.
Denn wenn der Produzent geht und sich umorientiert,
dann nutzen uns natürlich auch die hohen Standards, die
ich hier für Produktion oder auch für eine nachhaltige
Landwirtschaft formuliere, nicht. Das widerspricht sich.
Aus diesem Grunde werden wir den Konsens mit der
Ausrichtung unserer Agrarpolitik suchen, damit wir sie
im Sinne der Menschen in unserem Lande und auch im
Hinblick auf das, was auf der europäischen Ebene von
uns verlangt wird, entsprechend ausgestalten.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass wir vor
allen Dingen einen Bereich vorantreiben: Das ist der Bereich Forschung und Innovation. Genau wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen ist das die Grundlage
im Agrarbereich. Wenn wir Märkte der Zukunft besetzen
wollen, wenn wir unseren Anteil am Weltmarkt sichern
wollen, dann kommt es darauf an, gerade diesen Bereich
in besonderer Weise zu berücksichtigen und zu fördern.
Agrarforschung im eigentlichen Sinne ist auch Grundlagenforschung. Daher werden wir uns - das haben wir
ebenfalls in den Koalitionsvertrag geschrieben - gerade
diesem Bereich mit besonderem Augenmerk widmen
und werden versuchen, das, was wir in unserer föderalen
Landschaft in diesem Bereich vorfinden, im Konsens
mit den Bundesländern, im Konsens mit den Betroffenen
und im Konsens mit den Forschungseinrichtungen, die
teilweise in den Unternehmen betrieben werden, in eine
Struktur zu bringen, die nachhaltig und dauerhaft die Innovationen im Bereich der Landwirtschaft voranbringen
sollte.
Nun noch ein paar Worte zur Lebensmittelsicherheit
und zur Rückverfolgbarkeit; das ist ja heute schon ein
großes Thema gewesen. Zunächst einmal glaube ich,
Schuldzuweisungen nützen nicht allzu viel. Die verschiedenen Bundesländer wurden von unterschiedlichen
Koalitionen regiert; aber die Bedingungen, unter denen
sich die Lebensmittelkontrolle vollzogen hat, lassen
nicht erkennen, dass das in irgendeiner Form Auswirkungen auf die Qualität der Kontrolle gehabt hätte.
({6})
In Nordrhein-Westfalen kommt ein Lebensmittelkontrolleur auf 61 000 Einwohner, in Bayern kommt ein Lebensmittelkontrolleur auf 23 000 Einwohner; das zeigt
einen gewissen Unterschied. Vergleicht man die Anzahl
der Kontrolleure pro Lebensmittelbetrieb, finden wir in
Rheinland-Pfalz 700 Betriebe pro Lebensmittelkontrolleur und in Baden-Württemberg 650 Betriebe pro Lebensmittelkontrolleur. Durch die Kommunalisierung der
Lebensmittelkontrolle in Baden-Württemberg ist fast die
Hälfte der Planstellen weggefallen.
Das heißt, Schuldzuweisungen nützen uns in diesem
Zusammenhang recht wenig. Wir müssen diesen Bereich
konsequent fördern und dafür sorgen, dass die vorhandenen Strukturen unter Einbeziehung der untersten Ebene,
also der Veterinärämter und der Lebensmittelkontrolleure, weiterentwickelt werden. Bei ihnen müssen wir
nachforschen, um zu hören, wie es ihnen vor Ort geht.
Diesen Bereich müssen wir gestalten, damit wir in Zukunft nicht wieder vor den gleichen Problemen stehen,
die wir im Augenblick zu bewältigen haben.
Danke schön.
({7})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich
liegen nicht vor. Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 16/111 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Themenbereichen Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung.
Außerdem rufe ich den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
- Drucksache 16/45 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Das Wort hat der Bundesminister für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung, Wolfgang Tiefensee.
({1})
Frau Bundestagspräsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich darf zehn Minuten über die Grundzüge und Akzente,
die mein Haus betreffen, referieren. Die beiden Kapitel
des Koalitionsvertrages, die sich zum einen auf den Verkehr, das Bauen und die Stadtentwicklung und zum anderen auf den Aufbau Ost beziehen, umfassen einen umfangreichen Katalog von Einzelmaßnahmen. Diese
Maßnahmen ordnen sich in eine Politik ein, die diese
Koalition in den nächsten vier Jahren gestalten will.
Ich denke, es wird im Wesentlichen darauf ankommen, die Aufbruchstimmung, die sich bereits während
der Verhandlungen über den Koalitionsvertrag gezeigt
hat, zu übertragen auf die Bevölkerung, auf die kleinen
und mittelständischen, aber auch auf die großen Unternehmen, damit es in unserem Land und nicht zuletzt im
Osten unseres Landes einen Aufbruch gibt.
({0})
Es bedarf einer neuen Kooperation. Es bedarf der Eigeninitiative und eines Unternehmergeistes; denn die Arbeit
der Regierung und des Parlaments allein werden nicht
genügen.
In diesem Kontext hat mein Haus und hat die Arbeit,
die wir in den nächsten vier Jahren auf diesen Feldern
gemeinsam zu leisten haben, eine besondere Bedeutung,
allein deshalb, weil das, was in unserem Haus entschieden und hier im Parlament auf den Weg gebracht wird,
auf eine Vielzahl gesellschaftlicher Bereiche Einfluss
hat. Deshalb stelle ich meine Arbeit in den Kontext der
gesellschaftlichen Zusammenhänge in den Städten, in
den Regionen und in unserem Land und habe auch die
europäische Ebene im Blick. Ebenso stelle ich sie in den
Kontext des Aufbaus Ost und berücksichtige dabei auch
die internationale Dimension.
Es geht im Wesentlichen um drei Felder, für die unser
Haus eine nicht unbeträchtliche Verantwortung trägt:
Erstens geht es um die Frage der Entwicklung der Wirtschaft und damit einhergehend um die Anforderung, zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen.
Zweitens. Wie gelingt es uns, über neue Technologien
und Innovationsstrategien neue Akzente und Impulse zu
setzen, die wiederum Arbeitsplätze generieren, nämlich
die, die auch Ausstrahlung auf die nächste Generation
haben? Denn es kommt darauf an, zukunftsfähig zu denken und nicht nur die nächste Zukunft sozusagen mit der
Taschenlampe auszuleuchten.
({1})
Drittens. Neben der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik und neben der Innovation wird die Frage sein, was
dieses Haus als Beitrag leisten kann, dass es in den Städten und Gemeinden, in den kleinen und großen, ein Mehr
an sozialem Ausgleich gibt. Wie kann die Lebensqualität, der Gemeinsinn dort neu entfacht werden?
Lassen Sie mich Ihnen das an ein paar Beispielen
ganz praktisch vor Augen führen. Zunächst ist die Frage:
Wie können wir in diesem Hause mit den Themen, mit
denen wir uns befassen, etwas für die Wirtschaft und den
Arbeitsmarkt tun? Zunächst einmal: Die Wirtschaft betrifft alles das, was wir an Anlagevermögen, an Infrastruktur in unserem Lande vorhalten. Wenn man sich
allein vor Augen führt, über welchen Reichtum wir
durch unsere Straßenwege, durch die Schienen, durch
die Flughäfen, durch die Binnenschifffahrtswege, durch
die Häfen verfügen, aber auch durch die Rathäuser,
Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, Pflegeheime,
Altenheime und dergleichen mehr, dann weiß man, dass
allein die Investition in den Erhalt dieser Substanz das
Rückgrat der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik in
diesem Land darstellt.
({2})
In dem Maße, wie es gelingt, einer Entwertung entgegenzutreten, in dem Maße, wie es gelingt, zu erhalten
und zu entwickeln, werden wir unseren Beitrag für Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze leisten.
Darüber hinaus gibt es Wirtschaftszweige, die ganz
direkt davon betroffen sind; ich greife die Bauindustrie
heraus. Diese Bundesregierung wird in dieser Legislaturperiode einen Zukunftsfonds für zusätzliche Investitionen in Höhe von 25 Milliarden Euro aufbieten. Die
schon hohen Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur
steigen mit Mitteln aus diesen Fonds um rund 4,3 Milliarden Euro. Wenn man sich die Potenz vorstellt, die daraus entstehen könnte, wenn das durch weitere, private
Gelder multipliziert wird, dann bekommt man eine Ahnung davon, was das für ein Impuls wird. Ich denke, es
ist ein ganz deutliches Zeichen, dass diese Regierung
eben nicht nur den Gürtel enger schnallt, dass sie nicht
nur mehr Steuern von den Bürgern verlangt, sondern
dass sie ganz bewusst auch Impulse für mehr Investitionen setzt, damit wir vorankommen, jetzt und in Zukunft.
({3})
Darüber hinaus haben wir beschlossen, das CO2-Gebäudesanierungsprogramm auf ein Fördervolumen
von rund 1,5 Milliarden Euro pro Jahr zu erhöhen. Diese
Mittel werden rund das Sechs- bis Siebenfache an zusätzlichem Geld generieren. Man rechnet, dass an jeder
Milliarde Euro etwa 25 000 Arbeitsplätze hängen. Auch
aus diesem Grunde ist eine direkte Verbindung dieses
Hauses zum Arbeitsmarkt gegeben.
Ich möchte einen speziellen Bereich herausgreifen:
die Logistikbranche. Wir wissen, dass allein dort
2,7 Millionen Menschen beschäftigt sind. Die Logistikbranche ist - anders als vor zehn oder 15 Jahren - mittlerweile eine Querschnittsbranche. Es geht darum, sie zu
stärken, und zwar auf allen Verkehrsträgern. So wie wir
dieses Investitionsprogramm gerecht auf alle Verkehrsträger anwenden wollen, werden wir das insbesondere
auch im Bereich der Logistik tun. Wir wollen das mit einem Masterplan, der sich mit dem Güterverkehr und der
Logistik beschäftigt, untersuchen und langfristig auf die
Schiene setzen - im wahrsten Sinne des Wortes wie auch
im übertragenen -, damit wir hier ein Höchstmaß an
Nutzen aus den Investitionsmitteln ziehen.
({4})
Darüber hinaus wollen wir in die Verkehrsträger
selbst investieren. Der Autobahnbau wird vorangetrieben, die Schienenwege werden ausgebaut und wir werden dafür sorgen, dass die Seehäfen und die Flughäfen
ihren Anteil an den Investitionen bekommen.
({5})
Wir brauchen den Ausbau des Flughafens BBI. Das Logistikzentrum in Leipzig - alte Erfahrung - sorgt dafür,
dass es wirtschaftliche Impulse gibt.
Im Norden unseres Landes, um Hamburg herum, wird
sicherlich ein besonderer Logistikstandort entstehen.
({6})
Darüber hinaus wollen wir die Bahnreform vorantreiben. Wir sind uns sicher, dass dieses Mobilitäts- und
Logistikdienstleistungsunternehmen im internationalen
Kontext, im internationalen Wettbewerb gestärkt wird.
Aus diesem Grunde werden wir gemeinsam mit Ihnen
die nächsten Schritte der Bahnreform sehr zügig umsetzen, damit die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass dieser Wettbewerb gelingt.
({7})
Wir wollen über neue Finanzierungsinstrumente privates Kapital akquirieren; denn alleine, nur mit dem
Geld der öffentlichen Hand, werden wir es nicht schaffen. Wir werden unsere Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft neu ausrichten.
({8})
Wir werden Modelle der Public Private Partnership auf
den Weg bringen. Wir wollen mit Straßenbenutzungsgebühren, der LKW-Maut, die Finanzierung unserer Infrastruktur auf viele Schultern legen. - Das sind innovative
Instrumente, um privates Kapital und Unternehmergeist
in diesem Land mehr zum Zuge kommen zu lassen.
Diese Ebene soll ihre Verantwortung auch in diesem Bereich suchen, damit die Verantwortung nicht nur der öffentlichen Hand zugeschoben wird.
({9})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in einem
weiteren Feld geht es um Technologie und Innovation.
Hier haben wir in der Vergangenheit Impulse gesetzt, die
wir nun verstärken wollen. Mein Haus wird sich in den
nächsten vier Jahren intensiv darum bemühen, dass Europa mit einem solchen Zukunftsprojekt wie dem Satellitennavigationssystem Galileo den Wettbewerb auf internationalen Märkten gewinnen kann. Über Galileo hinaus
werden wir in neue Strategien im Kraftstoffbereich investieren müssen.
Neben der Etablierung neuer Finanzierungsinstrumente müssen wir dafür sorgen, dass neue Produkte zur
Vernetzung der verschiedenen Verkehrsträger auf den
Weg gebracht werden, damit in der Zukunft jeder Verkehrsträger noch besser seiner entsprechenden Aufgabe
gerecht werden kann. Dazu werden wir Initiativen starten. Wir brauchen aber Ihre Unterstützung. Hier entsteht
nicht nur ein Impuls für die Gegenwart, hier werden die
Arbeitsplätze für unsere Kinder und Kindeskinder geschaffen. Ein Schwerpunkt muss also auf Technologie
und Forschung in diesem Bereich liegen.
({10})
Die Förderung des Zusammenhaltes unserer Städte,
des sozialen Miteinanders und des Gemeinsinns ist eine
wesentliche Aufgabe auch dieses Hauses. Deshalb wird
die Stadtentwicklung in all ihren Facetten in der Zukunft eine noch größere Bedeutung gewinnen. Nicht zuletzt die Ereignisse in Frankreich haben gezeigt, dass es
darauf ankommt, sich präventiv, also vorsorglich, mit
dieser Gesamtsicht städtischer Entwicklung zu beschäftigen.
({11})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir wollen
mit Programmen wie „Stadtumbau Ost“, „Stadtumbau
West“ oder „Soziale Stadt“ und mit der Umsetzung von
Ideen, wie wir den Wettbewerb zwischen den Innenstädten und der grünen Wiese gewinnen, dafür sorgen, dass
sich unsere Städte organisch entwickeln. Denn wir müssen dafür sorgen, dass eine Spaltung in doppelter Hinsicht verhindert wird: zum einen eine Spaltung in Städte,
ob klein oder groß, die prosperieren, und jene, die auf
dem absteigenden Ast sind, und zum anderen eine Spaltung, die sich innerhalb der Städte abspielt, nämlich die
Spaltung in Stadtteile, denen es gut geht, und jenen, die
drohen, von der Entwicklung abgekoppelt zu werden.
Das spielt bis in die Lebensqualität, in die sozialen Belange und in die Chancen von Menschen hinein. Stadtentwicklungspolitik muss als ein solch ganzheitlicher
Ansatz begriffen werden, um den Fehlentwicklungen
entgegenzutreten und positive Dinge auf den Weg zu
bringen.
({12})
Quer zu diesen Themen steht schließlich die Frage,
wie wir den östlichen Landstrich unseres Landes in der
nächsten Zeit mit neuen Akzenten und Impulsen voranbringen. Ich betone ausdrücklich, dass es darauf ankommt, einmal mehr deutlich zu machen: Von der Entwicklung im Osten, von der wirtschaftlichen und
sozialen Entwicklung in diesem Landstrich, ist das Wohl
und Wehe des ganzen Landes und, wenn Sie so wollen,
auch Europas abhängig.
Wer meint, dass es sich hier um ein Randthema handelt, der irrt. Aus diesem Grund liegt diese Frage auch
quer zu allen Themen und ist sie in meinem Haus in einer impulsgebenden, koordinierenden Funktion gebündelt.
Zum Zweiten geht es darum, dass wir den Aufbau Ost
als eine Chance begreifen, Werkstatt für die Gesamtgesellschaft zu sein. Es wird mindestens genauso wichtig
sein, hier neue Impulse zu setzen und Eigeninitiativen
von Menschen sowie Motivation und Stimmungen zu erzeugen, wie das Vorhaben, diesem Landstrich durch
ganz konkrete finanzielle Unterstützungen unter die
Arme zu greifen.
Was meine ich konkret? Diese Bundesregierung hat
sich zum Solidarpakt II bekannt. Sowohl im Korb I als
auch im Korb II gibt es eine finanzielle Stabilität. In der
Dualität der gezielten Förderung - beispielsweise im so
genannten Programm GA, Gemeinschaftsaufgabe, und
in dem etwas allgemeineren und breiter für den Mittelstand aufgestellten Programm der Investitionszulage werden wir uns darum kümmern, dass sowohl industrielle Kerne in den großen Städten, in den Ballungszentren, in den Wachstumsregionen entstehen als auch die
notwendige Unterstützung der sie umgebenden Regionen möglich ist. In dieser Dualität wollen wir die Entwicklung unseres östlichen Landstriches voranbringen.
