Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich.
Auf der Ehrentribüne hat seine Exzellenz der Premierminister der Republik Singapur, Herr Lee, mit
seiner Delegation Platz genommen.
({0})
Herr Premierminister, ich begrüße Sie herzlich im Namen der Mitglieder des Deutschen Bundestages. Wir
freuen uns, dass Sie sich im Rahmen Ihres Besuches in
Deutschland die Zeit genommen haben, den Deutschen
Bundestag zu besuchen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen und erfolgreichen Aufenthalt in Deutschland.
Meine Damen und Herren, der Kollege Dr. Hermann
Otto Solms feierte am 24. November 2005 seinen
65. Geburtstag.
({1})
Ich möchte ihm im Namen des ganzen Hauses herzlich
gratulieren und alles Gute wünschen. Es fängt wieder alles sehr einvernehmlich an.
Sodann teile ich Ihnen mit, dass der Kollege
Dr. Günther Beckstein am 23. November 2005 auf seine
Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat.
({2})
- Es gibt irreversible Entscheidungen im Leben; diese
gehört dazu. - Als Nachfolgerin begrüße ich die Kollegin Dorothee Mantel, die wir bereits aus der vergangenen Wahlperiode kennen, sehr herzlich.
({3})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-
führten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. November 2003 zur Änderung des Europol-Übereinkommens
und zur Änderung des Europol-Gesetzes
- Drucksache 16/30 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über den Betrieb elektronischer
Mautsysteme ({5})
- Drucksache 16/32 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6})
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über konjunkturstatistische Erhebungen in bestimmten Dienstleistungsbereichen ({7})
- Drucksache 16/36 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft u. Technologie
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März 2005
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über die grenzüberschreitende
polizeiliche Zusammenarbeit und die Zusammenarbeit in
strafrechtlichen Angelegenheiten
- Drucksache 16/57 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Behm,
Dr. Thea Dückert, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Hongkong als Zwischenschritt einer fairen und entwicklungsorientierten Welthandelsrunde
- Drucksache 16/86 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Einstieg in
ein steuerliches Sofortprogramm
- Drucksache 16/105 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oskar Lafontaine,
Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost und der Fraktion DIE
LINKE: Hedgefondszulassung zurücknehmen
- Drucksache 16/113 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({11})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Christian
Ströbele, Anna Lührmann, Volker Beck ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN: Abrissmoratorium für den Palast der Republik
- Drucksache 16/60 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({13})
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Pau, Dr. Gesine
Lötzsch, Dr. Hakki Keskin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE: Abriss des Palastes der Republik
stoppen
- Drucksache 16/98 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({14})
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN: Konsequenzen aus den Fleischskandalen:
Umfassende Verbraucherinformation und bessere Kontrollen
-Drucksache 16/111 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({15})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach der Konstituierung des Bundestages und seiner Ausschüsse, die wir
heute Morgen vorgenommen haben, und nach der Wahl
und Bildung der Bundesregierung beginnt nun die Erledigung der konkreten Aufgaben, für die wir gewählt
sind. An der Ernsthaftigkeit der Bemühungen auf allen
Seiten gibt es keinen Zweifel. Es wäre ganz schön, wenn
wir uns dabei das Maß an Gelassenheit und auch an
Fröhlichkeit aus den konstituierenden Sitzungen bewahren könnten, das auch im richtigen Leben bei der Bewältigung anspruchsvoller Aufgaben in der Regel hilft.
({16})
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 1 auf:
Regierungserklärung der Bundeskanzlerin
mit anschließender Aussprache
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die heutige Aussprache nach der Regierungserklärung
sechseinhalb Stunden, für die morgige zehn Stunden und
für die am Freitag weitere drei Stunden vorgesehen.
({17})
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so
beschlossen.
Zur Regierungserklärung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP, der Fraktion Die Linke und
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor, über die
wir heute im Anschluss an die Generalaussprache abstimmen werden.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
({18})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir
aus aktuellem Anlass zunächst eine Bemerkung. Seit
Freitag vergangener Woche werden im Irak eine deutsche Staatsangehörige und ihr irakischer Fahrer vermisst. Nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnisse
müssen wir davon ausgehen, dass die beiden entführt
worden sind. Die Bundesregierung und - ich bin sicher auch das gesamte Hohe Haus verurteilen diese Tat mit
Entschiedenheit.
({0})
Eines ist für die Bundesregierung und, wie ich denke,
auch für dieses Parlament klar: Wir lassen uns nicht erpressen.
({1})
Genauso klar ist: Alle Anstrengungen der Bundesregierung sind in dieser Situation darauf gerichtet, das Leben
von Susanne Osthoff und ihres irakischen Begleiters zu
schützen und ihre Freilassung zu erreichen. Unsere Gedanken sind in diesen Stunden und Tagen bei den Angehörigen und Freunden der Betroffenen. Wir fühlen mit
ihnen. Sie sollen wissen: Alle Deutschen nehmen Anteil
am Schicksal der Entführten und alle Deutschen empfinden eine tiefe Solidarität und Verbundenheit mit ihnen.
({2})
Ihnen allen möchte ich versichern: Die Bundesregierung
unternimmt alles, was in ihrer Macht steht, um die deutBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
sche Staatsangehörige und ihren Fahrer so schnell wie
möglich in Sicherheit zu bringen.
Noch wissen wir nichts über die Motive oder die Hintergründe. Daher verbieten sich voreilige Schlussfolgerungen.
Aber es ist ganz grundsätzlich festzuhalten: Der
internationale Terrorismus ist unverändert eine der
größten Herausforderungen für die Staatengemeinschaft.
Im Kampf gegen den internationalen Terrorismus dürfen
wir nicht nachlassen. Er richtet sich gegen das, was uns
wichtig ist und was den Kern unserer Zivilisation ausmacht: Er richtet sich gegen unser gesamtes Wertesystem, gegen Freiheit, Toleranz, Respekt und die Achtung
der Menschenwürde, gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Würden wir diese Werte aufgeben, würden
wir uns selbst aufgeben.
({3})
Meine Damen und Herren, noch etwas spüren wir in
diesen Stunden, etwas, das unser Land auszeichnet: Vor
dem Leid anderer verschließen wir weder unsere Augen
noch unsere Herzen. Wir wissen, was Solidarität vermag. Wir haben erfahren, welche Kraft aus der Gemeinschaft und aus der Nächstenliebe erwachsen kann. Wir
sind uns bewusst, dass ein Volk mehr ist als eine lose
Ansammlung von Individuen, und wir wissen, dass ein
Volk auch immer eine Schicksalsgemeinschaft ist. Wenn
wir diese Erkenntnis beherzigen, können wir daraus
Kraft und Zuversicht schöpfen, mit denen wir auch diese
großen Herausforderungen meistern können.
Meine Damen und Herren, dieses Signal aus diesem
Hohen Haus am Anfang der Debatte ist mir sehr wichtig.
Wir haben uns nämlich zusammengefunden, um heute
und in den nächsten Tagen die erste Regierungserklärung der neuen Bundesregierung zu diskutieren. Ich darf
Sie zu Beginn fragen: Für wen mag das heute wohl die
größte Überraschung sein? Wer hätte noch vor einigen
Wochen und Monaten gedacht, dass heute eine große
Koalition antritt, um unser Land gemeinsam in die Zukunft zu führen?
({4})
Wer hätte gedacht, dass SPD und Union so viel Verbindendes entdecken, dass sie ein dichtes Programm für
vier Jahre vorlegen?
({5})
Wer hätte gedacht, dass mein Koalitionspartner von einem Parteivorsitzenden aus Brandenburg angeführt
wird? Wer hätte gedacht, dass das höchste Regierungsamt schon in diesem Jahr einer Frau übertragen wird?
Wer hätte das alles gedacht?
({6})
Das alles ist für viele von uns eine Überraschung und
ich sage: manches davon auch für mich. Aber es ist nicht
die größte Überraschung meines Lebens. Die größte
Überraschung meines Lebens ist die Freiheit. Mit vielem
habe ich gerechnet, aber nicht mit dem Geschenk der
Freiheit vor meinem Rentenalter.
({7})
Alle Wege vor 1989 endeten an einer Mauer, die nur
wenige Meter von diesem Platz entfernt unser Land für
alle Zeit zu zerschneiden schien. Wenn Sie schon einmal
in Ihrem Leben so positiv überrascht wurden, dann halten Sie vieles für möglich. Dabei möchte ich bleiben.
({8})
Ich habe die neue Koalition eine „Koalition der
neuen Möglichkeiten“ genannt. Ich wünsche mir, dass
sie unserem Land und allen Deutschen neue Möglichkeiten eröffnet, und ich wünsche mir, dass wir diese Chancen dann auch wirklich nutzen und wahrnehmen. Das
heißt für mich konkret: Der Anspruch der neuen Bundesregierung an sich und an das Land ist nicht gering. Wir
wollen die Voraussetzungen schaffen, dass Deutschland
in zehn Jahren wieder zu den ersten drei in Europa gehört. Ich finde, das ist ein legitimer und wichtiger Anspruch.
({9})
Meine Damen und Herren, das Grundgesetz, die soziale Markwirtschaft, die duale Berufsausbildung, all das
waren Ideen, die die Menschen in der gesamten Welt inspirierten. In Deutschland wurde das erste Auto gebaut
und der erste Computer, in Deutschland wurde das Aspirin entwickelt. Von diesen Innovationen zehren wir noch
heute. Warum soll uns das, was uns früher und was uns
zu Beginn dieser Bundesrepublik Deutschland, in den
ersten Gründerjahren, gelungen ist, heute, in den - wie
ich sage - zweiten Gründerjahren, nicht wieder gelingen?
({10})
Lassen Sie uns also alle damit überraschen, was wir in
diesem Lande können.
Eine große Koalition zweier unterschiedlicher Volksparteien eröffnet die ganz unerwartete Möglichkeit, zu
fragen, was wir gemeinsam besser machen können - ohne
uns dabei dauernd mit Schuldigkeiten aufzuhalten, ohne
dauernd mit dem Finger auf den anderen zu zeigen und
zu fragen, welchen Missstand der andere - natürlich
ganz allein - herbeigeführt hat. Denn eines ist klar: Wir
alle, ob wir es zugeben oder nicht, tragen Verantwortung
dafür, dass wir heute die Möglichkeiten unseres Landes
noch nicht voll ausschöpfen: Unser Wachstum kommt
seit Jahren nicht mehr richtig in Schwung, die Verschuldung ist in erschreckende Höhen gestiegen, der Aufholprozess der neuen Bundesländer ist seit Jahren gestoppt
und ohne den Automobilsektor wäre Deutschland nicht
mehr ein solches Hightechland, wie ich mir das
wünsche. PISA zeigt, dass wir an vielen Stellen nicht
mehr einfach sagen können: Wir sind eine Bildungsnation. Den rapiden Wandel der Arbeitswelt haben wir
noch nicht bewältigt. Deutschland ist nicht hinreichend
auf die demographischen Veränderungen vorbereitet.
Auch auf die Bedrohungen neuer Art und die fließenden
Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit haben
wir noch keine umfassenden Antworten gefunden.
Meine Damen und Herren, wir alle kennen die Probleme und ich kann sagen: Die große Koalition hat die
Lage unseres Landes ehrlich analysiert und wir haben
auch gemeinsam die Chance erkannt, die Möglichkeiten
unseres Landes besser zu nutzen. Warum sollten wir
nicht alle damit überraschen, was in diesem Land gelingen kann?
Wir wissen, wir haben dicke Bretter zu bohren: Wir
wollen den Föderalismus neu ordnen, wir wollen den
Arbeitsmarkt fit machen, wir wollen unsere Schulen und
Hochschulen wieder an die Spitze führen, wir wollen unsere Verschuldung bändigen und unsere Gesundheitsund Renten- und Pflegesysteme in Ordnung bringen.
Niemand kann uns daran hindern - außer wir selbst.
Deshalb lassen Sie uns verzichten auf die eingeübten Rituale, auf die reflexhaften Aufschreie, wenn jemand etwas verändern will. Es sollte wirklich einmal möglich
sein, dass wir in dieser großen Koalition dieses alles hinter uns lassen und neue Wege gehen.
({11})
Bei der Vorbereitung auf diese Regierungserklärung
habe ich viel darüber nachgedacht, wie ich alle Gruppen
erwähnen und würdigen kann, die für das Miteinander in
unserem Land so wichtig sind. Ich habe darüber nachgedacht, ob ich Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften,
Kirchen und Religionsgemeinschaften alle einzeln benennen soll. Ich habe mich am Ende dafür entschieden,
auf eine solche Auflistung zu verzichten. Denn es geht
nicht um Gruppen - es geht um uns alle, es geht um unser Gemeinwesen, um unsere gemeinsame Zukunft.
({12})
Überraschen wir uns deshalb damit, dass wir die großen Fragen nicht immer aufgegliedert nach Einzelfragen
und -interessen angehen, sondern einmal im Zusammenhang. Überraschen wir uns damit, dass wir sachlich, fair,
ehrlich alles angehen und gemeinsam lösen. Bei allen
Aufgaben, die wir vor uns haben, sollten wir nicht vergessen: Frühere Generationen, die, die vor uns Probleme
zu lösen hatten, hatten ungleich größere Probleme; denken wir an den Aufbau nach dem Krieg in West und Ost,
denken wir an die historische Leistung der Ostdeutschen, friedlich eine Diktatur zu überwinden. Dagegen
ist unsere heutige Lage beneidenswert.
Sicher: Licht und Schatten liegen an vielen Stellen
sehr eng beieinander; ich nenne den Aufbau Ost. Aber
festzuhalten bleibt doch: 15 Jahre nach der deutschen
Einheit ist Gigantisches geleistet worden. Mit Transferzahlungen von jährlich 4 Prozent des Sozialprodukts ist
es gelungen, die neuen Bundesländer wieder aufzubauen. Ich möchte von dieser Stelle aus allen in
Deutschland danken, die zu diesem Prozess beigetragen
haben.
({13})
Die Umwelt erholt sich, die Infrastruktur ist ausgebaut, in wenigen Tagen wird - das sei mir als Bewohnerin von Mecklenburg-Vorpommern gestattet zu sagen das letzte Stück der Ostseeautobahn dem Verkehr übergeben. Das sind nur einige Beispiele dafür, was wir in
15 Jahren alles geschafft haben.
Auch sonst bietet unser Land großartige Voraussetzungen, die wir nun endlich nutzen sollten: Deutschland
ist Exportweltmeister. In keinem Land in Europa werden
mehr Patente angemeldet. Gerade wurde wieder ein
deutscher Wissenschaftler mit einem Nobelpreis geehrt.
({14})
Unsere kulturelle Vielfalt ist einzigartig.
({15})
Deutschland ist das Land der Ideen, wie der Bundespräsident sagt. Zu einem Land der Ideen gehört nach
meiner Auffassung eine Regierung der Taten. Und diese
unsere Bundesregierung hat sich viele Taten vorgenommen.
({16})
Ein Vizekanzler einer früheren großen Koalition und
späterer Bundeskanzler hat einmal gesagt: Mehr Demokratie wagen.
({17})
Ich weiß, dass dieser Satz viele, zum Teil sehr heftige
Diskussionen ausgelöst hat. Aber ganz offensichtlich hat
er den Ton der damaligen Zeit getroffen. Ich sage persönlich: Gerade in den Ohren der Menschen jenseits der
Mauer klang er wie Musik. Gestatten Sie mir, diesen
Satz heute zu ergänzen und uns zuzurufen: Lassen Sie
uns mehr Freiheit wagen!
({18})
Lassen Sie uns die Wachstumsbremsen lösen! Lassen
Sie uns uns selbst befreien von Bürokratie und altbackenen Verordnungen! Viele unserer europäischen Nachbarn zeigen uns doch, was möglich ist. Deutschland
kann das, was andere können, auch; davon bin ich zutiefst überzeugt.
Schon die vergangene Regierung hatte Schritte eingeleitet, wodurch die Möglichkeiten, die unser Land hat,
besser genutzt werden sollten. Jenseits aller parteipolitischen Differenzen - diese waren in den vergangenen
Jahren nicht zu übersehen - möchte ich deshalb an dieser
Stelle ausdrücklich eines tun: Ich möchte Bundeskanzler
Schröder ganz persönlich dafür danken, dass er mit seiner Agenda 2010 mutig und entschlossen eine Tür aufgestoßen hat, eine Tür zu Reformen, und dass er die
Agenda gegen Widerstände durchgesetzt hat.
({19})
Damit hat er sich um unser Land verdient gemacht.
Nicht zuletzt dafür möchte ich ihm im Namen aller
Deutschen danken.
({20})
Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, dass ich
nicht jede Gruppe einzeln benennen möchte, und zwar
nur deshalb, damit mir niemand vorwerfen kann, ich
hätte eine Gruppe vergessen. Aber eine Gruppe ist mir
so wichtig, dass sie erwähnt werden muss - sie wird bei
allen künftigen Fragen eine wichtige Rolle spielen -: Ich
meine die Schwachen. Ich meine die Schwachen, die die
Solidarität und die Hilfe von uns allen brauchen. Ich
meine Kranke, Kinder und viele Ältere. Die Menschlichkeit unserer Gesellschaft entscheidet sich daran, wie wir
mit ihnen umgehen.
({21})
Wir, die neue Bundesregierung von Union und Sozialdemokraten, wollen unser Land so ertüchtigen, dass sich
die Schwachen auch in Zukunft darauf verlassen können, dass sie nicht alleine gelassen werden, dass ihnen
geholfen wird. Das ist unser Verständnis von sozialer
Gerechtigkeit.
Das beginnt bei der Absicherung der großen Lebensrisiken. Wir wollen die solidarische Altersversorgung
erhalten. Aber wie wir wissen, wird der dritte Lebensabschnitt immer länger. Deshalb haben wir uns entschlossen, die Antwort darauf zu geben und die gesetzliche Regelaltersgrenze der Rentenversicherung schrittweise auf
67 Jahre anzuheben. Das geschieht nicht sofort, sondern
beginnt erst ab 2012 mit einer langen Übergangszeit.
Wir haben daneben aber festgelegt, dass Menschen, die
45 Arbeitsjahre hinter sich haben, auch weiterhin abschlagsfrei mit 65 Jahren in Rente gehen können. Ich
denke, damit haben wir uns eine ganz sinnvolle Regelung überlegt.
({22})
Wir haben das ausführlich diskutiert und gesagt, wir
müssen dafür sorgen, dass sich die Menschen rechtzeitig
darauf einstellen können. Verlässlichkeit soll das Markenzeichen dieser Bundesregierung sein. Wir werden
das deshalb schon 2007 beschließen müssen. Dieses
Vorhaben wird dann Hand in Hand mit besonderen Anstrengungen in Bezug auf Beschäftigungsmaßnahmen
für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Rahmen der Initiative 50 plus gehen. Wenn wir es nicht
schaffen, dass auch die Älteren wieder die Chance haben, länger arbeiten zu können, dann werden wir in der
Gesellschaft kein Verständnis dafür erhalten, dass wir
die Lebensarbeitszeit insgesamt verlängern. Beides muss
Hand in Hand gehen. Alles andere wird keine Akzeptanz
finden.
({23})
Wir haben gesagt, dass wir die Rentnerinnen und
Rentner mit einer Sicherungsklausel vor Rentenkürzungen schützen. Weil es aber dabei bleibt, dass sich die
Rente auch in Zukunft im Grundsatz an der Lohnentwicklung orientiert, müssen wir gleichermaßen auch sagen, dass ausgebliebene Anpassungen in den kommenden Jahren nachgeholt werden. Das bedeutet, dass wir
den Menschen - insbesondere denjenigen mit kleineren
Renten - sehr viel zumuten. Ich weiß das. Ich sage aber
auch: Wir haben darum gerungen, wie wir Gerechtigkeit
zwischen den Älteren und den Jüngeren herstellen können. Ich halte es für besser, dass wir heute klar sagen,
was wir können und was wir nicht können, um einen
Ausgleich zwischen den Generationen auch als Vertrauensbasis für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft
durchzusetzen.
({24})
Meine Damen und Herren, es gehört doch zur Ehrlichkeit, zu sagen - ich sage das für alle politischen
Gruppen -, dass wir den Menschen dort zu oft Sicherheit
vorgegaukelt haben, wo wir sie im Grunde nicht mehr
garantieren konnten. Diesen Fehler wollen wir nicht
wiederholen.
Deshalb werden wir auch die kapitalgedeckte
Altersversorgung für junge Familien deutlich verbessern und das selbst genutzte Wohneigentum in die Altersversorgung integrieren. Ich glaube, damit sind zwei
wesentliche Punkte gelungen, durch die die Menschen
ihre freiwillige Vorsorge für ihr Alter verstärken werden.
Insofern kann ich sagen: Wir sind bei der Rente und
dem, was wir uns vorgenommen haben, einen ehrlichen,
schwierigen, aber zukunftsträchtigen Weg gegangen.
Ich sage ganz ehrlich: Zur Wahrheit dieser Regierungserklärung gehört auch, dass uns das beim Gesundheitssystem noch nicht gelungen ist. Ich sage: „noch
nicht“. Auch die Kranken sollen sich natürlich auf ein
zuverlässiges Gesundheitssystem verlassen können. Sie
alle wissen - darüber braucht man gar nicht hinwegzugehen -, Union und Sozialdemokraten haben mit der solidarischen Gesundheitsprämie auf der einen Seite und der
Bürgerversicherung auf der anderen Seite bisher zwei
völlig konträre Ansätze verfolgt. Ich sage auch sehr
deutlich: Wir wollten in den Koalitionsverhandlungen
keinen faulen Kompromiss auf die Schnelle erreichen.
Das heißt: Wir alle wissen, dass wir einen neuen Ansatz und ein leistungsfähiges und hoch qualifiziertes Gesundheitssystem brauchen, das für alle zugänglich ist. Es
muss Beschäftigung ermöglichen, wettbewerbsfördernd
sein, die Lasten solidarisch verteilen und Generationengerechtigkeit bieten. All diese Dinge wissen wir. Deshalb sind wir bereit und willens, mit einem neuen Ansatz
im neuen Jahr eine Lösung hierfür zu finden, auch wenn
das eine schwierige Aufgabe ist. Ich zumindest werde
mich sehr dafür einsetzen.
({25})
Auf der Leistungsseite werden wir allerdings schnell
Veränderungen vornehmen. Wir wollen mehr Vertragsfreiheit und Gestaltungsmöglichkeiten von den Patienten
über die Krankenkassen bis hin zu den Praxen und den
Krankenhäusern. Bei der Arzneimittelversorgung kommen wir um weitere Maßnahmen zur Kostensenkung
nicht herum. Insbesondere die forschende Pharmaindustrie muss bessere Standortbedingungen erhalten.
Auch dafür haben wir Sorge getragen. Denn die Innovationskraft Deutschlands wird gerade von der forschenden Pharmaindustrie in ganz wesentlichem Umfang abhängen.
Genauso wie die Krankenversicherung bleibt auch die
Pflegeversicherung ein zentraler Baustein der solidarischen Absicherung. Wir wollen, dass der Zweck und die
Idee der Pflegeversicherung auch weiterhin gelebt werden können. Das heißt, dass wir das Umlageverfahren
durch eine kapitalgedeckte Demographierücklage ergänzen werden. Das heißt auch, dass die private Pflegeversicherung zukünftig einen Beitrag zur Bewältigung der
Solidarität leisten muss. Das muss fair geschehen; aber
wir glauben, dass dies im Rahmen der Pflegeversicherung ein richtiger Schritt ist.
({26})
Wir tun das - ich wiederhole mich -, weil sich Alte,
Kranke und Kinder auch in Zukunft darauf verlassen
können müssen, dass ihnen geholfen wird und sie nicht
alleine sind. Es geht dabei nicht nur um materielle
Dinge, sondern das ist auch eine moralische Aufgabe.
Dabei wissen wir: Das Zusammenleben der Generationen hat sich in den letzten Jahren tief greifend verändert. Es gibt die traditionellen Familien; es gibt die so
genannten Patchworkfamilien; es gibt allein erziehende
Eltern. Ich sage es kurz und knapp: Familie ist überall
dort, wo Eltern für Kinder und Kinder für Eltern dauerhaft Verantwortung tragen.
Ich will nicht, dass der Staat lenkend eingreift oder
gar Lebensentwürfe vorschreibt. Aber ich will schon
- das ist unser gemeinsames Anliegen -, dass der Staat
gute Rahmenbedingungen schafft. Das heißt, dass junge
Menschen ermutigt werden, sich für ein Leben mit Kindern zu entscheiden, und dass sie dazu nicht nur ermutigt
werden, sondern dass sie sich auch entscheiden können.
({27})
Das hat aus meiner Sicht zuvörderst damit zu tun, ob
es in diesem Land ein Klima der Zuversicht, des Mutes
und der Perspektiven für das eigene Leben gibt. Aber es
hat außerdem etwas mit sehr praktischen Fragen zu tun,
nämlich mit ausreichenden und bezahlbaren Betreuungsmöglichkeiten. Sicher: Nach außen ist der Streit
über die Entscheidung zwischen Kindererziehung und
beruflichem Fortkommen der vergangenen Jahrzehnte
nach vielen Diskussionen und Reden überwunden. Aber
ich betone: nach außen.
({28})
Dennoch wissen wir, dass die Realität auch heute
noch oft eine andere ist, dass die Widersprüche zwischen
Arbeits- und Familienwelt nicht einfach verschwunden
sind und es auch heute nicht selten noch immer eine
Frage ist, ob sich eine Frau am Ende für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf entscheiden kann oder ob sie
sich zwischen Familie und Beruf entscheiden muss.
Die Politik will dabei helfen, dass diese Widersprüche
nicht nur in Worten und Sonntagsreden überwunden
werden, sondern zunehmend auch im täglichen Leben.
Das werden wir tun, indem wir den Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen vorantreiben. Bis 2010 sollen
230 000 zusätzliche Betreuungsplätze vor allem für
Kleinkinder entstehen. Die zugesagten Mittel allerdings
- das betone ich - müssen den Kommunen real zur Verfügung gestellt werden, damit sie diese Aufgabe erfüllen
können. Nach der Föderalismusreform wird das noch
wichtiger.
({29})
Wir werden die Kinderbetreuung auch steuerlich besser
fördern. Die Vielzahl von Familienleistungen wollen wir
im Übrigen in einer Familienkasse bündeln, harmonisieren und organisatorisch zusammenfassen.
Aber an einem Problem in unserem Land können wir
nicht vorbeisehen: Je besser die Ausbildung der jungen
Frauen und Männer ist, desto seltener entscheiden sie
sich für Kinder. Das kennen wir alle und das wird uns
auch immer wieder erzählt. Eine Frau hat ein Studium
absolviert, eine hervorragende Ausbildung machen können, möchte im Beruf Karriere machen und steht dann
vor der Frage, wie sie diesen Berufswunsch mit ihrem
Wunsch, eine Familie zu gründen, vereinbart.
Ich sage unumwunden: Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass dieser Konflikt ganz einfach und locker überwunden werden kann. Das kann er nicht. Aber
seitens der Politik können wir einen kleinen Beitrag dazu
leisten, diesen Konflikt ein wenig zu mildern. Genau das
haben wir getan, indem wir uns entschlossen haben, ein
Elterngeld einzuführen. Es wird erstmals als Einkommensersatz ausgestaltet und zusätzlich mit einer Väterkomponente verbunden. Das ist ein neuartiger Ansatz in
beide Richtungen. Ich ahne schon jetzt, welche Diskussionen er hervorrufen wird. Doch die Betriebe - das sage
ich ganz ausdrücklich - sollen sich stärker als bisher in
der Pflicht sehen, auch einmal die Väter zeitweise freizustellen, und zwar, wo immer dies möglich ist, ohne berufliche Nachteile. Dieser sanfte Druck ist unumgänglich.
({30})
Ich nenne ein weiteres Stichwort aus unserem Familienprogramm, das mir sehr wichtig ist: die Mehrgenerationenhäuser. Ich halte es für eines der spannendsten
Projekte der Familien- und Gesellschaftspolitik in einer
Zeit der Änderung der Altersstruktur in unserer Gesellschaft. Wir wissen, dass die Anforderungen an Mobilität
im Berufsleben auf der einen Seite und der Wunsch nach
Fürsorge innerhalb der Familie auf der anderen Seite
heute oft nicht miteinander vereinbar sind. Deshalb gelingt es oft nicht, dass die pflegebedürftigen Eltern am
gleichen Ort wie die Kinder wohnen oder dass sich die
Großeltern um die Enkel kümmern können.
Mit Mehrgenerationenhäusern - wir müssen diesen
Weg symbolisch gehen, um immer wieder deutlich zu
machen, dass es andere Formen des Zusammenlebens
gibt - können wir Menschen aus der Vereinsamung herausführen. Wir können eine Plattform für bürgerschaftliches Engagement schaffen und zeigen, dass sich die
Generationen mit ihren Erfahrungen im Miteinander der
Starken und Schwachen unserer Gesellschaft etwas zu
sagen haben. Deshalb ist das mehr als irgendein Projekt;
es ist vielmehr eine Pforte für uns, um zu lernen, in einer
sich verändernden Gesellschaft miteinander menschlich
zu leben.
({31})
Ich habe über die vermeintlich Schwachen gesprochen. Wir wissen, dass sie in Wahrheit oft stark sind und
einen unverzichtbaren Beitrag für sich selbst und unser
Gemeinwesen leisten können. Dies zu erkennen und
auch zu nutzen macht den Wert von Gerechtigkeit in
unserer Gesellschaft aus.
Ich bin davon überzeugt: Wir müssen uns in jeder Generation neu besinnen, was gerecht und was ungerecht
ist. Gerecht ist, wenn den Schwachen geholfen wird. Ungerecht ist, wenn sich Starke als Schwache verkleiden
und damit die Gemeinschaft ausnutzen.
({32})
Ungerecht ist auch, wenn wir Menschen entmündigen
und ihnen die Möglichkeit nehmen, ihre eigenen Kräfte
zu entdecken. Deshalb brauchen wir eine neue Gerechtigkeit.
Jeder von uns kennt in seinem Bekanntenkreis Menschen, denen es wirklich schlecht geht und die unsere
Hilfe dringend brauchen. Aber wir alle kennen auch
Menschen, die diese Hilfsbereitschaft einfach ausnutzen.
({33})
Lassen Sie mich auch an dieser Stelle ganz konkret
werden: Diese Regierung bekennt sich ausdrücklich zur
Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. SPD und Union haben diesen Schritt von Anfang
an grundsätzlich für richtig gehalten. Das schließt unterschiedliche Auffassungen, zum Beispiel über die Rolle
der Kommunen, nicht aus. Aber wir werden diesen
Schritt nicht nur gemeinsam gehen, sondern wir werden
auch dafür Sorge tragen, dass es in diesem Bereich mehr
Gerechtigkeit und weniger Missbrauch geben wird. Deshalb werden wir die Reform der Bundesagentur für Arbeit fortsetzen. Bei der Vermittlungsarbeit sind - das
kann mit Recht festgestellt werden - in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte erzielt worden. Wir werden
auch, wo immer möglich, Arbeit finanzieren statt Nichtarbeit.
({34})
Denn Arbeit heißt, wie wir alle wissen, mehr als Einkommen und Geld; Arbeit bedeutet vielmehr Würde und
Selbstachtung für die betroffenen Menschen.
({35})
Aber nicht immer - auch das gehört zur Wahrheit wird nur das in Anspruch genommen, was nach Sinn und
Zweck den Empfängern gesetzlich zusteht. Deshalb werden wir die Regelungen so ändern, dass Kinder unter
25 Jahren zunächst einmal von ihren Eltern unterhalten
werden, bevor die Gemeinschaft eintritt. Solidarität in
der Gesellschaft kann keine Einbahnstraße sein. Sie
müssen immer bedenken: Das alles wird von den Steuerzahlern bezahlt, die jeden Morgen zur Arbeit gehen und
ein Recht darauf haben, dass auch andere ihre Verpflichtungen einhalten.
({36})
Mehr Gerechtigkeit in diesem Bereich bedeutet aber
auch, dass der Maßstab, das Arbeitslosengeld II einfach
in zwei Zonen - Ost und West - aufzuteilen, so nicht
trägt. Deshalb wird die so genannte Regelleistung beim
Arbeitslosengeld II Ost an die des Westens angeglichen.
({37})
Alles in allem haben wir uns in der Arbeitsmarktpolitik vorgenommen, knapp 4 Milliarden Euro einzusparen.
Das ist ein anspruchsvolles Ziel, aber es ist ein wichtiger
Beitrag zur Haushaltskonsolidierung.
Wir führen - das richte ich an alle Landräte und Kommunalpolitiker - derzeit sehr intensive Gespräche mit
den kommunalen Spitzenverbänden und den Ländern,
um bei der Revisionsklausel, was die Kosten für die soziale Grundsicherung angeht, noch ein Einvernehmen zu
erzielen. Wir werden dabei an dem Ziel, die Kommunen
um 2,5 Milliarden Euro zu entlasten, wie wir es versprochen haben, festhalten und das muss auch die Basis für
die Verhandlungen über die Jahre 2006 und 2007 sein.
({38})
Wir müssen - das wissen wir alle angesichts der kurzen Zeit, in der die Zusammenlegung von Arbeitslosenund Sozialhilfe erst wirkt - den Grundsatz „Fördern und
Fordern“ umfassend umsetzen. Wir haben heute noch
nicht den Zustand erreicht, dass die Menschen, die zum
Teil weniger Leistungen bekommen, den Eindruck haben, dass sie wirklich eine zusätzliche Chance erhalten
haben. Das muss durchgesetzt werden. Ansonsten wird
die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe
keine allgemeine Akzeptanz finden.
({39})
Wenn wir ein Land sein wollen, in dem wir ein Herz
für Schwache haben, dann brauchen wir auch ein Herz
für Leistung und auch ein Herz für mehr Leistung. Wir
müssen stärker anerkennen, wenn sich Menschen engagieren, wenn sie etwas leisten und wenn sie etwas aufbauen. Diese Menschen verdienen nicht unseren Neid,
sondern unsere Dankbarkeit.
({40})
Denn mehr Freiheit möglich zu machen heißt: Wir können den Schwachen dann und nur dann etwas abgeben,
wenn wir mehr Starke haben, die alle anderen mitziehen.
({41})
Die neue Regierung wird sich genau aus diesem
Grund in ganz besonderer Weise für den Mittelstand
einsetzen; denn dort lassen sich die meisten Quellen der
Innovation finden. Dort ist der Jobmotor am wirkungsvollsten und werden die meisten Ausbildungsplätze bereitgestellt.
({42})
Wir werden die Wachstumskräfte des Mittelstandes sehr
gezielt stärken. Wir wollen zum 1. Januar 2008 eine
rechtsformneutrale Unternehmensteuerreform in Kraft
setzen, das heißt endlich eine Lösung - das ist in Zeiten
der Globalisierung in Deutschland von extremer Bedeutung -, bei der die Personengesellschaften, die Familienbetriebe, die gleichen steuerliche Möglichkeiten haben
wie die Körperschaften, wie die ganz Großen. Die Lösung dieser Aufgabe haben wir uns - das sage ich ganz
unumwunden - seit zehn Jahren vorgenommen, wo immer wir gemeinsam oder nicht gemeinsam politisch tätig
waren. Aber wir haben diese Aufgabe nie gelöst. Deshalb sage ich ausdrücklich: Diese Regierung will diese
Aufgabe lösen. Genau dies kann eine Möglichkeit der
großen Koalition sein, sich auf die Sache zu konzentrieren, damit wir nicht im parteipolitischen Hickhack aneinander geraten.
({43})
Für die Übergangszeit, in der wir die Rechtsformneutralität noch nicht erreicht haben, wollen wir die Abschreibungsmöglichkeiten befristet verbessern. Wir wollen durch die Verbesserung der Istbesteuerung einen
kleinen Beitrag zur Entlastung des Mittelstandes leisten,
der durch die 13. Beitragserhebung im kommenden Jahr
stärker belastet wird. Wir wollen des Weiteren - das
halte ich für ausgesprochen wichtig; das ist ein klares
Signal - eine reduzierte Erbschaftsteuer für Familienbetriebe; das ist ein ganz wichtiger Punkt. Das sind drei
Dinge, die wir für den Mittelstand tun.
({44})
Meiner Meinung nach können wir am meisten beim
Bürokratieabbau leisten. Wir wissen, dass kleine und
mittlere Unternehmen etwa vier bis sechs Prozent ihres
Umsatzes nur für die Deckung von Bürokratiekosten
ausgeben. Wir werden uns das genau anschauen und erst
einmal lernen, Bürokratiekosten zu berechnen und zu
bemessen. Wir nehmen uns klare Reduktionsziele vor.
Andere Länder, zum Beispiel die Niederlande oder
Großbritannien, haben uns das schon vorgemacht. Wir
machen einen Small-Companies-Act, wie das auf Neudeutsch heißt, also ein Gesetz für kleine Unternehmen,
das ganz konkret zu weniger Kontroll- und Überprüfungspflichten, einfacheren Formularen und nicht dauernd zu neuen Statistiken führt. Dann haben wir für den
Mittelstand in Deutschland wirklich etwas erreicht. Dies
wird eine ganz besonders wichtige Aufgabe sein, deren
Lösung wir vom Kanzleramt aus steuern werden.
({45})
Wir haben uns vorgenommen, die EU-Richtlinien im
Grundsatz nur noch eins zu eins umzusetzen.
({46})
Ich halte das für ausgesprochen wichtig. Ich weiß, dass
das Gegenstand vieler politischer Debatten und Entscheidungen war. Jeder muss in diesem Land begreifen:
Wenn wir uns zusätzlich zu dem, was wir in Europa vereinbaren - das ist oft schon bürokratisch genug; das
muss ich leider sagen -, Lasten aufbürden, dann haben
wir gegenüber unseren europäischen Mitbewerbern
keine fairen Chancen. Wir wollen aber bei aller Freundschaft zu allen anderen Ländern, dass in Deutschland
Arbeitsplätze entstehen. Das ist die Aufgabe einer Bundesregierung. Dafür müssen wir sorgen.
({47})
Das heißt also, dass wir eine Politik mit einem Grundverständnis machen werden, das darauf beruht, dass die
Vorschriften, die wir machen, für die Menschen da sind
und nicht die Menschen zur Erfüllung der Vorschriften.
So können wir den Starken im Lande wieder helfen und
dann auch den Schwachen in diesem Lande. Das muss
unser Grundverständnis sein. Daran müssen wir alles
prüfen. Das hat gar nichts mit Ideologie zu tun, sondern
mit ganz praktischem menschlichem Sachverstand.
({48})
Ich bin davon überzeugt, dass uns das gelingen kann.
Es gibt viele tüchtige Vorbilder. Ich habe vor einigen
Wochen etwas sehr Selbstverständliches gesagt. Ich habe
gesagt: Ich will Deutschland dienen. - Ich kenne viele
Menschen, die dem Land, anderen Menschen und der
Gemeinschaft dienen - selbstlos und ohne dass davon
groß Notiz genommen wird. Diese Menschen müssen
unser Vorbild, das Vorbild für diese Bundesregierung
sein. Die Anerkennung des Nächsten in der Gemeinde,
im Wohngebiet, in der Schule oder im Betrieb - das alles
hat etwas damit zu tun, ob wir das schaffen, was wir oft
eine lebendige Bürgergesellschaft nennen. Das ehrenamtliche Engagement ist ein unersetzbarer Bestandteil
dieser Bürgergesellschaft. Wo immer es geht, wollen wir
dieses ehrenamtliche Engagement stärken. Genau das,
was viele Menschen in ungezählten Kultur-, Musik- und
Gesangvereinen in ihrer Freizeit tun, hält unsere Gesellschaft zusammen. Bei allen Rechtsansprüchen, die wir
uns durch Gesetze setzen, müssen wir immer bedenken,
dass noch ausreichend Spielraum genau für dieses ehrenamtliche Engagement bleibt. Ansonsten geht unserer
Gesellschaft ganz Wesentliches verloren. Ich zumindest
bin davon zutiefst überzeugt.
({49})
Unsere Kultur ist die Grundlage unseres Zusammenhaltes. Deshalb ist Kulturförderung für diese Bundesregierung keine Subvention. Dieser Begriff - ich sage
das ausdrücklich - verbietet sich an dieser Stelle.
({50})
Sie ist eine Investition, und zwar eine Investition in ein
lebenswertes Deutschland.
({51})
Natürlich regelt unsere Verfassung die Förderung von
Kunst und Kultur. Sie ist primär den Ländern zugeordnet. Das wissen wir. Aber ich sage ebenso deutlich, dass
der Bund auch in Zukunft eine Reihe ganz wichtiger
Kulturaufgaben wahrnehmen wird.
({52})
Deutschland - und nicht nur die Summe der
16 Bundesländer - ist schließlich eine europäische Kulturnation.
({53})
Diese Bundesregierung - das hat etwas mit unserem
historischem Verständnis zu tun - wird wie die Regierung zuvor auch einen Beitrag zum Erhalt des kulturellen Erbes der Vertriebenen leisten. Wir wollen im Geiste
der Versöhnung auch in Berlin ein sichtbares Zeichen
setzen, um an das Unrecht der Vertreibung zu erinnern, und wir werden dies im europäischen Kontext tun.
Aus meiner Sicht bietet die gemeinsame Erklärung der
Präsidenten Rau und Kwásniewski eine gute Grundlage
dafür, dass wir einen gemeinsamen und nicht einen trennenden Weg finden werden. Ich sage hier sehr persönlich: Auf meinen Reisen, die ich in die entsprechenden
Länder mache, werde ich mich sehr dafür einsetzen, dass
uns dies gelingt. Das hat etwas mit unserem eigenen historischen Selbstverständnis zu tun. Es hat aber auch etwas mit dem Vertrauen anderer in uns zu tun. Deshalb
muss beides zusammengebracht werden. Ich bin der
Überzeugung: Das geht und das können wir schaffen.
({54})
Meine Regierung ist Anwalt aller Deutschen wie aller
in Deutschland lebenden Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Wir werden deswegen mit allem Nachdruck, wo immer
es erforderlich ist, gegen jede Form von Extremismus,
Rassismus und Antisemitismus kämpfen.
({55})
Die Initiativen der Bürgergesellschaft, die sich hier engagieren, haben unsere volle Unterstützung. Wir sind ein
tolerantes, wir sind ein weltoffenes Land. Deutschland
ist zugleich ein Land, das seine Traditionen und seine
Kultur pflegt. Das eine kann es ohne das andere nicht geben; denn Heimat gibt gerade in Zeiten des sehr schnellen Wandels, in denen wir leben, den Halt, den die Menschen brauchen, jedem Einzelnen und unserem Land als
Ganzem. Deshalb haben wir nicht ohne Grund unserem
Koalitionsvertrag den Titel „Gemeinsam für Deutschland“ gegeben. Parallelgesellschaften, in denen die
grundlegenden Werte des Zusammenlebens in unserem
Land nicht geachtet werden, passen nicht in dieses Denken.
({56})
Deshalb ist Integration eine Schlüsselaufgabe unserer
Zeit. Mit der Ansiedelung der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration im Kanzleramt habe ich
sehr bewusst ein Signal gesetzt, dass dies eine gesamtpolitische Aufgabe ist, der wir große Beachtung schenken wollen.
({57})
Ich bin der Überzeugung, dass Integration nur gelingen kann, wenn ausländische Kinder konsequent dazu
gebracht werden und auch die Möglichkeit haben,
Deutsch zu lernen. Wir werden deshalb gerade in den
Schulen das Erlernen der deutschen Sprache fördern.
Besser gesagt, wir werden die Länder in ihrem Bemühen
unterstützen, dass Kinder nur dann in die Schule kommen dürfen, wenn sie der deutschen Sprache mächtig
sind. Ansonsten haben sie vom ersten Schultag an nicht
die Chancen, die wir ihnen geben müssen, um auch ihnen ein gutes Leben in unserem Land zu ermöglichen.
({58})
Wir brauchen einen Dialog mit dem Islam. Wir müssen einander verstehen lernen; das gehört dazu. Wir
müssen im Übrigen darauf achten, dass wir unsere eigene Religion, das Christentum, ausreichend verstehen,
soweit wir Christen sind - das gilt auch für andere, die
anderen Religionen anhängen -; denn einen Dialog der
Kulturen kann man nur führen, wenn man sich seiner
eigenen Kultur auch wirklich bewusst ist.
({59})
Wir werden das offen und ehrlich tun. Wir werden vor
allen Dingen Differenzen eindeutig benennen, wo immer
sie auftreten.
Deshalb sage ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich
- ich sage dies auch als Frau -: Zwangsverheiratungen
oder Ehrenmorde - beides schreckliche Begriffe - haben nichts, aber auch gar nichts mit Ehre zu tun und sie
haben auch gar nichts in unserer Gesellschaft zu suchen.
({60})
Wir können sie nicht dulden, wir wollen sie nicht dulden. Wir werden das deutlich machen.
Sicher kann jeder von uns selbst etwas für unsere Gemeinschaft tun. Vieles kann von dem Einzelnen besser
als vom Staat erreicht werden. Aber der Einzelne hat ein
Anrecht darauf, dass der Staat auch ihn in die Lage
versetzt, seine eigenen Kräfte zu entfalten. Viele Menschen werden heute - das müssen wir ganz klar sehen an ihrem Einsatz, am Einbringen ihrer Möglichkeiten
gehindert, weil das größte Problem, mit dem unser Land
zu kämpfen hat - die Arbeitslosigkeit -, nicht ausreichend gelöst ist. Wir haben die höchste Zahl an Langzeitarbeitslosen, die die Bundesrepublik Deutschland je
erlebt hat, und das muss sich wieder ändern.
Im Übrigen werden wir von den Menschen als Regierung und als die diese Regierung tragenden Fraktionen
zum Schluss an genau dieser Frage gemessen werden:
Haben wir hier etwas erreicht oder haben wir nichts erreicht? Diesem Anspruch wollen wir uns auch stellen.
Ich sage ganz ausdrücklich: Das muss unser Ziel sein.
({61})
Wir wissen, dass die Politik keine Arbeitsplätze
schaffen kann; aber sie kann Rahmenbedingungen stellen. Wir haben sehr viel über diese Rahmenbedingungen
gesprochen. Wir wissen, dass damit zusammenhängt,
dass Menschen in Würde leben können. Deshalb haben
wir uns einiges vorgenommen.
Erstens. Seit über drei Jahrzehnten steigen die gesetzlichen Lohnzusatzkosten bzw. verharren auf einem
internationalen Höchstniveau. Wir wollen das ändern;
deshalb wollen wir die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte senken. Einen Prozentpunkt
sollen Strukturmaßnahmen innerhalb der Bundesagentur
für Arbeit erbringen. Ein weiterer Prozentpunkt soll
durch den Einsatz eines Punktes Mehrwertsteuer finanziert werden. Es ist im Übrigen erfreulich, dass die Länder an dieser Stelle auf ihren Anteil an der Mehrwertsteuer verzichten werden.
({62})
Wir wollen die Lohnzusatzkosten in dieser Legislaturperiode dauerhaft unter 40 Prozent halten.
Zweitens. Deutschland muss den Wandel zu einer
modernen Dienstleistungsgesellschaft schaffen. Wir
werden deshalb die privaten Haushalte im Grundsatz als
Arbeitgeber anerkennen. Jeder, der den politischen Streit
der vergangenen Jahrzehnte verfolgt hat, weiß, dass hier
eine lange ideologische Auseinandersetzung zu Ende
geht. Wir werden sowohl für die Abrechnung von Handwerkerleistungen als auch für die Frage der Kinderbetreuung als auch für andere haushaltsnahen Dienstleistungen den Haushalt als Arbeitgeber installieren. Das
wird ein Umdenken in Richtung einer Dienstleistungsgesellschaft in Deutschland bedeuten. Ich finde das richtig,
ich finde das erfreulich. Lassen Sie uns das Ganze mit
Freude angehen.
({63})
Drittens. Wir wissen, dass gerade gering Qualifizierte
in unserem Land unglaubliche Schwierigkeiten haben,
eine Beschäftigung, und zwar zu regulären Löhnen, zu
finden. Es geht hierbei nicht um irgendeine Statistik der
Bundesagentur für Arbeit, sondern es geht um etwa
2 Millionen Menschen in unserem Land, für die wir uns
Gedanken über die Frage machen müssen: In welcher
Art und Weise können wir diese Menschen wieder in
Lohn und Brot bringen? Deshalb werden wir das Thema
Kombilohn im Niedriglohnsektor aufgreifen. Wir werden uns darum bemühen, genau an dieser Stelle eine Lösung zu finden, bei der eine Lohnleistung durch eine
staatliche Leistung ergänzt wird.
Wir wissen, dass das Fragen berührt - wir haben das
auch in unserem Koalitionsvertrag niedergelegt - wie
Entsendegesetz, Mindestlohn, Auswirkungen der EUDienstleistungsrichtlinie. Das gehört zu den kompliziertesten Themen. Aber ich habe in den Koalitionsverhandlungen gespürt, dass der Wille da ist, diese 2 Millionen
Menschen nicht einfach zu vergessen, sondern sich um
vernünftige Lösungen zu bemühen. Dafür lohnt es sich
auch, in den nächsten Monaten zu arbeiten.
({64})
Viertens. Wir werden moderate Reformen im Bereich
des Arbeitsrechts durchführen. Wir müssen immer wieder schauen: Wo sind Hürden, die Menschen den Weg in
die Arbeitswelt versperren? Wir müssen lernen, dies
möglichst vorurteilsfrei zu betrachten. Deshalb bin ich
sehr dankbar dafür, dass es uns gelungen ist, beim Kündigungsschutz die Wartezeit von bis zu 24 Monaten einzuführen, das heißt, Kündigungsschutz gilt dann erst
nach 24 Monaten. Ich glaube, dass das für kleine Betriebe bessere Möglichkeiten bietet, Menschen einzustellen und ein Wagnis einzugehen, sodass nicht die Menschen an dieser Stelle sozusagen draußen gelassen
werden.
({65})
- Ich höre schon das Gegrummel. - Wir können natürlich so weitermachen. Wir können so tun, als ob bestehende Sicherheiten wirklich Sicherheit bieten. Wir können aber auch einfach einmal fragen, ob wir das, was
andere Länder mit guten Erfahrungen machen, nicht
auch tun sollten. Wir können doch das, was wir hören,
wenn wir bei unserer Abgeordnetentätigkeit im Wahlkreis den Handwerksmeister fragen: „Warum lassen Sie
Ihre Leute Überstunden machen? Warum stellen Sie
nicht einen zusätzlich ein?“, einfach einmal bedenken
und neue Wege gehen. Nach ein paar Jahren können wir
schauen, ob es sich bewährt hat oder nicht und ob wir
daraus Erfolge machen können. Wir sind das den Menschen in diesem Lande schuldig. Bei über 4 Millionen
Arbeitslosen muss man auch einmal neue Wege gehen.
Ich zumindest bin davon völlig überzeugt.
({66})
Fünftens. Wir werden den Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs weiterführen. Ich
möchte mich hier ausdrücklich dafür bedanken, dass die
Wirtschaft, insbesondere das Handwerk und die Kammern, hierzu einen riesigen Beitrag geleistet haben. Wir
gehen davon aus, dass wir weiterhin in jedem Jahr
30 000 neue Ausbildungsplätze brauchen. Wir müssen
uns auch ganz intensiv der Tatsache annehmen, dass
viele junge Leute nicht ausbildungsfähig sind, wenn sie
von der Schule kommen. Das erfordert ein enges Zusammenwirken von Bund und Ländern an dieser Stelle;
({67})
denn man kann sich nicht damit abfinden, dass teure
Schulausbildung nicht zur Ausbildungsfähigkeit der jungen Menschen führt.
({68})
In der Frage der betrieblichen Bündnisse - jeder weiß,
dass wir darüber im Wahlkampf sehr unterschiedlicher
Meinung waren und es auch weiter sind; das gehört zur
Wahrheit dazu - müssen wir weiterhin schauen, wie wir
im Rahmen der Tarifautonomie - ich betone ausdrücklich, dass niemand in dieser Koalition die Tarifautonomie infrage stellt - ein höheres Maß an Flexibilität erreichen. Ich will ausdrücklich sagen: Es geschieht einiges
bei den Gewerkschaften. Unser ganzes Tun sollte darauf
gerichtet sein, Gewerkschaften zu ermuntern, da, wo das
heute noch nicht geschieht, weiterzugehen und mehr
Flexibilität zu schaffen. Die Erfahrungen von denen, die
das getan haben, sind positiv. Genau dieser Weg muss
von uns weiter gegangen werden oder es müssen zunächst Gespräche darüber geführt werden.
Die beste Reform des Arbeitsmarkts hilft wenig
- auch das wissen wir -, wenn wir uns nicht auf eines
besinnen, nämlich auf das, was uns als Land - ich habe
das am Anfang gesagt - immer wieder stark gemacht
hat: Das sind Bildung und Innovation. Sie sind mehr
denn je der Rohstoff unseres Landes, der Rohstoff der
Deutschen. Wir wissen: Wir müssen besser sein als andere, und zwar immer so viel besser, wie wir teurer sind.
Wir wollen teurer sein, weil wir unseren Wohlstand erhalten wollen. Deshalb ist unser Ziel nicht, im Wettbewerb um die niedrigsten Löhne mitzuhalten; das können
wir nicht. Vielmehr müssen wir besser sein als andere
und Bildung nach vorn bringen. Herkunft darf in diesem
Land nicht die Zukunft der jungen Menschen bestimmen. Das muss unser Anspruch sein.
({69})
Meine Damen und Herren, an guten Traditionen mangelt es nicht, weder bei unserer Schulbildung, wie man
an ihrem Ruf erkennt, noch bei der Berufsbildung. Das
System der dualen Berufsausbildung ist fast so bedeutend wie „Made in Germany“ bei der Produktherstellung. „Trained in Germany“ könnte wieder ein Markenzeichen von uns werden. Wir wissen aber auch, weil es
uns die PISA-Studie vor Augen geführt hat: Wir sind
nicht so Spitze, wie wir es eigentlich gerne wären. An
der zweiten PISA-Studie zeigt sich allerdings, dass,
wenn sich Länder anstrengen - ich nenne als Beispiel
das Land Sachsen-Anhalt -, innerhalb von wenigen Jahren ein deutlicher Fortschritt erreicht werden kann. Wir
wissen ja an vielen Stellen, wo die Probleme liegen. Es
ist wichtig, dass wir die Bildungschancen verbessern.
Deshalb hat der Bund einmalig - wir werden das fortsetzen - ein Programm zum Ausbau von Ganztagsschulen
aufgelegt, damit wir auch in diesem Bereich besser vorankommen. Ich hoffe, dass das nach der Föderalismusreform von den Ländern in entsprechender Weise fortgesetzt wird.
({70})
Ich sage das mit großem Ernst: Ich glaube, noch nie hat
ein Koalitionsvertrag in Deutschland so sehr auf Innovation und Technologiefreundlichkeit in Zukunftsbranchen gesetzt. Die finanzielle Ausstattung für die nächsten Jahre, das Ziel, die Ausgaben für Forschung,
Technologie und Entwicklung bis zum Jahr 2010 auf
3 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen,
wozu der Staat mit 1 Prozent seinen Beitrag leisten wird,
zeigt deutlich: Diese Verpflichtung sucht ihresgleichen.
Wir werden sie ganz strikt umsetzen. Dabei wollen wir
vor allen Dingen darauf achten, dass das Geld in Wissenschaft und Technik sinnvoll eingesetzt wird. Der Staat
darf nicht glauben, er wisse selber, was da am besten zu
tun sei, sondern wir müssen die Begutachtung durch die
Wissenschaftsorganisationen in den Vordergrund rücken.
Wir müssen auf die Freiheit der Entwicklungsmöglichkeiten in der Nano-, Bio- und Informationstechnologie
setzen. Wir müssen auch auf Leuchtturmprojekte setzen,
mit denen wir in der Welt beweisen können, auf welchen
Gebieten wir vorne sind. Ich nenne als Beispiele hoch
effiziente Kraftwerke, die elektronische Gesundheitskarte, die Weiterentwicklung der Brennstoffzelle und
- darüber haben wir lange genug gesprochen - den Aufbau einer Transrapidreferenzstrecke. Es wäre schön,
wenn es auch an dieser Stelle weiterginge.
({71})
Wir haben in der Koalitionsvereinbarung auch einige
heiße Eisen angepackt. Wir werden noch einmal das Regelwerk für die Grüne Gentechnologie überarbeiten
und wir werden bessere Möglichkeiten für unsere chemische Industrie schaffen. Der Herr Bundesumweltminister
hatte gestern das Vergnügen, in Brüssel genau darüber
zu verhandeln. Wir werden die Initiative „Partner für Innovation“ fortführen. Ich persönlich werde einen Rat für
Innovation und Wachstum, über den ich schon vor einigen Monaten gesprochen habe, einrichten, weil ich
glaube, dass die Tatsache - dessen muss sich die Politik
im gesamten Hause bewusst sein -, dass sich das Wissen
auf der Welt innerhalb von vier Jahren verdoppelt, bei
uns mental noch nicht ausreichend wahrgenommen wird.
Wir alle - das gilt auch für mich persönlich - haben an
vielen Stellen Mühe, die technischen Entwicklungen so
zu verstehen, dass wir in der Lage wären, zu erkennen,
welche rechtlichen Rahmenbedingungen wir schaffen
müssen. Wir sollten so ehrlich sein, das zuzugeben, und
im Dialog mit den Wissenschaftlern und Entwicklern
von diesen lernen.
Meine Damen und Herren, wir wissen: Als modernes
Industrieland, als Dienstleistungsgesellschaft, als Wissensgesellschaft werden wir nicht bestehen können,
wenn wir nicht ein modernes Infrastrukturland sind.
Das hat auch etwas mit unseren Verkehrsnetzen zu tun.
Wir werden in den nächsten vier Jahren 4,3 Milliarden
Euro mehr für Verkehrsinfrastrukturprojekte ausgeben.
Wir werden die rechtlichen Rahmenbedingungen ändern. Wir werden nicht nur, wie das in der Vergangenheit
der Fall war, das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz für die neuen Bundesländer weiterführen,
sondern für ganz Deutschland ein umfassendes Planungsbeschleunigungsgesetz auf den Weg bringen. Das
wird schwierige Beratungen erfordern. Aber wenn man
sieht, wie europäische Mittel zum Beispiel in Spanien in
Windeseile verbaut werden, während wir Menschen um
Arbeitschancen bringen, weil wir für bestimmte Infrastrukturprojekte Jahrzehnte brauchen, dann kann ich nur
sagen: Wir sind es den Menschen in diesem Lande
schuldig, dass wir uns an dieser Stelle anstrengen und
schauen, wie wir hier schneller vorankommen können.
({72})
Wir wissen, dass die Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit unseres Landes ohne eine zukunftsweisende
Energiepolitik nicht denkbar ist. Wir haben unterschiedliche Auffassungen über die Nutzung der Kernenergie. Aber wir haben uns - das finde ich wichtig - auf
eine Gesamtstrategie in der Energiepolitik sowie darauf
geeinigt, dass wir uns über den Energiemix Gedanken
machen.
Das heißt natürlich auch, dass wir ein deutliches Plädoyer für erneuerbare Energien abgeben. Wir werden
das Erneuerbare-Energien-Gesetz in der Grundstruktur
fortführen, aber wir werden - auch das gehört zur Ehrlichkeit gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern - die
wirtschaftliche Effizienz der einzelnen Vergütungen bis
2007 überprüfen. Wir werden schauen, was grundlastfähig ist und wohin das Geld gehen muss. Ich glaube, wir
werden das in guter Gemeinsamkeit schaffen. Ziel ist ein
energiepolitisches Gesamtkonzept mit einem ausgewogenen Energiemix.
({73})
Ich werde Anfang des Jahres zu einem nationalen
Energiegipfel einladen, um einmal alle Beteiligten an einen Tisch zu bekommen. Die Probleme müssen auf den
Tisch gelegt werden. Denn wir wissen, es gibt auch unter
den verschiedenen Anbietern vielerlei Widersprüche.
Wir werden ein sehr anspruchsvolles Programm zur
energetischen Gebäudesanierung auflegen. Dieses
Programm wird nicht nur der Bauwirtschaft neue Impulse geben - das ist der eine Aspekt -, sondern es wird
auch - davon bin ich zutiefst überzeugt - dem einzelnen
Bürger deutlich machen, welchen Beitrag er zur verbesserten Effizienz bei der Energieversorgung, also auch bei
der Reduktion von Kohlendioxidemissionen, leisten
kann. Wir haben uns bis jetzt viel zu viel auf die Industrie konzentriert. Es ist gut, dass wir jetzt auch den privaten Bereich hinzunehmen.
({74})
Wir werden die Regeln für den Emissionshandel
überarbeiten. Ich sage ausdrücklich, dass dieser ein gutes
Instrument ist. Aber wir werden in der zweiten Phase,
also ab 2008, schauen müssen, dass die Anreize für die
Modernisierung unseres Kraftwerksparks erhalten bleiben. Wir werden dafür sorgen müssen, dass die energieintensive Industrie nicht aus Deutschland abwandert
und dass wirtschaftliches Wachstum weiter möglich ist.
Ich werde - das sage ich auch in Richtung des Umweltministers - auf meinen Auslandsreisen sehr bewusst
die Klimaschutzprojekte, die nach dem Kiotoprotokoll
gerade für die Entwicklungsländer von außerordentlicher Bedeutung sind, als technologisches Know-how der
Bundesrepublik Deutschland propagieren. Technologieexport und Klimaschutz liegen heute ganz eng beieinander. Ich glaube, hier können wir unsere Rolle als Exportweltmeister deutlich machen.
({75})
An einer Stelle ist der Knoten im Grunde schon
durchgeschlagen worden, bevor die große Koalition ihre
Arbeit aufgenommen hat: das ist die Föderalismusreform, also die Neuordnung unseres föderalen Staatsaufbaus, die allerdings noch umgesetzt werden muss. Ich
glaube, diese Reform ist zum einen gegenüber unseren
Bürgerinnen und Bürgern wichtig. Denn sie können
dann wieder besser verstehen, wo die Verantwortlichkeiten liegen, wer für was verantwortlich ist. Sie ist zum
anderen aber auch im internationalen Wettbewerb
notwendig, um schnellere Entscheidungsmechanismen
durchzusetzen. An einem entsprechenden Mangel leiden
wir heute. Föderalismus darf keine Bremse, sondern Föderalismus muss ein Mehrgewinn für den Standort
Deutschland sein. Genau das wollen wir durchsetzen.
({76})
Wir werden in Absprache mit den Freien Demokraten
einen weiteren Schritt gehen. Wir werden im nächsten
Jahr prüfen, wie auch die Finanzbeziehungen zwischen
Bund und Ländern grundsätzlich neu geordnet werden
können. Denn - auch das gehört zur Wahrheit - eine Föderalismusreform ohne die Neuordnung der Finanzbeziehungen ist zwar ein erster wichtiger, aber noch kein
endgültiger Schritt.
({77})
Ich weiß, dass dies schwer ist. Aber lassen Sie uns solche anspruchsvollen Aufgaben angehen.
Wir wissen: Ohne einen Fortschritt beim Aufbau Ost
wird es kein gesundes Wachstum in ganz Deutschland
geben. Wir brauchen dieses Wachstum für das innere
Gleichgewicht unseres Landes. Deshalb müssen wir die
hohe Arbeitslosigkeit und vor allen Dingen die Abwanderung aus den neuen Bundesländern stoppen und hier
das Notwendige tun. Das heißt, wir müssen den neuen
Ländern, wo immer es möglich ist - europarechtlich und
auf anderen Gebieten -, mehr Freiheiten geben, Freiheiten, um mit den Geldern, die im Zusammenhang mit
dem Solidarpakt II zur Verfügung gestellt werden, möglichst viele sinnvolle Investitionen zu tätigen. Das ist die
Voraussetzung dafür, dass wir auch in den neuen Bundesländern vorankommen.
