Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/30/2005

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich. Auf der Ehrentribüne hat seine Exzellenz der Premierminister der Republik Singapur, Herr Lee, mit seiner Delegation Platz genommen. ({0}) Herr Premierminister, ich begrüße Sie herzlich im Namen der Mitglieder des Deutschen Bundestages. Wir freuen uns, dass Sie sich im Rahmen Ihres Besuches in Deutschland die Zeit genommen haben, den Deutschen Bundestag zu besuchen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen und erfolgreichen Aufenthalt in Deutschland. Meine Damen und Herren, der Kollege Dr. Hermann Otto Solms feierte am 24. November 2005 seinen 65. Geburtstag. ({1}) Ich möchte ihm im Namen des ganzen Hauses herzlich gratulieren und alles Gute wünschen. Es fängt wieder alles sehr einvernehmlich an. Sodann teile ich Ihnen mit, dass der Kollege Dr. Günther Beckstein am 23. November 2005 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat. ({2}) - Es gibt irreversible Entscheidungen im Leben; diese gehört dazu. - Als Nachfolgerin begrüße ich die Kollegin Dorothee Mantel, die wir bereits aus der vergangenen Wahlperiode kennen, sehr herzlich. ({3}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge- führten Punkte zu erweitern: ZP 1 Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. November 2003 zur Änderung des Europol-Übereinkommens und zur Änderung des Europol-Gesetzes - Drucksache 16/30 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({4}) Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Betrieb elektronischer Mautsysteme ({5}) - Drucksache 16/32 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6}) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über konjunkturstatistische Erhebungen in bestimmten Dienstleistungsbereichen ({7}) - Drucksache 16/36 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft u. Technologie Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über die grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit und die Zusammenarbeit in strafrechtlichen Angelegenheiten - Drucksache 16/57 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({8}) Rechtsausschuss Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Behm, Dr. Thea Dückert, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Hongkong als Zwischenschritt einer fairen und entwicklungsorientierten Welthandelsrunde - Drucksache 16/86 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({9}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm - Drucksache 16/105 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({10}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oskar Lafontaine, Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost und der Fraktion DIE LINKE: Hedgefondszulassung zurücknehmen - Drucksache 16/113 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({11}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Anna Lührmann, Volker Beck ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Abrissmoratorium für den Palast der Republik - Drucksache 16/60 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({13}) Innenausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Pau, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Hakki Keskin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Abriss des Palastes der Republik stoppen - Drucksache 16/98 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({14}) Innenausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Konsequenzen aus den Fleischskandalen: Umfassende Verbraucherinformation und bessere Kontrollen -Drucksache 16/111 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({15}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach der Konstituierung des Bundestages und seiner Ausschüsse, die wir heute Morgen vorgenommen haben, und nach der Wahl und Bildung der Bundesregierung beginnt nun die Erledigung der konkreten Aufgaben, für die wir gewählt sind. An der Ernsthaftigkeit der Bemühungen auf allen Seiten gibt es keinen Zweifel. Es wäre ganz schön, wenn wir uns dabei das Maß an Gelassenheit und auch an Fröhlichkeit aus den konstituierenden Sitzungen bewahren könnten, das auch im richtigen Leben bei der Bewältigung anspruchsvoller Aufgaben in der Regel hilft. ({16}) Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 1 auf: Regierungserklärung der Bundeskanzlerin mit anschließender Aussprache Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die heutige Aussprache nach der Regierungserklärung sechseinhalb Stunden, für die morgige zehn Stunden und für die am Freitag weitere drei Stunden vorgesehen. ({17}) Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Zur Regierungserklärung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP, der Fraktion Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor, über die wir heute im Anschluss an die Generalaussprache abstimmen werden. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. ({18})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir aus aktuellem Anlass zunächst eine Bemerkung. Seit Freitag vergangener Woche werden im Irak eine deutsche Staatsangehörige und ihr irakischer Fahrer vermisst. Nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnisse müssen wir davon ausgehen, dass die beiden entführt worden sind. Die Bundesregierung und - ich bin sicher auch das gesamte Hohe Haus verurteilen diese Tat mit Entschiedenheit. ({0}) Eines ist für die Bundesregierung und, wie ich denke, auch für dieses Parlament klar: Wir lassen uns nicht erpressen. ({1}) Genauso klar ist: Alle Anstrengungen der Bundesregierung sind in dieser Situation darauf gerichtet, das Leben von Susanne Osthoff und ihres irakischen Begleiters zu schützen und ihre Freilassung zu erreichen. Unsere Gedanken sind in diesen Stunden und Tagen bei den Angehörigen und Freunden der Betroffenen. Wir fühlen mit ihnen. Sie sollen wissen: Alle Deutschen nehmen Anteil am Schicksal der Entführten und alle Deutschen empfinden eine tiefe Solidarität und Verbundenheit mit ihnen. ({2}) Ihnen allen möchte ich versichern: Die Bundesregierung unternimmt alles, was in ihrer Macht steht, um die deutBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel sche Staatsangehörige und ihren Fahrer so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. Noch wissen wir nichts über die Motive oder die Hintergründe. Daher verbieten sich voreilige Schlussfolgerungen. Aber es ist ganz grundsätzlich festzuhalten: Der internationale Terrorismus ist unverändert eine der größten Herausforderungen für die Staatengemeinschaft. Im Kampf gegen den internationalen Terrorismus dürfen wir nicht nachlassen. Er richtet sich gegen das, was uns wichtig ist und was den Kern unserer Zivilisation ausmacht: Er richtet sich gegen unser gesamtes Wertesystem, gegen Freiheit, Toleranz, Respekt und die Achtung der Menschenwürde, gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Würden wir diese Werte aufgeben, würden wir uns selbst aufgeben. ({3}) Meine Damen und Herren, noch etwas spüren wir in diesen Stunden, etwas, das unser Land auszeichnet: Vor dem Leid anderer verschließen wir weder unsere Augen noch unsere Herzen. Wir wissen, was Solidarität vermag. Wir haben erfahren, welche Kraft aus der Gemeinschaft und aus der Nächstenliebe erwachsen kann. Wir sind uns bewusst, dass ein Volk mehr ist als eine lose Ansammlung von Individuen, und wir wissen, dass ein Volk auch immer eine Schicksalsgemeinschaft ist. Wenn wir diese Erkenntnis beherzigen, können wir daraus Kraft und Zuversicht schöpfen, mit denen wir auch diese großen Herausforderungen meistern können. Meine Damen und Herren, dieses Signal aus diesem Hohen Haus am Anfang der Debatte ist mir sehr wichtig. Wir haben uns nämlich zusammengefunden, um heute und in den nächsten Tagen die erste Regierungserklärung der neuen Bundesregierung zu diskutieren. Ich darf Sie zu Beginn fragen: Für wen mag das heute wohl die größte Überraschung sein? Wer hätte noch vor einigen Wochen und Monaten gedacht, dass heute eine große Koalition antritt, um unser Land gemeinsam in die Zukunft zu führen? ({4}) Wer hätte gedacht, dass SPD und Union so viel Verbindendes entdecken, dass sie ein dichtes Programm für vier Jahre vorlegen? ({5}) Wer hätte gedacht, dass mein Koalitionspartner von einem Parteivorsitzenden aus Brandenburg angeführt wird? Wer hätte gedacht, dass das höchste Regierungsamt schon in diesem Jahr einer Frau übertragen wird? Wer hätte das alles gedacht? ({6}) Das alles ist für viele von uns eine Überraschung und ich sage: manches davon auch für mich. Aber es ist nicht die größte Überraschung meines Lebens. Die größte Überraschung meines Lebens ist die Freiheit. Mit vielem habe ich gerechnet, aber nicht mit dem Geschenk der Freiheit vor meinem Rentenalter. ({7}) Alle Wege vor 1989 endeten an einer Mauer, die nur wenige Meter von diesem Platz entfernt unser Land für alle Zeit zu zerschneiden schien. Wenn Sie schon einmal in Ihrem Leben so positiv überrascht wurden, dann halten Sie vieles für möglich. Dabei möchte ich bleiben. ({8}) Ich habe die neue Koalition eine „Koalition der neuen Möglichkeiten“ genannt. Ich wünsche mir, dass sie unserem Land und allen Deutschen neue Möglichkeiten eröffnet, und ich wünsche mir, dass wir diese Chancen dann auch wirklich nutzen und wahrnehmen. Das heißt für mich konkret: Der Anspruch der neuen Bundesregierung an sich und an das Land ist nicht gering. Wir wollen die Voraussetzungen schaffen, dass Deutschland in zehn Jahren wieder zu den ersten drei in Europa gehört. Ich finde, das ist ein legitimer und wichtiger Anspruch. ({9}) Meine Damen und Herren, das Grundgesetz, die soziale Markwirtschaft, die duale Berufsausbildung, all das waren Ideen, die die Menschen in der gesamten Welt inspirierten. In Deutschland wurde das erste Auto gebaut und der erste Computer, in Deutschland wurde das Aspirin entwickelt. Von diesen Innovationen zehren wir noch heute. Warum soll uns das, was uns früher und was uns zu Beginn dieser Bundesrepublik Deutschland, in den ersten Gründerjahren, gelungen ist, heute, in den - wie ich sage - zweiten Gründerjahren, nicht wieder gelingen? ({10}) Lassen Sie uns also alle damit überraschen, was wir in diesem Lande können. Eine große Koalition zweier unterschiedlicher Volksparteien eröffnet die ganz unerwartete Möglichkeit, zu fragen, was wir gemeinsam besser machen können - ohne uns dabei dauernd mit Schuldigkeiten aufzuhalten, ohne dauernd mit dem Finger auf den anderen zu zeigen und zu fragen, welchen Missstand der andere - natürlich ganz allein - herbeigeführt hat. Denn eines ist klar: Wir alle, ob wir es zugeben oder nicht, tragen Verantwortung dafür, dass wir heute die Möglichkeiten unseres Landes noch nicht voll ausschöpfen: Unser Wachstum kommt seit Jahren nicht mehr richtig in Schwung, die Verschuldung ist in erschreckende Höhen gestiegen, der Aufholprozess der neuen Bundesländer ist seit Jahren gestoppt und ohne den Automobilsektor wäre Deutschland nicht mehr ein solches Hightechland, wie ich mir das wünsche. PISA zeigt, dass wir an vielen Stellen nicht mehr einfach sagen können: Wir sind eine Bildungsnation. Den rapiden Wandel der Arbeitswelt haben wir noch nicht bewältigt. Deutschland ist nicht hinreichend auf die demographischen Veränderungen vorbereitet. Auch auf die Bedrohungen neuer Art und die fließenden Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit haben wir noch keine umfassenden Antworten gefunden. Meine Damen und Herren, wir alle kennen die Probleme und ich kann sagen: Die große Koalition hat die Lage unseres Landes ehrlich analysiert und wir haben auch gemeinsam die Chance erkannt, die Möglichkeiten unseres Landes besser zu nutzen. Warum sollten wir nicht alle damit überraschen, was in diesem Land gelingen kann? Wir wissen, wir haben dicke Bretter zu bohren: Wir wollen den Föderalismus neu ordnen, wir wollen den Arbeitsmarkt fit machen, wir wollen unsere Schulen und Hochschulen wieder an die Spitze führen, wir wollen unsere Verschuldung bändigen und unsere Gesundheitsund Renten- und Pflegesysteme in Ordnung bringen. Niemand kann uns daran hindern - außer wir selbst. Deshalb lassen Sie uns verzichten auf die eingeübten Rituale, auf die reflexhaften Aufschreie, wenn jemand etwas verändern will. Es sollte wirklich einmal möglich sein, dass wir in dieser großen Koalition dieses alles hinter uns lassen und neue Wege gehen. ({11}) Bei der Vorbereitung auf diese Regierungserklärung habe ich viel darüber nachgedacht, wie ich alle Gruppen erwähnen und würdigen kann, die für das Miteinander in unserem Land so wichtig sind. Ich habe darüber nachgedacht, ob ich Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften, Kirchen und Religionsgemeinschaften alle einzeln benennen soll. Ich habe mich am Ende dafür entschieden, auf eine solche Auflistung zu verzichten. Denn es geht nicht um Gruppen - es geht um uns alle, es geht um unser Gemeinwesen, um unsere gemeinsame Zukunft. ({12}) Überraschen wir uns deshalb damit, dass wir die großen Fragen nicht immer aufgegliedert nach Einzelfragen und -interessen angehen, sondern einmal im Zusammenhang. Überraschen wir uns damit, dass wir sachlich, fair, ehrlich alles angehen und gemeinsam lösen. Bei allen Aufgaben, die wir vor uns haben, sollten wir nicht vergessen: Frühere Generationen, die, die vor uns Probleme zu lösen hatten, hatten ungleich größere Probleme; denken wir an den Aufbau nach dem Krieg in West und Ost, denken wir an die historische Leistung der Ostdeutschen, friedlich eine Diktatur zu überwinden. Dagegen ist unsere heutige Lage beneidenswert. Sicher: Licht und Schatten liegen an vielen Stellen sehr eng beieinander; ich nenne den Aufbau Ost. Aber festzuhalten bleibt doch: 15 Jahre nach der deutschen Einheit ist Gigantisches geleistet worden. Mit Transferzahlungen von jährlich 4 Prozent des Sozialprodukts ist es gelungen, die neuen Bundesländer wieder aufzubauen. Ich möchte von dieser Stelle aus allen in Deutschland danken, die zu diesem Prozess beigetragen haben. ({13}) Die Umwelt erholt sich, die Infrastruktur ist ausgebaut, in wenigen Tagen wird - das sei mir als Bewohnerin von Mecklenburg-Vorpommern gestattet zu sagen das letzte Stück der Ostseeautobahn dem Verkehr übergeben. Das sind nur einige Beispiele dafür, was wir in 15 Jahren alles geschafft haben. Auch sonst bietet unser Land großartige Voraussetzungen, die wir nun endlich nutzen sollten: Deutschland ist Exportweltmeister. In keinem Land in Europa werden mehr Patente angemeldet. Gerade wurde wieder ein deutscher Wissenschaftler mit einem Nobelpreis geehrt. ({14}) Unsere kulturelle Vielfalt ist einzigartig. ({15}) Deutschland ist das Land der Ideen, wie der Bundespräsident sagt. Zu einem Land der Ideen gehört nach meiner Auffassung eine Regierung der Taten. Und diese unsere Bundesregierung hat sich viele Taten vorgenommen. ({16}) Ein Vizekanzler einer früheren großen Koalition und späterer Bundeskanzler hat einmal gesagt: Mehr Demokratie wagen. ({17}) Ich weiß, dass dieser Satz viele, zum Teil sehr heftige Diskussionen ausgelöst hat. Aber ganz offensichtlich hat er den Ton der damaligen Zeit getroffen. Ich sage persönlich: Gerade in den Ohren der Menschen jenseits der Mauer klang er wie Musik. Gestatten Sie mir, diesen Satz heute zu ergänzen und uns zuzurufen: Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen! ({18}) Lassen Sie uns die Wachstumsbremsen lösen! Lassen Sie uns uns selbst befreien von Bürokratie und altbackenen Verordnungen! Viele unserer europäischen Nachbarn zeigen uns doch, was möglich ist. Deutschland kann das, was andere können, auch; davon bin ich zutiefst überzeugt. Schon die vergangene Regierung hatte Schritte eingeleitet, wodurch die Möglichkeiten, die unser Land hat, besser genutzt werden sollten. Jenseits aller parteipolitischen Differenzen - diese waren in den vergangenen Jahren nicht zu übersehen - möchte ich deshalb an dieser Stelle ausdrücklich eines tun: Ich möchte Bundeskanzler Schröder ganz persönlich dafür danken, dass er mit seiner Agenda 2010 mutig und entschlossen eine Tür aufgestoßen hat, eine Tür zu Reformen, und dass er die Agenda gegen Widerstände durchgesetzt hat. ({19}) Damit hat er sich um unser Land verdient gemacht. Nicht zuletzt dafür möchte ich ihm im Namen aller Deutschen danken. ({20}) Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, dass ich nicht jede Gruppe einzeln benennen möchte, und zwar nur deshalb, damit mir niemand vorwerfen kann, ich hätte eine Gruppe vergessen. Aber eine Gruppe ist mir so wichtig, dass sie erwähnt werden muss - sie wird bei allen künftigen Fragen eine wichtige Rolle spielen -: Ich meine die Schwachen. Ich meine die Schwachen, die die Solidarität und die Hilfe von uns allen brauchen. Ich meine Kranke, Kinder und viele Ältere. Die Menschlichkeit unserer Gesellschaft entscheidet sich daran, wie wir mit ihnen umgehen. ({21}) Wir, die neue Bundesregierung von Union und Sozialdemokraten, wollen unser Land so ertüchtigen, dass sich die Schwachen auch in Zukunft darauf verlassen können, dass sie nicht alleine gelassen werden, dass ihnen geholfen wird. Das ist unser Verständnis von sozialer Gerechtigkeit. Das beginnt bei der Absicherung der großen Lebensrisiken. Wir wollen die solidarische Altersversorgung erhalten. Aber wie wir wissen, wird der dritte Lebensabschnitt immer länger. Deshalb haben wir uns entschlossen, die Antwort darauf zu geben und die gesetzliche Regelaltersgrenze der Rentenversicherung schrittweise auf 67 Jahre anzuheben. Das geschieht nicht sofort, sondern beginnt erst ab 2012 mit einer langen Übergangszeit. Wir haben daneben aber festgelegt, dass Menschen, die 45 Arbeitsjahre hinter sich haben, auch weiterhin abschlagsfrei mit 65 Jahren in Rente gehen können. Ich denke, damit haben wir uns eine ganz sinnvolle Regelung überlegt. ({22}) Wir haben das ausführlich diskutiert und gesagt, wir müssen dafür sorgen, dass sich die Menschen rechtzeitig darauf einstellen können. Verlässlichkeit soll das Markenzeichen dieser Bundesregierung sein. Wir werden das deshalb schon 2007 beschließen müssen. Dieses Vorhaben wird dann Hand in Hand mit besonderen Anstrengungen in Bezug auf Beschäftigungsmaßnahmen für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Rahmen der Initiative 50 plus gehen. Wenn wir es nicht schaffen, dass auch die Älteren wieder die Chance haben, länger arbeiten zu können, dann werden wir in der Gesellschaft kein Verständnis dafür erhalten, dass wir die Lebensarbeitszeit insgesamt verlängern. Beides muss Hand in Hand gehen. Alles andere wird keine Akzeptanz finden. ({23}) Wir haben gesagt, dass wir die Rentnerinnen und Rentner mit einer Sicherungsklausel vor Rentenkürzungen schützen. Weil es aber dabei bleibt, dass sich die Rente auch in Zukunft im Grundsatz an der Lohnentwicklung orientiert, müssen wir gleichermaßen auch sagen, dass ausgebliebene Anpassungen in den kommenden Jahren nachgeholt werden. Das bedeutet, dass wir den Menschen - insbesondere denjenigen mit kleineren Renten - sehr viel zumuten. Ich weiß das. Ich sage aber auch: Wir haben darum gerungen, wie wir Gerechtigkeit zwischen den Älteren und den Jüngeren herstellen können. Ich halte es für besser, dass wir heute klar sagen, was wir können und was wir nicht können, um einen Ausgleich zwischen den Generationen auch als Vertrauensbasis für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft durchzusetzen. ({24}) Meine Damen und Herren, es gehört doch zur Ehrlichkeit, zu sagen - ich sage das für alle politischen Gruppen -, dass wir den Menschen dort zu oft Sicherheit vorgegaukelt haben, wo wir sie im Grunde nicht mehr garantieren konnten. Diesen Fehler wollen wir nicht wiederholen. Deshalb werden wir auch die kapitalgedeckte Altersversorgung für junge Familien deutlich verbessern und das selbst genutzte Wohneigentum in die Altersversorgung integrieren. Ich glaube, damit sind zwei wesentliche Punkte gelungen, durch die die Menschen ihre freiwillige Vorsorge für ihr Alter verstärken werden. Insofern kann ich sagen: Wir sind bei der Rente und dem, was wir uns vorgenommen haben, einen ehrlichen, schwierigen, aber zukunftsträchtigen Weg gegangen. Ich sage ganz ehrlich: Zur Wahrheit dieser Regierungserklärung gehört auch, dass uns das beim Gesundheitssystem noch nicht gelungen ist. Ich sage: „noch nicht“. Auch die Kranken sollen sich natürlich auf ein zuverlässiges Gesundheitssystem verlassen können. Sie alle wissen - darüber braucht man gar nicht hinwegzugehen -, Union und Sozialdemokraten haben mit der solidarischen Gesundheitsprämie auf der einen Seite und der Bürgerversicherung auf der anderen Seite bisher zwei völlig konträre Ansätze verfolgt. Ich sage auch sehr deutlich: Wir wollten in den Koalitionsverhandlungen keinen faulen Kompromiss auf die Schnelle erreichen. Das heißt: Wir alle wissen, dass wir einen neuen Ansatz und ein leistungsfähiges und hoch qualifiziertes Gesundheitssystem brauchen, das für alle zugänglich ist. Es muss Beschäftigung ermöglichen, wettbewerbsfördernd sein, die Lasten solidarisch verteilen und Generationengerechtigkeit bieten. All diese Dinge wissen wir. Deshalb sind wir bereit und willens, mit einem neuen Ansatz im neuen Jahr eine Lösung hierfür zu finden, auch wenn das eine schwierige Aufgabe ist. Ich zumindest werde mich sehr dafür einsetzen. ({25}) Auf der Leistungsseite werden wir allerdings schnell Veränderungen vornehmen. Wir wollen mehr Vertragsfreiheit und Gestaltungsmöglichkeiten von den Patienten über die Krankenkassen bis hin zu den Praxen und den Krankenhäusern. Bei der Arzneimittelversorgung kommen wir um weitere Maßnahmen zur Kostensenkung nicht herum. Insbesondere die forschende Pharmaindustrie muss bessere Standortbedingungen erhalten. Auch dafür haben wir Sorge getragen. Denn die Innovationskraft Deutschlands wird gerade von der forschenden Pharmaindustrie in ganz wesentlichem Umfang abhängen. Genauso wie die Krankenversicherung bleibt auch die Pflegeversicherung ein zentraler Baustein der solidarischen Absicherung. Wir wollen, dass der Zweck und die Idee der Pflegeversicherung auch weiterhin gelebt werden können. Das heißt, dass wir das Umlageverfahren durch eine kapitalgedeckte Demographierücklage ergänzen werden. Das heißt auch, dass die private Pflegeversicherung zukünftig einen Beitrag zur Bewältigung der Solidarität leisten muss. Das muss fair geschehen; aber wir glauben, dass dies im Rahmen der Pflegeversicherung ein richtiger Schritt ist. ({26}) Wir tun das - ich wiederhole mich -, weil sich Alte, Kranke und Kinder auch in Zukunft darauf verlassen können müssen, dass ihnen geholfen wird und sie nicht alleine sind. Es geht dabei nicht nur um materielle Dinge, sondern das ist auch eine moralische Aufgabe. Dabei wissen wir: Das Zusammenleben der Generationen hat sich in den letzten Jahren tief greifend verändert. Es gibt die traditionellen Familien; es gibt die so genannten Patchworkfamilien; es gibt allein erziehende Eltern. Ich sage es kurz und knapp: Familie ist überall dort, wo Eltern für Kinder und Kinder für Eltern dauerhaft Verantwortung tragen. Ich will nicht, dass der Staat lenkend eingreift oder gar Lebensentwürfe vorschreibt. Aber ich will schon - das ist unser gemeinsames Anliegen -, dass der Staat gute Rahmenbedingungen schafft. Das heißt, dass junge Menschen ermutigt werden, sich für ein Leben mit Kindern zu entscheiden, und dass sie dazu nicht nur ermutigt werden, sondern dass sie sich auch entscheiden können. ({27}) Das hat aus meiner Sicht zuvörderst damit zu tun, ob es in diesem Land ein Klima der Zuversicht, des Mutes und der Perspektiven für das eigene Leben gibt. Aber es hat außerdem etwas mit sehr praktischen Fragen zu tun, nämlich mit ausreichenden und bezahlbaren Betreuungsmöglichkeiten. Sicher: Nach außen ist der Streit über die Entscheidung zwischen Kindererziehung und beruflichem Fortkommen der vergangenen Jahrzehnte nach vielen Diskussionen und Reden überwunden. Aber ich betone: nach außen. ({28}) Dennoch wissen wir, dass die Realität auch heute noch oft eine andere ist, dass die Widersprüche zwischen Arbeits- und Familienwelt nicht einfach verschwunden sind und es auch heute nicht selten noch immer eine Frage ist, ob sich eine Frau am Ende für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf entscheiden kann oder ob sie sich zwischen Familie und Beruf entscheiden muss. Die Politik will dabei helfen, dass diese Widersprüche nicht nur in Worten und Sonntagsreden überwunden werden, sondern zunehmend auch im täglichen Leben. Das werden wir tun, indem wir den Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen vorantreiben. Bis 2010 sollen 230 000 zusätzliche Betreuungsplätze vor allem für Kleinkinder entstehen. Die zugesagten Mittel allerdings - das betone ich - müssen den Kommunen real zur Verfügung gestellt werden, damit sie diese Aufgabe erfüllen können. Nach der Föderalismusreform wird das noch wichtiger. ({29}) Wir werden die Kinderbetreuung auch steuerlich besser fördern. Die Vielzahl von Familienleistungen wollen wir im Übrigen in einer Familienkasse bündeln, harmonisieren und organisatorisch zusammenfassen. Aber an einem Problem in unserem Land können wir nicht vorbeisehen: Je besser die Ausbildung der jungen Frauen und Männer ist, desto seltener entscheiden sie sich für Kinder. Das kennen wir alle und das wird uns auch immer wieder erzählt. Eine Frau hat ein Studium absolviert, eine hervorragende Ausbildung machen können, möchte im Beruf Karriere machen und steht dann vor der Frage, wie sie diesen Berufswunsch mit ihrem Wunsch, eine Familie zu gründen, vereinbart. Ich sage unumwunden: Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass dieser Konflikt ganz einfach und locker überwunden werden kann. Das kann er nicht. Aber seitens der Politik können wir einen kleinen Beitrag dazu leisten, diesen Konflikt ein wenig zu mildern. Genau das haben wir getan, indem wir uns entschlossen haben, ein Elterngeld einzuführen. Es wird erstmals als Einkommensersatz ausgestaltet und zusätzlich mit einer Väterkomponente verbunden. Das ist ein neuartiger Ansatz in beide Richtungen. Ich ahne schon jetzt, welche Diskussionen er hervorrufen wird. Doch die Betriebe - das sage ich ganz ausdrücklich - sollen sich stärker als bisher in der Pflicht sehen, auch einmal die Väter zeitweise freizustellen, und zwar, wo immer dies möglich ist, ohne berufliche Nachteile. Dieser sanfte Druck ist unumgänglich. ({30}) Ich nenne ein weiteres Stichwort aus unserem Familienprogramm, das mir sehr wichtig ist: die Mehrgenerationenhäuser. Ich halte es für eines der spannendsten Projekte der Familien- und Gesellschaftspolitik in einer Zeit der Änderung der Altersstruktur in unserer Gesellschaft. Wir wissen, dass die Anforderungen an Mobilität im Berufsleben auf der einen Seite und der Wunsch nach Fürsorge innerhalb der Familie auf der anderen Seite heute oft nicht miteinander vereinbar sind. Deshalb gelingt es oft nicht, dass die pflegebedürftigen Eltern am gleichen Ort wie die Kinder wohnen oder dass sich die Großeltern um die Enkel kümmern können. Mit Mehrgenerationenhäusern - wir müssen diesen Weg symbolisch gehen, um immer wieder deutlich zu machen, dass es andere Formen des Zusammenlebens gibt - können wir Menschen aus der Vereinsamung herausführen. Wir können eine Plattform für bürgerschaftliches Engagement schaffen und zeigen, dass sich die Generationen mit ihren Erfahrungen im Miteinander der Starken und Schwachen unserer Gesellschaft etwas zu sagen haben. Deshalb ist das mehr als irgendein Projekt; es ist vielmehr eine Pforte für uns, um zu lernen, in einer sich verändernden Gesellschaft miteinander menschlich zu leben. ({31}) Ich habe über die vermeintlich Schwachen gesprochen. Wir wissen, dass sie in Wahrheit oft stark sind und einen unverzichtbaren Beitrag für sich selbst und unser Gemeinwesen leisten können. Dies zu erkennen und auch zu nutzen macht den Wert von Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft aus. Ich bin davon überzeugt: Wir müssen uns in jeder Generation neu besinnen, was gerecht und was ungerecht ist. Gerecht ist, wenn den Schwachen geholfen wird. Ungerecht ist, wenn sich Starke als Schwache verkleiden und damit die Gemeinschaft ausnutzen. ({32}) Ungerecht ist auch, wenn wir Menschen entmündigen und ihnen die Möglichkeit nehmen, ihre eigenen Kräfte zu entdecken. Deshalb brauchen wir eine neue Gerechtigkeit. Jeder von uns kennt in seinem Bekanntenkreis Menschen, denen es wirklich schlecht geht und die unsere Hilfe dringend brauchen. Aber wir alle kennen auch Menschen, die diese Hilfsbereitschaft einfach ausnutzen. ({33}) Lassen Sie mich auch an dieser Stelle ganz konkret werden: Diese Regierung bekennt sich ausdrücklich zur Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. SPD und Union haben diesen Schritt von Anfang an grundsätzlich für richtig gehalten. Das schließt unterschiedliche Auffassungen, zum Beispiel über die Rolle der Kommunen, nicht aus. Aber wir werden diesen Schritt nicht nur gemeinsam gehen, sondern wir werden auch dafür Sorge tragen, dass es in diesem Bereich mehr Gerechtigkeit und weniger Missbrauch geben wird. Deshalb werden wir die Reform der Bundesagentur für Arbeit fortsetzen. Bei der Vermittlungsarbeit sind - das kann mit Recht festgestellt werden - in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte erzielt worden. Wir werden auch, wo immer möglich, Arbeit finanzieren statt Nichtarbeit. ({34}) Denn Arbeit heißt, wie wir alle wissen, mehr als Einkommen und Geld; Arbeit bedeutet vielmehr Würde und Selbstachtung für die betroffenen Menschen. ({35}) Aber nicht immer - auch das gehört zur Wahrheit wird nur das in Anspruch genommen, was nach Sinn und Zweck den Empfängern gesetzlich zusteht. Deshalb werden wir die Regelungen so ändern, dass Kinder unter 25 Jahren zunächst einmal von ihren Eltern unterhalten werden, bevor die Gemeinschaft eintritt. Solidarität in der Gesellschaft kann keine Einbahnstraße sein. Sie müssen immer bedenken: Das alles wird von den Steuerzahlern bezahlt, die jeden Morgen zur Arbeit gehen und ein Recht darauf haben, dass auch andere ihre Verpflichtungen einhalten. ({36}) Mehr Gerechtigkeit in diesem Bereich bedeutet aber auch, dass der Maßstab, das Arbeitslosengeld II einfach in zwei Zonen - Ost und West - aufzuteilen, so nicht trägt. Deshalb wird die so genannte Regelleistung beim Arbeitslosengeld II Ost an die des Westens angeglichen. ({37}) Alles in allem haben wir uns in der Arbeitsmarktpolitik vorgenommen, knapp 4 Milliarden Euro einzusparen. Das ist ein anspruchsvolles Ziel, aber es ist ein wichtiger Beitrag zur Haushaltskonsolidierung. Wir führen - das richte ich an alle Landräte und Kommunalpolitiker - derzeit sehr intensive Gespräche mit den kommunalen Spitzenverbänden und den Ländern, um bei der Revisionsklausel, was die Kosten für die soziale Grundsicherung angeht, noch ein Einvernehmen zu erzielen. Wir werden dabei an dem Ziel, die Kommunen um 2,5 Milliarden Euro zu entlasten, wie wir es versprochen haben, festhalten und das muss auch die Basis für die Verhandlungen über die Jahre 2006 und 2007 sein. ({38}) Wir müssen - das wissen wir alle angesichts der kurzen Zeit, in der die Zusammenlegung von Arbeitslosenund Sozialhilfe erst wirkt - den Grundsatz „Fördern und Fordern“ umfassend umsetzen. Wir haben heute noch nicht den Zustand erreicht, dass die Menschen, die zum Teil weniger Leistungen bekommen, den Eindruck haben, dass sie wirklich eine zusätzliche Chance erhalten haben. Das muss durchgesetzt werden. Ansonsten wird die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe keine allgemeine Akzeptanz finden. ({39}) Wenn wir ein Land sein wollen, in dem wir ein Herz für Schwache haben, dann brauchen wir auch ein Herz für Leistung und auch ein Herz für mehr Leistung. Wir müssen stärker anerkennen, wenn sich Menschen engagieren, wenn sie etwas leisten und wenn sie etwas aufbauen. Diese Menschen verdienen nicht unseren Neid, sondern unsere Dankbarkeit. ({40}) Denn mehr Freiheit möglich zu machen heißt: Wir können den Schwachen dann und nur dann etwas abgeben, wenn wir mehr Starke haben, die alle anderen mitziehen. ({41}) Die neue Regierung wird sich genau aus diesem Grund in ganz besonderer Weise für den Mittelstand einsetzen; denn dort lassen sich die meisten Quellen der Innovation finden. Dort ist der Jobmotor am wirkungsvollsten und werden die meisten Ausbildungsplätze bereitgestellt. ({42}) Wir werden die Wachstumskräfte des Mittelstandes sehr gezielt stärken. Wir wollen zum 1. Januar 2008 eine rechtsformneutrale Unternehmensteuerreform in Kraft setzen, das heißt endlich eine Lösung - das ist in Zeiten der Globalisierung in Deutschland von extremer Bedeutung -, bei der die Personengesellschaften, die Familienbetriebe, die gleichen steuerliche Möglichkeiten haben wie die Körperschaften, wie die ganz Großen. Die Lösung dieser Aufgabe haben wir uns - das sage ich ganz unumwunden - seit zehn Jahren vorgenommen, wo immer wir gemeinsam oder nicht gemeinsam politisch tätig waren. Aber wir haben diese Aufgabe nie gelöst. Deshalb sage ich ausdrücklich: Diese Regierung will diese Aufgabe lösen. Genau dies kann eine Möglichkeit der großen Koalition sein, sich auf die Sache zu konzentrieren, damit wir nicht im parteipolitischen Hickhack aneinander geraten. ({43}) Für die Übergangszeit, in der wir die Rechtsformneutralität noch nicht erreicht haben, wollen wir die Abschreibungsmöglichkeiten befristet verbessern. Wir wollen durch die Verbesserung der Istbesteuerung einen kleinen Beitrag zur Entlastung des Mittelstandes leisten, der durch die 13. Beitragserhebung im kommenden Jahr stärker belastet wird. Wir wollen des Weiteren - das halte ich für ausgesprochen wichtig; das ist ein klares Signal - eine reduzierte Erbschaftsteuer für Familienbetriebe; das ist ein ganz wichtiger Punkt. Das sind drei Dinge, die wir für den Mittelstand tun. ({44}) Meiner Meinung nach können wir am meisten beim Bürokratieabbau leisten. Wir wissen, dass kleine und mittlere Unternehmen etwa vier bis sechs Prozent ihres Umsatzes nur für die Deckung von Bürokratiekosten ausgeben. Wir werden uns das genau anschauen und erst einmal lernen, Bürokratiekosten zu berechnen und zu bemessen. Wir nehmen uns klare Reduktionsziele vor. Andere Länder, zum Beispiel die Niederlande oder Großbritannien, haben uns das schon vorgemacht. Wir machen einen Small-Companies-Act, wie das auf Neudeutsch heißt, also ein Gesetz für kleine Unternehmen, das ganz konkret zu weniger Kontroll- und Überprüfungspflichten, einfacheren Formularen und nicht dauernd zu neuen Statistiken führt. Dann haben wir für den Mittelstand in Deutschland wirklich etwas erreicht. Dies wird eine ganz besonders wichtige Aufgabe sein, deren Lösung wir vom Kanzleramt aus steuern werden. ({45}) Wir haben uns vorgenommen, die EU-Richtlinien im Grundsatz nur noch eins zu eins umzusetzen. ({46}) Ich halte das für ausgesprochen wichtig. Ich weiß, dass das Gegenstand vieler politischer Debatten und Entscheidungen war. Jeder muss in diesem Land begreifen: Wenn wir uns zusätzlich zu dem, was wir in Europa vereinbaren - das ist oft schon bürokratisch genug; das muss ich leider sagen -, Lasten aufbürden, dann haben wir gegenüber unseren europäischen Mitbewerbern keine fairen Chancen. Wir wollen aber bei aller Freundschaft zu allen anderen Ländern, dass in Deutschland Arbeitsplätze entstehen. Das ist die Aufgabe einer Bundesregierung. Dafür müssen wir sorgen. ({47}) Das heißt also, dass wir eine Politik mit einem Grundverständnis machen werden, das darauf beruht, dass die Vorschriften, die wir machen, für die Menschen da sind und nicht die Menschen zur Erfüllung der Vorschriften. So können wir den Starken im Lande wieder helfen und dann auch den Schwachen in diesem Lande. Das muss unser Grundverständnis sein. Daran müssen wir alles prüfen. Das hat gar nichts mit Ideologie zu tun, sondern mit ganz praktischem menschlichem Sachverstand. ({48}) Ich bin davon überzeugt, dass uns das gelingen kann. Es gibt viele tüchtige Vorbilder. Ich habe vor einigen Wochen etwas sehr Selbstverständliches gesagt. Ich habe gesagt: Ich will Deutschland dienen. - Ich kenne viele Menschen, die dem Land, anderen Menschen und der Gemeinschaft dienen - selbstlos und ohne dass davon groß Notiz genommen wird. Diese Menschen müssen unser Vorbild, das Vorbild für diese Bundesregierung sein. Die Anerkennung des Nächsten in der Gemeinde, im Wohngebiet, in der Schule oder im Betrieb - das alles hat etwas damit zu tun, ob wir das schaffen, was wir oft eine lebendige Bürgergesellschaft nennen. Das ehrenamtliche Engagement ist ein unersetzbarer Bestandteil dieser Bürgergesellschaft. Wo immer es geht, wollen wir dieses ehrenamtliche Engagement stärken. Genau das, was viele Menschen in ungezählten Kultur-, Musik- und Gesangvereinen in ihrer Freizeit tun, hält unsere Gesellschaft zusammen. Bei allen Rechtsansprüchen, die wir uns durch Gesetze setzen, müssen wir immer bedenken, dass noch ausreichend Spielraum genau für dieses ehrenamtliche Engagement bleibt. Ansonsten geht unserer Gesellschaft ganz Wesentliches verloren. Ich zumindest bin davon zutiefst überzeugt. ({49}) Unsere Kultur ist die Grundlage unseres Zusammenhaltes. Deshalb ist Kulturförderung für diese Bundesregierung keine Subvention. Dieser Begriff - ich sage das ausdrücklich - verbietet sich an dieser Stelle. ({50}) Sie ist eine Investition, und zwar eine Investition in ein lebenswertes Deutschland. ({51}) Natürlich regelt unsere Verfassung die Förderung von Kunst und Kultur. Sie ist primär den Ländern zugeordnet. Das wissen wir. Aber ich sage ebenso deutlich, dass der Bund auch in Zukunft eine Reihe ganz wichtiger Kulturaufgaben wahrnehmen wird. ({52}) Deutschland - und nicht nur die Summe der 16 Bundesländer - ist schließlich eine europäische Kulturnation. ({53}) Diese Bundesregierung - das hat etwas mit unserem historischem Verständnis zu tun - wird wie die Regierung zuvor auch einen Beitrag zum Erhalt des kulturellen Erbes der Vertriebenen leisten. Wir wollen im Geiste der Versöhnung auch in Berlin ein sichtbares Zeichen setzen, um an das Unrecht der Vertreibung zu erinnern, und wir werden dies im europäischen Kontext tun. Aus meiner Sicht bietet die gemeinsame Erklärung der Präsidenten Rau und Kwásniewski eine gute Grundlage dafür, dass wir einen gemeinsamen und nicht einen trennenden Weg finden werden. Ich sage hier sehr persönlich: Auf meinen Reisen, die ich in die entsprechenden Länder mache, werde ich mich sehr dafür einsetzen, dass uns dies gelingt. Das hat etwas mit unserem eigenen historischen Selbstverständnis zu tun. Es hat aber auch etwas mit dem Vertrauen anderer in uns zu tun. Deshalb muss beides zusammengebracht werden. Ich bin der Überzeugung: Das geht und das können wir schaffen. ({54}) Meine Regierung ist Anwalt aller Deutschen wie aller in Deutschland lebenden Mitbürgerinnen und Mitbürger. Wir werden deswegen mit allem Nachdruck, wo immer es erforderlich ist, gegen jede Form von Extremismus, Rassismus und Antisemitismus kämpfen. ({55}) Die Initiativen der Bürgergesellschaft, die sich hier engagieren, haben unsere volle Unterstützung. Wir sind ein tolerantes, wir sind ein weltoffenes Land. Deutschland ist zugleich ein Land, das seine Traditionen und seine Kultur pflegt. Das eine kann es ohne das andere nicht geben; denn Heimat gibt gerade in Zeiten des sehr schnellen Wandels, in denen wir leben, den Halt, den die Menschen brauchen, jedem Einzelnen und unserem Land als Ganzem. Deshalb haben wir nicht ohne Grund unserem Koalitionsvertrag den Titel „Gemeinsam für Deutschland“ gegeben. Parallelgesellschaften, in denen die grundlegenden Werte des Zusammenlebens in unserem Land nicht geachtet werden, passen nicht in dieses Denken. ({56}) Deshalb ist Integration eine Schlüsselaufgabe unserer Zeit. Mit der Ansiedelung der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration im Kanzleramt habe ich sehr bewusst ein Signal gesetzt, dass dies eine gesamtpolitische Aufgabe ist, der wir große Beachtung schenken wollen. ({57}) Ich bin der Überzeugung, dass Integration nur gelingen kann, wenn ausländische Kinder konsequent dazu gebracht werden und auch die Möglichkeit haben, Deutsch zu lernen. Wir werden deshalb gerade in den Schulen das Erlernen der deutschen Sprache fördern. Besser gesagt, wir werden die Länder in ihrem Bemühen unterstützen, dass Kinder nur dann in die Schule kommen dürfen, wenn sie der deutschen Sprache mächtig sind. Ansonsten haben sie vom ersten Schultag an nicht die Chancen, die wir ihnen geben müssen, um auch ihnen ein gutes Leben in unserem Land zu ermöglichen. ({58}) Wir brauchen einen Dialog mit dem Islam. Wir müssen einander verstehen lernen; das gehört dazu. Wir müssen im Übrigen darauf achten, dass wir unsere eigene Religion, das Christentum, ausreichend verstehen, soweit wir Christen sind - das gilt auch für andere, die anderen Religionen anhängen -; denn einen Dialog der Kulturen kann man nur führen, wenn man sich seiner eigenen Kultur auch wirklich bewusst ist. ({59}) Wir werden das offen und ehrlich tun. Wir werden vor allen Dingen Differenzen eindeutig benennen, wo immer sie auftreten. Deshalb sage ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich - ich sage dies auch als Frau -: Zwangsverheiratungen oder Ehrenmorde - beides schreckliche Begriffe - haben nichts, aber auch gar nichts mit Ehre zu tun und sie haben auch gar nichts in unserer Gesellschaft zu suchen. ({60}) Wir können sie nicht dulden, wir wollen sie nicht dulden. Wir werden das deutlich machen. Sicher kann jeder von uns selbst etwas für unsere Gemeinschaft tun. Vieles kann von dem Einzelnen besser als vom Staat erreicht werden. Aber der Einzelne hat ein Anrecht darauf, dass der Staat auch ihn in die Lage versetzt, seine eigenen Kräfte zu entfalten. Viele Menschen werden heute - das müssen wir ganz klar sehen an ihrem Einsatz, am Einbringen ihrer Möglichkeiten gehindert, weil das größte Problem, mit dem unser Land zu kämpfen hat - die Arbeitslosigkeit -, nicht ausreichend gelöst ist. Wir haben die höchste Zahl an Langzeitarbeitslosen, die die Bundesrepublik Deutschland je erlebt hat, und das muss sich wieder ändern. Im Übrigen werden wir von den Menschen als Regierung und als die diese Regierung tragenden Fraktionen zum Schluss an genau dieser Frage gemessen werden: Haben wir hier etwas erreicht oder haben wir nichts erreicht? Diesem Anspruch wollen wir uns auch stellen. Ich sage ganz ausdrücklich: Das muss unser Ziel sein. ({61}) Wir wissen, dass die Politik keine Arbeitsplätze schaffen kann; aber sie kann Rahmenbedingungen stellen. Wir haben sehr viel über diese Rahmenbedingungen gesprochen. Wir wissen, dass damit zusammenhängt, dass Menschen in Würde leben können. Deshalb haben wir uns einiges vorgenommen. Erstens. Seit über drei Jahrzehnten steigen die gesetzlichen Lohnzusatzkosten bzw. verharren auf einem internationalen Höchstniveau. Wir wollen das ändern; deshalb wollen wir die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte senken. Einen Prozentpunkt sollen Strukturmaßnahmen innerhalb der Bundesagentur für Arbeit erbringen. Ein weiterer Prozentpunkt soll durch den Einsatz eines Punktes Mehrwertsteuer finanziert werden. Es ist im Übrigen erfreulich, dass die Länder an dieser Stelle auf ihren Anteil an der Mehrwertsteuer verzichten werden. ({62}) Wir wollen die Lohnzusatzkosten in dieser Legislaturperiode dauerhaft unter 40 Prozent halten. Zweitens. Deutschland muss den Wandel zu einer modernen Dienstleistungsgesellschaft schaffen. Wir werden deshalb die privaten Haushalte im Grundsatz als Arbeitgeber anerkennen. Jeder, der den politischen Streit der vergangenen Jahrzehnte verfolgt hat, weiß, dass hier eine lange ideologische Auseinandersetzung zu Ende geht. Wir werden sowohl für die Abrechnung von Handwerkerleistungen als auch für die Frage der Kinderbetreuung als auch für andere haushaltsnahen Dienstleistungen den Haushalt als Arbeitgeber installieren. Das wird ein Umdenken in Richtung einer Dienstleistungsgesellschaft in Deutschland bedeuten. Ich finde das richtig, ich finde das erfreulich. Lassen Sie uns das Ganze mit Freude angehen. ({63}) Drittens. Wir wissen, dass gerade gering Qualifizierte in unserem Land unglaubliche Schwierigkeiten haben, eine Beschäftigung, und zwar zu regulären Löhnen, zu finden. Es geht hierbei nicht um irgendeine Statistik der Bundesagentur für Arbeit, sondern es geht um etwa 2 Millionen Menschen in unserem Land, für die wir uns Gedanken über die Frage machen müssen: In welcher Art und Weise können wir diese Menschen wieder in Lohn und Brot bringen? Deshalb werden wir das Thema Kombilohn im Niedriglohnsektor aufgreifen. Wir werden uns darum bemühen, genau an dieser Stelle eine Lösung zu finden, bei der eine Lohnleistung durch eine staatliche Leistung ergänzt wird. Wir wissen, dass das Fragen berührt - wir haben das auch in unserem Koalitionsvertrag niedergelegt - wie Entsendegesetz, Mindestlohn, Auswirkungen der EUDienstleistungsrichtlinie. Das gehört zu den kompliziertesten Themen. Aber ich habe in den Koalitionsverhandlungen gespürt, dass der Wille da ist, diese 2 Millionen Menschen nicht einfach zu vergessen, sondern sich um vernünftige Lösungen zu bemühen. Dafür lohnt es sich auch, in den nächsten Monaten zu arbeiten. ({64}) Viertens. Wir werden moderate Reformen im Bereich des Arbeitsrechts durchführen. Wir müssen immer wieder schauen: Wo sind Hürden, die Menschen den Weg in die Arbeitswelt versperren? Wir müssen lernen, dies möglichst vorurteilsfrei zu betrachten. Deshalb bin ich sehr dankbar dafür, dass es uns gelungen ist, beim Kündigungsschutz die Wartezeit von bis zu 24 Monaten einzuführen, das heißt, Kündigungsschutz gilt dann erst nach 24 Monaten. Ich glaube, dass das für kleine Betriebe bessere Möglichkeiten bietet, Menschen einzustellen und ein Wagnis einzugehen, sodass nicht die Menschen an dieser Stelle sozusagen draußen gelassen werden. ({65}) - Ich höre schon das Gegrummel. - Wir können natürlich so weitermachen. Wir können so tun, als ob bestehende Sicherheiten wirklich Sicherheit bieten. Wir können aber auch einfach einmal fragen, ob wir das, was andere Länder mit guten Erfahrungen machen, nicht auch tun sollten. Wir können doch das, was wir hören, wenn wir bei unserer Abgeordnetentätigkeit im Wahlkreis den Handwerksmeister fragen: „Warum lassen Sie Ihre Leute Überstunden machen? Warum stellen Sie nicht einen zusätzlich ein?