({13})
Darüber hinaus wollen wir Impulse in der Forschung
setzen. Wir glauben, dass besonders hier die Wachstumsraten in Ostdeutschland noch größer werden können.
Auch aus diesem Blickwinkel betrachtet ist es wichtig,
dass der Forschungsetat der Bundesregierung im Laufe
der nächsten Zeit erheblich anwachsen wird. Es wird
eine Förderung des Aufbaus Ost par excellence sein,
wenn es uns gelingt, diese Gelder auch für den Osten zu
akquirieren und damit Wirtschaftsimpulse zu erzeugen.
({14})
Solche ganz konkreten Schritte wie die Angleichung
des Arbeitslosengeldes II Ost an das Arbeitslosengeld II
West haben nicht nur eine finanzielle Seite, sondern sie
dienen auch dazu, die Eigeninitiative der Bürger, das
Selbstwertgefühl der Bürger und die Gleichmäßigkeit
sowie die Gleichheit in unserem Lande zu verstärken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Kontext stellen wir die
Politik der nächsten vier Jahre. Wir wollen Impulse für
den Wirtschafts- und den Arbeitsmarkt setzen. Wir wollen Impulse und Akzente für mehr Innovationen und
Technologien setzen. Schließlich wollen wir unseren
Beitrag für eine erhöhte Lebensqualität in den Städten,
für ein besseres soziales Miteinander und für die Stärkung von Unternehmertum und Eigeninitiative leisten.
Ich rechne auf Ihre Unterstützung.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat der Kollege Horst Friedrich, FDP-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrter Herr Minister, zunächst darf
ich Ihnen persönlich und auch im Namen meiner Fraktion viel Erfolg in Ihrem Amte wünschen. Sie sind mittlerweile der siebte Verkehrsminister, den ich in meiner
Rolle als Verkehrspolitiker in diesem Hause erlebe.
({0})
Selbstverständlich haben Sie Anspruch darauf, dass
Sie an Ihren Taten gemessen werden. So viel Zeit sollte
sein. Ich verhehle nicht, dass das, was Sie jetzt gewissermaßen als Regierungsprogramm vorgestellt haben, einige Teile enthält, zu denen man uneingeschränkt Ja sagen kann. Man wird sehen, was passiert, wenn es
konkret wird.
({1})
Zu einigen Teilen kann man „Na ja“ sagen und einige
Teile sind dabei, zu denen man sagen kann: Na ja, das
war wohl nichts.
({2})
Auch wenn es Ihre erste Rede hier war, glaube ich,
dass Sie über den Verkehrsbereich und über die Probleme, die uns als verantwortliche Politiker in diesem
Gesamtkontext angehen, zu wenig gesagt haben.
({3})
Ich habe von Ihnen kein einziges Wort über die Angleichung der Wettbewerbsbedingungen des deutschen
Transportgewerbes in diesem Lande gehört.
({4})
Das steht zwar in Ihrer Koalitionsvereinbarung, aber Sie
hätten hier vielleicht einmal ein bisschen konkreter werden können.
Was Sie ausgeführt haben, ist, dass sich der Staat jetzt
um Logistik kümmern will. Wenn ich eines in diesem
Land gelernt habe, dann dies: Logistik war schon immer
ein Querschnittsthema. All diejenigen, die hier erfolgreich sind, haben das geschafft, ohne dass sich der Staat
um dieses Thema gekümmert hat.
({5})
Der Einzige, der versucht, Logistik mit staatlicher
Hilfe umzusetzen, ist derselbe, der versucht, seinen Sitz
von Berlin nach Hamburg zu verlegen. Allerdings droht
dafür ein anderer, der es bisher geschafft hat, ohne diese
Hilfe Erfolg zu haben, nämlich Kühne + Nagel, damit,
Investitionen in Hamburg zu überprüfen. Deswegen
kann ich nur sagen: Lassen Sie doch die Wirtschaft da
agieren, wo sie es kann. Schaffen Sie die Rahmenbedingungen und halten Sie sich als Staat aus den Bereichen
heraus, wo Sie gar nicht eingreifen müssen. Das ist das
beste Beschäftigungsprogramm, das Sie in Deutschland
in diesem Bereich machen können.
({6})
- Da liege ich leider nicht falsch, sehr geehrter Herr Kollege Fornahl. Wenn Sie sich einmal die Wirtschaftsdaten
anschauen, werden Sie das sehen.
Was wir nicht kritisieren, sondern was wir als Fachpolitiker sehr begrüßen, ist Ihre Ankündigung und auch
die der Frau Bundeskanzlerin von gestern, in diesem Bereich über die nächsten vier Jahre 4,3 Milliarden Euro
zusätzlich zu investieren. Das ist hervorragend. Als
Fachpolitiker freue ich mich selbstverständlich darüber.
Den Lackmustest werden Sie ablegen müssen, wenn der
Haushalt vorgelegt wird. Dann können wir ernsthaft darüber reden. Wir sind schon gespannt, wann er kommt
und wer bis dahin das Geld in welcher Form ausgegeben
hat.
({7})
Was ich allerdings nicht nachvollziehen kann, Herr
Minister, ist Ihr Interview in der neuen Ausgabe der
„Motorwelt“ vom ADAC. Sie haben zwar gefordert,
mehr privatwirtschaftliches Kapital in den Ausbau der
Verkehrswege einzustellen. Aber dies begrenzen Sie
gleichzeitig auf die Einnahmen aus der LKW-Maut.
Aber diese sind eigentlich schon aufgeteilt. 25 Prozent
davon gehen ins System. Ein größerer Teil ist für die bereits geplanten A-Modelle vorgesehen; das ist alles
nichts Neues. Der Rest dient dazu, die Summe, die der
Vorgänger von Herrn Steinbrück, nämlich Herr Eichel,
aus dem Plafond für Investitionen gekürzt hat, auszugleichen.
Wenn die Einnahmen aus der LKW-Maut nicht steigen, dann frage ich mich, wie Sie zusätzliche, neue Impulse für einen privatwirtschaftlichen Anteil geben wollen; denn der private Träger, der bereit ist, ein Risiko
einzugehen, möchte natürlich aus seinem Engagement
Nutzen ziehen. Dabei wird er sehen, wo er das meiste
verdienen kann. Wenn Sie sich da nicht breiter aufstellen
und wenn da nicht mehr Rückflüsse zu erwarten sind,
dann, fürchte ich, werden Sie zu kurz springen.
({8})
Spannend wird auch die Fortführung der Bahnreform sein; das haben Sie angesprochen. Dieser Aufgabe stellen wir uns gerne. Die ordnungspolitische
Frage, die Sie in dieser Legislaturperiode zu entscheiden
haben, ist, unter welchen Bedingungen der Börsengang
stattfinden wird. In der Koalitionsvereinbarung wurde
festgelegt, dass der Börsengang stattfindet; das ist mittlerweile geklärt. Die Frage ist: Gelingt es uns vorher
- das Beispiel der Beteiligung der Bahn am Hamburger
Hafen, an der HHLA, und der Hochbahn ist aus meiner
Sicht prägend -, die klare ordnungspolitische Grundlage
zu schaffen: Möchte ich einen Konzern, der bisher zu
100 Prozent im Eigentum des Staates war, privatisieren
Horst Friedrich ({9})
und an die Börse bringen? Dafür bekommen Sie unsere
volle Unterstützung.
Transport ist und war nie eine staatliche Aufgabe und
muss es auch nicht sein. Niemand hat etwas dagegen,
dass sich die Deutsche Bahn auf dem Gebiet des Transports auf dem Markt gegenüber anderen Konkurrenten,
wie UPS, FedEx und wie sie alle heißen, behauptet.
Diese Unternehmen sind alle nicht staatlich und alle gut
aufgestellt.
Es muss aber vorher geklärt werden, in welcher Form
der Steuerzahler an diesem Geschäft beteiligt ist. Wenn
es um die Privatisierung dieses Bereiches geht, wobei
für zehn Jahre eine Summe von mindestens 4,5 oder
4,8 Milliarden Euro jährlich mit einem Ausbau der Fernverkehrswege garantiert wird, weitere 2,5 bis 3 Milliarden Euro über eine Leistungsfinanzierungsvereinbarung
für den Erhalt des Netzes zugesagt und das Ganze auf
Dauer abgesegnet wird, unter Umständen dann, wenn es
nicht funktioniert, mit einem Rückgaberecht für die
Bahn nach zehn Jahren ausgestattet wird, kann das aus
unserer Sicht nicht der Sinn der Übung sein. Eine solche
Bahnreform werden wir nicht mittragen.
({10})
Die gleiche Klarheit und das gleiche Problem werden
Sie bei der Umsetzung des Programms Luftfahrtkonzept oder Masterplan Luftfahrt bekommen. Darin
steckt viel Sinnvolles. Es kommt jetzt darauf an, das in
dieser Legislaturperiode zu konkretisieren. Wie setze ich
um, dass der Flughafen BBI ausgebaut werden kann?
Wie erreiche ich eine Gesetzgebung, mit der sichergestellt wird, dass am Flughafen Frankfurt für die dringend
notwendige weitere Landebahn die Zahl der Aktenordner nicht länger als die eigentliche Landebahn wird, die
gebaut werden soll?
({11})
Warum schaffe ich es nicht, sicherzustellen, dass eine
Werft für einen neuen großen Flieger, den A380, auf
dem Gelände des Frankfurter Flughafens so zeitgerecht
gebaut werden kann, dass nicht erst mit einer Verlagerung nach München gedroht werden muss? Das muss
doch angegangen werden.
({12})
Ich hätte gewünscht, dass an dieser Stelle ein bisschen
mehr Fleisch gekommen wäre.
Lassen Sie mich noch etwas zum Thema Wohnungsbau sagen. Mit dem, was Sie zu dem Programm „Soziale Stadt“ und anderen Punkten ausgeführt haben, bin
ich völlig d’accord. Das findet unsere volle Unterstützung und wird von uns mitgetragen. Ich sehe aber ein
Problem. Sie haben in Ihrer Koalitionsvereinbarung festgelegt:
Unser politisches Ziel bleibt die Wohneigentumsbildung von Familien mit Kindern.
Wunderbar. Allerdings schaffen Sie jetzt die Eigenheimzulage ab, ohne die übrigen steuerlichen Rahmenbedingungen zu verändern. Als Alternative und Ausgleich für
Familien mit Kindern kündigen Sie an:
Dazu werden wir mit der KfW-Förderbank Wege
aufzeigen, wie die Beleihung im nachrangigen Bereich verbessert … werden kann.
Eines habe ich gelernt, Herr Minister: Junge Familien
mit Kindern brauchen keine neuen Darlehen, auch nicht
im nachrangigen Bereich. Ihnen fehlt es an Liquidität.
Nur wenn sie darüber verfügen, können sie auch investieren.
({13})
Ich glaube, das ist der richtige Weg. Daran werden wir
Sie messen.
In diesem Sinne freue ich mich auf lange, intensive
und regelmäßige Gespräche im Verkehrsausschuss des
Deutschen Bundestages, Herr Minister. Wir werden Sie
an dem messen, was Sie hier vorgetragen haben, soweit
es konkret war. Wir werden zwar deutlich machen, in
welchen Punkten wir anderer Meinung sind, aber wir
werden uns kritisch-konstruktiv beteiligen mit dem Ziel,
die Grundlage für die Erholung der deutschen Wirtschaft
und für neue Arbeitsplätze sicherzustellen: eine funktionierende Verkehrsinfrastruktur in Deutschland für alle
Verkehrsträger. Daran werden Sie und wir gemessen
werden.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hans-Peter
Friedrich von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Das gemeinsame Ziel aller Fraktionen
dieses Hauses ist - das ist in den letzten zwei Tagen
deutlich geworden - der Abbau der Arbeitslosigkeit. Ich
denke, ein Baustein auf diesem Weg sind die Investitionen in die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur, der
Infrastruktur insgesamt und der Erhalt und die Verbesserung der Funktionsfähigkeit unserer Städten und Gemeinden. Ich denke auch, dass der von uns vorgelegte
Koalitionsvertrag die Weichen in die richtige Richtung
stellt.
Zukunftspolitik heißt, die Mittel auf Förderschwerpunkte zu konzentrieren. Verkehrsinvestitionen sind ein
solcher Förderschwerpunkt. Ich freue mich über das verdiente Lob der Opposition für die Erhöhung der Verkehrsinvestitionen um 4,3 Milliarden Euro in den nächsten vier Jahren, lieber Kollege Horst Friedrich. Ich
glaube, das kann sich sehen lassen.
Es ist auch eine gute Botschaft an unsere Bauwirtschaft. Denn wir haben ein Interesse an einer guten, leistungsfähigen und auch mittelständisch strukturierten
Bauwirtschaft in diesem Lande.
Die zweite wichtige Botschaft der Koalitionsvereinbarung lautet: Wir wollen keine ideologisch motivierte
Bevorzugung einzelner Verkehrsträger. Was wir wollen
Dr. Hans-Peter Friedrich ({0})
und brauchen, ist die Optimierung des Transports von
Personen und Gütern auf den dafür jeweils am besten geeigneten Verkehrsträgern. Gütertransport und Mobilität
müssen jeweils mit dem Verkehrsträger sichergestellt
werden, der dafür ökonomisch wie auch ökologisch am
sinnvollsten ist.
({1})
Wenn wir die vorhandene Effizienz nutzen und die
Effizienzreserven heben, dann wird es auch gelingen,
verstärkt neue Finanzierungsinstrumente wie die Public
Private Partnership, die bereits angesprochen wurde,
zu nutzen. Denn Anleger investieren nur in effiziente
Systeme. Ich denke, dass dies auch für die Gewinnung
privaten Kapitals für öffentliche Aufgaben notwendig
und wichtig ist. Denn es ist ein geeigneter Weg, die dringend notwendigen Anlagemöglichkeiten für Kapital in
Deutschland zu vermehren und damit Anlagekapital im
Land zu halten bzw. ins Land zu holen.
Wir brauchen in Deutschland eine leistungsfähige
Schieneninfrastruktur und leistungsstarke Schienenverkehrsunternehmen. Die Bahnreform vor über zehn Jahren war und ist ohne Alternative. Die Union hat deswegen dafür gesorgt, dass die Fortsetzung der Bahnreform
im Koalitionsvertrag festgeschrieben wird.
Es war richtig, mit der Bahnreform betriebswirtschaftliche Entscheidungsabläufe des bundeseigenen
Bahnunternehmens von politischer Bevormundung zu
befreien. Aber es gibt auch einen Infrastrukturauftrag
des Staates und damit für uns, die Politik. Wir sind verpflichtet, diesen Auftrag zum Wohle der Bürgerinnen
und Bürger sowie insbesondere aller Steuerzahler effizient und bestmöglich zu erfüllen.
In einer Volkswirtschaft gibt es nachweislich einen erfolgreichen Mechanismus zur Herstellung von Effizienz
und Wirtschaftlichkeit. Das ist der Wettbewerb.
({2})
Um es klar zu sagen: Wir wollen eine starke und leistungsfähige Deutsche Bahn AG, erstens weil der Bundesfinanzminister und die Haushälter aller Fraktionen
gerne ein werthaltiges Bundesunternehmen DB AG sehen und zweitens weil wir Verantwortung für die bei der
Deutschen Bahn vorhandenen Arbeitsplätze haben. Wir
wissen, welchen großen Veränderungen und manchmal
auch Zumutungen die Beschäftigten der DB AG in den
letzten Jahren ausgesetzt waren und wie sie sich in bewundernswerter Weise dem Wandel gestellt haben. Ich
bin seit 15 Jahren beständiger und begeisterter Bahnfahrer und habe den Wandel, den die Beschäftigten der
DB AG bewältigt haben, durchaus am eigenen Leib miterlebt. Ich habe sicherlich Verständnis für die Beschäftigten. Aber wir sind uns auch darüber im Klaren, dass
wir mittel- und langfristig die Wettbewerbsfähigkeit der
Arbeitsplätze im gesamten Logistikbereich nur sichern
können, wenn wir Wettbewerb auf der Schiene zulassen.
Deswegen lautet die klare Aussage im Koalitionsvertrag:
Wir werden einen diskriminierungsfreien Netzzugang
gewährleisten. An dieser Aussage gibt es nichts zu deuteln.
({3})
Liebe Kollegen von der Opposition, über die Zukunft
der DB AG werden wir in den nächsten Monaten noch
trefflich streiten, aber erst dann, wenn alle Argumente
ausgetauscht sind, alle Gutachten auf dem Tisch liegen
und alles ausgewertet ist.