({78})
Mehr Freiheit möglich machen für neue Gerechtigkeit: All diese Neuausrichtungen vom Arbeitsmarkt bis
zum Aufbau Ost gehören zusammen. Sie dienen einem
langfristigen Ziel: Wir wollen Deutschland stärken und
wieder zum Motor in Europa machen. Die Gestaltung
dieses Wandels, den wir dringend brauchen, ist ohne
Vertrauen und ohne das Bewusstsein, dass sich die Menschen auf die Politik verlassen können, undenkbar. Deshalb ist einer dieser Vertrauensbeweise gegenüber den
Menschen eine solide Finanzpolitik, eine gute, solide Situation bei unseren Staatsfinanzen.
Meine Damen und Herren, wir brauchen dazu einen
Wandel, einen Kurswechsel in der Haushaltspolitik. Ich
sage ganz ausdrücklich: Die Ursachen, die Anfänge dieser Fehlentwicklung liegen weit zurück. Die lassen sich
im Übrigen ganz gut bei der ersten großen Koalition verorten.
({79})
- Da können Sie noch klatschen. - Deshalb wäre es
schön, wenn die zweite große Koalition diesen Kurswechsel schafft. Wir haben die Weichen dafür sehr gut
und entschlossen gestellt.
({80})
Wir brauchen eine langfristige Konsolidierungsstrategie. Dabei hat für uns das Reformieren und Investieren
zeitlichen Vorrang. Wir haben die Abfolge der Schritte
unseres politischen Handelns sehr gut vereinbart. Am
Ende wird aus diesem politischen Konzept ein Dreiklang: sanieren, reformieren, investieren.
Wir werden durch einen Zukunftsfonds in Höhe von
25 Milliarden Euro Investitionen in Schwerpunktbereiche über die Legislaturperiode möglich machen. Ich
habe den Bereich Mittelstand genannt. Ich nenne weiterhin die Verkehrsinfrastruktur, Forschung und Technologie, die Förderung des Haushalts als Arbeitgeber und die
Förderung von Familien. Dies sind fünf Projektbereiche,
bei denen die Menschen sehen: Wir können Schwerpunkte setzen; wir sind entschlossen, etwas zu investieren.
Aber ohne eine Sanierung der Haushalte kommen wir
natürlich nicht zurande. Deshalb umfasst unsere Haushaltskonsolidierung, dass wir einerseits - ich habe darüber gesprochen - die Arbeitsmarktkosten reduzieren.
Wir werden die Zuschüsse an die sozialen Sicherungssysteme begrenzen. Dies wird eine schwierige Aufgabe,
die nur zu schaffen ist, wenn wir Strukturreformen
durchführen.
Andererseits wird die öffentliche Verwaltung einen
substanziellen Solidarbeitrag dazu leisten. Ich nenne die
Größe von 1 Milliarde Euro, die der Bund im öffentlichen Bereich einsparen wird. Wir merken schon jetzt,
dass wir über die Details sicherlich noch lange zu diskutieren haben werden. Aber es bleibt die Verpflichtung,
1 Milliarde Euro einzusparen. Auch wir als Politiker
werden dazu unseren Beitrag leisten.
Wir werden Steuerförderungstatbestände reduzieren; wir haben damit gestern im Kabinett begonnen. Wir
werden ab 2007 den Spitzensteuersatz für nicht gewerbliche - ich betone: nicht gewerbliche - sehr hohe Einkommen auf 45 Prozent erhöhen.
({81})
Ich will nicht verhehlen: Die für uns alle schwierigste
Entscheidung war die Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes um 3 Prozentpunkte ab 2007. Umso wichtiger ist
es, dass zum einen 1 Prozentpunkt für die Senkung der
Lohnzusatzkosten eingesetzt wird, um Arbeitsplätze
wettbewerbsfähiger zu machen, und dass zum anderen
der niedrige Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent für Lebensmittel, den öffentlichen Personennahverkehr und
Kulturgüter erhalten bleibt. Auch darüber haben wir uns
viele Gedanken gemacht und dann diesen Entschluss gefasst.
({82})
Meine Damen und Herren, ich sage ausdrücklich: Ich
und wir alle wissen, dass für viele Menschen die Entscheidung, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, und die weiteren Konsolidierungspläne in Bezug auf unseren Haushalt tief greifende Einschnitte bedeuten. Wir wissen,
dass wir den Menschen an dieser Stelle viel abverlangen.
Wir wissen auch, dass die Bürgerinnen und Bürger deshalb eine Gegenleistung erwarten können.
Diese Gegenleistung liegt für mich auf der Hand:
Wenn wir solide Staatsfinanzen schaffen, dann beenden
wir das Leben von der Substanz. Zur Generationengerechtigkeit gehört auch, dass wir die Augen nicht davor
verschließen dürfen, dass wir mit allen Schulden, die wir
neu machen, zukünftigen Generationen Spielräume rauben. Wer ernsthaft von Nachhaltigkeit spricht, muss sich
diesem Problem widmen. Das hat nichts damit zu tun,
dass wir in Europa einen Stabilitäts- und Wachstumspakt
haben, den wir natürlich auch erfüllen wollen. Das hat
etwas mit dem moralischen Anspruch unserer Politik,
generationengerecht zu sein, und der Ernsthaftigkeit zu
tun. Deshalb werden wir das entschlossen umsetzen.
({83})
Deutschland ist Exportweltmeister. Deutschland
muss sich, wenn es Exportweltmeister bleiben will, dem
freien Welthandel öffnen, auch wenn das in vielen Bereichen schwer fällt. Nach einer Regierungswoche kann ich
sagen, dass wir bereits einen ersten Erfolg errungen haben. Wir haben am Beispiel der Zuckermarktordnung
innerhalb der Europäischen Union gezeigt - ({84})
- Ja, Frau Künast, das geht auch ohne Sie.
({85})
Es ist sogar so, Frau Künast, dass Herr Sonnleitner dies
lobt und es trotzdem gut ist für die WTO-Verhandlung.
Das ist das Erstaunliche.
({86})
Wir sind gut vorbereitet auf die WTO-Verhandlung,
die wir noch im Dezember zu führen haben. Ich sage
ausdrücklich: Ein Gegeneinander von moderner Landwirtschaft und Verbraucherschutz gehört mit dieser Regierung der Vergangenheit an. Das soll unser Markenzeichen sein.
({87})
Unser Motto in Bezug auf den Verbraucherschutz
lautet: Null Toleranz gegenüber denjenigen, die das Vertrauen der Verbraucher mit Füßen treten. Deshalb darf
uns der Skandal, das Handeln mit verdorbenem Fleisch,
so lange nicht ruhen lassen, bis wir an dieser Stelle alle
Schwachstellen beseitigt haben. Ansonsten wird es für
die deutsche Lebensmittelwirtschaft ganz schwierig.
({88})
Meine Damen und Herren, Sie sehen an all dem, was
ich aufgeführt habe, dass wir uns viel vorgenommen haben. Wir sind auch ganz sicher, dass viel möglich ist.
Wir haben uns viel vorgenommen, weil wir wissen, dass
wir wirtschaftlich wieder stark werden können und dann
auch das leben können, was die soziale Marktwirtschaft
in unserem Land groß gemacht hat. Dann können wir
nämlich den Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital
weiter ausgleichen und denen helfen, die sich heute noch
auf der Schattenseite des Lebens befinden.
Wir können dann aber auch noch etwas anderes schaffen: Wir können wieder ein starker Partner in Europa
und in der Welt werden. Deutsche Außen- und Europapolitik gründet sich auf Werte und sie ist Interessenpolitik. Eine Politik in deutschem Interesse setzt auf Bündnisse und Kooperationen mit unseren Partnern. Ich weiß,
dass unsere Partner große Erwartungen an uns richten.
Das haben ich und auch der Außenminister in den ersten
Tagen unserer Tätigkeit bei unseren Besuchen in Paris,
Brüssel, London und vielen anderen Ländern der Europäischen Union ganz deutlich gespürt. Die Erwartungen
an Deutschland in diesem Bereich sind so immens, weil
sich Europa im Augenblick in einer tiefen Krise befindet. Im Kern gründet diese Krise - das ist meine Überzeugung - auf fehlendem gegenseitigen Vertrauen. Es
gab schwere Rückschläge bezüglich des Verfassungsvertrages. Hinsichtlich der Finanzen der Europäischen
Union gibt es starke Interessenkonflikte zwischen den
einzelnen Mitgliedstaaten. Der Lissabon-Prozess, der
Prozess, Europa zum dynamischsten Kontinent der Welt
zu machen, ist bei weitem nicht so vorangekommen, wie
er hätte vorankommen müssen. Im Fortgang der Erweiterung der Europäischen Union stellen sich drängende
Grundsatzfragen: Wie weit reicht Europa? Was ist Sinn
und Zweck der europäischen Einigung?
Ich glaube, es hat keinen Sinn, um diese Krise herumzureden, auch heute nicht. Es kommt vielmehr darauf an,
sie zu meistern. Wir können sie aber nur gemeinsam mit
unseren Nachbarn, mit unseren Partnern meistern, und
zwar den großen und den kleinen. Ich glaube, dass
Deutschlands Aufgabe auch aufgrund seiner geografischen Lage darin bestehen sollte, Mittler und ausgleichender Faktor zu sein. Genau dies werden der Außenminister und ich am Freitag praktizieren, wenn wir nach
Polen reisen, zu unserem zweiten großen Nachbarn.
({89})
Ich weiß, dass auf dem Dezembergipfel der Europäischen Union große Aufgaben lasten, dass große Erwartungen daran gestellt werden. Wir werden im Zusammenhang mit der finanziellen Vorausschau natürlich für
eine Lösung eintreten, die im gesamteuropäischen Interesse liegt und nicht gleich dem Revisionszwang ausgesetzt ist. Deutschland ist - das sage ich ausdrücklich - zu
einem vernünftigen Kompromiss bereit und wird dazu
auch seinen Beitrag leisten. Klar ist aber auch, dass wir
als neue Bundesregierung die deutschen Interessen mit
allem Nachdruck vertreten werden. Das heißt: Eine finanzielle Überforderung kann es angesichts unserer
Haushaltslage, angesichts unserer eigenen Probleme
nicht geben. Auch das haben wir allen Partnern gesagt.
({90})
Europa hat sich mit den Lissabon-Verabredungen
weit reichende Ziele gesetzt. Wir brauchen einen Erfolg
und wir brauchen diesen Erfolg, indem wir Reformen
durchführen. Hier bündeln sich im Übrigen unsere innenpolitischen Anstrengungen mit dem, was in Europa
stattfindet. Ich will ausdrücklich sagen - wir haben das
in diesem Hause viel zu wenig beachtet -: Die jetzige
Kommission und auch gerade der deutsche Kommissar
Günter Verheugen haben in der Europäischen Union etwas gemacht, was es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat - ich sage: eigentlich noch nie -: Sie haben sich
Richtlinien angeschaut und haben gefragt: Sind die noch
notwendig? Brauchen wir bestimmte neue Projekte oder
sind sie für den Lissabon-Prozess, also für eine dynamische Entwicklung, schädlich? Es handelt sich um über
60 Richtlinien, die damit erst einmal vom Tisch sind
oder die verändert werden. Ich bin dafür ausgesprochen
dankbar. Europa kann nicht bestehen, indem man sagt:
Das eine gibt es und dann kommt immer etwas hinzu,
geschehe auf der Welt, was es wolle. - Der Schritt, den
ich oben beschrieben habe, muss von Deutschland unterstützt werden.
({91})
Wir wollen den Verfassungsvertrag, auch wenn das
heute zum Teil illusorisch erscheint, zu einem Erfolg
machen. Ohne ein eigenes Selbstverständnis ist Europa
nicht möglich. Das ist ein dickes Brett, das zu bohren
sein wird. Aber wir haben uns in unserer Koalitionsvereinbarung hierzu ausdrücklich bekannt.
({92})
Europa ist - auch das wissen wir - ohne die Unterstützung und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger
nicht möglich. Wir müssen darauf achten, dass die MenBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
schen nicht den Eindruck haben, sie würden überfordert.
Deshalb müssen wir ganz besonders Wert darauf legen,
dass Staaten, die der Europäischen Union beitreten werden, alle Bedingungen uneingeschränkt erfüllen müssen.
Das muss die Voraussetzung sein, wenn wir Erweiterungen der Europäischen Union vornehmen wollen.
({93})
So haben wir es auch in unserer Koalitionsvereinbarung
festgelegt: Die am 3. Oktober 2005 aufgenommenen
Verhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei
mit dem Ziel des Beitritts sind ein Prozess mit offenem
Ende, der keinen Automatismus begründet und dessen
Ausgang sich nicht im Vorhinein garantieren lässt. Sollte
die EU nicht aufnahmefähig oder die Türkei nicht in der
Lage sein, alle mit einer Mitgliedschaft verbundenen
Verpflichtungen voll und ganz einzuhalten, so muss die
Türkei in einer Weise, die ihr privilegiertes Verhältnis
zur Europäischen Union weiterentwickelt - das wollen
wir alle -, möglichst eng an die europäischen Strukturen
gebunden werden. Das ist eine Aufgabe, die sich über
die nächsten Jahre erstrecken wird. Wir stehen zu den
Vereinbarungen, so wie sie von der Vorgängerregierung
getroffen wurden. „Pacta sunt servanda“ muss das Prinzip europäischen Vertrauens sein. Aber dieser Prozess
wird mit besonderer Aufmerksamkeit zu beobachten
sein.
Die Menschen in Europa erwarten von uns natürlich,
dass sie auf die bestehenden Herausforderungen eine
Antwort bekommen; das sind Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, Bürgerkriege und internationale Kriminalität. Deshalb kann ich mit Blick auf unser politisches Programm sagen, dass die große Koalition an
dieser Stelle mehr Gemeinsamkeiten gefunden hat als
jede andere denkbare politische Konstellation.
({94})
Das ist nicht in jedem Bereich so. Aber für den Bereich
der inneren Sicherheit sage ich das aus voller Überzeugung. Hier haben wir einige Dinge hinbekommen, die
ich ausgesprochen wichtig finde: Das Bundeskriminalamt wird zur Abwehr von Terrorgefahren Präventivbefugnisse erhalten. Mit der Kronzeugenregelung verbessern wir den Kampf gegen die organisierte Kriminalität.
Opferschutz geht vor Täterschutz.
({95})
- Es ist ja klar, dass da welche mit den Köpfen schütteln.
Trotzdem geht Opferschutz vor Täterschutz. Wir werden
das ganz konsequent umsetzen. Deshalb werden wir
auch die nachträgliche Sicherungsverwahrung gegen
solche Jugendliche einführen, die wegen schwerster Gewalttaten verurteilt worden sind. Man kann da nicht den
Kopf in den Sand stecken, sondern muss sich dem Problem widmen. Das erwarten die Menschen von uns, und
das zu Recht.
({96})
Die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit
- das spüren wir alle - werden immer fließender. Deshalb brauchen wir eine Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik innerhalb der Europäischen Union,
und das auf der Grundlage einer europäischen Sicherheitsstrategie. Europa muss - danach werden uns die
Bürgerinnen und Bürger fragen - sicherheitspolitisch
handlungsfähig sein. Das ist kein Ersatz - ich sage das
ausdrücklich -, sondern eine Ergänzung des bewährten
Bündnisses NATO. Es geht darum, den europäischen
Pfeiler der Allianz und damit die Allianz insgesamt zu
stärken. Denn die NATO ist und bleibt der stärkste Anker unserer gemeinsamen Sicherheit. Sie ist das strategische Konsultations- und Koordinierungsforum und wo
sie das nicht ist, müssen wir, auch wir in Deutschland,
einen Beitrag dazu leisten, dass sie es wieder wird. Ich
habe das bei meinem Besuch in Brüssel sehr deutlich gemacht.
Ich sage auch ganz bewusst: Das ist kein Gegensatz
dazu, dass wir ein selbstbewusstes Europa sein wollen.
Ein selbstbewusstes Europa muss aber ein starker und
vor allen Dingen auch ein einiger Partner sein, wenn es
darum geht, die Interessen von Sicherheit, Frieden und
Menschenrechten durchzusetzen.
Meine Damen und Herren, ich sage deshalb auch:
Lassen Sie die Schlachten der Vergangenheit ruhen. Die
Schlachten sind geschlagen. Aber für die Zukunft gilt:
Die neue Bundesregierung wird sich mit aller Kraft für
ein enges, ehrliches, offenes und vertrauensvolles Verhältnis in der transatlantischen Partnerschaft einsetzen. Diese Partnerschaft der Wertegemeinschaft der
westlichen Welt ist ein hohes - ich sage: ein kaum zu
überschätzendes - Gut.
({97})
Ich glaube, dass wir in diesem Zusammenhang auch
darauf vertrauen können - der Bundesaußenminister ist
heute aus den Vereinigten Staaten von Amerika zurückgekommen -, dass die amerikanische Regierung die Besorgnis in Europa ernst nimmt und jüngste Berichte zu
angeblichen CIA-Gefängnissen und illegalen Flügen,
wie auch gegenüber dem Außenminister zugesagt, kurzfristig aufklären wird.
({98})
- Wissen Sie, es ist auch dramatisch, welche Entwicklung Sie genommen haben.
({99})
Meine Damen und Herren, wir fühlen uns im Blick
auf die transatlantische Partnerschaft den gleichen Werten verpflichtet - das ist viel in dieser Welt -: Frieden
und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit und Toleranz. Anders gesagt: Wir haben das
gleiche Verständnis von der Würde des Menschen. Das
schweißt uns zusammen und bildet auch das Fundament.
Aber zum Selbstverständnis dieser Wertegemeinschaft und zum Selbstverständnis, das wir von uns und
anderen Menschen haben, zählt auch, dass wir bei Menschenrechtsverletzungen nicht schweigen, gegenüber
niemandem auf der Welt, und seien es noch so hoffnungsvolle Handelspartner und noch so wichtige Staaten
für Stabilität und Sicherheit.
({100})
Ich sehe - das sage ich ausdrücklich - zwischen Kooperation, die notwendig ist, und dem Einhalten der
Menschenrechte oder dem Benennen dessen, was wir
unter Menschenrechten verstehen, keine Kluft, die nicht
zu überbrücken wäre. Es geht hier um Ehrlichkeit im
Dialog. Das macht Beziehungen nicht unmöglich. So ist
jedenfalls meine Erfahrung.
Meine Damen und Herren, es ist richtig: Deutschland
ist noch nie so sicher und so frei gewesen wie heute.
Dennoch - ich habe das am Anfang gesagt - leben wir in
einer Welt voller Herausforderungen: Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, zerfallende Staaten, extreme Armut, Epidemien und Umweltzerstörung. All das bedroht
unsere Sicherheit und unseren Wohlstand.
Wir brauchen deshalb unsere Partnerschaften in der
Welt dringender denn je. Ich möchte hier beispielhaft die
Partnerschaft zwischen Deutschland und Russland als
eine strategische Partnerschaft nennen. Russland ist ein
wichtiger Wirtschaftspartner. Aber Russland ist genauso
ein Verbündeter im Kampf gegen den internationalen
Terrorismus und natürlich als Land für die politische
Stabilität Europas unverzichtbar. Wir haben ein ganz besonderes Interesse daran, dass der Modernisierungsprozess in Russland gelingt. Wir werden das in unseren außenpolitischen Kontakten deutlich machen.
Meine Damen und Herren, wir werden uns mit Kräften für Frieden und Stabilität im Nahen Osten einsetzen.
Wir schauen natürlich mit besonderer Sorge in diesen
Tagen auf den Irak, aber genauso auf die Entwicklung
im Iran. Trotz der Rückschläge in letzter Zeit wird sich
die Bundesregierung weiter im Drei-plus-Eins-Prozess
engagieren. Dieser Prozess muss fortgeführt werden. Ich
sehe zu ihm keine Alternative. Aber ich kann den Iran
nur davor warnen, sich der Kooperation mit der internationalen Staatengemeinschaft und der IAEO zu entziehen. Was gegenüber Israel seitens des Iran gesagt wurde,
ist in jeder Hinsicht absolut inakzeptabel. Der Iran muss
wissen, dass wir das nicht hinnehmen.
({101})
Deutschland steht zu Israel in einer ganz besonderen
Verantwortung. Wir haben in diesem Jahr den 40. Jahrestag der Aufnahme deutsch-israelischer Beziehungen
begangen. Für die neue Bundesregierung möchte ich
deshalb bei dieser Gelegenheit das Existenzrecht Israels
und das Recht seiner Bürgerinnen und Bürger, in sicheren Grenzen frei von Terror, Angst und Gewalt zu leben,
ausdrücklich bekräftigen.
({102})
Ebenso bekräftigen möchte ich allerdings das Recht des
palästinensischen Volkes auf einen eigenen Staat,
({103})
der Seite an Seite mit Israel in Sicherheit und anerkannten Grenzen lebt. Das wäre auch ein klares Signal gegen
Terrorismus.
({104})
Meine Damen und Herren, deutsche Außenpolitik
bewährt sich im konkreten Handeln. Auf dem Balkan, in
Afghanistan und an vielen anderen Orten tragen deutsche Soldaten, Polizisten, Diplomaten und Entwicklungshelfer unter erheblichen Gefahren zu Frieden und
Stabilität bei. Was das im äußersten Fall bedeuten kann,
das haben wir gerade wieder in Afghanistan schmerzlich
erleben müssen. Deshalb möchte ich all denen, die
Deutschland im Ausland vertreten, einen ganz besonderen Dank sagen und eine ganz besondere Anerkennung
für ihren mutigen Einsatz aussprechen. Sie sind in verschiedenen Funktionen wichtige Botschafter unseres
Landes.
({105})
Meine Damen und Herren, die Bundeswehr ist eine
Armee im Einsatz, mit über 6 000 Soldaten auf dem Balkan, in Afghanistan, am Horn von Afrika oder jetzt in
humanitärer Mission in Pakistan. Die Bundeswehr kann
sich glücklicherweise auf die breite Unterstützung dieser
Regierung, des Parlaments und der Gesellschaft verlassen. Die Soldatinnen und Soldaten haben sie auch verdient; denn sie brauchen sie für ihren Einsatz.
({106})
Unser Anspruch, in der Welt mitzusprechen und mitzuentscheiden, und unsere Bereitschaft zum Mitwirken
bedingen sich. Die neue Bundesregierung wird darauf
achten, dass die Ziele und Fähigkeiten der deutschen
Außen- und Sicherheitspolitik immer in einem Gleichgewicht bleiben. Deshalb werden wir den Umbau der Bundeswehr zu einer Einsatzarmee konsequent fortsetzen.
Der Kernauftrag der Bundeswehr aus der Verfassung,
die Landesverteidigung, bleibt dabei natürlich unverändert gültig. Wir werden auch an den Beschlüssen zur
Struktur und Stationierung der Bundeswehr festhalten.
Die Bundesregierung bekennt sich zur allgemeinen
Wehrpflicht.
({107})
Sie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten als die für
unser Land beste Wehrform erwiesen, gerade auch mit
Blick auf die Beziehung zu den Parlamentariern. Ich
glaube, dass es an dieser Stelle ganz wichtig ist, eine
Bundeswehr zu haben, die sich sicher sein kann, dass sie
eine tiefe Verankerung in der deutschen Bevölkerung
hat.
({108})
Wir werden Ende nächsten Jahres ein Weißbuch zur
Sicherheitspolitik veröffentlichen, erstmals wieder nach
mehr als zehn Jahren. Ich denke, dann ist es höchste
Zeit, wieder ausführlich über ein solches Grundlagendokument zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur
Bundeswehr zu diskutieren.
Angesichts der Globalisierung nimmt die Bedeutung
der internationalen Institutionen zu. Für uns - das ist unser gemeinsames Verständnis - muss die UNO der zentrale Ort der Konfliktlösung werden und dies dann auch
bleiben.
({109})
Hier liegt eine wichtige Aufgabe vor uns. Wir werden
uns bemühen - ich halte es für ganz wichtig, dass wir
das schaffen -, bei der Reform der UNO gemeinsame
europäische Positionen durchzusetzen. Wir bleiben bereit, mit der Übernahme eines ständigen Sitzes im Sicherheitsrat mehr Verantwortung zu übernehmen. Ich
sage aber ausdrücklich: Die Reform der UNO kann nicht
auf die Frage des Sicherheitsrates reduziert werden,
({110})
sondern sie geht weit darüber hinaus. Die Frage, welche
Rolle die UNO in den nächsten Jahrzehnten einnimmt,
wird von existenzieller strategischer Bedeutung für eine
global zusammenwachsende Welt sein.
({111})
Denn, meine Damen und Herren, die Stärkung der internationalen Institutionen ist angesichts der Globalisierung lebensnotwendig. Eine Politik, die den Anspruch
erhebt, die Globalisierung zu gestalten - diesen Anspruch
müssen wir erheben, auch wenn viele Menschen den Eindruck haben, Politik könne das nicht mehr -, darf nicht
über internationale Institutionen hinweggehen, sondern
sie muss die internationalen Institutionen dazu befähigen,
die Globalisierung auch zu gestalten.
Wir sagen: Die soziale Marktwirtschaft hat sich als
großer Erfolg für uns alle und als Vorbild für andere erwiesen; das ist ein schöner Satz, aber die Fragen, ob wir
das durchsetzen können und in welcher Weise die internationalen Organisationen agieren - ich kann das an der
Welthandelsorganisation festmachen -, sind damit nicht
beantwortet. Die meisten Menschen haben nicht den
Eindruck, dass wir heute über die Möglichkeiten verfügen, weltweit das zu vertreten, was uns an sozialem Ausgleich der freien Wirtschaft - in Form der sozialen
Marktwirtschaft - wichtig ist, sondern sie haben Angst,
dass davon für sie nichts mehr übrig bleibt. Deshalb ist
die Gestaltungskraft von Politik nicht mehr nur national
notwendig, sondern auch bei der Ausprägung internationaler Organisationen, und dem wird sich diese Bundesregierung ganz wesentlich verpflichtet fühlen.
({112})
Dieses Wertverständnis von Politik leitet uns natürlich auch bei der Entwicklungszusammenarbeit. Wir
wissen, dass uns die Probleme zu Hause erreichen, wenn
wir sie nicht woanders lösen. Dafür brauchen wir natürlich Geld. Wir haben uns deshalb dazu verpflichtet, bis
2006 0,33 Prozent, bis 2010 mindestens 0,51 Prozent
und bis 2015 die ODA-Quote von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit aufzubringen.
({113})
Ich weiß, was ich da sage. Das sind ganz anspruchsvolle
Ziele. Aber wir müssen lernen: Die Probleme ereilen uns
im Inland, wenn wir es nicht schaffen, die Probleme anderswo einer Lösung zuzuführen.
({114})
Meine Damen und Herren, aus all dem, was ich gesagt habe, wird deutlich: Wir haben uns viel vorgenommen - weil wir sicher sind, dass vieles möglich ist und
weil wir auch wissen, dass viele Menschen vieles erwarten. Diese Koalition will Rituale überwinden und neue
Wege aufzeigen. Viele werden sagen: Diese Koalition,
die geht ja viele kleine Schritte und nicht den einen großen. Ich erwidere ihnen: Ja, genau so machen wir das.
Denn wir glauben, dass auch das ein moderner Ansatz
sein kann. Es hat sich herausgestellt, dass die Vernetzung
von vielen kleinen Computern, an vielen Stellen, effektiver ist als der eine Großrechner - der Erfolg des Internets beruht auf genau dieser Philosophie. Deshalb werden wir eine Regierung sein, die diese vielen kleinen
Schritte ganz bewusst in Angriff nimmt. Wir werden
uns nicht drücken vor dem Handeln, wir werden eine
Regierung der Taten sein. Wir wissen, dass wir auch
Rückschläge werden hinnehmen müssen. Aber wir werden eines zeigen: Wir haben große Möglichkeiten in diesem Land. Deutschland ist voller Chancen, nach innen
wie nach außen.
({115})
Fragen wir deshalb nicht zuerst, was nicht geht oder
was schon immer so war; fragen wir zuerst, was geht,
und suchen wir nach dem, was noch nie so gemacht
wurde. Haben wir den Mut, das dann aber auch wirklich
durchzusetzen! Überraschen wir uns also damit, was
möglich ist, überraschen wir uns damit, was wir können!
Stellen wir unter Beweis, dass wir unser Land gemeinsam nach vorn bringen, mit Mut und Menschlichkeit!
Denn Deutschland kann mehr und ich bin überzeugt,
Deutschland kann es schaffen.
Herzlichen Dank.
({116})
Ich eröffne die Aussprache. Für die Opposition erhält
als Erster das Wort der Vorsitzende der FDP, Dr. Guido
Westerwelle.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte für die liberale Opposition in diesem
Hause zunächst etwas über die beiden schrecklichen
Entführungen im Irak sagen. Frau Bundeskanzlerin, ich
möchte hier klar erklären, dass wir uns Ihren Äußerungen zu dieser Entführung in vollem Umfange anschließen. Hier stehen wir alle beieinander und zueinander und
die Regierung hat das volle Vertrauen auch der Opposition, dass sie hier richtig handelt.
({0})
Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, und den Damen und
Herren Ministern gratulieren wir zur Wahl bzw. zur Ernennung. Wir wünschen Ihnen eine glückliche Hand
und, weil es um unser Land insgesamt geht, auch viel
Erfolg.
Wir Freidemokraten werden hier im Deutschen Bundestag eine Opposition sein, die hart in der Sache ist,
verbindlich im Umgang und bei den Ergebnissen konstruktiv. Wir kennen unsere Verantwortung; das haben
Sie in den jüngsten Gesprächen zur Föderalismusreform
gemerkt. Wir Freidemokraten sind hier im Deutschen
Bundestag in der Opposition, sind aber in fünf Landesregierungen vertreten. Damit haben die Liberalen im Bundesrat übrigens Einfluss auf genauso viele Stimmen wie
der Juniorpartner in dieser Bundesregierung, die Sozialdemokraten.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte
mit einem Zitat beginnen:
Eine Opposition ist in ihren Qualitäten nicht dann
staatserhaltend, wenn sie eine wohlwollende Beurteilung durch die Bundesregierung oder durch ihre
Parteien findet. … Die Opposition ist die Begrenzung der Regierungsmacht und die Verhütung ihrer
Totalherrschaft.
Das waren die Worte des Oppositionsführers Kurt
Schumacher am 21. September 1949 im Deutschen Bundestag.
({2})
Was damals galt, bei einer Stimme Mehrheit, das gilt
umso mehr bei der Begrenzung der Regierungsmacht einer so genannten großen Koalition. Gerade in Zeiten einer großen Koalition kommt auch auf die Opposition
eine besondere Verantwortung zu. Diese werden wir
wahrnehmen.
({3})
Die Macht einer Regierung leitet sich nicht von der
Zahl der Abgeordneten im Deutschen Bundestag ab.
Macht ist in der Demokratie eine Frage des Vertrauens
und der Anerkennung durch die Bürgerinnen und Bürger. In punkto Vertrauen und Anerkennung muss sich die
so genannte große Koalition ihren Namen erst noch verdienen.
({4})
Ich glaube auch, meine sehr geehrten Damen und
Herren, es wird nicht aufgehen, wenn die Bundeskanzlerin aus der Not eine Tugend machen will, nach dem
Motto: Zu großen Schritten ist die große Koalition nicht
fähig, deswegen sind kleine Schritte in Wahrheit die
klügste Lösung. - Das, was Sie machen, bleibt eine Politik der Trippelschritte,
({5})
auch wenn Sie das rhetorisch verbrämen. Das ist in Zeiten der Globalisierung für Deutschland zu wenig.
({6})
Manche Regierungsmitglieder haben darum gebeten,
dass der neuen Bundesregierung eine faire Chance zu
geben sei. So soll es auch sein. Aber auch eine Schonfrist für die ersten 100 Tage bedeutet nicht, dass sich die
Opposition einer Bewertung der Entscheidungen in diesem Zeitraum enthält. Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben
mit dieser Regierung eine Chance, wenn Sie Ihren inneren Überzeugungen folgen. Wenn Sie über diese Koalitionsvereinbarung des kleinsten gemeinsamen Nenners
nicht hinausgehen, dann wird diese Bundesregierung vor
der Geschichte genauso scheitern, wie Rot-Grün gescheitert ist.
({7})
Es reicht nicht aus, hier zu sagen: „Mehr Freiheit wagen!“ Es müssen auch die Taten folgen,
({8})
bei der Gesundheitspolitik, bei der Forschung, bei der
Steuerpolitik. Steuern zu erhöhen heißt nicht, mehr Freiheit zu wagen. Steuererhöhungen sind ein Stück mehr
Unfreiheit für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland.
({9})
Was jetzt nötig ist, das schreibt der Sachverständigenrat in seinem Herbstgutachten von vor wenigen Wochen:
Erstens. Die Eingriffe des Staates sollen zugunsten von
mehr marktwirtschaftlichen Elementen und von mehr Eigenverantwortung zurückgeführt werden. - Diese Regierung hingegen vertraut auf den teuren und wohlwollenden Staat.
Zweitens. Der Staat muss sich auf seine eigentlichen
Aufgaben konzentrieren. - Diese Regierung hingegen
verwechselt den schlanken noch immer mit dem schwachen Staat.
Drittens. Die Konsolidierung der Staatsfinanzen sollte
alleine über die Ausgabenseite erfolgen, indem konsumDr. Guido Westerwelle
tive Ausgaben gekürzt werden. - Sie hingegen beschließen in diesem Koalitionsvertrag das größte Steuererhöhungsprogramm in der Geschichte unserer Republik.
({10})
Viertens. Die Abgabenlast von Haushalten und Unternehmen darf nicht steigen, sondern sie muss mittelfristig
zurückgeführt werden. - Sie hingegen stopfen mit dem
Abbau von Steuervergünstigungen die Haushaltslöcher,
anstatt die Steuersätze damit zu senken.
Fünftens. Die Arbeitsanreize müssen stärker werden.
Dies erfordert Änderungen in der Steuer- und Sozialpolitik. - Ihre Regierung hingegen klammert, angefangen
bei den betrieblichen Bündnissen bis hin zur Gesundheitsreform, das Entscheidende unverändert aus.
({11})
Auch der ehrliche Hinweis, man sei sich da und dort
nicht einig, ändert nichts an Ihrer Verantwortung. Das
Eingeständnis einer Regierung, dass sie hier und dort
nicht weiterkommt, weil man sich nicht einig ist, ist für
die Betroffenen in keiner Weise tröstlich, wenn die
Krankenkassen- und Rentenbeiträge weiter steigen, wodurch die Lohnzusatzkosten nach oben gehen, wenn die
Steuerlast entsprechend angehoben wird und wenn es
keine betrieblichen Bündnisse gibt. Sie sagen, Sie seien
sich in der Energiepolitik einig, mit Ausnahme der Kernenergie. Ja, wenn man sich bei der Kernenergie nicht einig ist, dann kann man weiß Gott nicht von Einigkeit im
Grundsatz bei der Energiepolitik sprechen.
({12})
Der Bundespräsident hat in seiner ersten Rede in diesem Jahr das Motto „Arbeit hat Vorfahrt“ ausgegeben.
Die Koalitionsvereinbarung gibt vielem Vorfahrt - manch
Sinnigem und manch Unsinnigem -, nur der Arbeit eben
nicht. Durch Steuererhöhungen sowie durch Einmalerlöse wollen Sie von 2006 bis 2009 - an dem, was gedruckt
wurde, muss man sie messen - 150 Milliarden Euro mehr
einnehmen. Die echten Minderausgaben sollen in diesem
Zeitraum aber nur 15 Milliarden Euro betragen. Hier geht
es nur noch um die Finanzierung des „Weiter so!“. Wie
man bei einer Einnahmeverbesserung von 150 Milliarden
Euro und gleichzeitiger Ausgabenkürzung von 15 Milliarden Euro, also bei einem Verhältnis von 10 : 1, von einer sparsamen Regierung reden kann, bleibt das Geheimnis manchen Kommentators.
({13})
Das komplizierte Steuersystem wird nicht vereinfacht.
Die Sozialversicherungssysteme werden weder mutig
noch grundsätzlich reformiert, stattdessen wird mehr
Geld hineingegeben.
Die letzte Regierung ist doch nicht an dem gescheitert, was sie getan hat, die letzte Regierung ist zuerst an
dem gescheitert, was sie nicht getan hat, an dem Hin und
Her und an der eigenen Zögerlichkeit. Das darf sich
nicht wiederholen. Deswegen ist es übrigens auch beunruhigend, dass Sie gleich in der ersten Regierungserklärung um Verständnis für das Prinzip Nachbessern und
die Trippelschritte bitten.
Diese große Koalition ist eine Koalition des kleinsten
gemeinsamen Nenners. Der kleinste gemeinsame Nenner regiert Deutschland. Mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner lassen sich in Deutschland aber weder Aufbruchstimmung noch ein Neuanfang bewirken.
({14})
Das, was ich Ihnen hier sage und vortrage, ist ja nicht
die Einzelmeinung einer böswilligen Opposition oder
von schlecht gelaunten Journalisten. Ich möchte ein paar
Zitate in diese Debatte einführen.
Erstes Zitat:
Mit der großen Koalition kann sich nichts Tiefgreifendes ändern … Das ist völlig ausgeschlossen.
Das sagt nicht etwa Herr Kollege Gysi, das sagt Roland
Koch.
Nächstes Zitat:
Deutschland bekommt eine große Koalition, die zur
Lösung der jetzigen Aufgaben eigentlich nicht geeignet ist.
Das sagt nicht etwa Frau Künast, sondern das sagt
Günther Oettinger.
Zitat:
Es bleibt der Eindruck, dass die Union wenige Tage
nach der Wahl das Gegenteil zu allem sagt, was sie
früher für richtig gehalten hat … Für die Steuerpolitik können Sie sagen: So viel SPD war nie.
Das sagt nicht etwa Hermann Otto Solms, das sagt
Friedrich Merz. Den wird man in diesem Hause ja noch
zitieren dürfen.
({15})
Sie haben darum gebeten, dass die Regierung eine
faire Chance bekommt. Aber auch die Opposition bittet
um eine faire Chance, nämlich darum, dass die große
Koalition als Regierung nicht gleich auch noch die Aufgaben der Opposition mit erledigen will. Das würde uns
nämlich nicht voranbringen.
({16})
Das Wahlergebnis hat zwei zusammengebracht, die
nicht zusammenkommen wollten. Aber das allein kann
nicht alles rechtfertigen.
({17})
Was vor der Wahl grundfalsch war, kann nach der Wahl
nicht grundrichtig sein. Ich zitiere hier den Herrn Kollegen und Vizekanzler Müntefering, der noch im August
dieses Jahres wörtlich gesagt hat:
So, wie die Wirtschaftslage bei uns ist, ist es ein
völlig falscher Weg, den Binnenmarkt durch eine
Erhöhung der Mehrwertsteuer zu belasten.
({18})
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD,
im Wahlkampf haben Sie in jeder Stadt Deutschlands ein
Plakat aufgehängt, auf dem es hieß: „2 % Merkelsteuer
auf alles“. Jetzt kommen nicht nur 2 Prozent MerkelSteuer, sondern obendrauf noch 1 Prozent Münte-Steuer.
Das ist die Lage in diesem Lande.
({19})
Es ist nicht einmal politik- oder kompromisstheoretisch
nachvollziehbar, wie Sie zu diesem Ergebnis gekommen
sind. Wenn man Verträge schließt, ist es normalerweise
so, dass man sich dann, wenn der eine die eine Meinung
und der andere eine andere Meinung vertritt, in der Mitte
trifft. - Nicht so bei der großen Koalition! Die Union
sagt: „2 Prozent Mehrwertsteuererhöhung!“, die SPD
sagt „Keine Mehrwertsteuererhöhung!“ und dann trifft
man sich mutig bei einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozent. Das ist wirklich nur noch peinlich.
({20})
Weil Sie, meine Damen und Herren Kollegen von der
SPD, an dieser Stelle mit Fröhlichkeit über Ihre Verlegenheit hinwegtäuschen wollen, möchte ich Ihnen eines
sagen: Wenn wir aus Koalitionsverhandlungen nicht mit
einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um 2 Prozent, sondern um gleich 3 Prozent herausgekommen wären, kann
ich nur erahnen, welchen Tanz Sie in diesem Haus aufgeführt hätten. Dagegen sind wir richtig zurückhaltend.
({21})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union,
weil Sie jetzt ebenfalls Ihre Fröhlichkeit entdeckt haben,
möchte ich auf Folgendes aufmerksam machen: In der
Kabinettsitzung gestern hat man sich auf die Streichung
der Eigenheimzulage verständigt. Ich erinnere mich an
Debatten in diesem Hause, bei denen wir von der rechten
Seite dieses Hauses alle gemeinsam gesagt haben: Ja, die
steuerlichen Ausnahmetatbestände müssen gestrichen
werden, aber sie dürfen nicht für das Stopfen von Haushaltslöchern verwendet werden, sondern sie müssen in
die Senkung der Steuersätze investiert werden, sonst ist
das für die Bürgerinnen und Bürger unterm Strich eine
fette Steuererhöhung. - Genau das tun Sie jetzt. Nicht
Freiheit und Vorfahrt für Arbeit diktieren Ihre Politik,
sondern es wird eine Politik nach Kassen- und Haushaltslage gemacht. Weil Sie sich an echte Strukturveränderungen nicht heranwagen und Sie sich nicht einig
sind, müssen diese Verträge bei Ihnen zulasten Dritter
geschlossen werden, nämlich zulasten der Bürgerinnen
und Bürger in Deutschland.
({22})
Übrigens: Ein Musterbeispiel für das, was in Zeiten
einer großen Koalition einem Kampf von David gegen
Goliath gleicht, war die erste Pressekonferenz nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen. Da stellen sich
Bundeskanzlerin und Vizekanzler auf der Bundespressekonferenz hin und erzählen vor einigen Hundert Journalisten, wie stolz sie seien, dass sie sich einig geworden
sind. Im selben Atemzug verkünden sie, sie hätten nicht
einmal mehr die Absicht, den nächsten Haushalt verfassungskonform aufzustellen, sich also ans Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zu halten. - Dieses
Vorhaben ist - Sie müssen schon selber nicken, weil Sie
wissen, dass ich Recht habe - Gott sei Dank von vielen
Kräften und auch von der Opposition verhindert worden.
Jetzt müssen Sie den Weg des Grundgesetzes gehen.
Darüber freuen wir uns. Das zeigt auch, dass David im
Kampf gegen Goliath nicht machtlos ist.
({23})
Sie sagen, man müsse von den Bürgern viel verlangen. Das ist zwar richtig, aber wenn man Menschen für
einen Weg gewinnen will, dann muss die Politik auch
mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn man Zivildienstund Wehrdienstleistenden das Weihnachtsgeld in Höhe
von 172 Euro streichen will,
({24})
dann passt das nicht mit der Erhöhung der Zahl der Minister und Staatssekretäre zusammen.
({25})
Wenn eine Bundesregierung von allen Deutschen Sparsamkeit verlangt, dann ist eine Regierung mit 70 Mitgliedern überdimensioniert. Ein Ministerium, zwei Bundesminister und drei Parlamentarische Staatssekretäre
mehr - wer so handelt und redet, der trinkt selber Wein
und predigt der Bevölkerung Wasser. Auch das passt
nicht zur Glaubwürdigkeit einer neuen Zeit, die Sie angemahnt haben.
({26})
Wir brauchen eine Politik, die konsequent auf Wachstum und Reformen statt auf ein „Weiter so“ setzt. Wir
haben heute in einem Antrag zum wiederholten Male in
diesem Hause darauf hingewiesen, dass Steuersenkung
und Steuervereinfachung zusammengehören und dass
die Finanzierung entsprechender Maßnahmen auch möglich ist.
Es war übrigens eben eine drollige Begegnung, als
sich die Bundeskanzlerin dankbar an die Herren Ministerpräsidenten gewandt und bemerkt hat, wie schön es
doch sei, dass sie auf ihren Anteil an der Mehrwertsteuer
verzichtet hätten. Aber der deutschen Öffentlichkeit sei
dann auch die komplette Wahrheit genannt: Bei 1 Prozent der Einnahmen verzichten die Länder - pfiffig und
auch raffiniert, wie sie sind - auf ihren Anteil; bei den
2 Prozent langen sie natürlich genauso zu. Nicht, dass
sich in der deutschen Öffentlichkeit ein falscher Eindruck durchsetzt: Dort auf der Länderbank sitzt nicht
Mutter Teresa; die Ministerpräsidenten haben vielmehr
ihre Interessen - auch die finanzpolitischen - eiskalt ausverhandelt. Das will ich an dieser Stelle festhalten.
({27})
- An dieser Stelle auch Sie nicht, Herr Platzeck.
Die Konjunktur zieht nur dann an, wenn auf dem
Arbeitsmarkt positive Signale gesetzt werden. Was Sie
für die Probezeit vereinbart haben, ist zu wenig. Wir haben gemeinsam regelmäßig über die betrieblichen Bündnisse und die Notwendigkeit des Aufbruchs der Tarifkartelle gesprochen. Leider haben Sie selber heute
eingestanden: Können wir nicht, schaffen wir nicht!
Die Reform der sozialen Sicherungssysteme ist nicht
nur nötig, sondern auch möglich. Das haben wir gerade
heute gesehen, da die Rente zum ersten Mal überhaupt
nur noch unter Inanspruchnahme eines Überbrückungsgelds ausgezahlt werden kann. In Wahrheit haben wir bei
der Rente noch eine Schwankungsreserve - die eiserne
Reserve - von zwei Tagen.
Was das Gesundheitswesen angeht, wissen wir, dass
die Kassen zum 1. Januar die Beiträge erhöhen wollen.
Sie aber sagen uns hier: Wir werden uns im nächsten
Jahr mal wegen der Gesundheitspolitik zusammensetzen; das konnten wir gemeinsam leider nicht schaffen. Das ist für Deutschland zu wenig!
Sie haben ausgeführt, dass wir eine Qualifizierungsund Technologieoffensive brauchen. Darin unterstützen
wir Sie, insbesondere, wenn Sie bei der Biotechnologie
Fortschritte erzielen. Auch bei der Grünen Gentechnik
werden Sie uns an Ihrer Seite haben.
Ich betone auch ausdrücklich: Es ist richtig, dass Sie
sich eine neue Allianz der Familien- und Bildungspolitik zum Ziel gesetzt haben. Auch wir sind der Überzeugung, dass die Globalisierung in erster Linie im Wettbewerb der Bildungssysteme entschieden wird.
Sie sagten aber auch, wir bräuchten ein anderes Klima
in Deutschland, keine Neidgesellschaft; Spitzenleistungen müssten anerkannt werden. Sie haben aber gerade
das glatte Gegenteil beschlossen: Nachdem zum 1. Januar der Spitzensteuersatz gesenkt worden ist, wird er
jetzt, wenige Monate später, zum Jahresende gleich wieder erhöht. Das Ganze nennen Sie „Erhöhung des Spitzensteuersatzes“. In Wahrheit ist es nichts anderes als die
Reichensteuer, wie sie Herr Müntefering mit seiner Heuschreckendebatte in die Diskussion eingeführt hat. Wer
eine solche Heuschreckendebatte führt und dann mit einer Reichensteuer darauf antwortet, der sorgt dafür, dass
Arbeitsplätze entstehen - in Österreich und anderen
Nachbarländern, aber nicht bei uns in Deutschland. Anerkennungskultur heißt auch, Leistungen anzuerkennen,
statt sie mit Strafzetteln zu verfolgen.
({28})
Wenn Sie beim Bürokratieabbau vorankommen, werden wir Sie dabei begleiten und unterstützen. Wenn aus
dem positiven Ansatz des Elterngeldes nicht neue Schulden, sondern neue Chancen für die Kinder entstehen,
werden wir diesen Vorschlag unterstützen.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode mit
400 Anträgen im Deutschen Bundestag gezeigt, dass wir
in der Lage sind, konkrete Einsparungen vorzuschlagen
und zu vertreten. Wir haben als Liberale eine besondere
Verantwortung bei den Themen Bürgerrechte und
Rechtsstaat. Diese dürfen in einer großen Koalition nicht
unter die Räder kommen. Wir werden dafür sorgen, dass
es einen vernünftigen Ausgleich zwischen Bürgerfreiheit
und Bürgersicherheit geben wird.
({29})
Zum Schluss, meine sehr geehrte Damen und Herren,
verehrte Anwesende, Frau Bundeskanzlerin: Wir, CDU/
CSU und FDP, haben am 1. September dieses Jahres,
kurz vor der Wahl, beim so genannten Oppositionsgipfel
ein gemeinsames Programm vorgelegt. Dieses hatte die
Überschrift „Deutschland braucht den Wechsel“ und
trägt die Unterschriften von Angela Merkel, Edmund
Stoiber und meiner Person. Wir haben damals nicht einen Personalwechsel gemeint, sondern einen Politikwechsel gewollt.
({30})
An einem Politikwechsel werden wir weiter arbeiten.
Das heißt, dass Privat vor dem Staat kommt und dass die
Freiheit unseren Wohlstand besser sichert als jede ideologische Gleichmacherei. Unsere Alternative in diesem
Hause ist, auf die Kraft der Freiheit zu setzen.
Frau Merkel, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung
zu allem ein bisschen und zu jedem etwas gesagt. Aber
das ist für Deutschland nicht genug.
({31})
Nächster Redner ist der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Dr. Peter Struck.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, im Namen der SPD-Fraktion
gratuliere ich Ihnen zu Ihrer Amtsübernahme und wünsche Ihnen und unserem Land eine erfolgreiche Regierungszeit.
({0})
Ich danke Ihnen, Frau Merkel, auch für die Anerkennung
der wichtigen Reformschritte, die Gerhard Schröder eingeleitet hat. Er hat das Land in schwieriger Zeit erfolgreich gelenkt.
({1})
Herr Kollege Kauder, der Beifall in Ihren Reihen, als
Frau Merkel Herrn Schröder gelobt hat, war ein bisschen
schwach.
({2})
Sie müssen noch einiges lernen. Aber ich gebe zu, dass
es auch für uns eine ungewohnte Situation ist, Frau
Merkel Beifall zu zollen. Wir werden das im Laufe der
Zeit noch lernen.
({3})
Frau Merkel, Ihre Regierungserklärung ist ein solider
Grundstock, auf den wir in den nächsten vier Jahren setzen können. Meine Fraktion wird mit dem für Parlamentarier notwendigen Selbstbewusstsein dazu beitragen,
dass es vier erfolgreiche Jahre für Deutschland werden.
({4})
Deutschland genießt bei unseren Nachbarn und Partnern hohes Ansehen. Dazu hat Gerhard Schröder entschieden beigetragen. Deutschland ist ein verlässlicher
Partner. Als jemand, der zuletzt für einen wichtigen Teil
der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik Verantwortung getragen hat, weiß ich, wovon ich rede. In den
Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik hat es schon in
der Vergangenheit eine große Übereinstimmung zwischen uns gegeben, übrigens auch mit den Kolleginnen
und Kollegen der FDP-Fraktion. Ich denke dabei an die
gemeinsame Verantwortung für die Friedenseinsätze der
Bundeswehr und - anknüpfend an Ihre Bemerkung, Frau
Merkel, und an die des Kollegen Westerwelle - die Hilfen für den Irak, die fortgesetzt werden müssen. Unser
Land darf sich einer Erpressung nicht beugen.
({5})
Herr Westerwelle, es war ja zu erwarten, dass Sie gegen die geplante Mehrwertsteuererhöhung argumentieren werden. Ich hätte mir ebenfalls eine andere Lösung
gewünscht. Aber Koalitionsverhandlungen sind keine
„Wünsch dir was“-Veranstaltungen. Das hätten auch Sie
übrigens gemerkt, wenn Sie die Chance gehabt hätten,
Koalitionsverhandlungen zu führen. Aber der Wähler
hat Ihnen diese Chance nicht gegeben.
({6})
Die Mehrwertsteuer wird erst 2007 erhöht und nicht
schon nächstes Jahr, wie im Wahlprogramm der Union
angekündigt. Das hat den Vorteil, dass im kommenden
Jahr der Aufschwung nicht gestört wird und die eine
oder andere Anschaffung vielleicht im kommenden Jahr
vorgezogen wird. Die Grundnahrungsmittel bleiben bei
der Mehrwertsteuererhöhung außen vor; das sollten wir
festhalten. Es bleibt bei 7 Prozent. Es wird keine Erhöhung in diesem Bereich geben. Wir müssen die Handlungsfähigkeit des Staates wiedergewinnen. Dazu muss
die Einnahmebasis verbessert werden. Das ist völlig unstrittig. Ein Teil der Mehrwertsteuererhöhung wird natürlich den Bürgern durch die niedrigeren Beiträge zur
Arbeitslosenversicherung zurückgegeben und die Lohnnebenkosten können so gesenkt werden.
Seit einer Woche ist die Bundesregierung im Amt. Es
ist die zweite große Koalition in der Geschichte unseres
Landes. Die zweite nicht nur in zeitlicher Reihenfolge,
auch in ihrer Größe lassen die Wähler der Opposition
mehr Platz. Bei der ersten großen Koalition gab es mit
der FDP-Fraktion eine relativ kleine Opposition.
({7})
Geschichte wiederholt sich nicht. Die große Koalition
Merkel/Müntefering lässt sich nicht eins zu eins auf
Kiesinger/Brandt übertragen. Dennoch bin ich überzeugt: So wie die erste große Koalition Deutschland gut
getan hat, wird dem Land auch die zweite große Koalition gut tun.
({8})
Wir wollen ihren Erfolg, so wie Kurt Georg Kiesinger
und Willy Brandt seinerzeit diesen Erfolg wollten. Damals wie heute gilt Willy Brandts Forderung an das
Bündnis der Volksparteien: nicht die heiligen Kühe der
anderen schlachten, sondern immer den größten gemeinsamen Nenner suchen, weil - so hat Willy Brandt das damals gesagt - die Koalition zum Erfolg werden soll, zum
Erfolg werden muss.
Die große Koalition ist auch deshalb gut, weil die Reformblockade im Bundesrat aufgelöst wird und Bund
und Länder Deutschland endlich gemeinsam reformieren
können. Wir wären schon ein gutes Stück weiter, wenn
der Bundesrat nicht wichtige Entscheidungen seinerzeit
über Jahre hinweg blockiert hätte.
({9})
Aber das ist jetzt Geschichte und jetzt gilt es etwas Gutes aus dieser neuen Konstellation zu machen. Die Voraussetzungen dafür sind jedenfalls gegeben. Der Koalitionsvertrag ist ein Kompromiss, kein fauler, sondern
ein fairer Kompromiss.
({10})
Wir alle haben uns zurückgenommen, damit das Land
vorankommt. Wir alle sind für den ganzen Koalitionsvertrag verantwortlich. Keiner kann sich nur die Rosinen
herauspicken.
({11})
Diese neu gewählte Bundesregierung ist eine Arbeitsregierung, eine Koalition des Machbaren. Das wird
schon am Umfang des Koalitionsvertrages deutlich. Von
A wie Arbeitsmarktreform bis Z wie Zölle werden die
Handlungsfelder beschrieben. Das mag dem einen oder
anderen nicht sexy genug sein. Vielleicht wird auch die
große Linie vermisst.
({12})
Aber Politik muss immer praktisch und konkret für die
Menschen sein.
({13})
Es geht uns in der Koalition darum, die Probleme des
Landes zu lösen, den Menschen ein besseres Leben zu
bescheren und Deutschland in eine gute Zukunft zu führen.
({14})
Kurz gesagt: Es geht um ehrliche und solide Arbeit,
ohne Schnörkel und ohne Schleifchen. Die Umsetzung
dieses Koalitionsvertrages verlangt Disziplin und Verlässlichkeit. Die Art und Weise, wie vor allem Frau
Merkel und Franz Müntefering den Vertrag ausgearbeitet
haben, hat Vertrauen geprägt, das für die nächsten vier
Jahre unser Verhältnis bestimmt.
({15})
Die neue Bundesregierung steht vor großen und wichtigen Weichenstellungen für die Entwicklung unseres
Landes. Sie kann dabei auf dem Fundament aufbauen,
das die alte Bundesregierung unter Bundeskanzler
Schröder gelegt hat. Mit der Agenda 2010 wurden wichtige und richtige Entscheidungen getroffen. Daran werden wir in unserer Arbeit anknüpfen. Wir bekennen uns
nachdrücklich zur Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe in der Grundsicherung für Arbeitssuchende.
({16})
Alle Arbeitssuchenden erhalten eine Chance. Bislang
wurden junge Menschen, die noch nie gearbeitet haben,
und Menschen, die sehr lange arbeitslos waren, auf ein
Abstellgleis geschoben. Sie bekamen zwar Geld, aber es
gab keine Regelung, wie sie wieder Arbeit finden konnten. Seit dem 1. Januar ist das anders. Arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger nehmen wieder an der Arbeitsvermittlung teil. Auch das ist ein Erfolg, der sich sehen
lassen kann.
({17})
Es gibt Hilfe aus einer Hand. Mit der Zusammenlegung der sozialen Systeme Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe hat jeder größere Chancen und auch einen neuen
persönlichen Ansprechpartner. Arbeitssuchende sind
keine Nummern mehr. Es wird sich intensiv um sie gekümmert. Ein Betreuungsschlüssel von 1 : 75 für Jugendliche und junge Erwachsene ist bereits nahezu überall verwirklicht. Das ist auch ein Erfolg der Maßnahmen,
die seit 1. Januar dieses Jahres wirken.
({18})
Natürlich ist die Frage der Arbeitsmarktreform heftig
umstritten gewesen. Wir haben in den Koalitionsverhandlungen darüber diskutiert. Wir müssen ein solch
komplexes und umfangreiches Reformvorhaben flexibel
anpassen und verbessern. Daher werden wir verschiedene Maßnahmen optimieren und Missbrauchsmöglichkeiten einschränken.
Wir beginnen die Arbeit nicht an einem Nullpunkt.
Die SPD-geführte Bundesregierung hat wichtige Impulse für die Reform des Landes gegeben - zusammen
mit unserem damaligen Koalitionspartner Die Grünen,
dem ich unseren Respekt aussprechen möchte.
({19})
Wir wollen Sie nicht vergessen.
Wir werden am Pakt für Ausbildung festhalten und
dazu beitragen, dass kein junger Mensch von der Schulbank in die Arbeitslosigkeit fällt. Die neue Bundesregierung wird den Weg beim Abbau von Steuersubventionen
und Steuervergünstigungen fortsetzen und darf dabei
auch auf die Unterstützung des Bundesrates hoffen. Wir
werden die 4 Milliarden Euro für das Ganztagsschulprogramm bis Ende der Legislaturperiode zur Verfügung
stellen.
({20})
Auch das Tagesbetreuungsausbaugesetz, abgekürzt TAG
- das muss ich erst einmal lernen ({21})
- vielen Dank -, das eine bessere Betreuung der unter
dreijährigen Kinder gewährleistet, wird weiterentwickelt.
Außerdem halten wir am Ausbau der erneuerbaren
Energien fest.
({22})
Wir werden dafür sorgen, dass deren Anteil erhöht wird.
Wenn wir das Ziel erreichen, Herr Kollege Kauder, dass
bis zum Jahre 2010 der Anteil der erneuerbaren Energien
an der Stromversorgung bei mindestens 12,5 Prozent
liegt, dann brauchen wir uns über die Kernenergie nicht
mehr zu streiten und dann können Sie das vergessen,
was Sie bisher wollten. Einverstanden?
({23})
Die Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre war
erfolgreich. Sie festigt und stützt nachhaltig den Wachstumskurs der deutschen Wirtschaft, die im dritten
Quartal 2005 kalenderbereinigt um 1,4 Prozent gewachsen ist. Der deutsche Sachverständigenrat hat die alte
Bundesregierung für die wichtigen und weit reichenden
Reformen ausdrücklich gelobt. Dazu hat Holger Schmieding, Chefvolkswirt Europa der Bank of America, gesagt: „Die Wirtschaft steht am Anfang eines klassischen
Aufschwungs.“ Wir werden diesen Aufschwung befördern, und zwar mit unseren Maßnahmen, die wir in der
Koalition vereinbart haben.
({24})
Ein nicht geringer Teil unserer Probleme in der Vergangenheit ist der gegenseitigen Blockade von Bundestag und Bundesrat geschuldet. Ich freue mich, dass
Matthias Platzeck da ist, auch wenn er nicht derjenige
ist, den ich ansprechen möchte. Die anderen, die damals
blockiert haben, sind leider schon weg. Insofern muss
ich ihm mitgeben: Sie sind nicht gemeint, Herr Ministerpräsident, wenn ich das sagen darf.
({25})
Unsere Aufgabe wird es sein, die Handlungsfähigkeit
des Staates neu sicherzustellen und diesen Missstand zu
beseitigen. Es geht darum, Entscheidungen schneller zu
treffen und Zuständigkeiten klarer zu regeln. Da sind wir
uns mit der Opposition doch einig. Deshalb ist die
Reform der föderalen Ordnung nicht nur eine Spielwiese der Verfassungsjuristen, sondern von zentraler Bedeutung für die Handlungsfähigkeit des Staates. Wenn
wir die Änderungen bis zur Jahresmitte im Gesetzblatt
stehen haben, dann sind wir ein großes und wichtiges
Stück weiter, dann können wir auf die Reform der föderalen Ordnung stolz sein.
({26})
Ich habe in den letzten Tagen eine Reihe von Meldungen über die Frage gelesen, wie lange diese Koalition
halten soll. Manche fragen sich, ob das Ganze wirklich
vier Jahre hält. Dieses Bündnis ist aus meiner Sicht eine
ganz solide Sache, eine solide Vereinbarung.
({27})
Wir wollen in dieser Legislaturperiode zusammenarbeiten, und zwar für volle vier Jahre. Dann entscheiden
die Wähler neu. Ich jedenfalls werde gemeinsam mit
Volker Kauder - wenn der jetzt zuhört; das muss er noch
lernen - ({28})
- Ich wiederhole den Beginn meines Satzes: Ich jedenfalls werde in diesen vier Jahren mit Volker Kauder gemeinsam alles tun, um die Koalitionsfraktionen in die
Lage zu versetzen, diesem Bündnis zu einem Erfolg zu
verhelfen.
({29})
Das heißt, dass die Fraktionen selbstbewusst alles das
prüfen werden, was die Regierung vorlegt. Die Regierung weiß das. Dafür ist das Parlament da. Frau Bundeskanzlerin, es ist so, dass nicht alles, was Sie wünschen,
vom Parlament auch so beschlossen wird.
({30})
Es gilt nach wie vor das alte strucksche Gesetz: Kein Gesetz kommt so raus, wie es hier reingekommen ist. - Dafür sind wir da.
Aber natürlich stehen wir zu unseren Verpflichtungen
im Koalitionsvertrag. Mit diesem Koalitionsvertrag haben wir ein gutes Beispiel gegeben. Wir haben uns
bewegt. Die Volksparteien sind aus den Gräben herausgekommen. Das reicht aber nicht. Auch die gesellschaftlichen Gruppen, die Verbände, die Arbeitgeber und die
Gewerkschaften, müssen aus den Gräben heraus, genauso wie wir aus den Gräben herausgekommen sind.
Das Land braucht den offenen Dialog.
({31})
Das Land braucht auch die Bereitschaft, Eigeninteressen
hintanzustellen. Die Summierung von Lobbyinteressen
macht noch nicht das Gemeinwohlinteresse aus.