“, einfach einmal bedenken und neue Wege gehen. Nach ein paar Jahren können wir schauen, ob es sich bewährt hat oder nicht und ob wir daraus Erfolge machen können. Wir sind das den Menschen in diesem Lande schuldig. Bei über 4 Millionen Arbeitslosen muss man auch einmal neue Wege gehen. Ich zumindest bin davon völlig überzeugt. ({66}) Fünftens. Wir werden den Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs weiterführen. Ich möchte mich hier ausdrücklich dafür bedanken, dass die Wirtschaft, insbesondere das Handwerk und die Kammern, hierzu einen riesigen Beitrag geleistet haben. Wir gehen davon aus, dass wir weiterhin in jedem Jahr 30 000 neue Ausbildungsplätze brauchen. Wir müssen uns auch ganz intensiv der Tatsache annehmen, dass viele junge Leute nicht ausbildungsfähig sind, wenn sie von der Schule kommen. Das erfordert ein enges Zusammenwirken von Bund und Ländern an dieser Stelle; ({67}) denn man kann sich nicht damit abfinden, dass teure Schulausbildung nicht zur Ausbildungsfähigkeit der jungen Menschen führt. ({68}) In der Frage der betrieblichen Bündnisse - jeder weiß, dass wir darüber im Wahlkampf sehr unterschiedlicher Meinung waren und es auch weiter sind; das gehört zur Wahrheit dazu - müssen wir weiterhin schauen, wie wir im Rahmen der Tarifautonomie - ich betone ausdrücklich, dass niemand in dieser Koalition die Tarifautonomie infrage stellt - ein höheres Maß an Flexibilität erreichen. Ich will ausdrücklich sagen: Es geschieht einiges bei den Gewerkschaften. Unser ganzes Tun sollte darauf gerichtet sein, Gewerkschaften zu ermuntern, da, wo das heute noch nicht geschieht, weiterzugehen und mehr Flexibilität zu schaffen. Die Erfahrungen von denen, die das getan haben, sind positiv. Genau dieser Weg muss von uns weiter gegangen werden oder es müssen zunächst Gespräche darüber geführt werden. Die beste Reform des Arbeitsmarkts hilft wenig - auch das wissen wir -, wenn wir uns nicht auf eines besinnen, nämlich auf das, was uns als Land - ich habe das am Anfang gesagt - immer wieder stark gemacht hat: Das sind Bildung und Innovation. Sie sind mehr denn je der Rohstoff unseres Landes, der Rohstoff der Deutschen. Wir wissen: Wir müssen besser sein als andere, und zwar immer so viel besser, wie wir teurer sind. Wir wollen teurer sein, weil wir unseren Wohlstand erhalten wollen. Deshalb ist unser Ziel nicht, im Wettbewerb um die niedrigsten Löhne mitzuhalten; das können wir nicht. Vielmehr müssen wir besser sein als andere und Bildung nach vorn bringen. Herkunft darf in diesem Land nicht die Zukunft der jungen Menschen bestimmen. Das muss unser Anspruch sein. ({69}) Meine Damen und Herren, an guten Traditionen mangelt es nicht, weder bei unserer Schulbildung, wie man an ihrem Ruf erkennt, noch bei der Berufsbildung. Das System der dualen Berufsausbildung ist fast so bedeutend wie „Made in Germany“ bei der Produktherstellung. „Trained in Germany“ könnte wieder ein Markenzeichen von uns werden. Wir wissen aber auch, weil es uns die PISA-Studie vor Augen geführt hat: Wir sind nicht so Spitze, wie wir es eigentlich gerne wären. An der zweiten PISA-Studie zeigt sich allerdings, dass, wenn sich Länder anstrengen - ich nenne als Beispiel das Land Sachsen-Anhalt -, innerhalb von wenigen Jahren ein deutlicher Fortschritt erreicht werden kann. Wir wissen ja an vielen Stellen, wo die Probleme liegen. Es ist wichtig, dass wir die Bildungschancen verbessern. Deshalb hat der Bund einmalig - wir werden das fortsetzen - ein Programm zum Ausbau von Ganztagsschulen aufgelegt, damit wir auch in diesem Bereich besser vorankommen. Ich hoffe, dass das nach der Föderalismusreform von den Ländern in entsprechender Weise fortgesetzt wird. ({70}) Ich sage das mit großem Ernst: Ich glaube, noch nie hat ein Koalitionsvertrag in Deutschland so sehr auf Innovation und Technologiefreundlichkeit in Zukunftsbranchen gesetzt. Die finanzielle Ausstattung für die nächsten Jahre, das Ziel, die Ausgaben für Forschung, Technologie und Entwicklung bis zum Jahr 2010 auf 3 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, wozu der Staat mit 1 Prozent seinen Beitrag leisten wird, zeigt deutlich: Diese Verpflichtung sucht ihresgleichen. Wir werden sie ganz strikt umsetzen. Dabei wollen wir vor allen Dingen darauf achten, dass das Geld in Wissenschaft und Technik sinnvoll eingesetzt wird. Der Staat darf nicht glauben, er wisse selber, was da am besten zu tun sei, sondern wir müssen die Begutachtung durch die Wissenschaftsorganisationen in den Vordergrund rücken. Wir müssen auf die Freiheit der Entwicklungsmöglichkeiten in der Nano-, Bio- und Informationstechnologie setzen. Wir müssen auch auf Leuchtturmprojekte setzen, mit denen wir in der Welt beweisen können, auf welchen Gebieten wir vorne sind. Ich nenne als Beispiele hoch effiziente Kraftwerke, die elektronische Gesundheitskarte, die Weiterentwicklung der Brennstoffzelle und - darüber haben wir lange genug gesprochen - den Aufbau einer Transrapidreferenzstrecke. Es wäre schön, wenn es auch an dieser Stelle weiterginge. ({71}) Wir haben in der Koalitionsvereinbarung auch einige heiße Eisen angepackt. Wir werden noch einmal das Regelwerk für die Grüne Gentechnologie überarbeiten und wir werden bessere Möglichkeiten für unsere chemische Industrie schaffen. Der Herr Bundesumweltminister hatte gestern das Vergnügen, in Brüssel genau darüber zu verhandeln. Wir werden die Initiative „Partner für Innovation“ fortführen. Ich persönlich werde einen Rat für Innovation und Wachstum, über den ich schon vor einigen Monaten gesprochen habe, einrichten, weil ich glaube, dass die Tatsache - dessen muss sich die Politik im gesamten Hause bewusst sein -, dass sich das Wissen auf der Welt innerhalb von vier Jahren verdoppelt, bei uns mental noch nicht ausreichend wahrgenommen wird. Wir alle - das gilt auch für mich persönlich - haben an vielen Stellen Mühe, die technischen Entwicklungen so zu verstehen, dass wir in der Lage wären, zu erkennen, welche rechtlichen Rahmenbedingungen wir schaffen müssen. Wir sollten so ehrlich sein, das zuzugeben, und im Dialog mit den Wissenschaftlern und Entwicklern von diesen lernen. Meine Damen und Herren, wir wissen: Als modernes Industrieland, als Dienstleistungsgesellschaft, als Wissensgesellschaft werden wir nicht bestehen können, wenn wir nicht ein modernes Infrastrukturland sind. Das hat auch etwas mit unseren Verkehrsnetzen zu tun. Wir werden in den nächsten vier Jahren 4,3 Milliarden Euro mehr für Verkehrsinfrastrukturprojekte ausgeben. Wir werden die rechtlichen Rahmenbedingungen ändern. Wir werden nicht nur, wie das in der Vergangenheit der Fall war, das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz für die neuen Bundesländer weiterführen, sondern für ganz Deutschland ein umfassendes Planungsbeschleunigungsgesetz auf den Weg bringen. Das wird schwierige Beratungen erfordern. Aber wenn man sieht, wie europäische Mittel zum Beispiel in Spanien in Windeseile verbaut werden, während wir Menschen um Arbeitschancen bringen, weil wir für bestimmte Infrastrukturprojekte Jahrzehnte brauchen, dann kann ich nur sagen: Wir sind es den Menschen in diesem Lande schuldig, dass wir uns an dieser Stelle anstrengen und schauen, wie wir hier schneller vorankommen können. ({72}) Wir wissen, dass die Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit unseres Landes ohne eine zukunftsweisende Energiepolitik nicht denkbar ist. Wir haben unterschiedliche Auffassungen über die Nutzung der Kernenergie. Aber wir haben uns - das finde ich wichtig - auf eine Gesamtstrategie in der Energiepolitik sowie darauf geeinigt, dass wir uns über den Energiemix Gedanken machen. Das heißt natürlich auch, dass wir ein deutliches Plädoyer für erneuerbare Energien abgeben. Wir werden das Erneuerbare-Energien-Gesetz in der Grundstruktur fortführen, aber wir werden - auch das gehört zur Ehrlichkeit gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern - die wirtschaftliche Effizienz der einzelnen Vergütungen bis 2007 überprüfen. Wir werden schauen, was grundlastfähig ist und wohin das Geld gehen muss. Ich glaube, wir werden das in guter Gemeinsamkeit schaffen. Ziel ist ein energiepolitisches Gesamtkonzept mit einem ausgewogenen Energiemix. ({73}) Ich werde Anfang des Jahres zu einem nationalen Energiegipfel einladen, um einmal alle Beteiligten an einen Tisch zu bekommen. Die Probleme müssen auf den Tisch gelegt werden. Denn wir wissen, es gibt auch unter den verschiedenen Anbietern vielerlei Widersprüche. Wir werden ein sehr anspruchsvolles Programm zur energetischen Gebäudesanierung auflegen. Dieses Programm wird nicht nur der Bauwirtschaft neue Impulse geben - das ist der eine Aspekt -, sondern es wird auch - davon bin ich zutiefst überzeugt - dem einzelnen Bürger deutlich machen, welchen Beitrag er zur verbesserten Effizienz bei der Energieversorgung, also auch bei der Reduktion von Kohlendioxidemissionen, leisten kann. Wir haben uns bis jetzt viel zu viel auf die Industrie konzentriert. Es ist gut, dass wir jetzt auch den privaten Bereich hinzunehmen. ({74}) Wir werden die Regeln für den Emissionshandel überarbeiten. Ich sage ausdrücklich, dass dieser ein gutes Instrument ist. Aber wir werden in der zweiten Phase, also ab 2008, schauen müssen, dass die Anreize für die Modernisierung unseres Kraftwerksparks erhalten bleiben. Wir werden dafür sorgen müssen, dass die energieintensive Industrie nicht aus Deutschland abwandert und dass wirtschaftliches Wachstum weiter möglich ist. Ich werde - das sage ich auch in Richtung des Umweltministers - auf meinen Auslandsreisen sehr bewusst die Klimaschutzprojekte, die nach dem Kiotoprotokoll gerade für die Entwicklungsländer von außerordentlicher Bedeutung sind, als technologisches Know-how der Bundesrepublik Deutschland propagieren. Technologieexport und Klimaschutz liegen heute ganz eng beieinander. Ich glaube, hier können wir unsere Rolle als Exportweltmeister deutlich machen. ({75}) An einer Stelle ist der Knoten im Grunde schon durchgeschlagen worden, bevor die große Koalition ihre Arbeit aufgenommen hat: das ist die Föderalismusreform, also die Neuordnung unseres föderalen Staatsaufbaus, die allerdings noch umgesetzt werden muss. Ich glaube, diese Reform ist zum einen gegenüber unseren Bürgerinnen und Bürgern wichtig. Denn sie können dann wieder besser verstehen, wo die Verantwortlichkeiten liegen, wer für was verantwortlich ist. Sie ist zum anderen aber auch im internationalen Wettbewerb notwendig, um schnellere Entscheidungsmechanismen durchzusetzen. An einem entsprechenden Mangel leiden wir heute. Föderalismus darf keine Bremse, sondern Föderalismus muss ein Mehrgewinn für den Standort Deutschland sein. Genau das wollen wir durchsetzen. ({76}) Wir werden in Absprache mit den Freien Demokraten einen weiteren Schritt gehen. Wir werden im nächsten Jahr prüfen, wie auch die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern grundsätzlich neu geordnet werden können. Denn - auch das gehört zur Wahrheit - eine Föderalismusreform ohne die Neuordnung der Finanzbeziehungen ist zwar ein erster wichtiger, aber noch kein endgültiger Schritt. ({77}) Ich weiß, dass dies schwer ist. Aber lassen Sie uns solche anspruchsvollen Aufgaben angehen. Wir wissen: Ohne einen Fortschritt beim Aufbau Ost wird es kein gesundes Wachstum in ganz Deutschland geben. Wir brauchen dieses Wachstum für das innere Gleichgewicht unseres Landes. Deshalb müssen wir die hohe Arbeitslosigkeit und vor allen Dingen die Abwanderung aus den neuen Bundesländern stoppen und hier das Notwendige tun. Das heißt, wir müssen den neuen Ländern, wo immer es möglich ist - europarechtlich und auf anderen Gebieten -, mehr Freiheiten geben, Freiheiten, um mit den Geldern, die im Zusammenhang mit dem Solidarpakt II zur Verfügung gestellt werden, möglichst viele sinnvolle Investitionen zu tätigen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir auch in den neuen Bundesländern vorankommen. ({78}) Mehr Freiheit möglich machen für neue Gerechtigkeit: All diese Neuausrichtungen vom Arbeitsmarkt bis zum Aufbau Ost gehören zusammen. Sie dienen einem langfristigen Ziel: Wir wollen Deutschland stärken und wieder zum Motor in Europa machen. Die Gestaltung dieses Wandels, den wir dringend brauchen, ist ohne Vertrauen und ohne das Bewusstsein, dass sich die Menschen auf die Politik verlassen können, undenkbar. Deshalb ist einer dieser Vertrauensbeweise gegenüber den Menschen eine solide Finanzpolitik, eine gute, solide Situation bei unseren Staatsfinanzen. Meine Damen und Herren, wir brauchen dazu einen Wandel, einen Kurswechsel in der Haushaltspolitik. Ich sage ganz ausdrücklich: Die Ursachen, die Anfänge dieser Fehlentwicklung liegen weit zurück. Die lassen sich im Übrigen ganz gut bei der ersten großen Koalition verorten. ({79}) - Da können Sie noch klatschen. - Deshalb wäre es schön, wenn die zweite große Koalition diesen Kurswechsel schafft. Wir haben die Weichen dafür sehr gut und entschlossen gestellt. ({80}) Wir brauchen eine langfristige Konsolidierungsstrategie. Dabei hat für uns das Reformieren und Investieren zeitlichen Vorrang. Wir haben die Abfolge der Schritte unseres politischen Handelns sehr gut vereinbart. Am Ende wird aus diesem politischen Konzept ein Dreiklang: sanieren, reformieren, investieren. Wir werden durch einen Zukunftsfonds in Höhe von 25 Milliarden Euro Investitionen in Schwerpunktbereiche über die Legislaturperiode möglich machen. Ich habe den Bereich Mittelstand genannt. Ich nenne weiterhin die Verkehrsinfrastruktur, Forschung und Technologie, die Förderung des Haushalts als Arbeitgeber und die Förderung von Familien. Dies sind fünf Projektbereiche, bei denen die Menschen sehen: Wir können Schwerpunkte setzen; wir sind entschlossen, etwas zu investieren. Aber ohne eine Sanierung der Haushalte kommen wir natürlich nicht zurande. Deshalb umfasst unsere Haushaltskonsolidierung, dass wir einerseits - ich habe darüber gesprochen - die Arbeitsmarktkosten reduzieren. Wir werden die Zuschüsse an die sozialen Sicherungssysteme begrenzen. Dies wird eine schwierige Aufgabe, die nur zu schaffen ist, wenn wir Strukturreformen durchführen. Andererseits wird die öffentliche Verwaltung einen substanziellen Solidarbeitrag dazu leisten. Ich nenne die Größe von 1 Milliarde Euro, die der Bund im öffentlichen Bereich einsparen wird. Wir merken schon jetzt, dass wir über die Details sicherlich noch lange zu diskutieren haben werden. Aber es bleibt die Verpflichtung, 1 Milliarde Euro einzusparen. Auch wir als Politiker werden dazu unseren Beitrag leisten. Wir werden Steuerförderungstatbestände reduzieren; wir haben damit gestern im Kabinett begonnen. Wir werden ab 2007 den Spitzensteuersatz für nicht gewerbliche - ich betone: nicht gewerbliche - sehr hohe Einkommen auf 45 Prozent erhöhen. ({81}) Ich will nicht verhehlen: Die für uns alle schwierigste Entscheidung war die Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes um 3 Prozentpunkte ab 2007. Umso wichtiger ist es, dass zum einen 1 Prozentpunkt für die Senkung der Lohnzusatzkosten eingesetzt wird, um Arbeitsplätze wettbewerbsfähiger zu machen, und dass zum anderen der niedrige Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent für Lebensmittel, den öffentlichen Personennahverkehr und Kulturgüter erhalten bleibt. Auch darüber haben wir uns viele Gedanken gemacht und dann diesen Entschluss gefasst. ({82}) Meine Damen und Herren, ich sage ausdrücklich: Ich und wir alle wissen, dass für viele Menschen die Entscheidung, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, und die weiteren Konsolidierungspläne in Bezug auf unseren Haushalt tief greifende Einschnitte bedeuten. Wir wissen, dass wir den Menschen an dieser Stelle viel abverlangen. Wir wissen auch, dass die Bürgerinnen und Bürger deshalb eine Gegenleistung erwarten können. Diese Gegenleistung liegt für mich auf der Hand: Wenn wir solide Staatsfinanzen schaffen, dann beenden wir das Leben von der Substanz. Zur Generationengerechtigkeit gehört auch, dass wir die Augen nicht davor verschließen dürfen, dass wir mit allen Schulden, die wir neu machen, zukünftigen Generationen Spielräume rauben. Wer ernsthaft von Nachhaltigkeit spricht, muss sich diesem Problem widmen. Das hat nichts damit zu tun, dass wir in Europa einen Stabilitäts- und Wachstumspakt haben, den wir natürlich auch erfüllen wollen. Das hat etwas mit dem moralischen Anspruch unserer Politik, generationengerecht zu sein, und der Ernsthaftigkeit zu tun. Deshalb werden wir das entschlossen umsetzen. ({83}) Deutschland ist Exportweltmeister. Deutschland muss sich, wenn es Exportweltmeister bleiben will, dem freien Welthandel öffnen, auch wenn das in vielen Bereichen schwer fällt. Nach einer Regierungswoche kann ich sagen, dass wir bereits einen ersten Erfolg errungen haben. Wir haben am Beispiel der Zuckermarktordnung innerhalb der Europäischen Union gezeigt - ({84}) - Ja, Frau Künast, das geht auch ohne Sie. ({85}) Es ist sogar so, Frau Künast, dass Herr Sonnleitner dies lobt und es trotzdem gut ist für die WTO-Verhandlung. Das ist das Erstaunliche. ({86}) Wir sind gut vorbereitet auf die WTO-Verhandlung, die wir noch im Dezember zu führen haben. Ich sage ausdrücklich: Ein Gegeneinander von moderner Landwirtschaft und Verbraucherschutz gehört mit dieser Regierung der Vergangenheit an. Das soll unser Markenzeichen sein. ({87}) Unser Motto in Bezug auf den Verbraucherschutz lautet: Null Toleranz gegenüber denjenigen, die das Vertrauen der Verbraucher mit Füßen treten. Deshalb darf uns der Skandal, das Handeln mit verdorbenem Fleisch, so lange nicht ruhen lassen, bis wir an dieser Stelle alle Schwachstellen beseitigt haben. Ansonsten wird es für die deutsche Lebensmittelwirtschaft ganz schwierig. ({88}) Meine Damen und Herren, Sie sehen an all dem, was ich aufgeführt habe, dass wir uns viel vorgenommen haben. Wir sind auch ganz sicher, dass viel möglich ist. Wir haben uns viel vorgenommen, weil wir wissen, dass wir wirtschaftlich wieder stark werden können und dann auch das leben können, was die soziale Marktwirtschaft in unserem Land groß gemacht hat. Dann können wir nämlich den Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital weiter ausgleichen und denen helfen, die sich heute noch auf der Schattenseite des Lebens befinden. Wir können dann aber auch noch etwas anderes schaffen: Wir können wieder ein starker Partner in Europa und in der Welt werden. Deutsche Außen- und Europapolitik gründet sich auf Werte und sie ist Interessenpolitik. Eine Politik in deutschem Interesse setzt auf Bündnisse und Kooperationen mit unseren Partnern. Ich weiß, dass unsere Partner große Erwartungen an uns richten. Das haben ich und auch der Außenminister in den ersten Tagen unserer Tätigkeit bei unseren Besuchen in Paris, Brüssel, London und vielen anderen Ländern der Europäischen Union ganz deutlich gespürt. Die Erwartungen an Deutschland in diesem Bereich sind so immens, weil sich Europa im Augenblick in einer tiefen Krise befindet. Im Kern gründet diese Krise - das ist meine Überzeugung - auf fehlendem gegenseitigen Vertrauen. Es gab schwere Rückschläge bezüglich des Verfassungsvertrages. Hinsichtlich der Finanzen der Europäischen Union gibt es starke Interessenkonflikte zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten. Der Lissabon-Prozess, der Prozess, Europa zum dynamischsten Kontinent der Welt zu machen, ist bei weitem nicht so vorangekommen, wie er hätte vorankommen müssen. Im Fortgang der Erweiterung der Europäischen Union stellen sich drängende Grundsatzfragen: Wie weit reicht Europa? Was ist Sinn und Zweck der europäischen Einigung? Ich glaube, es hat keinen Sinn, um diese Krise herumzureden, auch heute nicht. Es kommt vielmehr darauf an, sie zu meistern. Wir können sie aber nur gemeinsam mit unseren Nachbarn, mit unseren Partnern meistern, und zwar den großen und den kleinen. Ich glaube, dass Deutschlands Aufgabe auch aufgrund seiner geografischen Lage darin bestehen sollte, Mittler und ausgleichender Faktor zu sein. Genau dies werden der Außenminister und ich am Freitag praktizieren, wenn wir nach Polen reisen, zu unserem zweiten großen Nachbarn. ({89}) Ich weiß, dass auf dem Dezembergipfel der Europäischen Union große Aufgaben lasten, dass große Erwartungen daran gestellt werden. Wir werden im Zusammenhang mit der finanziellen Vorausschau natürlich für eine Lösung eintreten, die im gesamteuropäischen Interesse liegt und nicht gleich dem Revisionszwang ausgesetzt ist. Deutschland ist - das sage ich ausdrücklich - zu einem vernünftigen Kompromiss bereit und wird dazu auch seinen Beitrag leisten. Klar ist aber auch, dass wir als neue Bundesregierung die deutschen Interessen mit allem Nachdruck vertreten werden. Das heißt: Eine finanzielle Überforderung kann es angesichts unserer Haushaltslage, angesichts unserer eigenen Probleme nicht geben. Auch das haben wir allen Partnern gesagt. ({90}) Europa hat sich mit den Lissabon-Verabredungen weit reichende Ziele gesetzt. Wir brauchen einen Erfolg und wir brauchen diesen Erfolg, indem wir Reformen durchführen. Hier bündeln sich im Übrigen unsere innenpolitischen Anstrengungen mit dem, was in Europa stattfindet. Ich will ausdrücklich sagen - wir haben das in diesem Hause viel zu wenig beachtet -: Die jetzige Kommission und auch gerade der deutsche Kommissar Günter Verheugen haben in der Europäischen Union etwas gemacht, was es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat - ich sage: eigentlich noch nie -: Sie haben sich Richtlinien angeschaut und haben gefragt: Sind die noch notwendig? Brauchen wir bestimmte neue Projekte oder sind sie für den Lissabon-Prozess, also für eine dynamische Entwicklung, schädlich? Es handelt sich um über 60 Richtlinien, die damit erst einmal vom Tisch sind oder die verändert werden. Ich bin dafür ausgesprochen dankbar. Europa kann nicht bestehen, indem man sagt: Das eine gibt es und dann kommt immer etwas hinzu, geschehe auf der Welt, was es wolle. - Der Schritt, den ich oben beschrieben habe, muss von Deutschland unterstützt werden. ({91}) Wir wollen den Verfassungsvertrag, auch wenn das heute zum Teil illusorisch erscheint, zu einem Erfolg machen. Ohne ein eigenes Selbstverständnis ist Europa nicht möglich. Das ist ein dickes Brett, das zu bohren sein wird. Aber wir haben uns in unserer Koalitionsvereinbarung hierzu ausdrücklich bekannt. ({92}) Europa ist - auch das wissen wir - ohne die Unterstützung und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger nicht möglich. Wir müssen darauf achten, dass die MenBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel schen nicht den Eindruck haben, sie würden überfordert. Deshalb müssen wir ganz besonders Wert darauf legen, dass Staaten, die der Europäischen Union beitreten werden, alle Bedingungen uneingeschränkt erfüllen müssen. Das muss die Voraussetzung sein, wenn wir Erweiterungen der Europäischen Union vornehmen wollen. ({93}) So haben wir es auch in unserer Koalitionsvereinbarung festgelegt: Die am 3. Oktober 2005 aufgenommenen Verhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei mit dem Ziel des Beitritts sind ein Prozess mit offenem Ende, der keinen Automatismus begründet und dessen Ausgang sich nicht im Vorhinein garantieren lässt. Sollte die EU nicht aufnahmefähig oder die Türkei nicht in der Lage sein, alle mit einer Mitgliedschaft verbundenen Verpflichtungen voll und ganz einzuhalten, so muss die Türkei in einer Weise, die ihr privilegiertes Verhältnis zur Europäischen Union weiterentwickelt - das wollen wir alle -, möglichst eng an die europäischen Strukturen gebunden werden. Das ist eine Aufgabe, die sich über die nächsten Jahre erstrecken wird. Wir stehen zu den Vereinbarungen, so wie sie von der Vorgängerregierung getroffen wurden. „Pacta sunt servanda“ muss das Prinzip europäischen Vertrauens sein. Aber dieser Prozess wird mit besonderer Aufmerksamkeit zu beobachten sein. Die Menschen in Europa erwarten von uns natürlich, dass sie auf die bestehenden Herausforderungen eine Antwort bekommen; das sind Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, Bürgerkriege und internationale Kriminalität. Deshalb kann ich mit Blick auf unser politisches Programm sagen, dass die große Koalition an dieser Stelle mehr Gemeinsamkeiten gefunden hat als jede andere denkbare politische Konstellation. ({94}) Das ist nicht in jedem Bereich so. Aber für den Bereich der inneren Sicherheit sage ich das aus voller Überzeugung. Hier haben wir einige Dinge hinbekommen, die ich ausgesprochen wichtig finde: Das Bundeskriminalamt wird zur Abwehr von Terrorgefahren Präventivbefugnisse erhalten. Mit der Kronzeugenregelung verbessern wir den Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Opferschutz geht vor Täterschutz. ({95}) - Es ist ja klar, dass da welche mit den Köpfen schütteln. Trotzdem geht Opferschutz vor Täterschutz. Wir werden das ganz konsequent umsetzen. Deshalb werden wir auch die nachträgliche Sicherungsverwahrung gegen solche Jugendliche einführen, die wegen schwerster Gewalttaten verurteilt worden sind. Man kann da nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern muss sich dem Problem widmen. Das erwarten die Menschen von uns, und das zu Recht. ({96}) Die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit - das spüren wir alle - werden immer fließender. Deshalb brauchen wir eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik innerhalb der Europäischen Union, und das auf der Grundlage einer europäischen Sicherheitsstrategie. Europa muss - danach werden uns die Bürgerinnen und Bürger fragen - sicherheitspolitisch handlungsfähig sein. Das ist kein Ersatz - ich sage das ausdrücklich -, sondern eine Ergänzung des bewährten Bündnisses NATO. Es geht darum, den europäischen Pfeiler der Allianz und damit die Allianz insgesamt zu stärken. Denn die NATO ist und bleibt der stärkste Anker unserer gemeinsamen Sicherheit. Sie ist das strategische Konsultations- und Koordinierungsforum und wo sie das nicht ist, müssen wir, auch wir in Deutschland, einen Beitrag dazu leisten, dass sie es wieder wird. Ich habe das bei meinem Besuch in Brüssel sehr deutlich gemacht. Ich sage auch ganz bewusst: Das ist kein Gegensatz dazu, dass wir ein selbstbewusstes Europa sein wollen. Ein selbstbewusstes Europa muss aber ein starker und vor allen Dingen auch ein einiger Partner sein, wenn es darum geht, die Interessen von Sicherheit, Frieden und Menschenrechten durchzusetzen. Meine Damen und Herren, ich sage deshalb auch: Lassen Sie die Schlachten der Vergangenheit ruhen. Die Schlachten sind geschlagen. Aber für die Zukunft gilt: Die neue Bundesregierung wird sich mit aller Kraft für ein enges, ehrliches, offenes und vertrauensvolles Verhältnis in der transatlantischen Partnerschaft einsetzen. Diese Partnerschaft der Wertegemeinschaft der westlichen Welt ist ein hohes - ich sage: ein kaum zu überschätzendes - Gut. ({97}) Ich glaube, dass wir in diesem Zusammenhang auch darauf vertrauen können - der Bundesaußenminister ist heute aus den Vereinigten Staaten von Amerika zurückgekommen -, dass die amerikanische Regierung die Besorgnis in Europa ernst nimmt und jüngste Berichte zu angeblichen CIA-Gefängnissen und illegalen Flügen, wie auch gegenüber dem Außenminister zugesagt, kurzfristig aufklären wird. ({98}) - Wissen Sie, es ist auch dramatisch, welche Entwicklung Sie genommen haben. ({99}) Meine Damen und Herren, wir fühlen uns im Blick auf die transatlantische Partnerschaft den gleichen Werten verpflichtet - das ist viel in dieser Welt -: Frieden und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit und Toleranz. Anders gesagt: Wir haben das gleiche Verständnis von der Würde des Menschen. Das schweißt uns zusammen und bildet auch das Fundament. Aber zum Selbstverständnis dieser Wertegemeinschaft und zum Selbstverständnis, das wir von uns und anderen Menschen haben, zählt auch, dass wir bei Menschenrechtsverletzungen nicht schweigen, gegenüber niemandem auf der Welt, und seien es noch so hoffnungsvolle Handelspartner und noch so wichtige Staaten für Stabilität und Sicherheit. ({100}) Ich sehe - das sage ich ausdrücklich - zwischen Kooperation, die notwendig ist, und dem Einhalten der Menschenrechte oder dem Benennen dessen, was wir unter Menschenrechten verstehen, keine Kluft, die nicht zu überbrücken wäre. Es geht hier um Ehrlichkeit im Dialog. Das macht Beziehungen nicht unmöglich. So ist jedenfalls meine Erfahrung. Meine Damen und Herren, es ist richtig: Deutschland ist noch nie so sicher und so frei gewesen wie heute. Dennoch - ich habe das am Anfang gesagt - leben wir in einer Welt voller Herausforderungen: Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, zerfallende Staaten, extreme Armut, Epidemien und Umweltzerstörung. All das bedroht unsere Sicherheit und unseren Wohlstand. Wir brauchen deshalb unsere Partnerschaften in der Welt dringender denn je. Ich möchte hier beispielhaft die Partnerschaft zwischen Deutschland und Russland als eine strategische Partnerschaft nennen. Russland ist ein wichtiger Wirtschaftspartner. Aber Russland ist genauso ein Verbündeter im Kampf gegen den internationalen Terrorismus und natürlich als Land für die politische Stabilität Europas unverzichtbar. Wir haben ein ganz besonderes Interesse daran, dass der Modernisierungsprozess in Russland gelingt. Wir werden das in unseren außenpolitischen Kontakten deutlich machen. Meine Damen und Herren, wir werden uns mit Kräften für Frieden und Stabilität im Nahen Osten einsetzen. Wir schauen natürlich mit besonderer Sorge in diesen Tagen auf den Irak, aber genauso auf die Entwicklung im Iran. Trotz der Rückschläge in letzter Zeit wird sich die Bundesregierung weiter im Drei-plus-Eins-Prozess engagieren. Dieser Prozess muss fortgeführt werden. Ich sehe zu ihm keine Alternative. Aber ich kann den Iran nur davor warnen, sich der Kooperation mit der internationalen Staatengemeinschaft und der IAEO zu entziehen. Was gegenüber Israel seitens des Iran gesagt wurde, ist in jeder Hinsicht absolut inakzeptabel. Der Iran muss wissen, dass wir das nicht hinnehmen. ({101}) Deutschland steht zu Israel in einer ganz besonderen Verantwortung. Wir haben in diesem Jahr den 40. Jahrestag der Aufnahme deutsch-israelischer Beziehungen begangen. Für die neue Bundesregierung möchte ich deshalb bei dieser Gelegenheit das Existenzrecht Israels und das Recht seiner Bürgerinnen und Bürger, in sicheren Grenzen frei von Terror, Angst und Gewalt zu leben, ausdrücklich bekräftigen. ({102}) Ebenso bekräftigen möchte ich allerdings das Recht des palästinensischen Volkes auf einen eigenen Staat, ({103}) der Seite an Seite mit Israel in Sicherheit und anerkannten Grenzen lebt. Das wäre auch ein klares Signal gegen Terrorismus. ({104}) Meine Damen und Herren, deutsche Außenpolitik bewährt sich im konkreten Handeln. Auf dem Balkan, in Afghanistan und an vielen anderen Orten tragen deutsche Soldaten, Polizisten, Diplomaten und Entwicklungshelfer unter erheblichen Gefahren zu Frieden und Stabilität bei. Was das im äußersten Fall bedeuten kann, das haben wir gerade wieder in Afghanistan schmerzlich erleben müssen. Deshalb möchte ich all denen, die Deutschland im Ausland vertreten, einen ganz besonderen Dank sagen und eine ganz besondere Anerkennung für ihren mutigen Einsatz aussprechen. Sie sind in verschiedenen Funktionen wichtige Botschafter unseres Landes. ({105}) Meine Damen und Herren, die Bundeswehr ist eine Armee im Einsatz, mit über 6 000 Soldaten auf dem Balkan, in Afghanistan, am Horn von Afrika oder jetzt in humanitärer Mission in Pakistan. Die Bundeswehr kann sich glücklicherweise auf die breite Unterstützung dieser Regierung, des Parlaments und der Gesellschaft verlassen. Die Soldatinnen und Soldaten haben sie auch verdient; denn sie brauchen sie für ihren Einsatz. ({106}) Unser Anspruch, in der Welt mitzusprechen und mitzuentscheiden, und unsere Bereitschaft zum Mitwirken bedingen sich. Die neue Bundesregierung wird darauf achten, dass die Ziele und Fähigkeiten der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik immer in einem Gleichgewicht bleiben. Deshalb werden wir den Umbau der Bundeswehr zu einer Einsatzarmee konsequent fortsetzen. Der Kernauftrag der Bundeswehr aus der Verfassung, die Landesverteidigung, bleibt dabei natürlich unverändert gültig. Wir werden auch an den Beschlüssen zur Struktur und Stationierung der Bundeswehr festhalten. Die Bundesregierung bekennt sich zur allgemeinen Wehrpflicht. ({107}) Sie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten als die für unser Land beste Wehrform erwiesen, gerade auch mit Blick auf die Beziehung zu den Parlamentariern. Ich glaube, dass es an dieser Stelle ganz wichtig ist, eine Bundeswehr zu haben, die sich sicher sein kann, dass sie eine tiefe Verankerung in der deutschen Bevölkerung hat. ({108}) Wir werden Ende nächsten Jahres ein Weißbuch zur Sicherheitspolitik veröffentlichen, erstmals wieder nach mehr als zehn Jahren. Ich denke, dann ist es höchste Zeit, wieder ausführlich über ein solches Grundlagendokument zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Bundeswehr zu diskutieren. Angesichts der Globalisierung nimmt die Bedeutung der internationalen Institutionen zu. Für uns - das ist unser gemeinsames Verständnis - muss die UNO der zentrale Ort der Konfliktlösung werden und dies dann auch bleiben. ({109}) Hier liegt eine wichtige Aufgabe vor uns. Wir werden uns bemühen - ich halte es für ganz wichtig, dass wir das schaffen -, bei der Reform der UNO gemeinsame europäische Positionen durchzusetzen. Wir bleiben bereit, mit der Übernahme eines ständigen Sitzes im Sicherheitsrat mehr Verantwortung zu übernehmen. Ich sage aber ausdrücklich: Die Reform der UNO kann nicht auf die Frage des Sicherheitsrates reduziert werden, ({110}) sondern sie geht weit darüber hinaus. Die Frage, welche Rolle die UNO in den nächsten Jahrzehnten einnimmt, wird von existenzieller strategischer Bedeutung für eine global zusammenwachsende Welt sein. ({111}) Denn, meine Damen und Herren, die Stärkung der internationalen Institutionen ist angesichts der Globalisierung lebensnotwendig. Eine Politik, die den Anspruch erhebt, die Globalisierung zu gestalten - diesen Anspruch müssen wir erheben, auch wenn viele Menschen den Eindruck haben, Politik könne das nicht mehr -, darf nicht über internationale Institutionen hinweggehen, sondern sie muss die internationalen Institutionen dazu befähigen, die Globalisierung auch zu gestalten. Wir sagen: Die soziale Marktwirtschaft hat sich als großer Erfolg für uns alle und als Vorbild für andere erwiesen; das ist ein schöner Satz, aber die Fragen, ob wir das durchsetzen können und in welcher Weise die internationalen Organisationen agieren - ich kann das an der Welthandelsorganisation festmachen -, sind damit nicht beantwortet. Die meisten Menschen haben nicht den Eindruck, dass wir heute über die Möglichkeiten verfügen, weltweit das zu vertreten, was uns an sozialem Ausgleich der freien Wirtschaft - in Form der sozialen Marktwirtschaft - wichtig ist, sondern sie haben Angst, dass davon für sie nichts mehr übrig bleibt. Deshalb ist die Gestaltungskraft von Politik nicht mehr nur national notwendig, sondern auch bei der Ausprägung internationaler Organisationen, und dem wird sich diese Bundesregierung ganz wesentlich verpflichtet fühlen. ({112}) Dieses Wertverständnis von Politik leitet uns natürlich auch bei der Entwicklungszusammenarbeit. Wir wissen, dass uns die Probleme zu Hause erreichen, wenn wir sie nicht woanders lösen. Dafür brauchen wir natürlich Geld. Wir haben uns deshalb dazu verpflichtet, bis 2006 0,33 Prozent, bis 2010 mindestens 0,51 Prozent und bis 2015 die ODA-Quote von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit aufzubringen. ({113}) Ich weiß, was ich da sage. Das sind ganz anspruchsvolle Ziele. Aber wir müssen lernen: Die Probleme ereilen uns im Inland, wenn wir es nicht schaffen, die Probleme anderswo einer Lösung zuzuführen. ({114}) Meine Damen und Herren, aus all dem, was ich gesagt habe, wird deutlich: Wir haben uns viel vorgenommen - weil wir sicher sind, dass vieles möglich ist und weil wir auch wissen, dass viele Menschen vieles erwarten. Diese Koalition will Rituale überwinden und neue Wege aufzeigen. Viele werden sagen: Diese Koalition, die geht ja viele kleine Schritte und nicht den einen großen. Ich erwidere ihnen: Ja, genau so machen wir das. Denn wir glauben, dass auch das ein moderner Ansatz sein kann. Es hat sich herausgestellt, dass die Vernetzung von vielen kleinen Computern, an vielen Stellen, effektiver ist als der eine Großrechner - der Erfolg des Internets beruht auf genau dieser Philosophie. Deshalb werden wir eine Regierung sein, die diese vielen kleinen Schritte ganz bewusst in Angriff nimmt. Wir werden uns nicht drücken vor dem Handeln, wir werden eine Regierung der Taten sein. Wir wissen, dass wir auch Rückschläge werden hinnehmen müssen. Aber wir werden eines zeigen: Wir haben große Möglichkeiten in diesem Land. Deutschland ist voller Chancen, nach innen wie nach außen. ({115}) Fragen wir deshalb nicht zuerst, was nicht geht oder was schon immer so war; fragen wir zuerst, was geht, und suchen wir nach dem, was noch nie so gemacht wurde. Haben wir den Mut, das dann aber auch wirklich durchzusetzen! Überraschen wir uns also damit, was möglich ist, überraschen wir uns damit, was wir können! Stellen wir unter Beweis, dass wir unser Land gemeinsam nach vorn bringen, mit Mut und Menschlichkeit! Denn Deutschland kann mehr und ich bin überzeugt, Deutschland kann es schaffen. Herzlichen Dank. ({116})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich eröffne die Aussprache. Für die Opposition erhält als Erster das Wort der Vorsitzende der FDP, Dr. Guido Westerwelle. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte für die liberale Opposition in diesem Hause zunächst etwas über die beiden schrecklichen Entführungen im Irak sagen. Frau Bundeskanzlerin, ich möchte hier klar erklären, dass wir uns Ihren Äußerungen zu dieser Entführung in vollem Umfange anschließen. Hier stehen wir alle beieinander und zueinander und die Regierung hat das volle Vertrauen auch der Opposition, dass sie hier richtig handelt. ({0}) Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, und den Damen und Herren Ministern gratulieren wir zur Wahl bzw. zur Ernennung. Wir wünschen Ihnen eine glückliche Hand und, weil es um unser Land insgesamt geht, auch viel Erfolg. Wir Freidemokraten werden hier im Deutschen Bundestag eine Opposition sein, die hart in der Sache ist, verbindlich im Umgang und bei den Ergebnissen konstruktiv. Wir kennen unsere Verantwortung; das haben Sie in den jüngsten Gesprächen zur Föderalismusreform gemerkt. Wir Freidemokraten sind hier im Deutschen Bundestag in der Opposition, sind aber in fünf Landesregierungen vertreten. Damit haben die Liberalen im Bundesrat übrigens Einfluss auf genauso viele Stimmen wie der Juniorpartner in dieser Bundesregierung, die Sozialdemokraten. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte mit einem Zitat beginnen: Eine Opposition ist in ihren Qualitäten nicht dann staatserhaltend, wenn sie eine wohlwollende Beurteilung durch die Bundesregierung oder durch ihre Parteien findet. … Die Opposition ist die Begrenzung der Regierungsmacht und die Verhütung ihrer Totalherrschaft. Das waren die Worte des Oppositionsführers Kurt Schumacher am 21. September 1949 im Deutschen Bundestag. ({2}) Was damals galt, bei einer Stimme Mehrheit, das gilt umso mehr bei der Begrenzung der Regierungsmacht einer so genannten großen Koalition. Gerade in Zeiten einer großen Koalition kommt auch auf die Opposition eine besondere Verantwortung zu. Diese werden wir wahrnehmen. ({3}) Die Macht einer Regierung leitet sich nicht von der Zahl der Abgeordneten im Deutschen Bundestag ab. Macht ist in der Demokratie eine Frage des Vertrauens und der Anerkennung durch die Bürgerinnen und Bürger. In punkto Vertrauen und Anerkennung muss sich die so genannte große Koalition ihren Namen erst noch verdienen. ({4}) Ich glaube auch, meine sehr geehrten Damen und Herren, es wird nicht aufgehen, wenn die Bundeskanzlerin aus der Not eine Tugend machen will, nach dem Motto: Zu großen Schritten ist die große Koalition nicht fähig, deswegen sind kleine Schritte in Wahrheit die klügste Lösung. - Das, was Sie machen, bleibt eine Politik der Trippelschritte, ({5}) auch wenn Sie das rhetorisch verbrämen. Das ist in Zeiten der Globalisierung für Deutschland zu wenig. ({6}) Manche Regierungsmitglieder haben darum gebeten, dass der neuen Bundesregierung eine faire Chance zu geben sei. So soll es auch sein. Aber auch eine Schonfrist für die ersten 100 Tage bedeutet nicht, dass sich die Opposition einer Bewertung der Entscheidungen in diesem Zeitraum enthält. Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben mit dieser Regierung eine Chance, wenn Sie Ihren inneren Überzeugungen folgen. Wenn Sie über diese Koalitionsvereinbarung des kleinsten gemeinsamen Nenners nicht hinausgehen, dann wird diese Bundesregierung vor der Geschichte genauso scheitern, wie Rot-Grün gescheitert ist. ({7}) Es reicht nicht aus, hier zu sagen: „Mehr Freiheit wagen!“ Es müssen auch die Taten folgen, ({8}) bei der Gesundheitspolitik, bei der Forschung, bei der Steuerpolitik. Steuern zu erhöhen heißt nicht, mehr Freiheit zu wagen. Steuererhöhungen sind ein Stück mehr Unfreiheit für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. ({9}) Was jetzt nötig ist, das schreibt der Sachverständigenrat in seinem Herbstgutachten von vor wenigen Wochen: Erstens. Die Eingriffe des Staates sollen zugunsten von mehr marktwirtschaftlichen Elementen und von mehr Eigenverantwortung zurückgeführt werden. - Diese Regierung hingegen vertraut auf den teuren und wohlwollenden Staat. Zweitens. Der Staat muss sich auf seine eigentlichen Aufgaben konzentrieren. - Diese Regierung hingegen verwechselt den schlanken noch immer mit dem schwachen Staat. Drittens. Die Konsolidierung der Staatsfinanzen sollte alleine über die Ausgabenseite erfolgen, indem konsumDr. Guido Westerwelle tive Ausgaben gekürzt werden. - Sie hingegen beschließen in diesem Koalitionsvertrag das größte Steuererhöhungsprogramm in der Geschichte unserer Republik. ({10}) Viertens. Die Abgabenlast von Haushalten und Unternehmen darf nicht steigen, sondern sie muss mittelfristig zurückgeführt werden. - Sie hingegen stopfen mit dem Abbau von Steuervergünstigungen die Haushaltslöcher, anstatt die Steuersätze damit zu senken. Fünftens. Die Arbeitsanreize müssen stärker werden. Dies erfordert Änderungen in der Steuer- und Sozialpolitik. - Ihre Regierung hingegen klammert, angefangen bei den betrieblichen Bündnissen bis hin zur Gesundheitsreform, das Entscheidende unverändert aus. ({11}) Auch der ehrliche Hinweis, man sei sich da und dort nicht einig, ändert nichts an Ihrer Verantwortung. Das Eingeständnis einer Regierung, dass sie hier und dort nicht weiterkommt, weil man sich nicht einig ist, ist für die Betroffenen in keiner Weise tröstlich, wenn die Krankenkassen- und Rentenbeiträge weiter steigen, wodurch die Lohnzusatzkosten nach oben gehen, wenn die Steuerlast entsprechend angehoben wird und wenn es keine betrieblichen Bündnisse gibt. Sie sagen, Sie seien sich in der Energiepolitik einig, mit Ausnahme der Kernenergie. Ja, wenn man sich bei der Kernenergie nicht einig ist, dann kann man weiß Gott nicht von Einigkeit im Grundsatz bei der Energiepolitik sprechen. ({12}) Der Bundespräsident hat in seiner ersten Rede in diesem Jahr das Motto „Arbeit hat Vorfahrt“ ausgegeben. Die Koalitionsvereinbarung gibt vielem Vorfahrt - manch Sinnigem und manch Unsinnigem -, nur der Arbeit eben nicht. Durch Steuererhöhungen sowie durch Einmalerlöse wollen Sie von 2006 bis 2009 - an dem, was gedruckt wurde, muss man sie messen - 150 Milliarden Euro mehr einnehmen. Die echten Minderausgaben sollen in diesem Zeitraum aber nur 15 Milliarden Euro betragen. Hier geht es nur noch um die Finanzierung des „Weiter so!