({4})
Es gibt nur einen Maßstab, den wir in diesem Hohen
Hause anzulegen haben, nämlich das Wohl der Allgemeinheit.
({5})
Wir werden den Wettbewerb zwischen den Verkehrsträgern forcieren. Das gilt für die Weiterentwicklung des Luftverkehrsstandortes Deutschland und seiner
Infrastruktur ebenso wie für die Wettbewerbsfähigkeit
der deutschen Seeschifffahrt. Schließlich verdient auch
der umweltfreundliche Verkehrsträger Binnenschifffahrt
eine stärkere Beachtung.
({6})
Das alles ist Programm und steht im Koalitionsvertrag.
Deutschland ist aufgrund seiner geographischen Lage
geeignet, Logistikdrehscheibe im europäischen Binnenmarkt zu sein und davon auch im Hinblick auf die Schaffung von Arbeitsplätzen zu profitieren. Wir haben in
Deutschland ein mittelständisch geprägtes, gut funktionierendes Transportgewerbe. Es ist Voraussetzung dafür,
dass ein rohstoffarmes Land wie Deutschland Produzent
und erfolgreiche Exportnation sein kann. Ich wünsche
mir, dass alle in Deutschland begreifen, dass LKWs
nicht zum Vergnügen auf den Straßen fahren, sondern
dass sie unsere Volkswirtschaft am Laufen halten.
({7})
Wir wollen, dass dieses Land ein erfolgreicher Logistikstandort bleibt. Dafür sind verlässliche Rahmenbedingungen erforderlich, keine Frage.
Ein Kollege hat bereits das Harmonisierungsvolumen angesprochen. Obwohl es vereinbart ist, steht es
nach wie vor in Rede. Notfalls muss man in Brüssel alle
rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen; denn es ist legitim, dass wir als ein Mitgliedstaat der Europäischen
Union die Interessen unserer Wirtschaft wahrnehmen.
Dann wird sich zeigen, ob unsere europäischen Nachbarn, die sich so sehr eine starke deutsche Volkswirtschaft wünschen, uns tatsächlich unterstützen werden.
({8})
Genauso wie die Infrastrukturpolitik ein Baustein für
die Qualität des Investitionsstandortes Deutschland ist,
Dr. Hans-Peter Friedrich ({9})
ist es die Entwicklung unserer Städte als Lebens-, Arbeits- und Wirtschaftsräume. Mit der Festschreibung der
bewährten Programme haben wir dafür gesorgt, dass Arbeitsplätze geschaffen und gesichert werden. Der Bundesminister hat darauf hingewiesen, dass damit auch indirekt eine Vielzahl von privaten Investitionen ausgelöst
wird.
Ich möchte ausdrücklich auf das CO2-Gebäudesanierungsprogramm hinweisen. Dieses Programm,
das wir ausdrücklich in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen haben, zeigt, dass uns der Aspekt der Energieeinsparung und der Energieeffizienz sehr wichtig ist.
({10})
Man kann dies im Übrigen auch daran erkennen, dass
innovative Entwicklungen beispielsweise bei alternativen Kraftstoffen und bei alternativen Antrieben ausdrücklich befürwortet werden. Wir wünschen uns, dass
sich mehr deutsche Ingenieurkunst und mehr deutscher
Unternehmermut auch auf dem Feld der alternativen Antriebstechnologien sehen lässt. Das ist jedenfalls etwas,
was wir durch diese Koalitionsvereinbarung ermutigen.
Mobilität ist auch ein Ausdruck von Lebensqualität
und von Teilhabe der Menschen im ländlichen Raum am
städtischen Leben wie auch umgekehrt die Teilhabe der
Stadtbevölkerung an der Qualität des ländlichen Raumes. Wir wollen deswegen Mobilität nicht aus ideologischen Gründen eindämmen oder einschränken, sondern
wir wollen Mobilität preiswert, effizient und umweltverträglich zur Verfügung stellen.
({11})
Meine Fraktion, Herr Minister, freut sich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen und Ihrem Team. Die Oppositionsfraktionen bitte ich um nicht nur kritische, sondern
auch konstruktive Begleitung.
({12})
Soweit mir die Damen und Herren schon persönlich bekannt sind, weiß ich, dass das gewährleistet sein wird.
Wir haben es bei der Frage der Infrastruktur und der
Stadtentwicklung mit Bereichen zu tun, in denen sich
visionäre Kraft auch in technologischer Hinsicht mit
dem Dienst am Menschen in seiner konkreten Situation,
in seinem Lebens-, Wohn- und Arbeitsumfeld verbindet.
Wir sollten gemeinsam alle Kraft darauf verwenden, den
richtigen und guten Weg in die Zukunft in dieser Frage
zu finden.
Vielen Dank.
({13})
Als nächste hat die Abgeordnete Dorothee Menzner
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst zum Thema Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Die Linke lehnt strikt alle Bestrebungen ab, Bürgerrechte zu beschneiden, und somit
auch den vorliegenden Gesetzentwurf.
({0})
Die Beteiligung und gerichtliche Einspruchsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger und Verbände sind kein
lästiges Übel, sondern ein Grundelement von Demokratie.
({1})
Ziel der Linken in der Arbeiterbewegung und heute
ist es, Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Freizeit zueinander zu führen.
({2})
Nur so lässt sich unnötiger Verkehr vermeiden bzw. umweltfreundlich gestalten.
({3})
Nur so können alle Bevölkerungsgruppen Angebote
wahrnehmen und am Leben teilhaben, nicht so wie
heute, wo sozial Schwache und Ältere oft ausgegrenzt
sind, Schwierigkeiten haben, von A nach B zu kommen
oder, wie Herr Tiefensee sagte, Probleme haben, auf die
sprichwörtliche grüne Wiese zu kommen. Dieser ökologisch und sozial widersinnige Flächenverbrauch, den
wir erleben, bei gleichzeitiger Verödung gewachsener
Strukturen muss beendet werden.
({4})
Wer schon die Pendlerpauschale kürzt, dabei ökologische Gründe anführt und vortäuscht, gegen lange
Pendlerstrecken zu sein, darf das nicht so sozial ungerecht tun wie diese Regierung. Das ist irrational.
({5})
Klartext: Wer zur Arbeit täglich bis zu 20 Kilometer unterwegs ist, würde, wenn die Pläne der Spitzen von SPD
und CDU umgesetzt werden, künftig keinen Cent mehr
von der Steuer absetzen können. Wollen Sie ernsthaft,
liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Masse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - Fachverbände
sprechen von circa 80 Prozent - künftig leer ausgeht?
Wollen Sie, dass jene, die viel verdienen und dabei auch
noch weite Wege zurücklegen, dagegen jährlich weiterhin viel Geld, mitunter Tausende Euro, an Steuern sparen können? Wir finden, das ist sozial ungerecht. Das
verstößt gegen den Grundsatz der Gleichheit. Das hat
selbst schon der Bund der Steuerzahler moniert. Die
Linke im Deutschen Bundestag wird Gegenvorschläge
unterbreiten.
({6})
Doch damit nicht genug: Die Spitzen von CDU und
SPD haben, was die täglichen Wege von Arbeitnehmern
betrifft, offenbar zum doppelten Doppelschlag angesetzt.
Einerseits wird von gleich zwei Transrapidstrecken gesprochen, für die Gelder ausgegeben oder, so könnte
man auch sagen, rausgeworfen werden sollen; andererseits beabsichtigt die Koalition bei den Regionalisierungsgeldern für den öffentlichen Personennahverkehr
den Ländern und damit letztlich wieder den Pendlern in
die Kassen zu greifen. Ich verweise an dieser Stelle auf
das geltende Regionalisierungsgesetz. Wir Linken wollen, dass dieses Gesetz auch nach 2008 fortbesteht. Es ist
ein Eisenbahngesetz, das den Bundesländern die Gelder
sichert, die überwiegend dem Schienenpersonennahverkehr zur Verfügung zu stellen sind.
Gestern hat Frau Merkel den Eindruck erzeugt, Starke
und Leistungsträger in diesem Land, das seien die Konzerne.
({7})
Nein! Wir Linken sagen: Die Leistungsträger in diesem
Land, das sind Menschen, die tagtäglich - oft gezwungenermaßen - weite Wege zur Arbeit in Kauf nehmen.
({8})
Für diese Menschen sind wir da, wir stehen für sie ein
und werden für sie streiten.
Stark bedroht fühlen sich in diesem Land auch die
vielen von den Hartz-IV-Gesetzen Betroffenen. Diese
Menschen fürchten - oft nicht zu Unrecht -, dass sie
eine Aufforderung zum Umzug erhalten und aus ihren
vertrauten Wohngegenden, aus ihrem vertrauten sozialen
Umfeld herausgeworfen werden.
({9})
Arbeit weg, Wohnung weg? Wir finden, das darf nicht
sein. Das Gebot der Stunde sind bezahlbarer, barrierefreier Wohnraum und eine soziale Durchmischung in
den Wohngebieten.
({10})
Verkauf und Privatisierung kommunalen Wohnungsvermögens sind radikale, aber falsche Wege. Um
kurzfristig Haushaltslöcher zu stopfen, würden die
finanziellen Nöte Hunderttausender nur weiter verschärft. Die Spitzen von CDU und SPD wollen laut Koalitionsvertrag „… die Internationalisierung der Wohnungswirtschaft hinsichtlich der damit verbundenen
sozialen, städtebaulichen und bauwirtschaftlichen Auswirkungen sorgfältig analysieren“. Analysieren Sie weiter! Wir kämpfen dagegen.
({11})
Wir streiten an der Seite der Verlierer von Privatisierung, gemeinsam mit den Mietern und mit den Einkommensschwachen. Allein ein Lippenbekenntnis zum
Wohngeld reicht nicht.
({12})
Die Fraktion Die Linke fordert deshalb:
Erstens - es hat mich sehr gefreut, dass Sie das eben
angesprochen haben -: Das Stadtumbauprogramm Ost
ist finanziell besser auszustatten.
({13})
Zweitens: Das Wohnen zur Miete, das Wohnen im Eigentum und das genossenschaftliche Wohnen sind
gleichberechtigte Wohnformen und gleichermaßen zu
fördern.
({14})
Drittens: Kommunale und genossenschaftliche Wohnungsunternehmen sind zu erhalten; Altschulden und
Zinsen auf abgerissene oder leer stehende Gebäude sind
zu erlassen.
({15})
Viertens: Das Programm Soziale Stadt ist fortzusetzen
und stärker mit der Förderung von Wirtschaftsansiedlung und Beschäftigung zu verknüpfen. Wir werden Sie
an den Taten messen, die Sie eben angekündigt haben.
Abschließend möchte ich noch das Thema Verkehr
aufgreifen. Die Spitzen von CDU und SPD wollen mehr
Privatisierung im Verkehrswegebau und sie wollen
die unsägliche Wegelagerei - sie nennen es „Mautfinanzierung“ - ausbauen.
({16})
Mit der Einführung der Kreditfähigkeit der Verkehrsinfrastrukturgesellschaft können leicht Schattenhaushalte
entstehen. Das führt dazu, dass die Berufspendler wieder
geschröpft werden.
Die Kreativität der Koalition beim Schröpfen der Verkehrsteilnehmer ist groß. Aber es gibt keine Kreativität
im Hinblick auf ein soziales und ökologisches Wegekonzept. Zum Glück haben die Opfer uns: Wir stehen und
kämpfen mit den Menschen, die davon betroffen sein
werden. Wir werden vier Jahre auf diesem Gebiet tätig
sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Frau Abgeordnete, das war Ihre erste Rede im Bundestag. Dazu gratulieren wir Ihnen herzlich.
({0})
Als Nächstes hat der Abgeordnete Winfried Hermann
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sehr geehrter Herr Minister, auch von unserer
Fraktion herzlichen Glückwunsch zum Amt! Wir wünschen Ihnen von Herzen, dass Sie dieses Amt mit
Engagement betreiben und dass Sie es nicht nur auf
kurze Zeit repräsentieren, sondern dass Ihre Verweildauer länger ist als die durchschnittliche Verweildauer
Ihrer Vorgänger, dass Sie nicht aus dem Amt flüchten
und nicht nur Projekte eröffnen, die andere beschlossen
haben, sondern dass Sie in diesem so wichtigen Ministerium selbst Politik gestalten.
({0})
Herr Minister, Sie haben erstaunlich geredet. Wenn
bisher Verkehrsminister hier geredet haben, dann war
man verführt, zu denken: Das ist der neue Wirtschafts-,
Technologie- und Städtebauminister. Wo ist der Verkehr? - Nun ist erfreulich, dass Sie nicht verkehrsborniert gesprochen haben, aber wenn man Minister in einem Ministerium ist, in dem das zentrale Aufgabenfeld
die Verkehrs- und Mobilitätspolitik ist, dann muss man
auch darüber sprechen.
({1})
- Nein. Zentrale Fragen hat er nicht angesprochen, zentrale Fragen, die man stellen muss: Wie kann zukünftig
in Deutschland Mobilität sichergestellt werden? Wie
kann zukünftig Mobilität in Deutschland aussehen? Man
muss doch fragen: Wie können wir das in den letzten
Jahren zu beobachtende stetige Wachstum an CO2-Ausstoß, also an Treibhausgasen, im Verkehrssektor reduzieren? Dazu ist nichts gesagt worden.
({2})
Eine andere Frage ist: Wie schaffen wir es angesichts
der hohen Abhängigkeit vom Öl in diesem Sektor und
angesichts des Wissens, dass diese Ressource endlich ist,
vom Öl wegzukommen? Mit welcher Strategie kommen
wir zu anderen Treibstoffen und zu anderen Antriebssystemen? Auch dazu ist nichts gesagt worden; es ist
nur allgemein von Technologie gesprochen worden.
Obwohl Sie viel über den Bereich Stadt gesprochen
haben, haben Sie wenig zu den Fragen gesagt: Wie gestalten wir den demographischen Wandel in den Städten, in der Infrastruktur? Welche können wir uns angesichts einer sich stark verändernden und auch
vermindernden Gesellschaft zukünftig noch leisten? Ich hätte erwartet, dass Sie zu einigen dieser zentralen
Fragen etwas sagen. Leider ist dazu wenig gesagt worden.
Im Koalitionsvertrag reden die Koalitionspartner von
einem Konzept für integrierte und nachhaltige Mobilitätspolitik. Man ist erfreut; denn schließlich haben wir
seit Jahren darum gekämpft, das in Gang zu setzen. Aber
wenn man den Koalitionsvertrag im Detail abklopft,
stellt man erstaunt fest, wie wenig von diesem Konzept
die Rede ist. Es ist ein altbekanntes klassisches Bekenntnis zum Ausbau von Infrastruktur - als könnte man die
Verkehrs- und Wirtschaftsprobleme vor allem durch Infrastrukturmaßnahmen lösen! Die Geschichte hat doch
längst belegt, gerade im Osten, dass eine breite Straße
und unter Umständen auch eine unterirdische Eisenbahn
nicht weiterhelfen.
({3})
Infrastruktur allein reicht nicht aus.
Zu einem weiteren Feld. Sie bekennen sich im Koalitionsvertrag dazu, dass alle Verkehrsträger wichtig
sind. Alle müssen ausgebaut werden, alle gleichermaßen.
({4})
Gleichzeitig sagen Sie aber: Eigentlich haben wir kein
Geld. Wenn man alles gleichzeitig tun will und dabei
auch noch sparen muss, bleibt für alle Bereiche nur
ziemlich viel Kleinklein übrig und man kommt nicht
nach vorn. Sie müssen in dieser Situation den Mut haben, Prioritäten zu setzen,
({5})
und auch Stellung nehmen zu den Fragen: Wo gibt es
Benachteiligung? Wollen wir nicht auf Zeit einen Verkehrsträger nach vorn schieben? Aber Sie können nicht
gleichzeitig für den Flugverkehr und für die schnelle
Bahn ausbauen. Dann geben Sie das Geld zweimal aus,
schaffen Konkurrenz und machen letztlich beide Infrastrukturen unproduktiv.
({6})
Damit bin ich bei einem zentralen Feld der Verkehrspolitik, nämlich der Schienenpolitik. Auch hier vollmundige Bekenntnisse: Wir wollen im Bereich Infrastruktur
Schiene deutlich erhöhen. Darüber freut sich der Grüne
natürlich. Dann liest man nach. Man hat den Mund vom
Staunen noch nicht ganz zu, schon kommt die Nachricht:
3,1 Milliarden Euro sollen bei den Regionalisierungsmitteln gespart werden. Das ist doch das Rückgrat des
Schienenverkehrs, das Rückgrat des Nahverkehrs. Da
wollen Sie drastisch kürzen und abbauen. Das ist genau
das Gegenteil.