({32})
Wir werden und können uns nicht jeder Gruppe mit ihren Wünschen beugen. Jeder muss in diesem Dialog Verantwortung übernehmen. Niemand sollte sich auf die
Zuschauerrolle zurückziehen. Wir, SPD, CDU und CSU,
können den gesetzlichen Rahmen für mehr Arbeit und
Beschäftigung schaffen, aber andere müssen bereit sein,
ihn zu nutzen. Wir wollen Fortschritt für unser Land und
wir laden alle ein, diesen Weg mit uns zu gehen. Er wird
ein Erfolg für Deutschland.
({33})
Ich erteile Kollegen Gregor Gysi, Fraktion Die Linke,
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Die Geiselnahme verbietet jede Polemik. Wir alle haben von diesem schrecklichen Ereignis gestern erfahren. Wir
drücken unsere Hoffnung aus, dass es Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, und der gesamten Regierung gelingt, wenigstens das Leben dieser beiden zu retten, nachdem im
Irak schon so viele sinnlos getötet worden sind. Es wäre
ungeheuer wichtig, das Leben unserer Mitbürgerin und
ihres Kraftfahrers zu retten.
({0})
Aber natürlich lohnt es sich in diesem Zusammenhang - nicht nur in diesem, sondern auch in jedem anderen -, über Außenpolitik zu streiten, weil es unterschiedliche Ansätze in unserer Gesellschaft gibt. Wir stehen
vor der Tatsache, dass die Bundesregierung ihr Verhältnis zum Völkerrecht und zum Krieg klären muss.
({1})
Es ist von den USA - nicht nur von den USA, auch in
unserem Land - immer wieder erklärt worden, man
müsse einen Krieg gegen den Terror führen. Ich habe
festgestellt: Der Krieg, der da geführt wird, egal wo,
führt nicht zu weniger Terror, sondern zu mehr Terror.
Wir müssen raus aus dieser Spirale der gegenseitigen
Gewalt.
({2})
Das Verhältnis der Regierung Schröder/Fischer war
diesbezüglich nicht bestimmt, nicht klar. Sie hat das Völkerrecht beim Jugoslawienkrieg verletzt. Sie hat dann
beim Irakkrieg auf dem Völkerrecht bestanden. Deshalb
sage ich: Wir brauchen hier ein klares Verhältnis. Das
muss ein Ja zum Völkerrecht sein;
({3})
denn nur das Völkerrecht kann die Macht der USA in gewissen Grenzen beschneiden, kann die USA einschränken.
Wir haben noch einen zweiten Kampf der USA. Wir
haben eine Weltwirtschaft. Also gibt es auch eine Weltpolitik. Die Frage ist: Wer macht Weltpolitik, die UNO
oder die USA? Das ist die Auseinandersetzung, die gegenwärtig geführt wird. Dazu sage ich: Unsere Regierung - Sie, Frau Bundeskanzlerin - muss sich für die
Geltung des Völkerrechts einsetzen. Das bedeutet dann
aber auch, dass man in schwierigen Situationen, wie damals in Jugoslawien, zum Bruch des Völkerrechts Nein
sagt.
({4})
Die USA negieren das Völkerrecht, wie wir das beim
Irakkrieg erlebt haben. Sie haben noch eine andere
Schwierigkeit: Das ist ihr eigenes inneres Recht. Das
kann auch Präsident Bush nicht so schnell ändern; denn
es ist über Jahrzehnte entstanden und gewachsen. Die
Gefangenenlager, die sie auf Guantanamo, in Kuba und,
wie wir jetzt erfahren, auch in anderen Ländern eingerichtet haben, dienen dem Zweck, ihr eigenes Recht gegenüber den Gefangenen nicht gelten zu lassen. Das ist
dreist!
({5})
Dass, wie man jetzt hört, auch deutsche Flughäfen zu
diesem Zweck missbraucht worden sind, ist ein starkes
Stück. Entschuldigen Sie, dass ich meine Zweifel habe,
wenn die Regierung sagt, sie habe davon nichts gewusst.
Bei der hohen Sicherheit auf unseren Flughäfen kann ich
mir nicht vorstellen, wie so etwas heimlich funktionieren
soll, sodass eine Regierung davon nichts erfährt. Aufklärung ist dringend geboten.
({6})
Ich habe gesagt, dass das Völkerrecht auch dazu
dient, die Macht der Stärksten zu begrenzen. Wenn das
so ist, brauchen wir in dieser Situation gegenüber Präsident Bush starke, klare und deutliche Worte statt Zurückhaltung.
({7})
Nun haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, zusammen mit
Herrn Müntefering einen Koalitionsvertrag vorgelegt.
Ich glaube, es wird leider eine große Koalition zur Verschärfung statt zur Lösung ökonomischer, arbeitsmarktpolitischer, sozialer und kultureller Probleme in unserer
Gesellschaft. Verschärft setzen Sie den falschen Kurs der
SPD/Grünen-Regierung fort.
({8})
Sie, Herr Struck, haben eben davon gesprochen, dass es
eine erfolgreiche ökonomische Politik gegeben habe.
Aber 5 Millionen Arbeitslose sind der Beweis dafür,
dass die Politik nicht erfolgreich war.
({9})
Im Mittelpunkt Ihres Koalitionsvertrages steht die
Haushaltskonsolidierung, mit der Sie allerdings erst
2007 anfangen wollen, weil Sie hoffen, dass 2006 irgendein Aufschwung kommt, der Ihnen nutzen könnte.
Ich glaube, solche Tricks funktionieren im Privatleben
nicht und sie funktionieren auch in der Politik und der
Gesellschaft nicht.
Sie wollen wieder Einsparungen im sozialen und im
investiven Bereich vornehmen. Damit sparen Sie die Gesellschaft kaputt.
({10})
Sie haben zu Recht, Frau Bundeskanzlerin, auf die
Chancen durch den Zusammenbruch der Sowjetunion
und des Staatssozialismus hingewiesen. Damit waren
Chancen verbunden; das stimmt. Aber wir können doch
nicht leugnen, dass es Vertreterinnen und Vertreter des
Kapitals gibt, die seitdem denken, der Sozialstaatskompromiss sei vorbei und sie könnten schrittweise zurück zum Turbokapitalismus. Dagegen muss sich die
Politik doch wehren. Selbst die Union hätte, wie ich
meine, sagen müssen: Das Primat der Politik auch über
Wirtschaftsinteressen ist und bleibt uns wichtiger. - Erst
recht hätte das die Sozialdemokratie sagen müssen. Aber
Sie haben es nicht gesagt.
({11})
Welchen Weg ist die vorherige Regierung gegangen? Sie haben die Körperschaftsteuer von 42 Prozent
auf 25 Prozent gesenkt. Die Kapitalgesellschaften haben
sich wie verrückt gefreut. Natürlich fehlten Milliarden
im Haushalt der Bundesrepublik Deutschland. Die drittgrößte Einnahmequelle Deutschlands haben Sie so geschröpft, dass noch zwei Jahre ausgezahlt werden
musste. - Das ist übrigens damals auch von der Union
kritisiert worden. - Erst danach waren allmählich wieder
Einnahmen zu verzeichnen, aber viel schwächer als vorher.
Sie haben die Veräußerungsgewinnsteuer abgeschafft.
„Veräußerungsgewinnsteuer“ klingt kompliziert. Wenn
eine Kapitalgesellschaft etwas verkauft, erzielt sie einen
Kaufpreis. Auf dieses Geld muss sie eine Steuer bezahlen - bzw. musste sie unter Kohl. Die SPD hat diese
Steuer völlig abgeschafft und dafür die Steuern bei den
Handwerkern verdoppelt. Das war ihre ökonomische Politik.
Sie haben den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer - ich bitte Sie! - von 53 Prozent auf 42 Prozent,
also um 11 Prozentpunkte, gesenkt, so stark wie noch nie
in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das
sind übrigens 11 Milliarden Euro Einnahmen weniger
pro Jahr. Das ist eine ganze Menge, die man da so einfach an die Besser- und Bestverdienenden weggibt. Und
was machen Sie dann? Dann stellen Sie sich vor die
Kranken, Alten und Arbeitslosen hin und sagen: Es tut
uns furchtbar Leid, aber wir haben kein Geld und müssen bei euch sparen. - Das ist unredlich, unfair und nicht
solidarisch.
({12})
Auch die Reallöhne sind in Ihrer Regierungszeit gesunken; das muss man ebenfalls sehen.
Diese Politik will die neue Regierung nun fortsetzen.
Ich weiß, dass auch die FDP Anhänger dieser Politik ist,
sogar noch konsequenter als die Regierung. Aber ich
glaube, das Ganze geht in eine völlig falsche Richtung.
Wir setzen etwas anderes dagegen: Nur steigende Reallöhne, nur mehr soziale Gerechtigkeit führen auch zu einer wirtschaftlichen Belebung; denn unsere Binnennachfrage ist eine Katastrophe und muss gestärkt werden.
Dass wir Exportweltmeister sind, nutzt den Arbeitslosen
gar nichts.
({13})
Sie haben gesagt, Sie wollen eine Unternehmensteuerreform machen; wir erfahren aber erst 2007, welche.
Da darf man ja sehr gespannt sein. Mal sehen, ob Sie die
Gewinne, die im Unternehmen bleiben, anders behandeln als die, die herausgenommen werden. Es gäbe da
viele Möglichkeiten, was man verbessern könnte. Wir
werden es abwarten.
Wir begrüßen Ihre neuen Abschreibungsvorstellungen. Sie enthalten etwas Positives.
({14})
- Wir können durchaus lesen. - Ich sage Ihnen aber
auch, dass Sie nicht den Mut haben, auch nur von einem
Konzern in Deutschland 1 Euro mehr Steuern zu verlangen. Das zeigt das klägliche Verhalten der Politik gegenüber der Wirtschaft. Das ist nicht hinnehmbar. So kommen wir mit dieser Bundesrepublik nicht weiter.
({15})
Es wird immer behauptet, wir hätten die höchsten
Quoten. Ich habe mir einmal die Zahlen angesehen. Die
Steuerquote im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt beträgt 20 Prozent. Damit liegen wir als eines der wirtschaftlich stärksten Länder auf dem vorletzten Platz in
Europa. Geringere Steuern hat nur noch die Slowakei.
Dann wird gesagt, man müsse auch die Lohnnebenkosten sehen. Also haben wir sie addiert und landen bei
34,6 Prozent. Damit liegen wir, Frau Bundeskanzlerin,
auf Platz 16 nach Griechenland, nach Spanien und nach
Großbritannien. Das ist doch ein Skandal. So können wir
unsere Probleme nicht lösen.
({16})
Solidarität erfordert auch, dass die mit mehr Eigentum
und mehr Vermögen mehr leisten als andere.
({17})
Ich komme zur Vermögensteuer. In Deutschland
werden Steuern in Höhe von 0,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf das Vermögen gezahlt. Wissen Sie,
was die „Financial Times Deutschland“ geschrieben hat,
welche Länder weniger von ihren Reichen verlangen? Mexiko, Tschechien, Slowakei und Österreich. Für mich
sind das keine Vorbilder.
({18})
Andere Länder, selbst die USA, verlangen deutlich mehr
von ihren Eigentümerinnen und Eigentümern als wir.
Hätten wir die Eigentums- und die Vermögensteuern der
USA, hätten wir Mehreinnahmen in Höhe von 50 Milliarden Euro im Jahr. Damit könnte man eine ganze
Menge anfangen.
({19})
Wie sehen also Ihre Lösungsvorschläge aus? Sie sagen, ab 1. Januar 2007 soll die Mehrwertsteuer um
3 Prozentpunkte erhöht werden. Alle wissen, das belastet die unteren sozialen Schichten und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer viel mehr als andere Schichten. Das ist ökonomisch eine riesige Katastrophe. Ich
könnte jetzt alle Argumente der SPD aus dem Wahlkampf wiederholen. Dies war doch Ihr zentrales Wahlkampfthema. Jeder kennt das Plakat, mit dem Sie gegen
die „Merkelsteuer“ polemisiert haben.
In Bezug auf den gefundenen Kompromiss hat Herr
Westerwelle völlig Recht. Ich dachte in meiner Naivität,
dass Sie sich in der Mitte, also auf eine Erhöhung um
1 Prozentpunkt, verständigen würden. Nein, Sie erhöhen
die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte. Heute sagen
Sie sogar, es sei erforderlich und völlig unmöglich, etwas anderes zu tun. Dann sollten Sie wenigstens sagen,
dass Sie im Wahlkampf gelogen haben. Denn das ist
wirklich ein Wahlbetrug.
({20})
Ich habe mir das einmal angesehen: Wenn wir die
Steuerquote und die Lohnnebenkostenquote von Frankreich hätten - dort sind es 10 Prozent mehr als bei uns -,
dann hätten wir jährlich Mehreinnahmen in Höhe von
220 Milliarden Euro. Ich bitte Sie, eine Sekunde darüber
nachzudenken, dass wir über Nullrunden bei Rente, über
Kürzungen bei Arbeitslosen und über Zuzahlungen bei
Kranken gar nicht diskutieren müssten, wenn wir diese
Art von Steuergerechtigkeit in Deutschland einführten.
({21})
Lassen Sie mich auch etwas zur Arbeitsmarktpolitik
sagen. Wir fanden von Anfang an den Weg bezüglich
Arbeitslosengeld II und Hartz IV im Kern, abgesehen
von ein paar Einzelumständen, für falsch. Wir haben immer gesagt, dass die dahinter stehenden Ideen falsch
sind.
Ich werde von meinem Beispiel nicht abrücken. Ein
Ingenieur, der 50 Jahre alt ist und der 25 Jahre in seinem
Beruf gearbeitet hat, bekommt ein Jahr lang Arbeitslosengeld I, das nach seinem Einkommen berechnet
wird. Nach diesem Jahr bekommt er nur noch einen lächerlichen Betrag in Höhe des Arbeitslosengeldes II.
Aber nicht nur das! Der Gesetzgeber verlangt auch noch,
dass sein Sparvermögen, seine Altersversorgung, seine
Wohnung und sein Auto nur das Niveau wie bei einem
Sozialhilfeempfänger haben dürfen. Wenn er darüber
liegt, weil er sich den Lebensstandard eines Ingenieurs
aufgebaut hat, bekommt er gar nichts. Das darf man Armut per Gesetz nennen. In einer so reichen Gesellschaft
wie der unseren ist das nicht hinnehmbar.
({22})
Gerhard Schröder hat in einem Punkt Recht gehabt.
Er hat im Wahlkampf gesagt, dass gerade die Jungen
besser gestellt sind. Das stimmte auch. Die Jungen waren besser gestellt. Aber was vereinbaren Sie jetzt miteinander? Sie vereinbaren, die Besserstellung der Jungen
wieder zurückzunehmen, indem Sie sagen, dass es keinen Anspruch bis zum 25. Lebensjahr gibt. Ich möchte,
dass wir über folgenden Widerspruch nachdenken. Das
Grundgesetz regelt die Volljährigkeit. Im Strafrecht ist
festgelegt, ab wann man voll strafmündig ist. Das Zivilrecht regelt, ab wann man zivilrechtlich voll belangt
werden kann. Dem 24-Jährigen wird also gesagt, dass er
voll verantwortlich ist. Aber wenn er arbeitslos wird, soll
er zu Mami und Papi gehen, weil er für Sie sozusagen
noch minderjährig ist und Sie für seinen Lebensunterhalt
nicht aufkommen wollen. Das ist nicht hinnehmbar. Das
ist ein Widerspruch in sich.
({23})
Nun haben Sie gesagt, sie wollten beim Arbeitslosengeld II und den übrigen Kosten noch einmal 4 Milliarden
Euro einsparen. Folgendes ist ja interessant: Sie haben
- das weiß kaum jemand - durch die Bundesagentur für
Arbeit eine Art Subventionierung des Bundeshaushalts
festgelegt. Sie haben nämlich gesagt: Für all diejenigen,
die in dem einen Jahr, in dem sie Arbeitslosengeld I beziehen, nicht vermittelt werden - das sind die meisten -,
muss die Bundesagentur 10 000 Euro an den Bund zahlen. Damit kommt er auf eine Einnahme von über
5 Milliarden Euro. Jetzt habe ich gedacht: Da kürzen Sie
irgendetwas. Nein, da kürzen Sie natürlich nicht. Auf
diese Einnahme bestehen Sie.
Aber Sie wollen 4 Milliarden einsparen. Das geht
wieder zulasten der Arbeitslosen, zulasten einer, wie ich
meine, völlig falschen Gruppe. Deutlich über 90 Prozent
unserer Arbeitslosen wollen arbeiten. Dass es einzelne
Ausnahmen gibt, braucht mir niemand zu erzählen; das
weiß auch ich. Das ist aber nicht unser gesellschaftliches
Problem. Unser gesellschaftliches Problem sind diejenigen, die Erwerbsarbeit - auch zur Wahrung ihrer
Würde - wollen und keine reale Chance dazu haben. Daran muss sich etwas ändern.
({24})
Jetzt haben Sie noch festgelegt, dass der Rentenbeitrag, der für die Arbeitslosen gezahlt wird, gesenkt wird.
Es ist völlig klar: Dann bekommen diese nur Minirenten
und wir haben später das Problem der Altersarmut. Das
hilft uns doch nicht weiter. Wir verlagern hier ein Problem auf die nächste Generation.
Die Rentnerinnen und Rentner sollen jetzt vier
Nullrunden durchmachen. Zwei Nullrunden haben sie
schon hinter sich. Es gab sogar erstmalig eine Bruttorentenkürzung und dann eine Nettorentenkürzung durch
Beitragserhöhungen. Nullrunden bei Mehrwertsteuererhöhungen und anderen Kostensteigerungen sind natürlich in Wirklichkeit Nettorentenkürzungen - und das
sechs Jahre lang; das muss man sich einmal überlegen.
Dass Sie in einer Gesellschaft, die so reich ist, in den
letzten Jahren ihren großen Konzernen sowie den Besser- und Bestverdienenden alle möglichen Geschenke
machen konnten, bei den Rentnerinnen und Rentnern
aber sagen: „Wir haben kein Geld“, ist nicht hinnehmbar.
({25})
Es soll ja noch die Rentenformel verändert werden
und dann wollen Sie das Renteneintrittsalter anheben.
Sie wollen das langfristig tun. Sie betonen immer, dass
die Menschen älter werden. Das stimmt; den demographischen Faktor sehen auch wir. Warum erwähnen Sie
aber nicht einmal, wie sehr die Produktivität gestiegen
ist? Daimler-Benz brauchte vor 20 Jahren für einen bestimmten Produktionsgang vier Arbeitskräfte; heute
wird dafür nur noch eine Arbeitskraft benötigt. Das
heißt, wenn damals vier Arbeitskräfte vier Rentner mit
ernähren konnten, müsste das heute angesichts der Produktivitätsentwicklung einer können. Aber die Lohnentwicklung und anderes haben damit nicht Schritt gehalten. Das ist das Problem, mit dem wir es zu tun haben.
({26})
Wir sind die einzige große Industriegesellschaft mit
einem Rückgang der Reallöhne um 0,9 Prozent in den
letzten Jahren. Ich bitte Sie: Selbst in den USA haben die
Reallöhne um 15 Prozent zugenommen. In Großbritannien und in Skandinavien sind sie um über 20 Prozent
gestiegen. In anderen Ländern - sie mögen sich ansonsten sehr voneinander unterscheiden - gibt es eine völlig
andere Entwicklung als in Deutschland. Sie behaupten
aber im Ernst, Sie hätten als Einzige Recht und gingen
den wahren Weg.
Ich sage Ihnen: Dieser Weg ist auch ökonomisch eine
Katastrophe. Ohne eine höhere Kaufkraft und mehr Zuversicht der Bevölkerung wird es keine Rettung für
kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland geben.
Wir werden vielmehr weiter höchste Insolvenzzahlen
haben.
({27})
Nun gibt es ja seit ewigen Zeiten den Streit zwischen
Angebot und Nachfrage. Der Linken wird immer vorgeworfen, sie denke nur an die Nachfrage, und wir werfen den Konservativen immer vor, sie würden nur an das
Angebot denken. Es hilft nichts: Man muss einfach beides sehen.
({28})
- Nur, Herr Benneter, Ihre liebe Regierung hat über sieben Jahre ausschließlich die Angebotsseite behandelt,
statt einmal auch die Nachfrage zu erhöhen, wie es übrigens auch im Interesse der kleinen und mittleren Unternehmen dringend erforderlich gewesen wäre.
({29})
Deshalb sage ich Ihnen: Sie werden sich um die
Nachfrageseite in Deutschland kümmern müssen, wenn
Sie die Wirtschaft stärken und mehr soziale Gerechtigkeit schaffen wollen. Wir machen das nicht aus rein
ideologischen Gründen. Wir denken dabei auch ökonomisch; aber wir wollen natürlich - das ist unser Ziel als
demokratische Sozialistinnen und Sozialisten -, dass es
den Menschen in dieser Gesellschaft besser geht. Man
sollte nicht einerseits Wasser predigen und andererseits
Wein trinken. Wir haben gesagt: Wir predigen wenigstens auch Wein.
({30})
Das ist der Unterschied. Wir wollen, dass es den Leuten
besser geht. Sie wollen das für viele nicht mehr erreichen. Das ist nicht hinnehmbar.
({31})
Frau Bundeskanzlerin, Sie sind eine Frau.
({32})
- Das ist erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland; das wird man doch wohl mal erwähnen
dürfen. - Ich hätte mir von Ihnen zwei, drei lohnende
Sätze zur Gleichstellungspolitik in dieser Gesellschaft
gewünscht.
({33})
Ich habe nichts dazu gehört; das finde ich schade.
Sie kommen aus Ostdeutschland. Da hätte ich mir
gewünscht, dass Sie das Ziel der Angleichung der
Lebensverhältnisse Ost und West zumindest nicht aufgeben. Das steht aber kein einziges Mal im Koalitionsvertrag und Sie haben es auch kein einziges Mal geäußert. Wenn Sie schon nicht sagen können, wann in Ost
und West gleicher Lohn für gleiche Arbeit bezogen wird,
dann geben Sie doch nicht auch noch das Ziel auf.
({34})
Wir erwarten von Ihnen zumindest einen Fahrplan, in
dem Sie sagen, in welchen Schritten Sie dieses Ziel erreichen wollen. Alle Verteuerungen, zum Beispiel die
Erhöhung der Mehrwertsteuer, werden sich im Osten
noch verheerender auswirken als im Westen. Das kennen
wir von früher. Deshalb muss man darauf hinweisen.
Ich glaube auch, dass wir Investitionen brauchen. Sie
sprechen gerne vom Zukunftsfonds. Ich sage Ihnen nur:
Eine Schummelei geht nicht. Sie können nicht immer
mit Jahresbeträgen operieren, aber, wenn es um den Zukunftsfonds geht, von dem Vierjahresbetrag reden. Es
geht um 6 Milliarden Euro pro Jahr; das muss man hinzufügen. Dies ist zumeist Geld, das auch sonst ausgegeben worden wäre, mag es auch vernünftige Investitionen
darunter geben. Wenn Sie aber in die Verkehrsinfrastruktur investieren wollen, können Sie nicht gleichzeitig die
Zuschläge für Bus und Bahn reduzieren. Damit würden
Sie nämlich Ihrem eigenen Programm einen Schlag ins
Gesicht versetzen.
({35})
Frau
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
- ein letzter Satz -, Sie sind wohl für längere Zeit einmalig in Ihrem Amt, sowohl als Frau als auch als Ostdeutsche. Das werden wir nach Ihnen so schnell nicht
wieder erleben. Irgendwann müssen Sie aber aufhören,
entweder freiwillig oder weil Sie müssen.
({0})
Sie sollten sich überlegen, dass es doch dann schön
wäre, sagen zu können: Die Gesellschaft ist friedlicher
geworden. Die Gleichstellung der Geschlechter ist vorangekommen. Die soziale Gerechtigkeit hat zugenommen. Die Angleichung von Ost an West hat zugenommen. - Wenn Sie all das sagen wollen, müssten Sie
allerdings von Ihrem Koalitionsvertrag abgehen und Ihre
heutige Regierungserklärung weitgehend vergessen. Da
Sie dies wahrscheinlich nicht tun werden, befürchte ich
das Gegenteil.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegen Volker Kauder, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Unser Land hat wieder eine handlungsfähige
Regierung - das ist eine gute Nachricht für unser Land
und für die Menschen ({0})
und Angela Merkel hat als erste Bundeskanzlerin der
Bundesrepublik Deutschland das Steuer übernommen.
Darüber freuen wir uns als Union ganz besonders.
({1})
Ich gratuliere allen Mitgliedern der Bundesregierung
und unserer Bundeskanzlerin. Ich wünsche Ihnen, Frau
Bundeskanzlerin, viel Erfolg und für Ihre Arbeit Gottes
Segen.
({2})
Die Herausforderungen, vor denen unser Land steht,
sind groß. Die Menschen wissen das. Massenarbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, demographischer Wandel,
das fortschreitende Zusammenwachsen der globalen
Wirtschaft und die neue Konkurrenz durch dynamisch
wachsende und erfolgshungrige Volkswirtschaften in
Ostasien haben erhebliche Auswirkungen auf unser
Land. Wer sich auf den Erfolgen der Vergangenheit ausruhen will, wird sich gegenüber diesen Entwicklungen
nicht behaupten können. Wir hingegen gestalten als Regierungskoalition das Heute, um das Morgen zu gewinnen.
({3})
Bevölkerungsrückgang und Überalterung sind Herausforderungen für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
Wenn unsere Systeme der sozialen Sicherung sowohl
heute lebenden als auch zukünftigen Generationen eine
stabile Perspektive bieten sollen, dann müssen wir jetzt
die Weichen richtig stellen.
Noch dramatischer stellt sich die Situation der öffentlichen Haushalte dar. Wir spüren, dass die gewaltige
Staatsverschuldung der Politik fast den Atem nimmt. Sie
beschränkt die Handlungs- und Freiheitsräume kommender Generationen. Ein finanzpolitisches „Weiter so!“
wäre ein Verrat an der Zukunft unserer Kinder und
Enkelkinder. Die Sanierung unserer Staatsfinanzen wird
deshalb vordringliche Aufgabe der neuen Regierung
sein. Dies ist im Koalitionsvertrag auch ganz klar und
deutlich geregelt.
Diese Ausgangslage zeigt die schwierige Aufgabe,
die vor uns liegt. Aber wir glauben an dieses Land und
seine Zukunft. Deutschland hat gute Grundlagen: innovative Unternehmen, eine bedeutende Forschungslandschaft. Das größte Potenzial unseres Landes aber sind
die Menschen, gerade die jungen Menschen. Sie müssen
durch die Politik dieser Regierung wieder Zukunftsperspektiven erhalten und Zuversicht schöpfen können.
({4})
Manchmal erinnert mich Deutschland an den gefesselten Riesen Gulliver, kraftstrotzend und doch bewegungsunfähig. Wir wollen in dieser Regierungskoalition
einen Beitrag dazu leisten, Gulliver zu entfesseln und die
in unserem Land steckenden Möglichkeiten zur Entfaltung zu bringen. Wir werden unseren Bürgerinnen und
Bürgern neue Chancen eröffnen. Deutschland kann
mehr - diese Regierung wird dazu einen Beitrag leisten.
({5})
Viele Menschen machen sich wegen der schwierigen
Lage unseres Landes Sorgen - das kann ich gut verstehen. Was Angela Merkel aber heute als Regierungsprogramm vorgestellt hat, vermittelt Zuversicht, Optimismus, Zukunft. Mit Mut und Menschlichkeit stellt sich
diese Regierung den Herausforderungen unserer Zeit.
({6})
Wir haben alle Chancen. Wir können immer noch aus
eigener Kraft die in unserem Land angelegten Möglichkeiten entfalten, um Wohlstand und Freiheit auch in Zukunft zu sichern und den Menschen wieder eine Perspektive zu geben.
Auch wenn es sich bei der großen Koalition um ein
Bündnis auf Zeit handelt, geht es uns nicht um eine Politik für den Augenblick. Wenn wir Seifenblase auf Seifenblase aufsteigen ließen, um den Launen der Demoskopie und den Partikularinteressen der Lobbyisten zu
gefallen, könnte dies einen Unterhaltungseffekt haben;
den Erwartungen unserer Bürgerinnen und Bürger würden wir damit nicht gerecht werden. Verantwortliche
Politik heißt, auch über den Tag - über diese Legislaturperiode - hinauszuschauen. Dazu sind wir in dieser großen Koalition bereit.
({7})
Ein Beispiel für diese Politik über den Augenblick hinaus ist die Reform unserer bundesstaatlichen Ordnung. Die Bundeskanzlerin hat es in ihrer Regierungserklärung klar und deutlich gesagt: Wir werden das
föderale System erneuern und die Kompetenzen von
Bund und Ländern entflechten, klare Verantwortlichkeiten festlegen und das Prinzip der Subsidiarität stärken.
Ein weiteres Beispiel ist die Gesundheitspolitik.
Union und SPD sind mit unterschiedlichen Konzepten
angetreten. Aber beide Seiten eint die Überzeugung,
dass unser Gesundheitssystem wieder auf eine tragfähige Basis gestellt werden muss. Deswegen, Herr Kollege Westerwelle, haben wir gerade nicht den kleinsten
gemeinsamen Nenner gesucht, was auch möglich gewesen wäre. Vielmehr wollen wir in den nächsten Wochen
und Monaten eine zukunftsfähige Lösung finden.
({8})
Wenn ich an manche Arbeit der vergangenen Regierung denke - das will ich als einzigen Hinweis geben -,
dann muss ich sagen: Sich ein bisschen mehr Zeit zu lassen ist besser, als Schnellschüsse zu machen, die man
hinterher nachbessern muss.
({9})
Die Gesundheitspolitik ist aber auch, Herr Kollege
Struck, ein Beispiel dafür - wir wollen sie ja zur Führungsaufgabe machen, was richtig ist -, dass wir es noch
lernen müssen, zunächst intern miteinander zu reden, bevor wir öffentlich Vorschläge machen.
({10})
Wir wollen den Erfolg der Bundesregierung unter
Führung von Angela Merkel. Peter Struck und ich werden dazu, zusammen mit unseren Fraktionen im Deutschen Bundestag, den Beitrag leisten, der notwendig ist.
({11})
Die Verhandlungen der letzten Wochen haben gezeigt,
dass es trotz politischer Gegnerschaft möglich gewesen
ist, für eine Wahlperiode ein Regierungsprogramm aufzustellen. Nach einem harten Wahlkampf ist uns das allen am Anfang nicht leicht gefallen. Aber die Erkenntnis, dass Menschen und Land vor der Parteipolitik
rangieren, hat zu diesem Regierungsbündnis geführt.
Damit bekennen sich Union und SPD zu ihrer staatspolitischen Verantwortung.
Natürlich ist in den letzten Wochen das Verständnis
füreinander gewachsen. Das menschlich gute Klima der
Verhandlungen ist entscheidende Vertrauensbasis für
diese Regierung.
({12})
Aber es gibt nach wie vor Unterschiede zwischen Union
und SPD.
({13})
Bei aller guten Zusammenarbeit: Wir bleiben unterschiedliche Parteien und wir bleiben unterschiedliche
Fraktionen.
({14})
Die Parteien dieser Koalition haben mit unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Vorstellungen um den
Gestaltungsauftrag für unser Land geworben. Trotz konkreter Einigungen und trotz der Koalitionsvereinbarung,
die wir getroffen haben, haben wir aber unsere bleibenden Überzeugungen.
({15})
Leitbild der Union ist das christliche Menschenbild.
Es ist geprägt durch unverfügbare personale Würde,
Freiheitsbegabung, Unvollkommenheit und den Bezug
zu einer Gemeinschaft, in der sich das Leben des Einzelnen verwirklicht. Einen bevormundenden Staat, der den
Menschen gängelt, seine Entfaltungsräume einengt und
in alle Lebensbereiche regelnd eingreift, lehnen wir ab.
({16})
Aus der Unvollkommenheit und Gemeinschaftsbezogenheit des Einzelnen erwächst für uns wiederum die
Pflicht, denen zu helfen, die es schwerer im Leben haben. Wir werden die Schwachen nicht allein lassen, sondern ihnen Lebenschancen eröffnen. Das ist unser Verständnis von Solidarität.
({17})
Jeder ist aber auch gefordert, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Wir wollen die Menschen zu
Freiheit und Eigenverantwortung ermutigen. Verantwortung für sich und Verantwortung für andere müssen unsere Gesellschaft prägen. Das verlangt von uns allen,
nicht nur an die Maximierung des eigenen Vorteils zu
denken, sondern auch das Wohl der Allgemeinheit im
Blick zu haben.
Um eine solche Haltung zu fördern, brauchen wir eine
Bildung, die sich nicht verkürzt als Berufsbildung versteht. Im Begriff Bildung steckt das Wort Bild. Damit ist
das Menschenbild gemeint, an dem sich alle pädagogischen Anstrengungen orientieren müssen. In einer Zeit
zunehmender Beliebigkeit und moralischer Orientierungslosigkeit werden sich CDU und CSU für ein Bildungssystem einsetzen, das auf dem Bild einer verantwortlichen
Persönlichkeit beruht und einen Wertekompass vermittelt.
({18})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit ist das zentrale
und größte Anliegen der großen Koalition. Daran werden wir gemessen. Massenarbeitslosigkeit steht ebenso
für die gesellschaftliche Ausgrenzung des Einzelnen und
seiner Familie wie für die Erosion der Finanz- und Sozialsysteme. Das gilt für ganz Deutschland. Das gilt insbesondere aber auch für die Menschen in den neuen Ländern. Deshalb hat der weitere Aufbau Ost für uns eine
ganz besondere Bedeutung und ist in der Koalitionsvereinbarung zentral benannt.
({19})
Vorfahrt für Arbeit, Vorfahrt für Rahmenbedingungen, die wirtschaftlichen Aufbruch möglich machen
und die Produktivkräfte unseres Landes entfalten, das
hat die Union vor der Wahl versprochen und das werden
wir jetzt in der großen Koalition umsetzen. Wir begrüßen deshalb ganz besonders die getroffenen Vereinbarungen zur Entlastung des Mittelstandes und zum Abbau
bürokratischer Fesseln, die Neuregelung des Kündigungsschutzes und die Vereinbarung zur Verbesserung
der Abschreibungsbedingungen vor allem für die mittelständische Wirtschaft. Das alles sind richtige und notwendige Entscheidungen. Ich verhehle nicht, dass wir
uns an diesem Punkt - auch die Frau Bundeskanzlerin
hat es angesprochen - noch etwas mehr hätten vorstellen
können.
Vor allem die Absenkung des Beitragssatzes zur
Arbeitslosenversicherung um zwei volle Prozentpunkte leistet einen wichtigen Beitrag zur Senkung der
Lohnzusatzkosten. Wir werden das Ziel, das sich schon
viele vorgenommen haben, erreichen, nämlich dass wir
bei den Lohnzusatzkosten unter 40 Prozent kommen.
Das ist ein Erfolg, den diese Regierung zu verbuchen haben wird.
({20})
Die Politik kann nur Rahmenbedingungen schaffen,
um den wirtschaftlichen Aufbruch möglich zu machen,
müssen auch andere mithelfen. Ich sage ganz deutlich:
Gefordert ist jetzt auch die Wirtschaft. Sie muss die
neuen Spielräume nutzen und stärker investieren. Aber
auch die Gewerkschaften haben eine Verantwortung, dabei zu helfen, dass wir in unserem Land vorankommen.
Grundlage verantwortlicher Politik sind geordnete
Staatsfinanzen. Die Lage der öffentlichen Haushalte ist
dramatisch. Die Personal- und Zinsausgaben, die Sozialausgaben des Bundes übersteigen in diesem Jahr voraussichtlich die Steuereinnahmen. Wir zahlen also die Zinsen mit neuen Schulden. So darf es nicht weitergehen.
Wir können zukünftigen Generationen keine unzumutbaren Belastungen aufbürden und wir dürfen nicht zulassen, dass die Zukunftsperspektiven der zukünftigen Generationen und der jungen Menschen immer mehr
verbaut werden.
({21})
Wir haben deshalb vereinbart - dies kann man nicht
oft genug sagen -, entschlossen zu sparen und vor allem
auch gleichermaßen entschlossen Subventionen abzubauen. Diese Maßnahmen sind für eine nachhaltige Gesundung des Bundeshaushalts unabdingbar.
Nachhaltigkeit im Sinne einer Stärkung der Chancen
junger Generationen spielt sich vor allem im Bereich der
Konsolidierung der öffentlichen Haushalte ab, meine
sehr verehrten Damen und Herren.
({22})
Wir stehen deshalb fest hinter dem Programm der Bundesregierung, bis zum Jahr 2007 die Haushaltskonsolidierung durchzusetzen. Mit diesen Anstrengungen werden wir 2007 wieder einen verfassungskonformen
Haushalt erreichen und auch das Defizitkriterium von
Maastricht einhalten. Dies erreichen wir leider nicht allein durch Einsparungen. Das wurde allen Beteiligten in
den Koalitionsverhandlungen schnell klar. Aber wir verfolgen ein Ziel, das allen nützt. Wir leisten damit ein
Stück Zukunftssicherung im Interesse der Menschen in
unserem Land, insbesondere im Interesse der nachwachsenden, jungen Generationen.
Die Zukunft unseres Landes, gerade seine wirtschaftliche Zukunft, liegt in den Köpfen unserer Menschen.
Nur an der Spitze des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts wird unser rohstoffarmes Land seine
Zukunftschancen wahren können. Die Neugier und den
Erfindergeist unserer Forscher dürfen wir nicht bürokratisch ersticken. Wir müssen Möglichkeitsräume schaffen, in denen sich wissenschaftliche Spitzenleistungen
entfalten können.
Vom Erfindungsreichtum und Forschergeist unserer
Spitzenwissenschaftler in Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen profitieren wir alle. Die
Koalition wird ein Klima schaffen, in dem Spitzenleistungen gedeihen können. Deshalb ist es gut, dass wir uns
darauf geeinigt haben, die Mittel für Forschung und Entwicklung deutlich anzuheben.
Aber es geht nicht nur um die Spitze. Als Unionsfraktion setzen wir uns auch für die Schaffung von Bedingungen ein, die gerade den Schwachen den Zugang zu
qualifizierter Bildung eröffnen. Bildung ist der Schlüssel zu sozialem Aufstieg, zu Wohlstand sowie zu gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe. Deshalb, meine
sehr verehrten Damen und Herren, darf es so nicht weitergehen wie in den letzten Jahren: dass der Bildungserfolg der Kinder immer mehr vom Bildungshintergrund
und der sozialen Situation ihrer Eltern abhängt. Das ist
ein sozialpolitisches Armutszeugnis und in gleichem
Maße eine Verschwendung von Ressourcen.
({23})
Soziale Gerechtigkeit hat viele Fassetten und viele
Ausprägungen. Eines ist für mich aber klar: Ein Land ist
nur dann wirklich sozial gerecht, wenn der Zugang zu
Bildung und sozialem Aufstieg tatsächlich auch Kindern
aus einfachen Verhältnissen ermöglicht wird.
({24})
Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, gilt in
besonderem Maße für ausländische Zuwanderer und
deren Kinder. Bildung eröffnet diesen Menschen Wege
aus der gesellschaftlichen Isolierung und ermöglicht Integration.
Die zum Teil schon vorhandenen Angebote, etwa im
Bereich der Ganztagsschule, müssen ausgebaut werden.
Das betrifft ganz besonders den frühen Erwerb von
Deutschkenntnissen. Wer die deutsche Sprache bei der
Einschulung nicht beherrscht, ist auf dem Weg zum Bildungsverlierer. Die Angebote, die wir machen, müssen
genutzt werden. Ich sage ganz deutlich: Es gibt auch
eine Verantwortung der Eltern für die Zukunft ihrer Kinder.
({25})
Integration ist keine Einbahnstraße.
({26})
Die Zukunft einer Gesellschaft liegt vor allem in ihren Kindern. In Deutschland aber werden zu wenige
Kinder geboren. Wir wollen die Menschen durch eine familienfreundliche Politik wieder ermutigen, ihren Kinderwunsch zu verwirklichen. Die Familie ist der zentrale
Ort, an dem heranwachsende junge Menschen Eigenverantwortung und Verantwortung für andere erlernen. Wir
werden uns für die Schaffung eines kinderfreundlichen
Klimas in unserem Land einsetzen, die Familien schützen und ihre Entfaltungsmöglichkeiten sichern.
Wir begreifen Deutschland als Zukunftsgemeinschaft.
Keimzelle und Grundlage dieser Zukunftsgemeinschaft
sind die Familien. Sie sind nach wie vor die wichtigste
Form des Zusammenlebens. Das Füreinandereinstehen
in den Familien ist Grundlage für die Solidarität der Zukunftsgemeinschaft.
({27})
Mit dem Koalitionsvertrag stellen wir in diesem Sinn die
richtigen Weichen. Deshalb werden wir daran mitwirken, ein qualitätsorientiertes und bedarfsgerechtes Bildungs- und Betreuungsangebot für Kinder aller Altersklassen zu schaffen. Um Familien besser als bisher zu
fördern, wollen wir die verschiedenen Leistungen in einer Familienkasse bündeln und damit für mehr Transparenz und Effizienz sorgen. Schließlich ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine unserer großen
Zukunftsaufgaben. Viele Unternehmer wissen, welche
Vorteile eine größere Familienfreundlichkeit bietet. Familien bringen Gewinn - auch unternehmerischen Gewinn. Ich fordere die Betriebe und Unternehmen deshalb
auf, Familienfreundlichkeit zu einem Markenzeichen der
deutschen Wirtschaft zu machen.
({28})
Meine Damen und Herren, Reformen im Innern sind
Teil unserer Arbeit für Europa; daran hat uns nicht zuletzt der Bundespräsident in den vergangenen Monaten
immer wieder erinnert. Sie sind auch die Voraussetzung
für das Überleben der sozialen Marktwirtschaft unter
den Bedingungen globaler Märkte. Der Markt ist kein
Selbstzweck - im Mittelpunkt allen Wirtschaftens steht
immer der Mensch. Der Mensch darf nicht zum Objekt
werden, aber angesichts der weltwirtschaftlichen Verflechtungen kann dieses Prinzip kein Staat mehr allein
garantieren. Daher müssen wir mit unseren internationalen Partnern eine weltwirtschaftliche Rahmenordnung
gestalten. Sie muss Freiheit und Eigentum schützen und
gleichzeitig den Menschen im Mittelpunkt halten. Auch
die globale Wirtschaft braucht moralische Maßstäbe und
klare Regeln. Wir werden Sie, Frau Bundeskanzlerin, bei
der Gestaltung dieser Aufgabe nach Kräften unterstützen.
({29})
Nach dem Scheitern der Verfassungsreferenden in
Frankreich und den Niederlanden müssen wir uns um
Europa kümmern - wir können nicht einfach weitermachen, als wäre nichts passiert. Schwärmerische Europaromantik hilft uns dabei aber nicht weiter: Es ist Zeit für
eine nüchterne Europapolitik. Wir müssen den Menschen
klipp und klar sagen, wohin die Reise geht und - das sage
ich auch ganz deutlich - wohin nicht. Wir dürfen nicht
länger so tun, als ließen sich permanente Erweiterung
und Vertiefung problemlos miteinander vereinbaren.
({30})
Die Menschen haben längst durchschaut, dass es im Gebälk knirscht. Aber der Verfassungsvertrag enthält viele
Ansätze, die in die richtige Richtung weisen; deshalb
werden wir auch weiter für ihn werben. Wir müssen die
Bürokratie in Europa abbauen, anstatt sie auszuweiten.
Deshalb begrüße ich, dass die Bundesregierung Richtlinien und Verordnungen eins zu eins umsetzen und nicht
wie in der Vergangenheit immer wieder draufsatteln
wird. So tragen wir dazu bei, dass sich Europa von der
Bürokratie ab- und den Menschen wieder zuwendet.
({31})
Zur Vertrauensbildung nach innen wie nach außen gehört auch, dass wir endlich wieder Wort halten beim europäischen Stabilitätspakt. Wir haben zugesagt, dass wir
die Stabilitätskriterien im Jahr 2007 wieder erfüllen
werden. Wir werden den Beitrag dazu leisten, dass sich
unsere Partner in der Europäischen Union auf dieses
Versprechen verlassen können; das wäre auch ein guter
Start in die deutsche Ratspräsidentschaft, die wir im ersten Halbjahr 2007 übernehmen.
Kollege Kauder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Seifert, Fraktion Die Linke.
Nein. - Wir stehen zu Europa, aber Europa ist für uns
keine bloße Freihandelszone, sondern immer auch eine
Wertegemeinschaft; davon werden wir uns bei allen anstehenden Erweiterungsverhandlungen auch leiten lassen.
({0})
Verlässlichkeit ist das wichtigste Kapital für unsere
außenpolitischen Beziehungen. Die beiden wichtigsten
Pfeiler unserer Außenpolitik sind die Einbindung in die
Europäische Union und die transatlantische Partnerschaft. Europa und die Vereinigten Staaten gehören
derselben Wertegemeinschaft an: Uns eint das Streben,
Freiheit, Demokratie und Menschenrechte weltweit zu
fördern, und gemeinsam verbunden sind wir auch in unserem Bekenntnis zur Freundschaft mit Israel. Für die
Wahrnehmung unserer außenpolitischen Interessen brauchen wir Europa und Amerika. In der Sicherheitspolitik,
in Bosnien und Afghanistan, im Nahen Osten und bei
der Bekämpfung terroristischer Bedrohungen, beim Klimaschutz, zur Sicherung der Energieversorgung und der
Außenwirtschaft und bei den WTO-Verhandlungen ohne Partner kann Deutschland seine weltpolitischen Interessen nicht durchsetzen. Wir, die Unionsfraktion, stehen für verlässliche und stabile Beziehungen zu unseren
Partnern. Dass wir heute in Freiheit leben können, verdanken wir auch unseren amerikanischen Freunden.
({1})
Frieden und Freiheit zu erhalten und durchzusetzen,
das war schon immer eine unserer Aufgaben. Dafür steht
aber auch im 50. Jahr unsere Bundeswehr. Der Dienst
der Soldatinnen und Soldaten verdient unseren ganzen
Respekt.
({2})
Wir begreifen Deutschland als Zukunftsgemeinschaft.
Daher denken wir über den Augenblick hinaus und wollen in den nächsten vier Jahren die Weichen für eine Politik stellen, die auch den kommenden Generationen gerecht wird.
Wir werden es nicht allen recht machen können. Aber
alle gemeinsam entwickelten Lösungen, auch die, die
auf den ersten Blick schmerzhaft sind, sind von der Verantwortung für die langfristige Zukunftsfähigkeit
Deutschlands getragen. Wir sind bereit, unseren Beitrag
zu leisten. Aber die Politik braucht auch die Unterstützung der Bürger. Durch eine konsequente Politik werden
wir um das Vertrauen der Menschen werben. Wir wissen, dass wir uns durch gute und erfolgreiche Arbeit dieses Vertrauen verdienen müssen.
Wir brauchen aber auch Menschen - das sage ich mit
allem Nachdruck -, die anpacken, die sich beteiligen.
Weglaufen ist das Gegenteil davon, Verantwortung für
unser Land zu übernehmen. Das gilt im Besonderen für
unsere Eliten. Mitmachen heißt das Gebot der Stunde!
Wer mitmacht, dient Deutschland. Wer mitmacht, ist ein
Patriot.
({3})
Deutschland ist ein großartiges Land mit großartigen
Menschen. Wir können aber noch mehr. Bringen wir das
Staatsschiff in Fahrt! Die Mannschaft steht bereit. Der
Kurs ist klar. Lassen Sie uns gemeinsam die Segel setzen. Wir wollen den Erfolg der Regierung Merkel. Wir
wollen den Erfolg dieser Koalition aus CDU/CSU und
SPD. Also: Wagen wir es miteinander!
({4})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Ilja Seifert, Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident! - Der Kollege Kauder
hat wiederholt, was schon die Kanzlerin in ihrer Rede
sagte und was in der Koalitionsvereinbarung steht, dass
Sie nämlich großen Wert darauf legen, EU-Richtlinien
eins zu eins umzusetzen. Was bedeutet das genau? Das
möchte ich uns einmal vergegenwärtigen: Es geht Ihnen
doch um die Antidiskriminierungsrichtlinie und speziell darum, dass nicht draufgesattelt werden darf. Sie
müssen, wie ich finde, der Öffentlichkeit dann aber auch
sagen, dass Sie wollen, dass Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, Jüdinnen und Juden weiterhin diskriminiert werden dürfen.
({0})
Das ist nicht akzeptabel. Das bedeutet aber eine Umsetzung eins zu eins. Dies wollte ich hier einmal darstellen.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegen Fritz Kuhn, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Bundeskanzlerin Merkel! Auch wir, die
Fraktion der Grünen, denken an diesem Tag an die Geiselnahme im Irak. Wir haben die Hoffnung und die Zuversicht, dass die Bundesregierung jenseits allen Parteienstreits still und geräuschlos das Beste tut, was man in
dieser Situation tun kann.
Frau Merkel, wenn man Ihre Reden, die Sie in den
letzten Jahren, die Sie in Leipzig und im Juli und September hier im Parlament gehalten haben, gehört hat und
mit Ihrer Regierungserklärung von heute vergleicht,
dann kann man nur sagen: Wie sich die Zeiten ändern. In
den vergangenen Reden, die Sie in diesem Hause gehalten haben, haben Sie geschildert, dass wir, wenn sich in
Deutschland bei den Steuern, in der Arbeitsmarktpolitik
und in allen anderen Bereichen im Kern nicht grundsätzlich etwas ändert, auf einen Abgrund zurasen. Heute
stellen Sie sich hier hin, zollen dem Bundeskanzler Respekt für die Agenda, sind für kleine Schritte und sagen,
etwas Großes müsse es nicht sein. Sie machen eine Tugend aus den kleinen Schritten. Damit werde Deutschland wieder auf die Beine kommen. Wie haben Sie Ihre
Meinung in dieser kurzen Zeit nur so stark ändern können, Frau Merkel, dass die Grundsatzreden Vergangenheit sind und Sie jetzt die Politik der kleinen Schritte gehen wollen?
({0})
Damit wir uns richtig verstehen: Ich habe nichts gegen klug gewählte kleine Schritte. Die Richtung muss
aber klar sein. Da ich den Koalitionsvertrag studiert und
mir Ihre Regierungserklärung heute angehört habe, kann
ich für meine Fraktion feststellen, dass Sie dieser Koalition mit Ihrer Politik für die Bundesrepublik Deutschland keine Richtung haben geben können.
({1})
Das waren Häppchen für jeden, der vorbeikommt. Am
Schluss weiß man nicht, was es Gescheites zum Essen
geben soll. Ihre Rede war eine Aneinanderreihung von
einzelnen Punkten.
Ich möchte darauf eingehen, was aus unserer Sicht
unzureichend war. Erstens zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Wir wollen einmal festhalten, dass Sie in Ihrer
Regierungserklärung und im Koalitionsvertrag eine sehr
riskante Wette auf die konjunkturelle Entwicklung in
Deutschland eingegangen sind. Sie sagen, dass die Angst
vor den einschneidenden Maßnahmen und vor der Steuererhöhung zum 1. Januar 2007 die Menschen im Land so
beeindrucken wird, dass sie im Jahre 2006 vehement
konsumieren werden, womit die Konjunkturprobleme
der Bundesrepublik Deutschland gelöst werden.
Dies halte ich für zu riskant und auch für falsch; denn
Sie haben keinen vernünftigen Grund dafür genannt, warum Menschen, die vor dem sozialen Abstieg Angst haben, in diesem Jahr mehr ausgeben sollen. Nur weil es
im nächsten Jahr noch schlimmer kommen wird, ist kein
vernünftiger Grund. Sie sind eine richtig riskante Ökonomiewette eingegangen.
({2})
Es gibt historische Beispiele: Japan hat es im Jahre 1979
zum Beispiel genauso gemacht. Die damalige Umsatzsteuererhöhung hat zu einer langjährigen konjunkturellen Krise geführt, von der man sich nicht mehr erholt
hat.
Zweitens. Wir glauben auch nicht, dass Ihre Ansage,
die Lohnnebenkosten würden unter 40 Prozent sinken,
wirklich stimmt.
({3})
Wenn Sie sie um 2 Prozent senken können, werden wir
bei 40,3 Prozent sein; denn die Arbeitnehmer tragen die
0,9 Prozentpunkte in der Krankenversicherung seit diesem Jahr alleine. Sie wollen die versicherungsfremden
Leistungen wieder in die gesetzliche Krankenversicherung hineinnehmen. Ich glaube nicht, dass Sie das einsparen können. Dadurch werden die Lohnnebenkosten
bei der gesetzlichen Krankenversicherung wieder um
0,5 Prozent steigen. Das heißt: Sie senken auf der einen
Seite und sorgen für Anstiege auf der anderen Seite.
Deswegen kann dieses Rezept nach unserer Überzeugung nicht aufgehen.
({4})
Frau Merkel, Sie haben immer wieder versucht - ich
finde richtig, dass Sie das tun -, über die Wertehaltung
Ihrer Politik zu sprechen. Sie haben die Freiheit in den
Vordergrund gerückt und auch von Gerechtigkeit gesprochen. Ich will das gerne aufnehmen, weil wir uns in
solchen Debatten darüber auseinander setzen müssen.
Zunächst will ich sagen: Wer hier das Wort Freiheit
in den Mund nimmt, der darf zu den Bürgerrechten nicht
schweigen, wie Sie das getan haben.
({5})
Freiheit hat nur dann einen Sinn, wenn die Bürger auch
genügend Rechte und Möglichkeiten haben, ihre Freiheit
gegenüber dem Staat zu verwirklichen. Wir dürfen nicht
nur abstrakt über Freiheit reden, sondern wir müssen
auch über die Frage sprechen, ob jeder Einzelne die
Möglichkeit hat, seine Selbstbestimmung, die angewandte Freiheit, auch in Anspruch zu nehmen.
({6})
Als Aufgabe der Politik sehe ich es an, dass sie diese
Möglichkeit schaffen muss. Sie tun es an keiner Stelle.
Ich will Ihnen ein Beispiel für die Freiheit aus der
Wirtschaft nennen, die Sie nur mit Entbürokratisierung
identifiziert haben. Zu einem freien Wirtschaften in diesem Land gehört, dass wir in Deutschland einen echten
Wettbewerb haben. Dann müssen Sie aber einmal sagen,
was Sie tun wollen, damit in wirklich allen Bereichen
unserer Wirtschaft echte Märkte und nicht nur Monopole
oder Oligopole herrschen. Dazu haben Sie kein Wort gesagt, obwohl Sie in den Grundsatzreden immer über
Ludwig Erhard und die Ordnungspolitik in der Marktwirtschaft reden. Sie hätten dann auch etwas zur Stromwirtschaft sagen müssen, die durch überhöhte Durchleitungsgebühren alles andere als Wettbewerb in diesem
Land möglich macht.
({7})
Daneben hätten Sie auch etwas zum Schienenverkehr
sagen müssen. Es geht ja gerade darum, die Bahnreform
so zu vollenden, dass alle Zugang zum Netz haben und
ein echter Wettbewerb entsteht. Schließlich hätten Sie
dann auch etwas zum Wettbewerb im Gesundheitssystem sagen müssen, der nur dann zu realisieren ist, wenn
wir energisch gegen die Lobbys kämpfen, die sich am
Gesundheitssystem einen dicken Hals verdienen können.
({8})
Ich bin schon jetzt gespannt, was Michael Glos - er
hat sich irrtümlicherweise ja auch in die Tradition von
Ludwig Erhard stellen lassen - im Hinblick auf den
Wettbewerb im Mediensektor tun wird, der nicht nur
eine wirtschaftliche, sondern auch eine Kernfrage der
Demokratie ist. Ein echter Wettbewerb im Mediensektor
ist nämlich das Gefäß, innerhalb dessen sich eine demokratische Meinungsbildung entfalten kann.
({9})
Hier darf man nicht vorschnell vor denjenigen in die
Knie gehen, die im Wahlkampf für eine gute Presse gesorgt oder der Partei Geld gespendet haben, sondern es
muss für alle Teilnehmer des Marktes Wettbewerb hergestellt werden. Das ist die Realisierung von Freiheit,
über die wir sprechen müssen.
({10})
Kommen wir zu den Stichworten Freiheit und Gerechtigkeit. Frau Merkel, ich finde, Sie haben zum
Thema der sozialen Spaltung in unserer Gesellschaft zu
wenig gesagt. Längst existiert das Problem in unserer
Gesellschaft, dass sich ein Teil der Menschen systematisch ausgegrenzt fühlt und keine Chance mehr sieht,
wieder in Erwerbsarbeit oder in eine Weiter- oder Fortbildung zu kommen, also am gesellschaftlichen Geschehen teilzuhaben. Es reicht nicht, von hier aus zu erklären, liebe Frau Merkel, dass Sie Ihr Herz für die
Schwachen entdeckt haben. Für diese abstrakte Formulierung werden Sie von jedem in diesem Haus Unterstützung bekommen. Aber die Frage ist, was das konkret
heißt, welche neuen Formen der Armutssicherung Sie
anstreben. Das ist die spannende Frage. Wie kann die
Grundsicherung in einer Gesellschaft aussehen, die in
den letzten Jahren Produktivitätsgewinne nicht mehr in
neue Arbeitsplätze investiert hat? Hier wird jetzt ein anderer Weg gegangen.
Ich nenne Ihnen ein konkretes Beispiel. Ein Problem
ist, dass viele Dauerarbeitslose nicht sehen, wie sie wieder in Erwerbsarbeit kommen, weil aufgrund der niedrigen Löhne die Zugangsbarrieren zum Arbeitsmarkt
zu hoch sind. In diesem Punkt sind wir uns einig. Unter
dem Stichwort „Ein Herz für Schwache“ erklären Sie:
Wir müssen einmal über Kombilöhne diskutieren. Wo
leben Sie denn eigentlich? Wie lange diskutieren und
experimentieren wir in der Bundesrepublik Deutschland
bereits über und mit Kombilöhnen? Wir müssen die
Lohnnebenkosten im Bereich der unteren Einkommensgruppen, also für Niedrigqualifizierte, nach einem Progressivmodell senken. Es wäre viel klüger, bei den
Lohnnebenkosten langsam auf die Zahl von 40 Prozent
zu kommen und damit die Arbeit für Menschen mit niedriger Qualifikation zu ermöglichen und vor allem die
vielen Dienstleistungsarbeitsplätze zu schaffen, die in
Deutschland existieren würden, wenn die Zugangsbarrieren zu diesem Arbeitsmarkt nicht so hoch wären.
({11})
Sie haben auch von Vertrauen gesprochen. In diesem
Zusammenhang will ich ein Thema ansprechen, dass Sie
nicht erwähnt haben, nämlich den Verbraucherschutz.
Wir sagen klar, Herr Seehofer: Wir wollen in Deutschland kein stinkendes Fleisch.
({12})
Dafür müssen wir etwas tun. Wir müssen die Kontrollen
in den Ländern verstärken. Wir müssen die wirtschaftliche Selbstkontrolle ausbauen. Wir brauchen ein klares
Verbraucherinformationsgesetz, das es ermöglicht, Ross
und Reiter zu nennen, wenn jemand solche Produkte auf
den Markt bringt oder sie annimmt und weiterverkauft.
({13})
Ich frage Herrn Seehofer und Frau Merkel: Warum haben Sie unseren Gesetzentwurf im Bundesrat zweimal
blockiert, der dies möglich gemacht hätte?
({14})
Ich komme zu dem Punkt, der mich in Ihren Ausführungen am meisten gestört hat. Sie haben beim Innovationsprozess keine Richtung vorgegeben. Sie haben zum
Beispiel eine Strategie zum Klimaschutz, die wir mit
dem Stichwort „Weg vom Öl“ zusammenfassen, gar
nicht erwähnt. Das ist nicht nur eine ökologische, sondern auch eine wirtschaftliche Strategie, um von den idiotisch hohen Ölkosten wegzukommen. Das ist auch eine
Strategie zur Sicherheitspolitik; denn Öl ist ein international umkämpfter Rohstoff. Dazu hätte ich gerne etwas
von Ihnen gehört. Ich hätte gerne gewusst, wie es in der
Energiepolitik über das Erreichte hinaus weitergeht.
Ich hätte auch gerne gehört, welche neuen Konzepte
Sie in der Verkehrspolitik haben. Ich sage Ihnen klipp
und klar: Wenn wir nicht auch der Automobilindustrie in
Deutschland klare Rahmenbedingungen setzen, dann
wird dieser Industriezweig seinen Beitrag zum Klimaschutz und zum Thema „Weg vom Öl“ nicht von selber
leisten. Beim Thema Rußfilter haben wir das Versagen
der Industrie in den letzten Jahren erleben können.
({15})
Ich möchte nicht, dass uns beim Thema Verbrauchsobergrenzen für Kraftstoffverbrauch die Japaner, die gesetzliche Regelungen planen, und einige Bundesstaaten der
Vereinigten Staaten, die diesen Weg gehen, technologisch den Rang ablaufen, weil die Politik in Deutschland
zu wenig Druck macht. Hierzu hätten Sie sich deutlich
äußern müssen.
Herr Umweltminister Gabriel, wir als Grüne - Frau
Merkel hat das Thema Ökologie gar nicht in den Mund
genommen - werden Sie immer unterstützen,
({16})
wenn Sie etwas ökologisch Vernünftiges machen. Aber
eines ist auch klar: Wenn Sie unter dem Deckmantel der
Ökologie hinter bisher Erreichtes zurückfallen, dann
werden wir Sie in diesem Haus grillen wie eine Ökobratwurst, Herr Gabriel; darauf können Sie sich verlassen.
({17})
- Sie müssen gar nicht aufstöhnen. Die Ökologen gehen
mit Ökobratwurst behutsam um; vor allem stechen sie
nicht hinein. Also keine Sorge.
Jetzt komme ich zu einem Punkt, den auch Frau
Merkel ins Zentrum gerückt hat, nämlich die Wissensgesellschaft und Bildung. Ich stelle die These auf, dass
Sie keine Konzeption entwickelt haben, wie Deutschland den Übergang zur Wissensgesellschaft konkret leisten soll. Vorgesehen sind viele einzelne Schritte. Aber es
ist doch klar, dass die Innovationsschwäche Deutschlands - beim PISA-Test angefangen bis hin zur Forschung und der Tatsache, dass wir zwar noch bestimmte
Produkte entwickeln, aber nicht bis zur Marktfähigkeit
realisieren - damit zu tun hat, dass wir zu wenig für Forschung, Wissen und Ausbildung - und zwar für die gesamte Ausbildungskette von den Kindern bis zur Hochschule - tun.
Der Kardinalfehler dieses Koalitionsvertrags und Ihrer Regierungserklärung liegt darin, dass Sie zu dem
Zeitpunkt, zu dem der Bund den Übergang zur Wissensgesellschaft auf allen Ebenen der Bildungs- und Forschungskette aktiv gestalten müsste, die Instrumente
systematisch aus der Hand geben, indem Sie sie den
Ländern in der Hoffnung übertragen, dass diese es vielleicht richten werden.
({18})
Wenn sie es aber nicht richten werden - es spricht viel
dafür, dass 16 verschiedene Bundesländer nicht alles
richten können -, dann fehlt die Koordination des Bundes. Dann fehlen auch die Möglichkeiten des Bundes, im
Schulbereich einzugreifen und bei der Kinderbetreuung
mehr zu tun.
Zudem haben wir in allen Fragen, die die Hochschulen angehen, in Zukunft nur noch Bonsai-Kompetenzen.
Das halten wir vom Bündnis 90/Die Grünen für völlig
falsch. Wir wollen eine Bundesregierung, die die Wissensgesellschaft aktiv gestaltet. An der Stelle haben Sie
nach unserer Überzeugung völlig versagt.