“. Wie man bei einer Einnahmeverbesserung von 150 Milliarden Euro und gleichzeitiger Ausgabenkürzung von 15 Milliarden Euro, also bei einem Verhältnis von 10 : 1, von einer sparsamen Regierung reden kann, bleibt das Geheimnis manchen Kommentators. ({13}) Das komplizierte Steuersystem wird nicht vereinfacht. Die Sozialversicherungssysteme werden weder mutig noch grundsätzlich reformiert, stattdessen wird mehr Geld hineingegeben. Die letzte Regierung ist doch nicht an dem gescheitert, was sie getan hat, die letzte Regierung ist zuerst an dem gescheitert, was sie nicht getan hat, an dem Hin und Her und an der eigenen Zögerlichkeit. Das darf sich nicht wiederholen. Deswegen ist es übrigens auch beunruhigend, dass Sie gleich in der ersten Regierungserklärung um Verständnis für das Prinzip Nachbessern und die Trippelschritte bitten. Diese große Koalition ist eine Koalition des kleinsten gemeinsamen Nenners. Der kleinste gemeinsame Nenner regiert Deutschland. Mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner lassen sich in Deutschland aber weder Aufbruchstimmung noch ein Neuanfang bewirken. ({14}) Das, was ich Ihnen hier sage und vortrage, ist ja nicht die Einzelmeinung einer böswilligen Opposition oder von schlecht gelaunten Journalisten. Ich möchte ein paar Zitate in diese Debatte einführen. Erstes Zitat: Mit der großen Koalition kann sich nichts Tiefgreifendes ändern … Das ist völlig ausgeschlossen. Das sagt nicht etwa Herr Kollege Gysi, das sagt Roland Koch. Nächstes Zitat: Deutschland bekommt eine große Koalition, die zur Lösung der jetzigen Aufgaben eigentlich nicht geeignet ist. Das sagt nicht etwa Frau Künast, sondern das sagt Günther Oettinger. Zitat: Es bleibt der Eindruck, dass die Union wenige Tage nach der Wahl das Gegenteil zu allem sagt, was sie früher für richtig gehalten hat … Für die Steuerpolitik können Sie sagen: So viel SPD war nie. Das sagt nicht etwa Hermann Otto Solms, das sagt Friedrich Merz. Den wird man in diesem Hause ja noch zitieren dürfen. ({15}) Sie haben darum gebeten, dass die Regierung eine faire Chance bekommt. Aber auch die Opposition bittet um eine faire Chance, nämlich darum, dass die große Koalition als Regierung nicht gleich auch noch die Aufgaben der Opposition mit erledigen will. Das würde uns nämlich nicht voranbringen. ({16}) Das Wahlergebnis hat zwei zusammengebracht, die nicht zusammenkommen wollten. Aber das allein kann nicht alles rechtfertigen. ({17}) Was vor der Wahl grundfalsch war, kann nach der Wahl nicht grundrichtig sein. Ich zitiere hier den Herrn Kollegen und Vizekanzler Müntefering, der noch im August dieses Jahres wörtlich gesagt hat: So, wie die Wirtschaftslage bei uns ist, ist es ein völlig falscher Weg, den Binnenmarkt durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zu belasten. ({18}) Meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD, im Wahlkampf haben Sie in jeder Stadt Deutschlands ein Plakat aufgehängt, auf dem es hieß: „2 % Merkelsteuer auf alles“. Jetzt kommen nicht nur 2 Prozent MerkelSteuer, sondern obendrauf noch 1 Prozent Münte-Steuer. Das ist die Lage in diesem Lande. ({19}) Es ist nicht einmal politik- oder kompromisstheoretisch nachvollziehbar, wie Sie zu diesem Ergebnis gekommen sind. Wenn man Verträge schließt, ist es normalerweise so, dass man sich dann, wenn der eine die eine Meinung und der andere eine andere Meinung vertritt, in der Mitte trifft. - Nicht so bei der großen Koalition! Die Union sagt: „2 Prozent Mehrwertsteuererhöhung!“, die SPD sagt „Keine Mehrwertsteuererhöhung!“ und dann trifft man sich mutig bei einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozent. Das ist wirklich nur noch peinlich. ({20}) Weil Sie, meine Damen und Herren Kollegen von der SPD, an dieser Stelle mit Fröhlichkeit über Ihre Verlegenheit hinwegtäuschen wollen, möchte ich Ihnen eines sagen: Wenn wir aus Koalitionsverhandlungen nicht mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um 2 Prozent, sondern um gleich 3 Prozent herausgekommen wären, kann ich nur erahnen, welchen Tanz Sie in diesem Haus aufgeführt hätten. Dagegen sind wir richtig zurückhaltend. ({21}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, weil Sie jetzt ebenfalls Ihre Fröhlichkeit entdeckt haben, möchte ich auf Folgendes aufmerksam machen: In der Kabinettsitzung gestern hat man sich auf die Streichung der Eigenheimzulage verständigt. Ich erinnere mich an Debatten in diesem Hause, bei denen wir von der rechten Seite dieses Hauses alle gemeinsam gesagt haben: Ja, die steuerlichen Ausnahmetatbestände müssen gestrichen werden, aber sie dürfen nicht für das Stopfen von Haushaltslöchern verwendet werden, sondern sie müssen in die Senkung der Steuersätze investiert werden, sonst ist das für die Bürgerinnen und Bürger unterm Strich eine fette Steuererhöhung. - Genau das tun Sie jetzt. Nicht Freiheit und Vorfahrt für Arbeit diktieren Ihre Politik, sondern es wird eine Politik nach Kassen- und Haushaltslage gemacht. Weil Sie sich an echte Strukturveränderungen nicht heranwagen und Sie sich nicht einig sind, müssen diese Verträge bei Ihnen zulasten Dritter geschlossen werden, nämlich zulasten der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. ({22}) Übrigens: Ein Musterbeispiel für das, was in Zeiten einer großen Koalition einem Kampf von David gegen Goliath gleicht, war die erste Pressekonferenz nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen. Da stellen sich Bundeskanzlerin und Vizekanzler auf der Bundespressekonferenz hin und erzählen vor einigen Hundert Journalisten, wie stolz sie seien, dass sie sich einig geworden sind. Im selben Atemzug verkünden sie, sie hätten nicht einmal mehr die Absicht, den nächsten Haushalt verfassungskonform aufzustellen, sich also ans Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zu halten. - Dieses Vorhaben ist - Sie müssen schon selber nicken, weil Sie wissen, dass ich Recht habe - Gott sei Dank von vielen Kräften und auch von der Opposition verhindert worden. Jetzt müssen Sie den Weg des Grundgesetzes gehen. Darüber freuen wir uns. Das zeigt auch, dass David im Kampf gegen Goliath nicht machtlos ist. ({23}) Sie sagen, man müsse von den Bürgern viel verlangen. Das ist zwar richtig, aber wenn man Menschen für einen Weg gewinnen will, dann muss die Politik auch mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn man Zivildienstund Wehrdienstleistenden das Weihnachtsgeld in Höhe von 172 Euro streichen will, ({24}) dann passt das nicht mit der Erhöhung der Zahl der Minister und Staatssekretäre zusammen. ({25}) Wenn eine Bundesregierung von allen Deutschen Sparsamkeit verlangt, dann ist eine Regierung mit 70 Mitgliedern überdimensioniert. Ein Ministerium, zwei Bundesminister und drei Parlamentarische Staatssekretäre mehr - wer so handelt und redet, der trinkt selber Wein und predigt der Bevölkerung Wasser. Auch das passt nicht zur Glaubwürdigkeit einer neuen Zeit, die Sie angemahnt haben. ({26}) Wir brauchen eine Politik, die konsequent auf Wachstum und Reformen statt auf ein „Weiter so“ setzt. Wir haben heute in einem Antrag zum wiederholten Male in diesem Hause darauf hingewiesen, dass Steuersenkung und Steuervereinfachung zusammengehören und dass die Finanzierung entsprechender Maßnahmen auch möglich ist. Es war übrigens eben eine drollige Begegnung, als sich die Bundeskanzlerin dankbar an die Herren Ministerpräsidenten gewandt und bemerkt hat, wie schön es doch sei, dass sie auf ihren Anteil an der Mehrwertsteuer verzichtet hätten. Aber der deutschen Öffentlichkeit sei dann auch die komplette Wahrheit genannt: Bei 1 Prozent der Einnahmen verzichten die Länder - pfiffig und auch raffiniert, wie sie sind - auf ihren Anteil; bei den 2 Prozent langen sie natürlich genauso zu. Nicht, dass sich in der deutschen Öffentlichkeit ein falscher Eindruck durchsetzt: Dort auf der Länderbank sitzt nicht Mutter Teresa; die Ministerpräsidenten haben vielmehr ihre Interessen - auch die finanzpolitischen - eiskalt ausverhandelt. Das will ich an dieser Stelle festhalten. ({27}) - An dieser Stelle auch Sie nicht, Herr Platzeck. Die Konjunktur zieht nur dann an, wenn auf dem Arbeitsmarkt positive Signale gesetzt werden. Was Sie für die Probezeit vereinbart haben, ist zu wenig. Wir haben gemeinsam regelmäßig über die betrieblichen Bündnisse und die Notwendigkeit des Aufbruchs der Tarifkartelle gesprochen. Leider haben Sie selber heute eingestanden: Können wir nicht, schaffen wir nicht! Die Reform der sozialen Sicherungssysteme ist nicht nur nötig, sondern auch möglich. Das haben wir gerade heute gesehen, da die Rente zum ersten Mal überhaupt nur noch unter Inanspruchnahme eines Überbrückungsgelds ausgezahlt werden kann. In Wahrheit haben wir bei der Rente noch eine Schwankungsreserve - die eiserne Reserve - von zwei Tagen. Was das Gesundheitswesen angeht, wissen wir, dass die Kassen zum 1. Januar die Beiträge erhöhen wollen. Sie aber sagen uns hier: Wir werden uns im nächsten Jahr mal wegen der Gesundheitspolitik zusammensetzen; das konnten wir gemeinsam leider nicht schaffen. Das ist für Deutschland zu wenig! Sie haben ausgeführt, dass wir eine Qualifizierungsund Technologieoffensive brauchen. Darin unterstützen wir Sie, insbesondere, wenn Sie bei der Biotechnologie Fortschritte erzielen. Auch bei der Grünen Gentechnik werden Sie uns an Ihrer Seite haben. Ich betone auch ausdrücklich: Es ist richtig, dass Sie sich eine neue Allianz der Familien- und Bildungspolitik zum Ziel gesetzt haben. Auch wir sind der Überzeugung, dass die Globalisierung in erster Linie im Wettbewerb der Bildungssysteme entschieden wird. Sie sagten aber auch, wir bräuchten ein anderes Klima in Deutschland, keine Neidgesellschaft; Spitzenleistungen müssten anerkannt werden. Sie haben aber gerade das glatte Gegenteil beschlossen: Nachdem zum 1. Januar der Spitzensteuersatz gesenkt worden ist, wird er jetzt, wenige Monate später, zum Jahresende gleich wieder erhöht. Das Ganze nennen Sie „Erhöhung des Spitzensteuersatzes“. In Wahrheit ist es nichts anderes als die Reichensteuer, wie sie Herr Müntefering mit seiner Heuschreckendebatte in die Diskussion eingeführt hat. Wer eine solche Heuschreckendebatte führt und dann mit einer Reichensteuer darauf antwortet, der sorgt dafür, dass Arbeitsplätze entstehen - in Österreich und anderen Nachbarländern, aber nicht bei uns in Deutschland. Anerkennungskultur heißt auch, Leistungen anzuerkennen, statt sie mit Strafzetteln zu verfolgen. ({28}) Wenn Sie beim Bürokratieabbau vorankommen, werden wir Sie dabei begleiten und unterstützen. Wenn aus dem positiven Ansatz des Elterngeldes nicht neue Schulden, sondern neue Chancen für die Kinder entstehen, werden wir diesen Vorschlag unterstützen. Wir haben in der letzten Legislaturperiode mit 400 Anträgen im Deutschen Bundestag gezeigt, dass wir in der Lage sind, konkrete Einsparungen vorzuschlagen und zu vertreten. Wir haben als Liberale eine besondere Verantwortung bei den Themen Bürgerrechte und Rechtsstaat. Diese dürfen in einer großen Koalition nicht unter die Räder kommen. Wir werden dafür sorgen, dass es einen vernünftigen Ausgleich zwischen Bürgerfreiheit und Bürgersicherheit geben wird. ({29}) Zum Schluss, meine sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Anwesende, Frau Bundeskanzlerin: Wir, CDU/ CSU und FDP, haben am 1. September dieses Jahres, kurz vor der Wahl, beim so genannten Oppositionsgipfel ein gemeinsames Programm vorgelegt. Dieses hatte die Überschrift „Deutschland braucht den Wechsel“ und trägt die Unterschriften von Angela Merkel, Edmund Stoiber und meiner Person. Wir haben damals nicht einen Personalwechsel gemeint, sondern einen Politikwechsel gewollt. ({30}) An einem Politikwechsel werden wir weiter arbeiten. Das heißt, dass Privat vor dem Staat kommt und dass die Freiheit unseren Wohlstand besser sichert als jede ideologische Gleichmacherei. Unsere Alternative in diesem Hause ist, auf die Kraft der Freiheit zu setzen. Frau Merkel, Sie haben in Ihrer Regierungserklärung zu allem ein bisschen und zu jedem etwas gesagt. Aber das ist für Deutschland nicht genug. ({31})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Dr. Peter Struck. ({0})

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, im Namen der SPD-Fraktion gratuliere ich Ihnen zu Ihrer Amtsübernahme und wünsche Ihnen und unserem Land eine erfolgreiche Regierungszeit. ({0}) Ich danke Ihnen, Frau Merkel, auch für die Anerkennung der wichtigen Reformschritte, die Gerhard Schröder eingeleitet hat. Er hat das Land in schwieriger Zeit erfolgreich gelenkt. ({1}) Herr Kollege Kauder, der Beifall in Ihren Reihen, als Frau Merkel Herrn Schröder gelobt hat, war ein bisschen schwach. ({2}) Sie müssen noch einiges lernen. Aber ich gebe zu, dass es auch für uns eine ungewohnte Situation ist, Frau Merkel Beifall zu zollen. Wir werden das im Laufe der Zeit noch lernen. ({3}) Frau Merkel, Ihre Regierungserklärung ist ein solider Grundstock, auf den wir in den nächsten vier Jahren setzen können. Meine Fraktion wird mit dem für Parlamentarier notwendigen Selbstbewusstsein dazu beitragen, dass es vier erfolgreiche Jahre für Deutschland werden. ({4}) Deutschland genießt bei unseren Nachbarn und Partnern hohes Ansehen. Dazu hat Gerhard Schröder entschieden beigetragen. Deutschland ist ein verlässlicher Partner. Als jemand, der zuletzt für einen wichtigen Teil der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik Verantwortung getragen hat, weiß ich, wovon ich rede. In den Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik hat es schon in der Vergangenheit eine große Übereinstimmung zwischen uns gegeben, übrigens auch mit den Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion. Ich denke dabei an die gemeinsame Verantwortung für die Friedenseinsätze der Bundeswehr und - anknüpfend an Ihre Bemerkung, Frau Merkel, und an die des Kollegen Westerwelle - die Hilfen für den Irak, die fortgesetzt werden müssen. Unser Land darf sich einer Erpressung nicht beugen. ({5}) Herr Westerwelle, es war ja zu erwarten, dass Sie gegen die geplante Mehrwertsteuererhöhung argumentieren werden. Ich hätte mir ebenfalls eine andere Lösung gewünscht. Aber Koalitionsverhandlungen sind keine „Wünsch dir was“-Veranstaltungen. Das hätten auch Sie übrigens gemerkt, wenn Sie die Chance gehabt hätten, Koalitionsverhandlungen zu führen. Aber der Wähler hat Ihnen diese Chance nicht gegeben. ({6}) Die Mehrwertsteuer wird erst 2007 erhöht und nicht schon nächstes Jahr, wie im Wahlprogramm der Union angekündigt. Das hat den Vorteil, dass im kommenden Jahr der Aufschwung nicht gestört wird und die eine oder andere Anschaffung vielleicht im kommenden Jahr vorgezogen wird. Die Grundnahrungsmittel bleiben bei der Mehrwertsteuererhöhung außen vor; das sollten wir festhalten. Es bleibt bei 7 Prozent. Es wird keine Erhöhung in diesem Bereich geben. Wir müssen die Handlungsfähigkeit des Staates wiedergewinnen. Dazu muss die Einnahmebasis verbessert werden. Das ist völlig unstrittig. Ein Teil der Mehrwertsteuererhöhung wird natürlich den Bürgern durch die niedrigeren Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zurückgegeben und die Lohnnebenkosten können so gesenkt werden. Seit einer Woche ist die Bundesregierung im Amt. Es ist die zweite große Koalition in der Geschichte unseres Landes. Die zweite nicht nur in zeitlicher Reihenfolge, auch in ihrer Größe lassen die Wähler der Opposition mehr Platz. Bei der ersten großen Koalition gab es mit der FDP-Fraktion eine relativ kleine Opposition. ({7}) Geschichte wiederholt sich nicht. Die große Koalition Merkel/Müntefering lässt sich nicht eins zu eins auf Kiesinger/Brandt übertragen. Dennoch bin ich überzeugt: So wie die erste große Koalition Deutschland gut getan hat, wird dem Land auch die zweite große Koalition gut tun. ({8}) Wir wollen ihren Erfolg, so wie Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt seinerzeit diesen Erfolg wollten. Damals wie heute gilt Willy Brandts Forderung an das Bündnis der Volksparteien: nicht die heiligen Kühe der anderen schlachten, sondern immer den größten gemeinsamen Nenner suchen, weil - so hat Willy Brandt das damals gesagt - die Koalition zum Erfolg werden soll, zum Erfolg werden muss. Die große Koalition ist auch deshalb gut, weil die Reformblockade im Bundesrat aufgelöst wird und Bund und Länder Deutschland endlich gemeinsam reformieren können. Wir wären schon ein gutes Stück weiter, wenn der Bundesrat nicht wichtige Entscheidungen seinerzeit über Jahre hinweg blockiert hätte. ({9}) Aber das ist jetzt Geschichte und jetzt gilt es etwas Gutes aus dieser neuen Konstellation zu machen. Die Voraussetzungen dafür sind jedenfalls gegeben. Der Koalitionsvertrag ist ein Kompromiss, kein fauler, sondern ein fairer Kompromiss. ({10}) Wir alle haben uns zurückgenommen, damit das Land vorankommt. Wir alle sind für den ganzen Koalitionsvertrag verantwortlich. Keiner kann sich nur die Rosinen herauspicken. ({11}) Diese neu gewählte Bundesregierung ist eine Arbeitsregierung, eine Koalition des Machbaren. Das wird schon am Umfang des Koalitionsvertrages deutlich. Von A wie Arbeitsmarktreform bis Z wie Zölle werden die Handlungsfelder beschrieben. Das mag dem einen oder anderen nicht sexy genug sein. Vielleicht wird auch die große Linie vermisst. ({12}) Aber Politik muss immer praktisch und konkret für die Menschen sein. ({13}) Es geht uns in der Koalition darum, die Probleme des Landes zu lösen, den Menschen ein besseres Leben zu bescheren und Deutschland in eine gute Zukunft zu führen. ({14}) Kurz gesagt: Es geht um ehrliche und solide Arbeit, ohne Schnörkel und ohne Schleifchen. Die Umsetzung dieses Koalitionsvertrages verlangt Disziplin und Verlässlichkeit. Die Art und Weise, wie vor allem Frau Merkel und Franz Müntefering den Vertrag ausgearbeitet haben, hat Vertrauen geprägt, das für die nächsten vier Jahre unser Verhältnis bestimmt. ({15}) Die neue Bundesregierung steht vor großen und wichtigen Weichenstellungen für die Entwicklung unseres Landes. Sie kann dabei auf dem Fundament aufbauen, das die alte Bundesregierung unter Bundeskanzler Schröder gelegt hat. Mit der Agenda 2010 wurden wichtige und richtige Entscheidungen getroffen. Daran werden wir in unserer Arbeit anknüpfen. Wir bekennen uns nachdrücklich zur Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe in der Grundsicherung für Arbeitssuchende. ({16}) Alle Arbeitssuchenden erhalten eine Chance. Bislang wurden junge Menschen, die noch nie gearbeitet haben, und Menschen, die sehr lange arbeitslos waren, auf ein Abstellgleis geschoben. Sie bekamen zwar Geld, aber es gab keine Regelung, wie sie wieder Arbeit finden konnten. Seit dem 1. Januar ist das anders. Arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger nehmen wieder an der Arbeitsvermittlung teil. Auch das ist ein Erfolg, der sich sehen lassen kann. ({17}) Es gibt Hilfe aus einer Hand. Mit der Zusammenlegung der sozialen Systeme Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe hat jeder größere Chancen und auch einen neuen persönlichen Ansprechpartner. Arbeitssuchende sind keine Nummern mehr. Es wird sich intensiv um sie gekümmert. Ein Betreuungsschlüssel von 1 : 75 für Jugendliche und junge Erwachsene ist bereits nahezu überall verwirklicht. Das ist auch ein Erfolg der Maßnahmen, die seit 1. Januar dieses Jahres wirken. ({18}) Natürlich ist die Frage der Arbeitsmarktreform heftig umstritten gewesen. Wir haben in den Koalitionsverhandlungen darüber diskutiert. Wir müssen ein solch komplexes und umfangreiches Reformvorhaben flexibel anpassen und verbessern. Daher werden wir verschiedene Maßnahmen optimieren und Missbrauchsmöglichkeiten einschränken. Wir beginnen die Arbeit nicht an einem Nullpunkt. Die SPD-geführte Bundesregierung hat wichtige Impulse für die Reform des Landes gegeben - zusammen mit unserem damaligen Koalitionspartner Die Grünen, dem ich unseren Respekt aussprechen möchte. ({19}) Wir wollen Sie nicht vergessen. Wir werden am Pakt für Ausbildung festhalten und dazu beitragen, dass kein junger Mensch von der Schulbank in die Arbeitslosigkeit fällt. Die neue Bundesregierung wird den Weg beim Abbau von Steuersubventionen und Steuervergünstigungen fortsetzen und darf dabei auch auf die Unterstützung des Bundesrates hoffen. Wir werden die 4 Milliarden Euro für das Ganztagsschulprogramm bis Ende der Legislaturperiode zur Verfügung stellen. ({20}) Auch das Tagesbetreuungsausbaugesetz, abgekürzt TAG - das muss ich erst einmal lernen ({21}) - vielen Dank -, das eine bessere Betreuung der unter dreijährigen Kinder gewährleistet, wird weiterentwickelt. Außerdem halten wir am Ausbau der erneuerbaren Energien fest. ({22}) Wir werden dafür sorgen, dass deren Anteil erhöht wird. Wenn wir das Ziel erreichen, Herr Kollege Kauder, dass bis zum Jahre 2010 der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung bei mindestens 12,5 Prozent liegt, dann brauchen wir uns über die Kernenergie nicht mehr zu streiten und dann können Sie das vergessen, was Sie bisher wollten. Einverstanden? ({23}) Die Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre war erfolgreich. Sie festigt und stützt nachhaltig den Wachstumskurs der deutschen Wirtschaft, die im dritten Quartal 2005 kalenderbereinigt um 1,4 Prozent gewachsen ist. Der deutsche Sachverständigenrat hat die alte Bundesregierung für die wichtigen und weit reichenden Reformen ausdrücklich gelobt. Dazu hat Holger Schmieding, Chefvolkswirt Europa der Bank of America, gesagt: „Die Wirtschaft steht am Anfang eines klassischen Aufschwungs.“ Wir werden diesen Aufschwung befördern, und zwar mit unseren Maßnahmen, die wir in der Koalition vereinbart haben. ({24}) Ein nicht geringer Teil unserer Probleme in der Vergangenheit ist der gegenseitigen Blockade von Bundestag und Bundesrat geschuldet. Ich freue mich, dass Matthias Platzeck da ist, auch wenn er nicht derjenige ist, den ich ansprechen möchte. Die anderen, die damals blockiert haben, sind leider schon weg. Insofern muss ich ihm mitgeben: Sie sind nicht gemeint, Herr Ministerpräsident, wenn ich das sagen darf. ({25}) Unsere Aufgabe wird es sein, die Handlungsfähigkeit des Staates neu sicherzustellen und diesen Missstand zu beseitigen. Es geht darum, Entscheidungen schneller zu treffen und Zuständigkeiten klarer zu regeln. Da sind wir uns mit der Opposition doch einig. Deshalb ist die Reform der föderalen Ordnung nicht nur eine Spielwiese der Verfassungsjuristen, sondern von zentraler Bedeutung für die Handlungsfähigkeit des Staates. Wenn wir die Änderungen bis zur Jahresmitte im Gesetzblatt stehen haben, dann sind wir ein großes und wichtiges Stück weiter, dann können wir auf die Reform der föderalen Ordnung stolz sein. ({26}) Ich habe in den letzten Tagen eine Reihe von Meldungen über die Frage gelesen, wie lange diese Koalition halten soll. Manche fragen sich, ob das Ganze wirklich vier Jahre hält. Dieses Bündnis ist aus meiner Sicht eine ganz solide Sache, eine solide Vereinbarung. ({27}) Wir wollen in dieser Legislaturperiode zusammenarbeiten, und zwar für volle vier Jahre. Dann entscheiden die Wähler neu. Ich jedenfalls werde gemeinsam mit Volker Kauder - wenn der jetzt zuhört; das muss er noch lernen - ({28}) - Ich wiederhole den Beginn meines Satzes: Ich jedenfalls werde in diesen vier Jahren mit Volker Kauder gemeinsam alles tun, um die Koalitionsfraktionen in die Lage zu versetzen, diesem Bündnis zu einem Erfolg zu verhelfen. ({29}) Das heißt, dass die Fraktionen selbstbewusst alles das prüfen werden, was die Regierung vorlegt. Die Regierung weiß das. Dafür ist das Parlament da. Frau Bundeskanzlerin, es ist so, dass nicht alles, was Sie wünschen, vom Parlament auch so beschlossen wird. ({30}) Es gilt nach wie vor das alte strucksche Gesetz: Kein Gesetz kommt so raus, wie es hier reingekommen ist. - Dafür sind wir da. Aber natürlich stehen wir zu unseren Verpflichtungen im Koalitionsvertrag. Mit diesem Koalitionsvertrag haben wir ein gutes Beispiel gegeben. Wir haben uns bewegt. Die Volksparteien sind aus den Gräben herausgekommen. Das reicht aber nicht. Auch die gesellschaftlichen Gruppen, die Verbände, die Arbeitgeber und die Gewerkschaften, müssen aus den Gräben heraus, genauso wie wir aus den Gräben herausgekommen sind. Das Land braucht den offenen Dialog. ({31}) Das Land braucht auch die Bereitschaft, Eigeninteressen hintanzustellen. Die Summierung von Lobbyinteressen macht noch nicht das Gemeinwohlinteresse aus. ({32}) Wir werden und können uns nicht jeder Gruppe mit ihren Wünschen beugen. Jeder muss in diesem Dialog Verantwortung übernehmen. Niemand sollte sich auf die Zuschauerrolle zurückziehen. Wir, SPD, CDU und CSU, können den gesetzlichen Rahmen für mehr Arbeit und Beschäftigung schaffen, aber andere müssen bereit sein, ihn zu nutzen. Wir wollen Fortschritt für unser Land und wir laden alle ein, diesen Weg mit uns zu gehen. Er wird ein Erfolg für Deutschland. ({33})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Gregor Gysi, Fraktion Die Linke, das Wort. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Die Geiselnahme verbietet jede Polemik. Wir alle haben von diesem schrecklichen Ereignis gestern erfahren. Wir drücken unsere Hoffnung aus, dass es Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, und der gesamten Regierung gelingt, wenigstens das Leben dieser beiden zu retten, nachdem im Irak schon so viele sinnlos getötet worden sind. Es wäre ungeheuer wichtig, das Leben unserer Mitbürgerin und ihres Kraftfahrers zu retten. ({0}) Aber natürlich lohnt es sich in diesem Zusammenhang - nicht nur in diesem, sondern auch in jedem anderen -, über Außenpolitik zu streiten, weil es unterschiedliche Ansätze in unserer Gesellschaft gibt. Wir stehen vor der Tatsache, dass die Bundesregierung ihr Verhältnis zum Völkerrecht und zum Krieg klären muss. ({1}) Es ist von den USA - nicht nur von den USA, auch in unserem Land - immer wieder erklärt worden, man müsse einen Krieg gegen den Terror führen. Ich habe festgestellt: Der Krieg, der da geführt wird, egal wo, führt nicht zu weniger Terror, sondern zu mehr Terror. Wir müssen raus aus dieser Spirale der gegenseitigen Gewalt. ({2}) Das Verhältnis der Regierung Schröder/Fischer war diesbezüglich nicht bestimmt, nicht klar. Sie hat das Völkerrecht beim Jugoslawienkrieg verletzt. Sie hat dann beim Irakkrieg auf dem Völkerrecht bestanden. Deshalb sage ich: Wir brauchen hier ein klares Verhältnis. Das muss ein Ja zum Völkerrecht sein; ({3}) denn nur das Völkerrecht kann die Macht der USA in gewissen Grenzen beschneiden, kann die USA einschränken. Wir haben noch einen zweiten Kampf der USA. Wir haben eine Weltwirtschaft. Also gibt es auch eine Weltpolitik. Die Frage ist: Wer macht Weltpolitik, die UNO oder die USA? Das ist die Auseinandersetzung, die gegenwärtig geführt wird. Dazu sage ich: Unsere Regierung - Sie, Frau Bundeskanzlerin - muss sich für die Geltung des Völkerrechts einsetzen. Das bedeutet dann aber auch, dass man in schwierigen Situationen, wie damals in Jugoslawien, zum Bruch des Völkerrechts Nein sagt. ({4}) Die USA negieren das Völkerrecht, wie wir das beim Irakkrieg erlebt haben. Sie haben noch eine andere Schwierigkeit: Das ist ihr eigenes inneres Recht. Das kann auch Präsident Bush nicht so schnell ändern; denn es ist über Jahrzehnte entstanden und gewachsen. Die Gefangenenlager, die sie auf Guantanamo, in Kuba und, wie wir jetzt erfahren, auch in anderen Ländern eingerichtet haben, dienen dem Zweck, ihr eigenes Recht gegenüber den Gefangenen nicht gelten zu lassen. Das ist dreist! ({5}) Dass, wie man jetzt hört, auch deutsche Flughäfen zu diesem Zweck missbraucht worden sind, ist ein starkes Stück. Entschuldigen Sie, dass ich meine Zweifel habe, wenn die Regierung sagt, sie habe davon nichts gewusst. Bei der hohen Sicherheit auf unseren Flughäfen kann ich mir nicht vorstellen, wie so etwas heimlich funktionieren soll, sodass eine Regierung davon nichts erfährt. Aufklärung ist dringend geboten. ({6}) Ich habe gesagt, dass das Völkerrecht auch dazu dient, die Macht der Stärksten zu begrenzen. Wenn das so ist, brauchen wir in dieser Situation gegenüber Präsident Bush starke, klare und deutliche Worte statt Zurückhaltung. ({7}) Nun haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, zusammen mit Herrn Müntefering einen Koalitionsvertrag vorgelegt. Ich glaube, es wird leider eine große Koalition zur Verschärfung statt zur Lösung ökonomischer, arbeitsmarktpolitischer, sozialer und kultureller Probleme in unserer Gesellschaft. Verschärft setzen Sie den falschen Kurs der SPD/Grünen-Regierung fort. ({8}) Sie, Herr Struck, haben eben davon gesprochen, dass es eine erfolgreiche ökonomische Politik gegeben habe. Aber 5 Millionen Arbeitslose sind der Beweis dafür, dass die Politik nicht erfolgreich war. ({9}) Im Mittelpunkt Ihres Koalitionsvertrages steht die Haushaltskonsolidierung, mit der Sie allerdings erst 2007 anfangen wollen, weil Sie hoffen, dass 2006 irgendein Aufschwung kommt, der Ihnen nutzen könnte. Ich glaube, solche Tricks funktionieren im Privatleben nicht und sie funktionieren auch in der Politik und der Gesellschaft nicht. Sie wollen wieder Einsparungen im sozialen und im investiven Bereich vornehmen. Damit sparen Sie die Gesellschaft kaputt. ({10}) Sie haben zu Recht, Frau Bundeskanzlerin, auf die Chancen durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und des Staatssozialismus hingewiesen. Damit waren Chancen verbunden; das stimmt. Aber wir können doch nicht leugnen, dass es Vertreterinnen und Vertreter des Kapitals gibt, die seitdem denken, der Sozialstaatskompromiss sei vorbei und sie könnten schrittweise zurück zum Turbokapitalismus. Dagegen muss sich die Politik doch wehren. Selbst die Union hätte, wie ich meine, sagen müssen: Das Primat der Politik auch über Wirtschaftsinteressen ist und bleibt uns wichtiger. - Erst recht hätte das die Sozialdemokratie sagen müssen. Aber Sie haben es nicht gesagt. ({11}) Welchen Weg ist die vorherige Regierung gegangen? Sie haben die Körperschaftsteuer von 42 Prozent auf 25 Prozent gesenkt. Die Kapitalgesellschaften haben sich wie verrückt gefreut. Natürlich fehlten Milliarden im Haushalt der Bundesrepublik Deutschland. Die drittgrößte Einnahmequelle Deutschlands haben Sie so geschröpft, dass noch zwei Jahre ausgezahlt werden musste. - Das ist übrigens damals auch von der Union kritisiert worden. - Erst danach waren allmählich wieder Einnahmen zu verzeichnen, aber viel schwächer als vorher. Sie haben die Veräußerungsgewinnsteuer abgeschafft. „Veräußerungsgewinnsteuer“ klingt kompliziert. Wenn eine Kapitalgesellschaft etwas verkauft, erzielt sie einen Kaufpreis. Auf dieses Geld muss sie eine Steuer bezahlen - bzw. musste sie unter Kohl. Die SPD hat diese Steuer völlig abgeschafft und dafür die Steuern bei den Handwerkern verdoppelt. Das war ihre ökonomische Politik. Sie haben den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer - ich bitte Sie! - von 53 Prozent auf 42 Prozent, also um 11 Prozentpunkte, gesenkt, so stark wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das sind übrigens 11 Milliarden Euro Einnahmen weniger pro Jahr. Das ist eine ganze Menge, die man da so einfach an die Besser- und Bestverdienenden weggibt. Und was machen Sie dann? Dann stellen Sie sich vor die Kranken, Alten und Arbeitslosen hin und sagen: Es tut uns furchtbar Leid, aber wir haben kein Geld und müssen bei euch sparen. - Das ist unredlich, unfair und nicht solidarisch. ({12}) Auch die Reallöhne sind in Ihrer Regierungszeit gesunken; das muss man ebenfalls sehen. Diese Politik will die neue Regierung nun fortsetzen. Ich weiß, dass auch die FDP Anhänger dieser Politik ist, sogar noch konsequenter als die Regierung. Aber ich glaube, das Ganze geht in eine völlig falsche Richtung. Wir setzen etwas anderes dagegen: Nur steigende Reallöhne, nur mehr soziale Gerechtigkeit führen auch zu einer wirtschaftlichen Belebung; denn unsere Binnennachfrage ist eine Katastrophe und muss gestärkt werden. Dass wir Exportweltmeister sind, nutzt den Arbeitslosen gar nichts. ({13}) Sie haben gesagt, Sie wollen eine Unternehmensteuerreform machen; wir erfahren aber erst 2007, welche. Da darf man ja sehr gespannt sein. Mal sehen, ob Sie die Gewinne, die im Unternehmen bleiben, anders behandeln als die, die herausgenommen werden. Es gäbe da viele Möglichkeiten, was man verbessern könnte. Wir werden es abwarten. Wir begrüßen Ihre neuen Abschreibungsvorstellungen. Sie enthalten etwas Positives. ({14}) - Wir können durchaus lesen. - Ich sage Ihnen aber auch, dass Sie nicht den Mut haben, auch nur von einem Konzern in Deutschland 1 Euro mehr Steuern zu verlangen. Das zeigt das klägliche Verhalten der Politik gegenüber der Wirtschaft. Das ist nicht hinnehmbar. So kommen wir mit dieser Bundesrepublik nicht weiter. ({15}) Es wird immer behauptet, wir hätten die höchsten Quoten. Ich habe mir einmal die Zahlen angesehen. Die Steuerquote im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt beträgt 20 Prozent. Damit liegen wir als eines der wirtschaftlich stärksten Länder auf dem vorletzten Platz in Europa. Geringere Steuern hat nur noch die Slowakei. Dann wird gesagt, man müsse auch die Lohnnebenkosten sehen. Also haben wir sie addiert und landen bei 34,6 Prozent. Damit liegen wir, Frau Bundeskanzlerin, auf Platz 16 nach Griechenland, nach Spanien und nach Großbritannien. Das ist doch ein Skandal. So können wir unsere Probleme nicht lösen. ({16}) Solidarität erfordert auch, dass die mit mehr Eigentum und mehr Vermögen mehr leisten als andere. ({17}) Ich komme zur Vermögensteuer. In Deutschland werden Steuern in Höhe von 0,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf das Vermögen gezahlt. Wissen Sie, was die „Financial Times Deutschland“ geschrieben hat, welche Länder weniger von ihren Reichen verlangen? Mexiko, Tschechien, Slowakei und Österreich. Für mich sind das keine Vorbilder. ({18}) Andere Länder, selbst die USA, verlangen deutlich mehr von ihren Eigentümerinnen und Eigentümern als wir. Hätten wir die Eigentums- und die Vermögensteuern der USA, hätten wir Mehreinnahmen in Höhe von 50 Milliarden Euro im Jahr. Damit könnte man eine ganze Menge anfangen. ({19}) Wie sehen also Ihre Lösungsvorschläge aus? Sie sagen, ab 1. Januar 2007 soll die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht werden. Alle wissen, das belastet die unteren sozialen Schichten und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer viel mehr als andere Schichten. Das ist ökonomisch eine riesige Katastrophe. Ich könnte jetzt alle Argumente der SPD aus dem Wahlkampf wiederholen. Dies war doch Ihr zentrales Wahlkampfthema. Jeder kennt das Plakat, mit dem Sie gegen die „Merkelsteuer“ polemisiert haben. In Bezug auf den gefundenen Kompromiss hat Herr Westerwelle völlig Recht. Ich dachte in meiner Naivität, dass Sie sich in der Mitte, also auf eine Erhöhung um 1 Prozentpunkt, verständigen würden. Nein, Sie erhöhen die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte. Heute sagen Sie sogar, es sei erforderlich und völlig unmöglich, etwas anderes zu tun. Dann sollten Sie wenigstens sagen, dass Sie im Wahlkampf gelogen haben. Denn das ist wirklich ein Wahlbetrug. ({20}) Ich habe mir das einmal angesehen: Wenn wir die Steuerquote und die Lohnnebenkostenquote von Frankreich hätten - dort sind es 10 Prozent mehr als bei uns -, dann hätten wir jährlich Mehreinnahmen in Höhe von 220 Milliarden Euro. Ich bitte Sie, eine Sekunde darüber nachzudenken, dass wir über Nullrunden bei Rente, über Kürzungen bei Arbeitslosen und über Zuzahlungen bei Kranken gar nicht diskutieren müssten, wenn wir diese Art von Steuergerechtigkeit in Deutschland einführten. ({21}) Lassen Sie mich auch etwas zur Arbeitsmarktpolitik sagen. Wir fanden von Anfang an den Weg bezüglich Arbeitslosengeld II und Hartz IV im Kern, abgesehen von ein paar Einzelumständen, für falsch. Wir haben immer gesagt, dass die dahinter stehenden Ideen falsch sind. Ich werde von meinem Beispiel nicht abrücken. Ein Ingenieur, der 50 Jahre alt ist und der 25 Jahre in seinem Beruf gearbeitet hat, bekommt ein Jahr lang Arbeitslosengeld I, das nach seinem Einkommen berechnet wird. Nach diesem Jahr bekommt er nur noch einen lächerlichen Betrag in Höhe des Arbeitslosengeldes II. Aber nicht nur das! Der Gesetzgeber verlangt auch noch, dass sein Sparvermögen, seine Altersversorgung, seine Wohnung und sein Auto nur das Niveau wie bei einem Sozialhilfeempfänger haben dürfen. Wenn er darüber liegt, weil er sich den Lebensstandard eines Ingenieurs aufgebaut hat, bekommt er gar nichts. Das darf man Armut per Gesetz nennen. In einer so reichen Gesellschaft wie der unseren ist das nicht hinnehmbar. ({22}) Gerhard Schröder hat in einem Punkt Recht gehabt. Er hat im Wahlkampf gesagt, dass gerade die Jungen besser gestellt sind. Das stimmte auch. Die Jungen waren besser gestellt. Aber was vereinbaren Sie jetzt miteinander? Sie vereinbaren, die Besserstellung der Jungen wieder zurückzunehmen, indem Sie sagen, dass es keinen Anspruch bis zum 25. Lebensjahr gibt. Ich möchte, dass wir über folgenden Widerspruch nachdenken. Das Grundgesetz regelt die Volljährigkeit. Im Strafrecht ist festgelegt, ab wann man voll strafmündig ist. Das Zivilrecht regelt, ab wann man zivilrechtlich voll belangt werden kann. Dem 24-Jährigen wird also gesagt, dass er voll verantwortlich ist. Aber wenn er arbeitslos wird, soll er zu Mami und Papi gehen, weil er für Sie sozusagen noch minderjährig ist und Sie für seinen Lebensunterhalt nicht aufkommen wollen. Das ist nicht hinnehmbar. Das ist ein Widerspruch in sich. ({23}) Nun haben Sie gesagt, sie wollten beim Arbeitslosengeld II und den übrigen Kosten noch einmal 4 Milliarden Euro einsparen. Folgendes ist ja interessant: Sie haben - das weiß kaum jemand - durch die Bundesagentur für Arbeit eine Art Subventionierung des Bundeshaushalts festgelegt. Sie haben nämlich gesagt: Für all diejenigen, die in dem einen Jahr, in dem sie Arbeitslosengeld I beziehen, nicht vermittelt werden - das sind die meisten -, muss die Bundesagentur 10 000 Euro an den Bund zahlen. Damit kommt er auf eine Einnahme von über 5 Milliarden Euro. Jetzt habe ich gedacht: Da kürzen Sie irgendetwas. Nein, da kürzen Sie natürlich nicht. Auf diese Einnahme bestehen Sie. Aber Sie wollen 4 Milliarden einsparen. Das geht wieder zulasten der Arbeitslosen, zulasten einer, wie ich meine, völlig falschen Gruppe. Deutlich über 90 Prozent unserer Arbeitslosen wollen arbeiten. Dass es einzelne Ausnahmen gibt, braucht mir niemand zu erzählen; das weiß auch ich. Das ist aber nicht unser gesellschaftliches Problem. Unser gesellschaftliches Problem sind diejenigen, die Erwerbsarbeit - auch zur Wahrung ihrer Würde - wollen und keine reale Chance dazu haben. Daran muss sich etwas ändern. ({24}) Jetzt haben Sie noch festgelegt, dass der Rentenbeitrag, der für die Arbeitslosen gezahlt wird, gesenkt wird. Es ist völlig klar: Dann bekommen diese nur Minirenten und wir haben später das Problem der Altersarmut. Das hilft uns doch nicht weiter. Wir verlagern hier ein Problem auf die nächste Generation. Die Rentnerinnen und Rentner sollen jetzt vier Nullrunden durchmachen. Zwei Nullrunden haben sie schon hinter sich. Es gab sogar erstmalig eine Bruttorentenkürzung und dann eine Nettorentenkürzung durch Beitragserhöhungen. Nullrunden bei Mehrwertsteuererhöhungen und anderen Kostensteigerungen sind natürlich in Wirklichkeit Nettorentenkürzungen - und das sechs Jahre lang; das muss man sich einmal überlegen. Dass Sie in einer Gesellschaft, die so reich ist, in den letzten Jahren ihren großen Konzernen sowie den Besser- und Bestverdienenden alle möglichen Geschenke machen konnten, bei den Rentnerinnen und Rentnern aber sagen: „Wir haben kein Geld“, ist nicht hinnehmbar. ({25}) Es soll ja noch die Rentenformel verändert werden und dann wollen Sie das Renteneintrittsalter anheben. Sie wollen das langfristig tun. Sie betonen immer, dass die Menschen älter werden. Das stimmt; den demographischen Faktor sehen auch wir. Warum erwähnen Sie aber nicht einmal, wie sehr die Produktivität gestiegen ist? Daimler-Benz brauchte vor 20 Jahren für einen bestimmten Produktionsgang vier Arbeitskräfte; heute wird dafür nur noch eine Arbeitskraft benötigt. Das heißt, wenn damals vier Arbeitskräfte vier Rentner mit ernähren konnten, müsste das heute angesichts der Produktivitätsentwicklung einer können. Aber die Lohnentwicklung und anderes haben damit nicht Schritt gehalten. Das ist das Problem, mit dem wir es zu tun haben. ({26}) Wir sind die einzige große Industriegesellschaft mit einem Rückgang der Reallöhne um 0,9 Prozent in den letzten Jahren. Ich bitte Sie: Selbst in den USA haben die Reallöhne um 15 Prozent zugenommen. In Großbritannien und in Skandinavien sind sie um über 20 Prozent gestiegen. In anderen Ländern - sie mögen sich ansonsten sehr voneinander unterscheiden - gibt es eine völlig andere Entwicklung als in Deutschland. Sie behaupten aber im Ernst, Sie hätten als Einzige Recht und gingen den wahren Weg. Ich sage Ihnen: Dieser Weg ist auch ökonomisch eine Katastrophe. Ohne eine höhere Kaufkraft und mehr Zuversicht der Bevölkerung wird es keine Rettung für kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland geben. Wir werden vielmehr weiter höchste Insolvenzzahlen haben. ({27}) Nun gibt es ja seit ewigen Zeiten den Streit zwischen Angebot und Nachfrage. Der Linken wird immer vorgeworfen, sie denke nur an die Nachfrage, und wir werfen den Konservativen immer vor, sie würden nur an das Angebot denken. Es hilft nichts: Man muss einfach beides sehen. ({28}) - Nur, Herr Benneter, Ihre liebe Regierung hat über sieben Jahre ausschließlich die Angebotsseite behandelt, statt einmal auch die Nachfrage zu erhöhen, wie es übrigens auch im Interesse der kleinen und mittleren Unternehmen dringend erforderlich gewesen wäre. ({29}) Deshalb sage ich Ihnen: Sie werden sich um die Nachfrageseite in Deutschland kümmern müssen, wenn Sie die Wirtschaft stärken und mehr soziale Gerechtigkeit schaffen wollen. Wir machen das nicht aus rein ideologischen Gründen. Wir denken dabei auch ökonomisch; aber wir wollen natürlich - das ist unser Ziel als demokratische Sozialistinnen und Sozialisten -, dass es den Menschen in dieser Gesellschaft besser geht. Man sollte nicht einerseits Wasser predigen und andererseits Wein trinken. Wir haben gesagt: Wir predigen wenigstens auch Wein. ({30}) Das ist der Unterschied. Wir wollen, dass es den Leuten besser geht. Sie wollen das für viele nicht mehr erreichen. Das ist nicht hinnehmbar. ({31}) Frau Bundeskanzlerin, Sie sind eine Frau. ({32}) - Das ist erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland; das wird man doch wohl mal erwähnen dürfen. - Ich hätte mir von Ihnen zwei, drei lohnende Sätze zur Gleichstellungspolitik in dieser Gesellschaft gewünscht. ({33}) Ich habe nichts dazu gehört; das finde ich schade. Sie kommen aus Ostdeutschland. Da hätte ich mir gewünscht, dass Sie das Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse Ost und West zumindest nicht aufgeben. Das steht aber kein einziges Mal im Koalitionsvertrag und Sie haben es auch kein einziges Mal geäußert. Wenn Sie schon nicht sagen können, wann in Ost und West gleicher Lohn für gleiche Arbeit bezogen wird, dann geben Sie doch nicht auch noch das Ziel auf. ({34}) Wir erwarten von Ihnen zumindest einen Fahrplan, in dem Sie sagen, in welchen Schritten Sie dieses Ziel erreichen wollen. Alle Verteuerungen, zum Beispiel die Erhöhung der Mehrwertsteuer, werden sich im Osten noch verheerender auswirken als im Westen. Das kennen wir von früher. Deshalb muss man darauf hinweisen. Ich glaube auch, dass wir Investitionen brauchen. Sie sprechen gerne vom Zukunftsfonds. Ich sage Ihnen nur: Eine Schummelei geht nicht. Sie können nicht immer mit Jahresbeträgen operieren, aber, wenn es um den Zukunftsfonds geht, von dem Vierjahresbetrag reden. Es geht um 6 Milliarden Euro pro Jahr; das muss man hinzufügen. Dies ist zumeist Geld, das auch sonst ausgegeben worden wäre, mag es auch vernünftige Investitionen darunter geben. Wenn Sie aber in die Verkehrsinfrastruktur investieren wollen, können Sie nicht gleichzeitig die Zuschläge für Bus und Bahn reduzieren. Damit würden Sie nämlich Ihrem eigenen Programm einen Schlag ins Gesicht versetzen. ({35}) Frau

Not found (Kanzler:in)

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