({7})
Ein Ausbau des Schienenverkehrs und der Schieneninfrastruktur wird Ihnen nicht weiterhelfen, wenn Sie
gleichzeitig beim Betrieb einsparen; denn damit machen
Sie viel kaputt.
({8})
Zu Recht sagen viele Kenner der Bahn: Wer dort um
10 oder 15 Prozent kürzt, kürzt im Angebot letztlich um
20 bis 25 Prozent. Das ist fatal.
({9})
Wer in diesem Sektor kürzt, braucht sich auf jeden Fall
nicht zu wundern, wenn sich der Verkehr wieder verlagert. Bei den Regionalisierungsmitteln zu kürzen heißt,
die Leute wieder zurück ins Auto zu treiben.
Nun wird gesagt, die Regionalisierungsmittel würden
zum Teil nicht richtig verwendet. Das ist wahr. Es ärgert
auch uns, wenn in Bayern ÖPNV-Mittel für den Transrapid eingesetzt werden.
({10})
Auch wenn in Baden-Württemberg das Projekt „Stuttgart 21“ oder in Berlin der Schülerverkehr aus Regionalisierungsmitteln gefördert wird, ist das nicht richtig.
Aber das ist kein Argument gegen die Regionalisierungsmittel insgesamt. Im Großen und Ganzen geben die
Länder diese Mittel verantwortungsvoll aus. Es ist unsere Aufgabe, ein klares Gesetz zu machen, das die Kriterien festlegt und für Transparenz sorgt, damit wir sicherstellen können, dass die Mittel zukünftig wirklich
angemessen verwendet werden. Das sollte geschehen.
Dafür werden wir uns einsetzen und dafür werden wir
streiten.
({11})
Ein Wort zur Bahn. Die letzten Tage haben wieder
einmal gezeigt, dass der Vorstandsvorsitzende der Bahn
der Politik gerne auf der Nase herumtanzt und so tut, als
gehöre das Unternehmen ihm und nicht dem Bund. Ich
bin Ihnen dankbar, Herr Minister, dass Sie rasch zu einer
Entscheidung gefunden haben und deutlich gemacht haben, dass über den Standort der Konzernzentrale nicht
vom Vorstand, sondern vom Eigentümer entschieden
wird. Das war eine politische Entscheidung, die so getroffen werden musste.
({12})
- Das steht sogar im Gesetz.
Aber zusätzlich erwarte ich Folgendes von Ihnen. Bei
dem Geschäft mit der Hamburger Senatsverwaltung
wurde zugleich der Einstieg in den Hamburger Nahverkehr und in den Regionalverkehr von Schleswig-Holstein und Brandenburg mitgeplant. Das ist ein unanständiges Koppelgeschäft, weil man dort gewissermaßen den
letzten ernsthaften Konkurrenten der DB weggekauft
hätte. So schafft man keinen Wettbewerb auf der
Schiene, sondern schadet dem Wettbewerb und dem öffentlichen Nahverkehr. Das ist falsch und das müssen
wir beenden.
({13})
Meine Damen und Herren, man müsste eigentlich
noch etwas zur Gleichheit der Verkehrsträger unter ordnungspolitischen Rahmenbedingungen sagen. Auch
dazu kein Wort. Es wäre doch endlich an der Zeit, die
steuerliche Benachteiligung etwa der Schiene im Vergleich zum Luftverkehr anzugehen. Wir haben da schon
mehrere Anläufe unternommen. Jetzt sind Sie eine große
Koalition und können richtig viel stemmen. Tun Sie das
doch! Gleichheit für die Schiene; das wäre eine Aufgabe.
({14})
Das gilt auch für die LKW-Maut. Sie haben ja bei
den Verhandlungen wenigstens überlegt, die Kleinlaster
mit hineinzunehmen. Nach der Rede der PDS-Kollegin
glaube ich, Sie haben die Kleinlaster aus sozialen Gründen herausgelassen. Aber Spaß beiseite: Es wäre ökonomisch, politisch und verkehrspolitisch sinnvoll gewesen,
auch die Kleinlaster ab 3,5 Tonnen in die Maut hineinzunehmen. Das hätte Einnahmen gebracht und die Mobilität in Deutschland insgesamt verbessert.
Die Fußgänger - das ist bemerkenswert - haben Sie
im Koalitionsvertrag komplett vergessen; die gibt es gar
nicht. Dem Radverkehr haben Sie eine Zeile gewidmet.
Sie haben also wesentliche Elemente einer modernen,
nachhaltigen Mobilitätspolitik völlig außen vor gelassen.
Herr Abgeordneter, Sie müssen bitte zum Schluss
kommen.
Ich komme zum Schluss.
Fazit, meine Damen und Herren: Es wird zwar zu Beginn des Koalitionsvertrages von nachhaltiger Mobilität
gesprochen, aber im Detail bleibt so gut wie nichts von
Nachhaltigkeit übrig. In diesem Sinne, Herr Minister,
werden wir Sie gerne unterstützen und Ihnen in Sachen
nachhaltiger Verkehrs- und Infrastrukturpolitik ein bisschen Nachhilfe geben. Das kann ich Ihnen versprechen.
({0})
- Nachhaltig.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Dirk Fischer von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die große Koalition tut viel für die Verkehrsinfrastruktur in Deutschland.
({0})
Die Koalitionsvereinbarung gibt deswegen Anlass zur
Freude; denn sie ist ein Bekenntnis zu einer integrierten
und nachhaltigen Verkehrspolitik.
({1})
Um die erforderliche Mobilität von Menschen und
Gütern zu sichern, muss die Leistungsfähigkeit des geDirk Fischer ({2})
samten Verkehrssystems durch Erhalt, Modernisierung
und bessere Nutzung gesteigert werden. Ausdrücklich
haben wir im Koalitionsvertrag festgehalten, dass die
Infrastrukturinvestitionen - darauf wurde vom Herrn
Minister schon hingewiesen - in dieser Legislaturperiode um insgesamt 4,3 Milliarden Euro deutlich erhöht und verstetigt werden.
({3})
Dabei ist herauszustellen, dass wir ganz klar gesagt haben, dass Investitionen nicht als Subventionen gewertet
werden. Entscheidend ist dabei die Flexibilisierung im
Haushalt; denn alle Verkehrsträger gelten für die große
Koalition als gleichwertig. Herr Kollege Hermann, man
muss da in aller Leidenschaftslosigkeit feststellen:
Welch wohltuender Unterschied zwischen uns.
({4})
Damit wird der bedarfsgerechte Ausbau aller Netze mit
wachstums- und beschäftigungsfördernder Wirkung gewährleistet.
Aber auch eine zügige Planung und Realisierung
von Infrastrukturvorhaben ist von besonderer Bedeutung. Wir haben hier die Erkenntnis, dass in den neuen
Bundesländern mit dem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz sehr gute Erfahrungen gemacht
worden sind. Durch die Beschränkung des Rechtswegs
auf die erst- und letztinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts wurden die Verfahren um etwa
anderthalb Jahre verkürzt. Dies kann man dem Erfahrungsbericht der rot-grünen Bundesregierung entnehmen. Ich danke auch den Kollegen von den Grünen, dass
sie sich an der Feststellung des Nutzens eines solchen
Gesetzes in dieser erfreulichen Weise beteiligt haben.
Durch die Beschränkung wurden die berechtigten Belange der betroffenen Bürger und der Umwelt nicht vernachlässigt.
Da der besondere Nachholbedarf der neuen Länder
beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur auch weiterhin
besteht, werden wir die Geltungsdauer des Gesetzes in
einem Zwischenschritt bis zum 31. Dezember 2006 verlängern. Wir werden dann aber mit dem Planungsbeschleunigungsgesetz 2006 eine Folgeregelung in Kraft
setzen. Damit schaffen wir die Voraussetzung für eine
bundesweit einheitliche Straffung, Vereinfachung und
Verkürzung der Planungsprozesse.
Es muss zukünftig aber auch um eine effizientere
Nutzung der vorhandenen Infrastruktur gehen.
({5})
Um es deutlich zu sagen: Dabei geht es vor allem auch
darum, sich hinsichtlich der Nutzung der Schieneninfrastruktur um mehr Wettbewerb im System zu bemühen.
({6})
Ich glaube, dass die Worte des Kollegen Dr. Friedrich
hier sehr überzeugend gewesen sind.
Wir sind mit der Bahnreform weit vorangekommen,
doch sie muss fortgeführt werden, um die Voraussetzungen für die Gestaltung des gewünschten Börsengangs zu
schaffen. Nach Vorliegen des Gutachtens von Booz,
Allen, Hamilton werden wir - wie es in der Koalitionsvereinbarung ausdrücklich heißt - unter Einbeziehung
der zuständigen Parlamentsausschüsse die notwendigen
Entscheidungen treffen. Es geht uns dabei besonders um
das Ziel von mehr Wachstum im Schienenverkehr. Deswegen haben wir den diskriminierungsfreien Netzzugang für alle Wettbewerber, der ab 1. Januar 2006 von
der neuen Regulierungsbehörde kontrolliert wird, im
Koalitionsvertrag festgeschrieben. Aber auch die sonstigen Rahmenbedingungen des Schienenverkehrs werden
wir auf den Prüfstand stellen und gegebenenfalls anpassen. Hierbei sind insbesondere die Haftungsansprüche
der Kunden des Schienenverkehrs bei allen Unternehmen verbindlich zu regeln.
Ich möchte noch etwas zu den Wettbewerbsbedingungen im Straßengüterverkehr sagen. Wir werden
die Genehmigung des Mauterstattungsverfahrens - ich
unterstreiche das - bei der EU-Kommission engagiert
vertreten und notfalls alle rechtlichen Mittel ausschöpfen. Im Interesse des Standortes Deutschland und seiner
Menschen müssen wir die Infrastruktur in Deutschland
voranbringen, Wettbewerbsverzerrungen abbauen und
bei der Planung für transparente und berechenbare Entscheidungsprozesse sorgen.
Gleichzeitig setzen wir auf die Urbanität und Nutzungsvielfalt der deutschen Städte und Gemeinden. Wir
begreifen Stadtentwicklung als moderne Struktur- und
Wirtschaftspolitik und bekennen uns zu den geänderten
Aufgabenstellungen. Mit der geplanten Übertragung von
Aufgaben im Bereich des Wohnungswesens auf die Länder wird die große Koalition den geänderten Rahmenbedingungen, den regionalen Unterschieden in unserem
Lande gerecht. Sie wird eine sachgerechte Ausgestaltung inklusive der Kompensation herbeiführen.
Der Handlungsbedarf beim Bund im Bereich der
Stadtentwicklung steigt deutlich an. Neben dem Stadtumbau ist vor allem die Weiterentwicklung des Programms „Soziale Stadt“ wichtig. Ich denke, dass die
Stadtentwicklungspolitik als Scharnier für einen ressortübergreifenden Ansatz der Schlüssel für mehr Erfolg bei
der Stabilisierung von Bewohnerstrukturen sowie bei der
Verbesserung der Wohn- und Arbeitsverhältnisse in benachteiligten Stadtteilen sein kann.
Einige Redner haben es betont: Die Dimension dessen, was diese Koalition im Bereich der Gebäudesanierung mit Blick auf CO2 als ein starkes Bekenntnis zum
Klimaschutz leisten wird, ist - das kann gar nicht oft genug gesagt werden - eindrucksvoll.
({7})
Ich bin sicher, dass von unserer neuen Anstrengung in
diesem Bereich ein ganz beachtlicher Beitrag zur Belebung der Konjunktur ausgeht, der obendrein vor allem
die mittelständische Bauwirtschaft stärken wird.
Dirk Fischer ({8})
Wenn wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, den von
uns eingeschlagenen Weg beschreiten, dann tragen wir
dazu bei, Deutschland hinsichtlich der Anforderungen
der Zukunft fit zu machen. Daran gemeinsam zu arbeiten
sowie in Rede und Widerrede zwischen Regierung und
Opposition um die beste Lösung zu ringen ist eine für
uns wichtige, notwendige und auch vom Bürger von uns
eingeforderte Anstrengung.
({9})
Das Wort hat der Abgeordnete Stephan Hilsberg,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Tiefensee, aufgrund Ihres guten Einstandes, den Sie hier gegeben haben und für den Sie zu Recht auch von Teilen der Opposition gelobt wurden, kann ich mich auf einige wenige
Punkte beschränken.
Ich will mit einem aktuellen Punkt beginnen - er ist
schon angedeutet worden -, der unter dem Stichwort
Bahn läuft. Wir Sozialdemokraten bekennen uns zur
Fortsetzung und zur Vollendung der Bahnreform. Sie
wird ihren Abschluss finden - wenn es gut geht, noch in
dieser Legislaturperiode - im Börsengang der Deutschen Bahn. Wir halten den Börsengang deshalb für unerlässlich, weil es erst dadurch möglich wird, den unternehmerischen Wert der DB AG tatsächlich belastbar zu
ermitteln, und weil es erst unter diesen Bedingungen
möglich wird, den Konsolidierungsprozess und die Einstellung auf Wettbewerb bei der Bahn tatsächlich zum
Abschluss zu bringen.
Aber damit dies erreicht werden kann, sind einige Voraussetzungen zu erfüllen. Herr Fischer hat sie genannt.
Dazu gehört das Gutachten. Es geht in diesem Zusammenhang auch um das Verhältnis zwischen Netz und Betrieb. Es geht aber vor allem darum - dieser Punkt wird
uns hier sehr intensiv beschäftigen -, dass der Bund nach
dem erfolgten Börsengang nicht zum alleinigen Garanten des Börsenwertes der DB AG wird. Wenn das gelingt, können wir es schaffen, den Börsengang zu einem
guten Erfolg zu führen.
({0})
Ich will noch einen weiteren Punkt erwähnen. Die
DB AG ist ein Beispiel für eine erfolgreiche Umstrukturierung eines ehemaligen Staatsbetriebes mit einem großen Korpsgeist und in sich verfestigten Strukturen. Dieser Betrieb musste erst einmal in privatwirtschaftlicher
Richtung umstrukturiert werden. Dass dieser Weg erfolgreich beschritten wurde, können wir alle sehen. Ich
hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie benutzen
häufig Ihren Netzausweis. Denn eine Fahrt mit der Bahn
lohnt sich in der Tat. Das ist schon etwas anderes als vor
zehn Jahren.
({1})
Der Umstand, dass 90 Prozent des Verkehrs noch von
der DB AG selber betrieben werden,
({2})
zeigt, dass die Bahn ein Monopol hat. Herr Mehdorn,
der mit allen Wassern gewaschen ist, weiß dieses Monopol gelegentlich gut einzusetzen.
({3})
Dies verpflichtet uns umso mehr,
({4})
zu registrieren - auch das wurde hier schon gesagt -,
dass unsere Bahnpolitik in puncto Wettbewerb der Allgemeinheit verpflichtet ist. Wir werden unsere Bahnpolitik nicht von einem einzelnen Unternehmen abhängig
machen, sondern von dem guten Gedeihen des Systems
Schiene allgemein. Die Schiene muss gegenüber anderen Verkehrsträgern im Wettbewerb bestehen. Aber auch
der Wettbewerb auf dem Verkehrsträger Schiene muss
gut organisiert werden. Erst das macht die ganze Sache
perfekt.
({5})
Gelegentlich gibt es Diskussionen, die man etwas kritisch beleuchten muss. In der Auseinandersetzung um
den Umzug der Bahn haben Sie sich, Herr Tiefensee, bewährt. Auch ich bin gegen eine Verlagerung des Konzernsitzes nach Hamburg, aber nicht, weil es nicht ein
interessantes Geschäftsgebiet wäre. In diesem Punkt
sollte man die Bahn auch nicht behindern. Aber ob der
Preis die Verlagerung der gesamten Konzernspitze sein
sollte - es ist immerhin eine strategische und nicht nur
eine industriepolitische Frage -, wage ich sehr zu bezweifeln.
Aber lassen wir die Bahn ihre neuen Geschäftsfelder
gut weiterentwickeln. Wir begleiten sie dabei und werden in erster Linie dafür sorgen, dass die Bahn ihre
Kernkompetenz erfüllt. Das ist der Schienenverkehr und
er wird es auch bleiben. Deswegen gehört der Sitz des
Konzerns nach Berlin und nicht nach Hamburg.