({19})
Über das Elterngeld können wir gerne reden, liebe
Frau Merkel. Reden Sie doch auch einmal mit denen, die
meinen, Sie wollten die Kinder nur verschieben! Entscheidend ist nämlich, dass die Betreuung von Kindern
unter drei Jahren noch immer so schlecht ist, dass Beruf
und Familie nicht miteinander vereinbar sind.
({20})
Insofern meine ich, dass Sie den zweiten Schritt - die
Einführung des Elterngelds - vor dem ersten Schritt einer besseren Ausstattung hinsichtlich der Betreuungsplätze gehen wollen und damit eine falsche Reihenfolge
vorsehen.
Wenn wir 2008 feststellen, dass ein gesetzlicher
Zwang zu einem Betreuungsangebot für Kinder unter
drei Jahren notwendig ist, dann ist das Elterngeld schon
auf dem Weg. Viele werden die neuen Möglichkeiten gar
nicht nutzen können, weil es immer noch an entsprechenden Betreuungsangeboten fehlt. Wir werden den
Prozess offen und kritisch begleiten, damit es auch in
diesem Punkt in Deutschland vernünftig weitergeht.
Ich möchte noch einige Anmerkungen zur Außenpolitik machen. Sie haben zu Recht über die Schwierigkeiten Europas gesprochen. Die europäische Verfassung,
der Verfassungsprozess, die Integration und die Einigung durchlaufen viele Krisen. Das hat mit der Erweiterung, den Institutionen und dem Vertrauen der Bürger zu
tun. Aber Sie haben zu meinem Erstaunen einen Punkt
nicht angesprochen, nämlich die soziale Fragestellung.
Die Botschaft der Referenden in Frankreich und Holland
besteht für uns darin, dass die Bürgerinnen und Bürger
die Vorstellung und das Gefühl haben, die europäische
Einigung und der Erweiterungsprozess sind ein Projekt
politischer und wirtschaftlicher Eliten.
Wenn das Vertrauen zu Europa wachsen soll, ist die
soziale Vertiefung Europas notwendig. Zu diesem Prozess haben Sie aber keine einzige Aussage gemacht. Das
Thema wird aber zum Beispiel bei der Frage, wie es mit
der Dienstleistungsrichtlinie weitergehen soll, wieder
auf die Tagesordnung kommen. Sie können sich darauf
verlassen, dass die Grünen das immer wieder ansprechen
werden.
({21})
Wenn Sie am Freitag nach Polen fahren, Frau Merkel,
und wenn Sie das Weimarer Dreieck stärken und die
deutsch-polnischen Beziehungen verbessern wollen,
dann können Sie nach unserer Überzeugung mit dem
Wischiwaschi und dem Hin und Her, wie Sie es in Ihrer
Regierungserklärung zum Thema Vertriebenenzentrum an den Tag gelegt haben, nicht weiterkommen.
({22})
Wenn Sie in Polen mit polnischen Bürgerinnen und
Bürgern sprechen, dann werden Sie feststellen, dass der
Vorschlag, in Berlin ein Vertriebenenzentrum einzurichten, wie er aus Ihrer Fraktion von Frau Steinbach vertreten wurde, die erste und größte Hürde für ein besseres
wechselseitiges Verständnis bedeutet. Diese Hürde müssen Sie wegräumen. Machen Sie sich den Gedanken eines europäischen Netzwerkes für ein Vertriebenengedenken zur Erinnerung an die Vertreibungen zu Eigen!
Machen Sie es sich nicht so einfach, dass Sie in diesem
Hause einen Kompromiss vertreten, in Polen vielleicht
etwas anderes sagen und beim Bund der Vertriebenen
dann wieder Frau Steinbach hochleben lassen! Sie müssen klar und deutlich sprechen. Alles andere hilft dabei
nicht weiter.
({23})
Für eine klare und deutliche Sprache sind wir, Bündnis 90/Die Grünen, auch bei dem von Ihnen neu zu gestaltenden Verhältnis zu den Amerikanern. Damit Sie
sich nicht täuschen: Wir sind dafür, dass Sie gute Beziehungen zu unseren amerikanischen Freunden herstellen.
Aber der neue Stil, den Sie angekündigt haben, darf natürlich nicht den Inhalt ersetzen. Wenn er einen Sinn haben soll, dann muss er den Inhalt besser transportieren
und deutlich machen. Ich finde jedenfalls, dass Sie bei
Ihrer Reise in die Vereinigten Staaten mit Präsident Bush
auch über die Fragen reden müssen, die die deutsche Bevölkerung sehr beunruhigen. Die erste Frage ist: Wie
kann es eigentlich sein, dass wir uns in Europa und insbesondere in Deutschland um den Klimaschutz bemühen, während sich die Vereinigten Staaten, einer der
größten Emittenten klimaschädlicher Gase, noch immer
systematisch und beharrlich weigern, den entsprechenden internationalen Abkommen beizutreten? Hier müssen Sie klar und deutlich reden. Sonst hat es keinen Sinn.
({24})
Sie müssen nach unserer Überzeugung ebenfalls darüber reden, wie der Terrorismus in der Welt am effektivsten bekämpft werden kann. Dabei geht es insbesondere um die Frage, wie die reichen Länder bei der
Entwicklungshilfe das 0,7-Prozent-Ziel erreichen können. Sie müssen außerdem fragen, ob es Sinn macht, die
Reform der Vereinten Nationen weiter zu blockieren,
und darauf hinweisen, dass man Terrorismus - jedenfalls
nach unserer Überzeugung - nur unter strenger Beachtung der Menschenrechte effektiv bekämpfen kann.
Wenn man dies nicht tut, dann liefert man ständig neue
Munition für terroristische Unterfangen.
Über all diese Themen müssen Sie offen reden. Wenn
Sie dies nicht tun, werden wir keinen Schritt weiterkommen.
Ich glaube nicht, dass es ausreicht, einfach zu sagen,
die alten Schlachten sind geschlagen. Es wäre mutig von
Ihnen gewesen, wenn Sie in Ihrer Regierungserklärung
gesagt hätten, dass Sie mit Ihrer Einschätzung vor dem
Irakkrieg voll daneben gelegen haben. Alle Bedenken,
die wir im Hinblick auf das, was nach einem Irakkrieg
kommt - es war klar, dass man ihn zunächst militärisch
gewinnen kann -, geäußert haben, sind von der Wirklichkeit noch übertroffen worden. Es gibt nun nicht nur
eine Destabilisierung des Iraks, sondern der ganzen Region sowie ein Sammelbecken für den internationalen
Terrorismus. Ich hätte es mutig gefunden, wenn Sie die
Kraft gehabt hätten, dazu etwas in Ihrer Regierungserklärung zu sagen. Nur durch eine solche Kraft kommt es
zu einer Verbesserung der Politik im Inneren wie im Äußeren.
({25})
Frau Merkel, ich verspreche Ihnen, dass wir,
Bündnis 90/Die Grünen, eine kritische, aber auch eine
konstruktive Oppositionspolitik machen werden.
({26})
Wir wissen sicherlich nicht alles besser. Herrn Gysi hätte
ich beispielsweise fragen können: Warum läuft es denn
in Berlin unter PDS-Beteiligung so toll, wenn so viel
ökonomischer Sachverstand bei Ihnen vorhanden ist,
und warum haben Sie sich dann in die Büsche schlagen
müssen?
({27})
Kollege Kuhn, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich bin gleich am Ende, Herr Präsident.
Wir werden die Auseinandersetzung mit Ihnen jedenfalls konstruktiv führen.
Zum Schluss möchte ich Ihnen ein Angebot machen:
Die Politik in Deutschland wird nur etwas verändern
können, wenn wir es gemeinsam schaffen, den Einfluss
der Lobbyisten in Berlin zurückzudrängen. Wir werden
uns nicht hinter den Lobbyisten verstecken und nur die
Regierung kritisieren.
({0})
- Ich verstehe, dass Sie, liebe Kollegen von der FDP,
beim Wort Lobbyisten aufschreien. Dafür habe ich jedes
Verständnis.
({1})
Wir werden gemeinsam versuchen, die Interessenkonflikte offen zu legen. Es geht nicht, dass Lobbyisten behaupten, sie sprächen für das Gemeinwohl, und damit
die Veränderungsfähigkeit der Politik in Deutschland untergraben. Wenn Sie dagegen angehen, dann haben Sie
unsere Unterstützung. Ich weiß aber nicht, ob Sie sie
überhaupt wollen.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile das Wort dem Ministerpräsidenten des
Landes Brandenburg, Matthias Platzeck.
({0})
Matthias Platzeck, Ministerpräsident ({1}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Am 18. September dieses Jahres haben die
Wählerinnen und Wähler in Deutschland den Parteien
eine komplizierte Aufgabe gestellt - keine unlösbare,
aber - Volker Kauder wies darauf hin - eine schwierige
auf alle Fälle, eine ungewohnte Aufgabe. Erstmals seit
langem konnte in der Bundesrepublik keine Regierung
nach dem Koalitionsmuster gebildet werden, an das sich
unser Land in den vergangenen Jahrzehnten gewöhnt
hatte. Weder Rot-Grün noch Schwarz-Gelb waren in der
Lage, eine kleine Regierungskoalition zu bilden.
In dieser neuen Situation waren in den ersten Tagen
nach den Wahlen viele Spekulationen über mögliche
Dreiparteienkoalitionen zu hören. Kommentatoren entwarfen an journalistischen Reißbrettern kühne Visionen.
Von Ampelbündnis und Jamaikakoalition war die Rede.
Einige politische Suchbewegungen in solche Richtungen
gab es dann ja auch. Es stellte sich aber bald heraus, dass
keine dieser Überlegungen das zustande bringen würde,
was unser Land in seiner gegenwärtigen schwierigen
Lage von allem am dringendsten benötigt: eine jederzeit
handlungsfähige, verantwortliche, mit steter und sicherer
Mehrheit ausgestattete Bundesregierung. Diese Bundesregierung haben wir jetzt. Sie ist seit voriger Woche im
Amt. Herzlichen Glückwunsch auch von mir an die Bundeskanzlerin, an die ganze Regierung! Alles Gute auf
dem Weg! Meine Unterstützung haben Sie.
({2})
Es war die Einsicht in die Untauglichkeit aller übrigen Optionen, die SPD und CDU/CSU dazu veranlasste,
Verhandlungen über die Bildung einer großen Koalition
aufzunehmen. Diese Verhandlungen verliefen verständlicherweise nicht unkompliziert. Noch wenige Wochen
zuvor hatten die Gesprächspartner im Bundestagswahlkampf im heftigen politischen Wettstreit gelegen. Jetzt
führten wir das Gespräch miteinander auf gleicher Augenhöhe. Das war auch psychologisch für die Beteiligten
längst nicht immer ganz einfach. Die sachlichen und die
politischen Unterschiede zwischen unseren Parteien
leugnet niemand. Wir sind unterschiedliche Parteien mit
unterschiedlichen Zielstellungen und wir werden das
auch bleiben.
({3})
Im Verlauf von vier Wochen sehr ernsthafter, sehr intensiver, auch kontroverser Verhandlungen haben wir jedoch über entscheidende Punkte Einigkeit erlangt: die
Einigkeit darüber, dass SPD und CDU/CSU in den kommenden vier Jahren gemeinsam Verantwortung für
Deutschland übernehmen wollen und übernehmen werden, die Einigkeit darüber, zu welchen Kompromissen
und Zugeständnissen jede Seite bereit ist, und schließlich auch die Einigkeit darüber, was wir einander, unseren jeweiligen Wählerinnen und Wählern und dem Land
insgesamt nicht zumuten können. Mein sicherer Eindruck ist: Diese große Koalition wird eine stabile Regierung bilden und das Land als Koalition der Verantwortung vier Jahre lang gut regieren.
({4})
Während der Verhandlungen zwischen den künftigen
Koalitionspartnern ist neues Vertrauen gewachsen. Nur
wo Vertrauen ist, kann auch Gutes gedeihen. Deutschland braucht mehr Zusammenarbeit, Deutschland
braucht mehr Kooperation, mehr Teamgeist - und das an
vielen Stellen und auf vielen Ebenen.
({5})
Dafür kann die große Koalition eine gute Schule sein.
Gelingt ihr das, dann wird sich diese Regierung sogar als
ein wichtiger und als ein positiver Beitrag auch für eine
erneuerte politische Kultur in Deutschland erweisen.
Diese Hoffnung ist alles andere als ein weltfremder
Wunsch; vielmehr glaube ich, sie benennt eine knallharte Notwendigkeit. Seit Jahrzehnten schon wissen wir
im Grunde, dass im internationalen Vergleich kaum ein
anderes Land so viele institutionalisierte Mitwirkungsinstanzen besitzt wie Deutschland. Als Bundesstaat kennen wir selbstverständlich selbstbewusste Länderregierungen, wir kennen einander entgegengesetzte
Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat, wir kennen
die komplizierte Politikverflechtung, die sich gerade
daraus ergibt, und wir kennen ein starkes, unabhängiges
und ebenfalls selbstbewusstes Bundesverfassungsgericht. Für alle diese Verflechtungen und institutionellen
Regelungen lassen sich gute Gründe nennen. Oft vertreten diese so genannten Vetospieler im politischen Prozess berechtigte Interessen. Sie sind demokratisch und
verfassungsrechtlich legitimiert.
Zugleich muss uns aber klar sein: Andere Staaten tun
sich hier deutlich leichter. Die Vielzahl der möglichen
Einsprüche im politischen Prozess erschwert in Deutschland schnelle und oft auch schlüssige Lösungen. Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder ganz praktisch erlebt, dass sich die Summe der Instanzen zu einer
Ministerpräsident Matthias Platzeck ({6})
Politikverflechtungsfalle auswächst, zu einer Falle, die
die Lösungen und Entscheidungen erschwert und verzögert - bis hin zur völligen Blockade.
({7})
Uns allen muss klar sein: Leidtragende dieser Blockade sind immer die Menschen in unserem Land. Leidtragende sind im Übrigen aber auch unsere europäischen
Nachbarn und Partner, die zu Recht erwarten dürfen,
dass Deutschland als größte europäische Volkswirtschaft
seiner Verantwortung für Wohlstand und Wachstum in
Europa gerecht wird, und das möglichst zeitnah.
({8})
Die jetzt am Beginn ihrer Arbeit stehende große Koalition bietet eine hervorragende Möglichkeit, diese Verflechtungsfalle deutlich zu lockern. Die großen deutschen Volksparteien sind entschlossen, das Prinzip der
Gegnerschaft zugunsten des Prinzips der Kooperation
zurückzustellen. Genau deshalb ist die Chance günstig,
dass die neue Bundesregierung bestimmte Themen bewältigen wird, die aus meiner Sicht überhaupt nur in dieser Konstellation bewältigt werden können.
({9})
Ich möchte beispielhaft vier große Aufgaben nennen,
denen sich diese Koalition deshalb mit Ernst und allem
Engagement widmen wird. Erstens und vor allem anderen die Aufgabe, alles zu tun, damit in Deutschland mehr
Arbeitsplätze geschaffen werden, damit wieder mehr
Menschen Arbeit haben. Gute Arbeit hat in der Vergangenheit den Wohlstand unseres Landes geschaffen. In
guter und qualifizierter Arbeit liegt auch die Zukunft unseres Landes. Alle unsere Schritte gelten dem Ziel, dafür
wieder bessere Voraussetzungen zu schaffen.
({10})
Gerade deshalb stellen wir uns, zweitens, der Aufgabe, den deutschen Föderalismus neu zu justieren.
Dies ist seit langem überfällig. Arbeitsfähigkeit und Legitimität der bundesstaatlichen Ordnung hängen davon
ab, ob jederzeit klar ist, wer im Staat für welche Aufgabe
zuständig ist. Ich glaube übrigens, das ist auch für die
Akzeptanz unserer Demokratie essenziell. Wenn eine
Mehrzahl der wichtigen Entscheidungen nachts um halb
zwei im Vermittlungsausschuss getroffen wird, kann das
für die Demokratie in unserem Lande nicht gut sein.
({11})
Das können wir nur gemeinsam ändern und deshalb werden wir es gemeinsam ändern.
Übrigens, auf diese Weise wird die große Koalition
zugleich sicherstellen, dass das föderale System in
Deutschland weit über die Lebensdauer dieser Koalition
hinaus neue Funktionsfähigkeit erlangt.
Drittens. Wir werden uns der Aufgabe annehmen, das
Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die sozialen
Sicherungssysteme wiederherzustellen. Wir brauchen
funktionierende soziale Sicherungsnetze, auf die sich die
Menschen im Ernstfall ohne Wenn und Aber verlassen
können, gerade weil sich wirtschaftlich und gesellschaftlich so viel verändert, gerade weil Menschen unter solchen Umständen bestimmte Gewissheiten benötigen, um
sich auf die neuen Lagen einstellen zu können. Ich
glaube, dass Pessimismus und mangelnde Zuversicht
heute ihre Hauptursache nicht in den Lebensumständen
der meisten Menschen haben, sondern in Ängsten, die
sich um die Frage drehen: Wie wird es in fünf, in zehn,
in 15 oder in 20 Jahren für unsere Kinder sein? Die mangelnde Zuversicht lähmt unser Land. Davon müssen wir
weg und dazu muss die große Koalition einen wichtigen
Beitrag leisten.
({12})
Viertens. Die große Koalition wird die Basis unserer
Staatsfinanzen grundlegend sanieren müssen. Die Partner der großen Koalition sind gemeinsam davon überzeugt, dass dauernde Zweifel an der Leistungsfähigkeit
der staatlichen Haushalte unserem Land schweren Schaden zufügen würden. Wo das Vertrauen in die staatlichen
Haushalte verloren geht, da schrecken die Verbraucher
immer mehr davor zurück, ihr Geld auszugeben. Selbst
niedrigere Steuern regen dann nicht mehr die Binnennachfrage an, sondern führen nur zu höheren Sparquoten. Dieser Teufelskreis darf sich in unserem Lande keinesfalls etablieren. Gesunde öffentliche Finanzen sind
deshalb die Bedingung für das langfristige Prosperieren
unserer Wirtschaft und zugleich für das Funktionieren
des Sozialstaates.
({13})
Stabile Staatsfinanzen sind auch ein zutiefst sozialdemokratisches Thema, ja, sie müssen geradezu unser
Thema sein. Wer den handlungsfähigen Staat will, der
kann und darf ihn nicht auf Pump finanzieren. Mit Verlaub, Herr Kollege Westerwelle: Wenn ich Ihre Diätvorschläge dafür höre, wie wir zu einem schlanken Staat
kommen, beschleicht mich ab und zu das Gefühl, dass
Sie ihn in Wirklichkeit verhungern lassen wollen. Das
werden wir nicht zulassen.
({14})
Wir brauchen einen fitten, einen handlungsfähigen Staat.
Viele Beispiele auf dieser Welt zeigen uns: Wo der Staat
diese Eigenschaften nicht mehr hat, nutzt das vielleicht
10 Prozent der Menschen
({15})
und die anderen 90 Prozent leiden darunter. Dazu dürfen
wir es nicht kommen lassen.
({16})
Was wir in den nächsten Jahren anpacken müssen, ist
nicht vergnügungssteuerpflichtig. Ich habe bereits darauf
hingewiesen und sage es auch hier: Diese große Koalition ist kein bunter Adventsteller, von dem sich jeder herunternehmen kann, was ihm gerade am besten
schmeckt, und das wissen beide Partner. Die neue BunMinisterpräsident Matthias Platzeck ({17})
desregierung ist eine Regierung der gemeinsamen Verantwortung in schwieriger Zeit. Sie soll die Voraussetzungen dafür schaffen, dass es am Ende wieder mehr
Menschen in Deutschland besser geht.
({18})
Jubelstürme wird unsere Regierung selbst dann nicht
und vielleicht gerade dann nicht auslösen, wenn sie besonders gut, besonders gründlich, besonders effektiv arbeitet; denn Deutschland steckt nun einmal in einer
schwierigen Umbruchphase. Wir haben Probleme und
vieles muss gleichzeitig angepackt werden. Aber unser
Land hat die Kraft, diese Probleme zu lösen.
Dabei kann die neue Bundesregierung an die Arbeit
anknüpfen, die Gerhard Schröder und die rot-grüne
Bundesregierung in den Jahren seit 1998 begonnen haben.
({19})
Ich habe es als noble Geste empfunden, dass Frau Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Rede noch einmal ausdrücklich die Verdienste des Bundeskanzlers Schröder
für unser Land gewürdigt hat. Frau Bundeskanzlerin, Sie
haben völlig Recht: Gerhard Schröder und seine Regierung haben sich in den vergangenen Jahren mit ihrer
Politik der Erneuerung wirklich um unser Land verdient
gemacht.
({20})
Sie haben Marksteine gesetzt
({21})
- ich verstehe, dass das ein bisschen problematisch ist -,
({22})
an die die neue Bundesregierung anknüpfen kann und an
die sie auch anknüpfen sollte. Die wichtigste Aufgabe
der Regierung wird sein, dem Land und seinen Menschen wieder Selbstvertrauen und neue Zuversicht zu
vermitteln.
Diese Koalition nimmt die Sorgen und Hoffnungen
der Menschen sehr ernst. Deshalb bin ich froh darüber,
dass wir zwischen CDU, CSU und SPD eine Verständigung darüber erreicht haben, dass das europäische
Sozialmodell in unserem Land für die Bedingungen des
21. Jahrhunderts erneuert werden soll. Wir tun uns in
Deutschland nicht leicht damit, das Neue und die Veränderung auch als Chance zu begreifen. Da ist der Erneuerungsdruck der Globalisierung. Da ist die Demographie.
Da ist die Tatsache, dass erfolgreiches Wirtschaften im
21. Jahrhundert immer mehr auf Wissen und Qualifikation angewiesen sein wird. Ja, das alles ist schwierig;
überhaupt keine Frage. Das alles wirkt manchmal auch
bedrohlich; das ist ebenfalls richtig.
In den Talkshows und in den öffentlichen Debatten in
unserem Land hat sich in den vergangenen Jahren der
Eindruck durchgesetzt, wir hätten hier nur noch die Wahl
zwischen Pest und Cholera, wir könnten in Deutschland
heute nur noch zwischen ideenloser Beharrung und brutalen marktradikalen Rosskuren wählen. Aber wir sollten uns niemals, weder von der einen noch von der anderen Seite, falsche Alternativen aufschwatzen lassen.
({23})
Es liegt am Denken in den falschen Alternativen, meine
ich, dass die Menschen in unserem Land Erneuerung
und Aufbruch zuweilen so misstrauisch gegenüberstehen.
Richtig ist: Wir müssen unseren Sozialstaat erneuern.
Wir müssen ihn auf die Bedingungen des 21. Jahrhunderts einstellen. Die wirtschaftlich und sozial erfolgreichsten Länder Europas beweisen uns Tag für Tag,
dass das sehr wohl und gut gelingen kann. Diese Länder
sind so erfolgreich, weil sie gerade nicht der Versuchung
erliegen, Wirtschaft und Sozialstaat gegeneinander auszuspielen. Sie wissen: Die vermeintlich so klare Alternative „mehr Markt oder mehr Staat“ führt schlicht und ergreifend in die Irre.
({24})
Es kommt heutzutage darauf an, beides intelligent miteinander zu verbinden. Da liegt die Zukunft auch für unser Land.
({25})
In diesem Hohen Hause sitzen auf der einen Seite einige, die glauben, sich ganz auf das Festklammern an
sämtlichen bestehenden Instrumenten des überkommenen Sozialstaats verlegen zu müssen.
Herr Kollege Gysi, Sie haben vorhin über die Produktivitätszuwächse bei Daimler-Chrysler gesprochen und
gesagt, dass wir damit nicht richtig umgegangen seien.
Es mag sein, dass nicht alles richtig war; aber nach Ihrer
Rede glaube ich, dass, wenn Sie mehr zu sagen gehabt
hätten, Daimler-Chrysler heute gar nicht mehr in
Deutschland wäre. Dann hätten wir auch nichts von den
Produktivitätszuwächsen. Das sollten wir uns einmal
durch den Kopf gehen lassen.
({26})
Auf der anderen Seite in diesem Hause sitzen Abgeordnete, die sich jede Form von Sozialstaat bestenfalls
als ein Luxussahnehäubchen vorstellen können, ein Sahnehäubchen, das man sich nur dann leisten kann, wenn
die Wirtschaft bereits kräftig brummt.
Ich halte beide Positionen für falsch, meine Damen
und Herren.
({27})
Deutschland wird in den kommenden Jahrzehnten dann
erfolgreich sein, wenn wir wirtschaftliche Dynamik und
moderne Sozialstaatlichkeit als Ziele begreifen, die einander positiv bedingen und beflügeln können. Wirtschaftliche Dynamik wird heute durch ein zeitgemäßes
Verständnis sozialer Gerechtigkeit erst ermöglicht, nämlich durch Investitionen in die Menschen und ihre Fähigkeiten. Umgekehrt brauchen wir einen modernen Sozialstaat, der wiederum zu mehr wirtschaftlicher Dynamik,
Ministerpräsident Matthias Platzeck ({28})
Wachstum und der Schaffung von Arbeitsplätzen beiträgt.
Die nun gebildete große Koalition kann viel dafür
leisten, ein neues Verständnis für ein produktives Verhältnis zwischen Dynamik und Gerechtigkeit in unserem
Lande zu schaffen. Wir Sozialdemokraten werden innerhalb und außerhalb der Koalition für diesen notwendigen
Perspektivwechsel werben. Denn genau in diesem Sinne
erwarten die Menschen in Deutschland von der neuen
Regierung die Erneuerung unseres Sozialstaates. Der
zwischen den Parteien vereinbarte Koalitionsvertrag
sieht genau dies vor. Ich nenne beispielhaft vier Punkte:
Wir haben beschlossen, dass die Ausgaben für Forschung und Entwicklung bis 2010 auf 3 Prozent unseres Bruttosozialproduktes erhöht werden.
({29})
Das brauchen wir dringend; denn ohne Forschung und
Innovation werden wir auf dieser Welt keine Chance haben.
Wir haben beschlossen, ab 2007 das Elterngeld einzuführen. Das ermöglicht vielen Frauen und Männern
eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und
erleichtert es den Menschen, sich für Kinder zu entscheiden. Bei unzähligen jungen Menschen ist ganz klar der
Kinderwunsch vorhanden. In Deutschland sind jedoch
der Mut, diesen Wunsch in die Wirklichkeit umzusetzen,
und die Zuversicht noch zu wenig ausgeprägt. Das Elterngeld ist eine Maßnahme, die dazu beiträgt, den Mut
in unserem Lande zu erhöhen. Denn ein Land ohne Kinder ist ein Land ohne Zukunft, meine Damen und Herren; da können wir nicht mehr zuschauen.
({30})
Deshalb haben wir auch beschlossen, das begonnene
4-Milliarden-Euro-Ganztagsschulprogramm fortzusetzen. Auch das brauchen wir sehr dringend, weil es
mehr Chancengleichheit in der Bildung schafft.
Außerdem haben wir beschlossen, die Tagesbetreuung für die Kleinen systematisch auszubauen. Auch das
ist wichtig für unser Land, weil über Zukunft und
Lebenschancen nicht erst ab dem sechsten oder dem
20. Lebensjahr entschieden wird, sondern bereits in der
Elementarstufe. Das haben wir zu lange vernachlässigt.
Da haben wir Potenziale nicht genutzt. Wir müssen sie
aber nutzen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({31})
Es heißt oft, große Koalitionen würden am Ende nur
die kleinen Parteien am Rande stärken. Es kann aber
auch genau umgekehrt kommen. Entscheidend dafür ist,
dass sich auf die Bürgerinnen und Bürger der Eindruck
überträgt: Beide Partner wollen wirklich, dass Deutschland in den nächsten vier Jahren spürbar besser dasteht.
Frau Bundeskanzlerin Merkel hat das neue Regierungsbündnis als eine „Koalition der neuen Möglichkeiten“ bezeichnet. Mir gefällt diese Formulierung gut. Sie
beschreibt den hohen Anspruch, dem wir alle zusammen
gerecht werden müssen und dem wir nur gemeinsam gerecht werden können. Gelingt uns dies, dann kann diese
Regierung mit der breiten Unterstützung der Menschen
im Lande rechnen. Die deutschen Sozialdemokraten und
ich persönlich werden jeden nur möglichen Beitrag zum
Gelingen leisten.
({32})
Ich habe zwar neulich in einem Artikel in einer großen deutschen Zeitung gelesen, man solle sich in dieses
Land nicht zu sehr verlieben und die Demokratie habe
auch dazu geführt, dass wir in Deutschland das Recht
auf schlechte Laune hätten. Ein interessanter Artikel;
wer ihn noch nicht gelesen hat, dem kann ich ihn sehr
empfehlen. Ich glaube, wir haben aber nicht die Pflicht,
dieses Recht auszuüben.
({33})
Wir tun es nur viel zu oft. Ich sage auch hier und heute
noch einmal: Deutschland ist ein wunderbares Land. Das
lasse ich mir nicht ausreden. Seine Bürgerinnen und
Bürger sind zu großen Leistungen fähig. Es ist unsere
gemeinsame Aufgabe, ihnen dafür neue Wege und Möglichkeiten zu eröffnen. Genau das wollen wir tun; genau
das werden wir tun, und zwar ernsthaft, beharrlich und
mit Augenmaß. Gewinner werden die Menschen in unserem Lande sein.
Die Bundeskanzlerin hat heute gesagt: „Mehr Freiheit
wagen“. Ich kann da komplett mitgehen. Als ich diesen
Satz hörte, sagte mir mein Bauch allerdings, dass wir
dem noch etwas hinzufügen sollten - auch das haben wir
in Deutschland nötig -, nämlich: „Mehr Miteinander und
mehr Gemeinsamkeit wagen“.
({34})
Gesellschaften, in denen es mehr Miteinander gibt,
sind stärker, stabiler und zukunftsfähiger. Etwas allein
machen oder allein sein, das kann mal schön sein. Auf
die Dauer macht es aber unglücklich und schwach. Deshalb sage ich: hinschauen und nicht wegschauen, zupacken und nicht zugucken, ein bisschen mehr weg vom
Spaß am Tag und hin zur Freude am Leben. Dafür sollten wir arbeiten und dafür werden wir arbeiten. Dann
werden wir auch erfolgreich sein.
Alles Gute!
({35})
Ich erteile das Wort Kollegen Peter Ramsauer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Koalition aus den drei Parteien
CDU, CSU und SPD legt heute ihr Programm für diese
Wahlperiode vor. Es ist der Startschuss für einen politischen Neubeginn. Die Wähler haben es so gewollt; die
Wähler haben es so entschieden. Sie würden heute wohl
ähnlich oder fast genauso entscheiden, wie die Umfragen zeigen. Gut ist, dass die alte Regierung ausgeschieden ist und die neue Regierung ihre Arbeit aufnimmt.
Wir werden in den Debatten dieser Woche die dargelegten Grundsätze und Ziele sehr genau prüfen und diskutieren. Mein Urteil ist klar: Diese große Koalition in
Deutschland hat eine Chance verdient und sie ist eine
große Chance für unser Land.
({0})
Sie, Frau Bundeskanzlerin, liebe Frau Dr. Merkel, stehen für einen Neubeginn. Ich gratuliere Ihnen ganz herzlich im Namen meiner Partei, der CSU, und insbesondere im Namen der CSU-Landesgruppe im Deutschen
Bundestag zu Ihrer Wahl. - Ich sehe, dass Sie gerade zusammen mit dem Herrn Bundeswirtschaftsminister in
den hinteren Reihen Platz genommen haben. Wer auf der
Regierungsbank sitzt, kann sich auch diese Großzügigkeit leisten. - Ich gratuliere Ihnen auch zu Ihrer Regierungserklärung. Sie haben uns damit gezeigt, dass der
überfällige Politikwechsel eingeleitet ist.
({1})
Ich gratuliere Ihnen auch dazu, dass Sie - das habe
ich heute Agenturmeldungen entnommen -, laut Umfragen einen immensen Vertrauensvorschuss bei der Bevölkerung haben. Das ist ungewöhnlich; denn der Politik
wird eher mit einem Misstrauensvorschuss begegnet.
Die Tatsache, dass Sie, liebe Frau Bundeskanzlerin, einen gewaltigen Vertrauensvorschuss haben, ist eine riesige Chance für die neue Bundesregierung.
({2})
Diese Regierung ist - das finde ich besonders wichtig - auch eine Regierung aus der Mitte der Gesellschaft
heraus. Sie spaltet und polarisiert nicht, sondern sie führt
zusammen. Konservative und liberale, ökologische und
soziale Ansätze dürfen nicht gegeneinander ausgespielt
werden. Sie werden es auch nicht in dieser Regierung;
sie werden vielmehr für eine gute Politik miteinander
fruchtbar gemacht.
Das ist auch ein Stück Handschrift der CSU. Diese
Handschrift prägt auch den Koalitionsvertrag. Ich bin,
ehrlich gesagt, ein bisschen stolz darauf, dass der CSUParteitag - in Klammern gesagt: unter meiner Tagungsleitung ({3})
diesen Koalitionsvertrag einstimmig - das möchte ich
betonen - gebilligt hat.
({4})
Meine Damen und Herren, die neue Regierung pflegt
einen neuen Stil: sachbezogen und ergebnisorientiert.
Die Koalition aus unseren drei Parteien startet zugegebenermaßen unter schwierigen Bedingungen. Keiner der
Partner hat Wahlkampf für diese große Koalition gemacht.
({5})
Wir werden aber jetzt gemeinsam etwas daraus machen.
Wir werden versuchen, mit Leistung zu überzeugen.
Nur auf diesem Weg kann das Vertrauen der Bevölkerung wiedergewonnen werden.
Vertrauen schaffen, das ist auch die Richtschnur für
die Außen- und Europapolitik dieser Regierung.
Deutschland ist - man kann dies nicht oft genug betonen - ein verlässlicher Partner und Verbündeter. Gerade
die kleinen und mittleren Länder in der Europäischen
Union setzen auf einen Partner Deutschland, der ihre Interessen ernst nimmt.
Ich erinnere mich sehr gut und sehr gern an meine
ersten Parlamentsjahre, als Helmut Kohl uns jungen,
neuen Abgeordneten vor allen Dingen in Bezug auf die
Europapolitik immer eines eingeschärft hat: Nehmt die
kleinen und die ganz kleinen Länder ernst; denn das ist
ein wichtiger Erfolgsgrundsatz für eine gedeihliche und
nachhaltige Europapolitik!
({6})
Die europäische Einigung und die transatlantische
Partnerschaft sind gleichermaßen wichtige Pfeiler
deutscher Staatsräson. Eine ausgewogene Außenpolitik,
die auf diesen beiden Pfeilern stabil aufbaut, ist ein echter Gewinn für unser Land.
Die erste Regierungserklärung der ersten Bundeskanzlerin unseres Landes hat deutlich gemacht: Deutschland bekommt eine kraftvolle Regierung. Ich sage ganz
klar: Meine Partei und die CSU-Landesgruppe innerhalb
der CDU/CSU-Fraktion wollen diesen Erfolg mit ganzer
Kraft.
({7})
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben mit Ihrer Regierungserklärung ein Zeichen der Zuversicht gesetzt. Es
gibt eine Reihe hervorragender, guter Zeichen, die schon
in dieser Debatte sichtbar geworden sind. Ein gutes Zeichen ist: Die Sanierung des Haushalts steht an oberster
Stelle. Wir alle wissen heute: Die Lage der Staatsfinanzen ist dramatisch. Die Strukturprobleme der Wirtschaft
und die Misere auf dem Arbeitsmarkt belasten den Haushalt. Die Steuereinnahmen reichen in diesem Jahr nicht
einmal aus, um Sozialleistungen, Zinsen und Gehälter zu
zahlen. Auf den Punkt gebracht: Ein Teil der Steigerung
der sozialen Ausgaben wurde mit einem Rückgang der
öffentlichen Investitionen bezahlt. Dies ist eine außergewöhnlich gefährliche Entwicklung, ein dramatisches
Zehren von unserer Substanz. Der Anteil der Investitionen am Bundeshaushalt liegt jetzt bei unter 9 Prozent.
15 Prozent des Haushalts muss der Bund 2006 allein für
Zinsen aufwenden.
Diese bedrückende Eröffnungsbilanz zwingt uns alle
zu einer konsequenten Konsolidierung. Das ist die Verpflichtung der heute Verantwortlichen gegenüber kommenden Generationen.
({8})
Nur eine entschlossene Konsolidierung eröffnet Spielräume für Zukunftsinvestitionen, egal ob das Infrastrukturinvestitionen im Bereich Verkehr oder an anderer
Stelle oder Investitionen in Bildung sind. Bildungsinvestitionen sind rentierliche Investitionen in die Zukunft. Das sage ich auch als Kaufmann, obwohl in kaufmännischer Hinsicht nur das als Zukunftsinvestition
zählt, was sich in kaufmännischen Rechnungslegungen
wiederfindet; volkswirtschaftlich sieht das anders aus.
Investitionen in die Bildung sind wichtige Zukunftsinvestitionen.
({9})
Im Koalitionsvertrag wird dafür der richtige Kurs abgesteckt. Wir setzen dies gemeinsam um. Wir tragen auch
gemeinsam Verantwortung dafür.
Ein weiteres gutes Zeichen ist, dass angesichts der
Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat die Signale
nicht auf Konfrontation, sondern - Gott sei Dank - auf
Kooperation gestellt sind. Die neue Regierung und die
Fraktionen der großen Koalition setzen auf eine gute
Zusammenarbeit mit den Ländern. Deutschland wieder nach vorne zu bringen, das müssen sich Bund und
Länder gemeinsam auf die Fahnen schreiben. Die Länder und Regionen, wir alle miteinander können nur gewinnen, wenn die makroökonomischen Weichen hier in
Berlin, aber auch in Brüssel wieder richtig gestellt werden.
({10})
- Darauf komme ich jetzt zu sprechen, lieber Herr Kuhn.
Es ist auch ein gutes Zeichen, dass zwei Ministerpräsidenten, Edmund Stoiber und Matthias Platzeck, im
Koalitionsausschuss die Interessen der Länder einbringen. - Damit ist Ihre Frage beantwortet.
({11})
Gerade wir Bayern wissen, dass wir ohne die Bereitschaft zur Verantwortung für Deutschland nichts für unsere Heimat bewegen können. Deshalb ist es erfreulich,
dass die große Koalition die Föderalismusreform schon
ein ganzes Stück vorangebracht hat. Deutschland
braucht starke Länder, wir wollen starke Länder. Vielfalt
belebt. Wettbewerb ist ein Anreiz, nach besseren Lösungen zu suchen. Das Bessere ist der Feind des Guten. Der
Wettbewerb der Länder untereinander ist ein Segen für
unsere föderale Ordnung und für unser Land.
({12})
Der Bund gibt deshalb zahlreiche Kompetenzen in die
ausschließliche Zuständigkeit der Länder. Schule, Kultur
und Rundfunk werden als Sache der Länder bestätigt.
Vom Strafvollzug bis zum Ladenschluss kommen aber
auch neue Kompetenzen hinzu. Hervorheben will ich,
dass der Bund künftig Aufgaben nicht mehr direkt auf
Gemeinden, Städte und Kreise übertragen darf, da das
Verhältnis zu den Kommunen von den Ländern geregelt
werden soll. Ausufernde Zustimmungserfordernisse im
Bundesrat verwischen bisher die Verantwortung und verzögern Entscheidungen. Das können wir uns nicht mehr
leisten. Die Zahl der Gesetze, denen der Bundesrat zustimmen muss, wird reduziert; denn das, was wir in den
vergangenen Jahren oder Jahrzehnten hier im Parlament
geleistet haben, hat unter den Zustimmungserfordernissen maßgeblich gelitten.
Bundesminister Franz Müntefering und Ministerpräsident Edmund Stoiber haben an der Spitze der Föderalismuskommission eine, wie ich meine, ganz exzellente
Vorarbeit geleistet.
({13})
Das verdient Dank und Respekt. Drei Punkte sind festzuhalten: Länder und Landtage werden gestärkt, Entscheidungen werden schneller fallen und - das ist ganz
wichtig - politische Verantwortungen - die Frage, wer
für was geradesteht - werden endlich viel deutlicher.
({14})
Ein weiteres gutes Zeichen ist, dass die Familien als
wichtigste Form des Zusammenlebens gestärkt werden.
Es wird keine Relativierung der Familie geben. Kindererziehung ist eine außergewöhnlich anspruchsvolle Aufgabe, die hohen Respekt verdient. Eltern, die erziehen,
haben Anspruch auf die Solidarität der gesamten Gesellschaft.
({15})
Zu dieser Solidarität gehört, Müttern, aber auch Vätern - als Vater von vier Kindern weiß ich, wovon ich
spreche - Wahlfreiheit bei ihrer Lebensgestaltung zu eröffnen. Diese Wahlfreiheit wird bisher doppelt eingeschränkt erlebt: Den einen fehlt es an Unterstützung, um
Beruf und Familie verbinden zu können, und die anderen
erleben, wie wenig öffentliche Anerkennung die Aufgabe erfährt, Kinder zu erziehen. Beides gilt es zu ändern.
({16})
Ich möchte an dieser Stelle Folgendes ergänzen:
Beide familiären Leitbilder verdienen gleichermaßen
Respekt, das Leitbild der berufstätigen Frau und Mutter
genauso wie das Leitbild der jungen Frau, die, exzellent
ausgebildet, sich ganz bewusst dafür entscheidet, mehr
oder weniger viele Jahre zu Hause zu bleiben und sich
der Kindererziehung oder der Pflege älterer Menschen in
der Familie zu widmen. Ich wehre mich dagegen, dass
oft diese Leitbilder sehr einseitig gesehen werden.
({17})
Wir dürfen das andere Leitbild, das Leitbild der Frau, die
wegen der Kindererziehung zu Hause bleibt, nicht in die
Schmuddelecke der Gesellschaft stellen. Beide Leitbilder sind in unserer Gesellschaft gleichwertig.
Der Ausbau der Angebote der Kinderbetreuung
schafft bessere Chancen dafür, Familie und Beruf zu verbinden. Mit dem Elterngeld ist gewährleistet, dass die
Förderung junger Familien besser auf ihre persönliche
Situation abgestimmt werden kann. Mehrgenerationenhäuser - ein Modewort ({18})
machen die Solidarität der Generationen konkret lebbar
und erlebbar. - Sie lachen. Ich kann Ihnen aber sagen,
warum ich das Wort „Modewort“ gebraucht habe - es ist
nicht alles schlecht, was Mode ist; sonst wäre es vielleicht nicht Mode -: Damit wird etwas ganz Selbstverständliches aufgegriffen. Vor zwei, drei Generationen
war es nämlich ganz natürlich, dass drei Generationen in
einem Haus, unter einem Dach, zusammen gewohnt haben. Die sozialen Probleme und Konflikte und die materielle Not in jener Zeit waren vielleicht aus anderen
Gründen größer als heute, aber nicht wegen der damaligen Familienstruktur. Eine Mehrgenerationenfamilie ist
Ausdruck von gelebter Solidarität und auch von Subsidiarität.
({19})
Darauf legen wir viel Wert.
Auch wenn wir noch so viele soziale Dienste aus öffentlichen Mitteln finanzieren: Sie können nicht so viel
Nestwärme und Geborgenheit bieten wie gewachsene
Familien.
({20})
Es ist doch absurd: Wir geben heute in Deutschland nach
wie vor eine Rekordsumme für soziale Zwecke aus und
trotzdem war in unserem Land noch nie so viel von sozialer Kälte und Ellenbogengesellschaft die Rede. Beides passt nicht zusammen. Darum ist es gut, wenn wir
die Generationen in den Mehrgenerationenhäusern wieder zusammenbringen.
({21})
Das neue Kabinett ist ein starkes Team. Politische
Schwergewichte machen die Schwerpunkte der Regierungsarbeit deutlich: Sanieren, also auch reparieren,
reformieren und investieren, also aussäen für die Zukunft. Dieser Dreiklang bestimmt die Politik der neuen
Regierung. Deutschland braucht bessere Standortbedingungen für Betriebe und Arbeitsplätze. Der Kern unserer
Entscheidung für die große Koalition und auch der Maßstab für ihren Erfolg ist: Deutschland muss investitionsfreundlicher werden, damit wieder neue Arbeitsplätze
in unserem Land entstehen. Auch wenn wir bei den
Steuern und Abgaben das eine oder andere tun müssen,
weil uns kein anderer Weg bleibt, muss die Botschaft
sein: Deutschland ist ein investitionsfreundliches Land.
Es lohnt sich, in Deutschland zu investieren; es lohnt
sich, in Deutschland etwas aufzubauen; es lohnt sich,
hier zu bleiben, nicht zu desinvestieren; es lohnt sich, in
Deutschland Arbeitsplätze zu schaffen.
({22})
({23})
Die Politik der neuen Regierung wird zu Investitionen
in Deutschland ermutigen und damit die Wachstumskräfte in unserem Land entfesseln.
Unser Land soll und darf nicht von der Substanz leben. Es sollen Werte geschaffen werden. Auf diesem
Weg wird mehr Beschäftigung dauerhaft gesichert. So
werden neue Chancen eröffnet.
({24})
Bundesminister Michael Glos bürgt für eine Wirtschaftspolitik, die den Mittelstand
({25})
und eigentümergeführte Familienunternehmen stärkt.
Sie sind die Stütze des Standortes Deutschland. Sie machen keine Negativschlagzeilen, weder mit Stellenabbau
noch mit überzogenen Managergehältern. 50 Prozent der
Wertschöpfung, 70 Prozent der Arbeitsplätze und
80 Prozent der Lehrstellen entfallen auf Unternehmen
mit weniger als 500 Mitarbeitern. Auch hier weiß ich,
wovon ich rede. Der Mittelstand ist das Rückgrat der
Gesellschaft. Hier liegt das Potenzial für mehr Wachstum und Beschäftigung.
({26})
Wir haben im ersten Halbjahr Debatten zu diesem
Thema geführt.
Ich bekenne mich ausdrücklich zu meiner Nebentätigkeit bzw. beruflichen Tätigkeit als Unternehmer. Es freut
mich, dass es außer der Politik noch Unternehmertum
gibt. Dieses pflege ich neben meiner Tätigkeit im Parlament und damit sichere und schaffe ich Arbeitsplätze.
({27})
Die Stundung oder der schrittweise Erlass der Erbschaftsteuer ist wichtig für die Fortführung mittelständischer Betriebe. Auch die degressive Abschreibung gibt
einen starken Investitionsanreiz für die Jahre 2006 und
2007. Jeder weiß, dass wir gerade im Hinblick auf die
mittelständische Wirtschaft bürokratiebedingte Kosten
abbauen müssen. Wir fassen uns an die eigene Nase: Wir
müssen das in unserer Gesetzgebung beherzigen. Unser
konkretes parlamentarisches und Regierungshandeln
muss sich danach richten.
Ich danke Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie
nochmals betont haben, dass eine Eins-zu-eins-Umsetzung europäischer Normen ein wichtiger Maßstab für
unser Regierungshandeln ist. Dem steht aber entgegen,
dass - wohl noch als Überbleibsel aus der Trittin-Zeit
- uns momentan der Entwurf einer Verpackungsverordnung vorliegt, in dessen Begründung - vorletzte Woche habe ich das gelesen - steht: Mit dieser Regelung
gehen wir über die Vorgaben der Europäischen Union hinaus. - Wenn wir jetzt hierbei schon darüber hinausgehen würden, obwohl wir sagen, dass wir nur eins zu eins
umsetzen wollen, dann wäre das die erste Verfehlung.
Darum sage ich: Wir fassen uns hier an die eigene Nase.
Ein weiteres Beispiel aus der rot-grünen Regierungszeit.
({28})
- Ich differenziere ganz genau.
({29})
Ab 1. Januar dürfen alle Betriebe, auch Klein- und
Kleinstunternehmen, die Übermittlung ihrer Sozialversicherungsdaten an die Krankenkasse nur noch elektronisch per Internet vornehmen. Ich sage Ihnen: Das ist
eine völlig verrückte Vorgabe. Denn es gibt viele
Kleinstunternehmen entweder ohne Angestellte oder nur
mit ein, zwei oder drei Mitarbeitern, die wegen ihres Betriebsumfangs überhaupt keine entsprechenden elektronischen Einrichtungen haben.
({30})
- So ist das. Das ist die Praxis.
({31})
Dazu verlangen - jetzt kommt es - die Krankenkassen ein- bis zweitägige Schulungskurse für diese
Kleinstunternehmen, als ob ein Kleinstunternehmer
nichts anderes zu tun hätte, als tagelang bei der Krankenkasse in Schulungskursen zu sitzen, damit er mit den
neuen Vorschriften zur Übermittlung seiner Sozialversicherungsdaten zurechtkommt. Auch das ist ein Fehler.
Ich verstehe jeden Kleinstbetrieb, der sich dieser Regelung widersetzt.
({32})
Hinsichtlich der Bürokratie sollte man auch bei den
eigenen Strukturen ansetzen. Ich frage mich manchmal:
Muss es sein, dass wir 72 Bundesämter haben und sich
auf gleichen Gebieten bis zu drei Bundesämter tummeln,
die noch dazu gegeneinander arbeiten, wie mir von Präsidenten solcher Ämter bestätigt wurde? Es gibt Hunderte von Landesämtern. Das alles passt nicht in eine
Landschaft, in der wir eher zu viel als zu wenig Bürokratie haben.
({33})
Ich begrüße sehr, was Sie, Frau Bundeskanzlerin, zu
einer nachhaltigen Politik und zu den erneuerbaren
Energien gesagt haben. Ich meine Ihr Bekenntnis zur
grundsätzlichen Beibehaltung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und Ihr Bekenntnis zu erneuerbaren Energien als wichtigem Bestandteil einer Energiepolitik insgesamt.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch daran erinnern, dass das heutige EEG ein politisches Tochtergesetz unseres Stromeinspeisungsgesetzes aus dem
Jahr 1990 ist, dass also bereits in den 90er-Jahren der
Grundstock für das gelegt worden ist, was sich heute auf
diesem Gebiet tut.
({34})
Meine Damen und Herren, wir spüren: Die Zeit
drängt, auch meine Redezeit. Deutschland hat eine stabile Regierung. Aber Deutschland braucht auch - das
möchte ich zum Schluss betonen - eine konstruktive
bürgerliche Opposition. Hier blicke ich vor allen Dingen
auf die Liberalen und auf die Grünen. Ihnen von den Liberalen sage ich: Ich selbst bin ein praktizierender Liberaler,
({35})
genauso wie mein Vorgänger im Amt des Landesgruppenvorsitzenden der CSU.
({36})
Egal ob Regierung oder Opposition, wir alle stehen in
der Verantwortung. Hier kann sich niemand drücken.
({37})
Nur im Wettstreit der Argumente kann Politik gedeihen.
Meine Damen und Herren, die neue Regierung und
die Fraktionen der großen Koalition haben sich ehrgeizige Ziele gesteckt. Deutschland braucht eine erfolgreiche Regierung. Dafür werden meine Fraktion und in ihr
die CSU-Landesgruppe mit ganzer Kraft arbeiten.
Vielen Dank.
({38})
Das Wort hat der Kollege Olaf Scholz von der SPDFraktion.
({0})
Meine Damen und Herren! Die Bundeskanzlerin hat
in ihren Eingangsbemerkungen darauf hingewiesen, dass
sich einige Ideen der Regierungsbildung nach dem Internet richten sollen. Eine der Kategorien moderner Internetdebatten lautet Open Source: dass Programme gewissermaßen für jeden verfügbar werden, unabhängig
von der Quelle.
({0})
Wenn wir das jetzige Regierungsprogramm betrachten, dann können wir Sozialdemokraten sagen: Darin
sind viele unserer Programmquellen enthalten und wir
sind einverstanden, dass in dieser Frage keine Urheberrechtsansprüche geltend gemacht werden.
({1})
Wenn über die Regierungsbildung diskutiert wird,
geht es auch um die Frage, wie es zu dieser Koalition gekommen ist. Wer sich die Debatten der letzten Wochen
oder auch die heutige anschaut, wird festgestellt haben:
Ernsthafte Kritik daran, dass es nun zu einer großen
Koalition gekommen ist, wird eigentlich von niemandem geäußert,
({2})
auch nicht - das ist interessant - von den Parteien der
Opposition.
Die Grünen und ihre Wählerinnen und Wähler haben
eingesehen, dass es für Rot-Grün nicht mehr gereicht hat
und dass eine andere Konstellation mit drei Parteien
nicht funktioniert. Die FDP hat gesagt, sie wolle für bestimmte Konstellationen nicht zur Verfügung stehen.
Deshalb kann Sie nur einverstanden damit sein, dass es
jetzt zu einer großen Koalition gekommen ist. Für die
PDS/Linkspartei gilt Ähnliches. Sie wollte ohnehin mit
niemandem regieren und niemand mit ihr. Insofern kann
auch sie nicht kritisieren, dass es jetzt zur Bildung dieser
Regierung gekommen ist.
({3})
Was mich etwas wundert, ist, dass das allgemeine
Einverständnis über die Bildung dieser Koalition dazu
führt, dass im Rahmen dieser Debatte über die Regierungserklärung nirgendwo ein richtiger Gegenentwurf
gezeichnet worden ist.
({4})
In den Beiträgen der Oppositionsredner - es gibt ja drei
Oppositionsparteien ganz unterschiedlicher Richtung konnte man an keiner Stelle hören, wie eine andere Linie
aussehen sollte als die, die die Bundeskanzlerin in ihrer
Regierungserklärung vorgetragen hat, und als die, die im
Koalitionsvertrag vereinbart wurde.
({5})
Meine Damen und Herren, dafür kann es viele Gründe
geben. Einer der Gründe kann natürlich sein, dass wir es
so falsch nicht gemacht haben. Ich plädiere für diese
Antwort.
({6})
Wenn nach fast 40 Jahren erneut eine große Koalition
gebildet wird, dann muss sie natürlich auch solche Aufgaben lösen, die nur im Rahmen einer großen Koalition
lösbar sind. Ich denke, das ist ein Maßstab, den sich eine
solche Regierung setzen muss und dem sie auch genügen
muss.
Es gibt ein paar solcher Aufgaben, von denen nicht
nur wir hier im Parlament, sondern auch die Bürgerinnen
und Bürger in diesem Land annehmen, dass sie zu lösen
nur funktioniert mit der ganzen Kraft einer großen Koalition in diesem Parlament, aber auch den Möglichkeiten, die sie im Sinne von Überzeugungskraft in Richtung
Länder hat. Ich denke, diese Aufgaben sind im Koalitionsvertrag benannt und es ist auch gesagt worden, wie
man sie lösen kann.
Das erste Thema ist die Reform der föderalen Ordnung. Wir alle wissen, dass sie notwendig ist; aber wir
alle ahnen auch, dass es ganz schwierig ist, angesichts
der verhakelten Situation eine Reform mehrheitsfähig zu
machen - nicht nur hier, sondern auch im Bundesrat. Es
ist deshalb gut und richtig, dass die Koalition im Vertrag
sehr viel Platz für dieses Reformwerk gelassen hat. Ja,
wir wollen die Reform des Föderalismus in Deutschland
gleich im ersten Jahr, noch bis zur Sommerpause zustande bringen. Dieses Werk sollten wir ab Januar angehen und wir sollten zeigen, dass wir das schaffen, dass
diese Koalition das zustande bringen kann.
({7})
Das zweite große Thema, das gerade in einer solcher
Konstellation vorwärts bewegt werden kann und bei dem
man zu Recht die Vermutung hat, anders ginge es wohl
nicht, ist eine Weiterentwicklung des Beamtenrechts.
Ich bin sehr wohl der Meinung, dass das Berufsbeamtentum in Deutschland eine Zukunft hat und dass es die
Aufgabe auch dieses Hauses ist, dafür zu sorgen, dass
das Beamtenrecht und das Berufsbeamtentum - die zusammengehören - für die Zukunft weiterentwickelt werden.
Drei Punkte in diesem Koalitionsvertrag spielen dabei
eine große Rolle: Erstens sagen wir auch im Rahmen der
Föderalismusreform: Es ist möglich, die hergebrachten
Grundsätze des Berufsbeamtentums weiterzuentwickeln.
Das werden wir machen und das ist die Voraussetzung
für alle Reformen.
Zweitens wollen wir zulassen, dass ein großer Teil
des Beamtenrechts, insbesondere was Besoldungsfragen
betrifft, entweder in den Ländern oder im Bund geregelt
wird - immer genau da, wo es darauf ankommt; auch das
ist etwas, was Modernisierung, was Weiterentwicklung
möglich macht. Denn die bisherige Situation, dass
sich16 Bundesländer und ein Bundesstaat einigen mussten, hat meistens dazu geführt, dass der eine auf den anderen verwiesen hat bei der Frage, warum er nichts gemacht hat. Das ist jetzt beendet und auch das ist ein
Fortschritt - ein Fortschritt, den die sich Bürgerinnen
und Bürger lange gewünscht haben.
({8})
Drittens gehört zur Reform des Beamtenrechts natürlich auch das eine oder andere, was wir jetzt unmittelbar
in Angriff nehmen, indem wir bei den Besoldungsstrukturen des Bundes Anpassungen vornehmen, die sich an
denen der Länder ausrichten.
Das dritte große Thema, an dem sich eine solche Koalition beweisen muss, ist, dass wir es schaffen, das Vertrauen in die sozialen Sicherungssysteme zurückzuerobern.
({9})
Ich halte das für einen ganz wichtigen Punkt. Ich sage
das auch mit einem Bekenntnis verbunden: Ich glaube,
dass unsere traditionellen Institutionen Rentenversicherung, Krankenversicherung und Pflegeversicherung zu
Recht eine so lange Tradition haben - das gilt für die ersten beiden - und dass es sich lohnt, dass sie auch in Zukunft weiter zu den wichtigsten Garanten von Sozialstaatlichkeit in Deutschland gehören. Das müssen wir
jetzt und in dieser Koalition endgültig zustande bringen.
({10})
Wer als junger Mann oder junge Frau einen Vertrag abschließt mit der Rentenversicherung, mit der Krankenversicherung und auch mit der Pflegeversicherung, lässt
sich auf einen Vertrag ein, der viele Jahrzehnte funktionieren muss: für den Einzahler wie für den Leistungsempfänger. Dieser Vertrag läuft länger als manche Ehe,
auf alle Fälle viel länger, als Regierungen in Deutschland zu halten pflegen. Und der eine oder andere Regierungswechsel ist im Laufe der Jahrzehnte durchaus möglich. Insofern muss es unsere Aufgabe sein, dafür zu
sorgen, dass sich die Menschen nicht vor einem Regierungswechsel fürchten, wenn es um die Grundbedingungen von Renten- und Krankenversicherung geht. Das ist
eine Aufgabe, die sich wirklich lohnt.
({11})
Wir sind bei der Rentenversicherung schon viel weiter,
als die öffentliche Diskussion wahrgenommen hat: Von
den Reformvorstellungen der Rürup-Kommission für die
Regierung ist fast alles umgesetzt, und was noch fehlt,
das traut sich die Koalition jetzt im Koalitionsvertrag.
Das finde ich richtig, weil das die Grundlage für Zutrauen und Vertrauen ist.
({12})
In der Frage der Krankenversicherung sind unter
der letzten Regierung Fortschritte gemacht worden.
Manches von dem, was wir uns in Bezug auf mehr Wettbewerb und mehr Kosteneffizienz vorgestellt haben,
steht jetzt im Koalitionsvertrag. Wir haben uns vorgenommen, die Frage, wie wir das Gesundheitssystem finanzieren, gemeinsam im nächsten Jahr zu beantworten.
Ich betone: in einem Jahr. Angesichts der Tatsache, dass
ein großer Streit vorausgegangen ist, der nicht vom
Zaune gebrochen worden ist, sondern seine Ursache in
den gewaltigen Problemen hinsichtlich Finanzierung
und Zukunftsfähigkeit des bisherigen Systems hat, ist es
eine ehrgeizige, aber lösbare Aufgabe, in einem Jahr
eine Lösung zu suchen.
Ich will zusammenfassen: Wenn es die große Koalition schafft, in einem Jahr eine Lösung für die Finanzierungsprobleme der Krankenversicherung zu finden, die
beide Parteien über die Koalition hinaus auch in den
nächsten Jahrzehnten weiter mittragen und die gesellschaftliche Akzeptanz hat, dann haben wir etwas Großes
zustande gebracht. Ich bin sicher, wir werden das schaffen.
({13})
Der vierte Punkt betrifft die Frage der Staatsfinanzen; dieses Thema ist schon angesprochen worden. Die
Menschen erwarten, dass wir eine Lösung finden. Wir
alle sollten so ehrlich miteinander sein, zu bekennen: Es
wurde in diesem Zusammenhang von eigentlich allen
Parteien in diesem Hause eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht; nur die Zusammensetzung des Cocktails war jeweils eine andere. Die Menschen denken,
dass wir uns alle bei so manchem Punkt, der im Koalitionsvertrag steht, fast einig sind, dass wir aber nur deswegen nichts machen, weil wir es im politischen Wettstreit nicht hinbekommen. Wenn wir diese Punkte, etwa
wenn es um den Abbau von Steuersubventionen geht,
aufgreifen und sagen, diese Steuersubventionen schaffen
wir ab, und zwar gemeinsam, weil wir alle das eigentlich
immer richtig fanden, dann werden wir auf viel mehr
Akzeptanz stoßen, als die FDP vermutet. Wir werden auf
gesellschaftliche Unterstützung stoßen, weil jeder denkt,
das war lange fällig, das musste gemacht werden und es
ist gut, dass es jetzt geschieht.
({14})
Zu einer Debatte über die Lage des Staatshaushaltes
gehört immer Ehrlichkeit.
({15})
- Ja, überall. - Zur Ehrlichkeit gehört aber, dass man
nicht nur sagt, wie es nicht geht, sondern dass man Vorschläge macht, wie es gehen soll. Es gibt die schlechte
Mode, Entschließungsanträge zu schreiben; wir werden
am Ende dieser Debatte drei Beispiele dazu zu bewältigen haben. Entschließungsanträge beziehen sich eigentlich auf Gesetzgebungsvorhaben, sind aber häufig eine
reine Meinungsbekundung. So löst man kein Problem,
weil man sich nicht wirklich zu dem bekennen muss,
was man eigentlich will, und weil die Konzepte nicht
aufgehen müssen.
({16})
Ich habe mir den Entschließungsantrag der FDP und
den Entschließungsantrag von PDS/Linkspartei angesehen. Ich musste feststellen, dass darin eigentlich kein
Vorschlag zur Lösung eines der genannten Probleme
steht.
({17})
Ich bin außerdem sehr daran interessiert, herauszufinden, was Sie meinen. Ich jedenfalls habe große Zweifel,
ob es wirklich in Ordnung ist - wie das die FDP vorschlägt -, bei den sozialen Sicherungssystemen bei dem,
was hineinkommen muss, und dem, was herausgenomOlaf Scholz
men werden muss, mehr zuzulangen und mehr zu sparen,
({18})
ohne den Menschen zu sagen - das ist eine mögliche
Übersetzung der rhetorisch groß vorgetragenen Rede
von Herrn Westerwelle -, dass wir die Renten sofort und
ordentlich kürzen, damit die Staatsfinanzen in Ordnung
sind.
({19})
Ich finde, ohne diesen ehrlichen Zusatz ist die ganze
Rede nur noch hohl. Davor sollte man sich als Politiker
in Acht nehmen. Jetzt tritt eine Regierung ins Amt, die
mit ihrer Mehrheit viele reale Taten zustande bringen
wird. Daher kommt man mit hohlen Sprüchen nicht sehr
weit. Ich rate zu mehr Ehrlichkeit.