- ein letzter Satz -, Sie sind wohl für längere Zeit einmalig in Ihrem Amt, sowohl als Frau als auch als Ostdeutsche. Das werden wir nach Ihnen so schnell nicht wieder erleben. Irgendwann müssen Sie aber aufhören, entweder freiwillig oder weil Sie müssen. ({0}) Sie sollten sich überlegen, dass es doch dann schön wäre, sagen zu können: Die Gesellschaft ist friedlicher geworden. Die Gleichstellung der Geschlechter ist vorangekommen. Die soziale Gerechtigkeit hat zugenommen. Die Angleichung von Ost an West hat zugenommen. - Wenn Sie all das sagen wollen, müssten Sie allerdings von Ihrem Koalitionsvertrag abgehen und Ihre heutige Regierungserklärung weitgehend vergessen. Da Sie dies wahrscheinlich nicht tun werden, befürchte ich das Gegenteil. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Volker Kauder, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unser Land hat wieder eine handlungsfähige Regierung - das ist eine gute Nachricht für unser Land und für die Menschen ({0}) und Angela Merkel hat als erste Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland das Steuer übernommen. Darüber freuen wir uns als Union ganz besonders. ({1}) Ich gratuliere allen Mitgliedern der Bundesregierung und unserer Bundeskanzlerin. Ich wünsche Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, viel Erfolg und für Ihre Arbeit Gottes Segen. ({2}) Die Herausforderungen, vor denen unser Land steht, sind groß. Die Menschen wissen das. Massenarbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, demographischer Wandel, das fortschreitende Zusammenwachsen der globalen Wirtschaft und die neue Konkurrenz durch dynamisch wachsende und erfolgshungrige Volkswirtschaften in Ostasien haben erhebliche Auswirkungen auf unser Land. Wer sich auf den Erfolgen der Vergangenheit ausruhen will, wird sich gegenüber diesen Entwicklungen nicht behaupten können. Wir hingegen gestalten als Regierungskoalition das Heute, um das Morgen zu gewinnen. ({3}) Bevölkerungsrückgang und Überalterung sind Herausforderungen für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Wenn unsere Systeme der sozialen Sicherung sowohl heute lebenden als auch zukünftigen Generationen eine stabile Perspektive bieten sollen, dann müssen wir jetzt die Weichen richtig stellen. Noch dramatischer stellt sich die Situation der öffentlichen Haushalte dar. Wir spüren, dass die gewaltige Staatsverschuldung der Politik fast den Atem nimmt. Sie beschränkt die Handlungs- und Freiheitsräume kommender Generationen. Ein finanzpolitisches „Weiter so!“ wäre ein Verrat an der Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder. Die Sanierung unserer Staatsfinanzen wird deshalb vordringliche Aufgabe der neuen Regierung sein. Dies ist im Koalitionsvertrag auch ganz klar und deutlich geregelt. Diese Ausgangslage zeigt die schwierige Aufgabe, die vor uns liegt. Aber wir glauben an dieses Land und seine Zukunft. Deutschland hat gute Grundlagen: innovative Unternehmen, eine bedeutende Forschungslandschaft. Das größte Potenzial unseres Landes aber sind die Menschen, gerade die jungen Menschen. Sie müssen durch die Politik dieser Regierung wieder Zukunftsperspektiven erhalten und Zuversicht schöpfen können. ({4}) Manchmal erinnert mich Deutschland an den gefesselten Riesen Gulliver, kraftstrotzend und doch bewegungsunfähig. Wir wollen in dieser Regierungskoalition einen Beitrag dazu leisten, Gulliver zu entfesseln und die in unserem Land steckenden Möglichkeiten zur Entfaltung zu bringen. Wir werden unseren Bürgerinnen und Bürgern neue Chancen eröffnen. Deutschland kann mehr - diese Regierung wird dazu einen Beitrag leisten. ({5}) Viele Menschen machen sich wegen der schwierigen Lage unseres Landes Sorgen - das kann ich gut verstehen. Was Angela Merkel aber heute als Regierungsprogramm vorgestellt hat, vermittelt Zuversicht, Optimismus, Zukunft. Mit Mut und Menschlichkeit stellt sich diese Regierung den Herausforderungen unserer Zeit. ({6}) Wir haben alle Chancen. Wir können immer noch aus eigener Kraft die in unserem Land angelegten Möglichkeiten entfalten, um Wohlstand und Freiheit auch in Zukunft zu sichern und den Menschen wieder eine Perspektive zu geben. Auch wenn es sich bei der großen Koalition um ein Bündnis auf Zeit handelt, geht es uns nicht um eine Politik für den Augenblick. Wenn wir Seifenblase auf Seifenblase aufsteigen ließen, um den Launen der Demoskopie und den Partikularinteressen der Lobbyisten zu gefallen, könnte dies einen Unterhaltungseffekt haben; den Erwartungen unserer Bürgerinnen und Bürger würden wir damit nicht gerecht werden. Verantwortliche Politik heißt, auch über den Tag - über diese Legislaturperiode - hinauszuschauen. Dazu sind wir in dieser großen Koalition bereit. ({7}) Ein Beispiel für diese Politik über den Augenblick hinaus ist die Reform unserer bundesstaatlichen Ordnung. Die Bundeskanzlerin hat es in ihrer Regierungserklärung klar und deutlich gesagt: Wir werden das föderale System erneuern und die Kompetenzen von Bund und Ländern entflechten, klare Verantwortlichkeiten festlegen und das Prinzip der Subsidiarität stärken. Ein weiteres Beispiel ist die Gesundheitspolitik. Union und SPD sind mit unterschiedlichen Konzepten angetreten. Aber beide Seiten eint die Überzeugung, dass unser Gesundheitssystem wieder auf eine tragfähige Basis gestellt werden muss. Deswegen, Herr Kollege Westerwelle, haben wir gerade nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner gesucht, was auch möglich gewesen wäre. Vielmehr wollen wir in den nächsten Wochen und Monaten eine zukunftsfähige Lösung finden. ({8}) Wenn ich an manche Arbeit der vergangenen Regierung denke - das will ich als einzigen Hinweis geben -, dann muss ich sagen: Sich ein bisschen mehr Zeit zu lassen ist besser, als Schnellschüsse zu machen, die man hinterher nachbessern muss. ({9}) Die Gesundheitspolitik ist aber auch, Herr Kollege Struck, ein Beispiel dafür - wir wollen sie ja zur Führungsaufgabe machen, was richtig ist -, dass wir es noch lernen müssen, zunächst intern miteinander zu reden, bevor wir öffentlich Vorschläge machen. ({10}) Wir wollen den Erfolg der Bundesregierung unter Führung von Angela Merkel. Peter Struck und ich werden dazu, zusammen mit unseren Fraktionen im Deutschen Bundestag, den Beitrag leisten, der notwendig ist. ({11}) Die Verhandlungen der letzten Wochen haben gezeigt, dass es trotz politischer Gegnerschaft möglich gewesen ist, für eine Wahlperiode ein Regierungsprogramm aufzustellen. Nach einem harten Wahlkampf ist uns das allen am Anfang nicht leicht gefallen. Aber die Erkenntnis, dass Menschen und Land vor der Parteipolitik rangieren, hat zu diesem Regierungsbündnis geführt. Damit bekennen sich Union und SPD zu ihrer staatspolitischen Verantwortung. Natürlich ist in den letzten Wochen das Verständnis füreinander gewachsen. Das menschlich gute Klima der Verhandlungen ist entscheidende Vertrauensbasis für diese Regierung. ({12}) Aber es gibt nach wie vor Unterschiede zwischen Union und SPD. ({13}) Bei aller guten Zusammenarbeit: Wir bleiben unterschiedliche Parteien und wir bleiben unterschiedliche Fraktionen. ({14}) Die Parteien dieser Koalition haben mit unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Vorstellungen um den Gestaltungsauftrag für unser Land geworben. Trotz konkreter Einigungen und trotz der Koalitionsvereinbarung, die wir getroffen haben, haben wir aber unsere bleibenden Überzeugungen. ({15}) Leitbild der Union ist das christliche Menschenbild. Es ist geprägt durch unverfügbare personale Würde, Freiheitsbegabung, Unvollkommenheit und den Bezug zu einer Gemeinschaft, in der sich das Leben des Einzelnen verwirklicht. Einen bevormundenden Staat, der den Menschen gängelt, seine Entfaltungsräume einengt und in alle Lebensbereiche regelnd eingreift, lehnen wir ab. ({16}) Aus der Unvollkommenheit und Gemeinschaftsbezogenheit des Einzelnen erwächst für uns wiederum die Pflicht, denen zu helfen, die es schwerer im Leben haben. Wir werden die Schwachen nicht allein lassen, sondern ihnen Lebenschancen eröffnen. Das ist unser Verständnis von Solidarität. ({17}) Jeder ist aber auch gefordert, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Wir wollen die Menschen zu Freiheit und Eigenverantwortung ermutigen. Verantwortung für sich und Verantwortung für andere müssen unsere Gesellschaft prägen. Das verlangt von uns allen, nicht nur an die Maximierung des eigenen Vorteils zu denken, sondern auch das Wohl der Allgemeinheit im Blick zu haben. Um eine solche Haltung zu fördern, brauchen wir eine Bildung, die sich nicht verkürzt als Berufsbildung versteht. Im Begriff Bildung steckt das Wort Bild. Damit ist das Menschenbild gemeint, an dem sich alle pädagogischen Anstrengungen orientieren müssen. In einer Zeit zunehmender Beliebigkeit und moralischer Orientierungslosigkeit werden sich CDU und CSU für ein Bildungssystem einsetzen, das auf dem Bild einer verantwortlichen Persönlichkeit beruht und einen Wertekompass vermittelt. ({18}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit ist das zentrale und größte Anliegen der großen Koalition. Daran werden wir gemessen. Massenarbeitslosigkeit steht ebenso für die gesellschaftliche Ausgrenzung des Einzelnen und seiner Familie wie für die Erosion der Finanz- und Sozialsysteme. Das gilt für ganz Deutschland. Das gilt insbesondere aber auch für die Menschen in den neuen Ländern. Deshalb hat der weitere Aufbau Ost für uns eine ganz besondere Bedeutung und ist in der Koalitionsvereinbarung zentral benannt. ({19}) Vorfahrt für Arbeit, Vorfahrt für Rahmenbedingungen, die wirtschaftlichen Aufbruch möglich machen und die Produktivkräfte unseres Landes entfalten, das hat die Union vor der Wahl versprochen und das werden wir jetzt in der großen Koalition umsetzen. Wir begrüßen deshalb ganz besonders die getroffenen Vereinbarungen zur Entlastung des Mittelstandes und zum Abbau bürokratischer Fesseln, die Neuregelung des Kündigungsschutzes und die Vereinbarung zur Verbesserung der Abschreibungsbedingungen vor allem für die mittelständische Wirtschaft. Das alles sind richtige und notwendige Entscheidungen. Ich verhehle nicht, dass wir uns an diesem Punkt - auch die Frau Bundeskanzlerin hat es angesprochen - noch etwas mehr hätten vorstellen können. Vor allem die Absenkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung um zwei volle Prozentpunkte leistet einen wichtigen Beitrag zur Senkung der Lohnzusatzkosten. Wir werden das Ziel, das sich schon viele vorgenommen haben, erreichen, nämlich dass wir bei den Lohnzusatzkosten unter 40 Prozent kommen. Das ist ein Erfolg, den diese Regierung zu verbuchen haben wird. ({20}) Die Politik kann nur Rahmenbedingungen schaffen, um den wirtschaftlichen Aufbruch möglich zu machen, müssen auch andere mithelfen. Ich sage ganz deutlich: Gefordert ist jetzt auch die Wirtschaft. Sie muss die neuen Spielräume nutzen und stärker investieren. Aber auch die Gewerkschaften haben eine Verantwortung, dabei zu helfen, dass wir in unserem Land vorankommen. Grundlage verantwortlicher Politik sind geordnete Staatsfinanzen. Die Lage der öffentlichen Haushalte ist dramatisch. Die Personal- und Zinsausgaben, die Sozialausgaben des Bundes übersteigen in diesem Jahr voraussichtlich die Steuereinnahmen. Wir zahlen also die Zinsen mit neuen Schulden. So darf es nicht weitergehen. Wir können zukünftigen Generationen keine unzumutbaren Belastungen aufbürden und wir dürfen nicht zulassen, dass die Zukunftsperspektiven der zukünftigen Generationen und der jungen Menschen immer mehr verbaut werden. ({21}) Wir haben deshalb vereinbart - dies kann man nicht oft genug sagen -, entschlossen zu sparen und vor allem auch gleichermaßen entschlossen Subventionen abzubauen. Diese Maßnahmen sind für eine nachhaltige Gesundung des Bundeshaushalts unabdingbar. Nachhaltigkeit im Sinne einer Stärkung der Chancen junger Generationen spielt sich vor allem im Bereich der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte ab, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({22}) Wir stehen deshalb fest hinter dem Programm der Bundesregierung, bis zum Jahr 2007 die Haushaltskonsolidierung durchzusetzen. Mit diesen Anstrengungen werden wir 2007 wieder einen verfassungskonformen Haushalt erreichen und auch das Defizitkriterium von Maastricht einhalten. Dies erreichen wir leider nicht allein durch Einsparungen. Das wurde allen Beteiligten in den Koalitionsverhandlungen schnell klar. Aber wir verfolgen ein Ziel, das allen nützt. Wir leisten damit ein Stück Zukunftssicherung im Interesse der Menschen in unserem Land, insbesondere im Interesse der nachwachsenden, jungen Generationen. Die Zukunft unseres Landes, gerade seine wirtschaftliche Zukunft, liegt in den Köpfen unserer Menschen. Nur an der Spitze des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts wird unser rohstoffarmes Land seine Zukunftschancen wahren können. Die Neugier und den Erfindergeist unserer Forscher dürfen wir nicht bürokratisch ersticken. Wir müssen Möglichkeitsräume schaffen, in denen sich wissenschaftliche Spitzenleistungen entfalten können. Vom Erfindungsreichtum und Forschergeist unserer Spitzenwissenschaftler in Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen profitieren wir alle. Die Koalition wird ein Klima schaffen, in dem Spitzenleistungen gedeihen können. Deshalb ist es gut, dass wir uns darauf geeinigt haben, die Mittel für Forschung und Entwicklung deutlich anzuheben. Aber es geht nicht nur um die Spitze. Als Unionsfraktion setzen wir uns auch für die Schaffung von Bedingungen ein, die gerade den Schwachen den Zugang zu qualifizierter Bildung eröffnen. Bildung ist der Schlüssel zu sozialem Aufstieg, zu Wohlstand sowie zu gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe. Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, darf es so nicht weitergehen wie in den letzten Jahren: dass der Bildungserfolg der Kinder immer mehr vom Bildungshintergrund und der sozialen Situation ihrer Eltern abhängt. Das ist ein sozialpolitisches Armutszeugnis und in gleichem Maße eine Verschwendung von Ressourcen. ({23}) Soziale Gerechtigkeit hat viele Fassetten und viele Ausprägungen. Eines ist für mich aber klar: Ein Land ist nur dann wirklich sozial gerecht, wenn der Zugang zu Bildung und sozialem Aufstieg tatsächlich auch Kindern aus einfachen Verhältnissen ermöglicht wird. ({24}) Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, gilt in besonderem Maße für ausländische Zuwanderer und deren Kinder. Bildung eröffnet diesen Menschen Wege aus der gesellschaftlichen Isolierung und ermöglicht Integration. Die zum Teil schon vorhandenen Angebote, etwa im Bereich der Ganztagsschule, müssen ausgebaut werden. Das betrifft ganz besonders den frühen Erwerb von Deutschkenntnissen. Wer die deutsche Sprache bei der Einschulung nicht beherrscht, ist auf dem Weg zum Bildungsverlierer. Die Angebote, die wir machen, müssen genutzt werden. Ich sage ganz deutlich: Es gibt auch eine Verantwortung der Eltern für die Zukunft ihrer Kinder. ({25}) Integration ist keine Einbahnstraße. ({26}) Die Zukunft einer Gesellschaft liegt vor allem in ihren Kindern. In Deutschland aber werden zu wenige Kinder geboren. Wir wollen die Menschen durch eine familienfreundliche Politik wieder ermutigen, ihren Kinderwunsch zu verwirklichen. Die Familie ist der zentrale Ort, an dem heranwachsende junge Menschen Eigenverantwortung und Verantwortung für andere erlernen. Wir werden uns für die Schaffung eines kinderfreundlichen Klimas in unserem Land einsetzen, die Familien schützen und ihre Entfaltungsmöglichkeiten sichern. Wir begreifen Deutschland als Zukunftsgemeinschaft. Keimzelle und Grundlage dieser Zukunftsgemeinschaft sind die Familien. Sie sind nach wie vor die wichtigste Form des Zusammenlebens. Das Füreinandereinstehen in den Familien ist Grundlage für die Solidarität der Zukunftsgemeinschaft. ({27}) Mit dem Koalitionsvertrag stellen wir in diesem Sinn die richtigen Weichen. Deshalb werden wir daran mitwirken, ein qualitätsorientiertes und bedarfsgerechtes Bildungs- und Betreuungsangebot für Kinder aller Altersklassen zu schaffen. Um Familien besser als bisher zu fördern, wollen wir die verschiedenen Leistungen in einer Familienkasse bündeln und damit für mehr Transparenz und Effizienz sorgen. Schließlich ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine unserer großen Zukunftsaufgaben. Viele Unternehmer wissen, welche Vorteile eine größere Familienfreundlichkeit bietet. Familien bringen Gewinn - auch unternehmerischen Gewinn. Ich fordere die Betriebe und Unternehmen deshalb auf, Familienfreundlichkeit zu einem Markenzeichen der deutschen Wirtschaft zu machen. ({28}) Meine Damen und Herren, Reformen im Innern sind Teil unserer Arbeit für Europa; daran hat uns nicht zuletzt der Bundespräsident in den vergangenen Monaten immer wieder erinnert. Sie sind auch die Voraussetzung für das Überleben der sozialen Marktwirtschaft unter den Bedingungen globaler Märkte. Der Markt ist kein Selbstzweck - im Mittelpunkt allen Wirtschaftens steht immer der Mensch. Der Mensch darf nicht zum Objekt werden, aber angesichts der weltwirtschaftlichen Verflechtungen kann dieses Prinzip kein Staat mehr allein garantieren. Daher müssen wir mit unseren internationalen Partnern eine weltwirtschaftliche Rahmenordnung gestalten. Sie muss Freiheit und Eigentum schützen und gleichzeitig den Menschen im Mittelpunkt halten. Auch die globale Wirtschaft braucht moralische Maßstäbe und klare Regeln. Wir werden Sie, Frau Bundeskanzlerin, bei der Gestaltung dieser Aufgabe nach Kräften unterstützen. ({29}) Nach dem Scheitern der Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden müssen wir uns um Europa kümmern - wir können nicht einfach weitermachen, als wäre nichts passiert. Schwärmerische Europaromantik hilft uns dabei aber nicht weiter: Es ist Zeit für eine nüchterne Europapolitik. Wir müssen den Menschen klipp und klar sagen, wohin die Reise geht und - das sage ich auch ganz deutlich - wohin nicht. Wir dürfen nicht länger so tun, als ließen sich permanente Erweiterung und Vertiefung problemlos miteinander vereinbaren. ({30}) Die Menschen haben längst durchschaut, dass es im Gebälk knirscht. Aber der Verfassungsvertrag enthält viele Ansätze, die in die richtige Richtung weisen; deshalb werden wir auch weiter für ihn werben. Wir müssen die Bürokratie in Europa abbauen, anstatt sie auszuweiten. Deshalb begrüße ich, dass die Bundesregierung Richtlinien und Verordnungen eins zu eins umsetzen und nicht wie in der Vergangenheit immer wieder draufsatteln wird. So tragen wir dazu bei, dass sich Europa von der Bürokratie ab- und den Menschen wieder zuwendet. ({31}) Zur Vertrauensbildung nach innen wie nach außen gehört auch, dass wir endlich wieder Wort halten beim europäischen Stabilitätspakt. Wir haben zugesagt, dass wir die Stabilitätskriterien im Jahr 2007 wieder erfüllen werden. Wir werden den Beitrag dazu leisten, dass sich unsere Partner in der Europäischen Union auf dieses Versprechen verlassen können; das wäre auch ein guter Start in die deutsche Ratspräsidentschaft, die wir im ersten Halbjahr 2007 übernehmen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Kauder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert, Fraktion Die Linke.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. - Wir stehen zu Europa, aber Europa ist für uns keine bloße Freihandelszone, sondern immer auch eine Wertegemeinschaft; davon werden wir uns bei allen anstehenden Erweiterungsverhandlungen auch leiten lassen. ({0}) Verlässlichkeit ist das wichtigste Kapital für unsere außenpolitischen Beziehungen. Die beiden wichtigsten Pfeiler unserer Außenpolitik sind die Einbindung in die Europäische Union und die transatlantische Partnerschaft. Europa und die Vereinigten Staaten gehören derselben Wertegemeinschaft an: Uns eint das Streben, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte weltweit zu fördern, und gemeinsam verbunden sind wir auch in unserem Bekenntnis zur Freundschaft mit Israel. Für die Wahrnehmung unserer außenpolitischen Interessen brauchen wir Europa und Amerika. In der Sicherheitspolitik, in Bosnien und Afghanistan, im Nahen Osten und bei der Bekämpfung terroristischer Bedrohungen, beim Klimaschutz, zur Sicherung der Energieversorgung und der Außenwirtschaft und bei den WTO-Verhandlungen ohne Partner kann Deutschland seine weltpolitischen Interessen nicht durchsetzen. Wir, die Unionsfraktion, stehen für verlässliche und stabile Beziehungen zu unseren Partnern. Dass wir heute in Freiheit leben können, verdanken wir auch unseren amerikanischen Freunden. ({1}) Frieden und Freiheit zu erhalten und durchzusetzen, das war schon immer eine unserer Aufgaben. Dafür steht aber auch im 50. Jahr unsere Bundeswehr. Der Dienst der Soldatinnen und Soldaten verdient unseren ganzen Respekt. ({2}) Wir begreifen Deutschland als Zukunftsgemeinschaft. Daher denken wir über den Augenblick hinaus und wollen in den nächsten vier Jahren die Weichen für eine Politik stellen, die auch den kommenden Generationen gerecht wird. Wir werden es nicht allen recht machen können. Aber alle gemeinsam entwickelten Lösungen, auch die, die auf den ersten Blick schmerzhaft sind, sind von der Verantwortung für die langfristige Zukunftsfähigkeit Deutschlands getragen. Wir sind bereit, unseren Beitrag zu leisten. Aber die Politik braucht auch die Unterstützung der Bürger. Durch eine konsequente Politik werden wir um das Vertrauen der Menschen werben. Wir wissen, dass wir uns durch gute und erfolgreiche Arbeit dieses Vertrauen verdienen müssen. Wir brauchen aber auch Menschen - das sage ich mit allem Nachdruck -, die anpacken, die sich beteiligen. Weglaufen ist das Gegenteil davon, Verantwortung für unser Land zu übernehmen. Das gilt im Besonderen für unsere Eliten. Mitmachen heißt das Gebot der Stunde! Wer mitmacht, dient Deutschland. Wer mitmacht, ist ein Patriot. ({3}) Deutschland ist ein großartiges Land mit großartigen Menschen. Wir können aber noch mehr. Bringen wir das Staatsschiff in Fahrt! Die Mannschaft steht bereit. Der Kurs ist klar. Lassen Sie uns gemeinsam die Segel setzen. Wir wollen den Erfolg der Regierung Merkel. Wir wollen den Erfolg dieser Koalition aus CDU/CSU und SPD. Also: Wagen wir es miteinander! ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Ilja Seifert, Fraktion Die Linke.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident! - Der Kollege Kauder hat wiederholt, was schon die Kanzlerin in ihrer Rede sagte und was in der Koalitionsvereinbarung steht, dass Sie nämlich großen Wert darauf legen, EU-Richtlinien eins zu eins umzusetzen. Was bedeutet das genau? Das möchte ich uns einmal vergegenwärtigen: Es geht Ihnen doch um die Antidiskriminierungsrichtlinie und speziell darum, dass nicht draufgesattelt werden darf. Sie müssen, wie ich finde, der Öffentlichkeit dann aber auch sagen, dass Sie wollen, dass Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, Jüdinnen und Juden weiterhin diskriminiert werden dürfen. ({0}) Das ist nicht akzeptabel. Das bedeutet aber eine Umsetzung eins zu eins. Dies wollte ich hier einmal darstellen. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Fritz Kuhn, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Bundeskanzlerin Merkel! Auch wir, die Fraktion der Grünen, denken an diesem Tag an die Geiselnahme im Irak. Wir haben die Hoffnung und die Zuversicht, dass die Bundesregierung jenseits allen Parteienstreits still und geräuschlos das Beste tut, was man in dieser Situation tun kann. Frau Merkel, wenn man Ihre Reden, die Sie in den letzten Jahren, die Sie in Leipzig und im Juli und September hier im Parlament gehalten haben, gehört hat und mit Ihrer Regierungserklärung von heute vergleicht, dann kann man nur sagen: Wie sich die Zeiten ändern. In den vergangenen Reden, die Sie in diesem Hause gehalten haben, haben Sie geschildert, dass wir, wenn sich in Deutschland bei den Steuern, in der Arbeitsmarktpolitik und in allen anderen Bereichen im Kern nicht grundsätzlich etwas ändert, auf einen Abgrund zurasen. Heute stellen Sie sich hier hin, zollen dem Bundeskanzler Respekt für die Agenda, sind für kleine Schritte und sagen, etwas Großes müsse es nicht sein. Sie machen eine Tugend aus den kleinen Schritten. Damit werde Deutschland wieder auf die Beine kommen. Wie haben Sie Ihre Meinung in dieser kurzen Zeit nur so stark ändern können, Frau Merkel, dass die Grundsatzreden Vergangenheit sind und Sie jetzt die Politik der kleinen Schritte gehen wollen? ({0}) Damit wir uns richtig verstehen: Ich habe nichts gegen klug gewählte kleine Schritte. Die Richtung muss aber klar sein. Da ich den Koalitionsvertrag studiert und mir Ihre Regierungserklärung heute angehört habe, kann ich für meine Fraktion feststellen, dass Sie dieser Koalition mit Ihrer Politik für die Bundesrepublik Deutschland keine Richtung haben geben können. ({1}) Das waren Häppchen für jeden, der vorbeikommt. Am Schluss weiß man nicht, was es Gescheites zum Essen geben soll. Ihre Rede war eine Aneinanderreihung von einzelnen Punkten. Ich möchte darauf eingehen, was aus unserer Sicht unzureichend war. Erstens zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Wir wollen einmal festhalten, dass Sie in Ihrer Regierungserklärung und im Koalitionsvertrag eine sehr riskante Wette auf die konjunkturelle Entwicklung in Deutschland eingegangen sind. Sie sagen, dass die Angst vor den einschneidenden Maßnahmen und vor der Steuererhöhung zum 1. Januar 2007 die Menschen im Land so beeindrucken wird, dass sie im Jahre 2006 vehement konsumieren werden, womit die Konjunkturprobleme der Bundesrepublik Deutschland gelöst werden. Dies halte ich für zu riskant und auch für falsch; denn Sie haben keinen vernünftigen Grund dafür genannt, warum Menschen, die vor dem sozialen Abstieg Angst haben, in diesem Jahr mehr ausgeben sollen. Nur weil es im nächsten Jahr noch schlimmer kommen wird, ist kein vernünftiger Grund. Sie sind eine richtig riskante Ökonomiewette eingegangen. ({2}) Es gibt historische Beispiele: Japan hat es im Jahre 1979 zum Beispiel genauso gemacht. Die damalige Umsatzsteuererhöhung hat zu einer langjährigen konjunkturellen Krise geführt, von der man sich nicht mehr erholt hat. Zweitens. Wir glauben auch nicht, dass Ihre Ansage, die Lohnnebenkosten würden unter 40 Prozent sinken, wirklich stimmt. ({3}) Wenn Sie sie um 2 Prozent senken können, werden wir bei 40,3 Prozent sein; denn die Arbeitnehmer tragen die 0,9 Prozentpunkte in der Krankenversicherung seit diesem Jahr alleine. Sie wollen die versicherungsfremden Leistungen wieder in die gesetzliche Krankenversicherung hineinnehmen. Ich glaube nicht, dass Sie das einsparen können. Dadurch werden die Lohnnebenkosten bei der gesetzlichen Krankenversicherung wieder um 0,5 Prozent steigen. Das heißt: Sie senken auf der einen Seite und sorgen für Anstiege auf der anderen Seite. Deswegen kann dieses Rezept nach unserer Überzeugung nicht aufgehen. ({4}) Frau Merkel, Sie haben immer wieder versucht - ich finde richtig, dass Sie das tun -, über die Wertehaltung Ihrer Politik zu sprechen. Sie haben die Freiheit in den Vordergrund gerückt und auch von Gerechtigkeit gesprochen. Ich will das gerne aufnehmen, weil wir uns in solchen Debatten darüber auseinander setzen müssen. Zunächst will ich sagen: Wer hier das Wort Freiheit in den Mund nimmt, der darf zu den Bürgerrechten nicht schweigen, wie Sie das getan haben. ({5}) Freiheit hat nur dann einen Sinn, wenn die Bürger auch genügend Rechte und Möglichkeiten haben, ihre Freiheit gegenüber dem Staat zu verwirklichen. Wir dürfen nicht nur abstrakt über Freiheit reden, sondern wir müssen auch über die Frage sprechen, ob jeder Einzelne die Möglichkeit hat, seine Selbstbestimmung, die angewandte Freiheit, auch in Anspruch zu nehmen. ({6}) Als Aufgabe der Politik sehe ich es an, dass sie diese Möglichkeit schaffen muss. Sie tun es an keiner Stelle. Ich will Ihnen ein Beispiel für die Freiheit aus der Wirtschaft nennen, die Sie nur mit Entbürokratisierung identifiziert haben. Zu einem freien Wirtschaften in diesem Land gehört, dass wir in Deutschland einen echten Wettbewerb haben. Dann müssen Sie aber einmal sagen, was Sie tun wollen, damit in wirklich allen Bereichen unserer Wirtschaft echte Märkte und nicht nur Monopole oder Oligopole herrschen. Dazu haben Sie kein Wort gesagt, obwohl Sie in den Grundsatzreden immer über Ludwig Erhard und die Ordnungspolitik in der Marktwirtschaft reden. Sie hätten dann auch etwas zur Stromwirtschaft sagen müssen, die durch überhöhte Durchleitungsgebühren alles andere als Wettbewerb in diesem Land möglich macht. ({7}) Daneben hätten Sie auch etwas zum Schienenverkehr sagen müssen. Es geht ja gerade darum, die Bahnreform so zu vollenden, dass alle Zugang zum Netz haben und ein echter Wettbewerb entsteht. Schließlich hätten Sie dann auch etwas zum Wettbewerb im Gesundheitssystem sagen müssen, der nur dann zu realisieren ist, wenn wir energisch gegen die Lobbys kämpfen, die sich am Gesundheitssystem einen dicken Hals verdienen können. ({8}) Ich bin schon jetzt gespannt, was Michael Glos - er hat sich irrtümlicherweise ja auch in die Tradition von Ludwig Erhard stellen lassen - im Hinblick auf den Wettbewerb im Mediensektor tun wird, der nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine Kernfrage der Demokratie ist. Ein echter Wettbewerb im Mediensektor ist nämlich das Gefäß, innerhalb dessen sich eine demokratische Meinungsbildung entfalten kann. ({9}) Hier darf man nicht vorschnell vor denjenigen in die Knie gehen, die im Wahlkampf für eine gute Presse gesorgt oder der Partei Geld gespendet haben, sondern es muss für alle Teilnehmer des Marktes Wettbewerb hergestellt werden. Das ist die Realisierung von Freiheit, über die wir sprechen müssen. ({10}) Kommen wir zu den Stichworten Freiheit und Gerechtigkeit. Frau Merkel, ich finde, Sie haben zum Thema der sozialen Spaltung in unserer Gesellschaft zu wenig gesagt. Längst existiert das Problem in unserer Gesellschaft, dass sich ein Teil der Menschen systematisch ausgegrenzt fühlt und keine Chance mehr sieht, wieder in Erwerbsarbeit oder in eine Weiter- oder Fortbildung zu kommen, also am gesellschaftlichen Geschehen teilzuhaben. Es reicht nicht, von hier aus zu erklären, liebe Frau Merkel, dass Sie Ihr Herz für die Schwachen entdeckt haben. Für diese abstrakte Formulierung werden Sie von jedem in diesem Haus Unterstützung bekommen. Aber die Frage ist, was das konkret heißt, welche neuen Formen der Armutssicherung Sie anstreben. Das ist die spannende Frage. Wie kann die Grundsicherung in einer Gesellschaft aussehen, die in den letzten Jahren Produktivitätsgewinne nicht mehr in neue Arbeitsplätze investiert hat? Hier wird jetzt ein anderer Weg gegangen. Ich nenne Ihnen ein konkretes Beispiel. Ein Problem ist, dass viele Dauerarbeitslose nicht sehen, wie sie wieder in Erwerbsarbeit kommen, weil aufgrund der niedrigen Löhne die Zugangsbarrieren zum Arbeitsmarkt zu hoch sind. In diesem Punkt sind wir uns einig. Unter dem Stichwort „Ein Herz für Schwache“ erklären Sie: Wir müssen einmal über Kombilöhne diskutieren. Wo leben Sie denn eigentlich? Wie lange diskutieren und experimentieren wir in der Bundesrepublik Deutschland bereits über und mit Kombilöhnen? Wir müssen die Lohnnebenkosten im Bereich der unteren Einkommensgruppen, also für Niedrigqualifizierte, nach einem Progressivmodell senken. Es wäre viel klüger, bei den Lohnnebenkosten langsam auf die Zahl von 40 Prozent zu kommen und damit die Arbeit für Menschen mit niedriger Qualifikation zu ermöglichen und vor allem die vielen Dienstleistungsarbeitsplätze zu schaffen, die in Deutschland existieren würden, wenn die Zugangsbarrieren zu diesem Arbeitsmarkt nicht so hoch wären. ({11}) Sie haben auch von Vertrauen gesprochen. In diesem Zusammenhang will ich ein Thema ansprechen, dass Sie nicht erwähnt haben, nämlich den Verbraucherschutz. Wir sagen klar, Herr Seehofer: Wir wollen in Deutschland kein stinkendes Fleisch. ({12}) Dafür müssen wir etwas tun. Wir müssen die Kontrollen in den Ländern verstärken. Wir müssen die wirtschaftliche Selbstkontrolle ausbauen. Wir brauchen ein klares Verbraucherinformationsgesetz, das es ermöglicht, Ross und Reiter zu nennen, wenn jemand solche Produkte auf den Markt bringt oder sie annimmt und weiterverkauft. ({13}) Ich frage Herrn Seehofer und Frau Merkel: Warum haben Sie unseren Gesetzentwurf im Bundesrat zweimal blockiert, der dies möglich gemacht hätte? ({14}) Ich komme zu dem Punkt, der mich in Ihren Ausführungen am meisten gestört hat. Sie haben beim Innovationsprozess keine Richtung vorgegeben. Sie haben zum Beispiel eine Strategie zum Klimaschutz, die wir mit dem Stichwort „Weg vom Öl“ zusammenfassen, gar nicht erwähnt. Das ist nicht nur eine ökologische, sondern auch eine wirtschaftliche Strategie, um von den idiotisch hohen Ölkosten wegzukommen. Das ist auch eine Strategie zur Sicherheitspolitik; denn Öl ist ein international umkämpfter Rohstoff. Dazu hätte ich gerne etwas von Ihnen gehört. Ich hätte gerne gewusst, wie es in der Energiepolitik über das Erreichte hinaus weitergeht. Ich hätte auch gerne gehört, welche neuen Konzepte Sie in der Verkehrspolitik haben. Ich sage Ihnen klipp und klar: Wenn wir nicht auch der Automobilindustrie in Deutschland klare Rahmenbedingungen setzen, dann wird dieser Industriezweig seinen Beitrag zum Klimaschutz und zum Thema „Weg vom Öl“ nicht von selber leisten. Beim Thema Rußfilter haben wir das Versagen der Industrie in den letzten Jahren erleben können. ({15}) Ich möchte nicht, dass uns beim Thema Verbrauchsobergrenzen für Kraftstoffverbrauch die Japaner, die gesetzliche Regelungen planen, und einige Bundesstaaten der Vereinigten Staaten, die diesen Weg gehen, technologisch den Rang ablaufen, weil die Politik in Deutschland zu wenig Druck macht. Hierzu hätten Sie sich deutlich äußern müssen. Herr Umweltminister Gabriel, wir als Grüne - Frau Merkel hat das Thema Ökologie gar nicht in den Mund genommen - werden Sie immer unterstützen, ({16}) wenn Sie etwas ökologisch Vernünftiges machen. Aber eines ist auch klar: Wenn Sie unter dem Deckmantel der Ökologie hinter bisher Erreichtes zurückfallen, dann werden wir Sie in diesem Haus grillen wie eine Ökobratwurst, Herr Gabriel; darauf können Sie sich verlassen. ({17}) - Sie müssen gar nicht aufstöhnen. Die Ökologen gehen mit Ökobratwurst behutsam um; vor allem stechen sie nicht hinein. Also keine Sorge. Jetzt komme ich zu einem Punkt, den auch Frau Merkel ins Zentrum gerückt hat, nämlich die Wissensgesellschaft und Bildung. Ich stelle die These auf, dass Sie keine Konzeption entwickelt haben, wie Deutschland den Übergang zur Wissensgesellschaft konkret leisten soll. Vorgesehen sind viele einzelne Schritte. Aber es ist doch klar, dass die Innovationsschwäche Deutschlands - beim PISA-Test angefangen bis hin zur Forschung und der Tatsache, dass wir zwar noch bestimmte Produkte entwickeln, aber nicht bis zur Marktfähigkeit realisieren - damit zu tun hat, dass wir zu wenig für Forschung, Wissen und Ausbildung - und zwar für die gesamte Ausbildungskette von den Kindern bis zur Hochschule - tun. Der Kardinalfehler dieses Koalitionsvertrags und Ihrer Regierungserklärung liegt darin, dass Sie zu dem Zeitpunkt, zu dem der Bund den Übergang zur Wissensgesellschaft auf allen Ebenen der Bildungs- und Forschungskette aktiv gestalten müsste, die Instrumente systematisch aus der Hand geben, indem Sie sie den Ländern in der Hoffnung übertragen, dass diese es vielleicht richten werden. ({18}) Wenn sie es aber nicht richten werden - es spricht viel dafür, dass 16 verschiedene Bundesländer nicht alles richten können -, dann fehlt die Koordination des Bundes. Dann fehlen auch die Möglichkeiten des Bundes, im Schulbereich einzugreifen und bei der Kinderbetreuung mehr zu tun. Zudem haben wir in allen Fragen, die die Hochschulen angehen, in Zukunft nur noch Bonsai-Kompetenzen. Das halten wir vom Bündnis 90/Die Grünen für völlig falsch. Wir wollen eine Bundesregierung, die die Wissensgesellschaft aktiv gestaltet. An der Stelle haben Sie nach unserer Überzeugung völlig versagt. ({19}) Über das Elterngeld können wir gerne reden, liebe Frau Merkel. Reden Sie doch auch einmal mit denen, die meinen, Sie wollten die Kinder nur verschieben! Entscheidend ist nämlich, dass die Betreuung von Kindern unter drei Jahren noch immer so schlecht ist, dass Beruf und Familie nicht miteinander vereinbar sind. ({20}) Insofern meine ich, dass Sie den zweiten Schritt - die Einführung des Elterngelds - vor dem ersten Schritt einer besseren Ausstattung hinsichtlich der Betreuungsplätze gehen wollen und damit eine falsche Reihenfolge vorsehen. Wenn wir 2008 feststellen, dass ein gesetzlicher Zwang zu einem Betreuungsangebot für Kinder unter drei Jahren notwendig ist, dann ist das Elterngeld schon auf dem Weg. Viele werden die neuen Möglichkeiten gar nicht nutzen können, weil es immer noch an entsprechenden Betreuungsangeboten fehlt. Wir werden den Prozess offen und kritisch begleiten, damit es auch in diesem Punkt in Deutschland vernünftig weitergeht. Ich möchte noch einige Anmerkungen zur Außenpolitik machen. Sie haben zu Recht über die Schwierigkeiten Europas gesprochen. Die europäische Verfassung, der Verfassungsprozess, die Integration und die Einigung durchlaufen viele Krisen. Das hat mit der Erweiterung, den Institutionen und dem Vertrauen der Bürger zu tun. Aber Sie haben zu meinem Erstaunen einen Punkt nicht angesprochen, nämlich die soziale Fragestellung. Die Botschaft der Referenden in Frankreich und Holland besteht für uns darin, dass die Bürgerinnen und Bürger die Vorstellung und das Gefühl haben, die europäische Einigung und der Erweiterungsprozess sind ein Projekt politischer und wirtschaftlicher Eliten. Wenn das Vertrauen zu Europa wachsen soll, ist die soziale Vertiefung Europas notwendig. Zu diesem Prozess haben Sie aber keine einzige Aussage gemacht. Das Thema wird aber zum Beispiel bei der Frage, wie es mit der Dienstleistungsrichtlinie weitergehen soll, wieder auf die Tagesordnung kommen. Sie können sich darauf verlassen, dass die Grünen das immer wieder ansprechen werden. ({21}) Wenn Sie am Freitag nach Polen fahren, Frau Merkel, und wenn Sie das Weimarer Dreieck stärken und die deutsch-polnischen Beziehungen verbessern wollen, dann können Sie nach unserer Überzeugung mit dem Wischiwaschi und dem Hin und Her, wie Sie es in Ihrer Regierungserklärung zum Thema Vertriebenenzentrum an den Tag gelegt haben, nicht weiterkommen. ({22}) Wenn Sie in Polen mit polnischen Bürgerinnen und Bürgern sprechen, dann werden Sie feststellen, dass der Vorschlag, in Berlin ein Vertriebenenzentrum einzurichten, wie er aus Ihrer Fraktion von Frau Steinbach vertreten wurde, die erste und größte Hürde für ein besseres wechselseitiges Verständnis bedeutet. Diese Hürde müssen Sie wegräumen. Machen Sie sich den Gedanken eines europäischen Netzwerkes für ein Vertriebenengedenken zur Erinnerung an die Vertreibungen zu Eigen! Machen Sie es sich nicht so einfach, dass Sie in diesem Hause einen Kompromiss vertreten, in Polen vielleicht etwas anderes sagen und beim Bund der Vertriebenen dann wieder Frau Steinbach hochleben lassen! Sie müssen klar und deutlich sprechen. Alles andere hilft dabei nicht weiter. ({23}) Für eine klare und deutliche Sprache sind wir, Bündnis 90/Die Grünen, auch bei dem von Ihnen neu zu gestaltenden Verhältnis zu den Amerikanern. Damit Sie sich nicht täuschen: Wir sind dafür, dass Sie gute Beziehungen zu unseren amerikanischen Freunden herstellen. Aber der neue Stil, den Sie angekündigt haben, darf natürlich nicht den Inhalt ersetzen. Wenn er einen Sinn haben soll, dann muss er den Inhalt besser transportieren und deutlich machen. Ich finde jedenfalls, dass Sie bei Ihrer Reise in die Vereinigten Staaten mit Präsident Bush auch über die Fragen reden müssen, die die deutsche Bevölkerung sehr beunruhigen. Die erste Frage ist: Wie kann es eigentlich sein, dass wir uns in Europa und insbesondere in Deutschland um den Klimaschutz bemühen, während sich die Vereinigten Staaten, einer der größten Emittenten klimaschädlicher Gase, noch immer systematisch und beharrlich weigern, den entsprechenden internationalen Abkommen beizutreten? Hier müssen Sie klar und deutlich reden. Sonst hat es keinen Sinn. ({24}) Sie müssen nach unserer Überzeugung ebenfalls darüber reden, wie der Terrorismus in der Welt am effektivsten bekämpft werden kann. Dabei geht es insbesondere um die Frage, wie die reichen Länder bei der Entwicklungshilfe das 0,7-Prozent-Ziel erreichen können. Sie müssen außerdem fragen, ob es Sinn macht, die Reform der Vereinten Nationen weiter zu blockieren, und darauf hinweisen, dass man Terrorismus - jedenfalls nach unserer Überzeugung - nur unter strenger Beachtung der Menschenrechte effektiv bekämpfen kann. Wenn man dies nicht tut, dann liefert man ständig neue Munition für terroristische Unterfangen. Über all diese Themen müssen Sie offen reden. Wenn Sie dies nicht tun, werden wir keinen Schritt weiterkommen. Ich glaube nicht, dass es ausreicht, einfach zu sagen, die alten Schlachten sind geschlagen. Es wäre mutig von Ihnen gewesen, wenn Sie in Ihrer Regierungserklärung gesagt hätten, dass Sie mit Ihrer Einschätzung vor dem Irakkrieg voll daneben gelegen haben. Alle Bedenken, die wir im Hinblick auf das, was nach einem Irakkrieg kommt - es war klar, dass man ihn zunächst militärisch gewinnen kann -, geäußert haben, sind von der Wirklichkeit noch übertroffen worden. Es gibt nun nicht nur eine Destabilisierung des Iraks, sondern der ganzen Region sowie ein Sammelbecken für den internationalen Terrorismus. Ich hätte es mutig gefunden, wenn Sie die Kraft gehabt hätten, dazu etwas in Ihrer Regierungserklärung zu sagen. Nur durch eine solche Kraft kommt es zu einer Verbesserung der Politik im Inneren wie im Äußeren. ({25}) Frau Merkel, ich verspreche Ihnen, dass wir, Bündnis 90/Die Grünen, eine kritische, aber auch eine konstruktive Oppositionspolitik machen werden. ({26}) Wir wissen sicherlich nicht alles besser. Herrn Gysi hätte ich beispielsweise fragen können: Warum läuft es denn in Berlin unter PDS-Beteiligung so toll, wenn so viel ökonomischer Sachverstand bei Ihnen vorhanden ist, und warum haben Sie sich dann in die Büsche schlagen müssen? ({27})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Kuhn, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin gleich am Ende, Herr Präsident. Wir werden die Auseinandersetzung mit Ihnen jedenfalls konstruktiv führen. Zum Schluss möchte ich Ihnen ein Angebot machen: Die Politik in Deutschland wird nur etwas verändern können, wenn wir es gemeinsam schaffen, den Einfluss der Lobbyisten in Berlin zurückzudrängen. Wir werden uns nicht hinter den Lobbyisten verstecken und nur die Regierung kritisieren. ({0}) - Ich verstehe, dass Sie, liebe Kollegen von der FDP, beim Wort Lobbyisten aufschreien. Dafür habe ich jedes Verständnis. ({1}) Wir werden gemeinsam versuchen, die Interessenkonflikte offen zu legen. Es geht nicht, dass Lobbyisten behaupten, sie sprächen für das Gemeinwohl, und damit die Veränderungsfähigkeit der Politik in Deutschland untergraben. Wenn Sie dagegen angehen, dann haben Sie unsere Unterstützung. Ich weiß aber nicht, ob Sie sie überhaupt wollen. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, Matthias Platzeck. ({0}) Matthias Platzeck, Ministerpräsident ({1}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 18. September dieses Jahres haben die Wählerinnen und Wähler in Deutschland den Parteien eine komplizierte Aufgabe gestellt - keine unlösbare, aber - Volker Kauder wies darauf hin - eine schwierige auf alle Fälle, eine ungewohnte Aufgabe. Erstmals seit langem konnte in der Bundesrepublik keine Regierung nach dem Koalitionsmuster gebildet werden, an das sich unser Land in den vergangenen Jahrzehnten gewöhnt hatte. Weder Rot-Grün noch Schwarz-Gelb waren in der Lage, eine kleine Regierungskoalition zu bilden. In dieser neuen Situation waren in den ersten Tagen nach den Wahlen viele Spekulationen über mögliche Dreiparteienkoalitionen zu hören. Kommentatoren entwarfen an journalistischen Reißbrettern kühne Visionen. Von Ampelbündnis und Jamaikakoalition war die Rede. Einige politische Suchbewegungen in solche Richtungen gab es dann ja auch. Es stellte sich aber bald heraus, dass keine dieser Überlegungen das zustande bringen würde, was unser Land in seiner gegenwärtigen schwierigen Lage von allem am dringendsten benötigt: eine jederzeit handlungsfähige, verantwortliche, mit steter und sicherer Mehrheit ausgestattete Bundesregierung. Diese Bundesregierung haben wir jetzt. Sie ist seit voriger Woche im Amt. Herzlichen Glückwunsch auch von mir an die Bundeskanzlerin, an die ganze Regierung! Alles Gute auf dem Weg! Meine Unterstützung haben Sie. ({2}) Es war die Einsicht in die Untauglichkeit aller übrigen Optionen, die SPD und CDU/CSU dazu veranlasste, Verhandlungen über die Bildung einer großen Koalition aufzunehmen. Diese Verhandlungen verliefen verständlicherweise nicht unkompliziert. Noch wenige Wochen zuvor hatten die Gesprächspartner im Bundestagswahlkampf im heftigen politischen Wettstreit gelegen. Jetzt führten wir das Gespräch miteinander auf gleicher Augenhöhe. Das war auch psychologisch für die Beteiligten längst nicht immer ganz einfach. Die sachlichen und die politischen Unterschiede zwischen unseren Parteien leugnet niemand. Wir sind unterschiedliche Parteien mit unterschiedlichen Zielstellungen und wir werden das auch bleiben. ({3}) Im Verlauf von vier Wochen sehr ernsthafter, sehr intensiver, auch kontroverser Verhandlungen haben wir jedoch über entscheidende Punkte Einigkeit erlangt: die Einigkeit darüber, dass SPD und CDU/CSU in den kommenden vier Jahren gemeinsam Verantwortung für Deutschland übernehmen wollen und übernehmen werden, die Einigkeit darüber, zu welchen Kompromissen und Zugeständnissen jede Seite bereit ist, und schließlich auch die Einigkeit darüber, was wir einander, unseren jeweiligen Wählerinnen und Wählern und dem Land insgesamt nicht zumuten können. Mein sicherer Eindruck ist: Diese große Koalition wird eine stabile Regierung bilden und das Land als Koalition der Verantwortung vier Jahre lang gut regieren. ({4}) Während der Verhandlungen zwischen den künftigen Koalitionspartnern ist neues Vertrauen gewachsen. Nur wo Vertrauen ist, kann auch Gutes gedeihen. Deutschland braucht mehr Zusammenarbeit, Deutschland braucht mehr Kooperation, mehr Teamgeist - und das an vielen Stellen und auf vielen Ebenen. ({5}) Dafür kann die große Koalition eine gute Schule sein. Gelingt ihr das, dann wird sich diese Regierung sogar als ein wichtiger und als ein positiver Beitrag auch für eine erneuerte politische Kultur in Deutschland erweisen. Diese Hoffnung ist alles andere als ein weltfremder Wunsch; vielmehr glaube ich, sie benennt eine knallharte Notwendigkeit. Seit Jahrzehnten schon wissen wir im Grunde, dass im internationalen Vergleich kaum ein anderes Land so viele institutionalisierte Mitwirkungsinstanzen besitzt wie Deutschland. Als Bundesstaat kennen wir selbstverständlich selbstbewusste Länderregierungen, wir kennen einander entgegengesetzte Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat, wir kennen die komplizierte Politikverflechtung, die sich gerade daraus ergibt, und wir kennen ein starkes, unabhängiges und ebenfalls selbstbewusstes Bundesverfassungsgericht. Für alle diese Verflechtungen und institutionellen Regelungen lassen sich gute Gründe nennen. Oft vertreten diese so genannten Vetospieler im politischen Prozess berechtigte Interessen. Sie sind demokratisch und verfassungsrechtlich legitimiert. Zugleich muss uns aber klar sein: Andere Staaten tun sich hier deutlich leichter. Die Vielzahl der möglichen Einsprüche im politischen Prozess erschwert in Deutschland schnelle und oft auch schlüssige Lösungen. Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder ganz praktisch erlebt, dass sich die Summe der Instanzen zu einer Ministerpräsident Matthias Platzeck ({6}) Politikverflechtungsfalle auswächst, zu einer Falle, die die Lösungen und Entscheidungen erschwert und verzögert - bis hin zur völligen Blockade. ({7}) Uns allen muss klar sein: Leidtragende dieser Blockade sind immer die Menschen in unserem Land. Leidtragende sind im Übrigen aber auch unsere europäischen Nachbarn und Partner, die zu Recht erwarten dürfen, dass Deutschland als größte europäische Volkswirtschaft seiner Verantwortung für Wohlstand und Wachstum in Europa gerecht wird, und das möglichst zeitnah. ({8}) Die jetzt am Beginn ihrer Arbeit stehende große Koalition bietet eine hervorragende Möglichkeit, diese Verflechtungsfalle deutlich zu lockern. Die großen deutschen Volksparteien sind entschlossen, das Prinzip der Gegnerschaft zugunsten des Prinzips der Kooperation zurückzustellen. Genau deshalb ist die Chance günstig, dass die neue Bundesregierung bestimmte Themen bewältigen wird, die aus meiner Sicht überhaupt nur in dieser Konstellation bewältigt werden können. ({9}) Ich möchte beispielhaft vier große Aufgaben nennen, denen sich diese Koalition deshalb mit Ernst und allem Engagement widmen wird. Erstens und vor allem anderen die Aufgabe, alles zu tun, damit in Deutschland mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, damit wieder mehr Menschen Arbeit haben. Gute Arbeit hat in der Vergangenheit den Wohlstand unseres Landes geschaffen. In guter und qualifizierter Arbeit liegt auch die Zukunft unseres Landes. Alle unsere Schritte gelten dem Ziel, dafür wieder bessere Voraussetzungen zu schaffen. ({10}) Gerade deshalb stellen wir uns, zweitens, der Aufgabe, den deutschen Föderalismus neu zu justieren. Dies ist seit langem überfällig. Arbeitsfähigkeit und Legitimität der bundesstaatlichen Ordnung hängen davon ab, ob jederzeit klar ist, wer im Staat für welche Aufgabe zuständig ist. Ich glaube übrigens, das ist auch für die Akzeptanz unserer Demokratie essenziell. Wenn eine Mehrzahl der wichtigen Entscheidungen nachts um halb zwei im Vermittlungsausschuss getroffen wird, kann das für die Demokratie in unserem Lande nicht gut sein. ({11}) Das können wir nur gemeinsam ändern und deshalb werden wir es gemeinsam ändern. Übrigens, auf diese Weise wird die große Koalition zugleich sicherstellen, dass das föderale System in Deutschland weit über die Lebensdauer dieser Koalition hinaus neue Funktionsfähigkeit erlangt. Drittens. Wir werden uns der Aufgabe annehmen, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die sozialen Sicherungssysteme wiederherzustellen. Wir brauchen funktionierende soziale Sicherungsnetze, auf die sich die Menschen im Ernstfall ohne Wenn und Aber verlassen können, gerade weil sich wirtschaftlich und gesellschaftlich so viel verändert, gerade weil Menschen unter solchen Umständen bestimmte Gewissheiten benötigen, um sich auf die neuen Lagen einstellen zu können. Ich glaube, dass Pessimismus und mangelnde Zuversicht heute ihre Hauptursache nicht in den Lebensumständen der meisten Menschen haben, sondern in Ängsten, die sich um die Frage drehen: Wie wird es in fünf, in zehn, in 15 oder in 20 Jahren für unsere Kinder sein? Die mangelnde Zuversicht lähmt unser Land. Davon müssen wir weg und dazu muss die große Koalition einen wichtigen Beitrag leisten. ({12}) Viertens. Die große Koalition wird die Basis unserer Staatsfinanzen grundlegend sanieren müssen. Die Partner der großen Koalition sind gemeinsam davon überzeugt, dass dauernde Zweifel an der Leistungsfähigkeit der staatlichen Haushalte unserem Land schweren Schaden zufügen würden. Wo das Vertrauen in die staatlichen Haushalte verloren geht, da schrecken die Verbraucher immer mehr davor zurück, ihr Geld auszugeben. Selbst niedrigere Steuern regen dann nicht mehr die Binnennachfrage an, sondern führen nur zu höheren Sparquoten. Dieser Teufelskreis darf sich in unserem Lande keinesfalls etablieren. Gesunde öffentliche Finanzen sind deshalb die Bedingung für das langfristige Prosperieren unserer Wirtschaft und zugleich für das Funktionieren des Sozialstaates. ({13}) Stabile Staatsfinanzen sind auch ein zutiefst sozialdemokratisches Thema, ja, sie müssen geradezu unser Thema sein. Wer den handlungsfähigen Staat will, der kann und darf ihn nicht auf Pump finanzieren. Mit Verlaub, Herr Kollege Westerwelle: Wenn ich Ihre Diätvorschläge dafür höre, wie wir zu einem schlanken Staat kommen, beschleicht mich ab und zu das Gefühl, dass Sie ihn in Wirklichkeit verhungern lassen wollen. Das werden wir nicht zulassen. ({14}) Wir brauchen einen fitten, einen handlungsfähigen Staat. Viele Beispiele auf dieser Welt zeigen uns: Wo der Staat diese Eigenschaften nicht mehr hat, nutzt das vielleicht 10 Prozent der Menschen ({15}) und die anderen 90 Prozent leiden darunter. Dazu dürfen wir es nicht kommen lassen. ({16}) Was wir in den nächsten Jahren anpacken müssen, ist nicht vergnügungssteuerpflichtig. Ich habe bereits darauf hingewiesen und sage es auch hier: Diese große Koalition ist kein bunter Adventsteller, von dem sich jeder herunternehmen kann, was ihm gerade am besten schmeckt, und das wissen beide Partner. Die neue BunMinisterpräsident Matthias Platzeck ({17}) desregierung ist eine Regierung der gemeinsamen Verantwortung in schwieriger Zeit. Sie soll die Voraussetzungen dafür schaffen, dass es am Ende wieder mehr Menschen in Deutschland besser geht. ({18}) Jubelstürme wird unsere Regierung selbst dann nicht und vielleicht gerade dann nicht auslösen, wenn sie besonders gut, besonders gründlich, besonders effektiv arbeitet; denn Deutschland steckt nun einmal in einer schwierigen Umbruchphase. Wir haben Probleme und vieles muss gleichzeitig angepackt werden. Aber unser Land hat die Kraft, diese Probleme zu lösen. Dabei kann die neue Bundesregierung an die Arbeit anknüpfen, die Gerhard Schröder und die rot-grüne Bundesregierung in den Jahren seit 1998 begonnen haben. ({19}) Ich habe es als noble Geste empfunden, dass Frau Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Rede noch einmal ausdrücklich die Verdienste des Bundeskanzlers Schröder für unser Land gewürdigt hat. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben völlig Recht: Gerhard Schröder und seine Regierung haben sich in den vergangenen Jahren mit ihrer Politik der Erneuerung wirklich um unser Land verdient gemacht. ({20}) Sie haben Marksteine gesetzt ({21}) - ich verstehe, dass das ein bisschen problematisch ist -, ({22}) an die die neue Bundesregierung anknüpfen kann und an die sie auch anknüpfen sollte. Die wichtigste Aufgabe der Regierung wird sein, dem Land und seinen Menschen wieder Selbstvertrauen und neue Zuversicht zu vermitteln. Diese Koalition nimmt die Sorgen und Hoffnungen der Menschen sehr ernst. Deshalb bin ich froh darüber, dass wir zwischen CDU, CSU und SPD eine Verständigung darüber erreicht haben, dass das europäische Sozialmodell in unserem Land für die Bedingungen des 21. Jahrhunderts erneuert werden soll. Wir tun uns in Deutschland nicht leicht damit, das Neue und die Veränderung auch als Chance zu begreifen. Da ist der Erneuerungsdruck der Globalisierung. Da ist die Demographie. Da ist die Tatsache, dass erfolgreiches Wirtschaften im 21. Jahrhundert immer mehr auf Wissen und Qualifikation angewiesen sein wird. Ja, das alles ist schwierig; überhaupt keine Frage. Das alles wirkt manchmal auch bedrohlich; das ist ebenfalls richtig. In den Talkshows und in den öffentlichen Debatten in unserem Land hat sich in den vergangenen Jahren der Eindruck durchgesetzt, wir hätten hier nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera, wir könnten in Deutschland heute nur noch zwischen ideenloser Beharrung und brutalen marktradikalen Rosskuren wählen. Aber wir sollten uns niemals, weder von der einen noch von der anderen Seite, falsche Alternativen aufschwatzen lassen. ({23}) Es liegt am Denken in den falschen Alternativen, meine ich, dass die Menschen in unserem Land Erneuerung und Aufbruch zuweilen so misstrauisch gegenüberstehen. Richtig ist: Wir müssen unseren Sozialstaat erneuern. Wir müssen ihn auf die Bedingungen des 21. Jahrhunderts einstellen. Die wirtschaftlich und sozial erfolgreichsten Länder Europas beweisen uns Tag für Tag, dass das sehr wohl und gut gelingen kann. Diese Länder sind so erfolgreich, weil sie gerade nicht der Versuchung erliegen, Wirtschaft und Sozialstaat gegeneinander auszuspielen. Sie wissen: Die vermeintlich so klare Alternative „mehr Markt oder mehr Staat“ führt schlicht und ergreifend in die Irre. ({24}) Es kommt heutzutage darauf an, beides intelligent miteinander zu verbinden. Da liegt die Zukunft auch für unser Land. ({25}) In diesem Hohen Hause sitzen auf der einen Seite einige, die glauben, sich ganz auf das Festklammern an sämtlichen bestehenden Instrumenten des überkommenen Sozialstaats verlegen zu müssen. Herr Kollege Gysi, Sie haben vorhin über die Produktivitätszuwächse bei Daimler-Chrysler gesprochen und gesagt, dass wir damit nicht richtig umgegangen seien. Es mag sein, dass nicht alles richtig war; aber nach Ihrer Rede glaube ich, dass, wenn Sie mehr zu sagen gehabt hätten, Daimler-Chrysler heute gar nicht mehr in Deutschland wäre. Dann hätten wir auch nichts von den Produktivitätszuwächsen. Das sollten wir uns einmal durch den Kopf gehen lassen. ({26}) Auf der anderen Seite in diesem Hause sitzen Abgeordnete, die sich jede Form von Sozialstaat bestenfalls als ein Luxussahnehäubchen vorstellen können, ein Sahnehäubchen, das man sich nur dann leisten kann, wenn die Wirtschaft bereits kräftig brummt. Ich halte beide Positionen für falsch, meine Damen und Herren. ({27}) Deutschland wird in den kommenden Jahrzehnten dann erfolgreich sein, wenn wir wirtschaftliche Dynamik und moderne Sozialstaatlichkeit als Ziele begreifen, die einander positiv bedingen und beflügeln können. Wirtschaftliche Dynamik wird heute durch ein zeitgemäßes Verständnis sozialer Gerechtigkeit erst ermöglicht, nämlich durch Investitionen in die Menschen und ihre Fähigkeiten. Umgekehrt brauchen wir einen modernen Sozialstaat, der wiederum zu mehr wirtschaftlicher Dynamik, Ministerpräsident Matthias Platzeck ({28}) Wachstum und der Schaffung von Arbeitsplätzen beiträgt. Die nun gebildete große Koalition kann viel dafür leisten, ein neues Verständnis für ein produktives Verhältnis zwischen Dynamik und Gerechtigkeit in unserem Lande zu schaffen. Wir Sozialdemokraten werden innerhalb und außerhalb der Koalition für diesen notwendigen Perspektivwechsel werben. Denn genau in diesem Sinne erwarten die Menschen in Deutschland von der neuen Regierung die Erneuerung unseres Sozialstaates. Der zwischen den Parteien vereinbarte Koalitionsvertrag sieht genau dies vor. Ich nenne beispielhaft vier Punkte: Wir haben beschlossen, dass die Ausgaben für Forschung und Entwicklung bis 2010 auf 3 Prozent unseres Bruttosozialproduktes erhöht werden. ({29}) Das brauchen wir dringend; denn ohne Forschung und Innovation werden wir auf dieser Welt keine Chance haben. Wir haben beschlossen, ab 2007 das Elterngeld einzuführen. Das ermöglicht vielen Frauen und Männern eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und erleichtert es den Menschen, sich für Kinder zu entscheiden. Bei unzähligen jungen Menschen ist ganz klar der Kinderwunsch vorhanden. In Deutschland sind jedoch der Mut, diesen Wunsch in die Wirklichkeit umzusetzen, und die Zuversicht noch zu wenig ausgeprägt. Das Elterngeld ist eine Maßnahme, die dazu beiträgt, den Mut in unserem Lande zu erhöhen. Denn ein Land ohne Kinder ist ein Land ohne Zukunft, meine Damen und Herren; da können wir nicht mehr zuschauen. ({30}) Deshalb haben wir auch beschlossen, das begonnene 4-Milliarden-Euro-Ganztagsschulprogramm fortzusetzen. Auch das brauchen wir sehr dringend, weil es mehr Chancengleichheit in der Bildung schafft. Außerdem haben wir beschlossen, die Tagesbetreuung für die Kleinen systematisch auszubauen. Auch das ist wichtig für unser Land, weil über Zukunft und Lebenschancen nicht erst ab dem sechsten oder dem 20. Lebensjahr entschieden wird, sondern bereits in der Elementarstufe. Das haben wir zu lange vernachlässigt. Da haben wir Potenziale nicht genutzt. Wir müssen sie aber nutzen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({31}) Es heißt oft, große Koalitionen würden am Ende nur die kleinen Parteien am Rande stärken. Es kann aber auch genau umgekehrt kommen. Entscheidend dafür ist, dass sich auf die Bürgerinnen und Bürger der Eindruck überträgt: Beide Partner wollen wirklich, dass Deutschland in den nächsten vier Jahren spürbar besser dasteht. Frau Bundeskanzlerin Merkel hat das neue Regierungsbündnis als eine „Koalition der neuen Möglichkeiten“ bezeichnet. Mir gefällt diese Formulierung gut. Sie beschreibt den hohen Anspruch, dem wir alle zusammen gerecht werden müssen und dem wir nur gemeinsam gerecht werden können. Gelingt uns dies, dann kann diese Regierung mit der breiten Unterstützung der Menschen im Lande rechnen. Die deutschen Sozialdemokraten und ich persönlich werden jeden nur möglichen Beitrag zum Gelingen leisten. ({32}) Ich habe zwar neulich in einem Artikel in einer großen deutschen Zeitung gelesen, man solle sich in dieses Land nicht zu sehr verlieben und die Demokratie habe auch dazu geführt, dass wir in Deutschland das Recht auf schlechte Laune hätten. Ein interessanter Artikel; wer ihn noch nicht gelesen hat, dem kann ich ihn sehr empfehlen. Ich glaube, wir haben aber nicht die Pflicht, dieses Recht auszuüben. ({33}) Wir tun es nur viel zu oft. Ich sage auch hier und heute noch einmal: Deutschland ist ein wunderbares Land. Das lasse ich mir nicht ausreden. Seine Bürgerinnen und Bürger sind zu großen Leistungen fähig. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, ihnen dafür neue Wege und Möglichkeiten zu eröffnen. Genau das wollen wir tun; genau das werden wir tun, und zwar ernsthaft, beharrlich und mit Augenmaß. Gewinner werden die Menschen in unserem Lande sein. Die Bundeskanzlerin hat heute gesagt: „Mehr Freiheit wagen“. Ich kann da komplett mitgehen. Als ich diesen Satz hörte, sagte mir mein Bauch allerdings, dass wir dem noch etwas hinzufügen sollten - auch das haben wir in Deutschland nötig -, nämlich: „Mehr Miteinander und mehr Gemeinsamkeit wagen“. ({34}) Gesellschaften, in denen es mehr Miteinander gibt, sind stärker, stabiler und zukunftsfähiger. Etwas allein machen oder allein sein, das kann mal schön sein. Auf die Dauer macht es aber unglücklich und schwach. Deshalb sage ich: hinschauen und nicht wegschauen, zupacken und nicht zugucken, ein bisschen mehr weg vom Spaß am Tag und hin zur Freude am Leben. Dafür sollten wir arbeiten und dafür werden wir arbeiten. Dann werden wir auch erfolgreich sein. Alles Gute! ({35})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Peter Ramsauer, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Ramsauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001772, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Koalition aus den drei Parteien CDU, CSU und SPD legt heute ihr Programm für diese Wahlperiode vor. Es ist der Startschuss für einen politischen Neubeginn. Die Wähler haben es so gewollt; die Wähler haben es so entschieden. Sie würden heute wohl ähnlich oder fast genauso entscheiden, wie die Umfragen zeigen. Gut ist, dass die alte Regierung ausgeschieden ist und die neue Regierung ihre Arbeit aufnimmt. Wir werden in den Debatten dieser Woche die dargelegten Grundsätze und Ziele sehr genau prüfen und diskutieren. Mein Urteil ist klar: Diese große Koalition in Deutschland hat eine Chance verdient und sie ist eine große Chance für unser Land. ({0}) Sie, Frau Bundeskanzlerin, liebe Frau Dr. Merkel, stehen für einen Neubeginn. Ich gratuliere Ihnen ganz herzlich im Namen meiner Partei, der CSU, und insbesondere im Namen der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag zu Ihrer Wahl. - Ich sehe, dass Sie gerade zusammen mit dem Herrn Bundeswirtschaftsminister in den hinteren Reihen Platz genommen haben. Wer auf der Regierungsbank sitzt, kann sich auch diese Großzügigkeit leisten. - Ich gratuliere Ihnen auch zu Ihrer Regierungserklärung. Sie haben uns damit gezeigt, dass der überfällige Politikwechsel eingeleitet ist. ({1}) Ich gratuliere Ihnen auch dazu, dass Sie - das habe ich heute Agenturmeldungen entnommen -, laut Umfragen einen immensen Vertrauensvorschuss bei der Bevölkerung haben. Das ist ungewöhnlich; denn der Politik wird eher mit einem Misstrauensvorschuss begegnet. Die Tatsache, dass Sie, liebe Frau Bundeskanzlerin, einen gewaltigen Vertrauensvorschuss haben, ist eine riesige Chance für die neue Bundesregierung. ({2}) Diese Regierung ist - das finde ich besonders wichtig - auch eine Regierung aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Sie spaltet und polarisiert nicht, sondern sie führt zusammen. Konservative und liberale, ökologische und soziale Ansätze dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sie werden es auch nicht in dieser Regierung; sie werden vielmehr für eine gute Politik miteinander fruchtbar gemacht. Das ist auch ein Stück Handschrift der CSU. Diese Handschrift prägt auch den Koalitionsvertrag. Ich bin, ehrlich gesagt, ein bisschen stolz darauf, dass der CSUParteitag - in Klammern gesagt: unter meiner Tagungsleitung ({3}) diesen Koalitionsvertrag einstimmig - das möchte ich betonen - gebilligt hat. ({4}) Meine Damen und Herren, die neue Regierung pflegt einen neuen Stil: sachbezogen und ergebnisorientiert. Die Koalition aus unseren drei Parteien startet zugegebenermaßen unter schwierigen Bedingungen. Keiner der Partner hat Wahlkampf für diese große Koalition gemacht. ({5}) Wir werden aber jetzt gemeinsam etwas daraus machen. Wir werden versuchen, mit Leistung zu überzeugen. Nur auf diesem Weg kann das Vertrauen der Bevölkerung wiedergewonnen werden. Vertrauen schaffen, das ist auch die Richtschnur für die Außen- und Europapolitik dieser Regierung. Deutschland ist - man kann dies nicht oft genug betonen - ein verlässlicher Partner und Verbündeter. Gerade die kleinen und mittleren Länder in der Europäischen Union setzen auf einen Partner Deutschland, der ihre Interessen ernst nimmt. Ich erinnere mich sehr gut und sehr gern an meine ersten Parlamentsjahre, als Helmut Kohl uns jungen, neuen Abgeordneten vor allen Dingen in Bezug auf die Europapolitik immer eines eingeschärft hat: Nehmt die kleinen und die ganz kleinen Länder ernst; denn das ist ein wichtiger Erfolgsgrundsatz für eine gedeihliche und nachhaltige Europapolitik! ({6}) Die europäische Einigung und die transatlantische Partnerschaft sind gleichermaßen wichtige Pfeiler deutscher Staatsräson. Eine ausgewogene Außenpolitik, die auf diesen beiden Pfeilern stabil aufbaut, ist ein echter Gewinn für unser Land. Die erste Regierungserklärung der ersten Bundeskanzlerin unseres Landes hat deutlich gemacht: Deutschland bekommt eine kraftvolle Regierung. Ich sage ganz klar: Meine Partei und die CSU-Landesgruppe innerhalb der CDU/CSU-Fraktion wollen diesen Erfolg mit ganzer Kraft. ({7}) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben mit Ihrer Regierungserklärung ein Zeichen der Zuversicht gesetzt. Es gibt eine Reihe hervorragender, guter Zeichen, die schon in dieser Debatte sichtbar geworden sind. Ein gutes Zeichen ist: Die Sanierung des Haushalts steht an oberster Stelle. Wir alle wissen heute: Die Lage der Staatsfinanzen ist dramatisch. Die Strukturprobleme der Wirtschaft und die Misere auf dem Arbeitsmarkt belasten den Haushalt. Die Steuereinnahmen reichen in diesem Jahr nicht einmal aus, um Sozialleistungen, Zinsen und Gehälter zu zahlen. Auf den Punkt gebracht: Ein Teil der Steigerung der sozialen Ausgaben wurde mit einem Rückgang der öffentlichen Investitionen bezahlt. Dies ist eine außergewöhnlich gefährliche Entwicklung, ein dramatisches Zehren von unserer Substanz. Der Anteil der Investitionen am Bundeshaushalt liegt jetzt bei unter 9 Prozent. 15 Prozent des Haushalts muss der Bund 2006 allein für Zinsen aufwenden. Diese bedrückende Eröffnungsbilanz zwingt uns alle zu einer konsequenten Konsolidierung. Das ist die Verpflichtung der heute Verantwortlichen gegenüber kommenden Generationen. ({8}) Nur eine entschlossene Konsolidierung eröffnet Spielräume für Zukunftsinvestitionen, egal ob das Infrastrukturinvestitionen im Bereich Verkehr oder an anderer Stelle oder Investitionen in Bildung sind. Bildungsinvestitionen sind rentierliche Investitionen in die Zukunft. Das sage ich auch als Kaufmann, obwohl in kaufmännischer Hinsicht nur das als Zukunftsinvestition zählt, was sich in kaufmännischen Rechnungslegungen wiederfindet; volkswirtschaftlich sieht das anders aus. Investitionen in die Bildung sind wichtige Zukunftsinvestitionen. ({9}) Im Koalitionsvertrag wird dafür der richtige Kurs abgesteckt. Wir setzen dies gemeinsam um. Wir tragen auch gemeinsam Verantwortung dafür. Ein weiteres gutes Zeichen ist, dass angesichts der Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat die Signale nicht auf Konfrontation, sondern - Gott sei Dank - auf Kooperation gestellt sind. Die neue Regierung und die Fraktionen der großen Koalition setzen auf eine gute Zusammenarbeit mit den Ländern. Deutschland wieder nach vorne zu bringen, das müssen sich Bund und Länder gemeinsam auf die Fahnen schreiben. Die Länder und Regionen, wir alle miteinander können nur gewinnen, wenn die makroökonomischen Weichen hier in Berlin, aber auch in Brüssel wieder richtig gestellt werden. ({10}) - Darauf komme ich jetzt zu sprechen, lieber Herr Kuhn. Es ist auch ein gutes Zeichen, dass zwei Ministerpräsidenten, Edmund Stoiber und Matthias Platzeck, im Koalitionsausschuss die Interessen der Länder einbringen. - Damit ist Ihre Frage beantwortet. ({11}) Gerade wir Bayern wissen, dass wir ohne die Bereitschaft zur Verantwortung für Deutschland nichts für unsere Heimat bewegen können. Deshalb ist es erfreulich, dass die große Koalition die Föderalismusreform schon ein ganzes Stück vorangebracht hat. Deutschland braucht starke Länder, wir wollen starke Länder. Vielfalt belebt. Wettbewerb ist ein Anreiz, nach besseren Lösungen zu suchen. Das Bessere ist der Feind des Guten. Der Wettbewerb der Länder untereinander ist ein Segen für unsere föderale Ordnung und für unser Land. ({12}) Der Bund gibt deshalb zahlreiche Kompetenzen in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder. Schule, Kultur und Rundfunk werden als Sache der Länder bestätigt. Vom Strafvollzug bis zum Ladenschluss kommen aber auch neue Kompetenzen hinzu. Hervorheben will ich, dass der Bund künftig Aufgaben nicht mehr direkt auf Gemeinden, Städte und Kreise übertragen darf, da das Verhältnis zu den Kommunen von den Ländern geregelt werden soll. Ausufernde Zustimmungserfordernisse im Bundesrat verwischen bisher die Verantwortung und verzögern Entscheidungen. Das können wir uns nicht mehr leisten. Die Zahl der Gesetze, denen der Bundesrat zustimmen muss, wird reduziert; denn das, was wir in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten hier im Parlament geleistet haben, hat unter den Zustimmungserfordernissen maßgeblich gelitten. Bundesminister Franz Müntefering und Ministerpräsident Edmund Stoiber haben an der Spitze der Föderalismuskommission eine, wie ich meine, ganz exzellente Vorarbeit geleistet. ({13}) Das verdient Dank und Respekt. Drei Punkte sind festzuhalten: Länder und Landtage werden gestärkt, Entscheidungen werden schneller fallen und - das ist ganz wichtig - politische Verantwortungen - die Frage, wer für was geradesteht - werden endlich viel deutlicher. ({14}) Ein weiteres gutes Zeichen ist, dass die Familien als wichtigste Form des Zusammenlebens gestärkt werden. Es wird keine Relativierung der Familie geben. Kindererziehung ist eine außergewöhnlich anspruchsvolle Aufgabe, die hohen Respekt verdient. Eltern, die erziehen, haben Anspruch auf die Solidarität der gesamten Gesellschaft. ({15}) Zu dieser Solidarität gehört, Müttern, aber auch Vätern - als Vater von vier Kindern weiß ich, wovon ich spreche - Wahlfreiheit bei ihrer Lebensgestaltung zu eröffnen. Diese Wahlfreiheit wird bisher doppelt eingeschränkt erlebt: Den einen fehlt es an Unterstützung, um Beruf und Familie verbinden zu können, und die anderen erleben, wie wenig öffentliche Anerkennung die Aufgabe erfährt, Kinder zu erziehen. Beides gilt es zu ändern. ({16}) Ich möchte an dieser Stelle Folgendes ergänzen: Beide familiären Leitbilder verdienen gleichermaßen Respekt, das Leitbild der berufstätigen Frau und Mutter genauso wie das Leitbild der jungen Frau, die, exzellent ausgebildet, sich ganz bewusst dafür entscheidet, mehr oder weniger viele Jahre zu Hause zu bleiben und sich der Kindererziehung oder der Pflege älterer Menschen in der Familie zu widmen. Ich wehre mich dagegen, dass oft diese Leitbilder sehr einseitig gesehen werden. ({17}) Wir dürfen das andere Leitbild, das Leitbild der Frau, die wegen der Kindererziehung zu Hause bleibt, nicht in die Schmuddelecke der Gesellschaft stellen. Beide Leitbilder sind in unserer Gesellschaft gleichwertig. Der Ausbau der Angebote der Kinderbetreuung schafft bessere Chancen dafür, Familie und Beruf zu verbinden. Mit dem Elterngeld ist gewährleistet, dass die Förderung junger Familien besser auf ihre persönliche Situation abgestimmt werden kann. Mehrgenerationenhäuser - ein Modewort ({18}) machen die Solidarität der Generationen konkret lebbar und erlebbar. - Sie lachen. Ich kann Ihnen aber sagen, warum ich das Wort „Modewort“ gebraucht habe - es ist nicht alles schlecht, was Mode ist; sonst wäre es vielleicht nicht Mode -: Damit wird etwas ganz Selbstverständliches aufgegriffen. Vor zwei, drei Generationen war es nämlich ganz natürlich, dass drei Generationen in einem Haus, unter einem Dach, zusammen gewohnt haben. Die sozialen Probleme und Konflikte und die materielle Not in jener Zeit waren vielleicht aus anderen Gründen größer als heute, aber nicht wegen der damaligen Familienstruktur. Eine Mehrgenerationenfamilie ist Ausdruck von gelebter Solidarität und auch von Subsidiarität. ({19}) Darauf legen wir viel Wert. Auch wenn wir noch so viele soziale Dienste aus öffentlichen Mitteln finanzieren: Sie können nicht so viel Nestwärme und Geborgenheit bieten wie gewachsene Familien. ({20}) Es ist doch absurd: Wir geben heute in Deutschland nach wie vor eine Rekordsumme für soziale Zwecke aus und trotzdem war in unserem Land noch nie so viel von sozialer Kälte und Ellenbogengesellschaft die Rede. Beides passt nicht zusammen. Darum ist es gut, wenn wir die Generationen in den Mehrgenerationenhäusern wieder zusammenbringen. ({21}) Das neue Kabinett ist ein starkes Team. Politische Schwergewichte machen die Schwerpunkte der Regierungsarbeit deutlich: Sanieren, also auch reparieren, reformieren und investieren, also aussäen für die Zukunft. Dieser Dreiklang bestimmt die Politik der neuen Regierung. Deutschland braucht bessere Standortbedingungen für Betriebe und Arbeitsplätze. Der Kern unserer Entscheidung für die große Koalition und auch der Maßstab für ihren Erfolg ist: Deutschland muss investitionsfreundlicher werden, damit wieder neue Arbeitsplätze in unserem Land entstehen. Auch wenn wir bei den Steuern und Abgaben das eine oder andere tun müssen, weil uns kein anderer Weg bleibt, muss die Botschaft sein: Deutschland ist ein investitionsfreundliches Land. Es lohnt sich, in Deutschland zu investieren; es lohnt sich, in Deutschland etwas aufzubauen; es lohnt sich, hier zu bleiben, nicht zu desinvestieren; es lohnt sich, in Deutschland Arbeitsplätze zu schaffen. ({22}) ({23}) Die Politik der neuen Regierung wird zu Investitionen in Deutschland ermutigen und damit die Wachstumskräfte in unserem Land entfesseln. Unser Land soll und darf nicht von der Substanz leben. Es sollen Werte geschaffen werden. Auf diesem Weg wird mehr Beschäftigung dauerhaft gesichert. So werden neue Chancen eröffnet. ({24}) Bundesminister Michael Glos bürgt für eine Wirtschaftspolitik, die den Mittelstand ({25}) und eigentümergeführte Familienunternehmen stärkt. Sie sind die Stütze des Standortes Deutschland. Sie machen keine Negativschlagzeilen, weder mit Stellenabbau noch mit überzogenen Managergehältern. 50 Prozent der Wertschöpfung, 70 Prozent der Arbeitsplätze und 80 Prozent der Lehrstellen entfallen auf Unternehmen mit weniger als 500 Mitarbeitern. Auch hier weiß ich, wovon ich rede. Der Mittelstand ist das Rückgrat der Gesellschaft. Hier liegt das Potenzial für mehr Wachstum und Beschäftigung. ({26}) Wir haben im ersten Halbjahr Debatten zu diesem Thema geführt. Ich bekenne mich ausdrücklich zu meiner Nebentätigkeit bzw. beruflichen Tätigkeit als Unternehmer. Es freut mich, dass es außer der Politik noch Unternehmertum gibt. Dieses pflege ich neben meiner Tätigkeit im Parlament und damit sichere und schaffe ich Arbeitsplätze. ({27}) Die Stundung oder der schrittweise Erlass der Erbschaftsteuer ist wichtig für die Fortführung mittelständischer Betriebe. Auch die degressive Abschreibung gibt einen starken Investitionsanreiz für die Jahre 2006 und 2007. Jeder weiß, dass wir gerade im Hinblick auf die mittelständische Wirtschaft bürokratiebedingte Kosten abbauen müssen. Wir fassen uns an die eigene Nase: Wir müssen das in unserer Gesetzgebung beherzigen. Unser konkretes parlamentarisches und Regierungshandeln muss sich danach richten. Ich danke Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie nochmals betont haben, dass eine Eins-zu-eins-Umsetzung europäischer Normen ein wichtiger Maßstab für unser Regierungshandeln ist. Dem steht aber entgegen, dass - wohl noch als Überbleibsel aus der Trittin-Zeit - uns momentan der Entwurf einer Verpackungsverordnung vorliegt, in dessen Begründung - vorletzte Woche habe ich das gelesen - steht: Mit dieser Regelung gehen wir über die Vorgaben der Europäischen Union hinaus. - Wenn wir jetzt hierbei schon darüber hinausgehen würden, obwohl wir sagen, dass wir nur eins zu eins umsetzen wollen, dann wäre das die erste Verfehlung. Darum sage ich: Wir fassen uns hier an die eigene Nase. Ein weiteres Beispiel aus der rot-grünen Regierungszeit. ({28}) - Ich differenziere ganz genau. ({29}) Ab 1. Januar dürfen alle Betriebe, auch Klein- und Kleinstunternehmen, die Übermittlung ihrer Sozialversicherungsdaten an die Krankenkasse nur noch elektronisch per Internet vornehmen. Ich sage Ihnen: Das ist eine völlig verrückte Vorgabe. Denn es gibt viele Kleinstunternehmen entweder ohne Angestellte oder nur mit ein, zwei oder drei Mitarbeitern, die wegen ihres Betriebsumfangs überhaupt keine entsprechenden elektronischen Einrichtungen haben. ({30}) - So ist das. Das ist die Praxis. ({31}) Dazu verlangen - jetzt kommt es - die Krankenkassen ein- bis zweitägige Schulungskurse für diese Kleinstunternehmen, als ob ein Kleinstunternehmer nichts anderes zu tun hätte, als tagelang bei der Krankenkasse in Schulungskursen zu sitzen, damit er mit den neuen Vorschriften zur Übermittlung seiner Sozialversicherungsdaten zurechtkommt. Auch das ist ein Fehler. Ich verstehe jeden Kleinstbetrieb, der sich dieser Regelung widersetzt. ({32}) Hinsichtlich der Bürokratie sollte man auch bei den eigenen Strukturen ansetzen. Ich frage mich manchmal: Muss es sein, dass wir 72 Bundesämter haben und sich auf gleichen Gebieten bis zu drei Bundesämter tummeln, die noch dazu gegeneinander arbeiten, wie mir von Präsidenten solcher Ämter bestätigt wurde? Es gibt Hunderte von Landesämtern. Das alles passt nicht in eine Landschaft, in der wir eher zu viel als zu wenig Bürokratie haben. ({33}) Ich begrüße sehr, was Sie, Frau Bundeskanzlerin, zu einer nachhaltigen Politik und zu den erneuerbaren Energien gesagt haben. Ich meine Ihr Bekenntnis zur grundsätzlichen Beibehaltung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und Ihr Bekenntnis zu erneuerbaren Energien als wichtigem Bestandteil einer Energiepolitik insgesamt. In diesem Zusammenhang möchte ich auch daran erinnern, dass das heutige EEG ein politisches Tochtergesetz unseres Stromeinspeisungsgesetzes aus dem Jahr 1990 ist, dass also bereits in den 90er-Jahren der Grundstock für das gelegt worden ist, was sich heute auf diesem Gebiet tut. ({34}) Meine Damen und Herren, wir spüren: Die Zeit drängt, auch meine Redezeit. Deutschland hat eine stabile Regierung. Aber Deutschland braucht auch - das möchte ich zum Schluss betonen - eine konstruktive bürgerliche Opposition. Hier blicke ich vor allen Dingen auf die Liberalen und auf die Grünen. Ihnen von den Liberalen sage ich: Ich selbst bin ein praktizierender Liberaler, ({35}) genauso wie mein Vorgänger im Amt des Landesgruppenvorsitzenden der CSU. ({36}) Egal ob Regierung oder Opposition, wir alle stehen in der Verantwortung. Hier kann sich niemand drücken. ({37}) Nur im Wettstreit der Argumente kann Politik gedeihen. Meine Damen und Herren, die neue Regierung und die Fraktionen der großen Koalition haben sich ehrgeizige Ziele gesteckt. Deutschland braucht eine erfolgreiche Regierung. Dafür werden meine Fraktion und in ihr die CSU-Landesgruppe mit ganzer Kraft arbeiten. Vielen Dank. ({38})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Olaf Scholz von der SPDFraktion. ({0})

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Die Bundeskanzlerin hat in ihren Eingangsbemerkungen darauf hingewiesen, dass sich einige Ideen der Regierungsbildung nach dem Internet richten sollen. Eine der Kategorien moderner Internetdebatten lautet Open Source: dass Programme gewissermaßen für jeden verfügbar werden, unabhängig von der Quelle. ({0}) Wenn wir das jetzige Regierungsprogramm betrachten, dann können wir Sozialdemokraten sagen: Darin sind viele unserer Programmquellen enthalten und wir sind einverstanden, dass in dieser Frage keine Urheberrechtsansprüche geltend gemacht werden. ({1}) Wenn über die Regierungsbildung diskutiert wird, geht es auch um die Frage, wie es zu dieser Koalition gekommen ist. Wer sich die Debatten der letzten Wochen oder auch die heutige anschaut, wird festgestellt haben: Ernsthafte Kritik daran, dass es nun zu einer großen Koalition gekommen ist, wird eigentlich von niemandem geäußert, ({2}) auch nicht - das ist interessant - von den Parteien der Opposition. Die Grünen und ihre Wählerinnen und Wähler haben eingesehen, dass es für Rot-Grün nicht mehr gereicht hat und dass eine andere Konstellation mit drei Parteien nicht funktioniert. Die FDP hat gesagt, sie wolle für bestimmte Konstellationen nicht zur Verfügung stehen. Deshalb kann Sie nur einverstanden damit sein, dass es jetzt zu einer großen Koalition gekommen ist. Für die PDS/Linkspartei gilt Ähnliches. Sie wollte ohnehin mit niemandem regieren und niemand mit ihr. Insofern kann auch sie nicht kritisieren, dass es jetzt zur Bildung dieser Regierung gekommen ist. ({3}) Was mich etwas wundert, ist, dass das allgemeine Einverständnis über die Bildung dieser Koalition dazu führt, dass im Rahmen dieser Debatte über die Regierungserklärung nirgendwo ein richtiger Gegenentwurf gezeichnet worden ist. ({4}) In den Beiträgen der Oppositionsredner - es gibt ja drei Oppositionsparteien ganz unterschiedlicher Richtung konnte man an keiner Stelle hören, wie eine andere Linie aussehen sollte als die, die die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung vorgetragen hat, und als die, die im Koalitionsvertrag vereinbart wurde. ({5}) Meine Damen und Herren, dafür kann es viele Gründe geben. Einer der Gründe kann natürlich sein, dass wir es so falsch nicht gemacht haben. Ich plädiere für diese Antwort. ({6}) Wenn nach fast 40 Jahren erneut eine große Koalition gebildet wird, dann muss sie natürlich auch solche Aufgaben lösen, die nur im Rahmen einer großen Koalition lösbar sind. Ich denke, das ist ein Maßstab, den sich eine solche Regierung setzen muss und dem sie auch genügen muss. Es gibt ein paar solcher Aufgaben, von denen nicht nur wir hier im Parlament, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land annehmen, dass sie zu lösen nur funktioniert mit der ganzen Kraft einer großen Koalition in diesem Parlament, aber auch den Möglichkeiten, die sie im Sinne von Überzeugungskraft in Richtung Länder hat. Ich denke, diese Aufgaben sind im Koalitionsvertrag benannt und es ist auch gesagt worden, wie man sie lösen kann. Das erste Thema ist die Reform der föderalen Ordnung. Wir alle wissen, dass sie notwendig ist; aber wir alle ahnen auch, dass es ganz schwierig ist, angesichts der verhakelten Situation eine Reform mehrheitsfähig zu machen - nicht nur hier, sondern auch im Bundesrat. Es ist deshalb gut und richtig, dass die Koalition im Vertrag sehr viel Platz für dieses Reformwerk gelassen hat. Ja, wir wollen die Reform des Föderalismus in Deutschland gleich im ersten Jahr, noch bis zur Sommerpause zustande bringen. Dieses Werk sollten wir ab Januar angehen und wir sollten zeigen, dass wir das schaffen, dass diese Koalition das zustande bringen kann. ({7}) Das zweite große Thema, das gerade in einer solcher Konstellation vorwärts bewegt werden kann und bei dem man zu Recht die Vermutung hat, anders ginge es wohl nicht, ist eine Weiterentwicklung des Beamtenrechts. Ich bin sehr wohl der Meinung, dass das Berufsbeamtentum in Deutschland eine Zukunft hat und dass es die Aufgabe auch dieses Hauses ist, dafür zu sorgen, dass das Beamtenrecht und das Berufsbeamtentum - die zusammengehören - für die Zukunft weiterentwickelt werden. Drei Punkte in diesem Koalitionsvertrag spielen dabei eine große Rolle: Erstens sagen wir auch im Rahmen der Föderalismusreform: Es ist möglich, die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums weiterzuentwickeln. Das werden wir machen und das ist die Voraussetzung für alle Reformen. Zweitens wollen wir zulassen, dass ein großer Teil des Beamtenrechts, insbesondere was Besoldungsfragen betrifft, entweder in den Ländern oder im Bund geregelt wird - immer genau da, wo es darauf ankommt; auch das ist etwas, was Modernisierung, was Weiterentwicklung möglich macht. Denn die bisherige Situation, dass sich16 Bundesländer und ein Bundesstaat einigen mussten, hat meistens dazu geführt, dass der eine auf den anderen verwiesen hat bei der Frage, warum er nichts gemacht hat. Das ist jetzt beendet und auch das ist ein Fortschritt - ein Fortschritt, den die sich Bürgerinnen und Bürger lange gewünscht haben. ({8}) Drittens gehört zur Reform des Beamtenrechts natürlich auch das eine oder andere, was wir jetzt unmittelbar in Angriff nehmen, indem wir bei den Besoldungsstrukturen des Bundes Anpassungen vornehmen, die sich an denen der Länder ausrichten. Das dritte große Thema, an dem sich eine solche Koalition beweisen muss, ist, dass wir es schaffen, das Vertrauen in die sozialen Sicherungssysteme zurückzuerobern. ({9}) Ich halte das für einen ganz wichtigen Punkt. Ich sage das auch mit einem Bekenntnis verbunden: Ich glaube, dass unsere traditionellen Institutionen Rentenversicherung, Krankenversicherung und Pflegeversicherung zu Recht eine so lange Tradition haben - das gilt für die ersten beiden - und dass es sich lohnt, dass sie auch in Zukunft weiter zu den wichtigsten Garanten von Sozialstaatlichkeit in Deutschland gehören. Das müssen wir jetzt und in dieser Koalition endgültig zustande bringen. ({10}) Wer als junger Mann oder junge Frau einen Vertrag abschließt mit der Rentenversicherung, mit der Krankenversicherung und auch mit der Pflegeversicherung, lässt sich auf einen Vertrag ein, der viele Jahrzehnte funktionieren muss: für den Einzahler wie für den Leistungsempfänger. Dieser Vertrag läuft länger als manche Ehe, auf alle Fälle viel länger, als Regierungen in Deutschland zu halten pflegen. Und der eine oder andere Regierungswechsel ist im Laufe der Jahrzehnte durchaus möglich. Insofern muss es unsere Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass sich die Menschen nicht vor einem Regierungswechsel fürchten, wenn es um die Grundbedingungen von Renten- und Krankenversicherung geht. Das ist eine Aufgabe, die sich wirklich lohnt. ({11}) Wir sind bei der Rentenversicherung schon viel weiter, als die öffentliche Diskussion wahrgenommen hat: Von den Reformvorstellungen der Rürup-Kommission für die Regierung ist fast alles umgesetzt, und was noch fehlt, das traut sich die Koalition jetzt im Koalitionsvertrag. Das finde ich richtig, weil das die Grundlage für Zutrauen und Vertrauen ist. ({12}) In der Frage der Krankenversicherung sind unter der letzten Regierung Fortschritte gemacht worden. Manches von dem, was wir uns in Bezug auf mehr Wettbewerb und mehr Kosteneffizienz vorgestellt haben, steht jetzt im Koalitionsvertrag. Wir haben uns vorgenommen, die Frage, wie wir das Gesundheitssystem finanzieren, gemeinsam im nächsten Jahr zu beantworten. Ich betone: in einem Jahr. Angesichts der Tatsache, dass ein großer Streit vorausgegangen ist, der nicht vom Zaune gebrochen worden ist, sondern seine Ursache in den gewaltigen Problemen hinsichtlich Finanzierung und Zukunftsfähigkeit des bisherigen Systems hat, ist es eine ehrgeizige, aber lösbare Aufgabe, in einem Jahr eine Lösung zu suchen. Ich will zusammenfassen: Wenn es die große Koalition schafft, in einem Jahr eine Lösung für die Finanzierungsprobleme der Krankenversicherung zu finden, die beide Parteien über die Koalition hinaus auch in den nächsten Jahrzehnten weiter mittragen und die gesellschaftliche Akzeptanz hat, dann haben wir etwas Großes zustande gebracht. Ich bin sicher, wir werden das schaffen. ({13}) Der vierte Punkt betrifft die Frage der Staatsfinanzen; dieses Thema ist schon angesprochen worden. Die Menschen erwarten, dass wir eine Lösung finden. Wir alle sollten so ehrlich miteinander sein, zu bekennen: Es wurde in diesem Zusammenhang von eigentlich allen Parteien in diesem Hause eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht; nur die Zusammensetzung des Cocktails war jeweils eine andere. Die Menschen denken, dass wir uns alle bei so manchem Punkt, der im Koalitionsvertrag steht, fast einig sind, dass wir aber nur deswegen nichts machen, weil wir es im politischen Wettstreit nicht hinbekommen. Wenn wir diese Punkte, etwa wenn es um den Abbau von Steuersubventionen geht, aufgreifen und sagen, diese Steuersubventionen schaffen wir ab, und zwar gemeinsam, weil wir alle das eigentlich immer richtig fanden, dann werden wir auf viel mehr Akzeptanz stoßen, als die FDP vermutet. Wir werden auf gesellschaftliche Unterstützung stoßen, weil jeder denkt, das war lange fällig, das musste gemacht werden und es ist gut, dass es jetzt geschieht. ({14}) Zu einer Debatte über die Lage des Staatshaushaltes gehört immer Ehrlichkeit. ({15}) - Ja, überall. - Zur Ehrlichkeit gehört aber, dass man nicht nur sagt, wie es nicht geht, sondern dass man Vorschläge macht, wie es gehen soll. Es gibt die schlechte Mode, Entschließungsanträge zu schreiben; wir werden am Ende dieser Debatte drei Beispiele dazu zu bewältigen haben. Entschließungsanträge beziehen sich eigentlich auf Gesetzgebungsvorhaben, sind aber häufig eine reine Meinungsbekundung. So löst man kein Problem, weil man sich nicht wirklich zu dem bekennen muss, was man eigentlich will, und weil die Konzepte nicht aufgehen müssen. ({16}) Ich habe mir den Entschließungsantrag der FDP und den Entschließungsantrag von PDS/Linkspartei angesehen. Ich musste feststellen, dass darin eigentlich kein Vorschlag zur Lösung eines der genannten Probleme steht. ({17}) Ich bin außerdem sehr daran interessiert, herauszufinden, was Sie meinen. Ich jedenfalls habe große Zweifel, ob es wirklich in Ordnung ist - wie das die FDP vorschlägt -, bei den sozialen Sicherungssystemen bei dem, was hineinkommen muss, und dem, was herausgenomOlaf Scholz men werden muss, mehr zuzulangen und mehr zu sparen, ({18}) ohne den Menschen zu sagen - das ist eine mögliche Übersetzung der rhetorisch groß vorgetragenen Rede von Herrn Westerwelle -, dass wir die Renten sofort und ordentlich kürzen, damit die Staatsfinanzen in Ordnung sind. ({19}) Ich finde, ohne diesen ehrlichen Zusatz ist die ganze Rede nur noch hohl. Davor sollte man sich als Politiker in Acht nehmen. Jetzt tritt eine Regierung ins Amt, die mit ihrer Mehrheit viele reale Taten zustande bringen wird. Daher kommt man mit hohlen Sprüchen nicht sehr weit. Ich rate zu mehr Ehrlichkeit. ({20}) Lassen Sie mich eine Schlussbemerkung machen. Ich habe an den verschiedenen Beifallsbekundungen heute festgestellt, dass es gelegentlich Einigkeit zwischen FDP und PDS/Linkspartei gibt ({21}) - das werden Sie auch bleiben -, ({22}) während an bestimmten Stellen auch zwischen Grünen und den beiden Koalitionsfraktionen Gemeinsamkeiten bestanden. Das hat etwas damit zu tun, dass sich die Vorstellung, was gerecht ist und was Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft ausmacht, bei den Regierungsparteien und bei unserem bisherigen Koalitionspartner auf diese Welt bezieht. Gerecht kann nur sein, was auch möglich ist. ({23}) Was ist das „einig Uneinige“ zwischen der FDP und den Grünen? Die FDP will, dass das mögliche Maß an Gerechtigkeit nicht verwirklicht wird, weil man auch darunter bleiben kann. ({24}) Die PDS/Linkspartei möchte das Unmögliche und hält das für gerecht. Beides ist falsch. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg. ({25})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/112? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist damit bei Zustimmung der FDP-Fraktion und Gegenstimmen der übrigen Fraktionen abgelehnt. Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/114. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist bei Zustimmung der Fraktion Die Linke und Ablehnung aller übrigen Fraktionen abgelehnt. Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/91. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Das ging bei Ihnen von den Linken etwas durcheinander. Ich werte das mal als ein geschlossenes Abstimmungsverhalten, obwohl es auch einige andere Handzeichen gab. Der Entschließungsantrag ist bei Zustimmung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, Gegenstimmen von CDU/CSU, SPD und FDP und Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt. Wir kommen nun zu den Bereichen Außen, Europa, Entwicklung und Menschenrechte. Das Wort hat als erster Redner der Bundesminister Frank-Walter Steinmeier. ({0})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den Satz meines Amtsvorgängers „Wir unterschätzen uns“ haben Sie hier in diesem Haus so oft gehört wie ich. Ich bekenne: Die wahre Dimension dieser Mahnung wird mir eigentlich erst nach der ersten Runde von Antrittsbesuchen, die ich im europäischen und außereuropäischen Ausland hinter mir habe, zunehmend deutlich. Mit anderen Worten: Ich bin ehrlich tief beeindruckt, dass sich aus allen Gesprächen eigentlich eine einzige klare Grundbotschaft herauskristallisiert: Unsere Freunde und Partner sehen mit großen - ich finde sogar: mit riesigen - Erwartungen auf unser Land und die neue Bundesregierung. Sie erwarten, dass wir auch in Zukunft Verantwortung und Gestaltungswillen für Europa, für den Balkan, für die Zukunft unseres Kontinents und auch weit darüber hinaus, etwa in Afghanistan, im Nahen und Mittleren Osten, bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, beim Kampf gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, beim Einsatz für einen freien und fairen Welthandel und beim internationalen Klimaschutz zeigen. ({0}) Meine Damen und Herren, ich finde immer noch, dass sich diese Erwartungen nicht ganz selbstverständlich an uns richten. Deshalb hat es mich gestern in New York auch ganz besonders berührt, dass sich insbesondere auch die Vertreter der jüdischen Organisationen mit in diesem Sinne hohen Erwartungen an unsere Außenpolitik und an die Übernahme von Verantwortung an uns gerichtet haben. Die Haltung unserer Freunde und Partner, mit denen ich sprechen konnte, zeigt eines ganz klar: Deutschland ist es gelungen, in den letzten 15 Jahren seinen Platz in der Welt neu zu bestimmen. Diese Neubestimmung wurde mit einer Ausnahme im Parlament von allen Parteien mitgetragen und hat unser außenpolitisches Credo nie preisgegeben, nämlich ein verlässlicher Partner in den Vereinten Nationen zu sein, multilateral aus Überzeugung und in Achtung des Völkerrechts und der Menschenrechte. ({1}) Wir alle haben lernen müssen, dass mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes alte Selbstverständlichkeiten nicht mehr ohne weiteres gelten. Das war nicht selten unbequem, eröffnet aber, um eine Formulierung aus der Regierungserklärung aufzugreifen, neue Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten, diese Chancen der Globalisierung sollten wir angesichts einer - die Talkshows sind vorhin genannt worden - zu Krisen- und Untergangsfantasien neigenden Öffentlichkeit mindestens ebenso deutlich herausstellen wie die vielen Gefahren, die wir natürlich weder ignorieren noch kurzfristig beseitigen können. Aber wir müssen daran - vielleicht in der Zukunft mit noch mehr Ehrgeiz - arbeiten. Aber bitte: Chancen und Risiken - das ist die Botschaft - sind Teil jener Zukunft, die wir gemeinsam gestalten wollen. ({2}) Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem bekannten und einflussreichen amerikanischen Wissenschaftler und Politikberater Jeremy Rifkin, den wir im vergangenen Jahr zu einer Diskussion hier hatten. Ein Satz ist mir in Erinnerung geblieben: Warum seht ihr nicht, dass Europa für viele Menschen in der Welt ein Ort der Hoffnung und der Zuversicht für eine bessere Weltordnung ist? ({3}) Er hat uns, den Deutschen, und uns, den Europäern, bei der Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft etwas mehr Pioniergeist und Fortschrittsoptimismus gewünscht. Das dürften Tugenden sein, die mit dem Selbstverständnis und der Programmatik beider Regierungsparteien und, wie ich hoffe, sogar darüber hinaus vereinbar sind. Auf vielen Feldern, zum Beispiel der Zukunft der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik - die europäische Sicherheitsstrategie ist in der Regierungserklärung genannt worden - sowie des künftigen Verhältnisses zwischen Europa, den Vereinigten Staaten und Russland, auf diesen Baustellen sind wir noch weit davon entfernt, zu Antworten zu kommen, die den tektonischen Verschiebungen der letzten Jahrzehnte gerecht werden. Diese wichtigen Baustellen sind schon heute absehbar. Neue Herausforderungen werden hinzukommen. Für mich heißt eben Kontinuität in der Außenpolitik in diesem Sinne nicht Stillstand, sondern Kontinuität heißt in diesem Sinne, kreativ nach neuen Antworten und Lösungen zu suchen. ({4}) Wenn ich das für die Zukunft sage, dann sage ich auch, dass dieses Land mit Stolz auf das zurücksehen kann, was wir in den letzten Jahren seit der deutschen Wiedervereinigung geleistet haben. Deutsche Soldaten und Polizisten sind heute an vielen Orten der Welt im Friedenseinsatz. Ich sage vor diesem Hause: Der Deutsche Bundestag hat mit seiner übergroßen Mehrheit immer dann, wenn es verantwortbar war, und insbesondere dann, wenn es darauf ankam, Ja zur Übernahme von mehr Verantwortung für Frieden und Demokratie gesagt. Vielleicht ist es vor diesem Hintergrund kein Zufall, dass die erste Kabinettsvorlage, die ich in meiner neuen Funktion im Hause des Auswärtigen Amtes zu unterzeichnen hatte, eine war, die mit diesen internationalen Friedenseinsätzen zu tun hatte, nämlich die deutsche Beteiligung an der Grenzschutzmission in Rafah, die, wie ich finde, ein sichtbarer Beitrag Europas zur Schaffung von Stabilität in der schwierigen Nachbarschaft zwischen Israel und Palästina ist. ({5}) Wir haben gemeinsam den Kampf gegen den internationalen Terrorismus aufgenommen und sowohl im Bereich der Innen- und Justizpolitik als auch, wie ich meine, in der Außenpolitik das Notwendige getan, ohne die Prinzipien von Toleranz und Rechtsstaatlichkeit aufzugeben. Zudem - das darf ich trotz aller Auseinandersetzungen in der Vergangenheit feststellen - stehen wir gemeinsam zu der Entscheidung, keine deutschen Truppen in den Irak zu entsenden. ({6}) Ich sage das auch deshalb, weil ich nach den Gesprächen mit der amerikanischen Außenministerin gestern den vertieften Eindruck gewonnen habe, dass dies auch von den amerikanischen Freunden und Partnern akzeptiert wird, und zwar nicht nur deshalb, weil unser Beitrag - der militärische Beitrag in Afghanistan und der zivile beim Wiederaufbau im Irak - gesehen und anerkannt wird, sondern auch deshalb, weil die Vereinigten Staaten von Amerika zu Recht auf ein starkes und selbstbewusstes Deutschland setzen. Ich betone ausdrücklich: Wir wollen gute und, wo nötig, auch kritisch-konstruktive Partner sein, und zwar aus Dank für die Hilfe, die wir in der Vergangenheit erfahren haben, und aus der gemeinsamen Verantwortung für eine gerechte und friedliche Weltordnung, ({7}) Prinzipien also, die wir auch im Kampf gegen den Terrorismus zu beachten haben. Das war, wie Sie aus den Medien wissen, auch Gegenstand der Gespräche am gestrigen Tage. Sicherlich ist noch in beunruhigender Weise unklar, was von Medienberichten über Gefangenentransporte und geheime Gefängnisse zu halten ist. Wir brauchen Aufklärung. Darin sind wir uns mit den europäischen Partnern einig. Ich habe aber nach den Gesprächen in Washington den Eindruck, dass das verstanden worden ist, und ich hoffe, dass die Antwort auf die europäischen Fragen zeitnah erfolgt und Klarheit schafft. ({8}) Im Übrigen - das ist nicht unwesentlich - war ich mir mit den amerikanischen Gesprächspartnern darin einig, dass wir an den Differenzen der Vergangenheit, die es durchaus gab, gearbeitet haben, und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks erfolgreich und mit Zukunftsperspektiven. Wir haben eine Vielzahl gemeinsamer Interessen. Wir wollen jetzt nach vorne blicken und sehen, was wir zur Stabilisierung der Situation etwa in Afghanistan, auf dem Balkan, im Nahen und Mittleren Osten, bei den östlichen Nachbarn der Europäischen Union oder in Zentralasien beitragen können. Klar war auch: Unsere guten Beziehungen zu Russland werden nicht etwa argwöhnisch beäugt, sondern ausdrücklich begrüßt, weil ein Russland, das sich nach Westen orientiert, in unserem gemeinsamen Interesse liegt ({9}) und weil Russland ein unverzichtbarer Partner für Frieden und Stabilität in Europa und den Nachbarregionen ist. Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung schon einen umfassenden Überblick über die anstehenden außen- und europapolitischen Fragen gegeben. Ich will mich deshalb in der knappen zur Verfügung stehenden Zeit auf zwei Punkte beschränken. Der erste Punkt ist der Iran. Aus meiner Sicht ist eine Lösung im Streit um den iranischen Nuklearehrgeiz am drängendsten. Kein anderes Thema hat in meinen Gesprächen in den vergangenen Tagen einen so breiten Raum eingenommen. Wir teilen die Besorgnisse des überwiegenden Teils der internationalen Staatengemeinschaft. Wir brauchen absolute Sicherheit und objektive Garantien, dass bei der zivilen Nutzung von Kernkraft keine militärisch nutzbaren Waffentechnologien vorbereitet werden. ({10}) Gleichzeitig - das ist meine feste Überzeugung bleibt aus unserer Sicht die Verhandlungslösung der beste Weg. ({11}) Deshalb hat die IAEO mit unserer Unterstützung Teheran nochmals aufgefordert, alle Verpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag zu erfüllen. Diesen Verpflichtungen ist Teheran aus Sicht der IAEO in wichtigen Punkten noch nicht nachgekommen. Deshalb haben die drei europäischen Staaten, die die Verhandlungen in der Vergangenheit geführt haben, vor wenigen Tagen den Vorschlag des Iran aufgegriffen, die Gespräche möglicherweise demnächst erneut aufzunehmen. Wir haben das davon abhängig gemacht - deshalb ist der Startschuss für den Wiederbeginn der Gespräche noch nicht gefallen -, dass der Iran Signale gibt, dass er von der in jüngster Zeit zu beobachtenden Praxis einseitiger Schritte ablässt und eine Lösung akzeptiert, die dem Iran die friedliche Nutzung der Atomkraft erlaubt, gleichzeitig aber ausschließt, dass der Brennstoffkreislauf geschlossen wird. Man wird in den Gesprächen sehen, ob unter anderem der von Russland in die Debatte eingebrachte Lösungsvorschlag, die Anreicherungsvorgänge außerhalb des Staatsgebietes des Irans vorzunehmen, eine Basis für die Wiederaufnahme der Verhandlungen ist. Wir hoffen jedenfalls - das als vorläufige Conclusio -, dass der Iran klug genug ist, dieses Angebot anzunehmen und eine Lösung auf dem Verhandlungswege und damit unter dem Dach der IAEO zu ermöglichen. Ich füge aber hinzu: Die Geduld derjenigen, die bereits viele Verhandlungsrunden hinter sich gebracht haben, wird endlich sein. Wenn der Iran nicht bereit ist, die Forderungen der IAEO zu erfüllen, dann wird man irgendwann gar nicht umhinkommen, über den Gang zum Sicherheitsrat ernsthaft nachzudenken. Das Stichwort, das in diesen Zusammenhang zwingend gehört, ist schon heute Morgen in der Regierungserklärung gefallen. Wir haben die antiisraelischen Äußerungen des iranischen Ministerpräsidenten Ahmadinedschad mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen. Niemand hat das Recht, das Existenzrecht Israels infrage zu stellen. ({12}) Ich habe zu diesem gesamten Vorgang kürzlich in einer anderen öffentlichen Rede gesagt: Ich bedauere es sehr - genauer gesagt: es ist fast eine Tragödie -, dass der Iran sein großes Potenzial, ein Stabilitätsanker in einer krisengeschüttelten Region des Mittleren Ostens zu sein, entweder nicht erkennt oder sogar bewusst verspielt. ({13}) Der zweite Punkt, der unsere besondere Aufmerksamkeit erfordert - wem sage ich das! -, ist die Lösung der europäischen Finanzfragen. Wir hoffen und setzen darauf, dass von der britischen Ratspräsidentschaft in der nächsten Woche Vorschläge vorgelegt werden. Aus meiner Sicht und aus der vieler europäischer Kollegen, mit denen zu sprechen ich in den letzten Tagen Gelegenheit hatte, ist eine Einigung auf dem bevorstehenden Gipfeltreffen unabdingbar, jedenfalls dann, wenn wir sicherstellen wollen, dass die neuen Mitgliedstaaten der EU nicht nur eine formale Mitgliedschaft erworben haben, sondern auch die Möglichkeit erhalten, tatsächlich in die Europäische Union hineinzuwachsen. ({14}) Gerade die neuen Mitgliedstaaten brauchen einen Finanzrahmen, damit Mittel aus der Strukturpolitik fließen können. Ohne eine Verständigung über die finanzielle Vorausschau hängt das große Erweiterungsprojekt von 2004 - das liegt auf der Hand - zumindest mit einem Bein in der Luft. Wir kennen die britischen Vorschläge noch nicht. Sie werden, wie ich eben angedeutet habe, auf jeden Fall kommen. Aber ich habe die Ernsthaftigkeit aller an diesem Prozess Beteiligten festgestellt, das Projekt der finanziellen Vorausschau noch vor Weihnachten zu einem guten Ende zu bringen. Die Bedingungen dafür sind für uns klar: Der von der Luxemburger Präsidentschaft vorgeschlagene Ausgaberahmen darf und kann jedenfalls aus unserer Sicht nicht überschritten werden. Ein abschließender Satz zum Geiseldrama, aber vielleicht aus einer etwas anderen Perspektive. Natürlich sehe ich - das habe ich gegenüber der Öffentlichkeit zum Ausdruck gebracht - das Schicksal der deutschen Geisel und ihres Fahrers im Irak mit großer Sorge. Sie wissen, dass alle unsere Anstrengungen darauf gerichtet sind, das Leben der Geiseln zu schützen und die Freilassung zu erreichen. In diesem Zusammenhang bestand gestern bei den Gesprächen in den USA die Möglichkeit, den amerikanischen Partner zu bitten, mit regionalem Wissen und Kenntnis der Personalstrukturen behilflich zu sein. Das ist zugesagt worden. Die Deutsche Botschaft, das BKA und das Auswärtige Amt mit seinem Krisenstab sind im Augenblick intensiv bei der Arbeit. Ich habe das Thema vor allen Dingen aber angesprochen, um einen anderen Aspekt zu betonen. Ich glaube, dass sich gerade in Momenten wie diesen zeigt, wie wichtig es ist, dass unser Land auf Menschen bauen kann, die im Ausland - oft unter schweren Bedingungen ihren Dienst versehen. ({15}) Ich glaube - Frau Merkel, ich habe es nicht endgültig nachprüfen können -, wir haben mit unserer Koalitionsvereinbarung insofern eine Premiere geschafft, als diese Koalitionsvereinbarung zum ersten Mal allen dankt, die im Ausland für Deutschland unterwegs sind: den Diplomaten und den Soldaten sowieso, aber auch denjenigen, die als Entwicklungshelfer, Polizisten, Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen oder politischen Stiftungen im Ausland unterwegs sind. ({16}) Wir tragen für alle diese Personengruppen eine besondere Verantwortung. Diese Personen müssen wissen, dass sie sich stets auf unser Verständnis, unsere Unterstützung und unsere Wertschätzung verlassen können. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Dr. Wolfgang Gerhardt. ({0})

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich vertrete hier eine Fraktion, der die Konsensbildung in der Außenpolitik, seit die Bundesrepublik Deutschland besteht, sehr wohl bewusst ist. Wir sind eigentlich die einzige Fraktion, die zu den Kernfragen der deutschen Außenpolitik gestanden hat, während sich manche Fraktionen zuerst mit der Westpolitik aussöhnen mussten und andere wiederum mit der Ostpolitik. Wir haben eine Kontinuitätslinie, die unbestritten ist. Deshalb wissen wir auch, Herr Minister Steinmeier, wie wertvoll es ist, dass man in der Außenpolitik möglichst Konsens sucht, in den großen Linien gemeinsam verfährt und die Debatte darauf beschränkt, wo eine unterschiedliche Bewertung vorliegt. Das transatlantische Bündnis war uns auch zu Zeiten bekannt, als die frühere Regierung im Begriff war, dieses für nicht mehr so bedeutungsvoll zu halten. Dass wir in Europa mit den kleinen und mittleren Staaten kommunizieren müssen, haben Sie zu Recht dargestellt. Dass dies vernachlässigt wurde, haben wir als Manko der früheren Regierung empfunden. Das muss man uns eigentlich nicht vortragen. Dass die Europäische Union größer geworden ist, hätte auch schon die alte Regierung dazu zwingen müssen, mit mehr Staaten zu kommunizieren. Es ist ja genau das, was der frühere Bundeskanzler eigentlich nicht gemacht hat und Sie jetzt in der Reisediplomatie nachholen. ({0}) Ich will angesichts der klaren Grundlinien und der Bedeutung der deutsch-französischen Freundschaft feststellen, dass diese Zusammenarbeit für uns wichtig ist und dass auch mit unserer Regierungsbeteiligung keine andere Reise stattgefunden hätte als zuerst die nach Paris, dann nach Brüssel und anschließend nach London. Ich begrüße es auch außerordentlich, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie dann nach Warschau fahren. Das ist alles unbestritten. Aber im Kern muss man ja überlegen, was am Ende herauskommen soll, um europäische Anliegen weiter zu bewegen. Die beiden großen Kontinentalstaaten Deutschland und Frankreich, die einst der Motor der Europäischen Union waren, sind das nicht mehr. Sie haben Beschäftigungsprobleme, sie haben Budgetprobleme. Sie haben nicht die Wirtschaftskraft, die die Eurozone eigentlich nach oben bringen könnte. Sie schwächeln eher. Sie sind kein dynamisches Tandem mehr. Wenn sie wieder eine Führungsfunktion ausüben wollen, dann müssen sie zuallererst genau das erledigen, was zu erledigen wäre - nach unserer Auffassung wurde das in der Regierungserklärung nicht ausreichend beDr. Wolfgang Gerhardt schrieben -: die Haushalte konsolidieren, für wirtschaftliches Wachstum sorgen, Beschäftigungsimpulse geben. ({1}) Ich wiederhole: Diese Aufgabe muss zuallererst erfüllt werden. Daran fehlt es. Ein Zweites muss geschehen - in den letzten Jahren ist dieser Versuch etwas missglückt -: Wenn sie beide wieder ein Stück weit Führung in Europa wahrnehmen wollen, müssen sie sich eines gewissen Kommandotons gegenüber anderen eher enthalten. Sie müssen alle als gleichberechtigte Mitglieder der Europäischen Union ansehen; sie dürfen keine Unterschiede machen. Die deutsche Bundesregierung darf nie mehr in die missverständliche Lage geraten, dass sie vor dem Hintergrund einer strategischen Partnerschaft mit Russland in vielen Gesprächen in Moskau Sachverhalte behandelt, die anderen Ländern, die zwischen Russland und Deutschland liegen, so nicht gefallen. ({2}) Auch diese Länder sind unsere Partner, deren Interessen wir klar sehen müssen. Es ist schon bemerkenswert - ich bin wohl kaum falschen Wahrnehmungen unterlegen -: Die Anzahl deutschrussischer Treffen, insbesondere unter der vergangenen Bundesregierung, steht in einem krassen Missverhältnis der Kontakte zu den Staaten, die zur Europäischen Union neu hinzugekommen sind. Diese Staaten hatten schon immer den Eindruck - das muss man wahrnehmen und spüren -, dass da manches verhandelt wird, was ihnen nicht gefallen könnte. Deshalb bestreiten wir nicht die außergewöhnliche politische Bedeutung einer strategischen Partnerschaft mit Russland. Wir bestreiten auch nicht den Wert der deutsch-französischen Beziehungen. Wir möchten nur, dass die strategische Partnerschaft mit Russland mehr beinhaltet, als in diesem Land einen Energielieferanten zu sehen. Wir möchten vielmehr betonen, dass wir ein massives Interesse an der Transformation dieses Landes zu einem stabilen Rechtsstaat und zu einer stabilen Demokratie haben. ({3}) Das muss zum Dialog gehören. In diesem Zusammenhang - strategische Partnerschaft mit diesem großen Land - sollten wir uns auch darüber klar werden, wie wir die Diktaturen mitten in Europa behandeln wollen. In einem Dialog mit dem russischen Präsidenten können wir über Belarus, über Moldawien und über Transnistrien nicht einfach hinweggehen. Ich bin für diese strategische Partnerschaft und ich bin für den Interessenabgleich; aber ich bin auch für die Erörterung der anliegenden Themen. Sonntägliche Ansprachen können nicht verdecken, dass wir eine strategische Partnerschaft mit Russland brauchen, dass dieses Land groß ist, acht Zeitzonen der Erde umfasst und ein wichtiger Energielieferant für Deutschland ist. Russland ist für mich aber mehr als ein Energielieferant. Russland kann und muss ein stabiler Partner sein, aber bitte einer, der demokratisch ist, bei dem Gerichte und eine unabhängige Justiz zu entscheiden haben und bei dem Verlässlichkeit für Investoren in der Welt herrscht. ({4}) Wir haben es im Grunde genommen mit einem Steckenbleiben in Bezug auf das zu tun, was wir in den Vereinten Nationen erreichen wollen. Wir haben für unsere Pläne Partner gefunden: Brasilien, Indien, Japan. Wir sollten noch mehr suchen. Aber wir sollten diese Bemühungen nicht mehr so monothematisch wie die frühere Regierung darauf verengen, einen Sitz im Sicherheitsrat anzustreben. Die Bundestagsfraktion der FDP wird Sie, Herr Minister, in jedem Bereich unterstützen, der auf eine Stärkung der Vereinten Nationen abzielt. Unsere Fraktion bekennt sich zum Multilateralismus. Wir wollen eine enge Bindung an das Völkerrecht. Wir neigen nicht zu unilateralen Aktionen, wie Sie alle wissen. Aber wir wollen der neuen Regierung schon sagen: Beschreiten Sie nicht mehr den alten, verengten Weg, einen Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat anzustreben! Treten Sie ein für eine Reform der Vereinten Nationen, für eine stärkere Durchsetzungsfähigkeit bei Menschenrechten, bei präventiven Konfliktlösungen und bei all dem, was dazugehört! Suchen Sie sich dafür auf internationaler Ebene Verbündete und halten Sie nicht nur Ausschau nach einer Lobby, die Sie in der Forderung unterstützt, dass Deutschland einen Sitz im Sicherheitsrat erhält! Jetzt besteht die Chance, die Politik gegenüber und in den Vereinten Nationen ein Stück weit neu auszurichten. ({5}) In Bezug auf die Iranfrage haben Sie das massive Interesse an einer Verhandlungslösung zu Recht bekundet. Wir stimmen Ihnen zu, auch was die strategische Bedeutung, die Sie diesem Land zugeschrieben haben, angeht. Das Land könnte ein Stabilitätspfeiler in dieser Region vom Kaspischen Meer bis zum Mittelmeer sein, die bis heute mit Katastrophen schwanger geht. Es hat eine blühende Kultur. Es ist reich an Traditionen und Geschichte. Für Iran muss nur eines klar sein - darauf können wir nicht verzichten -: Iran hat jedes Recht auf ein friedliches Nuklearprogramm, aber die Öffentlichkeit muss davon überzeugt sein, dass es friedlich ist; hier besteht völlige Übereinstimmung. Davon weichen wir nicht ab. Das muss der Staatsführung dort, der Bevölkerung, der gesamten Gesellschaft klar sein. Wir wollen, dass das Land eine Rolle spielt. Aber wir wollen auch, dass es sich so verhält, dass seine Nachbarn keine Angst vor ihm haben müssen. Das ist ein Mindesterfordernis des internationalen Umgangs gerade in einer Region, die bisher so wenig an Kooperation zustande bringt. So schön das Gruppenbild zum Jubiläumsjahr des Barcelona-Prozesses war - Herr Minister, Sie wissen wie ich: Eine größere Teilnahme aus den arabischen Staaten, genau aus den Staaten, für die wir den Barcelona-Prozess doch eigentlich organisiert haben, wäre wünschenswert gewesen. Die Tatsache, dass die wichtigsten Staatschefs, die man dabei haben müsste, aus unterschiedlichen Gründen abgesagt haben, kann hier nicht einfach so stillschweigend übergangen werden. Der Barcelona-Prozess - er wird weitergeführt werden müssen - ist von uns eigentlich eingeleitet worden, um einem Teil der arabisch-muslimischen Welt plus Israel - dort ist man zum ersten Mal in Kommunikation mit den Nachbarn in einem breiten Gürtel um sich herum - zu signalisieren, dass wir ein massives Interesse an einem Transformationsprozess haben, dass wir ihn stützen wollen, auch finanziell, dass wir uns anstrengen wollen, damit er zustande kommt. Aber diese großartige Kultur der arabischen Welt produziert für uns bis heute noch nicht einmal ein Minimum an Kooperation. Der wirtschaftliche Austausch in dieser Kette nordafrikanischer Länder wird eher behindert als begünstigt. Ich spreche das hier deshalb an, weil man natürlich auch sagen könnte: Wir begrüßen, dass der BarcelonaProzess nun zehn Jahre besteht und damit ein Jubiläum begeht, und hoffen auf eine gute Fortsetzung. Aber dann muss man schon tiefer eindringen, um zu sagen, wo es bisher hapert, wie wir die Probleme überwinden wollen und was jetzt zu tun ist. Wir müssen der arabischen Welt sagen, dass wir ihr nicht helfen können, wenn sie nicht ein Minimum an Kooperationsfähigkeit untereinander zustande bringt. Die gesamten Modelle, die wir für den Greater Middle East bisher diskutiert haben, sind nicht in einem Punkt aufgrund eigener Kommunikationsfähigkeit dort zustande gekommen. Ich sage das deshalb, weil dort das Wetter des Wohlstands gemacht wird, weil wir die Konflikte dieser Region in den deutschen Innenstädten haben, wenn wir sie nicht im Vorgriff mit der arabischen Welt lösen. Da kann von uns auch ein Stück Anspruch an die arabische Welt formuliert werden, selbst nach Konfliktlösungsmechanismen zu suchen, vor allem im Barcelona-Prozess. ({6}) Damit wir uns nicht so sehr auf Europa konzentrieren, will ich noch eine Bemerkung zu Asien machen, im Übrigen auch mit dem Hinweis darauf, dass ein Stück Korrektur deutscher Asienpolitik ganz hilfreich wäre. In Asien konkurrieren eigentlich alle Nationen in einem Wettbewerb ihrer Volkswirtschaften mit jeweiligen Investitionen dort. Das reicht nicht aus. Es finden die europäisch-asiatischen Treffen statt, aber es gibt dahinter keine kommunikativen Strukturen, die in Asien selbst neben China auch die Länder in den Blick nehmen, für die das ebenfalls notwendig ist. Indien wird meines Erachtens in der deutschen Außenpolitik viel zu wenig erwähnt, obwohl es eine gewachsene Demokratie ist, eine junge, energische, tatkräftige Bevölkerung hat. Wir sprechen kaum über mittelgroße asiatische Länder, die keine Einparteienherrschaft haben, die sich stärker auf demokratische Strukturen hin entwickeln, wie wir sie eigentlich gern hätten. Wir konzentrieren uns auf China, ohne das Thema Menschenrechte außerhalb internationaler Workshops ernsthaft mit China zu besprechen. ({7}) Im Grunde genommen besteht schon die Notwendigkeit, im Dialog, den wir mit China führen, auch solche Sachverhalte zu besprechen. Ich erwähne das deshalb, weil Politik nicht nur etwas mit dem Managen des Status quo und großen Kräftekonstellationen zu tun hat. Politik hat im Ursprung auch etwas damit zu tun, Transformationsprozesse einzuleiten, sie zu begleiten und Veränderungen herbeizuführen. Das geht nicht immer ohne Reibungen und auch nicht ohne unangenehme Begegnungen. Aber wir müssen sie angehen, gerade weil, Herr Minister, sich auf Deutschland neben fast überhöhten Erwartungen an uns auch die Hoffnungen vieler konzentrieren, dass wir Menschenrechte vertreten und denen helfen, die nicht wie wir in Freiheit leben können. Dies muss Wertmaßstab auch in der deutschen Außenpolitik bleiben. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Dr. Andreas Schockenhoff von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion verurteilt die Entführung von Frau Osthoff und ihrem Fahrer im Irak aufs Schärfste. Ihnen gilt unsere besondere Sorge. Wir hoffen und wünschen, dass beide möglichst schnell wohlbehalten freikommen. Wir sind überzeugt, dass die Bundesregierung dafür alles ihr Mögliche tun wird. Aber wir sagen auch mit aller Entschiedenheit: Bei allen nur denkbaren Bemühungen um die Befreiung der Geiseln dürfen und werden politische Bedingungen nicht erfüllt werden. ({0}) Deutschland muss auch weiterhin den Aufbau des Irak unterstützen; denn diese Aufbauunterstützung ist ein unverzichtbarer Beitrag im Kampf gegen den Terror im Irak und zum Gelingen der Demokratisierung nicht nur im Irak, sondern zugleich zu einer Stabilisierung im gesamten arabischen Raum. Meine Damen und Herren, die Koalitionsvereinbarung spricht zu Recht von Kontinuität in der deutschen Außenpolitik. Es ist die Kontinuität, die über eine sehr lange Zeit durch die Grundlagen deutscher Außenpolitik bestimmt wurde. Das heißt, europäische Einigung und atlantische Partnerschaft sind keine Gegensätze, sondern die beiden wichtigsten Pfeiler unserer Außenpolitik. Wenn es darüber in der letzten Zeit Irritationen bei unseren Partnern gegeben hat, dann wird durch die in der Koalitionsvereinbarung festgeschriebenen wichtigen Akzentverschiebungen Folgendes klargestellt: Erstens. Die Europäische Union ist Garant für politische Stabilität, Sicherheit und Wohlstand in Deutschland und Europa. Aus diesem Grund werden wir alles Mögliche tun, um die derzeitige Krise in der Europäischen Union zu überwinden. Die Menschen müssen wieder das Gefühl bekommen, dass die EU die dringenden Aufgaben wie Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Terrorbekämpfung und Umweltschutz zu lösen in der Lage ist, und sie müssen wieder eine Antwort auf die Frage erhalten, wohin sich die EU weiterentwickeln soll und wo ihre Grenzen liegen. Für die Lösung dieser Krise der EU und für ihre Weiterentwicklung bleibt der deutsch-französische Motor unverzichtbar. Aber er wird dann am wirksamsten sein, wenn wir unsere Partnerstaaten wieder frühzeitig einbeziehen und ihren Interessen gerecht werden. ({1}) Wenn bei unseren Partnern in der Vergangenheit ein Gefühl der Bevormundung entstanden sein sollte, dann ist die Botschaft der neuen Regierung unter Angela Merkel klar - deshalb begrüßen wir ausdrücklich, dass der Außenminister eine seiner ersten Reisen in die Niederlande unternommen hat -: Wir werden auch mit den mittleren und kleinen EU-Partnerländern wieder eng zusammenarbeiten und, wenn es möglich ist, gemeinsame Initiativen entwickeln. ({2}) Herr Außenminister, es war auch ein richtiges Signal, dass Sie anschließend in Italien waren. ({3}) Zweitens. Ebenso unverzichtbar ist ein enges und vertrauensvolles transatlantisches Verhältnis. Nur gemeinsam können wir den neuen Sicherheitsbedrohungen wirksam begegnen und unsere Ziele in der Außen-, Handels- und Umweltpolitik erreichen. Natürlich wird es schon wie in der Vergangenheit unterschiedliche Auffassungen geben. Ich nenne nur die Stichworte Guantanamo oder Strafgerichtshof. Aber sie werden im partnerschaftlichen Dialog und im Geiste der Freundschaft geregelt werden. Denn ein transatlantisches Zerwürfnis können wir uns nicht leisten. Wir können es uns schon deshalb nicht leisten, weil das Gewicht der Wertepartner Europa und Amerika, insbesondere was die wirtschaftliche Leistung betrifft, im Verhältnis zu den emporstrebenden Staaten und Regionen der Welt immer kleiner wird. Deshalb ist es gut, dass in der Koalitionsvereinbarung klar zum Ausdruck gebracht wird: Europa versteht sich nicht als Gegengewicht, sondern als Partner der Vereinigten Staaten. ({4}) Viele Aufgaben liegen hier vor uns, ob in den Handelsbeziehungen, in unserem Beitrag zur Lösung des Nahostkonflikts und zur Demokratisierung der Länder des größeren Mittleren Ostens oder in der Klimapolitik. Ein weiteres Beispiel ist das Stichwort Asienstrategie - Herr Gerhardt, Sie haben es gerade angesprochen -, das ebenfalls in unserer Koalitionsvereinbarung enthalten ist. Wir Europäer müssen die Herausforderungen Asiens sowohl politisch als auch wirtschaftlich annehmen. Die politische Stabilität Asiens ist für uns Europäer von überragendem Interesse. Konflikte wie die Taiwanfrage, maritime Territorialstreitigkeiten oder die Spannungen auf der koreanischen Halbinsel sind keine Angelegenheiten, die wir anderen überlassen können. Sie betreffen uns unmittelbar und nicht nur unsere Handelsbeziehungen. Nicht zuletzt das Verhalten Chinas gegenüber den Entwicklungen im Sudan oder im Iran hat deutlich gemacht, dass dort europäische Sicherheitsinteressen unmittelbar berührt sind. Wenn wir uns selber darüber im Klaren sind, wie wir die Herausforderungen Asiens annehmen werden, dann werden wir auch im transatlantischen Dialog über diese Fragen mithalten können. Der Koalitionsvertrag stellt drittens wieder klar, dass die NATO der stärkste Anker unser Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist und dass sie wieder zum zentralen Ort des transatlantischen sicherheitspolitischen Dialogs werden muss. Aber ebenso klar muss sein, dass dies für beide Seiten gilt. Europa muss wieder geschlossener werden, es muss seine militärischen Fähigkeiten verbessern und die USA dürfen die NATO nicht als Toolbox missbrauchen. Viertens. Wir wollen unser Verhältnis zu Russland zu einer echten strategischen Partnerschaft weiterentwickeln. Wir brauchen - das ist schon erwähnt worden Russland als Partner zur Bewältigung der globalen Herausforderungen und zur Regelung von Krisen und Konflikten. Ich nenne auch hier das Stichwort Iran. Strategische Partnerschaft heißt für uns aber mehr. Ich habe bereits gesagt, dass das Gewicht der Wertepartner Europa und Amerika im Vergleich zu den emporstrebenden Staaten der Welt abnimmt und dass wir uns einen transatlantischen Dissens nicht leisten können. Im Gegenteil: Wir müssen versuchen, unser Gewicht und unseren Einfluss durch die Kooperation mit anderen Wertepartnern zu stärken. Russland ist ein solcher potenzieller Wertepartner. Es hat sich den Werten des Europarats verpflichtet. Deshalb wollen wir in der Zusammenarbeit mit Russland alles tun, um die demokratische und wirtschaftliche Entwicklung und die Entstehung einer Zivilgesellschaft zu unterstützen. Aber es gibt auch Probleme hinsichtlich der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Wenn sich unsere Zusammenarbeit mit Russland an den europäischen Werten orientieren soll, müssen wir diese Probleme im Geist der Partnerschaft ansprechen. Wir müssen zum Beispiel darauf hinweisen, dass das von der Duma in erster Lesung beschlossene Gesetz zur Tätigkeit von russischen Nichtregierungsorganisationen und ausländischen Stiftungen im deutlichen Widerspruch zu der von Präsident Putin angekündigten Stärkung der Zivilgesellschaft steht. Wenn dieses Gesetz in Kraft treten sollte, wird es die Arbeit und die Existenz vieler russischer NGOs erheblich erschweren. Das aber wäre ein Rückschritt, der nicht in unserem gemeinsamen Interesse liegen kann. ({5}) Ein zweites Beispiel. Die Tschetschenin Sainap Gaschajewa ist vor wenigen Tagen mit dem LewKopelew-Preis ausgezeichnet worden. Der WDR-Intendant Fritz Pleitgen hat in seiner Laudatio gesagt: Frau Gaschajewa trotzt Kriegsgefahren und staatlichen Einschüchterungen, um die Welt auf die Leiden der Menschen in ihrer Heimat Tschetschenien aufmerksam zu machen. Ich finde, der Mut von Frau Gaschajewa und vieler anderer Frauen und Männer in Russland verpflichtet uns, die Probleme in Tschetschenien offen anzusprechen und immer wieder im Dialog mit Russland auf eine politische Lösung des Tschetschenienkonflikts zu drängen. ({6}) Ein drittes Beispiel: So richtig das Pipelineprojekt durch die Ostsee ist, so wichtig ist es, Projekte von so gravierender außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung nicht über die Köpfe unserer ostmitteleuropäischen Nachbarn hinweg zu betreiben. ({7}) Das hat die neue Regierung ausdrücklich zugesagt und das ist gerade für die Vertrauensbildung im deutsch-polnischen Verhältnis wichtig. ({8}) Ein wichtiger Schwerpunkt der deutschen Außenpolitik bleiben die Bemühungen der Länder des größeren Mittleren Ostens um Demokratisierung und Modernisierung. Diesen Prozess wollen wir auch weiterhin unterstützen. Dabei bleibt entscheidend, wie glaubwürdig wir uns für die Lösung des Nahostkonfliktes einsetzen. Gerade wegen der schwierigen Situation in Palästina und in Israel und auch als Zeichen gegen den Terror, wie er kürzlich Amman auf schreckliche Weise getroffen hat, müssen sich Amerikaner und Europäer verstärkt für die Fortsetzung des Friedensprozesses engagieren. Wir werden zwischen unserer Welt und der islamischen Welt keinen Frieden finden, wenn dieser Konflikt nicht fair, gerecht und dauerhaft geregelt wird. Dazu müssen alle Staaten der Region beitragen, auch der Iran. Wer wie der iranische Präsident Ahmadinedschad dazu auffordert, Israel auszuradieren, verstärkt den Verdacht, sein Atomprogramm diene einem anderen als dem vorgeblich friedlichen Zweck. Ich sage für die CDU/CSU: Der Iran hat das Recht auf eine friedliche Nutzung der Kernenergie. Er hat aber kein Recht auf Nuklearwaffen. ({9}) Die CDU/CSU begrüßt deshalb ausdrücklich, dass die Bundesregierung in dieser Frage die bisherige Linie weiterverfolgen wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden unsere außenpolitischen Interessen umso wirksamer durchsetzen, je geschlossener wir sie mit unseren europäischen Partnern abstimmen und in gemeinsamen Initiativen umsetzen. Deshalb ist es unser Kerninteresse, die Krise der EU möglichst bald zu überwinden. Wir brauchen in Europa endlich eine breite öffentliche Diskussion über die Zukunft der EU, also über die Frage: Was soll die Europäische Union in der globalisierten Welt leisten und was soll oder kann sie nicht leisten? Diese Diskussion hat noch nicht begonnen. Diese Diskussion zu führen ist nicht nur eine Aufgabe der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments, der europäischen Regierungen oder der Medien. Es ist insbesondere auch eine Aufgabe des Bundestages, die wir hier im Plenum, aber auch in öffentlichen Anhörungen der zuständigen Ausschüsse möglichst bald in Angriff nehmen sollten. Ich möchte fünf Punkte nennen, wie wir den Begriff der Aufnahmefähigkeit der EU verstehen, der in der Koalitionsvereinbarung besonders hervorgehoben wird: Aufnahmefähigkeit bedeutet für uns - erstens Akzeptanz in der EU-Bevölkerung. Die Menschen müssen wieder das Gefühl bekommen, dass die EU, ehe sie sich durch eine Erweiterung zusätzliche Lasten aufbürdet, fähig ist, die dringenden Probleme zu lösen, das heißt, Arbeitsplätze zu schaffen, deutlich mehr wirtschaftliche Stabilität und Modernität zur Bewältigung der Globalisierung zu entwickeln, Terrorismus und internationale Kriminalität erfolgreicher zu bekämpfen sowie die Umweltprobleme und die Energieprobleme zu bewältigen. Was wir mit der Lissabon-Strategie beschlossen haben, ist nach wie vor richtig: flexible Arbeitsmärkte, die weitere Öffnung des Binnenmarktes, die stärkere Förderung von Forschung und eine stete Verbesserung der beruflichen Qualifikation. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten müssen dies nur endlich umsetzen. Wir werden dies mit vielen Maßnahmen tun, die wir in der Koalitionsvereinbarung beschlossen haben. Herr Westerwelle, dies sind nicht nur Trippelschritte. Dies sind viele, kleine, wichtige Maßnahmen. Ich bin zuversichtlich, dass wir Erfolg haben werden. Zur Frage der Akzeptanz der Europäischen Union bei den Bürgern gehört auch Klarheit über die Grenzen der Europäischen Union. Wir können nicht darüber hinwegsehen, dass der Türkeibeschluss die seit der letzten EU-Erweiterung wachsende Sorge vor Unüberschaubarkeit und Grenzenlosigkeit der EU verstärkt hat. Zur Aufnahmefähigkeit gehört - zweitens - die Frage der Identität. In einer immer größer werdenden Europäischen Union ist es notwendig, das europäische WirGefühl zu stärken. Deshalb müssen wir uns sehr behutsam mit der Frage auseinander setzen, welches Maß an Anderssein und gesellschaftlichen Unterschieden in der Europäischen Union verkraftbar ist, um der Forderung des vierten Kopenhagener Kriteriums zu entsprechen, jede Erweiterung solle - so wörtlich - „den Zusammenhalt der Union stärken“. Drittens gehört Regierbarkeit dazu, also die Fähigkeit, in einer noch größeren Gemeinschaft die notwendigen Entscheidungen sachgerecht und zügig zu treffen. Zu diesem Punkt gehört natürlich auch die Frage, wie glaubwürdig wir mit unseren eigenen Kernbeschlüssen umgehen, die die Grundlage für ein erfolgreiches Handeln der Europäischen Union in einer immer komplexeren Welt sind, beispielsweise die Frage, wie konsequent wir den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt einhalten. Auch deshalb ist die klare Selbstverpflichtung in der Koalitionsvereinbarung wichtig, die Stabilitätskriterien ab 2007 wieder einzuhalten. Ich nenne viertens die Finanzierbarkeit. Es ist nicht nur wichtig, fristgerecht zu einem Finanzrahmen für die Periode 2007 bis 2013 zu kommen. Noch wichtiger ist es, dass dieser Haushalt einerseits zukunftsgerichtet, also auf die zunehmenden Herausforderungen der Globalisierung ausgerichtet, ist, andererseits aber auch die Solidarität mit den schwächeren Mitgliedstaaten widerspiegelt. Schließlich nenne ich fünftens die außenpolitische Stabilität. Wenn die EU eine „Schicksals- und Verantwortungsgemeinschaft“ sein will, dann müssen Erweiterungen so vorgenommen werden, dass die Europäische Union ein Stabilitätsanker bleibt. Wenn die EU durch eine Vollmitgliedschaft der Türkei direkter Nachbar des Iran, Syriens und des Irak wird, wirft das gravierende Fragen hinsichtlich der inneren und äußeren Sicherheit der Europäischen Union auf, die zuvor klar und einvernehmlich beantwortet werden müssen. Um diese Fragen geht es bei dem in der Koalitionsvereinbarung genannten Stichwort „Aufnahmefähigkeit“. Wir verstehen darunter keine Strategie zur Abwehr neuer Mitglieder, sondern eine Strategie für mehr Akzeptanz der Europäischen Union bei den Bürgern, für mehr Handlungsfähigkeit, für mehr globale Konkurrenzfähigkeit und damit erst für die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union. Herr Außenminister Steinmeier, in diesem Sinne wird die CDU/CSU-Fraktion die Bundesregierung kraftvoll unterstützen. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Knoche von der Linken.