({6})
Wir müssen in der anstehenden Legislaturperiode
auch einige Maßnahmen umsetzen, die von den Menschen nicht nur positiv kommuniziert werden. Dazu gehört - es ist angesprochen worden - die Abschaffung
der Eigenheimzulage. Es gehört nun einmal zu einer
verantwortlichen Politik, dass man Anachronismen, Dingen, die früher richtig waren und heute anachronistisch
geworden sind, Rechnung trägt. Die Eigenheimzulage ist
eine zunehmend sinnlose Subvention geworden. Sie hat
ihren Beitrag zum Vermögensaufbau geleistet. Dies werden wir fortsetzen. Aber es macht überhaupt keinen Sinn
- in einigen Teilen Deutschlands ist das an der Tagesordnung -, öffentliches Geld für den Bau von Wohnraum
und gleichzeitig für den Abbau von Wohnungen auszugeben.
({7})
Das gehört abgeschafft. Deswegen ist die Abschaffung
der Eigenheimzulage völlig richtig.
({8})
Beim Wohneigentum werden wir zu guten Lösungen
kommen. Auch dazu steht eine ganze Menge Interessantes und Lesenswertes im Koalitionsvertrag.
Es gibt einige andere Punkte, die gerade mir als Ostdeutschem wichtig sind. Es wird uns gelingen, einige in
Ostdeutschland gemachte Erfahrungen, die gut sind, beispielsweise das schnellere Planungsrecht, das wir dort
entwickelt haben, auf Gesamtdeutschland zu übertragen.
({9})
Das hat nichts mit dem Abbau von Bürgerrechten zu tun,
sondern ist eine gesamtdeutsche Verwirklichung von guten Erfahrungen, die in Ostdeutschland gemacht wurden.
Dass ausgerechnet Sie von den Linken dagegen sind,
kann ich überhaupt nicht verstehen.
({10})
Ich könnte auf viele weitere Aspekte zu sprechen
kommen. Es ist ein Erfolgsschlager gewesen, dass wir
die „Soziale Stadt“ weiterentwickelt haben. Wir brauchen dieses Programm. Der Minister hat völlig zu Recht
auf die Bedeutung einer integrierten sozialen Stadtentwicklung verwiesen.
Dass der Name des Ministeriums in Zukunft auch den
Begriff Stadtentwicklung enthält, ist ein Programm.
Dass wir in Deutschland solche bedauernswerten Entwicklungen wie die der letzten Monate in Frankreich
nicht haben, hängt auch damit zusammen, dass wir eine
andere, eine integriertere und sozialere Stadtentwicklung
haben, als das beispielsweise in Frankreich der Fall ist.
Daran gilt es anzuknüpfen. Man steht da oft vor neuen
Herausforderungen.
Es ist sinnvoll und richtig gewesen, so viel Geld, wie
wir das bisher getan haben, in den Stadtumbau, das
heißt in das Nach-innen-Wachsen der Städte, fließen zu
lassen. Auch dieses Programm werden wir übrigens auf
Westdeutschland ausdehnen. Ich bin davon überzeugt:
Wir werden dies nicht nur bis zum Jahr 2009, sondern
auch darüber hinaus tun.
({11})
- Der Wähler entscheidet überhaupt alles. Er hat entschieden, dass wir - zu Ihrem Nachteil - eine große Koalition bilden. Das tut mir wirklich Leid, Herr Friedrich.
Es ist vielleicht ganz schön, dass Sie noch ein bisschen
länger die Oppositionsbank drücken können. Darin haben Sie Erfahrung.
({12})
Herr Abgeordneter, ich kann verstehen, dass Sie, da
Sie sich jetzt an die Opposition wenden, Ihre Redezeit
verlängern wollen. Aber ich bitte Sie trotzdem, zum
Schluss zu kommen.
Es geht mir um einen zentralen Punkt: Es ist mir als
Ostdeutschem wichtig, dass wir uns als Sozialdemokraten und als diejenigen, die in Ostdeutschland, in der
SED-Diktatur, maßgeblich am Demokratisierungsprozess beteiligt waren, heute in der Pflicht befinden und
dazu bekennen, die Versprechen von 1989/90 unter den
Bedingungen von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft einzulösen. Das muss gerade vor dem Hintergrund gesagt werden, dass auf der äußersten Linken unseres Parlaments eine Partei Einzug gehalten hat, die
diese Demokratisierung auf das Entschiedenste bekämpft
({0})
und sich bis heute nicht wirklich damit abgefunden hat.
({1})
Wir haben in Ostdeutschland Probleme; das ist gar keine
Frage. Darüber muss geredet werden. Sie müssen gelöst
werden. Die Frage der Rechtsangleichung
Herr Abgeordneter, ich muss Sie bitten, zum Schluss
zu kommen.
- in Verbindung mit dem Arbeitslosengeld II ist dabei
ein wichtiger Schritt.
Aber das, was in Ostdeutschland geleistet wurde, lassen wir uns von niemandem kleinreden. Wir werden das,
was wir dort erreicht haben, zu verteidigen wissen. Auf
diesem Weg bleiben wir. Gerade die Menschen in Ostdeutschland werden sich auf das Wirken der großen
Koalition verlassen können.
Viel Erfolg bei Ihrer Arbeit, Herr Tiefensee!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Arnold Vaatz,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister Tiefensee, als Erstes möchte ich Ihnen im Namen der ostdeutschen CDU-Abgeordneten zu
Ihrem Amt gratulieren und Ihnen das Beste wünschen.
Ich hoffe, dass Sie etwas daraus machen, was unserem
Gemeinwesen nützt und was Sie und uns alle am Ende
mit Zufriedenheit erfüllt. Sie haben dafür jede Unterstützung von uns.
Kollege Hermann hat Ihnen vorhin eine Kostprobe
gegeben, indem er gesagt hat, was die Verweilzeit der
Minister in diesem Amt betreffe, sei ihm schon so einiges untergekommen. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich
glaube nicht, dass der Kollege Hermann als Oppositionsabgeordneter die gleichen Chancen hat, seinem Minister
die Freude am Amt zu verleiden, wie er dies als Koalitionsabgeordneter hatte.
({0})
Herr Tiefensee, Sie haben zunächst gesagt, Sie wollten für ein neues Klima des Aufbruchs in Ostdeutschland
arbeiten. Ich halte das in der Tat für eines der allerwichtigsten Dinge, die von diesem Haus ausgehen müssen.
Mit Selbstblockaden erreichen wir überhaupt nichts. Wir
müssen unsere Kraft neu entdecken. Wir brauchen den
Willen, die Zukunft gestalten zu wollen, und den Optimismus, sie auch selbst gestalten zu können. Ich glaube,
Ihre Einstandsrede war ein guter Anfang.
({1})
Meines Erachtens kann man es nicht oft genug betonen - das ist eine Leistung dieser großen Koalition -,
dass sie sich im Angesicht der schwierigen Finanzlage
auf dem Gebiet der Bundesfinanzen klar dazu bekannt
hat, dass der Solidarpakt II für Ostdeutschland unangetastet bleibt. Das halte ich für außerordentlich wichtig;
denn bessere Rahmenbedingungen für Arbeitsplätze
werden wir nur dann schaffen können, wenn wir mittelfristig eine solide Finanzplanung erreichen. Durch den
Erhalt des Solidarpakts II schaffen wir das. Das ist eine
gute Botschaft für ganz Deutschland.
Der Staat kann Rahmenbedingungen für Arbeitsplätze
schaffen. Er selbst kann keine Arbeitsplätze schaffen.
Rahmenbedingungen sind zum Beispiel öffentliche Investitionen. Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass
wir uns zu unserer öffentlichen Investitionstätigkeit klar
bekennen. Wir müssen zum Beispiel registrieren, dass
durch die Erweiterung der Europäischen Union auch die
verkehrliche Beanspruchung Ostdeutschlands wesentlich dichter geworden ist. Es ist notwendig, darauf zu reagieren und die Anschlussbedingungen zu schaffen.
Wir haben uns dazu bekannt, den teilungsbedingten
Nachholbedarf im infrastrukturellen Bereich aufzuholen.
Frau Menzner, Sie engagieren sich dafür, dass die Menschen in diesem Land ihren Arbeitsplatz schnell erreichen können. Dazu muss ich sagen: Dafür brauchen wir
Straßen. Ohne Straßen geht das nicht. Es muss möglich
sein, diese Straßen möglichst schnell zu bauen. Deshalb
halte ich es für außerordentlich wichtig, dass wir uns zur
Entbürokratisierung und zur Beschleunigung unserer
Planungsverfahren klar bekennen.
({2})
Es ist ein guter Schritt, dass wir die Geltung des
Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes alsbald
verlängern werden. Das ist ein erster Ertrag des Umstandes, dass die Grünen kein Bremsklotz mehr bei der Regierungsarbeit sind. Vielmehr können wir das, was wir
für richtig halten, ungehindert tun.
({3})
Herr Minister, ich hoffe, dass es uns tatsächlich gelingt, Ihre noch viel weiter gehenden Entbürokratisierungs- und Planungsbeschleunigungsabsichten umzusetzen. Es gibt noch eine ganze Liste von Dingen, die man
in Ostdeutschland wesentlich rationeller erledigen kann.
Es ist ein wichtiges Zeichen, dass wir uns eine Experimentierklausel im Koalitionsvertrag vorbehalten haben.
Wir können uns auf diese Reserve besinnen und das
Richtige auf Gesamtdeutschland übertragen.
({4})
Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass wir uns
im Bereich der Arbeitsmarktpolitik Gedanken darüber
machen, wie wir einfache Arbeiten, die für den deutschen Arbeitsmarkt augenblicklich fast überhaupt nicht
mehr erschlossen werden können, wieder erschließen.
Über solche Dinge wie Lohnkostenzuschüsse nachzudenken darf dabei kein Tabu sein. Den Prüfauftrag, den
uns der Koalitionsvertrag vorgibt, müssen wir wahrnehmen.
Das alles muss in einem kooperativen Stil geschehen.
Ich halte es für besonders wichtig, dass wir gleich am
Anfang gemeinsam mit der Ministerpräsidentenkonferenz Arbeitsgruppen gebildet haben. So können Detailfragen von Anfang an im Einvernehmen mit den Ländern geregelt werden.
({5})
Im Koalitionsvertrag - das möchte ich abschließend
sagen, meine Damen und Herren - haben wir geschrieben, dass wir der Meinung sind, dass noch etwas für die
Opfer der SED-Diktatur getan werden muss. Ich halte
es für außerordentlich wichtig, dass wir dieses Versprechen trotz der schwierigen Haushaltslage tatsächlich einlösen. Auf welchem Wege das geschehen soll, darüber
müssen wir uns möglichst schnell klar werden. Das ist
ein Gebot des Respektes vor uns selbst, des Respektes
vor der Demokratie und des Respektes vor unserer eigenen Geschichte. Deshalb sollten wir auch diesen Passus
außerordentlich ernst nehmen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen
liegen zu diesem Bereich nicht vor.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 16/45 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetzentwurf soll jedoch, anders als in der Tagesordnung festgehalten, nicht an den Ausschuss für Tourismus überwiesen werden. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen - je schöner der Abend - zum Themenbereich Kultur. Dazu rufe ich auch die Zusatzpunkte 5
und 6 auf:
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten HansChristian Ströbele, Anna Lührmann, Volker Beck
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Abrissmoratorium für den Palast der Republik
- Drucksache 16/60 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Pau, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Hakki Keskin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN
Abriss des Palastes der Republik stoppen
- Drucksache 16/98 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
Ich erteile Herrn Staatsminister Neumann das Wort.
Bevor Sie es ergreifen, will ich Ihnen gern von hier aus
zu Ihrem neuen Amt gratulieren.
({3})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeskanzlerin, Frau
Angela Merkel, ist in ihrer gestrigen Regierungserklärung, die Anlass unserer jetzigen Debatte ist, ausführlich
auf die Bedeutung der Kultur eingegangen. Sie hat damit
der Kulturpolitik einen herausgehobenen Stellenwert gegeben.
({0})
Sie hat unter anderem gesagt - ich wiederhole dies -:
Unsere kulturelle Vielfalt ist einzigartig … Unsere
Kultur ist die Grundlage unseres Zusammenhaltes.
Deshalb ist Kulturförderung für diese Bundesregierung keine Subvention … Sie ist eine Investition,
und zwar eine Investition in ein lebenswertes
Deutschland.
({1})
Wann ist dies von so hoher politischer Ebene hier im
Deutschen Bundestag so deutlich gesagt worden?
({2}) [FDP]: Vor allen Dingen Tauss!)
Die Kanzlerin hat zudem betont, dass der Bund neben
den Ländern und Kommunen
auch in Zukunft eine Reihe ganz wichtiger Kulturaufgaben wahrnehmen wird. Deutschland - und
nicht nur die Summe der 16 Bundesländer - ist
schließlich eine europäische Kulturnation.
Das ist wahr und in dieser Verantwortung stehen wird.
({3})
Kultur- und Medienpolitik sind deshalb selbstverständliche, integrale Bestandteile unserer Regierungsarbeit. Die Koalitionsvereinbarung von Union und SPD ist
dafür eine gute Grundlage. Ich weiß, Herr Kollege Otto,
das ist Ihnen immer noch zu wenig.
({4})
Aber bis die FDP wieder in der Regierung ist, werden
wir mit diesen Aussagen ganz gut arbeiten können.
({5})
Im Übrigen hätte eine Koalitionsvereinbarung zwischen CDU/CSU und FDP
({6})
im Bereich von Kultur und Medien - das müssen Sie zugeben - nicht viel anders ausgesehen.
({7})
Deshalb gehe ich davon aus, lieber Kollege Otto, dass
Sie uns tatkräftig unterstützen, insbesondere in Ihrer
neuen Rolle als Ausschussvorsitzender, wozu wir Ihnen
sehr herzlich gratulieren.
({8})
Bevor ich zu einigen Sachpunkten komme, eine kurze
Bemerkung zum Amtsverständnis und zur Rolle des
Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, worüber
in Verbindung mit der Personalentscheidung ja viel geschrieben wurde. Die Aussage unter anderem vom Kulturrat, durch die geplante Föderalismusreform würde der
Kulturstaatsminister geschwächt, ist nicht haltbar.
({9})
Es wäre besser gewesen, die Kritiker - einschließlich
meines Freundes Otto - hätten sich den vorgesehenen
neuen Artikel im Grundgesetz genau angesehen.
({10})
Nur dann, wenn in Brüssel ein Thema ansteht, das im
Schwerpunkt der ausschließlichen Gesetzgebungsbefugnis der Länder unterliegt, ist ein Vertreter des Bundesrates Verhandlungsführer.Er hat allerdings immer die Verpflichtung, sich vorher mit dem Bund abzustimmen und
die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren. So steht es dort. Mit dieser Feststellung - das ist
selbst für Juristen ganz interessant - bestätigen die Länder im Grundsatz die ungeschriebene Kompetenz des
Bundes für die Kultur. Das heißt, in allen Fragen, die
schwerpunktmäßig nicht unter die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder fallen, wird wie bisher der Bund die Verhandlungsführung in Brüssel wahrnehmen, zum Beispiel beim europäischen Urheberrecht,
beim Folgerecht und bei der Umsetzung von EU-Richtlinien.
Im Übrigen ist für mich nicht so entscheidend, wer
gerade die Delegation leitet, sondern mehr, dass das Verhandlungsziel mit dem Bund abgestimmt sein muss. Sie
können deshalb davon ausgehen, dass ich meine Rolle in
Brüssel sehr selbstbewusst wahrnehmen werde.
({11})
Ich möchte an dieser Stelle meiner unmittelbaren Vorgängerin, Christina Weiss, die mit ihrer großen Sachkunde und ihrer sympathischen Gelassenheit einen
prima Job gemacht hat, sehr herzlich danken.
({12})
Nun, die heutige Redezeit ist kurz, die Legislaturperiode dafür aber lang. Sie kennen die Koalitionsvereinbarung. Sie enthält einige grundsätzliche und eine ganze
Reihe konkreter Aussagen. Ich möchte mich deshalb auf
einige Anmerkungen beschränken.