({20})
Lassen Sie mich eine Schlussbemerkung machen. Ich
habe an den verschiedenen Beifallsbekundungen heute
festgestellt, dass es gelegentlich Einigkeit zwischen FDP
und PDS/Linkspartei gibt
({21})
- das werden Sie auch bleiben -,
({22})
während an bestimmten Stellen auch zwischen Grünen
und den beiden Koalitionsfraktionen Gemeinsamkeiten
bestanden. Das hat etwas damit zu tun, dass sich die Vorstellung, was gerecht ist und was Gerechtigkeit in dieser
Gesellschaft ausmacht, bei den Regierungsparteien und
bei unserem bisherigen Koalitionspartner auf diese Welt
bezieht. Gerecht kann nur sein, was auch möglich ist.
({23})
Was ist das „einig Uneinige“ zwischen der FDP und
den Grünen? Die FDP will, dass das mögliche Maß an
Gerechtigkeit nicht verwirklicht wird, weil man auch
darunter bleiben kann.
({24})
Die PDS/Linkspartei möchte das Unmögliche und hält
das für gerecht.
Beides ist falsch. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg.
({25})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/112? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist damit bei Zustimmung der FDP-Fraktion
und Gegenstimmen der übrigen Fraktionen abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/114. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist bei Zustimmung der Fraktion Die Linke und Ablehnung aller übrigen Fraktionen abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/91. Wer stimmt
dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Das
ging bei Ihnen von den Linken etwas durcheinander. Ich
werte das mal als ein geschlossenes Abstimmungsverhalten, obwohl es auch einige andere Handzeichen gab.
Der Entschließungsantrag ist bei Zustimmung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, Gegenstimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP und Enthaltung der Fraktion
Die Linke abgelehnt.
Wir kommen nun zu den Bereichen Außen, Europa,
Entwicklung und Menschenrechte.
Das Wort hat als erster Redner der Bundesminister
Frank-Walter Steinmeier.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den Satz
meines Amtsvorgängers „Wir unterschätzen uns“ haben
Sie hier in diesem Haus so oft gehört wie ich. Ich bekenne: Die wahre Dimension dieser Mahnung wird mir
eigentlich erst nach der ersten Runde von Antrittsbesuchen, die ich im europäischen und außereuropäischen
Ausland hinter mir habe, zunehmend deutlich. Mit anderen Worten: Ich bin ehrlich tief beeindruckt, dass sich
aus allen Gesprächen eigentlich eine einzige klare
Grundbotschaft herauskristallisiert: Unsere Freunde und
Partner sehen mit großen - ich finde sogar: mit riesigen - Erwartungen auf unser Land und die neue Bundesregierung. Sie erwarten, dass wir auch in Zukunft Verantwortung und Gestaltungswillen für Europa, für den
Balkan, für die Zukunft unseres Kontinents und auch
weit darüber hinaus, etwa in Afghanistan, im Nahen und
Mittleren Osten, bei der Bekämpfung des internationalen
Terrorismus, beim Kampf gegen die Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen, beim Einsatz für einen
freien und fairen Welthandel und beim internationalen
Klimaschutz zeigen.
({0})
Meine Damen und Herren, ich finde immer noch,
dass sich diese Erwartungen nicht ganz selbstverständlich an uns richten. Deshalb hat es mich gestern in New
York auch ganz besonders berührt, dass sich insbesondere auch die Vertreter der jüdischen Organisationen
mit in diesem Sinne hohen Erwartungen an unsere Außenpolitik und an die Übernahme von Verantwortung an
uns gerichtet haben.
Die Haltung unserer Freunde und Partner, mit denen
ich sprechen konnte, zeigt eines ganz klar: Deutschland
ist es gelungen, in den letzten 15 Jahren seinen Platz in
der Welt neu zu bestimmen. Diese Neubestimmung
wurde mit einer Ausnahme im Parlament von allen Parteien mitgetragen und hat unser außenpolitisches Credo
nie preisgegeben, nämlich ein verlässlicher Partner in
den Vereinten Nationen zu sein, multilateral aus Überzeugung und in Achtung des Völkerrechts und der Menschenrechte.
({1})
Wir alle haben lernen müssen, dass mit dem Ende des
Ost-West-Konfliktes alte Selbstverständlichkeiten nicht
mehr ohne weiteres gelten. Das war nicht selten unbequem, eröffnet aber, um eine Formulierung aus der Regierungserklärung aufzugreifen, neue Möglichkeiten.
Diese Möglichkeiten, diese Chancen der Globalisierung sollten wir angesichts einer - die Talkshows sind
vorhin genannt worden - zu Krisen- und Untergangsfantasien neigenden Öffentlichkeit mindestens ebenso deutlich herausstellen wie die vielen Gefahren, die wir natürlich weder ignorieren noch kurzfristig beseitigen
können. Aber wir müssen daran - vielleicht in der Zukunft mit noch mehr Ehrgeiz - arbeiten. Aber bitte:
Chancen und Risiken - das ist die Botschaft - sind Teil
jener Zukunft, die wir gemeinsam gestalten wollen.
({2})
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem bekannten
und einflussreichen amerikanischen Wissenschaftler und
Politikberater Jeremy Rifkin, den wir im vergangenen
Jahr zu einer Diskussion hier hatten. Ein Satz ist mir in
Erinnerung geblieben:
Warum seht ihr nicht, dass Europa für viele Menschen in der Welt ein Ort der Hoffnung und der Zuversicht für eine bessere Weltordnung ist?
({3})
Er hat uns, den Deutschen, und uns, den Europäern,
bei der Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft etwas
mehr Pioniergeist und Fortschrittsoptimismus gewünscht. Das dürften Tugenden sein, die mit dem
Selbstverständnis und der Programmatik beider Regierungsparteien und, wie ich hoffe, sogar darüber hinaus
vereinbar sind.
Auf vielen Feldern, zum Beispiel der Zukunft der
europäischen Außen- und Sicherheitspolitik - die
europäische Sicherheitsstrategie ist in der Regierungserklärung genannt worden - sowie des künftigen Verhältnisses zwischen Europa, den Vereinigten Staaten und
Russland, auf diesen Baustellen sind wir noch weit davon entfernt, zu Antworten zu kommen, die den tektonischen Verschiebungen der letzten Jahrzehnte gerecht
werden. Diese wichtigen Baustellen sind schon heute absehbar. Neue Herausforderungen werden hinzukommen.
Für mich heißt eben Kontinuität in der Außenpolitik in
diesem Sinne nicht Stillstand, sondern Kontinuität heißt
in diesem Sinne, kreativ nach neuen Antworten und Lösungen zu suchen.
({4})
Wenn ich das für die Zukunft sage, dann sage ich
auch, dass dieses Land mit Stolz auf das zurücksehen
kann, was wir in den letzten Jahren seit der deutschen
Wiedervereinigung geleistet haben. Deutsche Soldaten
und Polizisten sind heute an vielen Orten der Welt im
Friedenseinsatz. Ich sage vor diesem Hause: Der Deutsche Bundestag hat mit seiner übergroßen Mehrheit immer dann, wenn es verantwortbar war, und insbesondere
dann, wenn es darauf ankam, Ja zur Übernahme von
mehr Verantwortung für Frieden und Demokratie gesagt.
Vielleicht ist es vor diesem Hintergrund kein Zufall,
dass die erste Kabinettsvorlage, die ich in meiner neuen
Funktion im Hause des Auswärtigen Amtes zu unterzeichnen hatte, eine war, die mit diesen internationalen
Friedenseinsätzen zu tun hatte, nämlich die deutsche Beteiligung an der Grenzschutzmission in Rafah, die, wie
ich finde, ein sichtbarer Beitrag Europas zur Schaffung
von Stabilität in der schwierigen Nachbarschaft zwischen Israel und Palästina ist.
({5})
Wir haben gemeinsam den Kampf gegen den internationalen Terrorismus aufgenommen und sowohl im Bereich der Innen- und Justizpolitik als auch, wie ich
meine, in der Außenpolitik das Notwendige getan, ohne
die Prinzipien von Toleranz und Rechtsstaatlichkeit aufzugeben. Zudem - das darf ich trotz aller Auseinandersetzungen in der Vergangenheit feststellen - stehen wir
gemeinsam zu der Entscheidung, keine deutschen Truppen in den Irak zu entsenden.
({6})
Ich sage das auch deshalb, weil ich nach den Gesprächen mit der amerikanischen Außenministerin gestern
den vertieften Eindruck gewonnen habe, dass dies auch
von den amerikanischen Freunden und Partnern akzeptiert wird, und zwar nicht nur deshalb, weil unser Beitrag
- der militärische Beitrag in Afghanistan und der zivile
beim Wiederaufbau im Irak - gesehen und anerkannt
wird, sondern auch deshalb, weil die Vereinigten Staaten
von Amerika zu Recht auf ein starkes und selbstbewusstes Deutschland setzen. Ich betone ausdrücklich: Wir
wollen gute und, wo nötig, auch kritisch-konstruktive
Partner sein, und zwar aus Dank für die Hilfe, die wir in
der Vergangenheit erfahren haben, und aus der gemeinsamen Verantwortung für eine gerechte und friedliche
Weltordnung,
({7})
Prinzipien also, die wir auch im Kampf gegen den Terrorismus zu beachten haben. Das war, wie Sie aus den Medien wissen, auch Gegenstand der Gespräche am gestrigen Tage.
Sicherlich ist noch in beunruhigender Weise unklar,
was von Medienberichten über Gefangenentransporte
und geheime Gefängnisse zu halten ist. Wir brauchen
Aufklärung. Darin sind wir uns mit den europäischen
Partnern einig. Ich habe aber nach den Gesprächen in
Washington den Eindruck, dass das verstanden worden
ist, und ich hoffe, dass die Antwort auf die europäischen
Fragen zeitnah erfolgt und Klarheit schafft.
({8})
Im Übrigen - das ist nicht unwesentlich - war ich mir
mit den amerikanischen Gesprächspartnern darin einig,
dass wir an den Differenzen der Vergangenheit, die es
durchaus gab, gearbeitet haben, und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks erfolgreich und mit Zukunftsperspektiven. Wir haben eine Vielzahl gemeinsamer Interessen.
Wir wollen jetzt nach vorne blicken und sehen, was
wir zur Stabilisierung der Situation etwa in Afghanistan,
auf dem Balkan, im Nahen und Mittleren Osten, bei den
östlichen Nachbarn der Europäischen Union oder in
Zentralasien beitragen können. Klar war auch: Unsere
guten Beziehungen zu Russland werden nicht etwa argwöhnisch beäugt, sondern ausdrücklich begrüßt, weil ein
Russland, das sich nach Westen orientiert, in unserem
gemeinsamen Interesse liegt
({9})
und weil Russland ein unverzichtbarer Partner für Frieden und Stabilität in Europa und den Nachbarregionen
ist.
Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung schon einen umfassenden Überblick über die anstehenden außen- und europapolitischen Fragen gegeben.
Ich will mich deshalb in der knappen zur Verfügung stehenden Zeit auf zwei Punkte beschränken. Der erste
Punkt ist der Iran. Aus meiner Sicht ist eine Lösung im
Streit um den iranischen Nuklearehrgeiz am drängendsten. Kein anderes Thema hat in meinen Gesprächen in
den vergangenen Tagen einen so breiten Raum eingenommen. Wir teilen die Besorgnisse des überwiegenden
Teils der internationalen Staatengemeinschaft. Wir brauchen absolute Sicherheit und objektive Garantien, dass
bei der zivilen Nutzung von Kernkraft keine militärisch
nutzbaren Waffentechnologien vorbereitet werden.
({10})
Gleichzeitig - das ist meine feste Überzeugung bleibt aus unserer Sicht die Verhandlungslösung der
beste Weg.
({11})
Deshalb hat die IAEO mit unserer Unterstützung Teheran nochmals aufgefordert, alle Verpflichtungen aus dem
Nichtverbreitungsvertrag zu erfüllen. Diesen Verpflichtungen ist Teheran aus Sicht der IAEO in wichtigen
Punkten noch nicht nachgekommen. Deshalb haben die
drei europäischen Staaten, die die Verhandlungen in der
Vergangenheit geführt haben, vor wenigen Tagen den
Vorschlag des Iran aufgegriffen, die Gespräche möglicherweise demnächst erneut aufzunehmen. Wir haben
das davon abhängig gemacht - deshalb ist der Startschuss für den Wiederbeginn der Gespräche noch nicht
gefallen -, dass der Iran Signale gibt, dass er von der in
jüngster Zeit zu beobachtenden Praxis einseitiger
Schritte ablässt und eine Lösung akzeptiert, die dem Iran
die friedliche Nutzung der Atomkraft erlaubt, gleichzeitig aber ausschließt, dass der Brennstoffkreislauf geschlossen wird. Man wird in den Gesprächen sehen, ob
unter anderem der von Russland in die Debatte eingebrachte Lösungsvorschlag, die Anreicherungsvorgänge
außerhalb des Staatsgebietes des Irans vorzunehmen,
eine Basis für die Wiederaufnahme der Verhandlungen
ist.
Wir hoffen jedenfalls - das als vorläufige Conclusio -,
dass der Iran klug genug ist, dieses Angebot anzunehmen und eine Lösung auf dem Verhandlungswege und
damit unter dem Dach der IAEO zu ermöglichen. Ich
füge aber hinzu: Die Geduld derjenigen, die bereits viele
Verhandlungsrunden hinter sich gebracht haben, wird
endlich sein. Wenn der Iran nicht bereit ist, die Forderungen der IAEO zu erfüllen, dann wird man irgendwann gar nicht umhinkommen, über den Gang zum Sicherheitsrat ernsthaft nachzudenken.
Das Stichwort, das in diesen Zusammenhang
zwingend gehört, ist schon heute Morgen in der Regierungserklärung gefallen. Wir haben die antiisraelischen
Äußerungen des iranischen Ministerpräsidenten
Ahmadinedschad mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen. Niemand hat das Recht, das Existenzrecht
Israels infrage zu stellen.
({12})
Ich habe zu diesem gesamten Vorgang kürzlich in einer
anderen öffentlichen Rede gesagt: Ich bedauere es sehr
- genauer gesagt: es ist fast eine Tragödie -, dass der
Iran sein großes Potenzial, ein Stabilitätsanker in einer
krisengeschüttelten Region des Mittleren Ostens zu sein,
entweder nicht erkennt oder sogar bewusst verspielt.
({13})
Der zweite Punkt, der unsere besondere Aufmerksamkeit erfordert - wem sage ich das! -, ist die Lösung der
europäischen Finanzfragen. Wir hoffen und setzen darauf, dass von der britischen Ratspräsidentschaft in der
nächsten Woche Vorschläge vorgelegt werden. Aus meiner Sicht und aus der vieler europäischer Kollegen, mit
denen zu sprechen ich in den letzten Tagen Gelegenheit
hatte, ist eine Einigung auf dem bevorstehenden Gipfeltreffen unabdingbar, jedenfalls dann, wenn wir sicherstellen wollen, dass die neuen Mitgliedstaaten der EU
nicht nur eine formale Mitgliedschaft erworben haben,
sondern auch die Möglichkeit erhalten, tatsächlich in die
Europäische Union hineinzuwachsen.
({14})
Gerade die neuen Mitgliedstaaten brauchen einen Finanzrahmen, damit Mittel aus der Strukturpolitik fließen
können. Ohne eine Verständigung über die finanzielle
Vorausschau hängt das große Erweiterungsprojekt von
2004 - das liegt auf der Hand - zumindest mit einem
Bein in der Luft. Wir kennen die britischen Vorschläge
noch nicht. Sie werden, wie ich eben angedeutet habe,
auf jeden Fall kommen. Aber ich habe die Ernsthaftigkeit aller an diesem Prozess Beteiligten festgestellt, das
Projekt der finanziellen Vorausschau noch vor Weihnachten zu einem guten Ende zu bringen. Die Bedingungen dafür sind für uns klar: Der von der Luxemburger
Präsidentschaft vorgeschlagene Ausgaberahmen darf
und kann jedenfalls aus unserer Sicht nicht überschritten
werden.
Ein abschließender Satz zum Geiseldrama, aber vielleicht aus einer etwas anderen Perspektive. Natürlich
sehe ich - das habe ich gegenüber der Öffentlichkeit
zum Ausdruck gebracht - das Schicksal der deutschen
Geisel und ihres Fahrers im Irak mit großer Sorge. Sie
wissen, dass alle unsere Anstrengungen darauf gerichtet
sind, das Leben der Geiseln zu schützen und die Freilassung zu erreichen. In diesem Zusammenhang bestand
gestern bei den Gesprächen in den USA die Möglichkeit,
den amerikanischen Partner zu bitten, mit regionalem
Wissen und Kenntnis der Personalstrukturen behilflich
zu sein. Das ist zugesagt worden. Die Deutsche Botschaft, das BKA und das Auswärtige Amt mit seinem
Krisenstab sind im Augenblick intensiv bei der Arbeit.
Ich habe das Thema vor allen Dingen aber angesprochen, um einen anderen Aspekt zu betonen. Ich glaube,
dass sich gerade in Momenten wie diesen zeigt, wie
wichtig es ist, dass unser Land auf Menschen bauen
kann, die im Ausland - oft unter schweren Bedingungen ihren Dienst versehen.
({15})
Ich glaube - Frau Merkel, ich habe es nicht endgültig
nachprüfen können -, wir haben mit unserer Koalitionsvereinbarung insofern eine Premiere geschafft, als diese
Koalitionsvereinbarung zum ersten Mal allen dankt, die
im Ausland für Deutschland unterwegs sind: den Diplomaten und den Soldaten sowieso, aber auch denjenigen,
die als Entwicklungshelfer, Polizisten, Mitarbeiter von
Nichtregierungsorganisationen oder politischen Stiftungen im Ausland unterwegs sind.
({16})
Wir tragen für alle diese Personengruppen eine besondere Verantwortung. Diese Personen müssen wissen,
dass sie sich stets auf unser Verständnis, unsere Unterstützung und unsere Wertschätzung verlassen können.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Das Wort hat jetzt der Vorsitzende der FDP-Fraktion,
Dr. Wolfgang Gerhardt.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich vertrete hier eine Fraktion, der die Konsensbildung in der
Außenpolitik, seit die Bundesrepublik Deutschland besteht, sehr wohl bewusst ist. Wir sind eigentlich die einzige Fraktion, die zu den Kernfragen der deutschen
Außenpolitik gestanden hat, während sich manche Fraktionen zuerst mit der Westpolitik aussöhnen mussten und
andere wiederum mit der Ostpolitik. Wir haben eine
Kontinuitätslinie, die unbestritten ist. Deshalb wissen
wir auch, Herr Minister Steinmeier, wie wertvoll es ist,
dass man in der Außenpolitik möglichst Konsens sucht,
in den großen Linien gemeinsam verfährt und die Debatte darauf beschränkt, wo eine unterschiedliche Bewertung vorliegt.
Das transatlantische Bündnis war uns auch zu Zeiten
bekannt, als die frühere Regierung im Begriff war, dieses
für nicht mehr so bedeutungsvoll zu halten. Dass wir in
Europa mit den kleinen und mittleren Staaten kommunizieren müssen, haben Sie zu Recht dargestellt. Dass dies
vernachlässigt wurde, haben wir als Manko der früheren
Regierung empfunden. Das muss man uns eigentlich
nicht vortragen. Dass die Europäische Union größer geworden ist, hätte auch schon die alte Regierung dazu
zwingen müssen, mit mehr Staaten zu kommunizieren.
Es ist ja genau das, was der frühere Bundeskanzler eigentlich nicht gemacht hat und Sie jetzt in der Reisediplomatie nachholen.
({0})
Ich will angesichts der klaren Grundlinien und der
Bedeutung der deutsch-französischen Freundschaft
feststellen, dass diese Zusammenarbeit für uns wichtig
ist und dass auch mit unserer Regierungsbeteiligung
keine andere Reise stattgefunden hätte als zuerst die
nach Paris, dann nach Brüssel und anschließend nach
London. Ich begrüße es auch außerordentlich, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie dann nach Warschau fahren. Das
ist alles unbestritten. Aber im Kern muss man ja überlegen, was am Ende herauskommen soll, um europäische
Anliegen weiter zu bewegen. Die beiden großen Kontinentalstaaten Deutschland und Frankreich, die einst der
Motor der Europäischen Union waren, sind das nicht
mehr. Sie haben Beschäftigungsprobleme, sie haben
Budgetprobleme. Sie haben nicht die Wirtschaftskraft,
die die Eurozone eigentlich nach oben bringen könnte.
Sie schwächeln eher. Sie sind kein dynamisches Tandem
mehr. Wenn sie wieder eine Führungsfunktion ausüben
wollen, dann müssen sie zuallererst genau das erledigen,
was zu erledigen wäre - nach unserer Auffassung wurde
das in der Regierungserklärung nicht ausreichend beDr. Wolfgang Gerhardt
schrieben -: die Haushalte konsolidieren, für wirtschaftliches Wachstum sorgen, Beschäftigungsimpulse geben.
({1})
Ich wiederhole: Diese Aufgabe muss zuallererst erfüllt
werden. Daran fehlt es.
Ein Zweites muss geschehen - in den letzten Jahren
ist dieser Versuch etwas missglückt -: Wenn sie beide
wieder ein Stück weit Führung in Europa wahrnehmen
wollen, müssen sie sich eines gewissen Kommandotons
gegenüber anderen eher enthalten. Sie müssen alle als
gleichberechtigte Mitglieder der Europäischen Union
ansehen; sie dürfen keine Unterschiede machen. Die
deutsche Bundesregierung darf nie mehr in die missverständliche Lage geraten, dass sie vor dem Hintergrund
einer strategischen Partnerschaft mit Russland in vielen Gesprächen in Moskau Sachverhalte behandelt, die
anderen Ländern, die zwischen Russland und Deutschland liegen, so nicht gefallen.
({2})
Auch diese Länder sind unsere Partner, deren Interessen
wir klar sehen müssen.
Es ist schon bemerkenswert - ich bin wohl kaum falschen Wahrnehmungen unterlegen -: Die Anzahl deutschrussischer Treffen, insbesondere unter der vergangenen
Bundesregierung, steht in einem krassen Missverhältnis
der Kontakte zu den Staaten, die zur Europäischen
Union neu hinzugekommen sind. Diese Staaten hatten
schon immer den Eindruck - das muss man wahrnehmen
und spüren -, dass da manches verhandelt wird, was ihnen nicht gefallen könnte.
Deshalb bestreiten wir nicht die außergewöhnliche
politische Bedeutung einer strategischen Partnerschaft
mit Russland. Wir bestreiten auch nicht den Wert der
deutsch-französischen Beziehungen. Wir möchten nur,
dass die strategische Partnerschaft mit Russland mehr
beinhaltet, als in diesem Land einen Energielieferanten
zu sehen. Wir möchten vielmehr betonen, dass wir ein
massives Interesse an der Transformation dieses Landes
zu einem stabilen Rechtsstaat und zu einer stabilen Demokratie haben.
({3})
Das muss zum Dialog gehören.
In diesem Zusammenhang - strategische Partnerschaft mit diesem großen Land - sollten wir uns auch
darüber klar werden, wie wir die Diktaturen mitten in
Europa behandeln wollen. In einem Dialog mit dem
russischen Präsidenten können wir über Belarus, über
Moldawien und über Transnistrien nicht einfach hinweggehen. Ich bin für diese strategische Partnerschaft und
ich bin für den Interessenabgleich; aber ich bin auch für
die Erörterung der anliegenden Themen. Sonntägliche
Ansprachen können nicht verdecken, dass wir eine strategische Partnerschaft mit Russland brauchen, dass dieses Land groß ist, acht Zeitzonen der Erde umfasst und
ein wichtiger Energielieferant für Deutschland ist. Russland ist für mich aber mehr als ein Energielieferant.
Russland kann und muss ein stabiler Partner sein, aber
bitte einer, der demokratisch ist, bei dem Gerichte und
eine unabhängige Justiz zu entscheiden haben und bei
dem Verlässlichkeit für Investoren in der Welt herrscht.
({4})
Wir haben es im Grunde genommen mit einem Steckenbleiben in Bezug auf das zu tun, was wir in den Vereinten Nationen erreichen wollen. Wir haben für unsere
Pläne Partner gefunden: Brasilien, Indien, Japan. Wir
sollten noch mehr suchen. Aber wir sollten diese Bemühungen nicht mehr so monothematisch wie die frühere
Regierung darauf verengen, einen Sitz im Sicherheitsrat anzustreben. Die Bundestagsfraktion der FDP wird
Sie, Herr Minister, in jedem Bereich unterstützen, der
auf eine Stärkung der Vereinten Nationen abzielt. Unsere
Fraktion bekennt sich zum Multilateralismus. Wir wollen eine enge Bindung an das Völkerrecht. Wir neigen
nicht zu unilateralen Aktionen, wie Sie alle wissen.
Aber wir wollen der neuen Regierung schon sagen:
Beschreiten Sie nicht mehr den alten, verengten Weg, einen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat anzustreben!
Treten Sie ein für eine Reform der Vereinten Nationen,
für eine stärkere Durchsetzungsfähigkeit bei Menschenrechten, bei präventiven Konfliktlösungen und bei all
dem, was dazugehört! Suchen Sie sich dafür auf internationaler Ebene Verbündete und halten Sie nicht nur Ausschau nach einer Lobby, die Sie in der Forderung unterstützt, dass Deutschland einen Sitz im Sicherheitsrat
erhält! Jetzt besteht die Chance, die Politik gegenüber
und in den Vereinten Nationen ein Stück weit neu auszurichten.
({5})
In Bezug auf die Iranfrage haben Sie das massive Interesse an einer Verhandlungslösung zu Recht bekundet.
Wir stimmen Ihnen zu, auch was die strategische Bedeutung, die Sie diesem Land zugeschrieben haben, angeht.
Das Land könnte ein Stabilitätspfeiler in dieser Region vom Kaspischen Meer bis zum Mittelmeer sein, die
bis heute mit Katastrophen schwanger geht. Es hat eine
blühende Kultur. Es ist reich an Traditionen und Geschichte. Für Iran muss nur eines klar sein - darauf können wir nicht verzichten -: Iran hat jedes Recht auf ein
friedliches Nuklearprogramm, aber die Öffentlichkeit
muss davon überzeugt sein, dass es friedlich ist; hier besteht völlige Übereinstimmung. Davon weichen wir
nicht ab. Das muss der Staatsführung dort, der Bevölkerung, der gesamten Gesellschaft klar sein. Wir wollen,
dass das Land eine Rolle spielt. Aber wir wollen auch,
dass es sich so verhält, dass seine Nachbarn keine Angst
vor ihm haben müssen. Das ist ein Mindesterfordernis
des internationalen Umgangs gerade in einer Region, die
bisher so wenig an Kooperation zustande bringt.
So schön das Gruppenbild zum Jubiläumsjahr des
Barcelona-Prozesses war - Herr Minister, Sie wissen
wie ich: Eine größere Teilnahme aus den arabischen
Staaten, genau aus den Staaten, für die wir den Barcelona-Prozess doch eigentlich organisiert haben, wäre
wünschenswert gewesen. Die Tatsache, dass die
wichtigsten Staatschefs, die man dabei haben müsste,
aus unterschiedlichen Gründen abgesagt haben, kann
hier nicht einfach so stillschweigend übergangen werden. Der Barcelona-Prozess - er wird weitergeführt werden müssen - ist von uns eigentlich eingeleitet worden,
um einem Teil der arabisch-muslimischen Welt plus Israel - dort ist man zum ersten Mal in Kommunikation
mit den Nachbarn in einem breiten Gürtel um sich
herum - zu signalisieren, dass wir ein massives Interesse
an einem Transformationsprozess haben, dass wir ihn
stützen wollen, auch finanziell, dass wir uns anstrengen
wollen, damit er zustande kommt. Aber diese großartige
Kultur der arabischen Welt produziert für uns bis heute
noch nicht einmal ein Minimum an Kooperation. Der
wirtschaftliche Austausch in dieser Kette nordafrikanischer Länder wird eher behindert als begünstigt.
Ich spreche das hier deshalb an, weil man natürlich
auch sagen könnte: Wir begrüßen, dass der BarcelonaProzess nun zehn Jahre besteht und damit ein Jubiläum
begeht, und hoffen auf eine gute Fortsetzung. Aber dann
muss man schon tiefer eindringen, um zu sagen, wo es
bisher hapert, wie wir die Probleme überwinden wollen
und was jetzt zu tun ist. Wir müssen der arabischen Welt
sagen, dass wir ihr nicht helfen können, wenn sie nicht
ein Minimum an Kooperationsfähigkeit untereinander
zustande bringt. Die gesamten Modelle, die wir für den
Greater Middle East bisher diskutiert haben, sind nicht
in einem Punkt aufgrund eigener Kommunikationsfähigkeit dort zustande gekommen. Ich sage das deshalb, weil
dort das Wetter des Wohlstands gemacht wird, weil wir
die Konflikte dieser Region in den deutschen Innenstädten haben, wenn wir sie nicht im Vorgriff mit der arabischen Welt lösen. Da kann von uns auch ein Stück Anspruch an die arabische Welt formuliert werden, selbst
nach Konfliktlösungsmechanismen zu suchen, vor allem
im Barcelona-Prozess.
({6})
Damit wir uns nicht so sehr auf Europa konzentrieren,
will ich noch eine Bemerkung zu Asien machen, im Übrigen auch mit dem Hinweis darauf, dass ein Stück Korrektur deutscher Asienpolitik ganz hilfreich wäre. In
Asien konkurrieren eigentlich alle Nationen in einem
Wettbewerb ihrer Volkswirtschaften mit jeweiligen Investitionen dort. Das reicht nicht aus. Es finden die europäisch-asiatischen Treffen statt, aber es gibt dahinter
keine kommunikativen Strukturen, die in Asien selbst
neben China auch die Länder in den Blick nehmen, für
die das ebenfalls notwendig ist.
Indien wird meines Erachtens in der deutschen Außenpolitik viel zu wenig erwähnt, obwohl es eine gewachsene Demokratie ist, eine junge, energische, tatkräftige Bevölkerung hat. Wir sprechen kaum über
mittelgroße asiatische Länder, die keine Einparteienherrschaft haben, die sich stärker auf demokratische Strukturen hin entwickeln, wie wir sie eigentlich gern hätten.
Wir konzentrieren uns auf China, ohne das Thema Menschenrechte außerhalb internationaler Workshops ernsthaft mit China zu besprechen.
({7})
Im Grunde genommen besteht schon die Notwendigkeit,
im Dialog, den wir mit China führen, auch solche Sachverhalte zu besprechen. Ich erwähne das deshalb, weil
Politik nicht nur etwas mit dem Managen des Status quo
und großen Kräftekonstellationen zu tun hat. Politik hat
im Ursprung auch etwas damit zu tun, Transformationsprozesse einzuleiten, sie zu begleiten und Veränderungen herbeizuführen. Das geht nicht immer ohne Reibungen und auch nicht ohne unangenehme Begegnungen.
Aber wir müssen sie angehen, gerade weil, Herr Minister, sich auf Deutschland neben fast überhöhten Erwartungen an uns auch die Hoffnungen vieler konzentrieren,
dass wir Menschenrechte vertreten und denen helfen, die
nicht wie wir in Freiheit leben können. Dies muss Wertmaßstab auch in der deutschen Außenpolitik bleiben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion verurteilt die Entführung von Frau Osthoff und ihrem Fahrer
im Irak aufs Schärfste. Ihnen gilt unsere besondere
Sorge. Wir hoffen und wünschen, dass beide möglichst
schnell wohlbehalten freikommen. Wir sind überzeugt,
dass die Bundesregierung dafür alles ihr Mögliche tun
wird. Aber wir sagen auch mit aller Entschiedenheit: Bei
allen nur denkbaren Bemühungen um die Befreiung der
Geiseln dürfen und werden politische Bedingungen nicht
erfüllt werden.
({0})
Deutschland muss auch weiterhin den Aufbau des Irak
unterstützen; denn diese Aufbauunterstützung ist ein unverzichtbarer Beitrag im Kampf gegen den Terror im
Irak und zum Gelingen der Demokratisierung nicht nur
im Irak, sondern zugleich zu einer Stabilisierung im gesamten arabischen Raum.
Meine Damen und Herren, die Koalitionsvereinbarung spricht zu Recht von Kontinuität in der deutschen
Außenpolitik. Es ist die Kontinuität, die über eine sehr
lange Zeit durch die Grundlagen deutscher Außenpolitik
bestimmt wurde. Das heißt, europäische Einigung und
atlantische Partnerschaft sind keine Gegensätze, sondern
die beiden wichtigsten Pfeiler unserer Außenpolitik.
Wenn es darüber in der letzten Zeit Irritationen bei unseren Partnern gegeben hat, dann wird durch die in der Koalitionsvereinbarung festgeschriebenen wichtigen Akzentverschiebungen Folgendes klargestellt:
Erstens. Die Europäische Union ist Garant für politische Stabilität, Sicherheit und Wohlstand in Deutschland
und Europa. Aus diesem Grund werden wir alles Mögliche tun, um die derzeitige Krise in der Europäischen
Union zu überwinden. Die Menschen müssen wieder
das Gefühl bekommen, dass die EU die dringenden Aufgaben wie Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Terrorbekämpfung und Umweltschutz zu lösen in der Lage ist,
und sie müssen wieder eine Antwort auf die Frage erhalten, wohin sich die EU weiterentwickeln soll und wo
ihre Grenzen liegen. Für die Lösung dieser Krise der EU
und für ihre Weiterentwicklung bleibt der deutsch-französische Motor unverzichtbar. Aber er wird dann am
wirksamsten sein, wenn wir unsere Partnerstaaten wieder frühzeitig einbeziehen und ihren Interessen gerecht
werden.
({1})
Wenn bei unseren Partnern in der Vergangenheit ein
Gefühl der Bevormundung entstanden sein sollte, dann
ist die Botschaft der neuen Regierung unter Angela
Merkel klar - deshalb begrüßen wir ausdrücklich, dass
der Außenminister eine seiner ersten Reisen in die Niederlande unternommen hat -: Wir werden auch mit den
mittleren und kleinen EU-Partnerländern wieder eng zusammenarbeiten und, wenn es möglich ist, gemeinsame
Initiativen entwickeln.
({2})
Herr Außenminister, es war auch ein richtiges Signal,
dass Sie anschließend in Italien waren.
({3})
Zweitens. Ebenso unverzichtbar ist ein enges und vertrauensvolles transatlantisches Verhältnis. Nur gemeinsam können wir den neuen Sicherheitsbedrohungen
wirksam begegnen und unsere Ziele in der Außen-, Handels- und Umweltpolitik erreichen. Natürlich wird es
schon wie in der Vergangenheit unterschiedliche Auffassungen geben. Ich nenne nur die Stichworte Guantanamo oder Strafgerichtshof. Aber sie werden im partnerschaftlichen Dialog und im Geiste der Freundschaft
geregelt werden. Denn ein transatlantisches Zerwürfnis
können wir uns nicht leisten.
Wir können es uns schon deshalb nicht leisten, weil
das Gewicht der Wertepartner Europa und Amerika, insbesondere was die wirtschaftliche Leistung betrifft, im
Verhältnis zu den emporstrebenden Staaten und Regionen der Welt immer kleiner wird. Deshalb ist es gut, dass
in der Koalitionsvereinbarung klar zum Ausdruck gebracht wird: Europa versteht sich nicht als Gegengewicht, sondern als Partner der Vereinigten Staaten.
({4})
Viele Aufgaben liegen hier vor uns, ob in den Handelsbeziehungen, in unserem Beitrag zur Lösung des
Nahostkonflikts und zur Demokratisierung der Länder
des größeren Mittleren Ostens oder in der Klimapolitik.
Ein weiteres Beispiel ist das Stichwort Asienstrategie
- Herr Gerhardt, Sie haben es gerade angesprochen -,
das ebenfalls in unserer Koalitionsvereinbarung enthalten ist.
Wir Europäer müssen die Herausforderungen Asiens
sowohl politisch als auch wirtschaftlich annehmen. Die
politische Stabilität Asiens ist für uns Europäer von
überragendem Interesse. Konflikte wie die Taiwanfrage,
maritime Territorialstreitigkeiten oder die Spannungen
auf der koreanischen Halbinsel sind keine Angelegenheiten, die wir anderen überlassen können. Sie betreffen
uns unmittelbar und nicht nur unsere Handelsbeziehungen.
Nicht zuletzt das Verhalten Chinas gegenüber den
Entwicklungen im Sudan oder im Iran hat deutlich gemacht, dass dort europäische Sicherheitsinteressen unmittelbar berührt sind. Wenn wir uns selber darüber im
Klaren sind, wie wir die Herausforderungen Asiens annehmen werden, dann werden wir auch im transatlantischen Dialog über diese Fragen mithalten können.
Der Koalitionsvertrag stellt drittens wieder klar, dass
die NATO der stärkste Anker unser Sicherheits- und
Verteidigungspolitik ist und dass sie wieder zum zentralen Ort des transatlantischen sicherheitspolitischen Dialogs werden muss. Aber ebenso klar muss sein, dass dies
für beide Seiten gilt. Europa muss wieder geschlossener
werden, es muss seine militärischen Fähigkeiten verbessern und die USA dürfen die NATO nicht als Toolbox
missbrauchen.
Viertens. Wir wollen unser Verhältnis zu Russland zu
einer echten strategischen Partnerschaft weiterentwickeln. Wir brauchen - das ist schon erwähnt worden Russland als Partner zur Bewältigung der globalen Herausforderungen und zur Regelung von Krisen und Konflikten. Ich nenne auch hier das Stichwort Iran.
Strategische Partnerschaft heißt für uns aber mehr. Ich
habe bereits gesagt, dass das Gewicht der Wertepartner
Europa und Amerika im Vergleich zu den emporstrebenden Staaten der Welt abnimmt und dass wir uns einen
transatlantischen Dissens nicht leisten können. Im Gegenteil: Wir müssen versuchen, unser Gewicht und unseren Einfluss durch die Kooperation mit anderen Wertepartnern zu stärken.
Russland ist ein solcher potenzieller Wertepartner. Es
hat sich den Werten des Europarats verpflichtet. Deshalb
wollen wir in der Zusammenarbeit mit Russland alles
tun, um die demokratische und wirtschaftliche Entwicklung und die Entstehung einer Zivilgesellschaft zu unterstützen. Aber es gibt auch Probleme hinsichtlich der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Wenn sich unsere
Zusammenarbeit mit Russland an den europäischen
Werten orientieren soll, müssen wir diese Probleme im
Geist der Partnerschaft ansprechen.
Wir müssen zum Beispiel darauf hinweisen, dass das
von der Duma in erster Lesung beschlossene Gesetz zur
Tätigkeit von russischen Nichtregierungsorganisationen und ausländischen Stiftungen im deutlichen Widerspruch zu der von Präsident Putin angekündigten Stärkung der Zivilgesellschaft steht. Wenn dieses Gesetz in
Kraft treten sollte, wird es die Arbeit und die Existenz
vieler russischer NGOs erheblich erschweren. Das aber
wäre ein Rückschritt, der nicht in unserem gemeinsamen
Interesse liegen kann.
({5})
Ein zweites Beispiel. Die Tschetschenin Sainap
Gaschajewa ist vor wenigen Tagen mit dem LewKopelew-Preis ausgezeichnet worden. Der WDR-Intendant Fritz Pleitgen hat in seiner Laudatio gesagt:
Frau Gaschajewa trotzt Kriegsgefahren und staatlichen Einschüchterungen, um die Welt auf die Leiden der Menschen in ihrer Heimat Tschetschenien
aufmerksam zu machen.
Ich finde, der Mut von Frau Gaschajewa und vieler
anderer Frauen und Männer in Russland verpflichtet uns,
die Probleme in Tschetschenien offen anzusprechen und
immer wieder im Dialog mit Russland auf eine politische Lösung des Tschetschenienkonflikts zu drängen.
({6})
Ein drittes Beispiel: So richtig das Pipelineprojekt
durch die Ostsee ist, so wichtig ist es, Projekte von so
gravierender außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung nicht über die Köpfe unserer ostmitteleuropäischen
Nachbarn hinweg zu betreiben.
({7})
Das hat die neue Regierung ausdrücklich zugesagt und
das ist gerade für die Vertrauensbildung im deutsch-polnischen Verhältnis wichtig.
({8})
Ein wichtiger Schwerpunkt der deutschen Außenpolitik bleiben die Bemühungen der Länder des größeren
Mittleren Ostens um Demokratisierung und Modernisierung. Diesen Prozess wollen wir auch weiterhin unterstützen. Dabei bleibt entscheidend, wie glaubwürdig
wir uns für die Lösung des Nahostkonfliktes einsetzen.
Gerade wegen der schwierigen Situation in Palästina und
in Israel und auch als Zeichen gegen den Terror, wie er
kürzlich Amman auf schreckliche Weise getroffen hat,
müssen sich Amerikaner und Europäer verstärkt für die
Fortsetzung des Friedensprozesses engagieren. Wir
werden zwischen unserer Welt und der islamischen Welt
keinen Frieden finden, wenn dieser Konflikt nicht fair,
gerecht und dauerhaft geregelt wird. Dazu müssen alle
Staaten der Region beitragen, auch der Iran. Wer wie
der iranische Präsident Ahmadinedschad dazu auffordert, Israel auszuradieren, verstärkt den Verdacht, sein
Atomprogramm diene einem anderen als dem vorgeblich
friedlichen Zweck.
Ich sage für die CDU/CSU: Der Iran hat das Recht
auf eine friedliche Nutzung der Kernenergie. Er hat aber
kein Recht auf Nuklearwaffen.
({9})
Die CDU/CSU begrüßt deshalb ausdrücklich, dass die
Bundesregierung in dieser Frage die bisherige Linie weiterverfolgen wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden unsere
außenpolitischen Interessen umso wirksamer durchsetzen, je geschlossener wir sie mit unseren europäischen
Partnern abstimmen und in gemeinsamen Initiativen umsetzen. Deshalb ist es unser Kerninteresse, die Krise der
EU möglichst bald zu überwinden. Wir brauchen in
Europa endlich eine breite öffentliche Diskussion über
die Zukunft der EU, also über die Frage: Was soll die
Europäische Union in der globalisierten Welt leisten und
was soll oder kann sie nicht leisten?
Diese Diskussion hat noch nicht begonnen. Diese
Diskussion zu führen ist nicht nur eine Aufgabe der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments,
der europäischen Regierungen oder der Medien. Es ist
insbesondere auch eine Aufgabe des Bundestages, die
wir hier im Plenum, aber auch in öffentlichen Anhörungen der zuständigen Ausschüsse möglichst bald in Angriff nehmen sollten.
Ich möchte fünf Punkte nennen, wie wir den Begriff
der Aufnahmefähigkeit der EU verstehen, der in der
Koalitionsvereinbarung besonders hervorgehoben wird:
Aufnahmefähigkeit bedeutet für uns - erstens Akzeptanz in der EU-Bevölkerung. Die Menschen
müssen wieder das Gefühl bekommen, dass die EU, ehe
sie sich durch eine Erweiterung zusätzliche Lasten aufbürdet, fähig ist, die dringenden Probleme zu lösen, das
heißt, Arbeitsplätze zu schaffen, deutlich mehr wirtschaftliche Stabilität und Modernität zur Bewältigung
der Globalisierung zu entwickeln, Terrorismus und internationale Kriminalität erfolgreicher zu bekämpfen sowie
die Umweltprobleme und die Energieprobleme zu bewältigen.
Was wir mit der Lissabon-Strategie beschlossen haben, ist nach wie vor richtig: flexible Arbeitsmärkte, die
weitere Öffnung des Binnenmarktes, die stärkere Förderung von Forschung und eine stete Verbesserung der beruflichen Qualifikation. Die Europäische Union und ihre
Mitgliedstaaten müssen dies nur endlich umsetzen. Wir
werden dies mit vielen Maßnahmen tun, die wir in der
Koalitionsvereinbarung beschlossen haben.
Herr Westerwelle, dies sind nicht nur Trippelschritte.
Dies sind viele, kleine, wichtige Maßnahmen. Ich bin
zuversichtlich, dass wir Erfolg haben werden.
Zur Frage der Akzeptanz der Europäischen Union bei
den Bürgern gehört auch Klarheit über die Grenzen der
Europäischen Union. Wir können nicht darüber hinwegsehen, dass der Türkeibeschluss die seit der letzten
EU-Erweiterung wachsende Sorge vor Unüberschaubarkeit und Grenzenlosigkeit der EU verstärkt hat.
Zur Aufnahmefähigkeit gehört - zweitens - die Frage
der Identität. In einer immer größer werdenden Europäischen Union ist es notwendig, das europäische WirGefühl zu stärken. Deshalb müssen wir uns sehr behutsam mit der Frage auseinander setzen, welches Maß an
Anderssein und gesellschaftlichen Unterschieden in der
Europäischen Union verkraftbar ist, um der Forderung
des vierten Kopenhagener Kriteriums zu entsprechen,
jede Erweiterung solle - so wörtlich - „den Zusammenhalt der Union stärken“.
Drittens gehört Regierbarkeit dazu, also die Fähigkeit, in einer noch größeren Gemeinschaft die notwendigen Entscheidungen sachgerecht und zügig zu treffen.
Zu diesem Punkt gehört natürlich auch die Frage, wie
glaubwürdig wir mit unseren eigenen Kernbeschlüssen
umgehen, die die Grundlage für ein erfolgreiches Handeln der Europäischen Union in einer immer komplexeren Welt sind, beispielsweise die Frage, wie konsequent
wir den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt
einhalten. Auch deshalb ist die klare Selbstverpflichtung
in der Koalitionsvereinbarung wichtig, die Stabilitätskriterien ab 2007 wieder einzuhalten.
Ich nenne viertens die Finanzierbarkeit. Es ist nicht
nur wichtig, fristgerecht zu einem Finanzrahmen für die
Periode 2007 bis 2013 zu kommen. Noch wichtiger ist
es, dass dieser Haushalt einerseits zukunftsgerichtet, also
auf die zunehmenden Herausforderungen der Globalisierung ausgerichtet, ist, andererseits aber auch die Solidarität mit den schwächeren Mitgliedstaaten widerspiegelt.
Schließlich nenne ich fünftens die außenpolitische
Stabilität. Wenn die EU eine „Schicksals- und Verantwortungsgemeinschaft“ sein will, dann müssen Erweiterungen so vorgenommen werden, dass die Europäische
Union ein Stabilitätsanker bleibt. Wenn die EU durch
eine Vollmitgliedschaft der Türkei direkter Nachbar des
Iran, Syriens und des Irak wird, wirft das gravierende
Fragen hinsichtlich der inneren und äußeren Sicherheit
der Europäischen Union auf, die zuvor klar und einvernehmlich beantwortet werden müssen. Um diese Fragen
geht es bei dem in der Koalitionsvereinbarung genannten
Stichwort „Aufnahmefähigkeit“. Wir verstehen darunter
keine Strategie zur Abwehr neuer Mitglieder, sondern
eine Strategie für mehr Akzeptanz der Europäischen
Union bei den Bürgern, für mehr Handlungsfähigkeit,
für mehr globale Konkurrenzfähigkeit und damit erst für
die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union.
Herr Außenminister Steinmeier, in diesem Sinne wird
die CDU/CSU-Fraktion die Bundesregierung kraftvoll
unterstützen.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Knoche von
der Linken.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Herren und Damen! Sehr geehrter Herr Außenminister
Steinmeier, ich darf Ihnen versichern, der Linken wäre
es eine Freude, Sie bei der Umsetzung einer engagierten
emanzipatorischen Außenpolitik unterstützen zu können. Sie kündigen Kontinuität der rot-grünen Politik an.
Gerade das ist ein Grund, warum wir Ihnen den Zuspruch versagen müssen.
({0})
Sie setzen die Interessenwahrnehmung Deutschlands mit
ökonomischem Nutzen gleich. Für die Lösung der Gerechtigkeitsfragen der Welt mittels der Außenpolitik ist
die militärische Option der falsche Weg. Das ist nicht die
Art von Verantwortung, die wir uns vorstellen.
({1})
Um es klar zu sagen: Wir sind nicht gegen Militarismus, weil wir in der Opposition sind. Wir lehnen diesen
Weg ab, weil er mehr Probleme schafft als löst.
({2})
Wir haben nicht angenommen, dass Sie sich in Selbstkritik üben ob der ungeordneten Situation 15 Jahre nach
dem Ende des Kalten Krieges und der euphorischen
Fehlprognosen bezüglich der neuen Friedensära. Wir
nehmen nicht an, dass Sie Jahre nach dem Angriffskrieg
gegen Ex-Jugoslawien die Fehleinschätzung von Dayton
eingestehen. Was wir erwarten, ist, dass Sie die selbstgefällige Rede von dem weltweiten Ansehen Deutschlands
wegen der Kriegsbeteiligung beenden;
({3})
denn Krieg ist kein legitimes Mittel der Politik, auch
wenn er stattfindet. Selbst wenn Sie beispielsweise mit
Zapfenstreich und Wehrpflicht die Alltäglichkeit des Militärischen suggerieren wollen, lassen wir Ihnen dies
nicht durchgehen.
({4})
Nicht von Krieg, von Terrorbekämpfung ist jetzt die
Rede. Doch die Einsätze bleiben völkerrechtswidrig.
Krieg um Öl, egal wer ihn wo führt, ist keine Normalität.
Es sind wirtschaftliche Interessen im Spiel und nicht die
Menschenrechte.
({5})
Klarheit und Wahrheit gehen im Zuge der Kriegseinsätze genauso verloren wie Aufklärung, Legalität und
Demokratie. Das Bundesverwaltungsgericht stellte klar:
Die geleistete logistische Unterstützung für den Irakkrieg ist ihrerseits ein Völkerrechtsbruch.
({6})
Gefangene werden vom CIA aus Afghanistan in illegale Gefängnisse gebracht. Guantanamo ist ein Ernstfall
der Menschenrechtsfrage, und zwar schon seit Joschka
Fischers Amtszeiten.
({7})
Schwarz, Rot und Grün tragen Mitschuld durch Duldung. Es stehen Vorwürfe im Raum, dass in geheimen
Gefängnissen in Europa gefoltert wird.
Herr Minister Steinmeier meint: Mal abwarten, was
die USA der EU erzählen. - Das nun genügt nicht.
({8})
Das war ein armseliger Auftritt bei Frau Rice. Wir wollen wissen, was die Bundesregierung weiß, und sagen,
was sie wissen und, vor allem, nach geltendem Recht tun
müsste. Wo, bitte, ist die Souveränität, wo die Äquidistanz zu den USA?
({9})
Was ist der Anteil, fragen wir, deutscher Truppen in Afghanistan am Aufbringen und Verbringen von Gefangenen? Im Raum steht die Möglichkeit, dass Deutschland
selbst sich Verbrechen schuldig macht. Es herrscht Aufklärungs- und Handlungsbedarf. Hier hat der proklamierte Völkerrechts- und Menschenrechtsvorrang zu
greifen.
Wegen des fortgesetzten Völkerrechtsbruchs in Afghanistan haben die Menschen Angst vor Terroranschlägen, zahlen mit dem Verlust von Bürgerrechten
und Einschnitten in den Datenschutz. Dieser Krieg gegen den Terror ist mit steigenden Rüstungsausgaben und
der Androhung des Einsatzes der Bundeswehr im Innern
verbunden. Sie deklarieren Rüstungsausgaben zu Investitionen um; die sozialen Investitionen bezeichnen Sie
als Lasten. Wer hat sich die Sicherheitspolitik so vorgestellt?
({10})
Im Übrigen hat der Bundestag nie definiert, was Terror ist. Ich meine, erstens ist Terror als Tötung Unbeteiligter zur Erreichung politischer Ziele zu beschreiben
und zu ächten, zweitens ist zwischen Befreiungsbewegungen und ethnisch-rassistischer Unterdrückung und
Willkür zu unterscheiden und drittens ist Krieg gegen
Drogen vom Krieg gegen Terror zu trennen und sich an
keinem von beiden zu beteiligen.
({11})
Meine Herren und Damen, zum deutschen Sitz im
UN-Sicherheitsrat. Hier sollte die Bundesregierung
dem Rat aus den eigenen Reihen folgen und das Anspruchsniveau realistisch ausgestalten, statt rot-grüner
Selbstüberschätzung nachzueifern. Was wir unterstützen
würden, ist ein Votum für eine Weiterentwicklung des
Völkerrechts und der UNO. Im Ergebnis brächte das unseren Vorstellungen nach dem vergessenen Kontinent
Afrika eine eigene und eine eigenständige Stimme. Dieser Teil der Welt darf nicht erst dann ins Blickfeld rücken, wenn der Migrationsdruck vor den verschlossenen
Toren Europas dazu zwingt.
({12})
Im Westen fällt, neben den USA, mein Blick auf
Lateinamerika, das ein Recht darauf hat, eine Gleichstellung mit den Vetostaaten zu erlangen. Die Entwicklungen zum Beispiel in Venezuela halte ich für äußerst
beeindruckend und interessant.
({13})
Im Nahen Osten macht die Drohkulisse gegen den Iran
besorgt. Wir lehnen atomare Energie und erst recht atomare Bewaffnung ab. Aber dennoch kann dem Iran die
legitime Atomnutzung nicht abgesprochen werden.
({14})
Was wir brauchen, ist eine konsequente Initiative für einen atomwaffenfreien Raum im Nahen und Mittleren
Osten.
({15})
Bei der Regierungsposition könnte man meinen, die
Welt ende in China, den USA und Russland. Letztgenanntes Land endet zwar am Ural, aber wie weit Europa
reichen soll, darauf bleibt die Regierung die Antwort
schuldig. Was Europa heute und morgen ist, diese Frage
ist nicht dadurch beantwortet, dass man nichts zur Türkei sagt. Gleichbehandlung für alle Beitrittsländer, bitte!
Hier muss ein ideengeschichtliches, ein geographisches
sowie ein politisch-kulturelles Bild entworfen werden.
Ihrem Willen nach soll weiterhin eine europäische
Verfassung das ganze Gebilde ergänzen. Die Zeit dafür
ist meines Erachtens vorbei. Was bleibt Ihnen?
Bolkestein. Das bedeutet nichts weiter als Privatisierung
und Deregulierung sowie Entdemokratisierung.
({16})
Würden Sie die Bevölkerung befragen, bin ich mir sicher, sie würde sagen: Wir wollen ein soziales und friedliches Europa. Aber Sie wollen das Volk nicht fragen. Zu
einer europäischen Idee gehören der Sozialstaat, eine antimilitaristische Zukunft und der ökologische Erhalt.
Weil Sie das infrage stellen, sind die Menschen europaskeptisch. Die Bevölkerung fürchtet nicht den Islam
oder andere Religionen. Sie fürchtet auch nicht die persönlichen Herausforderungen, die eine echte ökologische Wende mit sich brächte. Deutschland, Europa und
die Welt brauchen eine sozialökologische Idee und eine
partizipative Entwicklung. Das ist die Friedensdividende
der Zukunft.
Ich danke Ihnen.
({17})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Trittin vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke,
liebe Frau Knoche, angesichts des Schicksals von Frau
Osthoff bedarf es eigentlich keiner umfassenden Definition, was Terrorismus ist.
({0})
Das, was da betrieben wird, ist nichts anderes, als sich
ausgerechnet an Menschen schadlos zu halten, die sich
in besonderer Weise dafür eingesetzt haben, die Lebensverhältnisse der Menschen im Irak zu verbessern. Dieses Vorgehen zeigt: Es zielt gerade nicht nur auf den Einzelnen, nicht nur auf die Erpressung dieser Gesellschaft,
sondern es zielt auch gerade darauf, jeden Ansatz der
Verbesserung der Lebenssituation der Menschen im Irak
anzugreifen. Das ist der Grund, warum wir nachdrücklich gegen diese Form des Terrorismus sind und warum
wir nachdrücklich sagen: Wir wollen die Lage der Menschen im Irak verbessern und dazu gehören selbstverständlich vernünftige Beziehungen zur gewählten Regierung im Irak.
({1})
Es zeigt auch, dass es bei diesen Terroristen nicht um
die Frage geht, wie sich die eine oder andere Regierung
im Falle des Irakkonfliktes verhalten hat, sondern ihr
Verhalten zielt ganz genau auf die offene Gesellschaft,
auf Gesellschaften, in denen unterschiedliche Lebensweisen miteinander existieren können. Das ist die Herausforderung, der wir uns zu stellen haben.
Wir waren 2002 nicht gegen eine Beteiligung an diesem Krieg, weil wir geglaubt haben, dadurch könnten
wir unsere Bürgerinnen und Bürger vor solchen terroristischen Anschlägen besser oder vollständig bewahren.
Es wäre naiv, das zu glauben. Wir waren vielmehr dagegen, weil wir der Auffassung waren und sind, dass diese
Form des Vorgehens diese Region weiter destabilisiert
hat
({2})
und diese Destabilisierung die terroristische Gefahr nicht
vermindert, sondern erhöht hat.
({3})
Ich sage das in aller Ruhe. Dies ist heute faktisch
Konsens in Deutschland. Wenn Sie sich die Koalitionsvereinbarung anschauen, dann sehen Sie, dass genau
diese Haltung von Joschka Fischer und Gerhard
Schröder auch von der jetzigen Koalition geteilt wird.
Aber in einem Punkt will ich auch - und das geht in
die andere Richtung - zustimmen: Wenn wir uns mit der
realen Situation von heute auseinander setzen wollen,
dann müssen wir festhalten, dass die Überwindung der
globalen Herausforderungen des Terrorismus, einer anhaltenden Armut und Unterentwicklung, bestimmter
Krankheiten und des Klimawandels nur auf globaler
Ebene zu erreichen ist.
Deswegen war es richtig, lieber Frank-Walter
Steinmeier, dass Sie den Weg in die USA gemacht haben. Denn diese Herausforderungen werden sich nur mit
den USA und mit den Amerikanern bewältigen lassen.
Das sage ich als jemand, der nach einer sieben Jahre
dauernden Auseinandersetzung um den Klimawandel
bestimmte Fortschritte ohne die Amerikaner erreicht hat.
Aber ich sage Ihnen auch: Wenn Sie das Problem vollständig lösen wollen, dann geht das immer nur mit der
einzig verbliebenen Großmacht auf diesem Globus.
Das gilt aber auch umgekehrt: Diese Macht allein
wird die Herausforderungen von Armut, Unterentwicklung, Terrorismus und Klimawandel nicht im Alleingang
bewältigen können. Auch sie wird das nicht ausschließlich im Rahmen bilateraler Vereinbarungen leisten können. Das heißt für die deutsche Außenpolitik: Wir tun
gut daran, den multilateralen Ansatz unserer Außenpolitik zu stärken.
Dazu gehört eine Reform der multilateralen Institutionen, also der Vereinten Nationen. Es ist richtig, ihre Fähigkeit zur Prävention und zur vorbeugenden Krisenverhinderung zu stärken. Das ist der Kern einer Reform der
Vereinten Nationen. Zu dieser Reform gehört auch
- nicht ausschließlich, aber auch - die Reform des Organs, in dem solche Entscheidungen getroffen werden:
des Sicherheitsrates. Dazu gehört auch, dass jene
Schwellenländer dort künftig einen größeren Einfluss
haben, die bisher von dem Entscheidungsprozess ausgeschlossen sind. Und dazu gehört, dass wir und übrigens
auch Japan den Erwartungen gerecht werden, die an dieser Stelle von außen an uns herangetragen werden. Das
ist der Kern dieser Politik.
({4})
Wenn ich sage, dass wir diese Herausforderungen bewältigen müssen, dann ist das an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Die erste Voraussetzung ist: Diese Herausforderungen sind nur auf der Basis der Herrschaft
des Rechts und der Achtung der Menschenrechte zu bewältigen. Glaubwürdigkeit ist die wichtigste Waffe im
Kampf gegen Unterentwicklung und Terrorismus.
Geheime Gefängnisse oder folterähnliche Verhörmethoden als „innovativ“ schönzureden ist damit unvereinbar.
({5})
Ich finde es richtig und begrüßenswert, dass Frau
Rice Ihnen, Herr Steinmeier, gesagt hat, sie wolle zeitnah und umfassend für Aufklärung sorgen. Aber ich will
auch einmal sagen, was ich unter „zeitnah“ verstehe: Ich
erwarte, dass dies im Rahmen ihres Besuchs in Europa
in der nächsten Woche geschieht.
({6})
An dieser Stelle will ich noch eine Bemerkung machen - denn gerade in Richtung der Grünen wird gelegentlich so getan, als seien sie für die Menschenrechte
zuständig, dass aber die richtige Außenpolitik eigentlich
die harte Handels- und Außenwirtschaftspolitik sei -:
Menschenrechtspolitik ist ein Wert an sich und darf
nicht zurückstehen. Für diejenigen, die vornehmlich in
ökonomischen Kategorien denken, will ich allerdings
hinzufügen: Langfristige Stabilität, auch in ökonomischer Hinsicht, werden Sie nur erreichen, wenn Sie auch
langfristig in Regionen tätig sind, in denen Menschenrechte und Gerechtigkeit gewahrt sind. Die Achtung der
Menschenrechte ist also auch ein ökonomischer Faktor.
({7})
Die zweite Voraussetzung für die Bewältigung dieser
Probleme ist: Wir müssen die Globalisierung gerecht gestalten. Das heißt, wir brauchen ökologische und soziale
Leitplanken. Hier wird diese Regierung in der nächsten
Woche in Hongkong eine große Verantwortung haben.
Herr Glos - er ist federführend -, die Kollegin
Wieczorek-Zeul und Herr Seehofer werden die Verantwortung haben, ein multilaterales Handelsregime im
Sinne einer Entwicklungsrunde ein Stück voranzubringen.
Wir wissen, Europa hat Vorleistungen gebracht beim
Umbau der Agrarpolitik - einer Agrarpolitik, für die die
Kollegin Künast von Ihrer Seite oft kritisiert worden ist.
Aber damit ist es nicht genug. Wir werden uns in der
Frage der Exportsubventionen bewegen müssen - übrigens nicht nur wir: auch jene Staaten, die ihre Exportsubventionen elegant als „Nahrungsmittelhilfe“ deklarieren bzw. verstecken -, wenn wir Entwicklungsländern
wirklich eine Chance geben wollen, zu handeln, anstatt
behandelt und mit Entwicklungshilfe abgespeist zu werden.
({8})
Liebe Frau Merkel, seien Sie gewiss: Zur gerechten Globalisierung gehört es auch, dass Sie die Zusagen, die Sie
heute hier und im Koalitionsvertrag hinsichtlich einer
Anhebung der Entwicklungshilfe gemacht haben, tatsächlich einhalten. Sie können gewiss sein, dass wir sehr
genau darauf schauen werden.
({9})
Die globale Entwicklung wird nicht vorankommen
ohne eine Verbesserung der Umweltstandards. Auch
hier wird, ähnlich wie bei den Menschenrechten, oft eingewendet: Öko ist etwas für jene, die es wirtschaftlich
geschafft haben. Aber wenn Sie verfolgen, was momentan über China und den Fluss bei Harbin berichtet wird,
bekommen Sie einen Eindruck davon, was der chinesische Umweltminister meinte, als er sagte: Bis zu
8 Prozent unseres Bruttosozialprodukts werden durch
die enormen Umweltschäden, mit denen wir es zu tun
haben, aufgezehrt. Eine die natürlichen Ressourcen zerstörende Wirtschaftsweise wird mehr und mehr zu einer
Wachstumsbremse. Deswegen wird es keine Überwindung der Armut geben, wenn wir nicht Strategien dafür
entwickeln, wie wir weg vom Öl kommen, wie wir sauberer produzieren, wie wir rohstoffeffizienter produzieren. Dies ist etwas, bei dem die Bundesrepublik
Deutschland tatsächlich etwas anzubieten hat zur Verbesserung der Lage der Menschen in der Welt.