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Sehr geehrter Herr Außenminister Steinmeier, ich darf Ihnen versichern, der Linken wäre es eine Freude, Sie bei der Umsetzung einer engagierten emanzipatorischen Außenpolitik unterstützen zu können. Sie kündigen Kontinuität der rot-grünen Politik an. Gerade das ist ein Grund, warum wir Ihnen den Zuspruch versagen müssen. ({0}) Sie setzen die Interessenwahrnehmung Deutschlands mit ökonomischem Nutzen gleich. Für die Lösung der Gerechtigkeitsfragen der Welt mittels der Außenpolitik ist die militärische Option der falsche Weg. Das ist nicht die Art von Verantwortung, die wir uns vorstellen. ({1}) Um es klar zu sagen: Wir sind nicht gegen Militarismus, weil wir in der Opposition sind. Wir lehnen diesen Weg ab, weil er mehr Probleme schafft als löst. ({2}) Wir haben nicht angenommen, dass Sie sich in Selbstkritik üben ob der ungeordneten Situation 15 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und der euphorischen Fehlprognosen bezüglich der neuen Friedensära. Wir nehmen nicht an, dass Sie Jahre nach dem Angriffskrieg gegen Ex-Jugoslawien die Fehleinschätzung von Dayton eingestehen. Was wir erwarten, ist, dass Sie die selbstgefällige Rede von dem weltweiten Ansehen Deutschlands wegen der Kriegsbeteiligung beenden; ({3}) denn Krieg ist kein legitimes Mittel der Politik, auch wenn er stattfindet. Selbst wenn Sie beispielsweise mit Zapfenstreich und Wehrpflicht die Alltäglichkeit des Militärischen suggerieren wollen, lassen wir Ihnen dies nicht durchgehen. ({4}) Nicht von Krieg, von Terrorbekämpfung ist jetzt die Rede. Doch die Einsätze bleiben völkerrechtswidrig. Krieg um Öl, egal wer ihn wo führt, ist keine Normalität. Es sind wirtschaftliche Interessen im Spiel und nicht die Menschenrechte. ({5}) Klarheit und Wahrheit gehen im Zuge der Kriegseinsätze genauso verloren wie Aufklärung, Legalität und Demokratie. Das Bundesverwaltungsgericht stellte klar: Die geleistete logistische Unterstützung für den Irakkrieg ist ihrerseits ein Völkerrechtsbruch. ({6}) Gefangene werden vom CIA aus Afghanistan in illegale Gefängnisse gebracht. Guantanamo ist ein Ernstfall der Menschenrechtsfrage, und zwar schon seit Joschka Fischers Amtszeiten. ({7}) Schwarz, Rot und Grün tragen Mitschuld durch Duldung. Es stehen Vorwürfe im Raum, dass in geheimen Gefängnissen in Europa gefoltert wird. Herr Minister Steinmeier meint: Mal abwarten, was die USA der EU erzählen. - Das nun genügt nicht. ({8}) Das war ein armseliger Auftritt bei Frau Rice. Wir wollen wissen, was die Bundesregierung weiß, und sagen, was sie wissen und, vor allem, nach geltendem Recht tun müsste. Wo, bitte, ist die Souveränität, wo die Äquidistanz zu den USA? ({9}) Was ist der Anteil, fragen wir, deutscher Truppen in Afghanistan am Aufbringen und Verbringen von Gefangenen? Im Raum steht die Möglichkeit, dass Deutschland selbst sich Verbrechen schuldig macht. Es herrscht Aufklärungs- und Handlungsbedarf. Hier hat der proklamierte Völkerrechts- und Menschenrechtsvorrang zu greifen. Wegen des fortgesetzten Völkerrechtsbruchs in Afghanistan haben die Menschen Angst vor Terroranschlägen, zahlen mit dem Verlust von Bürgerrechten und Einschnitten in den Datenschutz. Dieser Krieg gegen den Terror ist mit steigenden Rüstungsausgaben und der Androhung des Einsatzes der Bundeswehr im Innern verbunden. Sie deklarieren Rüstungsausgaben zu Investitionen um; die sozialen Investitionen bezeichnen Sie als Lasten. Wer hat sich die Sicherheitspolitik so vorgestellt? ({10}) Im Übrigen hat der Bundestag nie definiert, was Terror ist. Ich meine, erstens ist Terror als Tötung Unbeteiligter zur Erreichung politischer Ziele zu beschreiben und zu ächten, zweitens ist zwischen Befreiungsbewegungen und ethnisch-rassistischer Unterdrückung und Willkür zu unterscheiden und drittens ist Krieg gegen Drogen vom Krieg gegen Terror zu trennen und sich an keinem von beiden zu beteiligen. ({11}) Meine Herren und Damen, zum deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Hier sollte die Bundesregierung dem Rat aus den eigenen Reihen folgen und das Anspruchsniveau realistisch ausgestalten, statt rot-grüner Selbstüberschätzung nachzueifern. Was wir unterstützen würden, ist ein Votum für eine Weiterentwicklung des Völkerrechts und der UNO. Im Ergebnis brächte das unseren Vorstellungen nach dem vergessenen Kontinent Afrika eine eigene und eine eigenständige Stimme. Dieser Teil der Welt darf nicht erst dann ins Blickfeld rücken, wenn der Migrationsdruck vor den verschlossenen Toren Europas dazu zwingt. ({12}) Im Westen fällt, neben den USA, mein Blick auf Lateinamerika, das ein Recht darauf hat, eine Gleichstellung mit den Vetostaaten zu erlangen. Die Entwicklungen zum Beispiel in Venezuela halte ich für äußerst beeindruckend und interessant. ({13}) Im Nahen Osten macht die Drohkulisse gegen den Iran besorgt. Wir lehnen atomare Energie und erst recht atomare Bewaffnung ab. Aber dennoch kann dem Iran die legitime Atomnutzung nicht abgesprochen werden. ({14}) Was wir brauchen, ist eine konsequente Initiative für einen atomwaffenfreien Raum im Nahen und Mittleren Osten. ({15}) Bei der Regierungsposition könnte man meinen, die Welt ende in China, den USA und Russland. Letztgenanntes Land endet zwar am Ural, aber wie weit Europa reichen soll, darauf bleibt die Regierung die Antwort schuldig. Was Europa heute und morgen ist, diese Frage ist nicht dadurch beantwortet, dass man nichts zur Türkei sagt. Gleichbehandlung für alle Beitrittsländer, bitte! Hier muss ein ideengeschichtliches, ein geographisches sowie ein politisch-kulturelles Bild entworfen werden. Ihrem Willen nach soll weiterhin eine europäische Verfassung das ganze Gebilde ergänzen. Die Zeit dafür ist meines Erachtens vorbei. Was bleibt Ihnen? Bolkestein. Das bedeutet nichts weiter als Privatisierung und Deregulierung sowie Entdemokratisierung. ({16}) Würden Sie die Bevölkerung befragen, bin ich mir sicher, sie würde sagen: Wir wollen ein soziales und friedliches Europa. Aber Sie wollen das Volk nicht fragen. Zu einer europäischen Idee gehören der Sozialstaat, eine antimilitaristische Zukunft und der ökologische Erhalt. Weil Sie das infrage stellen, sind die Menschen europaskeptisch. Die Bevölkerung fürchtet nicht den Islam oder andere Religionen. Sie fürchtet auch nicht die persönlichen Herausforderungen, die eine echte ökologische Wende mit sich brächte. Deutschland, Europa und die Welt brauchen eine sozialökologische Idee und eine partizipative Entwicklung. Das ist die Friedensdividende der Zukunft. Ich danke Ihnen. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Jürgen Trittin vom Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, liebe Frau Knoche, angesichts des Schicksals von Frau Osthoff bedarf es eigentlich keiner umfassenden Definition, was Terrorismus ist. ({0}) Das, was da betrieben wird, ist nichts anderes, als sich ausgerechnet an Menschen schadlos zu halten, die sich in besonderer Weise dafür eingesetzt haben, die Lebensverhältnisse der Menschen im Irak zu verbessern. Dieses Vorgehen zeigt: Es zielt gerade nicht nur auf den Einzelnen, nicht nur auf die Erpressung dieser Gesellschaft, sondern es zielt auch gerade darauf, jeden Ansatz der Verbesserung der Lebenssituation der Menschen im Irak anzugreifen. Das ist der Grund, warum wir nachdrücklich gegen diese Form des Terrorismus sind und warum wir nachdrücklich sagen: Wir wollen die Lage der Menschen im Irak verbessern und dazu gehören selbstverständlich vernünftige Beziehungen zur gewählten Regierung im Irak. ({1}) Es zeigt auch, dass es bei diesen Terroristen nicht um die Frage geht, wie sich die eine oder andere Regierung im Falle des Irakkonfliktes verhalten hat, sondern ihr Verhalten zielt ganz genau auf die offene Gesellschaft, auf Gesellschaften, in denen unterschiedliche Lebensweisen miteinander existieren können. Das ist die Herausforderung, der wir uns zu stellen haben. Wir waren 2002 nicht gegen eine Beteiligung an diesem Krieg, weil wir geglaubt haben, dadurch könnten wir unsere Bürgerinnen und Bürger vor solchen terroristischen Anschlägen besser oder vollständig bewahren. Es wäre naiv, das zu glauben. Wir waren vielmehr dagegen, weil wir der Auffassung waren und sind, dass diese Form des Vorgehens diese Region weiter destabilisiert hat ({2}) und diese Destabilisierung die terroristische Gefahr nicht vermindert, sondern erhöht hat. ({3}) Ich sage das in aller Ruhe. Dies ist heute faktisch Konsens in Deutschland. Wenn Sie sich die Koalitionsvereinbarung anschauen, dann sehen Sie, dass genau diese Haltung von Joschka Fischer und Gerhard Schröder auch von der jetzigen Koalition geteilt wird. Aber in einem Punkt will ich auch - und das geht in die andere Richtung - zustimmen: Wenn wir uns mit der realen Situation von heute auseinander setzen wollen, dann müssen wir festhalten, dass die Überwindung der globalen Herausforderungen des Terrorismus, einer anhaltenden Armut und Unterentwicklung, bestimmter Krankheiten und des Klimawandels nur auf globaler Ebene zu erreichen ist. Deswegen war es richtig, lieber Frank-Walter Steinmeier, dass Sie den Weg in die USA gemacht haben. Denn diese Herausforderungen werden sich nur mit den USA und mit den Amerikanern bewältigen lassen. Das sage ich als jemand, der nach einer sieben Jahre dauernden Auseinandersetzung um den Klimawandel bestimmte Fortschritte ohne die Amerikaner erreicht hat. Aber ich sage Ihnen auch: Wenn Sie das Problem vollständig lösen wollen, dann geht das immer nur mit der einzig verbliebenen Großmacht auf diesem Globus. Das gilt aber auch umgekehrt: Diese Macht allein wird die Herausforderungen von Armut, Unterentwicklung, Terrorismus und Klimawandel nicht im Alleingang bewältigen können. Auch sie wird das nicht ausschließlich im Rahmen bilateraler Vereinbarungen leisten können. Das heißt für die deutsche Außenpolitik: Wir tun gut daran, den multilateralen Ansatz unserer Außenpolitik zu stärken. Dazu gehört eine Reform der multilateralen Institutionen, also der Vereinten Nationen. Es ist richtig, ihre Fähigkeit zur Prävention und zur vorbeugenden Krisenverhinderung zu stärken. Das ist der Kern einer Reform der Vereinten Nationen. Zu dieser Reform gehört auch - nicht ausschließlich, aber auch - die Reform des Organs, in dem solche Entscheidungen getroffen werden: des Sicherheitsrates. Dazu gehört auch, dass jene Schwellenländer dort künftig einen größeren Einfluss haben, die bisher von dem Entscheidungsprozess ausgeschlossen sind. Und dazu gehört, dass wir und übrigens auch Japan den Erwartungen gerecht werden, die an dieser Stelle von außen an uns herangetragen werden. Das ist der Kern dieser Politik. ({4}) Wenn ich sage, dass wir diese Herausforderungen bewältigen müssen, dann ist das an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Die erste Voraussetzung ist: Diese Herausforderungen sind nur auf der Basis der Herrschaft des Rechts und der Achtung der Menschenrechte zu bewältigen. Glaubwürdigkeit ist die wichtigste Waffe im Kampf gegen Unterentwicklung und Terrorismus. Geheime Gefängnisse oder folterähnliche Verhörmethoden als „innovativ“ schönzureden ist damit unvereinbar. ({5}) Ich finde es richtig und begrüßenswert, dass Frau Rice Ihnen, Herr Steinmeier, gesagt hat, sie wolle zeitnah und umfassend für Aufklärung sorgen. Aber ich will auch einmal sagen, was ich unter „zeitnah“ verstehe: Ich erwarte, dass dies im Rahmen ihres Besuchs in Europa in der nächsten Woche geschieht. ({6}) An dieser Stelle will ich noch eine Bemerkung machen - denn gerade in Richtung der Grünen wird gelegentlich so getan, als seien sie für die Menschenrechte zuständig, dass aber die richtige Außenpolitik eigentlich die harte Handels- und Außenwirtschaftspolitik sei -: Menschenrechtspolitik ist ein Wert an sich und darf nicht zurückstehen. Für diejenigen, die vornehmlich in ökonomischen Kategorien denken, will ich allerdings hinzufügen: Langfristige Stabilität, auch in ökonomischer Hinsicht, werden Sie nur erreichen, wenn Sie auch langfristig in Regionen tätig sind, in denen Menschenrechte und Gerechtigkeit gewahrt sind. Die Achtung der Menschenrechte ist also auch ein ökonomischer Faktor. ({7}) Die zweite Voraussetzung für die Bewältigung dieser Probleme ist: Wir müssen die Globalisierung gerecht gestalten. Das heißt, wir brauchen ökologische und soziale Leitplanken. Hier wird diese Regierung in der nächsten Woche in Hongkong eine große Verantwortung haben. Herr Glos - er ist federführend -, die Kollegin Wieczorek-Zeul und Herr Seehofer werden die Verantwortung haben, ein multilaterales Handelsregime im Sinne einer Entwicklungsrunde ein Stück voranzubringen. Wir wissen, Europa hat Vorleistungen gebracht beim Umbau der Agrarpolitik - einer Agrarpolitik, für die die Kollegin Künast von Ihrer Seite oft kritisiert worden ist. Aber damit ist es nicht genug. Wir werden uns in der Frage der Exportsubventionen bewegen müssen - übrigens nicht nur wir: auch jene Staaten, die ihre Exportsubventionen elegant als „Nahrungsmittelhilfe“ deklarieren bzw. verstecken -, wenn wir Entwicklungsländern wirklich eine Chance geben wollen, zu handeln, anstatt behandelt und mit Entwicklungshilfe abgespeist zu werden. ({8}) Liebe Frau Merkel, seien Sie gewiss: Zur gerechten Globalisierung gehört es auch, dass Sie die Zusagen, die Sie heute hier und im Koalitionsvertrag hinsichtlich einer Anhebung der Entwicklungshilfe gemacht haben, tatsächlich einhalten. Sie können gewiss sein, dass wir sehr genau darauf schauen werden. ({9}) Die globale Entwicklung wird nicht vorankommen ohne eine Verbesserung der Umweltstandards. Auch hier wird, ähnlich wie bei den Menschenrechten, oft eingewendet: Öko ist etwas für jene, die es wirtschaftlich geschafft haben. Aber wenn Sie verfolgen, was momentan über China und den Fluss bei Harbin berichtet wird, bekommen Sie einen Eindruck davon, was der chinesische Umweltminister meinte, als er sagte: Bis zu 8 Prozent unseres Bruttosozialprodukts werden durch die enormen Umweltschäden, mit denen wir es zu tun haben, aufgezehrt. Eine die natürlichen Ressourcen zerstörende Wirtschaftsweise wird mehr und mehr zu einer Wachstumsbremse. Deswegen wird es keine Überwindung der Armut geben, wenn wir nicht Strategien dafür entwickeln, wie wir weg vom Öl kommen, wie wir sauberer produzieren, wie wir rohstoffeffizienter produzieren. Dies ist etwas, bei dem die Bundesrepublik Deutschland tatsächlich etwas anzubieten hat zur Verbesserung der Lage der Menschen in der Welt. ({10}) Ein Wort zur Außenwirtschaftspolitik: Wir haben natürlich die Verantwortung, sicherzustellen, dass es im Iran nicht zu einer Schließung des Brennstoffkreislaufs kommt. Aber das geht nicht mit den Mitteln, die Tony Blair uns gestern zu erklären versuchte, als er sagte, das Geheimnis der Überwindung der Energieprobleme dieses Kontinents liege in der Nutzung der Atomenergie. Das kommt mir sehr bekannt vor; so 30, 40 Jahre ist das her. Gerade am Beispiel Iran können wir sehen, dass dieser Weg mit erheblichen Risiken, mit erheblichen Problemen und mit erheblichen Anstrengungen verbunden ist. Das kann nicht der Weg sein, Armut und Klimawandel auf diesem Globus entgegenzuwirken. ({11}) Multilaterale Fortschritte, so unsere Erfahrung, hat es stets nur dann gegeben - in Fragen des Welthandels genauso wie bei Konventionen gegen Kleinwaffen, beim Internationalen Strafgerichtshof und bei der Bekämpfung des Klimawandels -, wenn Europa in den Verhandlungen geeint und handlungsfähig aufgetreten ist. Nicht nur weil ich Bürger dieses Europas bin, sondern auch wegen der enormen außenpolitischen Bedeutung dieses Europas finde ich den Umstand, dass dieses Europa in eine schwere Krise geraten ist, und zwar nicht, wie Sie meinen, durch die Erweiterung, sondern parallel zu dem Erweiterungsprozess, so besorgniserregend. Wir können uns mit dieser Krise nicht einfach abfinden. Lieber Herr Außenminister, wenn im Koalitionsvertrag steht, dies wolle man im Rahmen mit der deutschen Präsidentschaft angehen, dann ist das zwar ehrenvoll, kommt aber ein bisschen zu spät. Dieses Europa - in Wirklichkeit die einzig praktizierte Antwort auf die Globalisierung und die Liberalisierung der Märkte - zu stärken und aus der Krise herauszuführen, duldet keinen Aufschub bis zum Beginn der deutschen Präsidentschaft. Damit muss jetzt begonnen werden. ({12}) Ich will versuchen, das an einem Beispiel deutlich zu machen. Die Menschen empfinden dieses Europa, das also eine Antwort sein soll - ein demokratischeres und in größerem Umfange bürgernahes Europa, wie es im Verfassungsvertragsentwurf beschrieben worden ist, war ein Schritt in diese Richtung -, häufig als etwas, was nur den Logiken des Marktes gehorcht. Darauf müssen wir eingehen. Man muss eine Balance herstellen. Wenn man für mehr Freiheit im Bereich der Dienstleistungen ist, dann muss auch die Konsequenz gezogen werden und die Menschen müssen hinsichtlich ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen ein Minimum an Absicherung erhalten. Das heißt, Dienstleistungsfreiheit und Regelungen hierzu, die es in vielen anderen Ländern Europas gibt, beispielsweise ein entsprechend fixierter Mindestlohn, gehören zusammen. Der soziale Ausbau Europas ist der Weg, die Krise, die ungerechterweise am Verfassungsprozess offenbar geworden ist, zu überwinden. ({13}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich am Schluss noch eine Bemerkung machen. In der „Süddeutschen Zeitung“ heißt es zur Außenpolitik der Koalition: Vermutlich gibt es kein anderes Fach der neuen Regierungspolitik, wo das Konfliktpotenzial so offensiv verschwiegen wurde. Lieber Herr Schockenhoff, wenn Ihre Äußerungen zur Türkei neben die von Herrn Steinmeier gestellt werden, dann tut sich in mir ein innerer Bosporus auf. ({14}) Ich verspreche Ihnen: Eine Widersprüchlichkeit in diesem Punkt werden wir Ihnen bei allen Bemühungen um Konsens in der Außenpolitik nicht durchgehen lassen. Vielen Dank. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die neue Bundesregierung hat sich in Kontinuität zu ihrer Vorgängerin deutlich den weiteren Ausbau der Entwicklungspolitik auf die Fahnen geschrieben, da dies zur gewachsenen internationalen Rolle Deutschlands und damit zu unserer neuen Verantwortung gehört. Wir verstehen Entwicklungspolitik heute als Partnerschaft, als gegenseitige Verantwortlichkeit und als Verantwortung. Partnerschaft bedeutet Zusammenarbeit. Das gilt für multilaterale Institutionen, für Geberländer untereinander und bei den Beziehungen zu den Entwicklungsländern. Partnerschaft gilt sowohl für die Entwicklungspolitik insgesamt. Staaten und internationale Organisationen kooperieren zunehmend und erfolgreich mit Nichtregierungsorganisationen, mit Gewerkschaften, mit Unternehmen, mit der Zivilgesellschaft insgesamt und mit den Kirchen. Das gemeinsame und zielgerichtete Engagement vieler Akteure macht Partnerschaften und deren Instrumente effektiv, effizient, nachhaltig und erfolgreich. Diese Eigenschaften brauchen wir, um die großen internationalen Entwicklungsziele unserer Welt, die Millenniumsentwicklungsziele, insbesondere bei der Bekämpfung der globalen Armut tatsächlich erreichen zu können. Nur gemeinsam werden wir auf dem Weg bis zum Jahr 2015, in dem diese Ziele endgültig erreicht sein sollen, Erfolge haben. ({0}) Staat, Zivilgesellschaft und Wirtschaft sind deshalb aufeinander angewiesen und müssen in diese Richtung arbeiten. ({1}) Wir als Bundesregierung nehmen unsere Verantwortung wahr. Bundeskanzlerin Merkel hat heute Morgen klar gemacht, wie diese Verantwortung politisch und finanziell aussieht. Um die globale Armut zu bekämpfen, haben wir den Zuwachs unserer Mittel für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit festgeschrieben und im Rahmen eines Stufenplans der Europäischen Union vereinbart. Im nächsten Jahr, im Jahr 2006, werden wir 0,33 Prozent des Bruttonationalprodukts für die Entwicklungszusammenarbeit erreichen und wir werden die Stufen, die die Bundeskanzlerin heute Morgen genannt hat, erreichen und umsetzen. Dazu tragen die Erhöhung der Haushaltsmittel, die Entschuldung der Entwicklungsländer und auch innovative Finanzierungsinstrumente bei. ({2}) An dieser Stelle sage ich: Ich würde gerne auch eine Auseinandersetzung mit den Teilen der Fraktionen führen - heute ist nicht der richtige Rahmen dafür -, die immer noch nicht der Meinung sind, dass wir eine Veränderung des Denkens brauchen, was zum Beispiel den Staatsaufbau in diesen Ländern, die Instrumente zur Verhinderung von Völkermord oder auch die präventive Stationierung von Soldaten angeht. Sie können nicht staatliche Strukturen neu schaffen, ohne auch den Sicherheitssektor in solchen Ländern entsprechend aufzubauen. Sie können die Menschen in Sierra Leone nicht vor dem Massakrieren durch Rebellen schützen, wenn Sie nicht bereit sind, dort entsprechende militärische Mittel zur Verfügung zu stellen. Ich finde, das sollte deutlich werden, damit das Gegeneinander in diesen Fragen endlich einmal aufhört. Eine Diskussion darüber ist notwendigerweise zu führen. ({3}) Nur gemeinsam und in einer fairen Partnerschaft mit den Entwicklungsländern werden wir Aids bekämpfen und besiegen, die Wende weg vom Öl und hin zu erneuerbaren Energien sowie einer effizienten Energienutzung schaffen und unsere natürlichen Lebensgrundlagen erhalten; Jürgen Trittin hat es angesprochen. Nur dann werden wir die Korruption erfolgreich bekämpfen und den Auf- und Ausbau von Good Governance vorantreiben können. Partnerschaft heißt auch, den Partnerländern zu helfen, den Weg aus der Abhängigkeit von der Hilfe der Geber zu finden, fest auf eigenen Füßen zu stehen und die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung zu berücksichtigen. An dieser Stelle möchte ich beispielhaft auf eine Situation aufmerksam machen, die wir mit anderen Partnern gestalten müssen, wenn die nächsten großen Konflikte nicht vorprogrammiert sein sollen: Manche großen Staaten, unter anderem China, betrachten Afrika rein unter dem Gesichtspunkt der Ressourcen- bzw. der Ölsicherung. Sie vernachlässigen dabei andere Aspekte, wie die Förderung verantwortlicher Regierungsführung und die Bekämpfung von Korruption, oder konterkarieren sie sogar. Die afrikanischen Staaten haben die Ölförderung in den letzten zehn Jahren um 36 Prozent gesteigert. Mit dieser Wachstumsrate liegen sie weit über dem Durchschnitt der traditionellen Ölförderländer. Öl führt zum größten Investitionsschub in der Geschichte des Kontinents. In den kommenden zehn Jahren werden über 50 Milliarden US-Dollar nach Afrika fließen. Deshalb müssen die betreffenden Staaten und die internationale Gemeinschaft dafür Sorge tragen, dass die Investitionen den Menschen nützen und ihnen Perspektiven sowie Arbeitsmöglichkeiten geben und dass die gewonnenen Mittel nicht für Ökonomien genutzt werden, die nur der Machtsicherung von wenigen, der Eliten oder der entsprechenden Regierungen, dienen. ({4}) Wir alle sind in der Verantwortung: die afrikanischen Regierungen, die investierenden Unternehmen und auch die Regierungen der Industrieländer. Unsere Politik wird deutlich machen: Afrika ist mehr als ein Rohstoff- oder Öllieferant. Es ist unser Nachbarkontinent, an dessen Zukunft wir um der Menschen willen ein echtes Interesse haben. Menschenrechte und wirtschaftlicher Erfolg gehören zusammen. Die Menschen in Afrika - zumal die jungen Leute - haben ein Recht darauf, dass der Nutzen des Öls den Menschen Afrikas zugute kommt und für ihre Zukunft investiert wird. ({5}) Damit Afrika profitiert, unterstützen wir die „Publish What You Pay“-Initiative. Dabei geht es darum, dass investierende Unternehmen ihre Zahlungen an Entwicklungsländer offen legen sollen. Damit Afrika profitiert, unterstützen wir Initiativen, deren Ziel die transparente Offenlegung der Rohstoffexporteinnahmen der betroffenen Entwicklungsländer ist. Damit Afrika profitiert, unterstützen wir verantwortliche Regierungsführung, starke staatliche Institutionen, die imstande sind, diesen Prozess zu steuern. ({6}) Partnerschaft heißt aber auch, dass wir in unserer Politik die Belange und Bedürfnisse unserer Partnerländer ernst nehmen. Das gilt zumal - da bin ich meinen Vorrednern dankbar - für die Handels- und Agrarpolitik. Hier finden entscheidende Weichenstellungen statt, in denen wir uns klar positionieren. Wenige Tage vor der in Hongkong beginnenden Welthandelskonferenz, die eigentlich die so genannte Doha-Entwicklungsrunde abschließen sollte, appelliere ich deshalb - ich glaube, das kann ich für alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause sagen - an die Industrieländer, endlich substanzielle Ergebnisse bei der Öffnung der Märkte für die Produkte der Entwicklungsländer zuzusagen ({7}) und tatsächlich einen nahen Zeitpunkt für den Abbau von Agrarexportsubventionen festzulegen. Das ist eine der wichtigsten Perspektiven. Uns ist klar, dass dabei differenzierte Marktöffnungsmechanismen für Entwicklungs- und Schwellenländer notwendig sind. Aber es ist auch klar: Durch Handelsliberalisierung könnten die Entwicklungsländer einen Einkommenszuwachs von rund 350 Milliarden US-Dollar erreichen. Das ist vier- bis fünfmal so viel wie für Official Development Assistance, die offizielle Entwicklungszusammenarbeit, zur Verfügung gestellt wird. Wir sehen also: Wenn wir zu gerechteren Strukturen beitragen, leisten wir auch einen Beitrag zu einer gerechteren Welthandelsordnung, zur Bekämpfung von Armut und zum Abbau von Abhängigkeiten. ({8}) Ich komme zum Schluss. Entwicklungspolitik meint Partnerschaft. Sie ist eine Gemeinschaftsaufgabe für uns alle, für Industrie- und Entwicklungsländer, die wir in Verantwortung für die Gegenwart, aber gerade auch für die Zukunft wahrnehmen sollten. Sie ist eine Angelegenheit der Partnerschaft zwischen Menschen, auch der Kolleginnen und Kollegen in unserem Hause. In diesem Sinne bitte ich Sie um Unterstützung für diese wichtige Zukunftsaufgabe, von der so viele Menschenleben in der Welt abhängig sind. Wenn wir gemeinsam tätig werden, können wir dazu beitragen, diese Ziele zu erreichen. Ich bedanke mich sehr herzlich. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Markus Löning von der FDP-Fraktion. ({0})

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einer Bemerkung zum Thema Polen beginnen. Frau Bundeskanzlerin, bei dem, was Sie heute Morgen in Ihrer Rede zum Thema Umgang mit Vertreibung angesprochen haben, können Sie mit der Unterstützung der Freien Demokraten rechnen. ({0}) Entscheidend war, dass Sie gesagt haben: Wir müssen mit diesem Thema in einer Art und Weise umgehen, die Brücken baut, ohne zu spalten. Diesen Aspekt des Zusammenwachsens sollten wir im Umgang mit unseren östlichen Nachbarn betonen. Wenn Sie in dieser Richtung arbeiten und auf diesem Weg schreiten, haben Sie auf jeden Fall unsere Unterstützung. Wir wünschen Ihnen für Ihre Reise nach Warschau, die Sie morgen antreten, auf jeden Fall alles Gute! ({1}) Es ist unsere Aufgabe, mit unseren östlichen Nachbarn das zu erreichen, was wir mit unseren westlichen Nachbarn nach langer Zeit erreicht haben. Wir als Politik müssen Vorgaben machen. Aber zusammenwachsen müssen die Gesellschaften und die Zivilgesellschaften. Das hat im Westen lange gedauert, aber wenn ich an unser Verhältnis zu den Holländern, den Belgiern, den Luxemburgern, den Franzosen und den anderen Nachbarn denke, ist dies am Ende erfolgreich gewesen. Dieser Aufgabe müssen wir uns auch Richtung Osten stellen. Die Politik der bisherigen Bundesregierung war auf diesem Gebiet leider nicht sehr hilfreich. Sie werden bei den Freien Demokraten auch dann Unterstützung finden, wenn Sie das Thema einer europäischen Verfassung vorwärts treiben wollen. Ich glaube, wir sind als Deutsche dabei auch in der Pflicht. Wir haben im Bundestag die Verfassung mit einer breiMarkus Löning ten Mehrheit verabschiedet. Wir stehen zu dieser Verfassung, weil sie zu mehr Transparenz führt, Demokratie und Mitwirkungsrechte der Bürger stärkt und eine größere Beteiligung dieses Parlaments mit sich bringt. Ich hoffe, dass die Bundesregierung an dieser Stelle initiativ wird, und zwar nicht erst während der deutschen Ratspräsidentschaft, und dass man merkt: Es gibt ein Land, das sich zu dieser Verfassung bekennt. Wir bekennen uns zu dieser Verfassung und wollen sie vorantreiben. Wir lassen uns die Europäische Union von den Skeptikern und denjenigen, die versuchen, quer zu schießen - diese gibt es überall -, nicht kaputtmachen. Es ist wichtig, dass wir auch an dieser Stelle ein politisches Zeichen setzen. ({2}) Sie haben von einem fairen und gleichberechtigten Umgang mit den europäischen Partnern auf gleicher Augenhöhe gesprochen. In diesem Zusammenhang möchte ich ein Thema aufgreifen, das ich im Widerspruch zu diesem eigentlich richtigen Anspruch sehe. Sie haben von einem unfairen Steuerwettbewerb gesprochen, den Sie abschaffen wollen. Das verstehe ich nicht. Ich finde es nicht in Ordnung, wenn wir als reiches Land versuchen, kleinen Ländern, die uns gegenüber in vielerlei Hinsicht - in der Infrastruktur, dem Bildungssystem und beim Entwicklungsstand der Wirtschaft - benachteiligt sind und den Wettbewerbsvorteil uns gegenüber nutzen, indem sie sich durch ihr schlankes Staatswesen in der Lage sehen, ein transparentes und einfaches Steuersystem mit niedrigen Steuersätzen zu schaffen, und die über diesen Mechanismus sehr erfolgreich Investitionen anziehen und ihre Wirtschaft entwickeln, diesen Wettbewerbsvorteil zu nehmen. Ich fordere Sie auf, dies nicht zu tun, sondern auch hier einen fairen Umgang gerade mit den kleineren Partnern in der EU zu gewährleisten. ({3}) Frau Wieczorek-Zeul hat kurz das Thema WTO angesprochen und dabei an die Industrieländer appelliert. Warum, Frau Wieczorek-Zeul, formulieren Sie solche Appelle? Sie sind doch Mitglied dieser Bundesregierung. Statt zu appellieren sollten Sie insbesondere mit unseren französischen Freunden reden. ({4}) Weisen Sie unsere französischen Freunde darauf hin, dass es nicht angeht, dass der protektionistischste Staat von allen uns bei der WTO die Tour vermasselt! Es geht nicht an, dass ein Land bremst und 24 andere Länder darunter zu leiden haben. Wir sind als Deutsche durch den Handel wohlhabend geworden. Wir haben immer von einem freien Welthandel profitiert. Der freie Welthandel bildet, wie Sie richtig festgestellt haben, ein großes Potenzial. Ich würde mir mehr an politischer Initiative als einen Appell an die Industrieländer wünschen. Frau Wieczorek-Zeul, werden Sie an dieser Stelle tätig! Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Christian Ruck von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Koalitionen ändern sich. Die Entwicklungspolitik aber steht mit ihrem Kernanliegen in der jahrzehntelangen Kontinuität bei der Bekämpfung von Armut, Unterentwicklung und Umweltzerstörung und dem Versuch, für alle Länder und Menschen auf dieser Welt Perspektiven zu schaffen. ({0}) Die CDU/CSU und die SPD haben zur Erreichung dieses Kernanliegens und zur Bewältigung neuer Herausforderungen im Koalitionsvertrag auch neue strategische Akzente gesetzt. Denn trotz aller Erfolge der letzten Jahre und Jahrzehnte verschärfen sich die Entwicklungsprobleme vielerorts. Sie gefährden Frieden und Wohlstand auch in Deutschland und Europa. Die Ratio der Entwicklungspolitik entspringt daher nicht nur unserer christlich-ethischen Verantwortung gegenüber den Menschen und der Schöpfung, sondern sie ist auch Sicherheitspolitik in unserem eigenen Interesse. ({1}) Wir wollen daher neue Initiativen ergreifen, um gemeinsam mit unseren Partnern in Europa zum Beispiel dem steigenden Migrationsdruck vor allem aus Nordafrika durch entwicklungspolitische Maßnahmen zu begegnen. Zur Erhaltung der biologischen Vielfalt für kommende Generationen wollen wir neue Akzente setzen, um die Entwicklungsländer bei der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen und ihrer nachhaltigen Nutzung zu unterstützen. Auch die nachhaltige Energienutzung und der Klimaschutz sind strategisch wichtige Anliegen, die wir im Koalitionsvertrag explizit niedergeschrieben haben. Bei der Erreichung der Millenniumsziele ist unsere zentrale Erkenntnis, dass nachhaltige Entwicklung nur dort stattfindet, wo gute Regierungsführung die Grundlage für die Entfaltung der Kreativität der Menschen legt. Die deutsche Entwicklungspolitik hat dies schon vor 15 Jahren erkannt und mit der Verabschiedung der fünf Kriterien zu guter Regierungsführung eine Trendwende eingeleitet. Neuere Untersuchungen, zum Beispiel der Bertelsmann Transformation Index, zeigen, dass insbesondere in der pragmatischen Programmierung unserer Zusammenarbeit im Hinblick auf gute Regierungsführung noch Handlungsbedarf besteht. Wir wollen daher die Stärkung der guten Regierungsführung und der Selbsthilfekräfte zu dem zentralen Bestimmungselement unserer künftigen Entwicklungszusammenarbeit machen. ({2}) Das heißt, Art und Umfang unserer Zusammenarbeit müssen in einem klaren Zusammenhang mit der Regierungsführung der Partner stehen. Wir haben daher vereinbart, dass den Partnern nur bei guter Regierungsführung ein hohes Maß an Selbstbestimmung über die Mittel eingeräumt wird und dass Budgethilfe oder ähnliche Instrumente nur bei guter Regierungsführung zum Einsatz kommen. Außerdem soll sichergestellt werden, dass Entschuldungsmaßnahmen konsequent auf die Millenniumsziele ausgerichtet werden und deren Wirksamkeit effizient kontrolliert wird. Für nachhaltige Entwicklung ist gute Regierungsführung eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Voraussetzung. Deshalb haben wir des Weiteren vereinbart, uns dafür einzusetzen, dass die Umgestaltung der Welthandelsordnung stärker unter dem Gesichtspunkt der Armutsminderung erfolgt. Hier ist es sehr wichtig, genau hinzuschauen, mit welchen Zielvorgaben und Instrumenten welche Wirkungen erzielt werden. Natürlich gibt eine weitere Liberalisierung durch die Handelsrunde auch vielen Entwicklungsländern einen neuen Schub. Aber ein solcher Schub ist erstens nicht für alle Entwicklungsländer und zweitens nicht für alle Bevölkerungsschichten in Entwicklungs- oder Schwellenländern, wie beispielsweise in Brasilien oder China, zu erreichen. Ich glaube, hier müssen wir uns noch erheblich anstrengen. Ich habe sehr viel Verständnis beispielsweise für die Haltung der indischen Regierung, die bei einer weiteren Liberalisierung Angst hat, was mit den 600 Millionen subsistenzwirtschaftenden Bauern auf dem Subkontinent geschieht. Ich glaube, dass die Formel „Liberalisierung ist gleich Entwicklung für breite Bevölkerungsschichten“ zu kurz greift und dass wir uns hier stärker mit armutmindernden Effekten der WTO beschäftigen müssen. Das ist uns allen ein großes Anliegen. ({3}) Die Entwicklungen im Kongo, im Sudan oder in Afghanistan haben uns allerdings gezeigt, dass wir uns nicht nur auf gute Regierungsführung konzentrieren dürfen, wenn wir dazu beitragen wollen, Frieden und Wohlstand bei uns und in Europa zu sichern. Wir wollen daher neue Konzeptionen für die Zusammenarbeit mit Ländern mit schlechter Regierungsführung erarbeiten, um den Grundstein für eine friedliche Transformation solcher Länder zu legen. In diesem Zusammenhang haben wir in unserem Koalitionsvertrag die wachsende Bedeutung der Zusammenarbeit nicht nur mit den Kirchen und der Wirtschaft, sondern vor allem auch mit den politischen Stiftungen betont. ({4}) Im Übrigen habe ich mich sehr gefreut und bin dankbar dafür, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel heute die klaren Worte, die in unserem Koalitionsvertrag über den Stufenplan zum Aufwuchs der Entwicklungsmittel stehen, wiederholt hat. Seine Umsetzung erfordert eine gewaltige Kraftanstrengung. Wenn wir uns das aber fest vornehmen, dann werden wir es umsetzen können. ({5}) Unsere Steuerzahler und unsere Partner in den Entwicklungsländern haben aber auch Anspruch darauf, dass wir die vorhandenen Mittel in der Entwicklungszusammenarbeit planvoll und mit größtmöglicher Effizienz einsetzen. Daher ist für uns die größere Wirksamkeit der eingesetzten Mittel ein zentrales Anliegen. Wir wollen dies durch eine klare nationale und internationale Arbeitsteilung, eine verbesserte Abstimmung mit anderen Gebern und die Verbesserung der Kohärenz erreichen. Die am Anfang dieses Jahres in Paris international vereinbarte Agenda zur Steigerung von Effizienz und Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit wird für uns dafür die Grundlage bilden. Notwendig sind dazu auch die effizientere Gestaltung der bilateralen und multilateralen Organisationsstrukturen und eine engere Verzahnung unserer Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik. Internationale Politik Deutschlands aus einem Guss ist mehr denn je ein Gebot der Stunde. Die Entwicklungspolitik hängt ohne die Rückendeckung der Außenpolitik in der Luft und umgekehrt kann die Außenpolitik ihre Ziele langfristig ohne Entwicklungspolitik nicht erreichen. ({6}) Internationale Arbeitsteilung bedeutet Subsidiarität, komparative Vorteile nutzen und bestmögliche Koordinierung, um Steuergelder effizient einzusetzen. Wir wollen daher Initiativen ergreifen, um die Strukturen der internationalen Entwicklungsorganisationen zu ändern. Dazu gehören eine Straffung des UN-Systems gerade in diesem Bereich, in dem sich bisher mehr als 30 Organi-sationen um wenig Geld raufen, und eine dringende Reform der EU-Entwicklungspolitik, die wir auch in unserem Koalitionsvertrag explizit niedergelegt haben. In diesem Kontext wollen wir das Verhältnis des deutschen Engagements für bilaterale und multilaterale Entwicklungszusammenarbeit überprüfen. Bei den multilateralen Organisationen, mit denen wir auch künftig eng zusammenarbeiten werden, wollen wir unsere Präsenz und unseren Einfluss in diesen Organisationen und in deren Aufsichtsgremien ausbauen. Auf Grundlage der internationalen Arbeitsteilung wollen wir uns in der bilateralen Zusammenarbeit stärker konzentrieren und die Zahl der Partnerländer mit dem Ziel einer Reduzierung überprüfen. Ausgehend von der zentralen Bedeutung vieler Schwellenländer für benachbarte Entwicklungsländer und Regionen wollen wir strategische Partnerschaften auch zum Nutzen Dritter anstreben. Da gebe ich der Ministerin ausdrücklich Recht: Wir müssen Länder wie zum Beispiel China auf ihre gewachsene Verantwortung, auf ihre globale Verantwortung aufmerksam machen, in Afrika, aber auch anderswo. Das betrifft die Ressourcenbeschaffung, aber auch die Bereiche Energie und Umwelt. Es wird eine große Aufgabe der nächsten Jahre sein, diese Schwellenländer davon zu überzeugen, dass auch sie Partner und Geber sein können und sein müssen - von Ideen, aber auch von Ressourcen zugunsten Dritter. Arbeitsteilung bedeutet aber auch, dass wir uns stärker auf Themenfelder beschränken wollen, bei denen wir entweder eine herausragende Expertise haben oder die wir als die Schlüsselsektoren für Entwicklung identifiziert haben. Das sind zum Beispiel gute Regierungsführung mit dem Aufbau von Staat und Demokratie, die Bekämpfung von Aids, die Erhaltung der Schöpfung und die Energiepolitik. Wir werden aber auch über Schlüsselsektoren wie Bildung und Ausbildung oder über die Förderung der Privatwirtschaft in Entwicklungsländern diskutieren. ({7}) Diese klare Arbeitsteilung muss auch die deutsche Struktur bei der Umsetzung der Entwicklungszusammenarbeit betreffen. Wir werden an einem besseren Schnittstellenmanagement arbeiten. Wir brauchen eine klarere Arbeitsteilung auch im eigenen Land. Mit dieser Agenda werden wir die Wirksamkeit der deutschen bilateralen und multilateralen Beiträge steigern und das Profil der deutschen Entwicklungspolitik auf hohem Niveau aufrechterhalten. Erfolgreiche Entwicklungspolitik ist wichtiger denn je. Die Union, liebe Frau Ministerin, wird in der Tat ein verlässlicher entwicklungspolitischer Partner der Bundesregierung sein. Auch wir fordern die Oppositionsparteien auf, mit uns konstruktiv in dem Geist zusammenzuarbeiten, der Entwicklungspolitiker schon immer mehr verbunden als getrennt hat. Vielen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke von der Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zeit, die die Bundeskanzlerin der Außenpolitik in ihrer Regierungserklärung eingeräumt hat, war sehr knapp bemessen. Ich will das gar nicht bemängeln. Vielleicht war es zum Vorteil der Außenpolitik, dass sie sich dazu nicht umfangreicher geäußert hat. Das möchte ich an zwei Beispielen deutlich machen. Die Frau Bundeskanzlerin sprach davon - da hat sie die Zustimmung aller Fraktionen in diesem Hause einschließlich der Fraktion der Linken -, dass es von besonderer Bedeutung ist, das Existenzrecht des Staates Israel in gesicherten Grenzen, in guter Nachbarschaft, also ohne Furcht vor den Nachbarn, durchzusetzen. Das ist so weit in Ordnung. Ich glaube, das muss man unterstreichen. Sie hat aber nicht den Gedanken ausgeführt, dass die Palästinenser das gleiche Recht ({0}) zu beanspruchen haben, zum Ausgleich einen eigenen, lebensfähigen Staat in gesicherten Grenzen in Partnerschaft zu erhalten. ({1}) Das eine ist nur möglich, wenn man versucht, das andere ebenfalls zu bewerkstelligen. ({2}) Deswegen ist es von besonderer Bedeutung, dass man nicht nur das eine kontinuierlich fortführt, sondern auch versucht, das andere, nämlich die Interessen der palästinensischen Bürgerinnen und Bürger, deutlich zu machen und kraftvoll mit zu vertreten. Wir können Probleme, die in der deutschen Politik, in unserer Geschichte wurzeln, nicht auf dem Rücken der Palästinenser austragen. ({3}) Das hat weder etwas mit Moral noch mit einer perspektivischen Politik zu tun. In Bezug auf die CIA-Geheimflüge und die Folterzentren war die Auskunft: Die USA wollen zeitnah antworten. Das hat der Herr Außenminister wiederholt. Über „zeitnah“ kann man sehr unterschiedlicher Auffassung sein. Ich sage Ihnen: Es müsste doch sehr einfach sein, eine Antwort zu geben; entweder stimmt es oder es stimmt nicht. ({4}) Diese Antwort müssen sowohl die US-Regierung als auch die deutsche Regierung heute geben können. Was ist denn das für eine Logik, wenn man sagt, das müsse recherchiert werden? Zu klären ist doch nur eines: ob der CIA hinter dem Rücken der amerikanischen Regierung so etwas fabriziert hat. Ich glaube das nicht einmal in meinen schlimmsten Fantasien. ({5}) - Auch ich traue dem CIA alles zu, Gregor. - Aber ich sehe schon einen Zusammenhang zwischen der Politik dieser Regierung und den Handlungen des CIA. Deswegen muss die Frage „Stimmt es oder stimmt es nicht?“ beantwortet werden. Ich kann auch nicht verstehen, dass die deutsche Bundesregierung, die mittlerweile etliche Antiterrorgesetze verabschiedet hat und die davon ausgeht, dass durch den Einsatz von Bundeswehr und Polizei in diesem Lande alles zu kontrollieren und zu hinterfragen ist, nicht in der Lage ist, einfache Auskünfte darüber zu geben, ob Flugzeuge der USA oder anderer Nationen mit nicht definierten Zielen den Luftraum der Bundesrepublik Deutschland genutzt haben oder nicht. Solche Antworten zu geben wäre einfach. Man müsste sich aber dazu bekennen, ob man davon gewusst hat und ob man es geduldet hat - ein solches Verhalten wäre strafbar und rechtswidrig - oder ob man davon nicht gewusst hat; dann wäre die Souveränität dieses Landes in hohem Maße verletzt. ({6}) Das ist eine einfache Logik. Da geht es nicht einmal um Parteipolitik, sondern nur um Logik. Und ein bisschen Logik kann man auch der Bundesregierung abverlangen. In einem stimme ich dem Außenminister, Herrn Steinmeier, völlig zu: Es gibt bei vier Fraktionen in diesem Haus einen Konsens in außenpolitischen Grundfragen - ich bedauere das -; en détail hat es ja immer Differenzen gegeben. Eine Fraktion schließt sich diesem Konsens nicht an; das ist meine Fraktion. Dazu stehe ich auch. Eine Grundlage der Außenpolitik der Bundesregierung war immer - das empfand ich als das Katastrophalste -, dass Krieg im 21. Jahrhundert wieder denkbar und möglich geworden ist. Dieser Logik haben wir immer eine andere Logik entgegengesetzt, nämlich dass Krieg kein Mittel der Politik sein kann und darf. ({7}) Da liegt ein Graben zwischen uns. Ich habe überhaupt kein Problem damit, zu sagen, dass über diesen Graben keine Brücke und nicht einmal ein Steg führt. Das ist eine klare Differenz, über die keine Verständigung möglich ist. Das sollte man hier dann auch aussprechen. - Insofern akzeptiere ich diese Beurteilung. Der Herr Außenminister hat sehr sachlich davon gesprochen, dass die Verhandlungen mit dem Iran hoffentlich ein Ergebnis erbringen, und hat dann gesagt: Wenn ein solches Ergebnis nicht erzielt wird, besteht die Gefahr, dass die Angelegenheit vor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kommt. - Das beinhaltet die Gefahr - das sollte man dabei völlig klar sagen -, dass auch im Falle Iran zu einer kriegerischen Lösung des Konflikts gegriffen werden kann. Das ist schlichtweg eine Katastrophe. ({8}) So etwas hier in der Deutlichkeit auszusprechen müsste eine neue Form der deutschen Außenpolitik werden. Es geht nicht an, die Leute mit dem harmlosen Satz, das komme dann vor den Weltsicherheitsrat, über die Brisanz der Lage zu täuschen. Sie haben sich dazu nicht geäußert, Herr Außenminister. Sind Sie dafür oder dagegen? Auch hierzu erwarte ich eine Klarstellung. Eine deutsche Bundesregierung muss verbindlich und völlig klar sagen: Wir sind gegen jegliche Form eines kriegerischen Konflikts mit dem Iran. Das hält die Welt nicht aus. Schönen Dank. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Angelica SchwallDüren von der SPD-Fraktion.