Die wesentliche Aufgabe der Kulturpolitik des Bundes liegt in der Gestaltung und der möglichen Verbesserung der Rahmenbedingungen für Kultur. Dazu gehören unter anderem die Stärkung des bürgerschaftlichen
Engagements, die Stabilisierung der Künstlersozialversicherung, ein künstler- und autorenfreundliches Urheberrecht, ein besonderes Engagement für die neuen Länder
sowie die Wahrnehmung der besonderen Verantwortung
für die Kultur in der Hauptstadt Berlin.
({13})
Auf europäischer Ebene und darüber hinaus wollen
wir Vereinbarungen, die unsere kulturelle Vielfalt
schützen, die es verhindern, dass Kultur zur bloßen Handelsware herabgesetzt wird, und die der nationalen Verantwortung, zu der auch die Eigenverantwortung von
Kommunen und Bundesländern gehört, den Freiraum
und die Autonomie belassen, die überhaupt erst kulturelle Vielfalt ermöglichen.
({14})
Für den deutschen Film - mein bisheriges Engagement ist ja bekannt ({15})
haben wir nicht nur in der Koalitionsvereinbarung, sondern bereits in der ersten Arbeitssitzung des Kabinetts
eine wichtige Weichenstellung im Hinblick auf die Mobilisierung privaten Kapitals vorgenommen, bei deren
Umsetzung ich mit Ihrer tatkräftigen Mithilfe rechne.
Meine Damen und Herren von der großen Koalition, wir
brauchen nur das umzusetzen, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, und ich denke, das werden wir
auch tun.
({16})
Im Medienbereich wird die Deutsche Welle im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen. Sie muss in der
Wahrnehmung ihrer Aufgaben gestärkt werden - so
heißt es, wenn auch nicht im Kapitel „Medien“, im Kapitel „Außenpolitik“ -, damit Deutschland in seiner ganzen Vielfalt als verantwortungsbewusster Partner in der
Welt wahrgenommen wird. Wir wollen eine enge Kooperation mit ARD und ZDF, um die Aktualität und Attraktivität des deutschen Auslandsfernsehens, Deutsche
Welle TV, zu verbessern.
Meine Damen und Herren, es ist viel zu tun,
({17})
und zwar viel mehr als das, was in der Koalitionsvereinbarung steht. Es bedarf einer gemeinsamen Anstrengung
der Kulturpolitiker aller Fraktionen, um der Bedeutung
der Kultur und ihrer Förderung auch mit Blick auf den
Haushalt Nachdruck zu verleihen. Bei dieser Anstrengung - das ist meine abschließende Bitte - hoffe ich
nicht nur auf die Unterstützung der Kolleginnen und
Kollegen der großen Koalition. Hier wäre eine Allparteienkoalition für die Kultur das beste Signal.
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat der Abgeordnete Hans-Joachim Otto
von der FDP-Fraktion.
({0})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber
Bernd Neumann, zunächst einmal möchte ich Ihnen
auch namens meiner Fraktion ganz herzlich zu Ihrem
neuen Amt gratulieren. Wir wünschen Ihnen von Herzen
Erfolg und nicht zuletzt auch den Rückhalt der Koalition
in allen Fragen der Medien- und Kulturpolitik und ihrer
Umsetzung.
({0})
Ich verbinde dies, auch in meiner neuen Eigenschaft als
Ausschussvorsitzender, mit der Hoffnung auf eine konstruktive Zusammenarbeit.
Hans-Joachim Otto ({1})
In der Tat stehen uns große Aufgaben bevor, die wir
nur bewältigen können, wenn alle Fraktionen zumindest
in Grundsatzfragen an einem Strang ziehen, und zwar in
derselben Richtung. Vor welch großen Aufgaben die
Kultur- und Medienpolitik steht, verdeutlichen die vor
einer Woche veröffentlichten Ergebnisse des achten Kulturbarometers: Rund zwei Drittel aller Befragten gaben
an, noch nie in ihrem Leben eine Oper, Operette, Theateraufführung, Veranstaltung mit bildender Kunst oder
Literatur besucht zu haben. Das ist ein alarmierendes
Zeichen. Diese Umfrage der Deutschen Orchestervereinigung zeigt exemplarisch, was uns erwartet, wenn wir
nicht in viel stärkerem Maße als bisher insbesondere
Kinder und Jugendliche an Kultur, die mehr ist als bloße
Unterhaltung, heranführen. Mehr kulturelle und ästhetische Bildung heißt also die Schlüsselaufgabe.
({2})
Lassen Sie mich jetzt auf die Koalitionsvereinbarungen zur Kultur- und Medienpolitik eingehen. Wir als Liberale haben uns sehr gefreut, dass sich zahlreiche Passagen aus dem FDP-Wahlprogramm, teilweise sogar in
gleichem Wortlaut, im Koalitionsvertrag wiederfinden.
({3})
Diese Art von Raubkopie kann ich nur begrüßen.
({4})
Lieber Herr Staatsminister Neumann, Sie haben zu
Recht angenommen, dass vieles - eigentlich fast alles von dem, was im Koalitionsvertrag steht, auch vereinbart worden wäre, wenn ein Koalitionsvertrag zwischen
Union und FDP geschlossen worden wäre. Problematisch an dem Koalitionsvertrag ist aber nicht das, was
drinsteht, sondern in erster Linie das, was nicht enthalten
ist oder im Anhang steht. Es ist kein gutes Zeichen, dass
sich die Kulturpolitiker von Union und SPD hinsichtlich
ihrer ursprünglichen Vereinbarungen zum Staatsziel
Kultur und zu dem klaren Bekenntnis zu einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz nicht haben durchsetzen können;
dies steht nicht ausdrücklich in der Koalitionsvereinbarung.
({5})
- Dann hättet ihr es aufnehmen sollen.
({6})
Der kritikwürdigste Punkt des Koalitionsvertrages
findet sich im Anhang. Ich meine die Außenvertretung
Deutschlands gegenüber der EU in Fragen der Kulturund Medienpolitik. Im Klartext: Wenn Art. 23 Abs. 6
des Grundgesetzes tatsächlich wie vorgesehen geändert
würde, bedeutete dies einen Schaden für die Kultur und
den Rundfunk in Deutschland. Jahrelange leidvolle Erfahrungen lehren uns doch, dass, wenn ausschließlich
die Ländervertreter für Deutschland verhandeln, es den
EU-Partnern immer wieder gelingt, am Ansatzpunkt der
oft unterschiedlichen Regionalinteressen einen Keil zwischen die Länder zu treiben und die deutsche Position zu
schwächen.
({7})
Ich verstehe wirklich nicht, lieber Bernd Neumann, wie
Sie diese massive Beschneidung Ihrer Kompetenz als
eine Stärkung, ja sogar als einen Erfolg betrachten können. Wenn im Grundgesetz zukünftig steht, dass in Fragen der ausschließlichen Zuständigkeit für Kultur die
Länder zu verhandeln haben - statt wie bisher, dass die
Länder verhandeln sollen -, dann ist das eine entscheidende Veränderung; das muss ich Ihnen als Jurist so klar
sagen. Das ist keine Kleinigkeit. Es handelt sich hierbei
um einen der zentralen Beweggründe für die Schaffung
des Amtes des Kulturstaatsministers. Wenn diese Kompetenz, die Außenvertretung gegenüber der EU, tatsächlich so beschnitten wird, stellt sich für dieses Amt
zwangsläufig die Existenzfrage.
Mit Europa ist im Übrigen ein Thema angesprochen,
dem sich der Ausschuss für Kultur und Medien ohnedies
widmen sollte und dem er einen spürbar höheren Stellenwert einräumen muss.
Europäische Direktiven beeinflussen immer stärker
auch die Kultur- und Medienpolitik unseres Landes. Es
darf daher nicht sein, dass Berge von EU-Vorlagen auf
uns niederkommen, ohne dass wir von ihnen vor ihrer
Verabschiedung in Brüssel in irgendeiner Weise Kenntnis hatten, geschweige denn sie beeinflussen konnten.
({8})
Hier müssen wir gemeinsam etwas ändern. Wir müssen
das neue Verbindungsbüro des Bundestages in Brüssel
nutzen und dort als Parlamentarier direkte Informationskanäle aufbauen.
({9})
Abschließend möchte ich noch kurz auf die beiden
Anträge zum Abriss des Palastes der Republik eingehen. Es gibt keinen tragfähigen neuen Gesichtspunkt
({10})
seit dem mit breiter Mehrheit verabschiedeten Abrissbeschluss dieses Hohen Hauses vom 4. Juli 2002.
({11})
Es ist doch auch eine Frage der Selbstachtung unseres
Hauses, dass, wenn nach sorgfältiger Diskussion Beschlüsse mit breiter Mehrheit verabschiedet wurden, die
Diskussion danach nicht erneut beginnt und wir zu
neuen Beschlüssen kommen.
({12})
Deswegen plädiere ich dafür, diese beiden Anträge zurückzuweisen.
Hans-Joachim Otto ({13})
Gar nicht verstehen kann ich den Antrag der Grünen.
Antje Vollmer ist erst seit wenigen Wochen nicht mehr
Mitglied dieses Hauses und schon ändern Sie den Kurs.
({14})
Das sollten Sie noch einmal überdenken.
({15})
Ich komme zum Schluss. Lieber Bernd Neumann, der
Ausschuss für Kultur und Medien zeichnet sich seit seiner Einrichtung vor sieben Jahren durch ein hohes Maß
an Sachorientierung und grundsätzlicher Übereinstimmung aus. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir dies auch
in dieser Legislaturperiode leisten werden, auch wenn
wir, wie bei der Frage des Palastabrisses, kontrovers diskutieren.
Ich weiß nicht, ob man von einer Allparteienkoalition
sprechen soll. Aber wir Liberale sagen Ihnen zu, dass
wir in einem sehr konstruktiven Sinne mit Ihnen und
selbstverständlich mit allen Kolleginnen und Kollegen in
dem Ausschuss zusammenarbeiten werden, zum Wohle
von Kunst, Kultur und Medien in Deutschland.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat die Abgeordnete Monika Griefahn von
der SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
ich möchte dem neuen Staatsminister für Kultur und Medien aufs Herzlichste gratulieren. Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode auch deshalb so viel erreicht, weil wir im Kulturausschuss mit Ihnen als
Obmann der CDU/CSU-Fraktion oft gut zusammenstatt gegeneinander gearbeitet haben. Deshalb glaube ich
hoffen zu dürfen, dass wir in der Koalition gemeinsam
einiges auf die Beine stellen werden. Ich freue mich auf
die gute Zusammenarbeit.
Ich möchte aber auch nicht versäumen, Dr. Christina
Weiss zu danken. Sie hat in ihrem Amt in den letzten
Jahren viel erreicht, vieles angeschoben und mit bewundernswerter Energie und der nötigen Ausdauer die Vorhaben auf den Weg gebracht.
({0})
Die Bundeskulturpolitik kann seit 1998 mit einem
vollkommen gewandelten Selbstverständnis aufwarten. Michael Naumann, Julian Nida-Rümelin und
Christina Weiss haben ihr Stimme und Gesicht verliehen.
({1})
Bei der zukünftigen Arbeit profitieren wir von vielem,
was wir in den letzten sieben Jahren gemeinsam erarbeitet haben. Kulturpolitik hat in der großen Koalition auch
deshalb einen großen Stellenwert, weil sie ihn schon
vorher hatte. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt.
1998 war das nämlich nicht der Fall.
({2})
Obwohl der Mehrwertsteuersatz ab 2007 um
3 Prozentpunkte steigen wird, hat sich die Koalition klar
für den ermäßigten Steuersatz von 7 Prozent auf Kulturgüter ausgesprochen.
({3})
Darüber gibt es keine Diskussion. Damit bleiben Bücher,
der Theatereintritt oder Zeitungen weiterhin für jede
Einzelne und jeden Einzelnen in der Bevölkerung bezahlbar; denn Kunst und Kultur sind kein Luxus, sondern gehören wortwörtlich zu unseren Lebensmitteln.
Deshalb ist das Geld für Kultur auch keine Subvention,
sondern eine Investition.
({4})
Wenn im aktuellen Bericht der Kulturwirtschaft steht,
dass die Kulturwirtschaft wirtschaftlich gesehen sogar
besser dasteht als die Energiebranche, da sie mit 35 Milliarden Euro gegenüber 30 Milliarden Euro mehr Wertschöpfung für unsere Wirtschaft bringt, ist das ein weiteres Argument dafür, dass wir alle zupacken müssen, damit das so bleibt.
({5})
Die schon seit langer Zeit notwendige Fusion der
Kulturstiftungen der Länder mit der Kulturstiftung
des Bundes wollen wir jetzt noch einmal angehen. Vor
drei Jahren war dieser Plan noch am Votum Bayerns gescheitert. Ich hoffe, dass wir in den Verhandlungen erreichen werden, dass der Bund in einer neuen Stiftung angemessen vertreten ist; denn das ist der entscheidende
Punkt. Es geht nicht, dass der Bund 75 Prozent des Geldes gibt, aber nur eine von 17 Stimmen hat. Hier müssen
wir zu einem anderen Agreement kommen, damit die
Arbeit der Stiftung in der bewährten Form weitergeführt
werden kann.
({6})
Wir wollen weiter an der Erinnerungskultur in
Deutschland arbeiten. Seit dem 1. Januar 2005 ist der
Staatsminister für Kultur und Medien auch für die
Birthler-Behörde und die Stiftung zur Aufarbeitung der
SED-Diktatur zuständig. Damit können wir jetzt eine
Gesamtkonzeption zur Auseinandersetzung mit der
SED-Diktatur erarbeiten, innerhalb derer auch die Erinnerung an die Teilung Deutschlands zur Geltung kommen kann.
({7})
Herr Otto hat bereits erwähnt, dass uns heute wieder
einmal zwei Anträge zum Palast der Republik vorliegen. Die Linke will den Abriss ganz stoppen und die
Grünen wollen ihn so lange herauszögern, bis die Finanzierung des Neubaus vollständig gesichert ist.
({8})
Ich finde es seltsam, dass dieses Thema den Bundestag
erneut beschäftigt, obwohl es klare Beschlüsse dazu gibt.
({9})
Am 13. November 2003 - das ist gerade einmal zwei
Jahre her - haben wir interfraktionell, also mit den Stimmen des ganzen Hauses
({10})
- die PDS war keine Fraktion -, beschlossen - ich zitiere -:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, den Abriss des Palastes der Republik öffentlich auszuschreiben, zu beauftragen und gemeinsam mit dem Land Berlin für eine gärtnerische
Übergangsgestaltung des gesamten Areals zu sorgen.
({11})
Ich finde nicht, dass wir hier unsere eigenen - und dazu
richtigen - Beschlüsse zurücknehmen sollten. Eine Verzögerung schadet. Deshalb muss es bei dem Beschluss
bleiben. Wir müssen zusehen, dass wir das Weitere
schnell auf den Weg bringen.
({12})
Ich bin froh, dass wir für den Problembereich
Vertreibung eine Lösung gefunden haben, bei der das
„Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität“ und
die Arbeit von Staatsministerin Christina Weiss im Vordergrund stehen. Das ist ein wichtiges außenpolitisches
Zeichen; denn das zeigt, dass das europäische Verständnis einer von Unrecht geprägten Epoche gemeinsam mit
Polen, Tschechien und Ungarn in einem gleichberechtigten Europa diskutiert werden muss. Das ist der richtige
Ansatz und ich bin sehr froh, dass wir in den Koalitionsverhandlungen zu diesem Ergebnis gekommen sind.
({13})
Im Koalitionsvertrag haben wir auch deutlich gemacht, dass der Film einen hohen Stellenwert hat; Herr
Neumann hat es erwähnt. Ich erinnere daran, dass wir
das Filmförderungsgesetz in der letzten Legislaturperiode novelliert und damit schon eine wichtige Grundlage auf den Weg gebracht haben. Jetzt müssen wir aber
eine Übergangsfinanzierung für die Medienfonds voranbringen.
In der Medienpolitik machen die rasanten Veränderungen im Bereich der Telekommunikation, des Rundfunks und der Telemedien sowie die zunehmende Konvergenz der Medien einen einheitlichen Rechtsrahmen
zwingend erforderlich. Dazu wollen wir gemeinsam mit
den Ländern die Medien- und Kommunikationsordnung
an die technischen Entwicklungen anpassen.
({14})
Wir werden auch dafür streiten - das ist ebenfalls ein
ganz wichtiger Punkt -, dass die öffentlich-rechtlichen
Medien nicht den Anschluss an die neuen Medien verlieren. In einer Zeit, in der gerade jüngere Menschen ganz
andere Übertragungstechniken wie Handys oder das Internet nutzen, wäre es ein fatales Zeichen, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk von diesen Entwicklungen
abzuschneiden. Dafür haben wir gemeinsam in Brüssel
gekämpft und dafür werden wir hier im Land wie auch in
Brüssel weiterhin gemeinsam kämpfen.