({10})
Ein Wort zur Außenwirtschaftspolitik: Wir haben natürlich die Verantwortung, sicherzustellen, dass es im
Iran nicht zu einer Schließung des Brennstoffkreislaufs
kommt. Aber das geht nicht mit den Mitteln, die Tony
Blair uns gestern zu erklären versuchte, als er sagte, das
Geheimnis der Überwindung der Energieprobleme dieses Kontinents liege in der Nutzung der Atomenergie. Das kommt mir sehr bekannt vor; so 30, 40 Jahre ist das
her. Gerade am Beispiel Iran können wir sehen, dass dieser Weg mit erheblichen Risiken, mit erheblichen Problemen und mit erheblichen Anstrengungen verbunden
ist. Das kann nicht der Weg sein, Armut und Klimawandel auf diesem Globus entgegenzuwirken.
({11})
Multilaterale Fortschritte, so unsere Erfahrung, hat es
stets nur dann gegeben - in Fragen des Welthandels genauso wie bei Konventionen gegen Kleinwaffen, beim
Internationalen Strafgerichtshof und bei der Bekämpfung des Klimawandels -, wenn Europa in den Verhandlungen geeint und handlungsfähig aufgetreten ist. Nicht
nur weil ich Bürger dieses Europas bin, sondern auch
wegen der enormen außenpolitischen Bedeutung dieses
Europas finde ich den Umstand, dass dieses Europa in
eine schwere Krise geraten ist, und zwar nicht, wie Sie
meinen, durch die Erweiterung, sondern parallel zu dem
Erweiterungsprozess, so besorgniserregend. Wir können
uns mit dieser Krise nicht einfach abfinden. Lieber Herr
Außenminister, wenn im Koalitionsvertrag steht, dies
wolle man im Rahmen mit der deutschen Präsidentschaft
angehen, dann ist das zwar ehrenvoll, kommt aber ein
bisschen zu spät. Dieses Europa - in Wirklichkeit die
einzig praktizierte Antwort auf die Globalisierung und
die Liberalisierung der Märkte - zu stärken und aus der
Krise herauszuführen, duldet keinen Aufschub bis zum
Beginn der deutschen Präsidentschaft. Damit muss jetzt
begonnen werden.
({12})
Ich will versuchen, das an einem Beispiel deutlich zu
machen. Die Menschen empfinden dieses Europa, das
also eine Antwort sein soll - ein demokratischeres und in
größerem Umfange bürgernahes Europa, wie es im Verfassungsvertragsentwurf beschrieben worden ist, war ein
Schritt in diese Richtung -, häufig als etwas, was nur
den Logiken des Marktes gehorcht. Darauf müssen wir
eingehen. Man muss eine Balance herstellen. Wenn man
für mehr Freiheit im Bereich der Dienstleistungen ist,
dann muss auch die Konsequenz gezogen werden und
die Menschen müssen hinsichtlich ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen ein Minimum an Absicherung erhalten. Das heißt, Dienstleistungsfreiheit und Regelungen
hierzu, die es in vielen anderen Ländern Europas gibt,
beispielsweise ein entsprechend fixierter Mindestlohn,
gehören zusammen. Der soziale Ausbau Europas ist
der Weg, die Krise, die ungerechterweise am Verfassungsprozess offenbar geworden ist, zu überwinden.
({13})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich am
Schluss noch eine Bemerkung machen. In der „Süddeutschen Zeitung“ heißt es zur Außenpolitik der Koalition:
Vermutlich gibt es kein anderes Fach der neuen Regierungspolitik, wo das Konfliktpotenzial so offensiv verschwiegen wurde.
Lieber Herr Schockenhoff, wenn Ihre Äußerungen
zur Türkei neben die von Herrn Steinmeier gestellt werden, dann tut sich in mir ein innerer Bosporus auf.
({14})
Ich verspreche Ihnen: Eine Widersprüchlichkeit in diesem Punkt werden wir Ihnen bei allen Bemühungen um
Konsens in der Außenpolitik nicht durchgehen lassen.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
neue Bundesregierung hat sich in Kontinuität zu ihrer
Vorgängerin deutlich den weiteren Ausbau der Entwicklungspolitik auf die Fahnen geschrieben, da dies zur gewachsenen internationalen Rolle Deutschlands und damit zu unserer neuen Verantwortung gehört.
Wir verstehen Entwicklungspolitik heute als Partnerschaft, als gegenseitige Verantwortlichkeit und als Verantwortung. Partnerschaft bedeutet Zusammenarbeit.
Das gilt für multilaterale Institutionen, für Geberländer
untereinander und bei den Beziehungen zu den Entwicklungsländern. Partnerschaft gilt sowohl für die Entwicklungspolitik insgesamt. Staaten und internationale Organisationen kooperieren zunehmend und erfolgreich mit
Nichtregierungsorganisationen, mit Gewerkschaften, mit
Unternehmen, mit der Zivilgesellschaft insgesamt und
mit den Kirchen.
Das gemeinsame und zielgerichtete Engagement vieler Akteure macht Partnerschaften und deren Instrumente effektiv, effizient, nachhaltig und erfolgreich.
Diese Eigenschaften brauchen wir, um die großen internationalen Entwicklungsziele unserer Welt, die Millenniumsentwicklungsziele, insbesondere bei der Bekämpfung der globalen Armut tatsächlich erreichen zu
können. Nur gemeinsam werden wir auf dem Weg bis
zum Jahr 2015, in dem diese Ziele endgültig erreicht
sein sollen, Erfolge haben.
({0})
Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft sind deshalb aufeinander angewiesen und müssen in diese Richtung arbeiten.
({1})
Wir als Bundesregierung nehmen unsere Verantwortung wahr. Bundeskanzlerin Merkel hat heute Morgen
klar gemacht, wie diese Verantwortung politisch und
finanziell aussieht. Um die globale Armut zu bekämpfen, haben wir den Zuwachs unserer Mittel für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit festgeschrieben
und im Rahmen eines Stufenplans der Europäischen
Union vereinbart. Im nächsten Jahr, im Jahr 2006, werden wir 0,33 Prozent des Bruttonationalprodukts für die
Entwicklungszusammenarbeit erreichen und wir werden
die Stufen, die die Bundeskanzlerin heute Morgen genannt hat, erreichen und umsetzen. Dazu tragen die
Erhöhung der Haushaltsmittel, die Entschuldung der
Entwicklungsländer und auch innovative Finanzierungsinstrumente bei.
({2})
An dieser Stelle sage ich: Ich würde gerne auch eine
Auseinandersetzung mit den Teilen der Fraktionen führen - heute ist nicht der richtige Rahmen dafür -, die immer noch nicht der Meinung sind, dass wir eine Veränderung des Denkens brauchen, was zum Beispiel den
Staatsaufbau in diesen Ländern, die Instrumente zur Verhinderung von Völkermord oder auch die präventive
Stationierung von Soldaten angeht. Sie können nicht
staatliche Strukturen neu schaffen, ohne auch den Sicherheitssektor in solchen Ländern entsprechend aufzubauen. Sie können die Menschen in Sierra Leone nicht
vor dem Massakrieren durch Rebellen schützen, wenn
Sie nicht bereit sind, dort entsprechende militärische
Mittel zur Verfügung zu stellen. Ich finde, das sollte
deutlich werden, damit das Gegeneinander in diesen Fragen endlich einmal aufhört. Eine Diskussion darüber ist
notwendigerweise zu führen.
({3})
Nur gemeinsam und in einer fairen Partnerschaft mit
den Entwicklungsländern werden wir Aids bekämpfen
und besiegen, die Wende weg vom Öl und hin zu erneuerbaren Energien sowie einer effizienten Energienutzung
schaffen und unsere natürlichen Lebensgrundlagen erhalten; Jürgen Trittin hat es angesprochen. Nur dann
werden wir die Korruption erfolgreich bekämpfen und
den Auf- und Ausbau von Good Governance vorantreiben können.
Partnerschaft heißt auch, den Partnerländern zu helfen, den Weg aus der Abhängigkeit von der Hilfe der
Geber zu finden, fest auf eigenen Füßen zu stehen und
die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu berücksichtigen.
An dieser Stelle möchte ich beispielhaft auf eine Situation aufmerksam machen, die wir mit anderen Partnern
gestalten müssen, wenn die nächsten großen Konflikte
nicht vorprogrammiert sein sollen: Manche großen Staaten, unter anderem China, betrachten Afrika rein unter
dem Gesichtspunkt der Ressourcen- bzw. der Ölsicherung. Sie vernachlässigen dabei andere Aspekte, wie die
Förderung verantwortlicher Regierungsführung und die
Bekämpfung von Korruption, oder konterkarieren sie sogar.
Die afrikanischen Staaten haben die Ölförderung in
den letzten zehn Jahren um 36 Prozent gesteigert. Mit
dieser Wachstumsrate liegen sie weit über dem Durchschnitt der traditionellen Ölförderländer. Öl führt zum
größten Investitionsschub in der Geschichte des Kontinents. In den kommenden zehn Jahren werden über
50 Milliarden US-Dollar nach Afrika fließen. Deshalb
müssen die betreffenden Staaten und die internationale
Gemeinschaft dafür Sorge tragen, dass die Investitionen
den Menschen nützen und ihnen Perspektiven sowie Arbeitsmöglichkeiten geben und dass die gewonnenen Mittel nicht für Ökonomien genutzt werden, die nur der
Machtsicherung von wenigen, der Eliten oder der entsprechenden Regierungen, dienen.
({4})
Wir alle sind in der Verantwortung: die afrikanischen
Regierungen, die investierenden Unternehmen und auch
die Regierungen der Industrieländer.
Unsere Politik wird deutlich machen: Afrika ist mehr
als ein Rohstoff- oder Öllieferant. Es ist unser Nachbarkontinent, an dessen Zukunft wir um der Menschen willen ein echtes Interesse haben. Menschenrechte und
wirtschaftlicher Erfolg gehören zusammen. Die Menschen in Afrika - zumal die jungen Leute - haben ein
Recht darauf, dass der Nutzen des Öls den Menschen
Afrikas zugute kommt und für ihre Zukunft investiert
wird.
({5})
Damit Afrika profitiert, unterstützen wir die „Publish
What You Pay“-Initiative. Dabei geht es darum, dass investierende Unternehmen ihre Zahlungen an Entwicklungsländer offen legen sollen. Damit Afrika profitiert,
unterstützen wir Initiativen, deren Ziel die transparente
Offenlegung der Rohstoffexporteinnahmen der betroffenen Entwicklungsländer ist. Damit Afrika profitiert, unterstützen wir verantwortliche Regierungsführung,
starke staatliche Institutionen, die imstande sind, diesen
Prozess zu steuern.
({6})
Partnerschaft heißt aber auch, dass wir in unserer Politik die Belange und Bedürfnisse unserer Partnerländer
ernst nehmen. Das gilt zumal - da bin ich meinen Vorrednern dankbar - für die Handels- und Agrarpolitik.
Hier finden entscheidende Weichenstellungen statt, in
denen wir uns klar positionieren. Wenige Tage vor der in
Hongkong beginnenden Welthandelskonferenz, die eigentlich die so genannte Doha-Entwicklungsrunde abschließen sollte, appelliere ich deshalb - ich glaube, das
kann ich für alle Kolleginnen und Kollegen in diesem
Hause sagen - an die Industrieländer, endlich substanzielle Ergebnisse bei der Öffnung der Märkte für die
Produkte der Entwicklungsländer zuzusagen
({7})
und tatsächlich einen nahen Zeitpunkt für den Abbau
von Agrarexportsubventionen festzulegen. Das ist eine
der wichtigsten Perspektiven.
Uns ist klar, dass dabei differenzierte Marktöffnungsmechanismen für Entwicklungs- und Schwellenländer
notwendig sind. Aber es ist auch klar: Durch Handelsliberalisierung könnten die Entwicklungsländer einen Einkommenszuwachs von rund 350 Milliarden US-Dollar
erreichen. Das ist vier- bis fünfmal so viel wie für Official Development Assistance, die offizielle Entwicklungszusammenarbeit, zur Verfügung gestellt wird. Wir
sehen also: Wenn wir zu gerechteren Strukturen beitragen, leisten wir auch einen Beitrag zu einer gerechteren
Welthandelsordnung, zur Bekämpfung von Armut und
zum Abbau von Abhängigkeiten.
({8})
Ich komme zum Schluss. Entwicklungspolitik meint
Partnerschaft. Sie ist eine Gemeinschaftsaufgabe für uns
alle, für Industrie- und Entwicklungsländer, die wir in
Verantwortung für die Gegenwart, aber gerade auch für
die Zukunft wahrnehmen sollten. Sie ist eine Angelegenheit der Partnerschaft zwischen Menschen, auch der
Kolleginnen und Kollegen in unserem Hause.
In diesem Sinne bitte ich Sie um Unterstützung für
diese wichtige Zukunftsaufgabe, von der so viele Menschenleben in der Welt abhängig sind. Wenn wir gemeinsam tätig werden, können wir dazu beitragen, diese Ziele
zu erreichen.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Markus Löning von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einer
Bemerkung zum Thema Polen beginnen. Frau Bundeskanzlerin, bei dem, was Sie heute Morgen in Ihrer Rede
zum Thema Umgang mit Vertreibung angesprochen haben, können Sie mit der Unterstützung der Freien Demokraten rechnen.
({0})
Entscheidend war, dass Sie gesagt haben: Wir müssen
mit diesem Thema in einer Art und Weise umgehen, die
Brücken baut, ohne zu spalten. Diesen Aspekt des Zusammenwachsens sollten wir im Umgang mit unseren
östlichen Nachbarn betonen. Wenn Sie in dieser Richtung arbeiten und auf diesem Weg schreiten, haben Sie
auf jeden Fall unsere Unterstützung. Wir wünschen Ihnen für Ihre Reise nach Warschau, die Sie morgen antreten, auf jeden Fall alles Gute!
({1})
Es ist unsere Aufgabe, mit unseren östlichen Nachbarn das zu erreichen, was wir mit unseren westlichen
Nachbarn nach langer Zeit erreicht haben. Wir als Politik
müssen Vorgaben machen. Aber zusammenwachsen
müssen die Gesellschaften und die Zivilgesellschaften.
Das hat im Westen lange gedauert, aber wenn ich an unser Verhältnis zu den Holländern, den Belgiern, den Luxemburgern, den Franzosen und den anderen Nachbarn
denke, ist dies am Ende erfolgreich gewesen. Dieser
Aufgabe müssen wir uns auch Richtung Osten stellen.
Die Politik der bisherigen Bundesregierung war auf diesem Gebiet leider nicht sehr hilfreich.
Sie werden bei den Freien Demokraten auch dann
Unterstützung finden, wenn Sie das Thema einer europäischen Verfassung vorwärts treiben wollen. Ich
glaube, wir sind als Deutsche dabei auch in der Pflicht.
Wir haben im Bundestag die Verfassung mit einer breiMarkus Löning
ten Mehrheit verabschiedet. Wir stehen zu dieser Verfassung, weil sie zu mehr Transparenz führt, Demokratie
und Mitwirkungsrechte der Bürger stärkt und eine größere Beteiligung dieses Parlaments mit sich bringt.
Ich hoffe, dass die Bundesregierung an dieser Stelle
initiativ wird, und zwar nicht erst während der deutschen
Ratspräsidentschaft, und dass man merkt: Es gibt ein
Land, das sich zu dieser Verfassung bekennt. Wir bekennen uns zu dieser Verfassung und wollen sie vorantreiben. Wir lassen uns die Europäische Union von den
Skeptikern und denjenigen, die versuchen, quer zu schießen - diese gibt es überall -, nicht kaputtmachen. Es ist
wichtig, dass wir auch an dieser Stelle ein politisches
Zeichen setzen.
({2})
Sie haben von einem fairen und gleichberechtigten
Umgang mit den europäischen Partnern auf gleicher Augenhöhe gesprochen. In diesem Zusammenhang möchte
ich ein Thema aufgreifen, das ich im Widerspruch zu
diesem eigentlich richtigen Anspruch sehe. Sie haben
von einem unfairen Steuerwettbewerb gesprochen, den
Sie abschaffen wollen. Das verstehe ich nicht. Ich finde
es nicht in Ordnung, wenn wir als reiches Land versuchen, kleinen Ländern, die uns gegenüber in vielerlei
Hinsicht - in der Infrastruktur, dem Bildungssystem und
beim Entwicklungsstand der Wirtschaft - benachteiligt
sind und den Wettbewerbsvorteil uns gegenüber nutzen,
indem sie sich durch ihr schlankes Staatswesen in der
Lage sehen, ein transparentes und einfaches Steuersystem mit niedrigen Steuersätzen zu schaffen, und die über
diesen Mechanismus sehr erfolgreich Investitionen anziehen und ihre Wirtschaft entwickeln, diesen Wettbewerbsvorteil zu nehmen. Ich fordere Sie auf, dies nicht
zu tun, sondern auch hier einen fairen Umgang gerade
mit den kleineren Partnern in der EU zu gewährleisten.
({3})
Frau Wieczorek-Zeul hat kurz das Thema WTO angesprochen und dabei an die Industrieländer appelliert.
Warum, Frau Wieczorek-Zeul, formulieren Sie solche
Appelle? Sie sind doch Mitglied dieser Bundesregierung. Statt zu appellieren sollten Sie insbesondere mit
unseren französischen Freunden reden.
({4})
Weisen Sie unsere französischen Freunde darauf hin,
dass es nicht angeht, dass der protektionistischste Staat
von allen uns bei der WTO die Tour vermasselt! Es geht
nicht an, dass ein Land bremst und 24 andere Länder
darunter zu leiden haben. Wir sind als Deutsche durch
den Handel wohlhabend geworden. Wir haben immer
von einem freien Welthandel profitiert. Der freie Welthandel bildet, wie Sie richtig festgestellt haben, ein großes Potenzial. Ich würde mir mehr an politischer Initiative als einen Appell an die Industrieländer wünschen.
Frau Wieczorek-Zeul, werden Sie an dieser Stelle tätig!
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Christian Ruck von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Koalitionen ändern sich. Die Entwicklungspolitik aber
steht mit ihrem Kernanliegen in der jahrzehntelangen
Kontinuität bei der Bekämpfung von Armut, Unterentwicklung und Umweltzerstörung und dem Versuch, für
alle Länder und Menschen auf dieser Welt Perspektiven
zu schaffen.
({0})
Die CDU/CSU und die SPD haben zur Erreichung
dieses Kernanliegens und zur Bewältigung neuer Herausforderungen im Koalitionsvertrag auch neue strategische Akzente gesetzt. Denn trotz aller Erfolge der letzten Jahre und Jahrzehnte verschärfen sich die
Entwicklungsprobleme vielerorts. Sie gefährden Frieden
und Wohlstand auch in Deutschland und Europa. Die
Ratio der Entwicklungspolitik entspringt daher nicht nur
unserer christlich-ethischen Verantwortung gegenüber
den Menschen und der Schöpfung, sondern sie ist auch
Sicherheitspolitik in unserem eigenen Interesse.
({1})
Wir wollen daher neue Initiativen ergreifen, um gemeinsam mit unseren Partnern in Europa zum Beispiel
dem steigenden Migrationsdruck vor allem aus Nordafrika durch entwicklungspolitische Maßnahmen zu begegnen. Zur Erhaltung der biologischen Vielfalt für
kommende Generationen wollen wir neue Akzente setzen, um die Entwicklungsländer bei der Bewahrung der
natürlichen Lebensgrundlagen und ihrer nachhaltigen
Nutzung zu unterstützen. Auch die nachhaltige Energienutzung und der Klimaschutz sind strategisch wichtige
Anliegen, die wir im Koalitionsvertrag explizit niedergeschrieben haben.
Bei der Erreichung der Millenniumsziele ist unsere
zentrale Erkenntnis, dass nachhaltige Entwicklung nur
dort stattfindet, wo gute Regierungsführung die
Grundlage für die Entfaltung der Kreativität der Menschen legt. Die deutsche Entwicklungspolitik hat dies
schon vor 15 Jahren erkannt und mit der Verabschiedung
der fünf Kriterien zu guter Regierungsführung eine
Trendwende eingeleitet. Neuere Untersuchungen, zum
Beispiel der Bertelsmann Transformation Index, zeigen,
dass insbesondere in der pragmatischen Programmierung unserer Zusammenarbeit im Hinblick auf gute Regierungsführung noch Handlungsbedarf besteht. Wir
wollen daher die Stärkung der guten Regierungsführung
und der Selbsthilfekräfte zu dem zentralen Bestimmungselement unserer künftigen Entwicklungszusammenarbeit machen.
({2})
Das heißt, Art und Umfang unserer Zusammenarbeit
müssen in einem klaren Zusammenhang mit der Regierungsführung der Partner stehen. Wir haben daher vereinbart, dass den Partnern nur bei guter Regierungsführung ein hohes Maß an Selbstbestimmung über die
Mittel eingeräumt wird und dass Budgethilfe oder ähnliche Instrumente nur bei guter Regierungsführung zum
Einsatz kommen. Außerdem soll sichergestellt werden,
dass Entschuldungsmaßnahmen konsequent auf die Millenniumsziele ausgerichtet werden und deren Wirksamkeit effizient kontrolliert wird.
Für nachhaltige Entwicklung ist gute Regierungsführung eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Voraussetzung. Deshalb haben wir des Weiteren vereinbart,
uns dafür einzusetzen, dass die Umgestaltung der Welthandelsordnung stärker unter dem Gesichtspunkt der Armutsminderung erfolgt. Hier ist es sehr wichtig, genau
hinzuschauen, mit welchen Zielvorgaben und Instrumenten welche Wirkungen erzielt werden. Natürlich gibt
eine weitere Liberalisierung durch die Handelsrunde
auch vielen Entwicklungsländern einen neuen Schub.
Aber ein solcher Schub ist erstens nicht für alle Entwicklungsländer und zweitens nicht für alle Bevölkerungsschichten in Entwicklungs- oder Schwellenländern, wie
beispielsweise in Brasilien oder China, zu erreichen. Ich
glaube, hier müssen wir uns noch erheblich anstrengen.
Ich habe sehr viel Verständnis beispielsweise für die
Haltung der indischen Regierung, die bei einer weiteren
Liberalisierung Angst hat, was mit den 600 Millionen
subsistenzwirtschaftenden Bauern auf dem Subkontinent
geschieht. Ich glaube, dass die Formel „Liberalisierung
ist gleich Entwicklung für breite Bevölkerungsschichten“ zu kurz greift und dass wir uns hier stärker mit armutmindernden Effekten der WTO beschäftigen müssen. Das ist uns allen ein großes Anliegen.
({3})
Die Entwicklungen im Kongo, im Sudan oder in Afghanistan haben uns allerdings gezeigt, dass wir uns
nicht nur auf gute Regierungsführung konzentrieren dürfen, wenn wir dazu beitragen wollen, Frieden und Wohlstand bei uns und in Europa zu sichern. Wir wollen daher
neue Konzeptionen für die Zusammenarbeit mit Ländern
mit schlechter Regierungsführung erarbeiten, um den
Grundstein für eine friedliche Transformation solcher
Länder zu legen. In diesem Zusammenhang haben wir in
unserem Koalitionsvertrag die wachsende Bedeutung
der Zusammenarbeit nicht nur mit den Kirchen und der
Wirtschaft, sondern vor allem auch mit den politischen
Stiftungen betont.
({4})
Im Übrigen habe ich mich sehr gefreut und bin dankbar dafür, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel heute
die klaren Worte, die in unserem Koalitionsvertrag über
den Stufenplan zum Aufwuchs der Entwicklungsmittel
stehen, wiederholt hat. Seine Umsetzung erfordert eine
gewaltige Kraftanstrengung. Wenn wir uns das aber fest
vornehmen, dann werden wir es umsetzen können.
({5})
Unsere Steuerzahler und unsere Partner in den Entwicklungsländern haben aber auch Anspruch darauf,
dass wir die vorhandenen Mittel in der Entwicklungszusammenarbeit planvoll und mit größtmöglicher Effizienz
einsetzen.
Daher ist für uns die größere Wirksamkeit der eingesetzten Mittel ein zentrales Anliegen. Wir wollen dies
durch eine klare nationale und internationale Arbeitsteilung, eine verbesserte Abstimmung mit anderen Gebern
und die Verbesserung der Kohärenz erreichen. Die am
Anfang dieses Jahres in Paris international vereinbarte
Agenda zur Steigerung von Effizienz und Wirksamkeit
der Entwicklungszusammenarbeit wird für uns dafür die
Grundlage bilden. Notwendig sind dazu auch die effizientere Gestaltung der bilateralen und multilateralen
Organisationsstrukturen und eine engere Verzahnung unserer Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik. Internationale Politik Deutschlands aus
einem Guss ist mehr denn je ein Gebot der Stunde. Die
Entwicklungspolitik hängt ohne die Rückendeckung der
Außenpolitik in der Luft und umgekehrt kann die Außenpolitik ihre Ziele langfristig ohne Entwicklungspolitik nicht erreichen.
({6})
Internationale Arbeitsteilung bedeutet Subsidiarität,
komparative Vorteile nutzen und bestmögliche Koordinierung, um Steuergelder effizient einzusetzen. Wir wollen daher Initiativen ergreifen, um die Strukturen der
internationalen Entwicklungsorganisationen zu ändern. Dazu gehören eine Straffung des UN-Systems gerade in diesem Bereich, in dem sich bisher mehr als
30 Organi-sationen um wenig Geld raufen, und eine
dringende Reform der EU-Entwicklungspolitik, die wir
auch in unserem Koalitionsvertrag explizit niedergelegt
haben. In diesem Kontext wollen wir das Verhältnis des
deutschen Engagements für bilaterale und multilaterale
Entwicklungszusammenarbeit überprüfen. Bei den multilateralen Organisationen, mit denen wir auch künftig
eng zusammenarbeiten werden, wollen wir unsere Präsenz und unseren Einfluss in diesen Organisationen und
in deren Aufsichtsgremien ausbauen.
Auf Grundlage der internationalen Arbeitsteilung
wollen wir uns in der bilateralen Zusammenarbeit
stärker konzentrieren und die Zahl der Partnerländer mit
dem Ziel einer Reduzierung überprüfen. Ausgehend von
der zentralen Bedeutung vieler Schwellenländer für benachbarte Entwicklungsländer und Regionen wollen wir
strategische Partnerschaften auch zum Nutzen Dritter
anstreben. Da gebe ich der Ministerin ausdrücklich
Recht: Wir müssen Länder wie zum Beispiel China auf
ihre gewachsene Verantwortung, auf ihre globale Verantwortung aufmerksam machen, in Afrika, aber auch anderswo. Das betrifft die Ressourcenbeschaffung, aber
auch die Bereiche Energie und Umwelt. Es wird eine
große Aufgabe der nächsten Jahre sein, diese Schwellenländer davon zu überzeugen, dass auch sie Partner und
Geber sein können und sein müssen - von Ideen, aber
auch von Ressourcen zugunsten Dritter.
Arbeitsteilung bedeutet aber auch, dass wir uns stärker auf Themenfelder beschränken wollen, bei denen
wir entweder eine herausragende Expertise haben oder
die wir als die Schlüsselsektoren für Entwicklung identifiziert haben. Das sind zum Beispiel gute Regierungsführung mit dem Aufbau von Staat und Demokratie, die
Bekämpfung von Aids, die Erhaltung der Schöpfung und
die Energiepolitik. Wir werden aber auch über Schlüsselsektoren wie Bildung und Ausbildung oder über die
Förderung der Privatwirtschaft in Entwicklungsländern
diskutieren.
({7})
Diese klare Arbeitsteilung muss auch die deutsche
Struktur bei der Umsetzung der Entwicklungszusammenarbeit betreffen. Wir werden an einem besseren
Schnittstellenmanagement arbeiten. Wir brauchen eine
klarere Arbeitsteilung auch im eigenen Land.
Mit dieser Agenda werden wir die Wirksamkeit der
deutschen bilateralen und multilateralen Beiträge steigern und das Profil der deutschen Entwicklungspolitik
auf hohem Niveau aufrechterhalten. Erfolgreiche Entwicklungspolitik ist wichtiger denn je. Die Union, liebe
Frau Ministerin, wird in der Tat ein verlässlicher entwicklungspolitischer Partner der Bundesregierung sein.
Auch wir fordern die Oppositionsparteien auf, mit uns
konstruktiv in dem Geist zusammenzuarbeiten, der Entwicklungspolitiker schon immer mehr verbunden als getrennt hat.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun der Abgeordnete Wolfgang
Gehrcke von der Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Zeit, die die Bundeskanzlerin der Außenpolitik in
ihrer Regierungserklärung eingeräumt hat, war sehr
knapp bemessen. Ich will das gar nicht bemängeln. Vielleicht war es zum Vorteil der Außenpolitik, dass sie sich
dazu nicht umfangreicher geäußert hat. Das möchte ich
an zwei Beispielen deutlich machen.
Die Frau Bundeskanzlerin sprach davon - da hat sie
die Zustimmung aller Fraktionen in diesem Hause einschließlich der Fraktion der Linken -, dass es von besonderer Bedeutung ist, das Existenzrecht des Staates Israel
in gesicherten Grenzen, in guter Nachbarschaft, also
ohne Furcht vor den Nachbarn, durchzusetzen. Das ist so
weit in Ordnung. Ich glaube, das muss man unterstreichen.
Sie hat aber nicht den Gedanken ausgeführt, dass die
Palästinenser das gleiche Recht
({0})
zu beanspruchen haben, zum Ausgleich einen eigenen,
lebensfähigen Staat in gesicherten Grenzen in Partnerschaft zu erhalten.
({1})
Das eine ist nur möglich, wenn man versucht, das andere
ebenfalls zu bewerkstelligen.
({2})
Deswegen ist es von besonderer Bedeutung, dass man
nicht nur das eine kontinuierlich fortführt, sondern auch
versucht, das andere, nämlich die Interessen der palästinensischen Bürgerinnen und Bürger, deutlich zu machen
und kraftvoll mit zu vertreten. Wir können Probleme, die
in der deutschen Politik, in unserer Geschichte wurzeln,
nicht auf dem Rücken der Palästinenser austragen.
({3})
Das hat weder etwas mit Moral noch mit einer perspektivischen Politik zu tun.
In Bezug auf die CIA-Geheimflüge und die Folterzentren war die Auskunft: Die USA wollen zeitnah antworten. Das hat der Herr Außenminister wiederholt.
Über „zeitnah“ kann man sehr unterschiedlicher Auffassung sein. Ich sage Ihnen: Es müsste doch sehr einfach
sein, eine Antwort zu geben; entweder stimmt es oder es
stimmt nicht.
({4})
Diese Antwort müssen sowohl die US-Regierung als
auch die deutsche Regierung heute geben können. Was
ist denn das für eine Logik, wenn man sagt, das müsse
recherchiert werden? Zu klären ist doch nur eines: ob der
CIA hinter dem Rücken der amerikanischen Regierung
so etwas fabriziert hat. Ich glaube das nicht einmal in
meinen schlimmsten Fantasien.
({5})
- Auch ich traue dem CIA alles zu, Gregor. - Aber ich
sehe schon einen Zusammenhang zwischen der Politik
dieser Regierung und den Handlungen des CIA. Deswegen muss die Frage „Stimmt es oder stimmt es nicht?“
beantwortet werden.
Ich kann auch nicht verstehen, dass die deutsche Bundesregierung, die mittlerweile etliche Antiterrorgesetze
verabschiedet hat und die davon ausgeht, dass durch den
Einsatz von Bundeswehr und Polizei in diesem Lande alles zu kontrollieren und zu hinterfragen ist, nicht in der
Lage ist, einfache Auskünfte darüber zu geben, ob Flugzeuge der USA oder anderer Nationen mit nicht definierten Zielen den Luftraum der Bundesrepublik Deutschland genutzt haben oder nicht. Solche Antworten zu
geben wäre einfach. Man müsste sich aber dazu bekennen, ob man davon gewusst hat und ob man es geduldet
hat - ein solches Verhalten wäre strafbar und rechtswidrig - oder ob man davon nicht gewusst hat; dann wäre
die Souveränität dieses Landes in hohem Maße verletzt.
({6})
Das ist eine einfache Logik. Da geht es nicht einmal um
Parteipolitik, sondern nur um Logik. Und ein bisschen
Logik kann man auch der Bundesregierung abverlangen.
In einem stimme ich dem Außenminister, Herrn
Steinmeier, völlig zu: Es gibt bei vier Fraktionen in diesem Haus einen Konsens in außenpolitischen Grundfragen - ich bedauere das -; en détail hat es ja immer Differenzen gegeben. Eine Fraktion schließt sich diesem
Konsens nicht an; das ist meine Fraktion. Dazu stehe ich
auch. Eine Grundlage der Außenpolitik der Bundesregierung war immer - das empfand ich als das Katastrophalste -, dass Krieg im 21. Jahrhundert wieder denkbar
und möglich geworden ist.
Dieser Logik haben wir immer eine andere Logik entgegengesetzt, nämlich dass Krieg kein Mittel der Politik
sein kann und darf.
({7})
Da liegt ein Graben zwischen uns. Ich habe überhaupt
kein Problem damit, zu sagen, dass über diesen Graben
keine Brücke und nicht einmal ein Steg führt. Das ist
eine klare Differenz, über die keine Verständigung möglich ist. Das sollte man hier dann auch aussprechen. - Insofern akzeptiere ich diese Beurteilung.
Der Herr Außenminister hat sehr sachlich davon gesprochen, dass die Verhandlungen mit dem Iran hoffentlich ein Ergebnis erbringen, und hat dann gesagt: Wenn
ein solches Ergebnis nicht erzielt wird, besteht die Gefahr, dass die Angelegenheit vor den Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen kommt. - Das beinhaltet die Gefahr
- das sollte man dabei völlig klar sagen -, dass auch im
Falle Iran zu einer kriegerischen Lösung des Konflikts
gegriffen werden kann. Das ist schlichtweg eine Katastrophe.
({8})
So etwas hier in der Deutlichkeit auszusprechen müsste
eine neue Form der deutschen Außenpolitik werden. Es
geht nicht an, die Leute mit dem harmlosen Satz, das
komme dann vor den Weltsicherheitsrat, über die Brisanz der Lage zu täuschen.
Sie haben sich dazu nicht geäußert, Herr Außenminister. Sind Sie dafür oder dagegen? Auch hierzu erwarte
ich eine Klarstellung. Eine deutsche Bundesregierung
muss verbindlich und völlig klar sagen: Wir sind gegen
jegliche Form eines kriegerischen Konflikts mit dem
Iran. Das hält die Welt nicht aus.
Schönen Dank.
({9})
Das Wort hat nun die Kollegin Angelica SchwallDüren von der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich komme noch einmal zur Europäischen Union
zurück.
Die Europäische Union ist Garant für politische
Stabilität, Sicherheit und Wohlstand in Deutschland
und Europa. Nur gemeinsam können die Europäer
ihre Interessen erfolgreich wahren.
Das sind die Anfangssätze des Europateils der Koalitionsvereinbarung, die das breite Spektrum der Herausforderungen eröffnen, die mit der Europapolitik verbunden sind. Es geht darum, dass die neue Regierung in
Kontinuität zur bisherigen Politik die langen Linien weiterverfolgt.
({0})
Europapolitik ist Friedenspolitik nach innen und außen. Wir haben heute schon einiges zur europäischen Sicherheitsstrategie und zur ESVP gehört. Die Steigerung
des gemeinsamen Wohlstands durch die EU für alle Mitgliedstaaten ist ein wichtiger Pfeiler der Friedenspolitik
nach innen und doch nicht mehr selbstverständlich. Das
erleben wir seit einigen Jahren schmerzlich.
Dass darüber hinaus viele Bürger und Bürgerinnen in
den Stürmen der Globalisierung die EU nicht mehr als
soziale Schutzmacht, sondern eher als trojanisches Pferd
des Neoliberalismus erleben, ist offensichtlich. Zunehmende Skepsis gegenüber den europäischen Institutionen macht sich in vielen unserer Gesellschaften breit.
Das ist auch ein Grund für die Krise der EU, eine
Krise, die uns motiviert, mit unseren Partnern die offenen Fragen anzugehen, die seit der Erweiterung um zehn
Staaten im Jahr 2004 noch dringlicher geworden sind
und auf die wir in den kommenden Jahren antworten
müssen: In welchem Europa wollen wir leben? Wo sind
die Grenzen der EU? Wie viel politische Integration
brauchen wir? Wie kann eine Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik aussehen? Damit kann diese Krise
auch die Chance sein, das europäische Projekt an den
Anforderungen unserer Zeit auszurichten, wie der Koalitionsvertrag es ausdrückt.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, überall bei meinen Gesprächen in Europa höre ich, welch hohe Erwartungen für die Lösung der europäischen Zukunftsfragen
gerade an Deutschland gerichtet werden. Diesen Erwartungen müssen wir uns stellen und wir müssen ihnen gerecht werden. Wir wollen während der deutschen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 Impulse geben,
damit das, was wir mit dem Verfassungsprozess verbinden, erfolgreich vorangebracht wird.
({1})
Nur wenn wir es schaffen, zu einem Europa der Bürger
und Bürgerinnen zu kommen, können wir der Skepsis
gegenüber der EU begegnen und die Menschen für ein
solidarisches Europa begeistern. Deshalb muss auch der
Bundestag noch mehr als in der Vergangenheit der Ort
europapolitischer Debatten sein.
({2})
Wir als Parlament wollen die uns zustehenden Rechte
voll nutzen. So können wir uns schon im Entstehungsprozess von europäischer Gesetzgebung beteiligen und
unsere Interessen einbringen. Über die Debatten im Bundestag sollen die Bürger und Bürgerinnen erfahren, welche Veränderungen wir gemeinsam in Europa beginnen
und welchen konkreten Nutzen die Menschen von diesen
Maßnahmen haben.
Diese Koalition wird europapolitische Debatten aber
auch außerhalb des Parlaments und von Regierungskonferenzen führen. Es kommt darauf an, den Dialog mit
Nichtregierungsorganisationen, in Bürgerforen, Vereinen, Schulen und Hochschulen zu führen. Es gilt, gemeinsam mit den Bürgern eine europäische Vision zu
entwickeln, die wieder Begeisterung weckt und bei deren Verwirklichung viele mittun wollen.
({3})
Dieses Europa der Bürger wird es nur geben, wenn es
ein Europa mit sozialer Dimension ist. Das europäische
Gesellschaftsmodell muss fortentwickelt, nicht abgebaut
werden. Deshalb kommt es sehr darauf an, dass wir die
notwendigen Reformen so gestalten, dass sie den Menschen Sicherheit in der Veränderung geben. Europapolitik muss die Menschen ermutigen und darf sie nicht
ängstigen.
({4})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, der Kommissionsentwurf der Dienstleistungsrichtlinie eignet sich unter
diesem Gesichtspunkt nicht zur Regelung der Fragen der
Daseinsvorsorge. Wir wissen, dass eine weitere faktische
Öffnung der Dienstleistungsmärkte mehr wirtschaftliche Dynamik und damit mehr Arbeitsplätze mit sich
bringen kann. Auf diesen Arbeitsplätzen müssen die
Menschen aber auch einen Lohn verdienen, mit dem sie
sich und ihre Familien ernähren können.
({5})
Wir wollen verhindern, dass das Herkunftslandprinzip
zu einer Absenkung von Lohn-, Sozial-, Qualitäts- und
Umweltstandards führt.
Wenn wir es in der EU mit einer engeren Abstimmung unserer Politiken gemeinsam schaffen, durch eine
behutsame Modernisierung unserer Arbeitsmarkt- und
Sozialsysteme die Menschen mitzunehmen, wenn wir
ihnen die notwendige Unterstützung bei einer guten
Aus- und Weiterbildung geben, dann werden sie den Mut
haben, Verantwortung zu übernehmen und mit Zuversicht in die Zukunft zu schauen. Dann werden sie - bei
uns und in den Nachbarstaaten - auch den Weg mitgehen, die europäischen Institutionen über eine Verfassung
demokratischer, transparenter und handlungsfähiger zu
machen.
({6})
Wir haben in diesem Zusammenhang heute schon
über die Lissabon-Strategie und über die Finanzierung
der Kohäsionspolitik gesprochen. Lassen Sie mich, Herr
Löning, noch eine Anmerkung zum Steuerwettbewerb
machen. Kohärente Politik heißt auch, durch Verhinderung von unfairem Steuerwettbewerb, der teilweise stattfindet, in allen Mitgliedstaaten die Grundlagen für den
Erhalt und Ausbau der Infrastruktur zu schaffen. Alles
andere wäre keine gute Politik für die Zukunft. Ein erster
Schritt wäre die Erarbeitung einer gemeinsamen Bemessungsgrundlage für die Unternehmensbesteuerung.
Meine Damen und Herren, heute ist auch schon verschiedentlich angesprochen worden, dass die größeren
und die kleineren Staaten eng zusammenarbeiten sollen.
Es geht in der Tat um die Zusammenarbeit mit Frankreich und den Niederlanden, mit Schweden und Ungarn,
um nur einige zu nennen. Es ist mir aber auch wichtig,
zu betonen, dass die erste Auslandsreise von Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier nach
Frankreich ein wichtiges, positives Signal für die Kontinuität der bisher für Europa erfolgreichen Tradition der
deutsch-französischen Zusammenarbeit und Freundschaft war.
({7})
Aber wir wünschen uns auch weiterhin eine enge Zusammenarbeit mit unserem großen östlichen Nachbarn
Polen - bilateral, im Weimarer Dreieck und in den EUInstitutionen.
Da meine Redezeit zu Ende geht, lassen Sie mich mit
einem Zitat des ehemaligen polnischen Außenministers
Wladislaw Bartoszewski enden:
Es gibt keinen anderen Weg, einen dauerhaften
Frieden zu schaffen, als durch den Abbau von Entwicklungsrückständen und die Reduzierung von
Armutszonen … Europa braucht ein neues Solidaritätsgefühl, damit seine Einheit nicht am Ende an
allzu großen Lasten der Geber und am Frust der
Nehmer zerbricht.
Diese Koalition ist bereit, diese Herausforderung anzunehmen.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die europäische Einigung ist eine der größten
Errungenschaften der letzten 50 Jahre. Frieden, Freiheit
und die Idee der Zusammenarbeit der Völker sind heute
auf unserem Kontinent - zusammen mit den Staaten des
ehemaligen RGW - fest verankert. Aber wie Bundeskanzlerin Angela Merkel deutlich gemacht hat, muss
sich die Europäische Union stärker den Herausforderungen von heute stellen.
Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass
sich die Europäische Union mit den Problemen des
21. Jahrhunderts beschäftigt und ihre Legitimation nicht
allein aus den durchaus beachtlichen Erfolgen der Vergangenheit ableitet. Die Probleme des 21. Jahrhunderts
sind sehr vielfältig und überaus komplex. Es gibt keine
einfachen Antworten.
Die Entscheidungsprozesse auf europäischer Ebene
sind vielfach intransparent; die Entscheidungsfindung ist
überaus kompliziert. Wie auf nationaler Ebene sind wir
auch auf europäischer Ebene mit den Problemen einer
geradezu ausufernden Bürokratie konfrontiert. Nicht zuletzt gilt: Wollen wir uns im Zeitalter der Globalisierung
behaupten, muss Europa auch bei Wachstum und Beschäftigung deutlich besser werden.
Insgesamt haben viele dieser Probleme zu einem
schleichenden Vertrauensverlust gegenüber der europäischen Einigung bei den Bürgerinnen und Bürgern geführt. Seien wir ehrlich: Vielfach werden die Erwartungen der Menschen in die europäische Politik nicht
erfüllt. Die Ablehnung des Verfassungsvertrages in
Frankreich und den Niederlanden ist aus meiner Sicht
vor allem deshalb erfolgt, weil sich die Bürgerinnen und
Bürger mit ihren Sorgen und Ängsten nicht ausreichend
wahrgenommen fühlten.
Nicht die Grundidee einer europäischen Verfassung,
nicht der Verfassungsvertrag selbst wurden abgelehnt,
sondern es wurde der realen europäischen Politik ein
Denkzettel verpasst. Deshalb gilt es, die Europapolitik
wieder auf das richtige Gleis zu setzen. Die Europäische
Union muss den Zukunftsängsten der Bürger begegnen
und Lösungswege aufzeigen. Europäische Politik muss
zu einer Vertrauenssache werden. Dabei sind aus meiner
Sicht vor allem drei Bereiche von besonderer Bedeutung.
Erstens. Europapolitik muss für die Bürger wieder
nachvollziehbar werden. Es muss das erste Ziel sein,
Entscheidungsprozesse transparent zu machen. Hierzu
dient der europäische Verfassungsvertrag. Wir sollten
uns davor hüten, den Verfassungsvertrag für tot zu erklären. Die unter den europäischen Regierungschefs vereinbarte Denkpause in Europa muss auch zum Denken genutzt werden. Wir brauchen einen Plan, wie der
Verfassungsprozess zu einem positiven Ergebnis geführt
werden kann.
({0})
Zweitens. Die europapolitischen Prioritäten müssen
richtig gesetzt werden. Hierzu gehört aus meiner Sicht,
dass sich die Europäische Union im Rahmen der so genannten Lissabon-Strategie in Zukunft weniger mit
wohlklingenden Erklärungen beschäftigt. Sie muss sich
vielmehr auf die Kernbereiche Bürokratieabbau sowie
die Stärkung von Wachstum und Beschäftigung, das
heißt mehr Arbeitsplätze, konzentrieren. Wir müssen im
Zeitalter der Globalisierung die Rolle der Europäischen
Union in der Welt definieren, unsere Interessen offen
und ehrlich formulieren und durchsetzen. Wir müssen
uns nicht zuletzt auch die finanziellen Mittel für ein
handlungsfähiges Europa geben.
Drittens sollten wir uns darauf konzentrieren, den
Bürgern klar erkennbare europapolitische Erfolge aufzuzeigen. Dies ist nicht, wie vielfach in der Europäischen
Kommission geglaubt wird, ein Kommunikationsproblem. Eine falsche europäische Politik kann man auch
nicht mit einer modernen, neuen Kommunikationstechnik verbessern. Eine richtige Aktion ist die beste Kommunikation. Richtiges politisches Handeln wird auch die
Zustimmung der Menschen in der Europäischen Union
finden. Das Richtige ist vor allen Dingen einfach und
nachvollziehbar.
Für die neue Bundeskanzlerin Angela Merkel und die
neue Bundesregierung hat die Europapolitik eine besondere Priorität. Deutschland ist ein wichtiger Partner in
der Europäischen Union und muss seinem Gewicht entsprechend eine konstruktive Rolle bei der weiteren Ausgestaltung des europäischen Integrationsprozesses spielen.
Dies bedeutet: Deutschland muss initiativ werden und
in einer immer heterogeneren Europäischen Union als
Moderator darauf hinwirken, unterschiedliche Interessen
zusammenzubinden. Deutschland hat Verantwortung in
Europa. Diese Bundesregierung will sie nutzen und sie
wird dabei im Deutschen Bundestag weit über die Grenzen der Koalitionsfraktionen hinaus - da bin ich sicher eine starke Unterstützung bekommen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat nun der Kollege Gert Weisskirchen von
der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Gerhardt, eines ist mir an Ihrem
Diskussionsbeitrag, in dem Sie sich auch mit China befasst und sich kritisch mit der ehemaligen Bundesregierung auseinander gesetzt haben, aufgefallen: Ihnen muss
entgangen sein, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder
den Rechtsstaatsdialog erfunden hat.
({0})
- Wenn Sie das wissen, dann hätten Sie diesen hier erwähnen müssen.
Denn der zentrale Punkt, lieber Kollege Gerhardt, ist,
dafür zu sorgen, dass Kooperationsbeziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Europäischen Union und China aufgebaut werden, damit das,
worauf es uns gemeinsam ankommt, vorangetrieben
wird: dass so etwas wie Vorformen - mehr kann es gar
nicht sein - an zivilgesellschaftlichen Strukturen in diesem riesenhaften Land entstehen. Denn dieses Land
wird, wenn es seinen ungeheuren Beschleunigungskurs
Gert Weisskirchen ({1})
der rein technischen Ökonomisierung vorantreibt, an irgendeinem Punkt der weiteren Entwicklung zwangsläufig gar nicht anders können, als die politischen Freiheitsrechte letztlich zu erweitern. Wie wollen Sie anders
damit umgehen als mittels eines Rechtsstaatsdialogs,
den - noch einmal - Gerhard Schröder und die Vorgängerregierung erfunden haben? Genau das ist der richtige
Weg.
({2})
Herr Gerhardt, ein Weiteres: Sie hätten ein wenig verfolgen sollen, dass Jürgen Habermas im Rahmen dieses
Dialogs durch die verschiedenen Universitäten Chinas
gezogen ist und dafür gesorgt hat, dass sich junge Menschen mit dem Grundgedanken der europäischen Entwicklung auseinander setzen. Dies umfasst, dass die Basis dessen geschaffen wird, was wir unter europäischer
Identität verstehen: dass die Menschenrechte unteilbar
sind und jedes Individuum Rechte hat.
({3})
Dies ist ein Gedanke, den Hannah Arendt glänzend formuliert hat: Jeder Mensch hat ein Recht auf Menschenrechte.
({4})
Das ist die Substanz, der Baustein des europäischen
Denkens.
Es kommt darauf an, dass wir jenen Prozess organisieren, der dazu führt, dass sich die Demokratie am
Ende, so wie wir alle hoffen, globalisieren kann. Das ist
der beste Schutz vor allen Verwerfungen einer zweckorientierten, rein utilitaristischen Ökonomieentwicklung.
Die Demokratie muss sich aus den gesellschaftlichen
Strukturen heraus entfalten und entwickeln.
({5})
Das ist es, was wir unter Demokratieförderung verstehen
müssen. Die Vorgängerregierung hat dies gemacht. Im
Koalitionsvertrag gibt es dazu eine ganz klare Passage,
die das Wort „Kontinuität“ beinhaltet.
({6})
In dieser Kontinuität ist diese Regierung verpflichtet,
das voranzutreiben, worauf es ankommt, nämlich Demokratie zu realisieren und dafür zu sorgen, dass die europäische Identität nicht in missionarischer Form vermittelt, aber von den Menschen in aller Welt so
aufgenommen wird, dass Demokratie das zentrale
Grundelement ist, mit dem die Menschen ihre Freiheit
realisieren können. Das ist es, wozu wir uns verpflichtet
haben. Deswegen wird die große Koalition in diesem
Punkt auf jeden Fall ein Erfolg werden.
({7})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich
liegen nicht mehr vor.
Wir kommen dann zum Themenbereich der Innenpolitik. Ich erteile das Wort dem Bundesminister des Innern, Herrn Dr. Wolfgang Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Entführung von Susanne Osthoff, die heute
Morgen von der Frau Bundeskanzlerin und allen Fraktionsvorsitzenden bereits in angemessener Weise angesprochen worden ist, hat uns in Erinnerung gerufen, dass
die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus
uns alle betrifft. Ich glaube nicht, dass dies eine neue Bedrohungslage ist. Ich glaube, es ist vielleicht nur eine
neue Wahrnehmung, die klar macht, dass wir alles tun
müssen, um den Gefahren zu wehren.
Wir haben immer gesagt - das gilt auch heute -: Es
gibt keine hundertprozentige Sicherheit. Das möchte ich
gerne am Anfang meiner Amtszeit sagen. Das heißt aber
nicht, dass wir nicht das menschenmögliche Maß an Sicherheit gewährleisten wollen. Wir haben miteinander
verabredet, dass wir uns damit alle Mühe geben, und
dem sind wir - vermutlich über alle Fraktionsgrenzen
hinweg - verpflichtet.
({0})
Im Einzelfall wird es immer schwierige Abwägungssituationen geben; darüber haben wir gesprochen. Es
muss auch klar sein, dass wir nicht nur die Sicherheit unseres Landes und unserer Bürger und Bürgerinnen verteidigen, sondern auch die Sicherheit der Gewährleistung unserer freiheitlichen, rechtsstaatlichen und
demokratischen Verfassung. Das ist kein Gegensatz.
({1})
Vielmehr bedingt das eine das andere: Es gibt keine Sicherheit ohne Freiheitsrechte und keine Freiheitsrechte
ohne Sicherheit. Dass dies so ist, muss bei der Abwägung immer klar sein.
Manchmal haben wir in Deutschland eine gewisse
Neigung zur Erregungskultur.
({2})
Mir hat in der vergangenen Woche am Rande unserer
ersten Bundestagssitzung der Kollege von Stetten von
dem Fall berichtet, dass ein Parkplatzwächter auf einem
Autobahnparkplatz zu Tode gekommen ist und die Strafverfolgungsbehörden wegen Mordverdachts ermitteln.
Ob die Daten, die die Einrichtungen zur Erfassung der
LKW-Maut liefern, geeignet wären, den Täter zu fassen, weiß kein Mensch. Aber die Strafverfolgungsbehörden sind gehindert, überhaupt zu prüfen, ob diese Daten
einen Hinweis auf den Täter liefern können.
({3})
Deswegen habe ich mit dem Kollegen Tiefensee und mit
der Kollegin Zypries darüber gesprochen. Wir hatten übrigens auch in den Koalitionsgesprächen, Herr Kollege
Körper, schon besprochen, dass wir in einem solchen
Fall die Voraussetzungen, unter denen dies gesetzlich
geändert werden muss, genau prüfen werden. Es muss
geändert werden. Es kann nicht wahr sein, dass dieser
Staat Daten erhebt, die wir nicht nutzen dürfen, um notfalls einen Mord aufzuklären.
({4})
Die Voraussetzungen dafür kann man diskutieren. Aber
es kann nicht so sein, dass wir in einem solchen Fall
- wo der Staat Daten erhebt, um von den LKW-Fahrern
Mautgebühren zu kassieren - gehindert sind, sie zu nutzen, um einen Mord aufzuklären oder zu verhindern.
Lassen Sie uns über die Einzelheiten, über die Voraussetzungen und über die Abgrenzungen genau reden, aber
lassen Sie uns um Himmels willen nicht bei unseren
Mitbürgerinnen und Mitbürgern den Eindruck erwecken,
wir würden uns künstlich blind machen. Ich sage auch
gleich: Das muss nicht nur für die Aufklärung schwerer
oder schwerster Straftaten gelten, sondern das muss
- unter zu definierenden Voraussetzungen - auch für die
Verhinderung schwerster Straftaten und damit von Terrorismus gelten.
({5})
- Ich finde es sehr schön, dass Sie sagen: „Sie lassen die
Katze aus dem Sack“. Ich rede über das Thema in der
Tat im Zusammenhang mit der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus. Ich möchte, dass wir das
Menschenmögliche tun, um schlimme Anschläge, die
uns wie auch allen anderen drohen, zu verhindern.
({6})
- Auch nach den Regeln der Verhältnismäßigkeit. Ich
finde, was in London, was in Madrid und was in New
York passiert ist, sprengt alle Grenzen der Verhältnismäßigkeit. Deswegen möchte ich so etwas gerne im Rahmen unserer freiheitlich-rechtsstaatlichen Verfassung
verhindern. Ich bitte Sie um Ihr Mitwirken und nicht um
Ihre mich eher weniger überzeugende Art von Blockade.
Man muss schon darüber reden können. Das ist ein
wichtiger Punkt.
({7})
- Das sind Abwägungsfragen, aber man darf nicht von
vornherein sagen: Das kommt überhaupt nicht in Frage.
Man darf auch nicht denjenigen, der sich die Mühe
macht, darüber nachzudenken, wie man Sicherheit optimieren kann, ohne Freiheitsrechte zu gefährden, von
vornherein in eine Tabuecke drängen. Ich sage Ihnen
vorweg: Das wird Ihnen mit mir nicht gelingen.
Sie müssen auf der anderen Seite wissen: Ich werde
immer wieder Ihre Verantwortung, also die Verantwortung dieses Gesetzgebers, einfordern. Wir müssen das
Menschenmögliche tun - im Rahmen unserer freiheitlichen Verfassung -, um unsere Bürger zu schützen. Wenn
wir uns einig sind, dass es keinen Widerstreit von Freiheit und Sicherheit gibt, dann muss das in beide Richtungen gelten. Deswegen sind wir in dieser Verantwortung.
Ich möchte auch nicht darauf warten, dass ein großer
Anschlag passiert und wir erst dann die Gesetze ändern.
Ich möchte lieber vorher getan haben, was wir tun können, damit so ein Anschlag nicht passiert.
({8})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Wiefelspütz?
Bitte sehr.
Herr Minister Schäuble, ich habe mich in der Vorbereitung auf die heutige Debatte einmal in den Gesetzen
umgeschaut, die wir - wie ich höre, sogar gemeinsam verabschiedet haben. In dem Autobahnmautgesetz
heißt es in § 4 Abs. 2 - die letzten beiden Sätze - wörtlich:
Diese Daten dürfen ausschließlich für die Zwecke
dieses Gesetzes verarbeitet und genutzt werden.
Eine Übermittlung, Nutzung oder Beschlagnahme
dieser Daten nach anderen Rechtsvorschriften ist
unzulässig.
Herr Minister, ich halte diese Vorschrift, die wir gemeinsam verabschiedet haben, in der Abwägung der in
Rede stehenden Rechtsgüter - beispielsweise im Hinblick auf terroristische Straftaten oder Mord - für verfassungswidrig. Sind Sie da anderer Auffassung als ich? Ich
halte die Norm in dieser Totalität, in dieser Rigidität für
nicht in Übereinstimmung mit unserem Grundgesetz und
bin der Auffassung, dass das dringend - über den Umfang muss man sprechen - verändert werden muss. Ich
würde Sie bitten, einmal Ihre Rechtsauffassung dazu,
wenn Sie wollen, zu äußern. Ich halte diese Norm für
verfassungswidrig.
Ich werde jetzt nicht dem letzten Deutschen Bundestag in meiner ersten Rede als Bundesinnenminister eine
verfassungswidrige Gesetzgebung bescheinigen;
({0})
dafür ist das Bundesverfassungsgericht zuständig. Aber,
Herr Kollege Wiefelspütz, wir stimmen überein: Die
Norm ist in jedem Fall falsch; deswegen müssen wir sie
ändern. Das ist es, was ich gerne möchte. Deswegen ist
die Erregung - wo immer sie entstanden ist - auch völlig
unangebracht.
Lassen Sie mich weiter anmerken: Ich glaube, zur
Vorsorge gehört auch, dass wir im Bereich des Katastrophen- und Bevölkerungsschutzes unsere Bemühungen effektivieren. Wir haben das auch ein Stück weit
in der Föderalismuskommission, also in der Diskussion
zur Reform des Föderalismus beraten. Ich glaube, das ist
ein wichtiges Thema.
Ich will die Gelegenheit nutzen, unzuständigerweise
zu sagen: Wir sind eigentlich immer so unterrichtet gewesen, dass wir uns, was die Sicherheit der Energieversorgung betrifft, keine Sorgen über tagelange Stromunterbrechungen, die ja unter Umständen für den Zivilund Bevölkerungsschutz relevant sein können, machen
müssen, wie es etwa in den Vereinigten Staaten von
Amerika der Fall ist. Ich hätte gern, dass wir diese Zuversicht auch in der Zukunft haben. Die Erfahrungen der
letzten Tage waren nicht ganz so gut. Daraus müssen ein
paar Konsequenzen gezogen werden.
Meine zweite Bemerkung, die ich machen möchte,
lautet: Neben der Bedrohung durch den internationalen
Terrorismus ist die Bewältigung der Veränderung der
modernen Welt durch Migration eine der großen Herausforderungen. Das gilt in zweierlei Richtungen. Auch
in diesem Bereich haben wir in den letzten Wochen in
den anderen europäischen Ländern in die eine oder in die
andere Richtung bedrückende Erfahrungen gemacht. Die
Spanier und auch die Franzosen mussten hier Erfahrungen machen. Wir in Deutschland kennen die Debatte seit
vielen Jahren. Die ist so alt, dass ich sie als Innenminister schon einmal mitgemacht habe.
Ich bin ganz überzeugt, dass wir auch da beide Elemente bedenken und berücksichtigen müssen. Wir werden Zuwanderung nicht, wie es im Zuwanderungsgesetz
heißt, steuern und begrenzen können, wenn wir Fluchtursachen nicht erfolgreicher bekämpfen. Da muss es
eine Gesamtverantwortung der Regierung geben. Wir
haben in unserer Koalitionsvereinbarung festgehalten,
dass wir alle in diesem Bereich noch mehr tun müssen,
insbesondere in Afrika, aber nicht nur.
Aber wir werden die notwendige Offenheit und Toleranz in unserer Gesellschaft, die ja Voraussetzung dafür
ist, dass wir Zuwanderung als Bereicherung empfinden
können und nicht als Bedrohung empfinden müssen, nur
aufrechterhalten, wenn es uns gelingt, die Menschen davon zu überzeugen, dass wir zur Steuerung und Begrenzung von Zuwanderung in der Lage sind.
({1})
Beides gehört zusammen. Dazu gehört auch Integration. Wir sind kein dünn besiedeltes Land, in dem sich
Parallelgesellschaften bilden können. Wir sind auf Kommunikation angewiesen und müssen die Entstehung von
Parallelgesellschaften vermeiden.
Wir haben übrigens im Gegensatz zu Frankreich, wo
wenigstens fast alle Französisch sprechen, oder im Gegensatz zu Großbritannien, wo alle Englisch sprechen, in
Deutschland das Problem, dass wir nicht einmal dieselbe
Sprache sprechen. Wir müssen darauf bestehen, dass,
wer auf Dauer in Deutschland lebt, in der Lage ist, mit
den anderen, die auf Dauer in Deutschland leben, kommunizieren kann, weil sonst nicht die Gemeinschaft entsteht, von der die Frau Bundeskanzlerin heute Morgen
und auch der Herr SPD-Vorsitzende zu Recht gesprochen haben.
Gemeinsamkeit fängt damit an, dass man miteinander
kommunizieren kann, setzt Sprache voraus. Das heißt
übrigens auch, dass wir staatlicherseits - Gemeinden,
Länder und der Bund - helfen müssen, Sprache zu lernen. Das heißt aber auch, dass wir zuvor den Eltern sagen: Ihr habt zunächst eine Verantwortung dafür, dass
eure Kinder die Sprache lernen. Denn die Eltern haben
eine Verantwortung und jedes Kind, auch ausländischer
Abstammung, hat einen Vater und eine Mutter. Die haben die prioritäre Verantwortung. Diese muss eingefordert werden.
Integration ist eine Zweibahnstraße. Sie setzt Bemühungen und Offenheit derjenigen voraus, die dauernd
hier leben, aber auch die Bereitschaft derjenigen, die zu
uns gekommen sind - oder deren Eltern oder Großeltern -, um mit uns zusammenzuleben. Dafür müssen wir
arbeiten. Das ist eine zentrale Aufgabe dieser Bundesregierung, was nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck gebracht werden soll und gebracht wird, dass die Beauftragte für die Integration als Staatsministerin im
Kanzleramt angesiedelt ist. Ich bitte da um Mitwirkung.
Aber ich sage noch einmal: Es wird nur gelingen,
wenn wir die Steuerung und Begrenzung von Zuwanderung leisten. Das macht sich dann im Einzelfall bemerkbar. Wir haben in einer schwierigen Debatte über
die Frage von Bleiberechten derjenigen, die irgendwann
einmal illegal hierher gekommen sind, gesprochen.
Auch da sind es Abwägungsfragen. Man weiß, dass,
wenn diese Menschen oder deren Kinder hier schon
lange leben, man irgendwann einen Punkt erreicht, an
dem eine Ausweisung keinen Sinn mehr macht.
({2})
Man weiß aber auch, dass viele derjenigen, über die wir
reden, irgendwann einmal illegal hierher gekommen
sind. Im Zweifel befördert man also das Geschäft derjenigen, die sie illegal hierher verbracht haben - das nennt
man organisierte Kriminalität - was man nicht darf.
({3})
Deswegen bitte ich auch in diesem Sinne darum, dass
wir miteinander die beste Lösung erreichen, aber uns die
Sache nicht zu leicht machen.
Meine dritte Bemerkung - das ist eine zentrale Aufgabe für uns - ist: Wir müssen unseren staatlichen Aufbau, unsere Verfahrensweisen und die Bürokratie verschlanken, nicht nur aufgrund der Wirkung auf die
Wirtschaft - dieser Bereich ist im Kanzleramt angesiedelt -, sondern auch zur weiteren Optimierung der Verwaltungs- und Verfahrensabläufe.
Dazu gehört auch in Zukunft ein leistungsfähiger öffentlicher Dienst. Deswegen bekenne ich mich dazu,
dass auch der öffentliche Dienst, wie wir es in der Koalitionsvereinbarung verabredet haben, seinen Beitrag dazu
leisten muss. Der Innenminister wird seine Verantwortung dafür als Teil der Bundesregierung wahrnehmen,
um seinen Beitrag zur notwendigen Sanierung der Haushalte im Sinne einer nachhaltigen Generationengerechtigkeit - denn darum geht es - zu leisten. Über die Einzelheiten werden wir uns verständigen. Deswegen bitte
ich Sie auch hier, sowohl die zu frühzeitige bzw. vorzeitige Erregung als auch die Phantasie, was alles nicht sein
darf, ein bisschen zurückzustellen.
({4})
Lassen Sie uns dieses Thema in Ruhe und in Verantwortung miteinander angehen.
Ich bin überzeugt, dass wir die Beamten, Angestellten
und Arbeiter im öffentlichen Dienst von der Notwendigkeit überzeugen werden und dass wir das gemeinsam mit
den Beschäftigten - den Beamten, Arbeitern und Angestellten - schaffen, wenn wir auf vernünftige Weise vorgehen. Denn wir alle, auch die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, haben eine Verantwortung gegenüber dem Souverän dieses Landes. Ich
bin ja nicht nur für den öffentlichen Dienst da. Vielmehr
haben wir zusammen mit den dortigen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern eine Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes.
Damit ich nicht nur von Sorgen spreche, sage ich:
Auch der Sport gehört zum Ressort des Bundesinnenministers; das freut mich. Ich füge hinzu: Mein Verständnis, was den Sport betrifft, reduziert sich, obwohl
auch ich fußballbegeistert bin, nicht auf Fußball. In Turin finden die Olympischen Winterspiele statt; auch darauf sollten wir uns freuen. Es gibt im Sport eine große
Vielfalt, die wir erhalten wollen. Aber natürlich ist die
Fußballweltmeisterschaft ein Ereignis, das uns, was
die Sicherheit betrifft, vor große Herausforderungen
stellt. Die Vorbereitungen sind auf einem guten Weg.
Wir hoffen, dass wir wunderbare Fußballspiele mit einer
möglichst erfolgreichen deutschen Fußballmannschaft
erleben werden.
({5})
- Ich habe meine Meinung ja schon gesagt: dass ich am
liebsten hoffe.
({6})
- Ich habe meine Redezeit schon überzogen; dafür bitte
ich um Nachsicht.
({7})
Nun möchte ich zu meiner letzten Bemerkung kommen.
Ich glaube, das Allerwichtigste aus der Sicht der Bundesregierung und damit auch aus der Sicht des Bundesinnenministers ist, dass wir dieses Ereignis, das Milliarden Menschen in der Welt verfolgen, als Chance nutzen,
unser Land als das darzustellen, was es ist: als ein Land,
das in der Lage ist, ein solches Ereignis gut zu organisieren. Bei dieser Gelegenheit können wir Milliarden Menschen zeigen, dass Deutschland ein schönes Land ist, in
dem es sich zu leben lohnt und für das es sich zu arbeiten
lohnt.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Max Stadler von
der FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Minister Schäuble, Ihrem letzten Satz ist
nichts hinzuzufügen; da wird Ihnen jeder zustimmen.
Zu Beginn Ihrer Amtszeit wünscht Ihnen die FDPFraktion eine glückliche Hand bei Ihrer Arbeit, mit der
Sie jetzt für unser Land beginnen, und bei der schwierigen Aufgabe, die Sie zu erfüllen haben.
({0})
Es würde zwar der parlamentarischen Tradition entsprechen, die so genannte 100-Tage-Frist als Schonfrist
einzuhalten. Aber ich glaube, dann würden wir Sie unterfordern. Denn Sie sind einer der erfahrensten Politiker
dieser Regierung und Sie haben sich auch nicht gescheut, bereits in Ihrem ersten Redebeitrag als Innenminister klare Positionen zu beziehen.
Deswegen sagen wir als FDP Ihnen ebenso klar: Die
Koalitionsvereinbarung ist für uns im Bereich der Innenund Rechtspolitik eine große Enttäuschung. Denn sie
enthält eine bemerkenswert große Anzahl von völlig unverbindlichen Absichtserklärungen und von lediglich vagen Prüfaufträgen. Aber diese Koalitionsvereinbarung
lässt an keiner Stelle erkennen, dass Sie bereit sind, die
zahlreichen und unnötigen Grundrechtseingriffe der
letzten Jahre zurückzunehmen. Das ist unsere Hauptkritik an der Koalitionsvereinbarung.
({1})
Wir befürchten - Ihre Eingangsworte haben uns darin
bestätigt -, dass die Politik des „in dubio pro securitate“
- im Zweifel für die Sicherheit - fortgesetzt wird. Wir
glauben allerdings, dass die für die Politik notwendige
Abwägung zwischen den Sicherheitsinteressen und dem
freiheitlichen Gehalt des Grundgesetzes bereits unter
Rot-Grün nicht mehr stattgefunden hat.
({2})
Dennoch wollen wir zu Beginn Ihrer Amtszeit auch feststellen, dass wir einige Ihrer Äußerungen, Herr Minister
Schäuble, sehr positiv registriert haben: Sie haben zu
Recht die Integration als eine Hauptaufgabe der Zukunft herausgestellt. Die FDP wird Sie dabei unterstützen, wie wir Ihnen auch unser umfangreiches Programm
zur Integrationspolitik vom Dezember 2004 als Material
anempfehlen dürfen.
Zweitens haben Sie sich zu Recht für den Dialog mit
der islamischen Gemeinschaft ausgesprochen. Auch da
teilen wir Ihre Meinung und auch die klare Aussage, die
Sie getroffen haben: dass dabei die Regeln des Grundgesetzes unverzichtbar sind. Das ist auch unsere Position.
Drittens - damit komme ich, glaube ich, zum
Kernthema dessen, worüber wir die nächsten Jahre vermutlich des Öfteren zu diskutieren haben - haben Sie in
dem „Spiegel“-Interview, das am Montag dieser Woche
veröffentlicht worden ist, sinngemäß erklärt, dass der
Rechtsstaat sogar beim Kampf gegen Terrorismus nicht
jedes Mittel einsetzen darf. Sie haben auf die konkrete
Frage, wo denn für Sie die rote Linie verlaufe, was ein
Rechtsstaat darf und was nicht, erklärt:
Das Folterverbot muss gelten.
Das ist zwar eine Selbstverständlichkeit, aber trotzdem
wichtig und bemerkenswert. Denn damit haben Sie doch
selber zum Ausdruck gebracht: Der Rechtsstaat darf
vieles - und er muss vieles tun, um die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger bestmöglich zu schützen -,
aber er darf nicht alles. Es sind ihm auch Grenzen gesetzt, von der Verfassung, und diese Grenzen sind in den
Grundrechten definiert, die die Freiheit in unserem
Staatswesen verbürgen.
({3})
Daher, Herr Minister, ist es nicht nur eine nebensächliche Debatte, ob man ein gespeichertes Datum einer
Mautstelle zum Zwecke der Strafverfolgung verwenden
darf, sondern so, wie Sie das vorhin erklärt haben, geht
es hier schon um eine sehr grundsätzliche Auseinandersetzung: Kann es sein, dass der Staat, weil er ja sinnvolle
Zwecke verfolgt wie etwa die Strafverfolgung oder Prävention, auf alle Daten zurückgreift? Oder gilt das, was
bisher allgemeine Meinung war zum Datenschutz: nämlich dass es auch eine Zweckbindung von Daten gibt, auf
die man sich als Bürger verlassen können muss;
({4})
dass man die Sicherheit haben muss, dass bestimmte Daten eben nicht für andere - und seien es noch so hehre Zwecke verwendet werden dürfen? Das ist jedenfalls unsere Meinung.
({5})
Ich verstehe jetzt besser, warum in der Koalitionsvereinbarung - das war mir beim ersten Durchlesen sofort aufgefallen - der Datenschutz schon wieder mit so einem
negativen Touch erwähnt wird: Er kommt dort nur als
Hindernis vor, das dem Staat im Wege steht, Sinnvolles
zu tun. Das ist unserer Meinung nach eine völlig falsche
Betrachtungsweise und das hat der Verfassungsgerichtspräsident Benda, einer Ihrer Vorgänger als Innenminister
und CDU-Politiker, nicht verdient: dass das Grundrecht
auf Datenschutz, das er mit dem Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 des Grundgesetzes herausinterpretiert
hat, so eingeordnet würde!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe
auch sehr aufmerksam zugehört, als Sie gesagt haben:
Der Staat muss - fast; das sage ich jetzt dazu - alles dafür tun, vor allem wenn es um die Prävention geht. Das
klingt natürlich auch plausibel - und wer wollte dem
widersprechen? -, aber man muss die Frage stellen
- nein, Herr Benneter, die entscheidende Frage
kommt -: Wo ziehe ich dann noch Grenzen für staatliche
Eingriffe? Wo ziehe ich noch Grenzen, wenn ich der
Meinung bin, alles, was an Daten gesammelt wird,
müsste verwendet werden?
({6})
- Herr Wiefelspütz, gerade Sie zum Beispiel haben sich
gegen die von Ihnen selbst beschlossene - übrigens auf
besonderen Wunsch der CDU/CSU so formulierte Klausel im Mautgesetz gewandt, nach der es eine strikte
Zweckbindung der Daten geben soll.
({7})
- Doch, das war so: im federführenden Verkehrsausschuss. - Wenn man die Aufgabe des Staates so schrankenlos definiert, dann fällt es schwer, überhaupt noch
Grenzen anzugeben, zum Beispiel wie lange unsere Telekommunikationsdaten, die doch deutlich dem privaten
Bereich angehören und die niemand anderen etwas angehen, gespeichert werden - um nur ein aktuelles Beispiel
aus der EU anzuführen. Mir wird jetzt auch klar, warum
Sie Präventivbefugnisse für das Bundeskriminalamt vereinbart haben. Es geht nicht um eine formale Zuständigkeitsregelung. Wir sehen die Gefahr in der Abkehr vom
klassischen Polizeirecht. Das klassische Polizeirecht hat
immer an konkrete Verdachtssachverhalte angeknüpft,
die den Staat zum Einschreiten veranlassen.
({8})
- Doch, das ist die entscheidende Frage, Herr
Wiefelspütz. Ich habe Ihre Koalitionsvereinbarung sehr
aufmerksam gelesen. Ich bin auf einen Satz gestoßen,
der beim ersten Lesen plausibel klingt, bei nochmaligem
Lesen aber nicht. Zuerst habe ich gedacht, ich bin vielleicht zu skeptisch, ich denke aber, ich bin es nicht. Diesen Satz möchte ich ganz vortragen. Sie schreiben in ihrer Koalitionsvereinbarung etwas zum Verhältnis von
Freiheit und Sicherheit - darin haben wir Ihnen eben zugestimmt - und schreiben dann auf Seite 116:
Beide Werte müssen immer wieder neu - je nach
den sich ändernden äußeren Bedingungen - ins
Gleichgewicht zueinander gebracht werden.
Das klingt plausibel. Aber was bedeutet die Passage
„je nach den sich ändernden äußeren Bedingungen“
denn? Gibt es nicht Grundrechte, die unveräußerlich
sind, egal wie sich die Bedingungen ändern?
({9})
Herr Minister Schäuble, ist das nicht Ihre Aussage im
„Spiegel“-Interview, in dem Sie gesagt haben, es gebe
Grenzen für das staatliche Handeln? In dem Zusammenhang, wo Sie sich klar für das Folterverbot ausgesprochen haben, sagen Sie auch, dass es eben nicht Grundrechte gibt, die je nach den äußeren Bedingungen zur
Disposition stehen. Darauf müssen wir bestehen.
Herr Minister Schäuble, wir vertrauen darauf, dass
auch das zutrifft, was Sie ebenfalls in dem „Spiegel“-Interview gesagt haben, nämlich dass Ihnen niemand zu
erklären brauche, wie wichtig Bürgerrechte in einer
freien Gesellschaft sind. So etwas hat man aus dem Bundesinnenministerium schon lange nicht mehr gehört.
Deswegen erwähne ich diesen Satz ausdrücklich.
({10})
Der Philosoph Wittgenstein sagt: Das Wort ist die Tat.
({11})
Es ist eine Tat, wenn Sie sich so klar zu den Bürgerrechten bekennen. Aber Sie werden Verständnis haben, dass
wir Sie dennoch an den weiteren Taten messen werden.
Wenn es zutrifft, was Sie im „Spiegel“-Interview sagen,
dass sich derjenige, der Sie im „Verständnis einer freiheitlichen Verfassung übertreffen“ wolle, „ziemlich anstrengen“ müsse, wenn das die Sicht der neuen Bundesregierung ist, dann werden Sie die FDP an Ihrer Seite
haben. Aber auch nur dann.
({12})
Das Wort hat nun der Kollege Fritz Rudolf Körper,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Minister Schäuble, ich glaube, wir können miteinander
stolz darauf sein, dass wir in unserer Koalitionsvereinbarung in unserem Bereich die Überschrift wählen konnten: „Deutschland - ein freies und sicheres Land“. Ich
glaube, diese Aussage sollten wir unterstreichen und
sollten ein Stück weit stolz darauf sein.
({0})
Das sage ich deswegen, lieber Herr Stadler, weil ich
glaube, dass Sie eine Wahrnehmung von dieser Koalitionsvereinbarung haben, die schlichtweg nicht stimmig
ist.
({1})
- Das hätten Sie ruhig tun können. Ich gehe davon aus,
dass Sie keine weiteren Schwachstellen gefunden haben.
Das wiederum spricht für eine gute Koalitionsvereinbarung im Bereich Innenpolitik.
Sie haben das Thema Sicherheit und Freiheit bzw.
Freiheit und Sicherheit angesprochen. Wir haben festgelegt, dass das keine Gegensatzpaare sind, sondern dass
Freiheit Sicherheit und Sicherheit Freiheit bedingt und
dass genau das die Grenze unseres staatlichen Handelns
beschreibt. Das umzusetzen ist unser fester Wille. Ich
denke, wir brauchen in diesem Punkt keine Belehrung
und keinen Nachhilfeunterricht, auch wenn der von den
Freien Demokraten kommt.
({2})
Ich denke, es ist ganz wesentlich, dass das Gradmesser
und Richtschnur innenpolitischen Handelns ist. Sie können sicher sein, dass das exakt umgesetzt wird.
Meine Damen und Herren, Minister Schäuble ist auf
die Bedrohung eingegangen. Es gibt auch wieder ein
ganz aktuelles Beispiel und wir stellen fest, dass die Bedrohungslage, von der wir eigentlich glaubten, dass sie
der Vergangenheit angehört, aktueller denn je ist.
Ich denke, die Bedrohungen und Bedrohungsszenarien, die wir insbesondere seit dem Jahre 2001 erleben,
geben einem Anlass, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in unseren Sicherheitsbehörden an dieser Stelle ein
ganz herzliches Dankeschön zu sagen. Sie haben ganz
wesentlich dazu beigetragen, dass wir sagen können:
Deutschland ist ein freies und sicheres Land.
({3})
Ich bin auch ein Stück stolz darauf, dass wir nach den
fürchterlichen Ereignissen in den Vereinigten Staaten
von Amerika im September des Jahres 2001 ein
Sicherheitspaket I und ein Sicherheitspaket II verabschieden konnten. Dies geschah im Übrigen mit großer
Zustimmung des Hauses.
({4})
- Herr Ströbele, ich kann mich daran erinnern, dass Sie
dem auch zugestimmt haben. Ich glaube, das war auch
eine richtige Entscheidung.
({5})
Lieber Herr Stadler, auch bei der Umsetzung in diesem Bereich hat sich deutlich gezeigt, dass Datenschutz
nicht als hinderlich angesehen wurde. Vielmehr hat man
diese Gesetzgebung auch an dem Aspekt Datenschutz
orientiert. Ich sage hier ganz deutlich: Wer sich unsere
Koalitionsvereinbarung ansieht, der wird feststellen,
dass der Datenschutz bei uns in guten Händen ist.
({6})
Wenn es beispielsweise um die Informationen im Bereich der Maut geht, finde ich es völlig richtig, die Frage
zu stellen, welche Informationen wir gewinnen können,
um bestimmte Kapitalverbrechen aufzuklären oder sie
sogar für eine gewisse Prävention zu nutzen.
({7})
Ich sage jedenfalls klipp und klar und sehr deutlich: Die
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden sich
an dieser Diskussion konstruktiv beteiligen. Wir wissen,
was wir zu beachten und nicht zu beachten haben.
({8})
Herr Ströbele, im Übrigen finde ich, dass wir auf das,
was wir in der Gesetzgebung gegen den Terrorismus getan haben, heute noch sehr stolz sein können. Wir haben
etwas eingeführt, was es in der Gesetzgebung vorher
noch nicht oder nur kaum gab. Wir haben nämlich
befristete Gesetze geschaffen, in denen eine Evaluierung vorgesehen ist.
({9})
Es ist jetzt eine unserer Aufgaben, diesen Prozess der
Evaluierung in Gang zu setzen und gemeinsam darüber
zu entscheiden, was sich bewährt hat und was sich nicht
bewährt hat.
({10})
Ich bin jedenfalls der Auffassung, dass das eine gute Geschichte ist. Ich glaube, wir werden hier gute Entscheidungen treffen.
Lieber Herr Stadler, an einer Stelle habe ich Sie überhaupt nicht verstanden. Ich bin schon der Auffassung,
dass wir, wenn wir die Sicherheitsarchitektur in unserem
Lande überprüfen, die Fähigkeit erhalten müssen, entscheiden zu können, ob beispielsweise jede Aufteilung
von Zuständigkeiten und Befugnissen zwischen dem
Bund und den Ländern heute noch aufgaben- und herausforderungsgerecht ist. Die Erfahrungen, die man mit
dem internationalen Terrorismus gemacht hat, bringen
einen zu dem Ergebnis, dass es unabdingbar ist, dem
Bundeskriminalamt Befugnisse für präventive Maßnahmen zu übertragen. Ich denke, dass das für eine aufgabengerechte Bekämpfung des internationalen Terrorismus notwendig ist.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist keine
Kampfansage an die Länder. Es wird also nicht an den
Grundfesten der Zuständigkeiten der Länder gerüttelt.
Nein, ich denke, es gibt sachliche Notwendigkeiten dafür, dies zu tun. Ich hoffe, dass wir das im Zuge der Föderalismusdebatte auch hinbekommen.
Wichtig ist auch, dass für uns deutlich und klar ist,
dass die innere Sicherheit in unserem Lande letztendlich
ein gemeinsames Produkt von Bund und Ländern ist.
Der Bund könnte es nicht alleine schultern und auch die
Länder könnten es nicht gemeinsam schultern. Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir von Zuständigkeitsfragen und Eifersüchteleien Abstand nehmen.
Dabei liegt mir ein Thema besonders am Herzen,
nämlich die Einführung des Digitalfunks in unserem
Lande. Das, was wir derzeit erleben, dauert viel zu
lange.
({12})
Das hängt damit zusammen, dass wir nun einmal
17 Unterschriften brauchen, weil es ein Bund-LänderProjekt ist. Ich sage auch ganz deutlich: Der Langsamste
darf an dieser Stelle nicht das Tempo bestimmen. Herr
Schäuble, hier haben wir eine große Aufgabe zu lösen.
Ich will noch etwas anderes kurz ansprechen. Es geht
um das, was in unseren Koalitionsgesprächen zum
Thema Innenpolitik eine große Rolle gespielt und einen
gewissen Zeitraum in Anspruch genommen hat, nämlich
die Frage des Verhältnisses der inneren zur äußeren
Sicherheit. Dazu bleibt aus meiner Sicht ein Punkt festzuhalten: Die Aufgaben der Polizei beim Schutz der inneren Sicherheit und die Aufgaben der Bundeswehr
beim Schutz der äußeren Sicherheit dürfen nicht vermischt und vermengt werden.
({13})
Das dem Bundesverfassungsgericht vorliegende Luftverkehrssicherheitsgesetz dient der Präzisierung dieser
Aufgaben und Zuständigkeiten. Wir werden im Lichte
der Karlsruher Entscheidung wieder darauf zurückkommen.
Das Thema Migration und Integration ist angesprochen worden. Lieber Herr Stadler, ich bin sehr froh und
dankbar, dass wir uns in der Koalitionsvereinbarung diesem Thema zugewendet haben; denn wir wissen: Integration ist kein Selbstläufer, sondern wir müssen unseren
Beitrag dazu leisten, dass Integration funktioniert, damit
wir - das sage ich ganz deutlich - nicht solche Zustände
bekommen, wie sie zurzeit in unserem Nachbarland
Frankreich zu beobachten sind. Deswegen möchte ich
mich herzlich dafür bedanken, dass wir hier einen eindeutigen Schwerpunkt gesetzt haben.
Ich will noch etwas ansprechen: Deutschland ist nicht
nur frei und sicher, sondern Deutschland muss auch ein
weltoffenes Land bleiben. Davon profitieren wir letztendlich alle. Dass wir ein weltoffenes Land bleiben wollen, wollen wir auch im Jahre 2006 bei der Ausrichtung
der Fußballweltmeisterschaft beweisen, wo die ganze
Welt auf uns schaut. Wir brauchen heute nur zu beschließen, dass wir Weltmeister werden. Ich glaube, da bekommen wir ein einstimmiges Ergebnis.
({14})
Die Vorbereitungen laufen gut. Es besteht die Hoffnung,
dass diese Fußballweltmeisterschaft ein friedliches
Großereignis wird, bei dem der Fußballsport im Vordergrund steht. Das wäre auch gut so.
Ich bin sicher, dass das Thema Fußballweltmeisterschaft im Jahre 2006 für den gesamten Sport und die gesamte Sportszene als eine Initialzündung wirkt. Sport ist
gut für die Menschen. Sport ist gut für unser Land. Deswegen bin ich froh, dass wir uns dieser Aufgabe widmen. Ich hoffe, dass wir während der Haushaltsberatungen in die Lage versetzt werden, die guten Strukturen im
Bereich des Sports zu erhalten; denn das ist für den Erfolg des Sports in Deutschland sehr wichtig.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({15})
Das Wort hat nun die Kollegin Petra Pau von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir über Innenpolitik, innere Sicherheit, Kriminalitätsbekämpfung und Polizeibefugnisse reden, dann
reden wir zugleich auch immer über Demokratie und
Bürgerrechte. Das ist jedenfalls der Generalansatz der
Linksfraktion. Beide Seiten bilden zuweilen ein Spannungspaar. Wir haben es in den vergangenen Jahren am
Beispiel der „Otto-Pakete“ erlebt, wie Bürgerrechte einer vermeintlichen Sicherheit geopfert wurden. Die
große Koalition will offenbar diesen falschen Kurs weiterführen. Ich kündige Ihnen heute schon an, dass Sie damit auf den Widerstand der Linksfraktion stoßen werden.
({0})
Bevor ich zum Koalitionsvertrag komme, möchte ich
über zwei Hängepartien sprechen, die das Ausmaß der
Bürgerrechtsverletzungen hierzulande illustrieren. Ich
meine die Spitzelaktion des BND gegen Journalisten und
ein renommiertes Friedensforschungsinstitut. Die BNDSpitze hat das selbst eingeräumt und einen Fehler genannt. Das ist aber kein Fehler, sondern ein klarer Verstoß gegen die Pressefreiheit und damit gegen das
Grundgesetz.
({1})
Ich meine des Weiteren das Agieren der CIA auf
europäischem und deutschem Territorium. Auch das
sind Verstöße gegen allgemeine Menschenrechte und gegen unser Grundgesetz. Auch dafür gibt es hierzulande
politisch Verantwortliche. Ich will, dass das im Bundestag geklärt wird und nicht hinter verschlossenen Türen.
Nun gab es schon in den zurückliegenden Jahren
kaum ein Politikfeld, bei dem sich SPD und Union so einig waren wie in der Innenpolitik. Die Zwillinge Otto
Schily und Günther Beckstein sind schon legendär, allerdings nicht im Guten. Zählen Sie selbst einmal nach, wie
viele Gesetze und Maßnahmen im Zusammenhang mit
ihrer Sicherheitspraxis vor dem Bundesverfassungsgericht gelandet sind und dort gerügt wurden! Ich erinnere
nur an den großen Lauschangriff.
({2})
Das hat allerdings in der großen Koalition offenbar nicht
zum Umdenken geführt. Ich nenne nur den neuesten
Coup, das bundesdeutsche Mautsystem zum Fahndungsund damit zum Überwachungssystem auszubauen. Auch
das lehnt die Linksfraktion ab.
({3})
Das gilt auch für den Einsatz der Bundeswehr im
Innern. CDU und CSU wollen ihn ausdrücklich und
sind bereit, dafür das Grundgesetz zu ändern. Die SPD
war bis vor kurzem strikt dagegen.
({4})
Im Koalitionsvertrag aber klingt das Nein der SPD bereits sehr stark nach einem Jein.
({5})
Einen großen Schritt zum Einsatz der Bundeswehr im
Innern ist Rot-Grün auch schon gegangen, als Sie das so
genannte Luftverkehrssicherheitsgesetz beschlossen haben. Kritiker haben es völlig zu Recht als „Lizenz zum
Töten“ bezeichnet.
({6})
Ich teile diese Einschätzung. Auch dieses Gesetz wird
derzeit vom Bundesverfassungsgericht geprüft. Ich begrüße das ausdrücklich.
Die Linksfraktion will etwas anderes: Wir wollen
mehr direkte Demokratie auf Bundesebene.
({7})
Das Thema ist nicht neu, aber es drängt, auch angesichts
der zunehmenden Parlamentsverdrossenheit im Lande.
Seit der Vereinigung 1990 wurden zwei historische
Chancen verspielt, Volksabstimmungen ins Grundgesetz
aufzunehmen. Die erste lag auf der Hand, als es darum
ging, das provisorische Grundgesetz zu einer Verfassung
zu erheben, die von der Bevölkerung angenommen wird.
Die zweite gab es zuletzt, als es um die EU-Verfassung ging. In nahezu jedem EU-Land kann die Bevölkerung direkt mitbestimmen. Spätestens hier wird
offenbar: In Sachen direkter Demokratie ist die Bundesrepublik Deutschland ein EU-Entwicklungsland. Ich
meine, das muss sich endlich ändern.
({8})
Es gab in der Koalition ein kurzes Kompetenzgerangel, in welchem Ressort die Beauftragte für Migration
und Integration angesiedelt wird. Es ist ein ungemein
wichtiges Amt. Das wissen wir nicht erst seit den gewaltigen Eruptionen in Frankreich vor wenigen Wochen. Ich
bin erleichtert, dass die Wahl auf das Bundeskanzleramt
und nicht auf das Innenministerium fiel. Denn die Themen Migration und Integration sind mehr denn je Querschnittsaufgaben. Genau dieser Anspruch findet sich
aber im Koalitionsvertrag nicht wieder. Dort werden
Menschen mit Migrationshintergrund weiterhin als Störfaktoren und Kriminelle betrachtet. Diese Sicht muss
endlich überwunden werden.
({9})
Es bedrückt mich schon, dass die Bundeskanzlerin in
ihrer heutigen Regierungserklärung nicht eine Antwort
auf die drängenden Fragen von Menschen mit Migrationshintergrund in diesem Land gegeben hat.
Lassen Sie mich ein weiteres Thema ansprechen. Wie
Sie wissen, haben wir als Linke ein kritisches Verhältnis
zum deutschen Beamtentum.
({10})
Aber wir sind dagegen, dass der Staat sein Mütchen ausgerechnet an den Beamtinnen und Beamten kühlt. Die
große Koalition ist mit einer Attacke gegen Beamtinnen
und Beamte gestartet. Sie sollen länger arbeiten und dafür auf Bezüge verzichten. Zugleich werden ihnen aber
alle Ansprüche auf mehr Mitsprache verwehrt. Ich finde,
das ist nicht klug und auch nicht gerecht. Die Linksfraktion verschließt sich nicht, wenn es um ein modernes
Beamtenrecht geht, aber dann immer mit den Betroffenen und nicht gegen sie. Übrigens gilt auch hier, was
mein Fraktionsvorsitzender Gregor Gysi schon heute
früh an der Erklärung der Bundeskanzlerin kritisiert hat:
Sie bieten den Menschen sowie insbesondere den Beamtinnen und Beamten im Osten der Republik mit Ihrem
Koalitionsvertrag keinerlei Perspektive auf Angleichung
der Lebensverhältnisse.
({11})
Zum Schluss habe ich noch eine Bitte an Sie, Herr
Bundesinnenminister. Sie haben laut „FAZ“ 1996 gesagt, man müsse endlich weniger Demokratie wagen,
und gemeint, die Verfassung verkomme zur Fessel der
Politik.
({12})
Ich finde, es ist Zeit, das öffentlich und glaubhaft zu widerrufen. Das wäre übrigens auch ein unverzichtbarer
Beitrag gegen den grassierenden Rechtsextremismus.
Zumindest im Kampf gegen Rassismus, Nationalismus
und Neofaschismus
({13})
sollten wir uns als demokratische Parteien über alle
Fraktionsgrenzen hinweg einig werden und aktiv sein.
({14})
Das Wort hat nun die Kollegin Silke Stokar, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Bundesinnenminister Schäuble, nach dem Lesen des
Koalitionsvertrages und Ihrer heutigen Rede ist mir noch
einmal sehr deutlich geworden: Diese große Koalition
braucht eine starke, kritische Bürgerrechtsopposition.
Diese Rolle werden wir als Grüne wahrnehmen.
({0})
- Die Zurufe des Kollegen Wiefelspütz haben sich seit
der Zeit der rot-grünen Regierung nicht verändert.
({1})
Die große Einigkeit in der Innenpolitik gab es schon
zuvor. Wir werden aber dafür sorgen, dass die Debatten,
die zwischen Union und SPD offensichtlich nicht geführt werden, im Parlament und in der Öffentlichkeit
stattfinden; denn ich befürchte, dass eine große Koalition - das kennen wir aus der Vergangenheit - Gefahr
und Risiko für die Bürgerrechte bedeutet. Dem werden
wir entgegenwirken.
({2})
Ich möchte - weil Sie Ausführungen zu diesem Punkt
gemacht haben und es ein gutes Beispiel ist - zur Mauterfassung Stellung nehmen. Es ist interessant, festzustellen, dass ein Innenminister, der sich sonst in Interviews
- ich habe sie alle mit Interesse gelesen - sehr wohl liberal gibt, in seiner heutigen Rede - ich bewerte nicht
seine Reden von damals - sagt, für Daten könne es keine
Zweckbindung geben, und gleichzeitig meint, er sei ein
Vertreter eines modernen Datenschutzes. Ich glaube,
mit diesen Aussagen haben Sie sich selber in der gesamten Datenschutzfrage völlig diskreditiert.
({3})
Lassen Sie uns das doch einmal auf die Gesundheitskarte
übertragen. Wie wollen Sie Akzeptanz für staatliche Datensammlungen erreichen, wenn Sie gleichzeitig den
Bürgerinnen und Bürgern signalisieren, dass Sie als
Bundesinnenminister der Auffassung sind, alle Daten,
die der Staat - ganz gleich zu welchem Zweck - erfasse,
stünden künftig den Sicherheitsbehörden des Bundes
und der Länder zur Verfügung.
Ich glaube, dass die große Koalition - das ergibt sich
einfach aus dem Koalitionsvertrag - die mit einer Onlinegesellschaft verbundenen Risiken gar nicht im Blick hat.
Es geht nicht nur um die Frage, ob wir heute alle Telekommunikationsdaten erfassen, wie lange wir diese
Telekommunikationsdaten speichern und ob wir Bewegungsprofile von jedem aufnehmen wollen, der mit einem Handy durch die Gegend läuft. Genau in diesem
Zusammenhang muss man die Mautdiskussion sehen.
Wenn Sie sich bei den Verkehrspolitikern informiert hätten - vielleicht haben Sie das auch -, dann wüssten Sie,
dass das Mautsystem in der heutigen Form überhaupt
nicht für die Strafverfolgung geeignet ist.
({4})
Nur circa 5 Prozent aller LKWs, die in Deutschland auf
den Autobahnen unterwegs sind, werden überhaupt
durch die Mautsysteme erfasst. Es werden nicht die
durchfahrenden LKWs erfasst, sondern es werden lediglich die erfasst, die die Maut nicht korrekt bezahlen.
Wenn Sie aus dem Mauterfassungssystem ein präventives Fahndungssystem machen wollen, dann sagen Sie
es deutlich. Das würde nichts anderes bedeuten, als dass
Sie es zusätzlich mit dem so genannten Autokennzeichenscreening aufrüsten würden.
({5})
Damit müssten Sie alle vorbeifahrenden PKWs und
LKWs erfassen.
({6})
Das bedeutet eine Fahndung gegen Unschuldige, eine
Fahndung gegen jedermann. In anderen Zusammenhängen - auch im Zusammenhang mit Landesgesetzen - hat
das Verfassungsgericht mehrfach gesagt, dass eine solche Fahndung gegen jedermann verfassungswidrig ist.
({7})
Das, was mich genauso erschreckt hat, ist Ihre Aussage - ich messe Sie schon an Ihrem eigenen Anspruch,
auch Verfassungsminister zu sein -, in Bezug auf den
Terrorismus müsse alles Menschenmögliche getan werden.
({8})
Dies ist eine Aussage, die mich erschreckt; denn das bedeutet, dass mit der Begründung der Bedrohung durch
den Terrorismus alles möglich ist. Damit gibt der Staat
die verfassungsrechtlichen Grenzen auf.
({9})
Ich fand die Äußerung - ({10})
- Es ist ein Unterschied, ob Sie das Menschenmögliche
erlauben wollen oder ob Sie die Verhältnismäßigkeit betonen bzw. einräumen, dass die Mittel des Rechtsstaats
auch in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus
begrenzt sind.
({11})
Justizkommissar Franco Frattini hat auf der internationalen Sicherheitskonferenz in Berlin gesagt: Wir können unsere Werte nicht aufgeben, um den Terrorismus zu
bekämpfen. Das ist eine Aussage, die ich unterstütze. Es
würde mich freuen, wenn das eine Aussage wäre, die Sie
genauso deutlich unterstützen.
Ich habe es durchaus begrüßt, dass Sie auf dieser Sicherheitskonferenz gesagt haben, das Folterverbot
müsse gelten. Aber angesichts der Debatte, die wir heute
hier führen, möchte ich schon, dass Sie konkreter werden. Ich wünsche mir von dem Bundesinnenminister ein
klares Bekenntnis, dass deutsche Sicherheitsbehörden
keine Information nutzen oder verwenden, die durch
Folter erhoben worden ist. Es kann dabei keine Arbeitsteilung dergestalt geben, dass in Drittstaaten gefoltert
wird, die BKA-Beamten anwesend sind, wenn auch
nicht im selben Raum, und die so gewonnenen Erkenntnisse zuhause in den westlichen Demokratien ausgewertet werden. Sie müssen hier konkret werden, wenn ich
ernst nehmen soll, dass Sie die Grundsätze der Verfassung wirklich einhalten wollen. Das absolute Folterverbot heißt für mich:
({12})
Informationen, die durch Folter erlangt worden sind,
können in Deutschland nicht verwendet werden. Das ist
eine klare Aussage.
({13})
Noch kurz zum Thema Integration. Integration ist
mehr als das Erlernen der Sprache. Wir werden Sie daran
messen. Ich weiß aus meiner Heimat, der Region Hannover, dass sich dort viel mehr Migranten zu Integrationskursen anmelden, als Angebote vorhanden sind. Solange
die Situation so ist, können wir hier keine Schuldzuweisung in Richtung Migranten vornehmen. Ich erwarte von
dieser Bundesregierung, dass sie das Zuwanderungsgesetz mit Leben füllt und Integrations- und Sprachkurse
auch wirklich finanziert.
Meine Redezeit ist leider zu Ende.
({14})
Danke schön.
({15})
Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Bosbach,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zuerst
gratuliere ich Ihnen, lieber Herr Dr. Schäuble, im Namen
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und - als Vertreter
ohne Vertretungsmacht - der Koalition zu Ihrem neuen
Amt. Ich weiß gar nicht, ob Sie vor Monaten damit gerechnet haben, dass Sie einmal Ihr eigener Nachfolger
werden. Jedenfalls wissen wir die Innenpolitik des Bundes bei Wolfgang Schäuble in besten Händen. Wir wünschen Ihnen für die Arbeit viel Erfolg und auch das bisschen Glück und Fortune, das man haben muss, um ein
guter Bundesinnenminister zu sein. Sie haben unsere
volle Unterstützung.
({0})
Wie können Sie sich diese Unterstützung auf Dauer
sichern?
({1})
Sie haben zum Schluss den zutreffenden Hinweis gegeben, dass Sie auch Sportminister sind. Wenn Sie bei
dieser Gelegenheit auch die Kartenwünsche der Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen erfüllten, dann
wäre Ihnen unsere Unterstützung auf Dauer sicher.
({2})
Eine weitere Bemerkung. Wenn es sonst schon keiner
tut, dann will wenigstens ich es tun - er ist nicht hier;
aber, Herr Kollege Wiefelspütz, Sie hatten doch die besten Beziehungen zu ihm -: Wir sollten uns auch bei dieser Gelegenheit bei dem Bundesinnenminister a. D. Otto
Schily für seine Arbeit in den vergangenen Jahren bedanken.
({3})
Er war Bundesinnenminister in einer schwierigen Zeit.
Er hat es uns nicht leicht gemacht. Wir haben es ihm
nicht leicht gemacht. Insbesondere die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat manche harte Auseinandersetzung
mit ihm geführt. Das ändert aber nichts an unserem Respekt vor seiner politischen Lebensleistung und deswegen danken wir ihm für seine Arbeit.
({4})
Ich möchte folgende drei Punkte ansprechen:
Erstens. Die Koalition möchte Deutschland sicherer
machen. Natürlich haben wir es in unserem Leben mit
der Spannung zwischen Sicherheit und Freiheit zu
tun. Aber Sicherheit und Freiheit sind keine Gegensätze
und wir sollten nicht so tun, als wenn es Gegensätze wären. Es sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Ansonsten müsste man die Rechnung aufmachen: Je weniger Sicherheit wir haben, desto mehr Freiheit haben wir.
Genau umgekehrt ist es richtig. Ich wiederhole: Es sind
zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Bei allem, was wir zur Gefahrenabwehr tun, befinden
wir uns in einem Abwägungsprozess: Auf der einen
Seite wollen wir das Land sicherer machen, aber auf der
anderen Seite wollen wir auch die Freiheitsrechte nicht
aufgeben, sondern verteidigen. Das gilt übrigens auch
für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus.
Wir werden Rechtsstaatlichkeit und Freiheit nicht preisgeben; denn dann hätten die Terroristen schon ein Ziel
erreicht, das sie erreichen wollen, nämlich die westliche
Zivilisation zu destabilisieren.
({5})
Um auf das Thema Mautgesetz zurückzukommen:
Diese Debatte nimmt mittlerweile wirklich skurrile Züge
an.
({6})
Es ist doch ein Unterschied, ob sich ein Staat auf den
Weg macht und sagt, wir sammeln auf Bundesfernstraßen und auf Bundesautobahnen alle Daten, die wir bekommen können, vielleicht können wir sie eines Tages
einmal gebrauchen,
({7})
oder ob er sagt, wir haben zu einem legitimen Zweck
Daten gespeichert.
Im Übrigen, Frau Kollegin: Diese Daten werden
selbstverständlich registriert. Das gilt auch in Bezug auf
die Daten derjenigen, die bezahlt haben. Diese Daten
werden nur nicht gespeichert. Aber zur Beantwortung
der Frage, ob jemand die Mautgebühr geprellt hat oder
nicht, muss man ja zunächst jedes Kennzeichen erfassen
und die Daten derjenigen, die gezahlt haben, anschließend sofort löschen. Man speichert dann die Daten der
so genannten Mautpreller. Speicherzweck ist also legitimerweise, an diejenigen heranzukommen, die die Mautgebühr geprellt haben.
Wir könnten die legitimerweise gespeicherten Daten
dazu nutzen, schwerste Straftaten aufzuklären. Dazu sagt
der Staat: Das tue ich nicht. Dazu muss ich sagen: Das
kann ich nicht verstehen, egal wie die Debatten im Verkehrsausschuss gewesen sind.
({8})
Wir sollten uns über diese Thematik noch einmal in
aller Ruhe unterhalten. Ich berufe mich ausdrücklich auf
den Vorgänger von Herrn Schaar, auf Herrn Jacob, der
gesagt hat: Es wird behauptet, der Datenschutz sei Täterschutz; wenn man mir eine Vorschrift nennt, die die Aufklärung von Straftaten behindert, dann bin ich bereit,
darüber zu reden.
({9})
Eine solche Vorschrift ist die Vorschrift im Mautgesetz. Deswegen sollten wir über diese Vorschrift
reden - ohne Zorn und Eifer. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Bevölkerung dagegen überhaupt nichts
hat, weil es nämlich kein Bürgerrecht gibt, als Straftäter
nicht entdeckt zu werden, und weil es auch kein Bürgerrecht gibt, Straftaten unerkannt begehen zu können.
({10})
Herr Kollege Ströbele, wie oft warnen Sie davor, die
Bundesrepublik Deutschland sei auf dem Weg in den
Überwachungsstaat? In düsteren Farben wird die Zukunft der Republik geschildert.
({11})
In dem Moment, als Ihr Fahrrad gestohlen worden war,
({12})
konnten Sie aber all Ihre Reden beiseite legen; da wären
Sie heilfroh gewesen, wenn Sie mithilfe modernster
Überwachungstechnik des Deutschen Bundestages
({13})
Ihr Fahrrad schnell hätten zurückbekommen können.
Was Ihnen Ihr Fahrrad, ist uns die Sicherheit von
82 Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland.
({14})
Zweiter Punkt. Wir wollen mehr für Integration tun.
Wir haben keinen Mangel an Zuwanderung, aber wir haben einen Mangel an Integration. Das bedeutet auf der
einen Seite: Wenn wir mehr Integration fordern, dann
müssen wir auch mehr Integration fördern. Auf der anderen Seite geht der Appell an all jene, die zu uns kommen, aus welchen Gründen auch immer, sich um Integration zu bemühen; denn ohne Integrationsbereitschaft
und ohne Integrationsfähigkeit, insbesondere ohne den
festen Vorsatz, die deutsche Sprache in Wort und
Schrift zu erlernen, kann Integration in Staat und Gesellschaft nicht funktionieren.
Nicht alle Nachrichten dieser Tage waren gut. Sie haben das Thema aber dankenswerterweise angesprochen.
Hier die neuesten Zahlen: 94 000 Migrantinnen und Migranten ohne Rechtsanspruch, so genannte Bestandsausländer, befinden sich in Sprach- und Integrationskursen.
15 000 sind zur Teilnahme verpflichtet worden.
52 000 neu Zugewanderte und 31 000 Spätaussiedler
sind in diesen Kursen. Also nehmen zurzeit knapp
200 000 Menschen an Sprach- und Integrationskursen
teil.
Natürlich wird legitimerweise die Frage gestellt: Kostet das nicht eine Menge? Dies ist zu bejahen. Es ist eine
gewaltige staatliche Anstrengung. Wir müssen uns aber
auch fragen: Was kostet fehlgeschlagene Integration?
({15})
Sind die sozialen Folgekosten
({16})
einer nicht erfolgten Integration für Staat und Gesellschaft auf Dauer nicht viel belastender als die Anstrengungen, die wir hier unternehmen?
({17})
Ich füge hinzu: Wir müssen uns insbesondere um die
kleinen Kinder bemühen. Wir müssen in den Migrantenfamilien dafür werben, dass ihre Kinder möglichst schon
in den Kindergarten kommen, sodass sie dort eine Förderung erfahren; denn wenn sie mit einem sprachlichen
Handicap eingeschult werden, dann begleitet sie dieses
sprachliche Handicap möglicherweise in ihrer gesamten
Schullaufbahn.
Dritter Punkt. Wir wollen ein modernes öffentliches
Dienstrecht, ein modernes Beamtenrecht schaffen nicht gegen die Betroffenen, sondern mit den Betroffenen. Die Basis ist das, was BMI, Deutscher Beamtenbund und Verdi miteinander vereinbart haben.
Das aktuelle Thema ist nun das Weihnachtsgeld.
Wahrscheinlich geht es auch manch anderem so wie mir:
Vormittags beantworte ich die Briefe empörter Bürger,
die schreiben: Jetzt müsst ihr aber mal den öffentlichen
Dienst ein bisschen zur Sanierung der Staatsfinanzen
heranziehen. - Nachmittags beantworte ich die Briefe
empörter Beamtinnen und Beamten, die sich darüber beklagen, dass sie erneut zu ungerechtfertigten Sonderopfern herangezogen werden. Jeder meint natürlich, dass
er Recht hat, und irgendwo hat auch jeder Recht. Das ist
das Fatale an dieser Situation.
Es wäre gut, wenn diese Frage Besoldung/Versorgung - hier geht es auch um die Versorgung derjenigen,
die sich im Ruhestand befinden - nicht den Haushaltspolitikern allein überlassen würde, sondern - das ist unsere
Bitte, Herr Bundesinnenminister - dass auch der Innenausschuss des Deutschen Bundestags Gelegenheit erhielte, sich mit dieser Fachfrage zu beschäftigen.
Die Verwaltungsausgaben für den Schwerpunkt Personal betragen etwa 15 Milliarden Euro. In der Koalition
ist verabredet worden, dass der Sparbeitrag pro Jahr
1 Milliarde Euro betragen soll, im Wesentlichen aufgebracht durch eine Reduzierung des Weihnachtsgeldes
und eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit auf
41 Stunden. Wie das ausgestaltet wird, muss noch diskutiert werden. Dass wir bei den Einsparbemühungen um
den öffentlichen Dienst, um die Verwaltungs- und Personalausgaben, keinen Bogen schlagen können, ist richtig.
Wie wir das ausgestalten, müssen wir in diesem Hause,
wie gesagt, noch diskutieren.
Dabei sollten wir allerdings eines bedenken: Wenn es
gegen die Beamten geht, gibt es in jeder Versammlung
Applaus.
({18})
Aber bevor jetzt Schadenfreude ausbricht, füge ich
hinzu: Wenn es gegen die Politiker geht, gibt es genauso
lauten Applaus.
({19})
- Oder noch mehr Applaus. - Die Beamtinnen und Beamten haben deswegen einen Anspruch darauf, dass wir
fair mit ihnen umgehen.
({20})
Wenn man einmal addiert, was wir diesem Personenkreis
in den letzten Jahren zugemutet haben - seit 1998 hat es
keinen realen Anstieg der Löhne mehr gegeben, wir haben das Urlaubsgeld gestrichen, wir haben die Arbeitszeit zweimal verlängert, wir haben die Beihilfe
gekürzt -, kann niemand behaupten, dass die Mitarbeiter
des öffentlichen Dienstes keinen Konsolidierungsbeitrag
geleistet hätten.
({21})
In diesem Sinne - das ist die Schlussbemerkung - haben sie einen fairen Umgang verdient. Der Hinweis, dass
sie sich in einem sicheren, unkündbaren Arbeitsverhältnis befinden, ist richtig; aber damit kann man natürlich
nicht alles rechtfertigen. Deswegen müssen wir auf der
einen Seite fair mit den Beamtinnen und Beamten umgehen, ihnen auf der anderen Seite aber auch deutlich machen, dass wir den öffentlichen Dienst bei den notwendigen Einsparungen nicht ausnehmen können.
Danke fürs Zuhören.
({22})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Dieter Wiefelspütz,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich räume ein, dass wir Innenpolitiker vermutlich häufiger über Fragen der Sicherheit als über Fragen der Freiheit reden. Das liegt vielleicht ein wenig in der Natur der
Sache. Ich höre häufig, auch in der heutigen Debatte,
Freiheit und Sicherheit gehörten doch zwingend zueinander; der eine Wert sei die Kehrseite des jeweils anderen. Ich bin da ein ganz klein wenig anderer Auffassung.
Ich bin der Auffassung - da spreche ich nur für mich -,
dass die Freiheit noch ein wenig wichtiger ist als die Sicherheit.
({0})
Frau Bundeskanzlerin Merkel hat das heute Morgen
in einem anderen Zusammenhang hervorgehoben, mehr
unter dem Stichwort Wirtschaftsfreiheit und unter ähnlichen Aspekten.
({1})
Für mich sind die beiden zentralen Werte unseres Landes
Freiheit und Menschenwürde. Eine ganz konkrete Erfahrung dieser Tage zeigt es: Frau Susanne Osthoff und
ihr Fahrer, deren Schicksal heute hier in vielen Reden zu
Recht angesprochen worden ist, leben erst sicher, wenn
sie frei sind. Deswegen ist nach meinem Verständnis
- bei allem Respekt vor dem Anspruch des Staates,
Menschen vor Verbrechen zu schützen, worüber wir als
Innenpolitiker natürlich sehr häufig reden - Freiheit im
Zweifel immer noch etwas wichtiger.
Es ist völlig richtig, dass es in diesem Rechtsstaat
Bundesrepublik Deutschland keine totale Sicherheit geben kann. Leben ist gefährlich und bestimmte Risiken
können wir nicht ausschließen. Insoweit ist der freie
Rechtsstaat immer ein imperfekter Staat. Das ist, denke
ich, die Ordnungsvorstellung, die uns alle eint, meine
sehr verehrten Damen und Herren. Deswegen bitte ich
sehr darum, dass niemand hier die Arroganz aufbringt,
zu sagen, Freiheit und Bürgerrechte seien der Anspruch
einer einzelnen Fraktion.
({2})
Ich gehe davon aus, dass wir alle, die wir hier sitzen, der
Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit dienen, jeder auf
seine Weise.
({3})
Ich verwahre mich dagegen, dass hier Gespensterdebatten geführt werden. Der Rechtsstaat bekämpft Verbrechen, auch Terrorismus, ausschließlich in den Grenzen des Rechtsstaates. Wir streiten hier über die
Instrumente des Rechtsstaates, aber die rote Linie ist
in diesem Hause doch noch nie in Zweifel gezogen worden. Die rote Linie beginnt nicht erst bei Folter, sondern
sie beginnt nach meiner festen Überzeugung früher.
({4})
Datenschutz ist nichts Überflüssiges. Datenschutz ist
Bürgerrecht; Datenschutz ist ein Grundrecht.
({5})
Aber wir müssen doch das Recht haben, Herr
Dr. Stadler, selbstkritisch zu beurteilen
({6})
- Herr Wieland, hören Sie doch einmal zu! -, an welcher
Stelle Datenschutz unbeabsichtigt dazu führt, dass
schwerwiegende Verbrechen nicht aufgeklärt werden
können. Das kann doch niemand wollen.
({7})
Ich bekenne mich dazu, dass wir im Deutschen Bundestag beim Autobahnmautgesetz Unfug gemacht haben.
Das ist meine feste Überzeugung. Wer dies konkret untersucht, kann gar nicht zu einem anderen Ergebnis kommen.
Wir wollen doch nicht den Onlinezugriff auf alle Daten. Auch der Bundesinnenminister hat dies nicht vorgetragen. Wenn auf einer Autobahnraststätte ein Tötungsdelikt verübt wird und ein LKW im Spiel war, dann wird
nicht auf alle Mautdaten Deutschlands zugegriffen, sondern nur für ein paar Stunden auf die Daten der nächsten
Mautstelle, beispielsweise 600 Meter vor dieser Autobahnraststätte. Das soll gegenwärtig nicht möglich sein?
Wer das für Datenschutz hält, der allerdings pervertiert
Datenschutz zum Täterschutz. Das wollen wir alle doch
nicht. So etwas kann doch nicht wahr sein!
({8})
Ich bitte alle, bei diesem Thema auf dem Teppich zu
bleiben. - Ich bitte Sie um Nachsicht, wenn ich an dieser
Stelle leidenschaftlich werde. Denn Unfug darf der
Deutsche Bundestag nicht veranstalten.
({9})
Ich sage das selbstkritisch, weil wir dieses Gesetz einstimmig verabschiedet haben.
({10})
- Herr Dr. Gerhardt, ich freue mich auf eine konkret geführte Debatte, weil ich Ihnen gerne die Chance einräumen möchte, die Überprüfung mit uns gemeinsam
durchzuführen. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen,
dass Sie an dieser Stelle gegen vernünftige Regelungen
sind.
Herr Kollege Wiefelspütz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Stokar?
Gerne. Dann kann ich mich abregen.
({0})
- Die Fragen sind verabredet gewesen.
Herr Kollege Wiefelspütz, ich frage Sie ganz kühl
und nüchtern: Haben Sie die Koalitionsvereinbarung jemals gelesen?
({0})
Ich möchte Sie auf zwei Punkte hinweisen. Der Begriff „Bürgerrechte“ kommt in Ihrer Koalitionsvereinbarung nicht vor. Datenschutz findet nur in einem Halbsatz
Erwähnung, wo es heißt, dass Datenschutz an bestimmten Stellen nicht Hindernis sein darf.
Sehr geschätzte Frau Kollegin Stokar, ich habe
ebenso wenig wie der Amtsvorgänger von Frau
Dr. Merkel die Koalitionsvereinbarung gelesen. Aber ich
habe die Koalitionsvereinbarung in Sachen Innenpolitik
mitgestaltet.
({0})
Ich war bei allen Sitzungen dabei und weiß, worüber wir
gesprochen haben. Ich finde den Prüfvorbehalt, Frau
Stokar, ob nicht möglicherweise Datenschutz punktuell
und unbeabsichtigt dieses und jenes verhindert, völlig in
Ordnung. Wir prüfen das. Wir können das gemeinsam
prüfen; Sie werden mit dabei sein. Dann wird man zu einem Ergebnis kommen.
An einer anderen Stelle steht, dass Datenschutz und
Datensicherheit weiterentwickelt werden müssen.
({1})
Das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Sie haben die
Koalitionsvereinbarung zwar nicht mit erarbeitet. Aber
Sie können sie lesen. Ich zeige Ihnen nachher die betreffende Stelle. Es ist dort auf ausdrücklichen Wunsch von
Frau Ministerin Zypries eine Passage enthalten, dass der
Datenschutz dazugehört. Zu einem modernen Rechtsstaat gehört eine Weiterentwicklung des Datenschutzes.
Das ist nichts Überflüssiges. Merken Sie sich das bitte,
Frau Stokar!
({2})
Lassen Sie mich jenseits der Fragen der Sicherheit
aus gegebenem Anlass noch Folgendes sagen. Die elementaren rechtsstaatlichen Grenzen gelten in
Deutschland für alle: für deutsche Behörden, aber auch
für Menschen, die sich aufgrund internationaler Vereinbarungen in Deutschland bewegen. Ich bin gegen jede
Art von Vorverurteilung. Aber die Europäische Menschenrechtskonvention, das Allgemeine Völkerrecht und
insbesondere auch das Grundgesetz gelten an allen Stellen Deutschlands: am Boden, in der Luft und seewärts
auf deutschem Staatsgebiet. Ich wollte das mal gesagt
haben.
Der Bundesinnenminister hat unsere ausdrückliche
Unterstützung, wenn er hervorhebt, dass Integration
eine zentrale Aufgabe dieses Staates ist, keineswegs nur
des Bundes, sondern auch der Länder, der Gemeinden,
der Sportvereine, was immer Ihnen dazu einfällt. Dies ist
eine der ganz großen Aufgaben.
Es ist eine elementare Verkürzung, zu glauben, das alles sei ausschließlich eine Frage der Sprache. Sicherlich,
es geht auch um die Sprache. Aber nur derjenige kann
sich in diesem Land zu Hause fühlen, der deutsch
spricht, der eine Chance hat, Bildungsabschlüsse wie jeder andere auch zu machen, der einen Arbeitsplatz bzw.
einen Ausbildungsplatz findet, der spürt, dass in dieser
Gesellschaft seine kulturelle Identität ernst genommen
und seine Religion geachtet wird. An manchen Stellen in
Deutschland läuft das gut und an manchen Stellen müssen wir eine ganze Menge aufholen. Ich finde es sehr
wichtig - das eint uns -, dass Fragen der Integration
nicht in erster, zweiter und dritter Linie als Sicherheitsproblem gesehen werden, sondern als eine integrale gesellschaftliche Aufgabe für dieses Land.
Wir werden die Verfassungswirklichkeit, den Geist
dieses Landes daran messen müssen, wie wir mit den
Menschen umgehen, die zu uns kommen. Letzten Endes
geht es darum, dass die Menschen, die zu uns kommen,
gleichberechtigt in diesem Lande zu Hause sein können.
({3})
Es ist mir wichtig, dies zum Schluss noch gesagt zu haben.
Herzlichen Dank für Ihr Zuhören.
({4})
Zu diesem Themenbereich liegen uns keine weiteren
Wortmeldungen vor.
Wir kommen dann zu dem Bereich Recht. Dazu rufe
ich außerdem die Tagesordnungspunkte 2 und 3 auf:
2 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Fünften Gesetzes zur Änderung der Bundesnotarordnung
- Drucksache 16/106 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
3 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes
- Drucksache 16/88 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ich erteile das Wort der Bundesministerin für Justiz,
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie auch ich
jetzt sagen darf!
({0})
In der Rechtspolitik können wir an die erfolgreiche Arbeit der vergangenen Jahre anknüpfen,
({1})
und dies auch unter den veränderten politischen Mehrheiten. Beide Koalitionspartner haben ihre guten Ideen
erfolgreich durchgesetzt. Auf die nicht ganz so guten
Vorschläge haben wir übereinstimmend relativ schnell
verzichten können. Hierfür und für die konstruktiven
und guten Verhandlungen möchte ich allen Beteiligten
sehr danken, insbesondere dem Verhandlungsführer der
CDU/CSU, dem Herrn Kollegen Bosbach.
({2})
- Jederzeit wieder, Herr Bosbach.
({3})
Was also haben wir für die nächsten vier Jahre vereinbart? Es wird - dies war eben schon Gegenstand der Debatte - um das Strafrecht, das Strafprozessrecht und die
Frage des grundsätzlichen Ausgleichs zwischen den
grundrechtlich garantierten Freiheiten der Menschen und
dem Anspruch auf Sicherheit gehen. Bürgerrechte dürfen nicht - darin sind wir uns einig - ohne Maß eingeschränkt werden und der Schutz der Bürgerinnen und
Bürger vor Kriminalität sowie die damit verbundenen
Eingriffe in ihre persönlichen Freiheitsrechte müssen in
einem angemessenen Verhältnis dazu stehen: So viel
Freiheit wie möglich, so viel Sicherheit wie nötig. Diesen Maßstab werden wir auch in Zukunft befolgen. Wir
haben es in der vergangenen Legislaturperiode nicht anders getan.
Wir sind wir uns darin einig, dass wir die Kriminalität
auf allen Ebenen bekämpfen wollen. Deswegen ist es
nicht richtig, nur vom Terrorismus zu reden. Wir wollen
wirksame Strafgesetze schaffen und da, wo es erforderlich ist, Lücken ausfüllen. Ich nenne als Beispiele das
Stalking oder die Zwangsprostitution.
Zur effektiven Strafverfolgung ist es unabdingbar,
Straftaten möglichst zügig aufzuklären. Dazu brauchen
wir Hilfsmittel. Wir sind deshalb übereingekommen, das
Recht der Telekommunikationsüberwachung zu überarbeiten und eine stimmige Gesamtregelung vorzulegen.
Das hatten wir uns schon für die letzte Legislaturperiode
vorgenommen. Dazu reichte aber nicht die Zeit. Wir
werden dies deshalb in dieser Legislaturperiode angehen.
Wir haben uns auch darauf verständigt, eine Kronzeugenregelung einzuführen. Eine solche Regelung, die
Tätern in besonderen Einzelfällen die Möglichkeit der
Bundesministerin Brigitte Zypries
Strafmilderung bietet, ist, wie wir alle wissen, nicht ganz
unproblematisch und wird kontrovers diskutiert.
({4})
In der Praxis heißt es aber, dass es dieser Regelung bedarf. Ich erinnere an die letzte Entscheidung aus Düsseldorf und die mahnenden Worte des Vorsitzenden Richters. Ich kann Ihnen versichern, dass wir uns nicht
leichtfertig über die Bedenken hinwegsetzen werden.
({5})
Der Vorschlag, den wir machen wollen, ist ein Kompromiss zwischen abstrakten Grundsätzen und praktischen Notwendigkeiten der Strafverfolgung und entspricht den Forderungen der gerichtlichen und
staatsanwaltschaftlichen Praxis, mit der wir schon in der
letzten Legislaturperiode den Diskurs gesucht haben.
Seien Sie sich sicher, dass wir darauf achten werden,
dass der Entwurf nicht zu Verwerfungen im Strafrecht
führt.
Die Regelungen zur erleichterten DNA-Speicherung
und zur akustischen Wohnraumüberwachung haben wir
am Ende der letzten Legislaturperiode bereits verabschiedet. Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, diese Regeln in der Praxis zunächst einmal zu
testen, sie dann ordnungsgemäß zu evaluieren und dann
zu sehen, ob es Bedarf gibt, die Regelungen als solche
zu ändern.
Damit habe ich einen Grundsatz angesprochen, der
die Arbeit der neuen Bundesregierung in der Rechtspolitik prägen wird: Wir werden uns nicht scheuen, neue Gesetze zu schaffen oder bestehende Gesetze zu ändern,
aber immer erst nach einer sorgfältigen Analyse; denn
kluge Rechtspolitik besteht auch und gerade darin, zunächst zwischen den verschiedenen Interessen abzuwägen und dann zu entscheiden, ob Gesetze für eine andere
Gewichtung erforderlich sind.
({6})
- Herr Ströbele, waren Sie vielleicht in den letzten sieben Jahren beteiligt?
Wir werden deshalb auch keinen Paradigmenwechsel
im Jugendstrafrecht vornehmen. Der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts wird auch bei der großen
Koalition im Mittelpunkt stehen.
({7})
Lediglich in einem Punkt wird im Koalitionsvertrag
Handlungsbedarf festgestellt: Die nachträgliche Sicherungsverwahrung wird - natürlich in engen Grenzen auch für die Täter eingeführt, die nach dem Jugendstrafrecht verurteilt wurden, aber zum Zeitpunkt ihrer Entlassung erwachsen sind. Dies soll nur bei solchen Tätern
möglich sein, die wegen schwerster Straftaten gegen das
Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle
Selbstbestimmung verurteilt worden sind. Klar muss
sein, dass es eine generelle Gleichstellung von Jugendlichen und Erwachsenen nicht geben kann.