({15})
Sowohl bezogen auf den Rundfunk als auch bezogen
auf die Telemedien haben wir die Zuständigkeit für den
Jugendschutz komplett in die Verantwortung der Länder
gelegt. Dafür wollen wir den Datenschutz ganz dem
Bund überlassen und hier gemeinsam die besten Lösungen finden. Ich glaube, wir dürfen den Datenschutz nicht
ad acta legen.
({16})
Gerade in Zeiten des Terrorismus könnte das leicht dazu
führen, dass man etwas überreguliert und damit die Bürgerrechte einschränkt. Das müssen wir immer im Auge
haben.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
CSU und der FDP sowie der Abg. Krista Sager
({17})
In der Koalition wollen wir ausdrücklich die Pressevielfalt, die Bürgerrechte und den besonderen Schutz der
Journalisten sichern. Genauso müssen wir auch die Regeln zur Medienkonzentrationskontrolle unter die
Lupe nehmen.
({18})
- Das ist mir sehr wichtig.
({19})
Dass das Kartellamt und auch die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich Bedenken
gegen die Fusion des Axel-Springer-Verlages mit der
Pro Sieben Sat.1 Media AG angemeldet haben, zeigt in
meinen Augen, dass die Kontrolle der unabhängigen
Gremien, die wir in diesem Land eingerichtet haben, zu
funktionieren scheint. Wir müssen nur schauen, ob wir
beim Gesetz nachjustieren müssen, damit die Regelungen auch wirklich greifen und alles klar ist, sodass nicht
irgendwelche Leute kommen können und etwas anderes
beschließen.
({20})
Wir brauchen aber einen einheitlichen Bewertungsrahmen für die Kultur-, die Medien- und die Wirtschaftspolitik. Hier sind wir ganz einer Meinung, Herr Otto; da
haben Sie Recht. Wir wollen das nicht machen. Ich
denke, dafür sind die Institutionen von uns eingerichtet
worden.
Der Herr Minister hat es schon gesagt: Wir wollen auf
EU-Ebene bei der Dienstleistungsrichtlinie und auf internationaler Ebene bei GATS gemeinsam dafür kämpfen, dass Kunst und Kultur in erster Linie als Träger von
Identitäten und Wertvorstellungen gesehen werden, und
nicht zulassen, dass sie ausschließlich als Ware definiert
werden. Nach Kanada sollten wir daher die UNESCOKonvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt ebenso
schnell ratifizieren wie das Kulturgüterabkommen von
1970. Das muss jetzt ganz schnell auf den Weg gebracht
werden.
({21})
Einmütig haben sich alle Fraktionen dazu bekannt,
die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik als tragende dritte Säule der deutschen Außenpolitik weiter zu
stärken. Eine sichere Finanzierung und starke Mittlerorganisationen wie das Goethe-Institut und die deutschen
Auslandsschulen sind hier ganz wichtig. Die traurige
Tatsache, dass es im Irak mit Susanne Osthoff gerade die
erste deutsche Geisel gibt, zeigt uns, dass die Verständigung zwischen den Kulturen eine unserer vordringlichsten Aufgaben ist. Das schaffen wir nur mit der Dialogpolitik, die wir seit dem Jahre 2000 verstärkt anwenden.
Ich denke, gerade der Dialog mit dem Islam ist uns ein
sehr wichtiges Anliegen.
({22})
Die Deutsche Welle spielt dabei eine zentrale Rolle.
Neben dem Hörfunk und dem Internetauftritt in
30 Sprachen brauchen wir ein attraktives Fernsehen. Dafür muss die Zusammenarbeit der Deutschen Welle mit
ARD und ZDF intensiviert werden. Ich denke, die Erfahrungen mit German TV eröffnen hier sehr gute Möglichkeiten.
Sie sehen: Wir haben viel zu tun. Packen wir es an!
Als Erstes sollten wir in der nächsten Sitzungswoche die
Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ einsetzen.
({23})
Dann wollen wir zügig daran arbeiten, dass wir einen
Konsens für die Verankerung der Kultur als Staatsziel im
Grundgesetz erreichen. Lassen Sie uns das gemeinsam
angehen!
({24})
Das Wort hat die Abgeordnete Lukrezia Jochimsen
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatsminister, auch wir gratulieren Ihnen natürlich
zu Ihrem neuen Amt.
({0})
Allerdings tun Sie mir ein bisschen Leid, sind Sie doch
im Vergleich zu den bisherigen Staatsministern ziemlich
entmachtet und heruntergestuft worden.
({1})
Wahrhaftig wohlklingende Worte zur Kultur haben
wir gehört: „Kulturstaat Deutschland“ und „europäische
Kulturnation Deutschland“, all das klingt sehr gut. Es ist
auch zu begrüßen, dass die große Koalition die Förderung von Kunst und Künstlern in den Mittelpunkt ihrer
Kulturpolitik stellt, in der Kulturförderung keine Subvention, sondern eine Investition sieht und die Förderung der Hauptstadtkultur als zentrale Aufgabe ansieht.
Aber wie steht es um diesen Kulturstaat Deutschland
in Wirklichkeit? Wenn die Investitionen des Bundes mit
keinem Euro mehr ausstaffiert werden, dann bedeutet
das, dass nur durch Umschichtung neue Projekte möglich werden und sich bei gleichzeitigem Rückgang der
Mittel der Kulturhaushalte in den Ländern und Kommunen die Möglichkeiten zur Teilhabe an Kultur verringern
und so wiederum viele Künstlerinnen und Künstler, die
sich schon heute in prekärer sozialer Situation befinden,
weiter verarmen. So viel zum Mittelpunkt der Künstler
und der Kunst in der Politik.
Es gibt kein Wort zum Staatsziel Kultur als Verfassungsauftrag, kein Wort über die Wiedereinsetzung der
Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“,
({2})
die uns den Satz „Der Staat schützt und fördert die Kultur“ als Verfassungsauftrag empfohlen hat.
({3})
Die Linke setzt sich dafür ein, dass diese Arbeit so
schnell wie möglich fortgesetzt wird. Wir können den
Kulturstaat Deutschland hoch und runter beschwören.
Wenn es der Staat nicht als seine zentrale Aufgabe ansieht, die Kultur vor den globalen Markt- und Medienmächten zu schützen, welche die Kultur als Ware und die
Kulturschaffenden als Dienstleister ansehen, dann setzt
sich die Erosion unserer Identität fort. Da nutzt dann
auch keine Diskussion über deutsche Leitkultur mehr.
({4})
Ohne Kultur gehen wir kaputt. Kultur ist die Nahrung
einer Nation, wie Shakespeare es gesagt und Erich Fried
es uns übersetzt hat.
Wie sieht die Kulturwirklichkeit aus? Der Staatsminister für Kultur ist entmachtet. Die Kulturvertretung
gegenüber der Europäischen Union ist an die Länder abgetreten. Inhaltlich sind die Ein- und Auslassungen zur
Kulturpolitik äußerst mager, sowohl im Koalitionsvertrag als auch in der Regierungserklärung. Dabei gibt es
allerdings interessante Ausnahmen.
Die Bundeskanzlerin hat intensiv und sehr widersprüchlich für ein Vertriebenenzentrum in Berlin geworben, als Geste der Versöhnung. Das ist eine seltsame
Geste. Wer soll sich da eigentlich mit wem versöhnen?
Bei so etwas machen wir jedenfalls nicht mit.
({5})
Des Weiteren wird im Koalitionsvertrag die Gedenkstättenförderung des Bundes unter „angemessener Berücksichtigung der beiden Diktaturen in Deutschland“ in
Aussicht gestellt. Wir möchten sehr gerne wissen, was
unter „angemessen“ zu verstehen ist.
Schließlich wird gefordert, die weiteren Entscheidungen für den Wiederaufbau des Stadtschlosses zügig
voranzutreiben.
({6})
Diesen Ruf nach dem Abrisskommando halten wir zu einem Zeitpunkt, zu dem immer deutlicher wird, dass die
wesentlichen Grundlagen für den Beschluss des Deutschen Bundestags im Jahr 2002 zum Wiederaufbau des
Berliner Stadtschlosses hinfällig geworden sind,
({7})
für unverantwortlich und zynisch. Im Übrigen leugnet er
die gemeinsame Geschichte und Kultur unseres Landes.
({8})
Glauben Sie bloß nicht, dass irgendjemand von uns
den alten DDR-Palast der Republik wiederhaben will!
({9})
Legen Sie diese Angst ab und denken Sie darüber nach,
warum Sie sie haben! Wir wollen aber ein Forum der
Kultur für die Zukunft und kein Luxushotel mit Museumsbeständen im Keller hinter einer Barockfassade.
({10})
Wir wollen das Humboldt-Forum so, wie es hier zur Diskussion stand und beschlossen wurde.
({11})
Dieses Parlament muss sich mit den veränderten Bedingungen für den Wiederaufbau des Schlosses auseinander setzen. Deshalb fordern wir, den Abriss des Rohbaus des Palastes der Republik zu stoppen und eine
Zwischennutzung zu ermöglichen, die eine lebendige
Vielfalt der Kulturen in Berlin verwirklichen würde.
({12})
Wir danken den Grünen übrigens ausdrücklich für ihre
späte Einsicht und politische Unterstützung.
Insgesamt waren wir in Sachen Kulturstaat schon
weiter. In der Koalitionsvereinbarung von 2002 hieß es:
Kultur ist elementare Voraussetzung einer offenen,
gerechten und zukunftsfähigen Gesellschaft. Sie
wird für das Zusammenleben in einer sozial und
ethnisch divergierenden Gesellschaft immer wichtiger. Dazu gehören auch die Förderung der kulturellen Bildung von Kindern und Jugendlichen und die
Öffnung für die Kulturen der Migranten und Migrantinnen. Die kulturellen Güter sind öffentliche
Güter und müssen für alle zugänglich sein.
Das war ein anderer Zugang zum Kulturstaat Deutschland. Dass so wenig davon von der letzten Regierung
umgesetzt wurde, Kollegen von der SPD und auch von
den Grünen, bedeutet für uns heute mehr Arbeit, mehr
Engagement und mehr Verantwortung.
({13})
Ich danke Ihnen.
({14})
Frau Jochimsen, ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer
ersten Rede. Dem schließen sich die Kolleginnen und
Kollegen sicherlich an.
({0})
Das Wort hat die Abgeordnete Grietje Bettin vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich auch kurz Herrn Staatsminister
Neumann zu seinem neuen Amt gratulieren. So viel Zeit
muss sein. Ich hoffe, dass wir die vertrauensvolle Zusammenarbeit in der Vergangenheit auch mit neuen Rollen fortsetzen können.
Trotzdem möchte ich gleich zu Beginn meiner Rede
ein umstrittenes Thema ansprechen, nämlich die Forderung eines Abrissmoratoriums für den Palast der Republik im Antrag meiner Fraktion.
({0})
Auslöser für diesen Antrag war die Machbarkeitsstudie
- vielleicht sollte man besser von der Nichtmachbarkeitsstudie reden -, die im Sommer dem Bauministerium
vorgelegt wurde. Die Studie hat deutlich gemacht, dass
das vom Bundestag vor mehr als drei Jahren beschlossene Nutzungskonzept kaum realisierbar ist. Denn selbst
wenn das Schloss in Public Private Partnership wieder
aufgebaut werden würde, ist für die öffentliche Hand mit
Kosten in Höhe von 1,2 Milliarden Euro zu rechnen.
({1})
Trotz dieser enormen Summe müsste das Programm des
Humboldt-Forums um die Hälfte reduziert werden. Dabei gibt es bereits sinnvolle Alternativen, die vorsehen,
das Rohgerüst des ehemaligen Palastes der Republik in
ein neues Gebäude kostensparend zu integrieren.
({2})
Mit unserem Antrag wollen wir also nicht die ideologische Auseinandersetzung über Schloss oder Palast wieder aufleben lassen. Unser Ziel ist vielmehr, dass keine
Steuergelder für einen Abriss verschwendet werden, bevor überhaupt klar ist, was in Zukunft auf dem Platz stehen wird.
({3})
Denn diese Steuergelder brauchen wir dringend für andere Aufgaben, auch im Bereich der Kulturpolitik.
Lassen Sie mich nun zur Medien- und Kulturpolitik in
den nächsten vier Jahren kommen. Uns geht es als Grüne
vor allem um das Oberthema Erhöhung der Teilhabechancen in unserer Gesellschaft. Wir wollen, dass
mehr Menschen Zugang zur Kultur bekommen. Wir
wollen beispielsweise Kulturveranstaltungen für alle offen halten, nicht nur für ein Publikum mit hohem Bildungsniveau oder mit einem prall gefüllten Geldbeutel.
Wir wollen vielfältige Angebote für ganz verschiedene
Zielgruppen sicherstellen. Wir wollen des Weiteren die
kulturelle Bildung fördern und gerade das Interesse junger Menschen an Kultur wecken; denn wir müssen vorbeugen. Wenn man sich die demographische Entwicklung anschaut, stellt man fest, dass das kulturelle Leben
in schrumpfenden Städten und Regionen durchaus in
Gefahr ist. Aber auch dort müssen wir ein kulturelles Leben sicherstellen. Dazu sagen Sie im Koalitionsvertrag
gar nichts.
({4})
Nebenbei bemerkt: Das sind ganz wichtige Themen,
die wir in der Kultur-Enquete-Kommission, deren erneute Einsetzung demnächst beschlossen wird, behandelt
sehen wollen. Wir sind auf jeden Fall für eine Fortsetzung der Arbeit dieser Enquete-Kommission, die sozusagen auf halber Strecke gestoppt wurde.
({5})
Im Koalitionsvertrag fehlt mir grundsätzlich die
Orientierung beim Thema Kulturpolitik. Wohin soll es
gehen? Die große Koalition lässt keine klare Vision und
keinen gesellschaftspolitischen Ansatz erkennen. Wie
wollen Sie gemeinsam dafür sorgen, dass Künstlerinnen
und Künstler auch zukünftig frei und mit der notwendigen Planungssicherheit in Deutschland leben und arbeiten können? Hierzu hätte ich mir konkrete Vorschläge
gewünscht. Wie können wir beispielsweise bei Hartz IV
zu Verbesserungen für freischaffende Künstlerinnen und
Künstler kommen sowie die Künstlersozialkasse erhalten und erweitern?
Beim Thema Medienpolitik ist im Koalitionsvertrag
ein sehr technokratischer Ansatz gewählt worden. Dabei
geht es in einer Informationsgesellschaft um viel mehr
als nur um Technologieförderung. Es geht hier - genauso wie bei der Kultur - darum, Zugangsgerechtigkeit
herzustellen und Vielfalt zu sichern. Die Herausforderungen der Informationsgesellschaft sind riesengroß.
Wir brauchen ein modernes Urheberrecht, das den
Künstlerinnen und Künstlern gerecht wird sowie gleichzeitig den freien Zugang sicherzustellen weiß. Wir dürfen - das möchte ich ausdrücklich betonen - nicht nur
den Rechteverwertern und den Großverlagen einen Gefallen tun.
({6})
Ein weiteres, ganz wichtiges Thema ist die Überwindung der digitalen Spaltung. Dabei kann Technik eine
große Hilfe sein, Stichwort „barrierefreier Zugang“. Wir
setzen auf kostengünstige und entwicklungsoffene Lösungen. Aber auch hierzu fehlt mir in Ihrem Koalitionsvertrag einiges.
({7})
Um eine demokratische Teilhabe sicherzustellen,
brauchen wir einen freien und gerechten Zugang zur Information. Dafür sind sehr viele konkrete Maßnahmen
notwendig. Wir müssen - ich glaube, darin sind wir uns
alle einig - die Pressevielfalt und Meinungsfreiheit in
Deutschland verteidigen. Aber hier sind unterschwellig
viele negative Entwicklungen zu erkennen, zum Beispiel
eine zunehmende Monopolbildung. Dagegen brauchen
wir eine effektivere Konzentrationskontrolle. Aber auch
dazu sagen Sie nichts.
({8})
Vielfalt lässt sich nicht allein herstellen. Deshalb sind
wir von der Opposition gerade in Zeiten einer großen
Koalition der beiden Volksparteien darauf angewiesen,
dass in einem so sensiblen Bereich wie den Medien unsere Bedenken ernst genommen werden. Es ist ein gesellschaftlich sehr sensibler Bereich. Das muss sich unter anderem in den Aufsichtsstrukturen widerspiegeln.
Wer hier allein auf Mainstream und die Meinung von
Mehrheiten setzt, gefährdet die gewachsenen Medienund Kulturlandschaft in Deutschland. Ich hoffe auf Einigkeit; denn wir müssen das als Medien- und Kulturpolitiker gemeinsam verhindern.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Börnsen von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen!
({0})
Kultur lebt nicht in den Büchern, nicht in den Partituren,
Kultur ist dann lebendig, wenn die Bücher gelesen, die
Theaterstücke aufgeführt und die Musik gespielt wird. ({1})
Bundespräsident Horst Köhler.
Kultur gehört zur Identitätsfindung. Wer wissen
will, wer wir sind und woher wir kommen, muss sich für
Kultur engagieren.
({2})
Wir verarmen, wenn wir das kulturelle Erbe nicht nutzen, wir vereinsamen, wenn wir uns nicht mit kulturellen
Herausforderungen auseinander setzen. Wir verlieren an
Orientierung, wenn wir der Kultur ausweichen. Rosa
Luxemburg, die sonst nicht zu meinen Lichtgestalten gehört,
({3})
hat diese Einschätzung so formuliert:
Entfremdet und entwürdigt ist nicht nur der, der
kein Brot hat, sondern auch der, der keinen Anteil
an den großen Gütern der Menschheit hat.
({4})
Kultur gibt dem Leben Erfüllung. Wer den unbestreitbaren Wert der Kultur propagiert - das haben wir bisher
alle getan -, muss die Förderung der kulturellen Bildung wollen. Kulturelle Bildung hat in der Familie zu
beginnen, ist in der Schule zu verstärken und sollte das
tägliche Leben begleiten. Ich selber habe vor 30 Jahren
ein Museum gegründet und betreibe es heute noch, eine
Erfahrung, die ich nicht missen möchte.
Die junge Generation zur Neugierde, zum Selber- und
Mitmachen anzuleiten, ist das Gebot der Stunde. Das gilt
für die Werke der Moderne, genauso für die Klassik.
({5})
Ich erwarte, dass das nationale Projekt der Ganztagsschule die musisch-kulturelle Bildung wieder zu einem
Schwerpunkt in der Schule macht.
({6})
Wir sind eine Kulturnation und die wollen wir auch
bleiben. Kunst und Kultur sind untrennbar mit der Identität der Deutschen als Nation verbunden.
({7})
Kunst und Kultur erwachsen aus dem Gestaltungswillen
von Menschen, aus der Kreativität der Künstler. Die
Grundvoraussetzung dafür ist die Freiheit der Kunst. Die
haben wir zu garantieren und das tun wir alle.
({8})
Der Staat ist für die Bedingungen, unter denen sich Kultur und Kunst entwickeln müssen, zuständig, nicht für
deren Inhalte. Reinhören ja, reinreden nein.
({9})
Wir von der Union bekennen uns zur Förderung von
Kunst und Kultur als öffentliche Aufgabe. Oder, wie es
ein Theaterintendant formulierte: Der Staat muss die
Kultur fördern, genauso wie er die Müllabfuhr finanziert. Das Theater ist die Müllabfuhr für die Seele.
({10})
Als Leiter einer Wanderbühne weiß ich, wovon ich
spreche. Gut 20 Millionen unserer Mitbürger erfahren
jährlich als Theaterbesucher diese Art von Entlastung,
Entspannung, Auseinandersetzung, verlassen befreit,
verärgert, erbost oder überaus beglückt die 350 öffentlichen oder privaten Theater in unserem Land, 20 Millionen Besucher jährlich - die Fußballbundesliga kommt
auf 10 Millionen Zuschauer.
({11})
100 Millionen Menschen gehen bei uns Jahr für Jahr
in die Museen. 155 Millionen besuchen die Filmtheater.
Doch ein kritischer Blick hinter deren Kulissen lässt
festhalten: Über 85 Prozent aller Filme kommen aus
Hollywood. Amerikanische Wertemuster werden exportiert, schaffen und beeinflussen Urteile und Vorurteile.
Nach meiner Auffassung kommen die deutschen und die
europäischen Komponenten im Kino zu kurz.
({12})
Wir sollten mit Selbstbewusstsein unsere Sprache, unsere Filme und unsere Wertvorstellungen mehr fördern.
Rechnet man alle Kulturbesucher zusammen, kommen
wir in Deutschland auf 300 Millionen Besucher. Wie gesagt, die Bundesliga hat 10 Millionen. Deren Akteure
machen jedoch täglich Schlagzeilen. Die Kultur hält sich
bis auf wenige Ausnahmen in zurückhaltender, unnötiger Bescheidenheit.
Wolfgang Börnsen ({13})
Mehr Selbstbewusstsein, mehr kraftvolle Präsenz
durch die Kultur könnten schon sein.
({14})
Das gilt für die Hochkultur wie für die Regionalkultur. Unser Land besitzt mehr professionelle Theater, Orchester und Opernhäuser als der Rest der Welt.
({15})
Bei uns sind über 7 Millionen Menschen aktiv an der
Regionalkultur beteiligt. Das ist eine der größten Bürgerbewegungen in Deutschland. Dabei ist unser Kulturbegriff durchgehend nicht auf die Leuchttürme in diesem
Bereich in Berlin, München, Frankfurt, Stuttgart, Hamburg, Dresden zu verkürzen.
({16})
Beides muss sein: Förderung in der Spitze ohne Vernachlässigung in der Breite.
({17})
Wer Kultur für alle erwartet, hat auch Kultur von allen
zu sichern.
Während die Kultur in der Provinz im Zeichen der
Globalisierung eine Art Renaissance erfährt, weil man
wieder Heimat spüren möchte, macht es besorgt, dass
der deutschen Hochkultur offensichtlich das Publikum
abhanden kommt. Mein Kollege Otto hat das schon sehr
aufmerksam beobachtet.
({18})
Vor 40 Jahren gingen noch 58 Prozent der Bevölkerung
mindestens einmal jährlich in die Oper oder in ein Konzert. Heute sind es nur noch 26 Prozent.
({19})
Für die Union begrüße ich das einmütige Bekenntnis
unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Stellenwert der Kultur. So viel Kultur hat es zum Start einer
Bundesregierung noch nie gegeben.
({20})
Das ist ermutigend.
Ihre Aussage, dass Kulturförderung eine Investition
in ein lebenswertes Deutschland ist, ist zutreffend. Sie
muss auch durch Taten untermauert werden. Mit der Berufung von Staatsminister Bernd Neumann ist es gelungen, eine kompetente, politisch versierte Persönlichkeit
für die Kultur und die Medienpolitik zu gewinnen. Das
begrüßen wir ausdrücklich.
({21})
Auch ist es unserem gemeinsamen Anliegen förderlich, dass unser Parlamentspräsident auf der Seite der
Kulturinteressierten und -engagierten steht.
({22})
Er hat ein persönliches Anliegen und ein pragmatisches
Programm, das ihn dazu veranlasst, für mehr Kulturförderung in Deutschland zu sein.
Herr Börnsen, so viel Kultur in Ihrer Rede auch sein
mag: Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
Unser Land verfügt über eine einzigartige Kulturlandschaft. Sie ist für die Menschen ein Gewinn. An ihrer
Aufrechterhaltung müssen wir gemeinsam arbeiten.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Siegmund Ehrmann
von der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Otto, Sie sind ein fantastischer Stichwortgeber. Hätte ich geahnt, mit welchem
Temperament Herr Börnsen hier vorträgt, hätte ich
meine Rede wahrscheinlich zur Gitarre vorgetragen. Das
wäre dann vielleicht ein adäquater Beitrag gewesen.
({0})
Aber bevor diese Debatte entgleitet: Herr Neumann,
ich möchte Ihnen zu Ihrer neuen Aufgabe herzlich gratulieren. Sie treten ein verantwortungsvolles Amt an. Ich
bin davon überzeugt, dass Sie es ausfüllen werden. Ich
muss aber zu bedenken geben, dass jeder Ihrer Vorgänger, Herr Naumann - er war der erste Staatsminister für
Kultur -, Herr Nida-Rümelin, Frau Dr. Weiss, dieses
Amt individuell geprägt hat. Dadurch wurden auch ein
paar Duftmarken gesetzt.
Damit komme ich auf Herrn Börnsen zu sprechen.
Herr Börnsen, zugegebenermaßen hat auch mich gestern
gefreut, was unsere Kanzlerin zur Kultur gesagt hat. Ich
erinnere mich an vergleichbare Inhalte in Regierungserklärungen zu Zeiten der rot-grünen Koalition.
({1})
Ich finde diese Erklärung sehr wichtig. Eine solche
Erklärung bindet auch öffentlich. Wichtig ist auch, dass
Strukturen geschaffen werden. Diese Strukturen sind
1998 geschaffen worden.
({2})
Der Ausschuss für Kultur und Medien und das Amt des
Staatsministers für Kultur, das sind Einrichtungen, die
die alte Koalition seinerzeit initiiert hat.
Ich lasse diesen Blick zurück, stelle für mich aber
fest, dass mit diesen Strukturen, auch den parlamentarischen Strukturen, der Blick konzentrierter auf Kulturund Medienpolitik gelenkt wurde. Das haben wir nicht
nur hier im Parlament erlebt, sondern das hat auch die
Öffentlichkeit wahrgenommen.
({3})
Das ermutigende Signal, das sicherlich gestern von
der Regierungserklärung, aber auch von Ihrem Beitrag
ausging, hat uns letztlich auch in die Pflicht genommen.
Die Pflicht ergibt sich aus der kritischen öffentlichen
Begleitung unserer Koalitionsverhandlungen. In den
Feuilletons war manch kritischer, manch mahnender
Kommentar zu lesen. Ich persönlich bin allerdings zuversichtlich, dass wir den hier bereits vorgetragenen inhaltlichen Verabredungen, die wir getroffen haben, nachkommen und den Ansprüchen, die wir an unsere
parlamentarische Arbeit haben, aber auch den Ansprüchen, die die Öffentlichkeit zu Recht an uns richtet, in
vollem Umfang gerecht werden. Aus alledem, was wir
uns vorgenommen haben, werden sich neue Perspektiven für Kunst und Kultur entwickeln.
({4})
Wir wissen - das bleibt auch unter den Bedingungen
der großen Koalition unstrittig -, dass die Förderung
von Kunst und Kultur primär Aufgabe von Ländern
und Kommunen ist. Dies betone ich, ohne das große Engagement der Bürgerschaft und der Wirtschaft gering zu
schätzen; im Gegenteil. Ebenso unstrittig ist, dass es eine
wichtige Aufgabe auch des Bundestages ist, Bedingungen zu schaffen, unter denen sich Kunst und Kultur unter
veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen weiterentwickeln können. Ich wünsche mir
- dafür werbe ich -, dass gerade in Zeiten problematischer öffentlicher Haushalte dieser Rahmen, den wir
schaffen, auch der finanzielle Rahmen, nicht in vorauseilendem Gehorsam beschnitten wird.
({5})
Vielmehr gilt es, diesen Rahmen neu zu nutzen, kreativ
und fantasievoll zu füllen. Dies setzt allerdings zwingend voraus, dass wir über Eckdaten, über genaue
Kenntnisse der Situation von Kultur in Deutschland verfügen.
({6})
- Danke. Insofern ist mein Redemanuskript logisch aufgebaut, Herr Otto.
({7})
Wir haben in der letzten Legislaturperiode diese
Enquete-Kommission gemeinsam eingerichtet. Sie ist
schon mehrfach erwähnt worden. Inhaltlich war der Enquete-Kommission die Behandlung von drei Themenschwerpunkten auferlegt worden. Es ging um eine Analyse der Situation der öffentlichen und privaten
Kulturförderung. Zentral war auch das Thema der wirtschaftlichen und sozialen Situation der Künstlerinnen
und Künstler. Frau Bettin, ich empfehle den sozialpolitischen Teil des Koalitionsvertrages Ihrer Aufmerksamkeit. Dort werden Sie finden, dass Erkenntnisse aus der
Arbeit der Enquete-Kommission schon eingeflossen
sind. Wir haben gemeinsam vereinbart, die Künstlersozialkasse zu stabilisieren, aber auch - das ist ebenfalls sehr
wichtig - die Wirkungen der Arbeitsmarktreform im Bereich der Künstlerinnen und Künstler genau zu untersuchen. Bei Anhörungen in der Enquete-Kommission haben wir insofern doch einige bedenkliche Situationen
wahrgenommen. Der Ombudsbericht wird uns in den
nächsten Monaten begleiten. Wir werden die Lebensbedingungen der Künstlerinnen und Künstler im Blick behalten und da sehr umsichtig agieren müssen.
({8})
Beim letzten Punkt, nicht inhaltlich an letzter Stelle,
aber in der Systematik der Arbeit der Enquete-Kommission, ging es um den Kulturstandort Deutschland und
hier insbesondere um die Situation der kulturellen Bildung. Herr Börnsen hat einen wichtigen Aspekt angesprochen, nämlich die Frage: Welche Chancen liegen im
Konzept des erweiterten Ganztagsbetriebs, was die Verknüpfung der kommunalen Kulturstrukturen mit den
Aufgaben in der Schule angeht?
Die Enquete-Kommission hat, wie erwähnt, die Arbeit nicht abschließen können. Sie hat allerdings einen
umfassenden Tätigkeitsbericht vorgelegt. Ich möchte an
der Stelle herzlich danken der Kollegin Connemann, die
die Enquete-Kommission verantwortlich geleitet hat,
aber auch allen anderen Mitgliedern
({9})
und den Sachverständigen, die uns sehr qualifiziert begleitet haben, vor allem aber dem Sekretariat. Auf der
Grundlage dieses Berichts wird es möglich sein, da wieder anzuknüpfen. Mir liegt sehr am Herzen, dass auch
die neue Fraktion, die dem Hause jetzt angehört, eine
Chance hat mitzuarbeiten. Es geht darum, dass wir gemeinsam Grundlagen entwickeln und möglichst konzentriert die offenen Fragen angehen.
Wohlgemerkt, der eigentliche Arbeitsauftrag ist,
Handlungsempfehlungen zu formulieren. Auf eine
Handlungsempfehlung ist hier schon verwiesen worden,
nämlich Kultur als Staatsziel. Sie ist nicht in die Koalitionsvereinbarung eingeflossen. Es ist aber eine sehr
ernst gemeinte Handlungsempfehlung. Wir werden uns
als Parlament mit Sicherheit intensiv damit auseinander
setzen müssen. Wenn wir in die Landesverfassungen
schauen, finden wir bei verschiedenen Bundesländern
eine klare, deutliche Selbstverpflichtung. Da ich davon
ausgehe, dass die Bundesrepublik mehr ist als die Addition der Bundesländer, stünde es auch unserer Verfassung gut an, wenn wir diese Handlungsempfehlung wie
vorgeschlagen im Parlament beraten und möglichst zu
einem gemeinsamen Beschluss kommen.
Letzter Punkt; ich sehe hier schon das mahnende
Signal.
Das leuchtet schon seit einiger Zeit.
Ich bedanke mich für Ihren Langmut.
({0})
Es geht um die Kulturwirtschaft. Wenige Meter von
hier entfernt findet eine große Tagung zur Situation der
Kulturwirtschaft statt. Das ist eine Branche, die ökonomisch von enormer Bedeutung ist. Ich will die Daten
jetzt nicht alle referieren; aber auf dieser Tagung ist
heute kritisch angemerkt worden, dass uns Grunddaten
zur Situation der Kulturwirtschaft nicht in belastbarem
Maße zur Verfügung stehen. Wir haben uns auch mit
dem Thema Kulturstatistik beschäftigt. All dies wird
aufzunehmen sein. Ich hoffe, dass wir noch im Dezember gemeinsam zu der Entscheidung kommen, die Kultur-Enquete-Kommission einzusetzen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor.
Die Fraktionen haben verabredet, die beiden Vorlagen
auf den Drucksachen 16/60 und 16/98 in die Ausschüsse
zu verweisen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind. Ich sehe Ihnen an, dass Sie damit einverstanden sind.
Damit sind wir am Ende der heutigen Tagesordnung.
Die nächste Sitzung berufe ich auf morgen, Freitag,
den 2. Dezember 2005, 9 Uhr, ein. Nehmen Sie die gewonnenen Einsichten mit und haben Sie einen schönen
Abend.
Die Sitzung ist geschlossen