({8})
Die Hürden für die Anordnung der Sicherungsverwahrung müssen bei Jugendlichen und Heranwachsenden
höher sein, so wie wir es in der letzten Legislaturperiode
bereits bei der Sicherungsverwahrung für Heranwachsende, die nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt wurden, gemacht haben.
({9})
- Nein, es sollen keine Jugendlichen in die Sicherungsverwahrung. Es geht um Erwachsene, die einstmals nach
Jugendstrafrecht verurteilt worden sind.
({10})
Sie sind ja mit 18 Jahren erwachsen.
({11})
Wir diskutieren dies dann, wenn der Gesetzentwurf vorliegt, aber nicht jetzt, Herr Kollege.
Ich möchte gerne auf andere Themen eingehen, die
auch mit Rechtspolitik zu tun haben, aber nicht mit dem
Strafrecht - das überwiegt ja oft -, und zunächst kurz auf
den Datenschutz Bezug nehmen. Es ist in der Tat so, wie
Herr Wiefelspütz vorgetragen hat, dass das Datenschutzrecht - das geschah auch aufgrund meiner Initiative -,
grundsätzlich überarbeitet werden soll. Wahrscheinlich
ist Ihnen, Frau Kollegin, bei aller Leidenschaft für das
Datenschutzrecht entgangen, dass es heute doch eine
Menge an Veränderungen gibt, die von dem geltenden
Recht gar nicht mehr erfasst werden; man kann das ja
auch einmal so herum sehen. Der Online-Zugriff beispielsweise ist überhaupt nicht mehr geregelt, wenn man
nur von „Übermittlung“ redet.
({12})
Dann heißt es nämlich immer: Einer sendet etwas. Deswegen haben wir gesagt: Wir müssen das Datenschutzrecht einmal gründlich angehen und grundsätzlich überarbeiten. Dabei müssen wir auch - ich bitte, das jetzt
nicht falsch zu verstehen - bestimmte bürokratische
Regelungen abschaffen. Beispielsweise gibt es noch
Meldepflichten für diejenigen, die in der Nähe dieser
Motte, die es in Berlin in den Kastanien gibt, leben.
Bundesministerin Brigitte Zypries
({13})
Über die Zweckmäßigkeit solcher Bestimmungen kann
man sich in der Tat streiten. Deswegen haben wir gesagt:
Es macht Sinn, einmal zu schauen, ob es nicht auch
wirklich völlig widersinnige Regelungen gibt. Der Koalitionsvertrag sieht deshalb im Abschnitt V unter Punkt 2
dazu eine Regelung vor. Das gehört nicht zum Bereich
des Innern, sondern steht an anderer Stelle. Wer den
Koalitionsvertrag ganz liest, findet das aber.
({14})
Was die anderen Bereiche und das Leben in einer modernen, sich wandelnden Gesellschaft anbelangt, zu der
auch der Datenschutz gehört, würde ich gerne kurz die
Möglichkeit ansprechen, die wir im Unterhaltsrecht
schaffen wollen, den Unterhaltsanspruch zu verändern.
Das Projekt kennen Sie schon, das ist schon auf dem
Weg. Die Eigenverantwortung von Ehegatten in und
nach der Ehe soll gestärkt werden, ebenso wie klar sein
soll, dass Kinder die ersten sind, die in Mangelfällen unterhaltsberechtigt sind.
Wir haben der Tatsache Rechnung getragen, dass unsere Gesellschaft toleranter geworden ist und unterschiedliche Lebensentwürfe akzeptiert sowie auf Minderheiten Rücksicht nimmt. Dies ist vor allem ein
Verdienst der Gesellschaft, wird aber selbstverständlich
auch durch die Rechtspolitik begleitet. Von dieser
Rechtspolitik wird manchmal gesagt, sie bestehe aus reinen Programmsätzen; sie führt aber tatsächlich zu einem
veränderten Verhalten, wie wir gerade in einer rechtstatsächlichen Untersuchung zu dem Programmsatz „Kinder
dürfen nicht geschlagen werden“ festgestellt haben. Das
Bewusstsein in der Bevölkerung hat sich in der Tat massiv verändert.
({15})
Unser Ziel ist es also, Gleichbehandlungsrichtlinien
zügig umzusetzen. Wir sind uns einig, dass wir die
Richtlinien im Arbeitsrecht eins zu eins umsetzen werden. Es gibt aber keine Festlegung im Koalitionsvertrag,
dass die Umsetzung der anderen Richtlinien ohne andere
Merkmale erfolgen soll. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich
werde mich weiterhin dafür einsetzen, dass Menschen
bei so genannten Massengeschäften des täglichen Lebens und beim Abschluss von Versicherungen nicht wegen Behinderung, Alter, sexueller Orientierung, Religion
oder Weltanschauung diskriminiert werden.
({16})
Zur Akzeptanz neuer Lebensentwürfe gehört auch,
dass wir gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften
gerecht behandeln. Deswegen bleibt auch auf der Tagesordnung, die Gleichbehandlung von Homosexuellen
auch im Steuerrecht oder im Beamtenrecht vorzusehen.
Es kann nicht sein, dass wir ihnen dieselben Pflichten
auferlegen wie Verheirateten, ihnen aber bei den entsprechenden Vergünstigungen nicht dieselben Rechte geben.
Das halte ich nicht für richtig.
({17})
Unsere Gesellschaft wird immer älter, die Versorgung
der Menschen - gerade auch die medizinische Versorgung im Alter - immer besser. Wir diskutieren deshalb
schon seit einer ganzen Zeit das Thema Patientenverfügung. Wir haben es auch in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Wir waren uns beim Abschluss des Koalitionsvertrages einig, dass das nichts ist, was vonseiten der
Regierung kommen sollte, sondern etwas, was aus der
Mitte des Bundestages kommen sollte. Es geht um
Grundfragen der menschlichen Selbstbestimmung, um
ethische, moralische und religiöse Überzeugungen. Parteipolitische Festlegungen sollte es in dem Bereich nicht
geben.
({18})
Deshalb wird die Bundesregierung keinen Entwurf vorlegen. Ich verbinde das aber mit der Bitte an das Hohe
Haus, dass wir möglichst schnell ein Gesetz auf den Weg
bringen oder auch zwei Gesetze zur Abstimmung stellen. Ich habe nach all den Briefen und nach all den Diskussionen, die ich dazu geführt habe, den Eindruck, dass
die Bürgerinnen und Bürger in der Tat erwarten, dass an
dieser Stelle mehr Rechtsklarheit geschaffen wird.
({19})
Lassen Sie mich zum Schluss noch ein paar Worte
zum Wirtschaftsrecht sagen: Sie wissen, dass wir immer dafür eintreten, Verbraucherinnen und Verbrauchern
die für ihre vernünftigen Entscheidungen notwendigen
Informationen zu geben. Das gilt in allen Bereichen. Wir
wollen das auch weiterhin machen. Eines Schutzes bedürfen sie dennoch. Wir wollen beim Versicherungsvertragsgesetz einen etwas gerechteren Interessenausgleich
zugunsten der Versicherten vorsehen, indem die Abschlussgebühren künftig über einen längeren Zeitraum
verteilt werden, sodass man die Chance hat, einen Teil
seiner zwei Jahresbeiträge zurückzuerhalten, wenn man
nach zwei Jahren den Versicherungsvertrag kündigt.
Wir werden das Urheberrecht novellieren, das wissen
Sie, und ferner werden wir das GmbH-Recht reformieren. Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, nicht nur die Eingangssumme abzusenken, sondern
auch eine umfassende Reform vorzunehmen. Natürlich
wird auch für diesen Bereich gelten, dass wir die Möglichkeiten der elektronischen Medien stärker nutzen wollen, beispielsweise indem wir elektronische Anmeldungen zum Handelsregister ermöglichen.
Ein Thema, das insbesondere die Länder betrifft, ist
die Modernisierung der Justiz, die so genannte große
Justizreform. Die werden wir mit den Ländern angehen. Wir wollen insbesondere in dem Bereich, in dem es
um verständliche, überschaubare und einheitliche Verfahrensstrukturen geht, Fortschritte erzielen. Ich meine,
das ist ein Thema, bei dem der Bundestag, ohne Sorge zu
haben, es könne zu einem Rechtsverlust kommen, ohne
Bundesministerin Brigitte Zypries
weiteres mitmachen kann. Dabei wird es unter anderem
um das Wohnungseigentum und die freiwillige Gerichtsbarkeit gehen, die wir gemeinsam novellieren wollen.
Das waren nur einige Vorhaben von den zahlreichen,
die im Bundesministerium der Justiz in jeder Legislaturperiode angegangen werden. In den letzten sieben Jahren
sind, wie ich heute gelernt habe, 975 Gesetze aus dem
Justizministerium gekommen. Vielleicht ist auch hier ein
Ansatz für Reformen darin zu sehen, künftig weniger zu
machen. Herr Schäuble, da haben Sie völlig Recht.
({20})
Das Wort hat nun die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger von der FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ihre letzte Bemerkung, Frau
Ministerin, galt dem Bürokratieabbau. Bei solchen Gelegenheiten wird immer die Anzahl der Gesetze genannt,
die neu geschaffen wurden. Von daher ist Bürokratieabbau anscheinend eine unendliche Aufgabe.
Es ist ja schön, dass in der Debatte zur Innenpolitik
wie auch in der zur Rechtspolitik die Grundrechte und
Bürgerrechte sehr häufig genannt wurden. Aber dann
ist es auch notwendig, zu schauen, wer denn in den letzten Jahren die Grundrechte geachtet und gestärkt hat.
({0})
Das war letztendlich in den meisten Fällen das Bundesverfassungsgericht, das die Gesetze, die hier von der
Mehrheit durchgedrückt wurden, zu korrigieren hatte.
({1})
- Nein, ich zähle sie Ihnen gleich alle auf. Sie, die SPD,
haben übrigens allen einschlägigen Gesetzen zugestimmt, auch als noch CDU/CSU und FDP regiert haben.
Das wissen wir. Sie sprechen wohl das Gesetz zur akustischen Wohnraumüberwachung an.
({2})
Ich denke, die Tatsache, dass es eine Fülle von Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes gibt und dass mehrere Urteile bevorstehen, ist ganz entscheidend, zum
Beispiel zum Luftsicherheitsgesetz oder zur Einschränkung des Fernmeldegeheimnisses; hierbei geht es um die
Durchsuchung und die Beschlagnahme bei einer Richterin. All das zeigt doch, dass zwar über Bürgerrechte
geredet wird, aber wenn konkret in einem Gesetzgebungsverfahren abzuwägen ist, wie der unantastbare
Kernbereich der Grundrechte, der durch das Bundesverfassungsgericht festgeschrieben ist, tatsächlich geschützt
werden kann, wird argumentiert: Wie kann ich am besten Urteile des Bundesverfassungsgerichts umgehen und
Regelungen finden? Dabei handelt es sich um Regelungen, die dann in ein paar Jahren wieder aufgehoben werden. Das muss sich ändern.
({3})
Da haben Sie, Frau Ministerin, unsere Unterstützung,
wenn sich die Politik in dieser Legislaturperiode an diesen Grundsätzen orientiert. Denn es war ja nicht nur ein
Urteil, das Fernwirkung hat. Es betraf zum einen das Gesetz zur akustischen Wohnraumüberwachung aus der
letzten Legislaturperiode, das nicht Ihr Gesetz ist. Es
handelt sich zum anderen um das AWG, das Außenwirtschaftsgesetz. Heute überweisen wir in erster Lesung einen Gesetzentwurf zur Verlängerung des Zollfahndungsdienstgesetzes um weitere zwei Jahre, eines Gesetzes,
das verfassungsrechtlich, um es ganz vorsichtig auszudrücken, extrem bedenklich ist.
({4})
Deshalb hat es die FDP in der letzten Legislaturperiode
nicht mitgetragen. Jetzt wird uns ein Entwurf vorgelegt,
mit dem Sie ein verfassungswidriges Gesetz für weitere
zwei Jahre in Kraft lassen wollen. Ich denke, das Äußerste der Gefühle wäre ein halbes Jahr. Dann müssten
hier im Hause die Hausaufgaben gemacht worden sein,
um in dieser Angelegenheit einen verfassungskonformen
rechtlichen Zustand wiederherzustellen.
({5})
Wir haben uns auch mit dem Europäischen Haftbefehl zu beschäftigen. Hierzu gibt es einen Referentenentwurf aus Ihrem Haus, Frau Ministerin. Es handelt
sich um ein Gesetz aus der letzten Legislaturperiode, das
in Teilen nicht verfassungskonform war. Wenn an einzelnen Punkten zaghaft und vorsichtig Kritik geäußert
wurde, dann wurde entgegnet, man wolle ja nur die europäische Zusammenarbeit behindern und habe eigentlich
gar nicht die Qualifikation bzw. Berechtigung, Kritikpunkte anzumerken. Jetzt muss das Gesetz natürlich
nachgebessert werden.
Sie haben diesen Referentenentwurf vorgelegt. Aber
ich habe vermisst, dass Sie darin nicht einmal mit einem
einzigen Wort darauf eingehen, dass der belgische Verfassungsgerichtshof den Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl dem Europäischen Gerichtshof
vorgelegt hat, weil er nicht mit den europäischen Vertragsgrundlagen in Einklang zu bringen ist. Es geht konkret um Art. 34 des EU-Vertrages.
Ich denke, im Rahmen der Gesetzgebung im Bundestag, wo es um die Umsetzung geht, sollte man sich vielleicht auch einmal damit befassen, welche Bedeutung es
hat, dass die Rechtsgrundlage dieses Gesetzes beim
Europäischen Gerichtshof zur grundsätzlichen Überprüfung ansteht. Wir als FDP-Fraktion erwarten, dass das in
dieser Legislaturperiode auch mit Blick auf die zahlreichen künftigen Vorhaben im Bereich der europäischen
Innen- und Justizzusammenarbeit geschieht; denn hier
ist die Zahl von Rahmenbeschlüssen, Entwürfen und
Überlegungen sehr groß.
Wir wissen - auch Sie haben das immer gesagt, Frau
Ministerin -, dass Stellungnahmen, die wir im BundesSabine Leutheusser-Schnarrenberger
tag abgeben, für Sie rechtlich nicht verpflichtend sind.
Aber wir alle sollten aus der mündlichen Verhandlung
zum Europäischen Haftbefehl vor dem Verfassungsgericht gelernt haben, in der uns Parlamentariern klar vor
Augen geführt wurde, dass Gesetze viel zu unkritisch
und viel zu schnell durchgewunken werden, die hinterher keinen Bestand hatten.
({6})
Deshalb sage ich für die FDP-Fraktion: Wenn der
Bundestag - ich hoffe: mit großer Mehrheit - seine Positionen zu den Rahmenbeschlussvorhaben in den Bereichen der Strafvollstreckung, der Justizverfahren und der
strafrechtlichen Bestimmungen gefunden hat, sollten
seine Vorstellungen von Ihnen, Frau Ministerin, als
wichtige Aufträge und als Verpflichtungen angesehen
werden. Dann sollte versucht werden, diese Vorgaben im
Rat der Europäischen Union durchzusetzen.
Denn das einzige Recht, das wir Abgeordnete im Bereich der europäischen Gesetzgebung haben, ist, dass wir
ein Umsetzungsgesetz in toto ablehnen können. Das
wollen wir aber nicht tun; denn das ist ja nicht konstruktiv. Aber wenn Sie uns keine andere Möglichkeit lassen,
denke ich, darf man diesen Weg - gerade vor dem Hintergrund der Mahnungen der Verfassungsrichter beim
Thema Europäischer Haftbefehl - nicht mehr generell
ausschließen.
Wir sehen, Frau Ministerin, dass es in der Koalitionsvereinbarung eine Ansammlung von Einzelpunkten gibt.
Es sind auch manche Vorhaben dabei, die wir unterstützen und bei denen wir Sie konstruktiv begleiten werden,
gerade wenn es zum Beispiel um Stalking oder eine
rechtsstaatliche, eng gefasste Kronzeugenregelung geht,
die diesen Namen auch wirklich verdient und nicht nur
zu einer Milderung des Strafmaßes führt; wir wissen ja
um die rechtsstaatliche Bedenklichkeit dieses Instrumentes. Wir werden Sie auch bei anderen Vorhaben unterstützen, zum Beispiel, wenn es tatsächlich zu einer
Unterhaltsrechtsreform sowie zu Änderungen im Familienrecht und insbesondere beim Versorgungsausgleich
- das sind aus unserer Sicht notwendige Reformen kommen sollte.
Was Sie aber bei diesen vielen Einzelvorhaben, die
Sie aneinander reihen, ohne dass man aus ihnen ein klares, grundlegendes und stringentes Konzept für eine zukunftsgerichtete Rechtspolitik erkennen könnte,
({7})
haben vermissen lassen, ist, dass Sie kein Wort zur Pressefreiheit gesagt haben.
({8})
Wir halten es angesichts einer Fülle von Fällen - es war
nicht nur ein Einzelfall - im Laufe der letzten Jahre für
notwendig, dass man sich im Bereich der Strafprozessordnung und des Strafrechts nach vorsichtigen, ausgewogenen Korrekturen nicht nur umschaut, sondern auch
entsprechende Vorschläge macht. Wir als FDP-Fraktion
werden einen eigenen Vorschlag dazu in die Diskussion
einbringen.
Wir hätten uns ebenfalls gewünscht, dass entweder in
der Innen- oder in der Rechtsdebatte das Thema Datenschutz im Zusammenhang mit dem Bankgeheimnis wenigstens einmal angesprochen wird.
({9})
Denn es ist ja richtig: In der Koalitionsvereinbarung
steht zum Datenschutz im dritten Absatz des Vorspanns
zur Innenpolitik nur: Wir werden Gesetze daraufhin
überprüfen, ob der Datenschutz ein Hindernis darstellt.
Wir sehen im Zusammenhang mit dem Eingriff in das ja
sowieso nicht uneingeschränkt bestehende Bankgeheimnis erhebliche datenschutzrechtliche Bedenken - auch
das Bundesverfassungsgericht prüft das ja derzeit. Ich
denke, da ist es dringend notwendig, dass sich die Ministerin, aber auch dieses Haus mit dieser Frage intensiv befassen.
Wenn das alles wahr sein soll - Bürgerrechte sollen
eine wichtige Rolle spielen; es soll einen richtigen Ausgleich geben -, dann muss es, denke ich, in einigen Bereichen der Rechtspolitik zu deutlichen Korrekturen
kommen. Wir als FDP-Fraktion werden sie einfordern.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Jürgen Gehb, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In vielen Zeitungsberichten über die Koalitionsvereinbarung
im Bereich der Rechtspolitik dominierte das Strafrecht.
Nachträgliche Sicherungsverwahrung - Herr Kollege
Wieland: „nachträgliche“ Sicherungsverwahrung
({0})
- Sie haben es eben vielleicht phonetisch nicht verstanden - heißt, dass ein 17-jähriger Jugendlicher, der während seiner Zeit im Strafvollzug gezeigt hat, dass er therapieresistent ist, nicht wieder herausgelassen werden
darf, sozusagen als tickende Zeitbombe.
({1})
Regelungen über Stalking, Zwangsheirat, Zwangsprostitution oder die Kronzeugenregelung seien hier als Stichworte genannt - sicherlich alles wichtige und richtige
Gesetzesvorhaben. Aber wir sollten doch nicht den Eindruck erwecken, als erschöpfe sich die Rechtspolitik darin.
Zu Recht hat uns die Bundeskanzlerin heute Morgen
aufgefordert:
Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen! Lassen Sie
uns die Wachstumsbremsen lösen! Lassen Sie uns
uns selbst befreien von Bürokratie und altbackenen
Verordnungen! Viele unserer europäischen Nachbarn zeigen uns …, was möglich ist.
Diese Worte und diese Aufforderungen an uns alle
sind auch für die Rechtspolitik gültig: Auch hier gilt es,
auf die Herausforderungen einer veränderten Zeit und einer veränderten Welt möglichst rasch die passenden Antworten zu geben. Sicherlich können wir auf unsere
Rechtsordnung und unsere Rechtspraxis stolz sein
({2})
und insgesamt ist unsere Justiz noch immer ein dickes
Plus und ein wichtiger Standortfaktor für Deutschland.
Deswegen sollte man auch mit dem Begriff der „großen
Justizreform“ und allen damit verbundenen Zusammenlegungen von gewachsenen, traditionellen Fachgerichtsbarkeiten vorsichtig umgehen.
({3})
Wenn man eine Resettaste drücken könnte, könnte man
manches sich anders entwickeln lassen. Die Frage ist
aber, ob man alte Rechtstraditionen jetzt mit einem
Schlag und in Bausch und Bogen verändern sollte. Da
muss man im Detail genau hinschauen.
({4})
Dennoch müssen wir immer wieder fragen: Welche
Spielregeln haben im Laufe der Jahrzehnte ein wenig Patina angesetzt? Welche Spielregeln sind vielleicht viel zu
kompliziert geworden? Und welche neuen Spielregeln
brauchen wir gar, um den Wünschen und Bedürfnissen
unserer Bürger wie auch der Wirtschaft gerecht zu werden? Denken Sie beispielsweise an die Konkurrenz
durch ausländische Rechtsformen, der wir uns in
Europa und in einer globalisierten Welt unweigerlich
stellen müssen! Wir als große Koalition nehmen diese
Herausforderung jetzt an. Wenn inzwischen fast jede
fünfte Neugründung einer Kapitalgesellschaft in
Deutschland in Form einer britischen Limited erfolgt,
dann haben wir darauf eine Antwort zu geben, und zwar
eine Antwort, die so attraktiv ist, dass sie dem einzelnen
Existenzgründer in diesem Land die Flucht in ausländische Rechtsformen überflüssig macht und selbstverständlich auch unsere Rechtsordnung im Wettbewerb
mit anderen stärkt.
({5})
Vor diesem Hintergrund ist die verabredete GmbHReform wichtig, richtig und viel bedeutungsvoller, als
manche dies im ersten Augenblick denken. Es gibt
hierzu Vorarbeiten aus dem Haus der Justizministerin;
einzelne Länder haben Überlegungen angestellt und
auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat im Herbst
einen Anstoß zur Schaffung einer so genannten Unternehmensgründungsgesellschaft gegeben. Das ist, wie ich
finde, ein schöner produktiver Wettbewerb der besten
Ideen.
Erlauben Sie mir, einen weiteren Punkt aufzugreifen,
der wichtig ist, wenn wir es schaffen wollen, in Europa
wieder aufzuschließen. Wir müssen uns doch ernsthaft
fragen, ob das Zusammenspiel zwischen dem geltenden
deutschen Planungs- und Genehmigungsrecht und den
europäischen Vorgaben nicht dazu geführt hat, dass der
Industrie- und Wirtschaftsstandort Deutschland im Konzert unserer europäischen Nachbarn stark gelitten hat
und ob er ohne massive Änderungen weiterhin Schaden
nehmen wird. Jeder, der das Wort „Vorfahrt für Arbeit“
ernst nimmt - wir stehen in unserer Fraktion dafür ein -,
muss für eine baldige Reform des Planungs- und Genehmigungsrechts eintreten.
({6})
Wir müssen auch wieder eine Debatte darüber führen,
ob das Verhältnis zwischen Individual- und Gemeinwohlinteressen nicht neu justiert werden muss. In meiner
Zeit als Richter am Hessischen Verwaltungsgerichtshof
habe ich dem Senat für atomrechtliche, imissionsschutzrechtliche und abfallrechtliche Verfahren angehört. In
Kassel ist man von zwei Autobahnen umgeben, nämlich
von der A 44 und der A 49. Die A 49 dümpelt seit
21 Jahren vor sich hin und endet auf einem Feldweg im
Nirwana. Im 16. Jahr der Wiedervereinigung ist die A 44
gerade einmal in einem Teilabschnitt von drei Kilometern
fertig gestellt. Während in anderen Staaten inzwischen
zum 20. Mal der Straßenbelag erneuert wird, fahren wir
noch mit dem Finger auf der Landkarte herum und suchen
eine geeignete Trasse. Aber links gibt es Kaulquappen,
rechts gibt es Kammmolche, in der Mitte ist ein Trockenrasen.
({7})
Meine Damen und Herren, wenn das so weitergeht, dürfen wir uns nicht wundern, dass alle Großprojekte mit einem Moratorium belegt sind.
Ich warne davor, falsche Begehrlichkeiten und Hoffnungen zu wecken, indem man glaubt, nur durch Drehen
deutscher Stellschrauben einen großen Beschleunigungseffekt zu erreichen. Es sind die FFH-Richtlinie, die
Vogelschutzrichtlinie und zuletzt die Århus-Konvention,
durch die die Schar der Kläger unendlich ausgeweitet
worden ist. Nicht umsonst steht in § 42 Abs. 2 VwGO,
dass nur derjenige gegen belastende Verwaltungsakte
klagen kann, der selbst betroffen ist. Den „quivis ex populo“ kennen wir nicht. Aber wir haben ihn eingeführt
mit der Folge, dass sich jahrzehntelangen administrativen Verfahren jahrzehntelange gerichtliche Anfechtungsverfahren anschließen. Das muss geändert werden.
({8})
Das zeigt, wie eng inzwischen unser nationaler Spielraum geworden ist.
({9})
Deshalb müssen wir aufpassen, dass er zukünftig nicht
noch enger wird. Ich meine nicht, dass wir hier zurückschrauben können. Aber entscheidend ist doch, meine
Damen und Herren, dass wir „in statu nascendi“, also am
Beginn aller europäischen Regelungen, rechtzeitig
Stoppschilder setzen, damit wir als nationale Parlamentarier nicht - wie das jetzt häufig der Fall ist - quasi in
einer Ratifizierungsfalle sitzen und weitgehend nur noch
Vollstreckungsgehilfen europäischer Vorgaben sind.
Bildhaft kann ich mich an eine für Siegfried Kauder
eher ungewöhnlich resignative Äußerung in der Debatte
zum Europäischen Haftbefehl erinnern, als er sagte:
Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion werden
uns nicht sperren. Wir werden diesem Gesetz zur
Umsetzung des Rahmenbeschlusses mit Tränen in
den Augen und murrend zustimmen, weil wir keine
andere Möglichkeit haben.
Obwohl der Verfassungsvertrag ruht, müssen wir
Überlegungen anstellen, ob man die Beteiligungsrechte
nicht vorab an anderer Stelle - unabhängig von der Ratifizierung - implementiert, sodass wir bereits am Anfang,
wenn die europäischen Richtlinien formuliert werden,
unsere nationalen Interessen durchsetzen können. Ansonsten werden unsere Entscheidungen immer mehr präjudiziert.
({10})
Das ist im Übrigen auch für das Selbstwertgefühl aller
Kolleginnen und Kollegen wichtig, damit sie hinterher
nicht sagen müssen: Ich stehe hier, ich kann nicht anders.
Wenn wir schon beim Thema Wettbewerb innerhalb
Europas sind, will ich kurz einen weiteren Punkt anschneiden: Die Koalitionspartner haben vereinbart, dass
die EU-Gleichbehandlungsrichtlinien umgesetzt werden.
Das ist so, als wenn man vereinbaren würde, dass es nie
wieder Malaria in Berlin geben soll. Es ist doch klar,
dass Richtlinien umgesetzt werden müssen. Das ist geradezu trivial. Ich kann mich daran erinnern, dass wir sie
eins zu eins umsetzen wollten.
Ich habe eben beklagt, dass uns die europäischen
Richtlinien zum Teil zu enge Korsettstangen anlegen,
und kann daher nicht verstehen, weshalb wir hier und
dort noch einmal Anderthalbe draufsetzen. Darüber
muss sicherlich noch mal geredet werden.
Wie unsere Bundeskanzlerin sehe auch ich überhaupt
keinen Grund, warum wir unseren Unternehmen mehr
Lasten aufbürden sollen als den Unternehmen in anderen
Ländern aufgebürdet werden, und dass wir von ihnen
dann auch noch verlangen, dass sie schneller laufen sollen. In diesen schwierigen Zeiten sollten wir die Prioritäten wirklich zum Wohle unseres Landes setzen und uns
eng an die Vorgaben halten und sie nicht noch ausweiten.
Meine Damen und Herren, die Bundeskanzlerin forderte uns alle heute früh auf: Lassen Sie uns verzichten
auf die eingeübten Rituale, auf die reflexhaften Aufschreie, wenn wir etwas verändern wollen! Es sollte
wirklich möglich sein, dass wir das hinter uns lassen. Diese Aufforderung, diese Bitte um ein offenes und faires Gespräch möchte ich an alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus, aber auch an alle außerhalb dieses
Hauses richten, wenn es um die Modernisierung des
Strafrechts für junge Erwachsene geht.
Hören Sie doch mit dem Märchen auf, dass immer gesagt wird, dass Jugendliche härter bestraft werden sollen! Ein 18-Jähriger ist kein Jugendlicher! Er will sich
auch sonst nirgendwo als Jugendlicher behandeln lassen.
Er ist ein Erwachsener!
({11})
Es ist nicht einzusehen, dass ein 19-jähriger Mörder
als Haupttäter mit acht Jahren Freiheitsstrafe davonkommt, während ein 22-jähriger Anstifter mit lebenslänglich aus dem Gerichtssaal herausgeht. Diese Debatte
muss man führen dürfen, ohne dass man gesagt bekommt: Härter, schneller und immer auf die armen Jugendlichen. Das muss man in diesem Haus einfach debattieren dürfen.
({12})
Auch in der Rechtspolitik hat sich diese Koalition viel
vorgenommen, weil wir sicher sind, dass vieles möglich
ist. Frau Ministerin, liebe Brigitte,
({13})
ich denke an die fast freundschaftliche Atmosphäre bei
unseren Koalitionsverhandlungen und möchte mich an
dieser Stelle für die freundschaftliche Bewirtung recht
herzlich bedanken. Damit verbinde ich eine Hoffnung:
Ich hoffe, dass das Ergebnis für die Rechtspolitik in unseren Koalitionsverhandlungen nicht ganz so mager wie
die Pellkartoffel mit dem Quark ist.
Ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Neskovic
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Im Gegensatz zu meinem Vorredner bin ich der
Auffassung, dass die Festlegungen im Koalitionsvertrag
enttäuschen. Insgesamt belegen sie den geringen Stellenwert, den Sie der Rechtspolitik beimessen. Sie wird als
Stiefkind und lästige Nebensache bezeichnet.
({0})
Die Debatte hier hat deutlich gezeigt: Die Rechtspolitik
wird vornehmlich auf die Begriffe Sicherheit und Freiheit reduziert.
Sie haben Ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Buchhalterischer Fleiß bei der Aufzählung von Gesetzen
reicht sicherlich nicht.
({1})
Am Beginn des 21. Jahrhunderts sind gerade Sie als Sozialdemokraten für sehr viel mehr als für Sicherheit und
Freiheit verantwortlich, wenn Sie Ihre Arbeit gut machen wollen.
({2})
Lesen Sie bei Rousseau nach, was Sie uns nicht glauben:
Zwischen dem Starken und dem Schwachen befreit
das Gesetz, während die Freiheit unterdrückt.
({3})
Der Starke braucht weder den Staat noch das Recht.
Er hat die Macht. Der Schwache braucht den Staat
und das Recht - sie schützen ihn vor dem Starken.
({4})
Die friedensstiftende Kraft des Rechts und seine sozialstaatliche Fundierung werden bei Ihnen nicht erkennbar.
({5})
- Meine Herren, bleiben Sie doch ruhig. Sie wirken irgendwie aufgeregt.
({6})
Sie wissen ja, dass ich einmal in Ihrer Partei war, und ich
weiß, warum ich ausgetreten bin. Dafür gab es gute
Gründe. Sie machen nämlich keine sozialstaatliche Politik mehr.
({7})
Ich setze noch eines obendrauf: Wenn die Linkspartei
die Regierung stellen würde und für die Rechtspolitik
verantwortlich wäre, dann könnten die Bürger in diesem
Land zumindest auf mehr Gerechtigkeit hoffen.
({8})
Voltaire hat einmal gesagt, das Vorurteil sei die Vernunft der Narren.
({9})
Sie sind dabei, ihm in diesem Punkt Recht zu geben.
Eine linke Rechtspolitik tritt für soziale Gerechtigkeit
und Freiheitsrechte,
({10})
die Solidarität der Menschen gegen die Vernichtung
durch Krieg, die innere Demokratisierung von Gesellschaft und Justiz, die Gleichheit aller, die Gleichberechtigung der Geschlechter und den Schutz der Minderheiten sowie die Bewahrung der Lebensgrundlagen ein. Ich
habe von Ihnen kein Programm gehört. Dies hier ist ein
echtes Programm, an dem sich Rechtspolitik messen
lässt.
({11})
Wir treten für die Unabhängigkeit der Richterinnen
und Richter ein
({12})
und schützen sie vor Einflüssen, die dagegen gerichtet
sind. Das Grundgesetz hat die Rechtsprechung den Richtern anvertraut.
({13})
Als Demokrat auf dem Richterstuhl sind sie dem Rechtsstaat ebenso - auch das vergessen Sie - wie dem Sozialstaat verpflichtet. In diesem Sinne ist der Richter politisch und sollte sich dessen bewusst sein. Aus dem
Sozialstaatsgebot folgt die Verpflichtung des Richters,
den Schwächeren vor der Übermacht des Stärkeren zu
schätzen. Zu einem solchen Richterbild bekennen wir
uns.
({14})
Wir werden eine Justizreform, auch wenn sie sich
eine große nennt, bekämpfen, die den Richter zum bloßen Erledigungsautomaten degradiert. Für eine sozialstaatliche Justizpolitik darf eine große Justizreform niemals durch die Verlockung von Kostenersparnissen in
der Justiz motiviert sein.
({15})
Im Gegenteil: Wer die Macht des Rechts betonen will,
den trifft auch die Verantwortung, für eine starke und unabhängige Justiz zu sorgen. Die dritte Gewalt - das kann
ich aus eigener Erfahrung wirklich sagen - arbeitet derzeit schlecht ausgestattet und personell unterbesetzt mit
einem durchschnittlichen Haushaltsanteil von 1,5 Prozent.
({16})
Unter Berücksichtigung ihrer eigenen Einnahmen kostet
sie jeden Bürger des Landes monatlich lediglich 5 Euro.
Mehr als eine Pizza ist Ihnen die Justiz nicht wert. Selbst
da wollen Sie noch sparen.
({17})
Für eine sozialstaatliche Justizpolitik kommt ein Abbau von Rechtsmitteln, wie er im Wege der großen Justizreform angedacht wird, nicht infrage. Zwischen dem
Starken und dem Schwachen befreit nämlich nur das
durchsetzbare Recht. Die Einschränkung von Rechtsmitteln trifft ganz vorwiegend denjenigen, der dringend auf
sie angewiesen ist. Sie trifft vor allen anderen den
Schwachen und ist deswegen sozialstaatswidrig.
({18})
In fast allen Völkern galten zu fast allen Zeiten die
Rechtshüter auch als Hüter der Zeit. Sie hüten das Recht
nicht nur in der Zeit, in der sie richten, vielmehr ist Zeit
auch das, was sie für das schwierige Amt brauchen, das
ihnen anvertraut ist, nämlich die Trennung zwischen
Recht und Unrecht. Der Wahrheit Mutter ist die Zeit und
nicht der richterliche Erledigungsautomat.
Eine Rechtspolitik, die auf eine Ökonomisierung von
Recht und Rechtsprechung zielt, ist nicht nur verfehlt,
weil sie die Stabilisierungsfunktion des Rechts, den sozialen Kitt, vernachlässigt. Eine solche Rechtspolitik widerspricht vor allem den Grundwerten unserer Verfassung. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich lade
Sie ein: Blättern Sie einmal in dieser Verfassung! Sie ist
großartig.
({19})
Sie lebt von der Erkenntnis, dass das moderne Recht
ohne den Sozialstaat nicht auskommt. Ich verstehe ja,
dass die Sozialdemokraten hier motzen, weil es um den
Sozialstaat geht und sie ihn vergessen haben. Dies ist
falsch.
({20})
Die Verfassung hat die Erkenntnis, dass das Recht ohne
den Sozialstaat nicht auskommt, gegen jeden Störungsversuch der Nachgeborenen vor einer Veränderung geschützt.
Es lohnt sich, für die Auffindung und das richtige
Verständnis des Sozialstaatsprinzips auf die alte Kulturtechnik des Lesens und nicht des Zwischenrufes, schon
gar nicht des unqualifizierten, zurückzugreifen.
({21})
Ich darf Ihnen die Vorschriften des Art. 20 und Art. 79
Abs. 3 in Erinnerung bringen.
({22})
In Art. 79 Abs. 3 sind bestimmte Grundsätze unserer
Verfassung für unabänderlich erklärt. Lesen Sie nach!
({23})
- Genau, wunderbar, Prüfung bestanden.
({24})
- Hören Sie doch einmal ganz ruhig zu. Die Väter und
Mütter unseres Grundgesetzes haben alle nachfolgenden Generationen auf diese Grundsätze verpflichtet. Zu
diesen der Ewigkeitsklausel unterliegenden Grundsätzen
gehört auch der Sozialstaat; das ist der Punkt. Er stellt
demnach in der Wertordnung unserer Verfassung einen
zentralen Grundwert dar. Wer angesichts dieser verfassungsrechtlichen Lage behauptet, wir könnten uns den
Sozialstaat nicht leisten, ist ein Verfassungsfeind, bestenfalls ein Verfassungsignorant.
({25})
Wir müssen uns den Sozialstaat leisten, so lautet der
Auftrag unseres Grundgesetzes.
Wir werden in unserer Rechtspolitik zentral darauf
hinwirken, dass die Bedeutung des Sozialstaates gerade
in den Zeiten der Globalisierung nicht entwertet wird,
sondern seine prägende Wirkungskraft zum Wohle der
Menschen in diesem Land entfaltet.
Viele Menschen sorgen sich zu Recht um die soziale
Gerechtigkeit in unserem Land. Ungerechtigkeit ist
kein Naturereignis. Den Spitzensteuersatz zu senken und
zeitgleich mit Hartz IV Armut und Demütigung gesetzlich zu verordnen zeigt, dass die herrschende neoliberale
Politik wesentliche Grundwerte unserer Verfassung aus
den Augen verloren hat.
Ich komme zum Schluss. Das Grundgesetz ist sozial
ausgerichtet. Es bildet geradezu eine Aufforderung zum
demokratischen Sozialismus.
({26})
Wenn Sie sich dieser zentralen Aufforderung unseres
Grundgesetzes weiter verschließen, werden wir gerne
für Sie diese Aufgabe und damit zukünftig auch die Regierung übernehmen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Zwischenrufe.
({27})
Herr Kollege Neskovic, das war Ihre erste Rede in
diesem Haus.
({0})
Ich gratuliere Ihnen dazu und wünsche Ihnen weiterhin
alles Gute.
Nun hat der Kollege Jerzy Montag von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren gerade - wenn
auch unter dem Stichwort Rechtspolitik - die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin Merkel. Deshalb
will ich auch damit anfangen und darauf hinweisen, dass
ich der Regierungserklärung zwar ganze eineinhalb
Stunden zugehört habe, aber kein einziges Mal das Wort
Rechtspolitik gefallen ist. Ich habe auch nicht gehört,
dass die Kanzlerin von der Bundesrepublik Deutschland
als einem Rechtsstaat gesprochen hätte. Ich habe nichts
über die Rechtsstaatlichkeit gehört.
({0})
Deswegen finde ich es angemessen und richtig, einige
Worte darüber zu verlieren.
Ich habe 2002 anlässlich der Regierungserklärung des
Bundeskanzlers Gerhard Schröder auch von der Kultur
des Rechts gesprochen. Zur Kultur des Rechts, über die
wir am Anfang einer Legislaturperiode reden sollten, gehört unbedingt, sich zu vergegenwärtigen, dass es nichts
anderes als die Grundrechte sind, die sowohl die Justiz
als auch die Regierung als vollziehende Gewalt und
nicht zuletzt uns selbst, das Parlament, das die Gesetze
gibt, unmittelbar binden. Deswegen gehört es zur Kultur
des Rechts auch dazu, dass die Grund- und Bürgerrechte
des Grundgesetzes und die völkerrechtlich anerkannten
Menschenrechte nicht erschüttert und abgebaut, sondern
gefestigt und ausgebaut werden. Das macht die Kultur
des Rechts aus und das muss der Gradmesser jeder und
nunmehr der Rechtspolitik der großen Koalition sein.
Ein Recht oder gar ein Grundrecht auf Sicherheit
({1})
- Herr Kollege Wiefelspütz hat in diesem Zusammenhang völlig richtig argumentiert - gehört aber nicht
dazu. Sicherheit für alle Menschen zu optimieren ist die
Pflicht des Staates im Rahmen der geltenden Gesetze
und in den Grenzen des Möglichen. Sicherheit ist aber
kein gegenläufiges Grundrecht, das die Freiheiten der
Menschen mit dem gleichen Recht verdrängt und aushebelt, mit dem diese für sich Geltung und strikte Beachtung einfordern.
({2})
Nach einigen wenigen Überlegungen grundsätzlicher
Art komme ich zum Koalitionsvertrag, über den wir
heute diskutieren. Die Präambel des Koalitionsvertrags
kennt den Begriff Rechtspolitik nicht. Fett hervorgehoben haben Sie nur die Sicherheit. Ich zitiere: „Sicherheit ... zu garantieren, ist Aufgabe unserer staatlichen
Ordnung.“
Garantieren ist ein starkes Wort. Sie wissen genau,
dass das gar nicht möglich ist. Die Freiheitsräume für die
Bürgerinnen und Bürger kommen nur im Kleingedruckten vor. Dieser in der Präambel angeschlagene Ton der
Geringschätzung der Rechtspolitik als Gestalterin und
Hüterin der Rechtsstaatlichkeit zieht sich durch den gesamten Koalitionsvertrag. Es gibt gar kein eigenes Kapitel zur Rechtspolitik. Sie kommt lediglich unter Nr. 2 des
Kapitels - wie könnte es anders lauten? - „Sicherheit für
die Bürger“ vor. Bundesjustizministerin Zypries hat am
14. November dieses Jahres die Koalitionsvereinbarung
mit folgenden Worten kommentiert: Rechtsstaatlichkeit
und Grundrechtsschutz sind der Maßstab, an dem sich
die große Koalition messen lassen muss. - Wie wahr,
Frau Bundesjustizministerin Zypries! Das werden wir
von nun an jeden Tag tun.
({3})
Von Kontinuität in der Rechtspolitik kann aber wahrhaft - auch dies ist eine Ihrer Bewertungen - keine Rede
sein. Ich beginne einmal mit den Ungereimtheiten.
Zwangsverheiratung soll nach der Koalitionsvereinbarung ein Straftatbestand werden. Kolleginnen und Kollegen von der großen Koalition, aufwachen! Zwangsverheiratung ist längst ein Straftatbestand, genauso wie die
von Ihnen angesprochene Zwangsprostitution. Wir haben diesen in das Gesetz eingeführt.
({4})
Wir lesen, dass Sie den Entwurf eines Untersuchungshaftvollzugsgesetzes auf den Weg bringen wollen, ein Gesetz, das die Untersuchungshaft von Erwachsenen und Jugendlichen regeln soll. Löblich! Aber
gleichzeitig kündigen Sie im Rahmen der Föderalismusreform an, die Regelung der Untersuchungshaft den
Ländern zu überlassen. Ein Gesetz ohne Zuständigkeit!
Konfuser geht es nicht mehr.
({5})
Herr Kollege Stünker und Frau Bundesjustizministerin Zypries, wir waren uns einmal einig, dass das Strafverfahren, Ermittlungsverfahren wie Hauptverhandlung,
dringend reformiert werden muss. Es sollte einen Dreiklang geben. Nach einem Justizmodernisierungsgesetz
in der ersten Stufe und einer Neuregelung der Opferrechte in der zweiten Stufe sollten im dritten Teil die Beschuldigten- und Verteidigungsrechte folgen, um die
Einheit der Reform zu vervollständigen. Im Koalitionsvertrag lässt sich dazu kein Wort finden. Statt Stärkung
der Beschuldigten- und Verteidigungsrechte gibt es nur
alte Kamellen und Stückwerk. Sie wollen die Kronzeugenregelung wieder einführen. Wir werden sehr genau
prüfen, ob es das sein wird, was Sie behaupten, nämlich
eine Strafzumessungsnorm, oder ob es sich um eine Regelung handelt, die wir ablehnen.
Sie haben außerdem im Koalitionsvertrag angekündigt, dass Sie sich Gedanken machen wollen, ob
Absprachen im Strafverfahren gesetzlich geregelt
werden sollen. Meine Damen und Herren von der großen
Koalition, der Bundesgerichtshof hat das dringend gefordert. Das muss also gemacht werden. Aber Sie wollen
darüber lediglich nachdenken.
Das Sanktionenrecht - sowohl für Erwachsene als
auch für Jugendliche - ist veraltet. Eine Reform ist seit
Jahren notwendig. Aber eine solche Reform taucht in Ihrem Koalitionsvertrag gar nicht auf. Stattdessen wollen
Sie nach Jugendstrafrecht verurteilte 14- bis 18-Jährige
in Sicherungsverwahrung nehmen. Sie wollen unliebsame Meinungsäußerungen unter Strafe stellen
({6})
- aber selbstverständlich -, indem Sie die Sympathiewerbung als Straftatbestand - wir haben ihn vor lanJerzy Montag
ger Zeit abgeschafft - wieder einführen wollen. Das ist
nichts anderes als die Strafbarkeit unliebsamer Meinungsäußerungen.
({7})
Sie wollen sogar noch - dafür haben Sie Zeit und
Platz im Koalitionsvertrag gefunden - über Graffitibekämpfung reden, eine Sache, über die schon alles gesagt worden ist und die schon längst geregelt ist. Für die
Populisten, die Stammtischbrüder und die Strategen des
nächsten Wahlkampfes wollen Sie wieder einmal das Sexualstrafrecht verschärfen.
({8})
- Selbstverständlich wollen Sie das. - Wir werden uns
die Debatten, die im Rechtsausschuss darüber geführt
werden, genau anschauen. Dann werden wir feststellen,
was gilt und was nicht.
Ich komme zum Ende. Kurzum: Ihre Ankündigungen
in der Rechtspolitik verheißen wenig Gutes. Wir werden
mit eigenen konstruktiven Vorschlägen dagegenhalten.
Wir werden die Kultur des Rechts hochhalten sowie die
Menschen- und Grundrechte zur Richtschnur unserer
Rechtspolitik und zum Maßstab der Kritik an der Regierung machen.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Joachim Stünker von
der SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer die Koalitionsvereinbarung, lieber Kollege Montag
und Kollege Neskovic, halbwegs vorurteilsfrei gelesen
hat, der konnte es bereits wissen, und wer heute der Rede
unserer Bundesjustizministerin Brigitte Zypries zugehört
hat, der müsste es jetzt eigentlich auch besser wissen. Er
müsste wissen, dass all das, was heute Abend teilweise
gepredigt worden ist, nämlich in einer schwarz-roten
Koalition würden die Bürgerrechte der Zivilgesellschaft
zugunsten überzogener Maßnahmen der inneren Sicherheit oder der Kriminalitätsbekämpfung auf der Strecke
bleiben, Schall und Rauch ist. Sie beschreiben nicht das,
was wir rechtspolitisch tatsächlich vereinbart haben. Ich
bitte Sie wirklich, das noch einmal nachzulesen. Ich sage
Ihnen heute am Anfang dieser Legislaturperiode: Sie
können uns in diesen vier Jahren beim Wort nehmen. Sie
können uns dann im Ergebnis an unseren Taten messen.
Ich versichere Ihnen: Diese Koalition wird ein Garant
der Bürgerrechte in diesem Land sein.
({0})
Rechtspolitische Kontinuität wird die Tagesordnung
bestimmen. Ebenso werden wir Garant für die innere
Sicherheit sein. Ich denke, damit machen wir genau das,
was auch dem Bedürfnis der Menschen in diesem Lande
entspricht. Die Menschen wollen beides. Sie wollen ihre
Freiheitsrechte und sie wollen den Schutz vor Kriminalität und vor Terrorismus. Genau diese Rahmenbedingungen haben wir herzustellen. Das werden wir ganz nüchtern machen.
({1})
Die Frau Ministerin hat das rechtspolitische Programm skizziert. Ich muss das nicht wiederholen. Ich
möchte daher zwei Themenbereiche kurz ansprechen,
die bisher nicht so sehr im Mittelpunkt gestanden haben,
die meiner Fraktion für diese vier Jahre aber auch sehr
wichtig sind. Wir haben in diesem Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir gemeinsam das Thema „Große Justizreform“ in Angriff nehmen werden, gemeinsam mit Bund
und Ländern und unter Einbeziehung der Vorschläge der
Justizministerkonferenz und des Bundesministeriums
der Justiz. Soweit der Koalitionsvertrag. Darin steht
nichts von Rechtswegverkürzung oder von Rechtsmittelverkürzung. Vielleicht sollten Sie, Herr Kollege, der Sie
eben diese fulminante Rede gehalten haben, einmal zuhören. - Nein, er ist beschäftigt. ({2})
Das alles ist nicht Bestandteil der Vereinbarung, die wir
hier getroffen haben.
({3})
Ich füge des Weiteren mit Nachdruck hinzu: Wir haben gesagt, dass wir das gemeinsam, Bund und Länder,
machen wollen. Das Ganze hat eine Geschichte. Wir
wissen seit Jahren, dass wir im europäischen Kontext
und bei den Aufgaben, die zunehmend auf die Justiz zukommen, eine Modernisierung bzw. Reform der Justiz
brauchen. Wenn wir „gemeinsam“ sagen, dann meinen
wir auch gemeinsam. In der Koalitionsvereinbarung
steht ausdrücklich nicht der Satz, dass die Justiz in ihrem
Aufgabenzuschnitt auf den so genannten Kernbereich
beschränkt werden soll. Das heißt ganz klar - das muss
auch heute Abend gesagt werden -: Wir wollen keine
Privatisierung der Aufgaben der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Das heißt, dass Beschlüsse der Justizministerkonferenz aus der jüngsten Vergangenheit - das ist zwei,
drei Wochen her -, das Nachlasswesen auf die Notare zu
übertragen oder im Bereich des Gerichtsvollzieherwesens bestimmte Privatisierungen vorzunehmen, nicht
Bestandteile dieses Vertrages sind und auch nicht mit
uns zu machen sein werden.
({4})
Gemeinsam heißt in der Tat, dass wir uns diesen Aufgaben gemeinsam stellen werden.
({5})
- Das werden Sie dann sehen, Herr Kollege.
({6})
Sie sind neu im Rechtsausschuss.
({7})
Wenn Sie das Thema in den letzten sieben Jahren verfolgt hätten, dann wüssten Sie, was wir schon alles diskutiert haben. Ich freue mich auf die Diskussionen mit
Ihnen.
Das, was wir wollen, ist eine moderne Justiz für
Rechtsstaatlichkeit und für Bürgernähe.
({8})
Deshalb werden wir die hohe Qualität und die Leistungsstärke der Justiz auch für die Zukunft sicherstellen.
({9})
- Ich freue mich, das dann mit Ihnen, Herr Kollege, im
Rechtsausschuss gemeinsam zu diskutieren. Wir müssen
uns aber auch gemeinsam darüber im Klaren sein, dass
dieser Gesellschaft die Justiz - da treffe ich mich mit
dem, was vorhin hier gesagt worden ist - ein gewisser
Preis wert sein muss. Die Justiz hat letzten Endes ihren
Preis. Das heißt, es muss Schluss damit sein, dass die
Justizhaushalte der Länder zum Steinbruch der Finanzminister werden.
({10})
- Dass wir gemeinsam diese Auffassung vertreten, das
ist doch schon einmal etwas. Da sind wir auf einem guten Weg, Frau Leutheusser-Schnarrenberger.
Wir haben noch schwierige Diskussionen - ich habe
in den letzten Jahren einige hinter mich gebracht - über
dieses Thema vor uns. Es wäre gut, wenn wir hier im
Deutschen Bundestag dabei eine große Gemeinsamkeit
fänden. Wir müssen diese Gesetze beraten und verabschieden. Es handelt sich um Bundesgesetze, die nicht
einmal zustimmungspflichtig sind. Ich freue mich darauf, dass wir hier am selben Strang ziehen werden.
Eine effiziente, schnelle und verlässliche Justiz ist
fürwahr ein wirtschaftlicher Standortfaktor; das ist richtig. Aber das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in
diesem Land in eine schnelle Justizgewährung des
Staates für jedermann - ich betone: für jedermann ohne Ansehen der Person und unabhängig vom Geldbeutel des einzelnen Rechtsuchenden ist letztendlich die
dritte Säule der Gewaltenteilung in unserer Demokratie.
Dieses Vertrauen darf verantwortliche Rechtspolitik in
diesem Lande dadurch, dass man fiskalisch bedingte Reformen macht, nicht erschüttern. Meine Botschaft von
dieser Stelle heute Abend lautet: Wir werden dazu stehen
und andere Reformen wird es mit uns nicht geben.
({11})
Meine Redezeit ist so gut wie zu Ende. Frau Präsidentin, lassen Sie mich noch eine Anmerkung zu einem
Thema machen, das im Koalitionsvertrag nicht so viel
Beachtung gefunden hat. Wir haben dort ganz bewusst
hineingeschrieben:
Die Koalitionspartner lehnen deshalb die Übertragung des „Bologna-Prozesses“ auf die Juristenausbildung ab.
({12})
Angesichts der Presseveröffentlichungen in den letzten
Tagen bin ich der Meinung - wir haben die Juristenausbildung vor einigen Jahren novelliert -: Dies ist ein
ganz wichtiges Thema, das sich damit beschäftigt, wie
die Ausbildung der Juristen in diesem Land - Stichwort
„dritte Säule“; ich habe davon gesprochen - in der Zukunft aussehen soll. Das wird bei uns im Rechtsausschuss ein wichtiges Thema sein. Auch der Weg, den der
DAV und andere gegenwärtig beschreiten wollen - ich
erinnere an das, was in Bezug auf Reglementierung und
Kontingentierung gemacht werden soll -, kann nicht
richtig sein.
({13})
An all dem, was bisher diskutiert worden ist, sehen
Sie: Es gibt eine Fülle von Aufgaben. Es lohnt sich, sie
im Rechtsausschuss gemeinsam anzupacken. Ich hoffe,
dass es im Rechtsausschuss auch in Zukunft Kooperation und dann gute Ergebnisse geben wird. Eines wollen
wir alle: Wir wollen einen funktionierenden Rechtsstaat.
Schönen Dank.
({14})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Götzer
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit der vorliegenden Koalitionsvereinbarung haben
Union und SPD auch und gerade in der Rechtspolitik
eine tragfähige Grundlage für unsere gemeinsame Arbeit
in dieser Wahlperiode geschaffen.
Nach den durchaus positiven Erfahrungen aus den
Koalitionsverhandlungen - Frau Ministerin, ich möchte
das ausgesprochen gute Gesprächsklima ausdrücklich
noch einmal ansprechen - gehe ich davon aus, dass wir
mit unserem Koalitionspartner auch bei der Umsetzung
der vereinbarten Vorhaben gut zusammenarbeiten werden.
Wir alle wissen, dass Rechtspolitik in der Öffentlichkeit nicht immer den Stellenwert hat, der ihrer Bedeutung entspricht. Das mag auch an der Nüchternheit und
Sachorientierung liegen, mit der wir Rechtspolitiker
unsere Arbeit tun. Andererseits liegt gerade in dieser
Sachlichkeit ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Ich
hoffe, dass einige der Reden, die wir vorhin gehört haben, uns keinen Anlass zu der Befürchtung geben, dass
wir im Rechtsausschuss in Zukunft von der Sachlichkeit
abweichen.
({0})
Die Vereinbarungen zur Rechtspolitik stehen sicherlich nicht gerade an vorderster Stelle im Koalitionsvertrag.
({1})
Dafür wird unser Bereich diesmal gleich am ersten Tag
der Haushaltsdebatte behandelt.
({2})
Deswegen möchte ich der Hoffnung Ausdruck verleihen,
dass künftig die Tagesordnungen für die Haushaltsberatung die Rechtsdebatte nicht mehr in der Regel als krönenden Abschluss kurz vor Mitternacht, sondern auch
einmal zu früheren Tageszeiten vorsehen.
({3})
Welche zentrale Bedeutung die Rechtspolitik für die
Menschen und den Staat hat, ergibt sich aus den einzelnen Abschnitten des Koalitionsvertrags.
Die Menschen haben ein Recht auf Freiheit und Sicherheit.
So ist der erste Abschnitt überschrieben. Sicherheit und
Freiheit gehören zusammen. Das ist heute schon angesprochen worden. Natürlich hat der Kollege Wiefelspütz
Recht, wenn er sagt: Freiheit ist höher einzustufen als Sicherheit. Aber es gibt keine Freiheit ohne die Sicherheit,
die uns der Rechtsstaat gibt. Das heißt für uns, dass wir
auch in Zukunft den rechtlichen Rahmen garantieren
werden, um Kriminalität auf allen Ebenen zu bekämpfen. Dazu gehören wirksame Strafgesetze, eine effektive
und schnelle Strafverfolgung und der konsequente Umgang mit Straftätern.
Beispielhaft möchte ich hier nur die Bekämpfung von
Stalking, Zwangsprostitution und Zwangsverheiratung
nennen sowie vor allem, wie schon angesprochen, die
nachträgliche Sicherungsverwahrung in besonders
schweren Fällen auch bei Straftätern, die nach Jugendstrafrecht wegen schwerster Straftaten verurteilt worden
sind. So steht es im Koalitionsvertrag.
Hervorheben möchte ich auch die geplante grundlegende Reform des Sexualstrafrechts - es geht also nicht
um eine Verschärfung, sondern um eine Reform, Herr
Kollege Montag -,
({4})
weil es dort Wertungswidersprüche gibt,
({5})
die wir beseitigen wollen. Außerdem möchte ich die
neue Kronzeugenregelung erwähnen, die aus der Richterschaft wiederholt nachdrücklich gefordert worden ist.
Betonen möchte ich auch das Prüfvorhaben bezüglich
der Ausweitung der DNA-Analyse; denn der so genannte genetische Fingerabdruck ist ein Glücksfall für
die Bekämpfung und die Aufklärung von Verbrechen.
({6})
Der zweite Abschnitt trägt den Titel „Rechtspolitik
für eine soziale Marktwirtschaft“. Hier kommt die Bedeutung der Rechtsordnung für ein funktionierendes
Wirtschaftssystem in allen seinen Facetten klar zum
Ausdruck: nicht nur zur Förderung der Vertragsfreiheit
und des Eigentums, sondern auch zur Beschränkung von
Marktmacht. Besonderes Gewicht kommt hierbei der
Reform des Gesellschaftsrechts zu, durch die Unternehmensgründungen nachhaltig erleichtert und beschleunigt
werden sollen. Das ist im Übrigen einer von vielen Beiträgen zur Entbürokratisierung.
Zum anderen wollen wir eine Modernisierung des Urheberrechts angehen; denn kreative Menschen brauchen
einen sicheren rechtlichen Schutz für ihr geistiges Eigentum, was dem Land der Dichter und Denker mehr als gut
ansteht.
Ein besonderes Augenmerk möchte ich auf den dritten Abschnitt mit dem Titel „Für Selbstbestimmung und
Toleranz“ lenken. Es ist vorgesehen, die EU-Gleichbehandlungsrichtlinien in deutsches Recht umzusetzen in der Tat, wie der Kollege Gehb angesprochen hat, eine
Selbstverständlichkeit. Deswegen muss man dazu etwas
sagen.
Nach unserem Rechtssystem sind Diskriminierungen schon jetzt vielfach sittenwidrig und somit verboten. Es gilt also, genau zu prüfen, wo noch Handlungsbedarf besteht. Die Vertragsfreiheit ist ein tragender
Pfeiler unseres Zivilrechts und darf deshalb nicht ausgehöhlt werden. Die Folgen für unsere Grundrechte,
die Rechtsprechung und den Rechtsfrieden wären nicht
abzusehen.
Wir waren uns in der Koalitionsarbeitsgruppe Rechtspolitik einig darüber, dass künftig EU-Richtlinien grundsätzlich nur noch eins zu eins umgesetzt werden sollen.
({7})
Dies ist von der Frau Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung heute nochmals unterstrichen worden. Es
hat auch Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden, in
dem es in dem Kapitel „Europa“ wörtlich heißt - ich
zitiere -:
Entscheidend für die Zustimmung der Menschen
wird sein, dass es gelingt, unnötige Bürokratie abzubauen und die europäische Gesetzgebung auf das
tatsächlich Notwendige zu beschränken.
({8})
Das gilt auch für die innerstaatliche Umsetzung von
Richtlinien.
Wir sind der Auffassung, dass das auch für die Antidiskriminierungsrichtlinien gelten soll.
({9})
Bleibt noch der vierte Abschnitt mit dem Titel „Eine
moderne Justiz für Rechtsstaatlichkeit und Bürgernähe“.
Wir wollen die hohe Qualität, die Leistungsstärke und
die gesamtgesellschaftliche Stabilisierungsfunktion der
bundesdeutschen Justiz auch mittel- und langfristig gewährleisten. Das geht aber nur in Abstimmung mit den
Ländern, die hierzu bereits einige Vorarbeiten geleistet
haben, auf denen wir aufzubauen gedenken.
Dazu gehört nicht nur eine Vereinheitlichung der Verfahrensregeln in den Prozessordnungen, sondern auch
eine Modernisierung des Zwangsvollstreckungsverfahrens. Wer weiß, wie umständlich es ist, einen vollstreckbaren Titel auch tatsächlich zu vollstrecken, und
wie lange das alles dauert, weiß auch, wie nötig hier Reformen sind.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Unsere Agenda für die kommende Wahlperiode ist umfangreich. Es ist nicht auszuschließen, dass es zusätzliche aktuelle Erfordernisse für weitere, nicht vereinbarte
Gesetzgebungsvorhaben gibt. Doch auch diese - davon
bin ich überzeugt - werden wir in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit unserem Koalitionspartner sachgerecht lösen. An den Grünen sind in den vergangenen
Jahren wichtige Gesetze für mehr Sicherheit gescheitert.
({10})
Diese Koalitionsvereinbarung ist nicht von Ideologie geprägt, sondern von Vernunft und Verantwortungsbewusstsein der Koalitionspartner in Bezug auf das, was
notwendig und machbar ist.
Meine Damen und Herren, die Menschen können sich
darauf verlassen, dass auch für die Rechtspolitik gilt:
Wir wollen den Erfolg dieser Koalition und diese große
Koalition wird ein Bündnis für die Sicherheit der Bürger
sein.
Vielen Dank.
({11})
Weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Themenbe-
reich nicht vor. Gleichwohl darf ich Sie bitten, noch ei-
nige Minuten hier zu bleiben, weil wir noch einige Ent-
scheidungen zu treffen haben.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 16/106 und 16/88 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Ich sehe, das ist
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 1 a bis 1 d auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. November 2003 zur Änderung
des Europol-Übereinkommens und zur Änderung des Europol-Gesetzes
- Drucksache 16/30 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den
Betrieb elektronischer Mautsysteme ({1})
- Drucksache 16/32 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über konjunkturstatistische Erhebungen in bestimmten
Dienstleistungsbereichen ({2})
- Drucksache 16/36 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der
Niederlande über die grenzüberschreitende
polizeiliche Zusammenarbeit und die Zusammenarbeit in strafrechtlichen Angelegenheiten
- Drucksache 16/57 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
überweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 16/36
- das ist der Zusatzpunkt 1 c - soll federführend im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie beraten werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Erhöhung der Anzahl von Ausschussmitgliedern
- Drucksache 16/110 Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 16/110 zur Erhöhung
der Anzahl von Ausschussmitgliedern. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? Dann ist dieser Antrag einstimmig angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 1. Dezember 2005,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.