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich komme noch einmal zur Europäischen Union zurück. Die Europäische Union ist Garant für politische Stabilität, Sicherheit und Wohlstand in Deutschland und Europa. Nur gemeinsam können die Europäer ihre Interessen erfolgreich wahren. Das sind die Anfangssätze des Europateils der Koalitionsvereinbarung, die das breite Spektrum der Herausforderungen eröffnen, die mit der Europapolitik verbunden sind. Es geht darum, dass die neue Regierung in Kontinuität zur bisherigen Politik die langen Linien weiterverfolgt. ({0}) Europapolitik ist Friedenspolitik nach innen und außen. Wir haben heute schon einiges zur europäischen Sicherheitsstrategie und zur ESVP gehört. Die Steigerung des gemeinsamen Wohlstands durch die EU für alle Mitgliedstaaten ist ein wichtiger Pfeiler der Friedenspolitik nach innen und doch nicht mehr selbstverständlich. Das erleben wir seit einigen Jahren schmerzlich. Dass darüber hinaus viele Bürger und Bürgerinnen in den Stürmen der Globalisierung die EU nicht mehr als soziale Schutzmacht, sondern eher als trojanisches Pferd des Neoliberalismus erleben, ist offensichtlich. Zunehmende Skepsis gegenüber den europäischen Institutionen macht sich in vielen unserer Gesellschaften breit. Das ist auch ein Grund für die Krise der EU, eine Krise, die uns motiviert, mit unseren Partnern die offenen Fragen anzugehen, die seit der Erweiterung um zehn Staaten im Jahr 2004 noch dringlicher geworden sind und auf die wir in den kommenden Jahren antworten müssen: In welchem Europa wollen wir leben? Wo sind die Grenzen der EU? Wie viel politische Integration brauchen wir? Wie kann eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aussehen? Damit kann diese Krise auch die Chance sein, das europäische Projekt an den Anforderungen unserer Zeit auszurichten, wie der Koalitionsvertrag es ausdrückt. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, überall bei meinen Gesprächen in Europa höre ich, welch hohe Erwartungen für die Lösung der europäischen Zukunftsfragen gerade an Deutschland gerichtet werden. Diesen Erwartungen müssen wir uns stellen und wir müssen ihnen gerecht werden. Wir wollen während der deutschen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 Impulse geben, damit das, was wir mit dem Verfassungsprozess verbinden, erfolgreich vorangebracht wird. ({1}) Nur wenn wir es schaffen, zu einem Europa der Bürger und Bürgerinnen zu kommen, können wir der Skepsis gegenüber der EU begegnen und die Menschen für ein solidarisches Europa begeistern. Deshalb muss auch der Bundestag noch mehr als in der Vergangenheit der Ort europapolitischer Debatten sein. ({2}) Wir als Parlament wollen die uns zustehenden Rechte voll nutzen. So können wir uns schon im Entstehungsprozess von europäischer Gesetzgebung beteiligen und unsere Interessen einbringen. Über die Debatten im Bundestag sollen die Bürger und Bürgerinnen erfahren, welche Veränderungen wir gemeinsam in Europa beginnen und welchen konkreten Nutzen die Menschen von diesen Maßnahmen haben. Diese Koalition wird europapolitische Debatten aber auch außerhalb des Parlaments und von Regierungskonferenzen führen. Es kommt darauf an, den Dialog mit Nichtregierungsorganisationen, in Bürgerforen, Vereinen, Schulen und Hochschulen zu führen. Es gilt, gemeinsam mit den Bürgern eine europäische Vision zu entwickeln, die wieder Begeisterung weckt und bei deren Verwirklichung viele mittun wollen. ({3}) Dieses Europa der Bürger wird es nur geben, wenn es ein Europa mit sozialer Dimension ist. Das europäische Gesellschaftsmodell muss fortentwickelt, nicht abgebaut werden. Deshalb kommt es sehr darauf an, dass wir die notwendigen Reformen so gestalten, dass sie den Menschen Sicherheit in der Veränderung geben. Europapolitik muss die Menschen ermutigen und darf sie nicht ängstigen. ({4}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, der Kommissionsentwurf der Dienstleistungsrichtlinie eignet sich unter diesem Gesichtspunkt nicht zur Regelung der Fragen der Daseinsvorsorge. Wir wissen, dass eine weitere faktische Öffnung der Dienstleistungsmärkte mehr wirtschaftliche Dynamik und damit mehr Arbeitsplätze mit sich bringen kann. Auf diesen Arbeitsplätzen müssen die Menschen aber auch einen Lohn verdienen, mit dem sie sich und ihre Familien ernähren können. ({5}) Wir wollen verhindern, dass das Herkunftslandprinzip zu einer Absenkung von Lohn-, Sozial-, Qualitäts- und Umweltstandards führt. Wenn wir es in der EU mit einer engeren Abstimmung unserer Politiken gemeinsam schaffen, durch eine behutsame Modernisierung unserer Arbeitsmarkt- und Sozialsysteme die Menschen mitzunehmen, wenn wir ihnen die notwendige Unterstützung bei einer guten Aus- und Weiterbildung geben, dann werden sie den Mut haben, Verantwortung zu übernehmen und mit Zuversicht in die Zukunft zu schauen. Dann werden sie - bei uns und in den Nachbarstaaten - auch den Weg mitgehen, die europäischen Institutionen über eine Verfassung demokratischer, transparenter und handlungsfähiger zu machen. ({6}) Wir haben in diesem Zusammenhang heute schon über die Lissabon-Strategie und über die Finanzierung der Kohäsionspolitik gesprochen. Lassen Sie mich, Herr Löning, noch eine Anmerkung zum Steuerwettbewerb machen. Kohärente Politik heißt auch, durch Verhinderung von unfairem Steuerwettbewerb, der teilweise stattfindet, in allen Mitgliedstaaten die Grundlagen für den Erhalt und Ausbau der Infrastruktur zu schaffen. Alles andere wäre keine gute Politik für die Zukunft. Ein erster Schritt wäre die Erarbeitung einer gemeinsamen Bemessungsgrundlage für die Unternehmensbesteuerung. Meine Damen und Herren, heute ist auch schon verschiedentlich angesprochen worden, dass die größeren und die kleineren Staaten eng zusammenarbeiten sollen. Es geht in der Tat um die Zusammenarbeit mit Frankreich und den Niederlanden, mit Schweden und Ungarn, um nur einige zu nennen. Es ist mir aber auch wichtig, zu betonen, dass die erste Auslandsreise von Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier nach Frankreich ein wichtiges, positives Signal für die Kontinuität der bisher für Europa erfolgreichen Tradition der deutsch-französischen Zusammenarbeit und Freundschaft war. ({7}) Aber wir wünschen uns auch weiterhin eine enge Zusammenarbeit mit unserem großen östlichen Nachbarn Polen - bilateral, im Weimarer Dreieck und in den EUInstitutionen. Da meine Redezeit zu Ende geht, lassen Sie mich mit einem Zitat des ehemaligen polnischen Außenministers Wladislaw Bartoszewski enden: Es gibt keinen anderen Weg, einen dauerhaften Frieden zu schaffen, als durch den Abbau von Entwicklungsrückständen und die Reduzierung von Armutszonen … Europa braucht ein neues Solidaritätsgefühl, damit seine Einheit nicht am Ende an allzu großen Lasten der Geber und am Frust der Nehmer zerbricht. Diese Koalition ist bereit, diese Herausforderung anzunehmen. Herzlichen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die europäische Einigung ist eine der größten Errungenschaften der letzten 50 Jahre. Frieden, Freiheit und die Idee der Zusammenarbeit der Völker sind heute auf unserem Kontinent - zusammen mit den Staaten des ehemaligen RGW - fest verankert. Aber wie Bundeskanzlerin Angela Merkel deutlich gemacht hat, muss sich die Europäische Union stärker den Herausforderungen von heute stellen. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass sich die Europäische Union mit den Problemen des 21. Jahrhunderts beschäftigt und ihre Legitimation nicht allein aus den durchaus beachtlichen Erfolgen der Vergangenheit ableitet. Die Probleme des 21. Jahrhunderts sind sehr vielfältig und überaus komplex. Es gibt keine einfachen Antworten. Die Entscheidungsprozesse auf europäischer Ebene sind vielfach intransparent; die Entscheidungsfindung ist überaus kompliziert. Wie auf nationaler Ebene sind wir auch auf europäischer Ebene mit den Problemen einer geradezu ausufernden Bürokratie konfrontiert. Nicht zuletzt gilt: Wollen wir uns im Zeitalter der Globalisierung behaupten, muss Europa auch bei Wachstum und Beschäftigung deutlich besser werden. Insgesamt haben viele dieser Probleme zu einem schleichenden Vertrauensverlust gegenüber der europäischen Einigung bei den Bürgerinnen und Bürgern geführt. Seien wir ehrlich: Vielfach werden die Erwartungen der Menschen in die europäische Politik nicht erfüllt. Die Ablehnung des Verfassungsvertrages in Frankreich und den Niederlanden ist aus meiner Sicht vor allem deshalb erfolgt, weil sich die Bürgerinnen und Bürger mit ihren Sorgen und Ängsten nicht ausreichend wahrgenommen fühlten. Nicht die Grundidee einer europäischen Verfassung, nicht der Verfassungsvertrag selbst wurden abgelehnt, sondern es wurde der realen europäischen Politik ein Denkzettel verpasst. Deshalb gilt es, die Europapolitik wieder auf das richtige Gleis zu setzen. Die Europäische Union muss den Zukunftsängsten der Bürger begegnen und Lösungswege aufzeigen. Europäische Politik muss zu einer Vertrauenssache werden. Dabei sind aus meiner Sicht vor allem drei Bereiche von besonderer Bedeutung. Erstens. Europapolitik muss für die Bürger wieder nachvollziehbar werden. Es muss das erste Ziel sein, Entscheidungsprozesse transparent zu machen. Hierzu dient der europäische Verfassungsvertrag. Wir sollten uns davor hüten, den Verfassungsvertrag für tot zu erklären. Die unter den europäischen Regierungschefs vereinbarte Denkpause in Europa muss auch zum Denken genutzt werden. Wir brauchen einen Plan, wie der Verfassungsprozess zu einem positiven Ergebnis geführt werden kann. ({0}) Zweitens. Die europapolitischen Prioritäten müssen richtig gesetzt werden. Hierzu gehört aus meiner Sicht, dass sich die Europäische Union im Rahmen der so genannten Lissabon-Strategie in Zukunft weniger mit wohlklingenden Erklärungen beschäftigt. Sie muss sich vielmehr auf die Kernbereiche Bürokratieabbau sowie die Stärkung von Wachstum und Beschäftigung, das heißt mehr Arbeitsplätze, konzentrieren. Wir müssen im Zeitalter der Globalisierung die Rolle der Europäischen Union in der Welt definieren, unsere Interessen offen und ehrlich formulieren und durchsetzen. Wir müssen uns nicht zuletzt auch die finanziellen Mittel für ein handlungsfähiges Europa geben. Drittens sollten wir uns darauf konzentrieren, den Bürgern klar erkennbare europapolitische Erfolge aufzuzeigen. Dies ist nicht, wie vielfach in der Europäischen Kommission geglaubt wird, ein Kommunikationsproblem. Eine falsche europäische Politik kann man auch nicht mit einer modernen, neuen Kommunikationstechnik verbessern. Eine richtige Aktion ist die beste Kommunikation. Richtiges politisches Handeln wird auch die Zustimmung der Menschen in der Europäischen Union finden. Das Richtige ist vor allen Dingen einfach und nachvollziehbar. Für die neue Bundeskanzlerin Angela Merkel und die neue Bundesregierung hat die Europapolitik eine besondere Priorität. Deutschland ist ein wichtiger Partner in der Europäischen Union und muss seinem Gewicht entsprechend eine konstruktive Rolle bei der weiteren Ausgestaltung des europäischen Integrationsprozesses spielen. Dies bedeutet: Deutschland muss initiativ werden und in einer immer heterogeneren Europäischen Union als Moderator darauf hinwirken, unterschiedliche Interessen zusammenzubinden. Deutschland hat Verantwortung in Europa. Diese Bundesregierung will sie nutzen und sie wird dabei im Deutschen Bundestag weit über die Grenzen der Koalitionsfraktionen hinaus - da bin ich sicher eine starke Unterstützung bekommen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Gert Weisskirchen von der SPD-Fraktion.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Gerhardt, eines ist mir an Ihrem Diskussionsbeitrag, in dem Sie sich auch mit China befasst und sich kritisch mit der ehemaligen Bundesregierung auseinander gesetzt haben, aufgefallen: Ihnen muss entgangen sein, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder den Rechtsstaatsdialog erfunden hat. ({0}) - Wenn Sie das wissen, dann hätten Sie diesen hier erwähnen müssen. Denn der zentrale Punkt, lieber Kollege Gerhardt, ist, dafür zu sorgen, dass Kooperationsbeziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Europäischen Union und China aufgebaut werden, damit das, worauf es uns gemeinsam ankommt, vorangetrieben wird: dass so etwas wie Vorformen - mehr kann es gar nicht sein - an zivilgesellschaftlichen Strukturen in diesem riesenhaften Land entstehen. Denn dieses Land wird, wenn es seinen ungeheuren Beschleunigungskurs Gert Weisskirchen ({1}) der rein technischen Ökonomisierung vorantreibt, an irgendeinem Punkt der weiteren Entwicklung zwangsläufig gar nicht anders können, als die politischen Freiheitsrechte letztlich zu erweitern. Wie wollen Sie anders damit umgehen als mittels eines Rechtsstaatsdialogs, den - noch einmal - Gerhard Schröder und die Vorgängerregierung erfunden haben? Genau das ist der richtige Weg. ({2}) Herr Gerhardt, ein Weiteres: Sie hätten ein wenig verfolgen sollen, dass Jürgen Habermas im Rahmen dieses Dialogs durch die verschiedenen Universitäten Chinas gezogen ist und dafür gesorgt hat, dass sich junge Menschen mit dem Grundgedanken der europäischen Entwicklung auseinander setzen. Dies umfasst, dass die Basis dessen geschaffen wird, was wir unter europäischer Identität verstehen: dass die Menschenrechte unteilbar sind und jedes Individuum Rechte hat. ({3}) Dies ist ein Gedanke, den Hannah Arendt glänzend formuliert hat: Jeder Mensch hat ein Recht auf Menschenrechte. ({4}) Das ist die Substanz, der Baustein des europäischen Denkens. Es kommt darauf an, dass wir jenen Prozess organisieren, der dazu führt, dass sich die Demokratie am Ende, so wie wir alle hoffen, globalisieren kann. Das ist der beste Schutz vor allen Verwerfungen einer zweckorientierten, rein utilitaristischen Ökonomieentwicklung. Die Demokratie muss sich aus den gesellschaftlichen Strukturen heraus entfalten und entwickeln. ({5}) Das ist es, was wir unter Demokratieförderung verstehen müssen. Die Vorgängerregierung hat dies gemacht. Im Koalitionsvertrag gibt es dazu eine ganz klare Passage, die das Wort „Kontinuität“ beinhaltet. ({6}) In dieser Kontinuität ist diese Regierung verpflichtet, das voranzutreiben, worauf es ankommt, nämlich Demokratie zu realisieren und dafür zu sorgen, dass die europäische Identität nicht in missionarischer Form vermittelt, aber von den Menschen in aller Welt so aufgenommen wird, dass Demokratie das zentrale Grundelement ist, mit dem die Menschen ihre Freiheit realisieren können. Das ist es, wozu wir uns verpflichtet haben. Deswegen wird die große Koalition in diesem Punkt auf jeden Fall ein Erfolg werden. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht mehr vor. Wir kommen dann zum Themenbereich der Innenpolitik. Ich erteile das Wort dem Bundesminister des Innern, Herrn Dr. Wolfgang Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Entführung von Susanne Osthoff, die heute Morgen von der Frau Bundeskanzlerin und allen Fraktionsvorsitzenden bereits in angemessener Weise angesprochen worden ist, hat uns in Erinnerung gerufen, dass die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus uns alle betrifft. Ich glaube nicht, dass dies eine neue Bedrohungslage ist. Ich glaube, es ist vielleicht nur eine neue Wahrnehmung, die klar macht, dass wir alles tun müssen, um den Gefahren zu wehren. Wir haben immer gesagt - das gilt auch heute -: Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit. Das möchte ich gerne am Anfang meiner Amtszeit sagen. Das heißt aber nicht, dass wir nicht das menschenmögliche Maß an Sicherheit gewährleisten wollen. Wir haben miteinander verabredet, dass wir uns damit alle Mühe geben, und dem sind wir - vermutlich über alle Fraktionsgrenzen hinweg - verpflichtet. ({0}) Im Einzelfall wird es immer schwierige Abwägungssituationen geben; darüber haben wir gesprochen. Es muss auch klar sein, dass wir nicht nur die Sicherheit unseres Landes und unserer Bürger und Bürgerinnen verteidigen, sondern auch die Sicherheit der Gewährleistung unserer freiheitlichen, rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassung. Das ist kein Gegensatz. ({1}) Vielmehr bedingt das eine das andere: Es gibt keine Sicherheit ohne Freiheitsrechte und keine Freiheitsrechte ohne Sicherheit. Dass dies so ist, muss bei der Abwägung immer klar sein. Manchmal haben wir in Deutschland eine gewisse Neigung zur Erregungskultur. ({2}) Mir hat in der vergangenen Woche am Rande unserer ersten Bundestagssitzung der Kollege von Stetten von dem Fall berichtet, dass ein Parkplatzwächter auf einem Autobahnparkplatz zu Tode gekommen ist und die Strafverfolgungsbehörden wegen Mordverdachts ermitteln. Ob die Daten, die die Einrichtungen zur Erfassung der LKW-Maut liefern, geeignet wären, den Täter zu fassen, weiß kein Mensch. Aber die Strafverfolgungsbehörden sind gehindert, überhaupt zu prüfen, ob diese Daten einen Hinweis auf den Täter liefern können. ({3}) Deswegen habe ich mit dem Kollegen Tiefensee und mit der Kollegin Zypries darüber gesprochen. Wir hatten übrigens auch in den Koalitionsgesprächen, Herr Kollege Körper, schon besprochen, dass wir in einem solchen Fall die Voraussetzungen, unter denen dies gesetzlich geändert werden muss, genau prüfen werden. Es muss geändert werden. Es kann nicht wahr sein, dass dieser Staat Daten erhebt, die wir nicht nutzen dürfen, um notfalls einen Mord aufzuklären. ({4}) Die Voraussetzungen dafür kann man diskutieren. Aber es kann nicht so sein, dass wir in einem solchen Fall - wo der Staat Daten erhebt, um von den LKW-Fahrern Mautgebühren zu kassieren - gehindert sind, sie zu nutzen, um einen Mord aufzuklären oder zu verhindern. Lassen Sie uns über die Einzelheiten, über die Voraussetzungen und über die Abgrenzungen genau reden, aber lassen Sie uns um Himmels willen nicht bei unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern den Eindruck erwecken, wir würden uns künstlich blind machen. Ich sage auch gleich: Das muss nicht nur für die Aufklärung schwerer oder schwerster Straftaten gelten, sondern das muss - unter zu definierenden Voraussetzungen - auch für die Verhinderung schwerster Straftaten und damit von Terrorismus gelten. ({5}) - Ich finde es sehr schön, dass Sie sagen: „Sie lassen die Katze aus dem Sack“. Ich rede über das Thema in der Tat im Zusammenhang mit der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus. Ich möchte, dass wir das Menschenmögliche tun, um schlimme Anschläge, die uns wie auch allen anderen drohen, zu verhindern. ({6}) - Auch nach den Regeln der Verhältnismäßigkeit. Ich finde, was in London, was in Madrid und was in New York passiert ist, sprengt alle Grenzen der Verhältnismäßigkeit. Deswegen möchte ich so etwas gerne im Rahmen unserer freiheitlich-rechtsstaatlichen Verfassung verhindern. Ich bitte Sie um Ihr Mitwirken und nicht um Ihre mich eher weniger überzeugende Art von Blockade. Man muss schon darüber reden können. Das ist ein wichtiger Punkt. ({7}) - Das sind Abwägungsfragen, aber man darf nicht von vornherein sagen: Das kommt überhaupt nicht in Frage. Man darf auch nicht denjenigen, der sich die Mühe macht, darüber nachzudenken, wie man Sicherheit optimieren kann, ohne Freiheitsrechte zu gefährden, von vornherein in eine Tabuecke drängen. Ich sage Ihnen vorweg: Das wird Ihnen mit mir nicht gelingen. Sie müssen auf der anderen Seite wissen: Ich werde immer wieder Ihre Verantwortung, also die Verantwortung dieses Gesetzgebers, einfordern. Wir müssen das Menschenmögliche tun - im Rahmen unserer freiheitlichen Verfassung -, um unsere Bürger zu schützen. Wenn wir uns einig sind, dass es keinen Widerstreit von Freiheit und Sicherheit gibt, dann muss das in beide Richtungen gelten. Deswegen sind wir in dieser Verantwortung. Ich möchte auch nicht darauf warten, dass ein großer Anschlag passiert und wir erst dann die Gesetze ändern. Ich möchte lieber vorher getan haben, was wir tun können, damit so ein Anschlag nicht passiert. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Wiefelspütz?

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Bitte sehr.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister Schäuble, ich habe mich in der Vorbereitung auf die heutige Debatte einmal in den Gesetzen umgeschaut, die wir - wie ich höre, sogar gemeinsam verabschiedet haben. In dem Autobahnmautgesetz heißt es in § 4 Abs. 2 - die letzten beiden Sätze - wörtlich: Diese Daten dürfen ausschließlich für die Zwecke dieses Gesetzes verarbeitet und genutzt werden. Eine Übermittlung, Nutzung oder Beschlagnahme dieser Daten nach anderen Rechtsvorschriften ist unzulässig. Herr Minister, ich halte diese Vorschrift, die wir gemeinsam verabschiedet haben, in der Abwägung der in Rede stehenden Rechtsgüter - beispielsweise im Hinblick auf terroristische Straftaten oder Mord - für verfassungswidrig. Sind Sie da anderer Auffassung als ich? Ich halte die Norm in dieser Totalität, in dieser Rigidität für nicht in Übereinstimmung mit unserem Grundgesetz und bin der Auffassung, dass das dringend - über den Umfang muss man sprechen - verändert werden muss. Ich würde Sie bitten, einmal Ihre Rechtsauffassung dazu, wenn Sie wollen, zu äußern. Ich halte diese Norm für verfassungswidrig.

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Ich werde jetzt nicht dem letzten Deutschen Bundestag in meiner ersten Rede als Bundesinnenminister eine verfassungswidrige Gesetzgebung bescheinigen; ({0}) dafür ist das Bundesverfassungsgericht zuständig. Aber, Herr Kollege Wiefelspütz, wir stimmen überein: Die Norm ist in jedem Fall falsch; deswegen müssen wir sie ändern. Das ist es, was ich gerne möchte. Deswegen ist die Erregung - wo immer sie entstanden ist - auch völlig unangebracht. Lassen Sie mich weiter anmerken: Ich glaube, zur Vorsorge gehört auch, dass wir im Bereich des Katastrophen- und Bevölkerungsschutzes unsere Bemühungen effektivieren. Wir haben das auch ein Stück weit in der Föderalismuskommission, also in der Diskussion zur Reform des Föderalismus beraten. Ich glaube, das ist ein wichtiges Thema. Ich will die Gelegenheit nutzen, unzuständigerweise zu sagen: Wir sind eigentlich immer so unterrichtet gewesen, dass wir uns, was die Sicherheit der Energieversorgung betrifft, keine Sorgen über tagelange Stromunterbrechungen, die ja unter Umständen für den Zivilund Bevölkerungsschutz relevant sein können, machen müssen, wie es etwa in den Vereinigten Staaten von Amerika der Fall ist. Ich hätte gern, dass wir diese Zuversicht auch in der Zukunft haben. Die Erfahrungen der letzten Tage waren nicht ganz so gut. Daraus müssen ein paar Konsequenzen gezogen werden. Meine zweite Bemerkung, die ich machen möchte, lautet: Neben der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus ist die Bewältigung der Veränderung der modernen Welt durch Migration eine der großen Herausforderungen. Das gilt in zweierlei Richtungen. Auch in diesem Bereich haben wir in den letzten Wochen in den anderen europäischen Ländern in die eine oder in die andere Richtung bedrückende Erfahrungen gemacht. Die Spanier und auch die Franzosen mussten hier Erfahrungen machen. Wir in Deutschland kennen die Debatte seit vielen Jahren. Die ist so alt, dass ich sie als Innenminister schon einmal mitgemacht habe. Ich bin ganz überzeugt, dass wir auch da beide Elemente bedenken und berücksichtigen müssen. Wir werden Zuwanderung nicht, wie es im Zuwanderungsgesetz heißt, steuern und begrenzen können, wenn wir Fluchtursachen nicht erfolgreicher bekämpfen. Da muss es eine Gesamtverantwortung der Regierung geben. Wir haben in unserer Koalitionsvereinbarung festgehalten, dass wir alle in diesem Bereich noch mehr tun müssen, insbesondere in Afrika, aber nicht nur. Aber wir werden die notwendige Offenheit und Toleranz in unserer Gesellschaft, die ja Voraussetzung dafür ist, dass wir Zuwanderung als Bereicherung empfinden können und nicht als Bedrohung empfinden müssen, nur aufrechterhalten, wenn es uns gelingt, die Menschen davon zu überzeugen, dass wir zur Steuerung und Begrenzung von Zuwanderung in der Lage sind. ({1}) Beides gehört zusammen. Dazu gehört auch Integration. Wir sind kein dünn besiedeltes Land, in dem sich Parallelgesellschaften bilden können. Wir sind auf Kommunikation angewiesen und müssen die Entstehung von Parallelgesellschaften vermeiden. Wir haben übrigens im Gegensatz zu Frankreich, wo wenigstens fast alle Französisch sprechen, oder im Gegensatz zu Großbritannien, wo alle Englisch sprechen, in Deutschland das Problem, dass wir nicht einmal dieselbe Sprache sprechen. Wir müssen darauf bestehen, dass, wer auf Dauer in Deutschland lebt, in der Lage ist, mit den anderen, die auf Dauer in Deutschland leben, kommunizieren kann, weil sonst nicht die Gemeinschaft entsteht, von der die Frau Bundeskanzlerin heute Morgen und auch der Herr SPD-Vorsitzende zu Recht gesprochen haben. Gemeinsamkeit fängt damit an, dass man miteinander kommunizieren kann, setzt Sprache voraus. Das heißt übrigens auch, dass wir staatlicherseits - Gemeinden, Länder und der Bund - helfen müssen, Sprache zu lernen. Das heißt aber auch, dass wir zuvor den Eltern sagen: Ihr habt zunächst eine Verantwortung dafür, dass eure Kinder die Sprache lernen. Denn die Eltern haben eine Verantwortung und jedes Kind, auch ausländischer Abstammung, hat einen Vater und eine Mutter. Die haben die prioritäre Verantwortung. Diese muss eingefordert werden. Integration ist eine Zweibahnstraße. Sie setzt Bemühungen und Offenheit derjenigen voraus, die dauernd hier leben, aber auch die Bereitschaft derjenigen, die zu uns gekommen sind - oder deren Eltern oder Großeltern -, um mit uns zusammenzuleben. Dafür müssen wir arbeiten. Das ist eine zentrale Aufgabe dieser Bundesregierung, was nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck gebracht werden soll und gebracht wird, dass die Beauftragte für die Integration als Staatsministerin im Kanzleramt angesiedelt ist. Ich bitte da um Mitwirkung. Aber ich sage noch einmal: Es wird nur gelingen, wenn wir die Steuerung und Begrenzung von Zuwanderung leisten. Das macht sich dann im Einzelfall bemerkbar. Wir haben in einer schwierigen Debatte über die Frage von Bleiberechten derjenigen, die irgendwann einmal illegal hierher gekommen sind, gesprochen. Auch da sind es Abwägungsfragen. Man weiß, dass, wenn diese Menschen oder deren Kinder hier schon lange leben, man irgendwann einen Punkt erreicht, an dem eine Ausweisung keinen Sinn mehr macht. ({2}) Man weiß aber auch, dass viele derjenigen, über die wir reden, irgendwann einmal illegal hierher gekommen sind. Im Zweifel befördert man also das Geschäft derjenigen, die sie illegal hierher verbracht haben - das nennt man organisierte Kriminalität - was man nicht darf. ({3}) Deswegen bitte ich auch in diesem Sinne darum, dass wir miteinander die beste Lösung erreichen, aber uns die Sache nicht zu leicht machen. Meine dritte Bemerkung - das ist eine zentrale Aufgabe für uns - ist: Wir müssen unseren staatlichen Aufbau, unsere Verfahrensweisen und die Bürokratie verschlanken, nicht nur aufgrund der Wirkung auf die Wirtschaft - dieser Bereich ist im Kanzleramt angesiedelt -, sondern auch zur weiteren Optimierung der Verwaltungs- und Verfahrensabläufe. Dazu gehört auch in Zukunft ein leistungsfähiger öffentlicher Dienst. Deswegen bekenne ich mich dazu, dass auch der öffentliche Dienst, wie wir es in der Koalitionsvereinbarung verabredet haben, seinen Beitrag dazu leisten muss. Der Innenminister wird seine Verantwortung dafür als Teil der Bundesregierung wahrnehmen, um seinen Beitrag zur notwendigen Sanierung der Haushalte im Sinne einer nachhaltigen Generationengerechtigkeit - denn darum geht es - zu leisten. Über die Einzelheiten werden wir uns verständigen. Deswegen bitte ich Sie auch hier, sowohl die zu frühzeitige bzw. vorzeitige Erregung als auch die Phantasie, was alles nicht sein darf, ein bisschen zurückzustellen. ({4}) Lassen Sie uns dieses Thema in Ruhe und in Verantwortung miteinander angehen. Ich bin überzeugt, dass wir die Beamten, Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst von der Notwendigkeit überzeugen werden und dass wir das gemeinsam mit den Beschäftigten - den Beamten, Arbeitern und Angestellten - schaffen, wenn wir auf vernünftige Weise vorgehen. Denn wir alle, auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, haben eine Verantwortung gegenüber dem Souverän dieses Landes. Ich bin ja nicht nur für den öffentlichen Dienst da. Vielmehr haben wir zusammen mit den dortigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Damit ich nicht nur von Sorgen spreche, sage ich: Auch der Sport gehört zum Ressort des Bundesinnenministers; das freut mich. Ich füge hinzu: Mein Verständnis, was den Sport betrifft, reduziert sich, obwohl auch ich fußballbegeistert bin, nicht auf Fußball. In Turin finden die Olympischen Winterspiele statt; auch darauf sollten wir uns freuen. Es gibt im Sport eine große Vielfalt, die wir erhalten wollen. Aber natürlich ist die Fußballweltmeisterschaft ein Ereignis, das uns, was die Sicherheit betrifft, vor große Herausforderungen stellt. Die Vorbereitungen sind auf einem guten Weg. Wir hoffen, dass wir wunderbare Fußballspiele mit einer möglichst erfolgreichen deutschen Fußballmannschaft erleben werden. ({5}) - Ich habe meine Meinung ja schon gesagt: dass ich am liebsten hoffe. ({6}) - Ich habe meine Redezeit schon überzogen; dafür bitte ich um Nachsicht. ({7}) Nun möchte ich zu meiner letzten Bemerkung kommen. Ich glaube, das Allerwichtigste aus der Sicht der Bundesregierung und damit auch aus der Sicht des Bundesinnenministers ist, dass wir dieses Ereignis, das Milliarden Menschen in der Welt verfolgen, als Chance nutzen, unser Land als das darzustellen, was es ist: als ein Land, das in der Lage ist, ein solches Ereignis gut zu organisieren. Bei dieser Gelegenheit können wir Milliarden Menschen zeigen, dass Deutschland ein schönes Land ist, in dem es sich zu leben lohnt und für das es sich zu arbeiten lohnt. Herzlichen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Max Stadler von der FDP-Fraktion.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister Schäuble, Ihrem letzten Satz ist nichts hinzuzufügen; da wird Ihnen jeder zustimmen. Zu Beginn Ihrer Amtszeit wünscht Ihnen die FDPFraktion eine glückliche Hand bei Ihrer Arbeit, mit der Sie jetzt für unser Land beginnen, und bei der schwierigen Aufgabe, die Sie zu erfüllen haben. ({0}) Es würde zwar der parlamentarischen Tradition entsprechen, die so genannte 100-Tage-Frist als Schonfrist einzuhalten. Aber ich glaube, dann würden wir Sie unterfordern. Denn Sie sind einer der erfahrensten Politiker dieser Regierung und Sie haben sich auch nicht gescheut, bereits in Ihrem ersten Redebeitrag als Innenminister klare Positionen zu beziehen. Deswegen sagen wir als FDP Ihnen ebenso klar: Die Koalitionsvereinbarung ist für uns im Bereich der Innenund Rechtspolitik eine große Enttäuschung. Denn sie enthält eine bemerkenswert große Anzahl von völlig unverbindlichen Absichtserklärungen und von lediglich vagen Prüfaufträgen. Aber diese Koalitionsvereinbarung lässt an keiner Stelle erkennen, dass Sie bereit sind, die zahlreichen und unnötigen Grundrechtseingriffe der letzten Jahre zurückzunehmen. Das ist unsere Hauptkritik an der Koalitionsvereinbarung. ({1}) Wir befürchten - Ihre Eingangsworte haben uns darin bestätigt -, dass die Politik des „in dubio pro securitate“ - im Zweifel für die Sicherheit - fortgesetzt wird. Wir glauben allerdings, dass die für die Politik notwendige Abwägung zwischen den Sicherheitsinteressen und dem freiheitlichen Gehalt des Grundgesetzes bereits unter Rot-Grün nicht mehr stattgefunden hat. ({2}) Dennoch wollen wir zu Beginn Ihrer Amtszeit auch feststellen, dass wir einige Ihrer Äußerungen, Herr Minister Schäuble, sehr positiv registriert haben: Sie haben zu Recht die Integration als eine Hauptaufgabe der Zukunft herausgestellt. Die FDP wird Sie dabei unterstützen, wie wir Ihnen auch unser umfangreiches Programm zur Integrationspolitik vom Dezember 2004 als Material anempfehlen dürfen. Zweitens haben Sie sich zu Recht für den Dialog mit der islamischen Gemeinschaft ausgesprochen. Auch da teilen wir Ihre Meinung und auch die klare Aussage, die Sie getroffen haben: dass dabei die Regeln des Grundgesetzes unverzichtbar sind. Das ist auch unsere Position. Drittens - damit komme ich, glaube ich, zum Kernthema dessen, worüber wir die nächsten Jahre vermutlich des Öfteren zu diskutieren haben - haben Sie in dem „Spiegel“-Interview, das am Montag dieser Woche veröffentlicht worden ist, sinngemäß erklärt, dass der Rechtsstaat sogar beim Kampf gegen Terrorismus nicht jedes Mittel einsetzen darf. Sie haben auf die konkrete Frage, wo denn für Sie die rote Linie verlaufe, was ein Rechtsstaat darf und was nicht, erklärt: Das Folterverbot muss gelten. Das ist zwar eine Selbstverständlichkeit, aber trotzdem wichtig und bemerkenswert. Denn damit haben Sie doch selber zum Ausdruck gebracht: Der Rechtsstaat darf vieles - und er muss vieles tun, um die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger bestmöglich zu schützen -, aber er darf nicht alles. Es sind ihm auch Grenzen gesetzt, von der Verfassung, und diese Grenzen sind in den Grundrechten definiert, die die Freiheit in unserem Staatswesen verbürgen. ({3}) Daher, Herr Minister, ist es nicht nur eine nebensächliche Debatte, ob man ein gespeichertes Datum einer Mautstelle zum Zwecke der Strafverfolgung verwenden darf, sondern so, wie Sie das vorhin erklärt haben, geht es hier schon um eine sehr grundsätzliche Auseinandersetzung: Kann es sein, dass der Staat, weil er ja sinnvolle Zwecke verfolgt wie etwa die Strafverfolgung oder Prävention, auf alle Daten zurückgreift? Oder gilt das, was bisher allgemeine Meinung war zum Datenschutz: nämlich dass es auch eine Zweckbindung von Daten gibt, auf die man sich als Bürger verlassen können muss; ({4}) dass man die Sicherheit haben muss, dass bestimmte Daten eben nicht für andere - und seien es noch so hehre Zwecke verwendet werden dürfen? Das ist jedenfalls unsere Meinung. ({5}) Ich verstehe jetzt besser, warum in der Koalitionsvereinbarung - das war mir beim ersten Durchlesen sofort aufgefallen - der Datenschutz schon wieder mit so einem negativen Touch erwähnt wird: Er kommt dort nur als Hindernis vor, das dem Staat im Wege steht, Sinnvolles zu tun. Das ist unserer Meinung nach eine völlig falsche Betrachtungsweise und das hat der Verfassungsgerichtspräsident Benda, einer Ihrer Vorgänger als Innenminister und CDU-Politiker, nicht verdient: dass das Grundrecht auf Datenschutz, das er mit dem Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 des Grundgesetzes herausinterpretiert hat, so eingeordnet würde! Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe auch sehr aufmerksam zugehört, als Sie gesagt haben: Der Staat muss - fast; das sage ich jetzt dazu - alles dafür tun, vor allem wenn es um die Prävention geht. Das klingt natürlich auch plausibel - und wer wollte dem widersprechen? -, aber man muss die Frage stellen - nein, Herr Benneter, die entscheidende Frage kommt -: Wo ziehe ich dann noch Grenzen für staatliche Eingriffe? Wo ziehe ich noch Grenzen, wenn ich der Meinung bin, alles, was an Daten gesammelt wird, müsste verwendet werden? ({6}) - Herr Wiefelspütz, gerade Sie zum Beispiel haben sich gegen die von Ihnen selbst beschlossene - übrigens auf besonderen Wunsch der CDU/CSU so formulierte Klausel im Mautgesetz gewandt, nach der es eine strikte Zweckbindung der Daten geben soll. ({7}) - Doch, das war so: im federführenden Verkehrsausschuss. - Wenn man die Aufgabe des Staates so schrankenlos definiert, dann fällt es schwer, überhaupt noch Grenzen anzugeben, zum Beispiel wie lange unsere Telekommunikationsdaten, die doch deutlich dem privaten Bereich angehören und die niemand anderen etwas angehen, gespeichert werden - um nur ein aktuelles Beispiel aus der EU anzuführen. Mir wird jetzt auch klar, warum Sie Präventivbefugnisse für das Bundeskriminalamt vereinbart haben. Es geht nicht um eine formale Zuständigkeitsregelung. Wir sehen die Gefahr in der Abkehr vom klassischen Polizeirecht. Das klassische Polizeirecht hat immer an konkrete Verdachtssachverhalte angeknüpft, die den Staat zum Einschreiten veranlassen. ({8}) - Doch, das ist die entscheidende Frage, Herr Wiefelspütz. Ich habe Ihre Koalitionsvereinbarung sehr aufmerksam gelesen. Ich bin auf einen Satz gestoßen, der beim ersten Lesen plausibel klingt, bei nochmaligem Lesen aber nicht. Zuerst habe ich gedacht, ich bin vielleicht zu skeptisch, ich denke aber, ich bin es nicht. Diesen Satz möchte ich ganz vortragen. Sie schreiben in ihrer Koalitionsvereinbarung etwas zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit - darin haben wir Ihnen eben zugestimmt - und schreiben dann auf Seite 116: Beide Werte müssen immer wieder neu - je nach den sich ändernden äußeren Bedingungen - ins Gleichgewicht zueinander gebracht werden. Das klingt plausibel. Aber was bedeutet die Passage „je nach den sich ändernden äußeren Bedingungen“ denn? Gibt es nicht Grundrechte, die unveräußerlich sind, egal wie sich die Bedingungen ändern? ({9}) Herr Minister Schäuble, ist das nicht Ihre Aussage im „Spiegel“-Interview, in dem Sie gesagt haben, es gebe Grenzen für das staatliche Handeln? In dem Zusammenhang, wo Sie sich klar für das Folterverbot ausgesprochen haben, sagen Sie auch, dass es eben nicht Grundrechte gibt, die je nach den äußeren Bedingungen zur Disposition stehen. Darauf müssen wir bestehen. Herr Minister Schäuble, wir vertrauen darauf, dass auch das zutrifft, was Sie ebenfalls in dem „Spiegel“-Interview gesagt haben, nämlich dass Ihnen niemand zu erklären brauche, wie wichtig Bürgerrechte in einer freien Gesellschaft sind. So etwas hat man aus dem Bundesinnenministerium schon lange nicht mehr gehört. Deswegen erwähne ich diesen Satz ausdrücklich. ({10}) Der Philosoph Wittgenstein sagt: Das Wort ist die Tat. ({11}) Es ist eine Tat, wenn Sie sich so klar zu den Bürgerrechten bekennen. Aber Sie werden Verständnis haben, dass wir Sie dennoch an den weiteren Taten messen werden. Wenn es zutrifft, was Sie im „Spiegel“-Interview sagen, dass sich derjenige, der Sie im „Verständnis einer freiheitlichen Verfassung übertreffen“ wolle, „ziemlich anstrengen“ müsse, wenn das die Sicht der neuen Bundesregierung ist, dann werden Sie die FDP an Ihrer Seite haben. Aber auch nur dann. ({12})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Fritz Rudolf Körper, SPD-Fraktion.

Fritz Rudolf Körper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister Schäuble, ich glaube, wir können miteinander stolz darauf sein, dass wir in unserer Koalitionsvereinbarung in unserem Bereich die Überschrift wählen konnten: „Deutschland - ein freies und sicheres Land“. Ich glaube, diese Aussage sollten wir unterstreichen und sollten ein Stück weit stolz darauf sein. ({0}) Das sage ich deswegen, lieber Herr Stadler, weil ich glaube, dass Sie eine Wahrnehmung von dieser Koalitionsvereinbarung haben, die schlichtweg nicht stimmig ist. ({1}) - Das hätten Sie ruhig tun können. Ich gehe davon aus, dass Sie keine weiteren Schwachstellen gefunden haben. Das wiederum spricht für eine gute Koalitionsvereinbarung im Bereich Innenpolitik. Sie haben das Thema Sicherheit und Freiheit bzw. Freiheit und Sicherheit angesprochen. Wir haben festgelegt, dass das keine Gegensatzpaare sind, sondern dass Freiheit Sicherheit und Sicherheit Freiheit bedingt und dass genau das die Grenze unseres staatlichen Handelns beschreibt. Das umzusetzen ist unser fester Wille. Ich denke, wir brauchen in diesem Punkt keine Belehrung und keinen Nachhilfeunterricht, auch wenn der von den Freien Demokraten kommt. ({2}) Ich denke, es ist ganz wesentlich, dass das Gradmesser und Richtschnur innenpolitischen Handelns ist. Sie können sicher sein, dass das exakt umgesetzt wird. Meine Damen und Herren, Minister Schäuble ist auf die Bedrohung eingegangen. Es gibt auch wieder ein ganz aktuelles Beispiel und wir stellen fest, dass die Bedrohungslage, von der wir eigentlich glaubten, dass sie der Vergangenheit angehört, aktueller denn je ist. Ich denke, die Bedrohungen und Bedrohungsszenarien, die wir insbesondere seit dem Jahre 2001 erleben, geben einem Anlass, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in unseren Sicherheitsbehörden an dieser Stelle ein ganz herzliches Dankeschön zu sagen. Sie haben ganz wesentlich dazu beigetragen, dass wir sagen können: Deutschland ist ein freies und sicheres Land. ({3}) Ich bin auch ein Stück stolz darauf, dass wir nach den fürchterlichen Ereignissen in den Vereinigten Staaten von Amerika im September des Jahres 2001 ein Sicherheitspaket I und ein Sicherheitspaket II verabschieden konnten. Dies geschah im Übrigen mit großer Zustimmung des Hauses. ({4}) - Herr Ströbele, ich kann mich daran erinnern, dass Sie dem auch zugestimmt haben. Ich glaube, das war auch eine richtige Entscheidung. ({5}) Lieber Herr Stadler, auch bei der Umsetzung in diesem Bereich hat sich deutlich gezeigt, dass Datenschutz nicht als hinderlich angesehen wurde. Vielmehr hat man diese Gesetzgebung auch an dem Aspekt Datenschutz orientiert. Ich sage hier ganz deutlich: Wer sich unsere Koalitionsvereinbarung ansieht, der wird feststellen, dass der Datenschutz bei uns in guten Händen ist. ({6}) Wenn es beispielsweise um die Informationen im Bereich der Maut geht, finde ich es völlig richtig, die Frage zu stellen, welche Informationen wir gewinnen können, um bestimmte Kapitalverbrechen aufzuklären oder sie sogar für eine gewisse Prävention zu nutzen. ({7}) Ich sage jedenfalls klipp und klar und sehr deutlich: Die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden sich an dieser Diskussion konstruktiv beteiligen. Wir wissen, was wir zu beachten und nicht zu beachten haben. ({8}) Herr Ströbele, im Übrigen finde ich, dass wir auf das, was wir in der Gesetzgebung gegen den Terrorismus getan haben, heute noch sehr stolz sein können. Wir haben etwas eingeführt, was es in der Gesetzgebung vorher noch nicht oder nur kaum gab. Wir haben nämlich befristete Gesetze geschaffen, in denen eine Evaluierung vorgesehen ist. ({9}) Es ist jetzt eine unserer Aufgaben, diesen Prozess der Evaluierung in Gang zu setzen und gemeinsam darüber zu entscheiden, was sich bewährt hat und was sich nicht bewährt hat. ({10}) Ich bin jedenfalls der Auffassung, dass das eine gute Geschichte ist. Ich glaube, wir werden hier gute Entscheidungen treffen. Lieber Herr Stadler, an einer Stelle habe ich Sie überhaupt nicht verstanden. Ich bin schon der Auffassung, dass wir, wenn wir die Sicherheitsarchitektur in unserem Lande überprüfen, die Fähigkeit erhalten müssen, entscheiden zu können, ob beispielsweise jede Aufteilung von Zuständigkeiten und Befugnissen zwischen dem Bund und den Ländern heute noch aufgaben- und herausforderungsgerecht ist. Die Erfahrungen, die man mit dem internationalen Terrorismus gemacht hat, bringen einen zu dem Ergebnis, dass es unabdingbar ist, dem Bundeskriminalamt Befugnisse für präventive Maßnahmen zu übertragen. Ich denke, dass das für eine aufgabengerechte Bekämpfung des internationalen Terrorismus notwendig ist. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist keine Kampfansage an die Länder. Es wird also nicht an den Grundfesten der Zuständigkeiten der Länder gerüttelt. Nein, ich denke, es gibt sachliche Notwendigkeiten dafür, dies zu tun. Ich hoffe, dass wir das im Zuge der Föderalismusdebatte auch hinbekommen. Wichtig ist auch, dass für uns deutlich und klar ist, dass die innere Sicherheit in unserem Lande letztendlich ein gemeinsames Produkt von Bund und Ländern ist. Der Bund könnte es nicht alleine schultern und auch die Länder könnten es nicht gemeinsam schultern. Deswegen ist es ganz wichtig, dass wir von Zuständigkeitsfragen und Eifersüchteleien Abstand nehmen. Dabei liegt mir ein Thema besonders am Herzen, nämlich die Einführung des Digitalfunks in unserem Lande. Das, was wir derzeit erleben, dauert viel zu lange. ({12}) Das hängt damit zusammen, dass wir nun einmal 17 Unterschriften brauchen, weil es ein Bund-LänderProjekt ist. Ich sage auch ganz deutlich: Der Langsamste darf an dieser Stelle nicht das Tempo bestimmen. Herr Schäuble, hier haben wir eine große Aufgabe zu lösen. Ich will noch etwas anderes kurz ansprechen. Es geht um das, was in unseren Koalitionsgesprächen zum Thema Innenpolitik eine große Rolle gespielt und einen gewissen Zeitraum in Anspruch genommen hat, nämlich die Frage des Verhältnisses der inneren zur äußeren Sicherheit. Dazu bleibt aus meiner Sicht ein Punkt festzuhalten: Die Aufgaben der Polizei beim Schutz der inneren Sicherheit und die Aufgaben der Bundeswehr beim Schutz der äußeren Sicherheit dürfen nicht vermischt und vermengt werden. ({13}) Das dem Bundesverfassungsgericht vorliegende Luftverkehrssicherheitsgesetz dient der Präzisierung dieser Aufgaben und Zuständigkeiten. Wir werden im Lichte der Karlsruher Entscheidung wieder darauf zurückkommen. Das Thema Migration und Integration ist angesprochen worden. Lieber Herr Stadler, ich bin sehr froh und dankbar, dass wir uns in der Koalitionsvereinbarung diesem Thema zugewendet haben; denn wir wissen: Integration ist kein Selbstläufer, sondern wir müssen unseren Beitrag dazu leisten, dass Integration funktioniert, damit wir - das sage ich ganz deutlich - nicht solche Zustände bekommen, wie sie zurzeit in unserem Nachbarland Frankreich zu beobachten sind. Deswegen möchte ich mich herzlich dafür bedanken, dass wir hier einen eindeutigen Schwerpunkt gesetzt haben. Ich will noch etwas ansprechen: Deutschland ist nicht nur frei und sicher, sondern Deutschland muss auch ein weltoffenes Land bleiben. Davon profitieren wir letztendlich alle. Dass wir ein weltoffenes Land bleiben wollen, wollen wir auch im Jahre 2006 bei der Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft beweisen, wo die ganze Welt auf uns schaut. Wir brauchen heute nur zu beschließen, dass wir Weltmeister werden. Ich glaube, da bekommen wir ein einstimmiges Ergebnis. ({14}) Die Vorbereitungen laufen gut. Es besteht die Hoffnung, dass diese Fußballweltmeisterschaft ein friedliches Großereignis wird, bei dem der Fußballsport im Vordergrund steht. Das wäre auch gut so. Ich bin sicher, dass das Thema Fußballweltmeisterschaft im Jahre 2006 für den gesamten Sport und die gesamte Sportszene als eine Initialzündung wirkt. Sport ist gut für die Menschen. Sport ist gut für unser Land. Deswegen bin ich froh, dass wir uns dieser Aufgabe widmen. Ich hoffe, dass wir während der Haushaltsberatungen in die Lage versetzt werden, die guten Strukturen im Bereich des Sports zu erhalten; denn das ist für den Erfolg des Sports in Deutschland sehr wichtig. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({15})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Petra Pau von der Fraktion Die Linke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir über Innenpolitik, innere Sicherheit, Kriminalitätsbekämpfung und Polizeibefugnisse reden, dann reden wir zugleich auch immer über Demokratie und Bürgerrechte. Das ist jedenfalls der Generalansatz der Linksfraktion. Beide Seiten bilden zuweilen ein Spannungspaar. Wir haben es in den vergangenen Jahren am Beispiel der „Otto-Pakete“ erlebt, wie Bürgerrechte einer vermeintlichen Sicherheit geopfert wurden. Die große Koalition will offenbar diesen falschen Kurs weiterführen. Ich kündige Ihnen heute schon an, dass Sie damit auf den Widerstand der Linksfraktion stoßen werden. ({0}) Bevor ich zum Koalitionsvertrag komme, möchte ich über zwei Hängepartien sprechen, die das Ausmaß der Bürgerrechtsverletzungen hierzulande illustrieren. Ich meine die Spitzelaktion des BND gegen Journalisten und ein renommiertes Friedensforschungsinstitut. Die BNDSpitze hat das selbst eingeräumt und einen Fehler genannt. Das ist aber kein Fehler, sondern ein klarer Verstoß gegen die Pressefreiheit und damit gegen das Grundgesetz. ({1}) Ich meine des Weiteren das Agieren der CIA auf europäischem und deutschem Territorium. Auch das sind Verstöße gegen allgemeine Menschenrechte und gegen unser Grundgesetz. Auch dafür gibt es hierzulande politisch Verantwortliche. Ich will, dass das im Bundestag geklärt wird und nicht hinter verschlossenen Türen. Nun gab es schon in den zurückliegenden Jahren kaum ein Politikfeld, bei dem sich SPD und Union so einig waren wie in der Innenpolitik. Die Zwillinge Otto Schily und Günther Beckstein sind schon legendär, allerdings nicht im Guten. Zählen Sie selbst einmal nach, wie viele Gesetze und Maßnahmen im Zusammenhang mit ihrer Sicherheitspraxis vor dem Bundesverfassungsgericht gelandet sind und dort gerügt wurden! Ich erinnere nur an den großen Lauschangriff. ({2}) Das hat allerdings in der großen Koalition offenbar nicht zum Umdenken geführt. Ich nenne nur den neuesten Coup, das bundesdeutsche Mautsystem zum Fahndungsund damit zum Überwachungssystem auszubauen. Auch das lehnt die Linksfraktion ab. ({3}) Das gilt auch für den Einsatz der Bundeswehr im Innern. CDU und CSU wollen ihn ausdrücklich und sind bereit, dafür das Grundgesetz zu ändern. Die SPD war bis vor kurzem strikt dagegen. ({4}) Im Koalitionsvertrag aber klingt das Nein der SPD bereits sehr stark nach einem Jein. ({5}) Einen großen Schritt zum Einsatz der Bundeswehr im Innern ist Rot-Grün auch schon gegangen, als Sie das so genannte Luftverkehrssicherheitsgesetz beschlossen haben. Kritiker haben es völlig zu Recht als „Lizenz zum Töten“ bezeichnet. ({6}) Ich teile diese Einschätzung. Auch dieses Gesetz wird derzeit vom Bundesverfassungsgericht geprüft. Ich begrüße das ausdrücklich. Die Linksfraktion will etwas anderes: Wir wollen mehr direkte Demokratie auf Bundesebene. ({7}) Das Thema ist nicht neu, aber es drängt, auch angesichts der zunehmenden Parlamentsverdrossenheit im Lande. Seit der Vereinigung 1990 wurden zwei historische Chancen verspielt, Volksabstimmungen ins Grundgesetz aufzunehmen. Die erste lag auf der Hand, als es darum ging, das provisorische Grundgesetz zu einer Verfassung zu erheben, die von der Bevölkerung angenommen wird. Die zweite gab es zuletzt, als es um die EU-Verfassung ging. In nahezu jedem EU-Land kann die Bevölkerung direkt mitbestimmen. Spätestens hier wird offenbar: In Sachen direkter Demokratie ist die Bundesrepublik Deutschland ein EU-Entwicklungsland. Ich meine, das muss sich endlich ändern. ({8}) Es gab in der Koalition ein kurzes Kompetenzgerangel, in welchem Ressort die Beauftragte für Migration und Integration angesiedelt wird. Es ist ein ungemein wichtiges Amt. Das wissen wir nicht erst seit den gewaltigen Eruptionen in Frankreich vor wenigen Wochen. Ich bin erleichtert, dass die Wahl auf das Bundeskanzleramt und nicht auf das Innenministerium fiel. Denn die Themen Migration und Integration sind mehr denn je Querschnittsaufgaben. Genau dieser Anspruch findet sich aber im Koalitionsvertrag nicht wieder. Dort werden Menschen mit Migrationshintergrund weiterhin als Störfaktoren und Kriminelle betrachtet. Diese Sicht muss endlich überwunden werden. ({9}) Es bedrückt mich schon, dass die Bundeskanzlerin in ihrer heutigen Regierungserklärung nicht eine Antwort auf die drängenden Fragen von Menschen mit Migrationshintergrund in diesem Land gegeben hat. Lassen Sie mich ein weiteres Thema ansprechen. Wie Sie wissen, haben wir als Linke ein kritisches Verhältnis zum deutschen Beamtentum. ({10}) Aber wir sind dagegen, dass der Staat sein Mütchen ausgerechnet an den Beamtinnen und Beamten kühlt. Die große Koalition ist mit einer Attacke gegen Beamtinnen und Beamte gestartet. Sie sollen länger arbeiten und dafür auf Bezüge verzichten. Zugleich werden ihnen aber alle Ansprüche auf mehr Mitsprache verwehrt. Ich finde, das ist nicht klug und auch nicht gerecht. Die Linksfraktion verschließt sich nicht, wenn es um ein modernes Beamtenrecht geht, aber dann immer mit den Betroffenen und nicht gegen sie. Übrigens gilt auch hier, was mein Fraktionsvorsitzender Gregor Gysi schon heute früh an der Erklärung der Bundeskanzlerin kritisiert hat: Sie bieten den Menschen sowie insbesondere den Beamtinnen und Beamten im Osten der Republik mit Ihrem Koalitionsvertrag keinerlei Perspektive auf Angleichung der Lebensverhältnisse. ({11}) Zum Schluss habe ich noch eine Bitte an Sie, Herr Bundesinnenminister. Sie haben laut „FAZ“ 1996 gesagt, man müsse endlich weniger Demokratie wagen, und gemeint, die Verfassung verkomme zur Fessel der Politik. ({12}) Ich finde, es ist Zeit, das öffentlich und glaubhaft zu widerrufen. Das wäre übrigens auch ein unverzichtbarer Beitrag gegen den grassierenden Rechtsextremismus. Zumindest im Kampf gegen Rassismus, Nationalismus und Neofaschismus ({13}) sollten wir uns als demokratische Parteien über alle Fraktionsgrenzen hinweg einig werden und aktiv sein. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Silke Stokar, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundesinnenminister Schäuble, nach dem Lesen des Koalitionsvertrages und Ihrer heutigen Rede ist mir noch einmal sehr deutlich geworden: Diese große Koalition braucht eine starke, kritische Bürgerrechtsopposition. Diese Rolle werden wir als Grüne wahrnehmen. ({0}) - Die Zurufe des Kollegen Wiefelspütz haben sich seit der Zeit der rot-grünen Regierung nicht verändert. ({1}) Die große Einigkeit in der Innenpolitik gab es schon zuvor. Wir werden aber dafür sorgen, dass die Debatten, die zwischen Union und SPD offensichtlich nicht geführt werden, im Parlament und in der Öffentlichkeit stattfinden; denn ich befürchte, dass eine große Koalition - das kennen wir aus der Vergangenheit - Gefahr und Risiko für die Bürgerrechte bedeutet. Dem werden wir entgegenwirken. ({2}) Ich möchte - weil Sie Ausführungen zu diesem Punkt gemacht haben und es ein gutes Beispiel ist - zur Mauterfassung Stellung nehmen. Es ist interessant, festzustellen, dass ein Innenminister, der sich sonst in Interviews - ich habe sie alle mit Interesse gelesen - sehr wohl liberal gibt, in seiner heutigen Rede - ich bewerte nicht seine Reden von damals - sagt, für Daten könne es keine Zweckbindung geben, und gleichzeitig meint, er sei ein Vertreter eines modernen Datenschutzes. Ich glaube, mit diesen Aussagen haben Sie sich selber in der gesamten Datenschutzfrage völlig diskreditiert. ({3}) Lassen Sie uns das doch einmal auf die Gesundheitskarte übertragen. Wie wollen Sie Akzeptanz für staatliche Datensammlungen erreichen, wenn Sie gleichzeitig den Bürgerinnen und Bürgern signalisieren, dass Sie als Bundesinnenminister der Auffassung sind, alle Daten, die der Staat - ganz gleich zu welchem Zweck - erfasse, stünden künftig den Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder zur Verfügung. Ich glaube, dass die große Koalition - das ergibt sich einfach aus dem Koalitionsvertrag - die mit einer Onlinegesellschaft verbundenen Risiken gar nicht im Blick hat. Es geht nicht nur um die Frage, ob wir heute alle Telekommunikationsdaten erfassen, wie lange wir diese Telekommunikationsdaten speichern und ob wir Bewegungsprofile von jedem aufnehmen wollen, der mit einem Handy durch die Gegend läuft. Genau in diesem Zusammenhang muss man die Mautdiskussion sehen. Wenn Sie sich bei den Verkehrspolitikern informiert hätten - vielleicht haben Sie das auch -, dann wüssten Sie, dass das Mautsystem in der heutigen Form überhaupt nicht für die Strafverfolgung geeignet ist. ({4}) Nur circa 5 Prozent aller LKWs, die in Deutschland auf den Autobahnen unterwegs sind, werden überhaupt durch die Mautsysteme erfasst. Es werden nicht die durchfahrenden LKWs erfasst, sondern es werden lediglich die erfasst, die die Maut nicht korrekt bezahlen. Wenn Sie aus dem Mauterfassungssystem ein präventives Fahndungssystem machen wollen, dann sagen Sie es deutlich. Das würde nichts anderes bedeuten, als dass Sie es zusätzlich mit dem so genannten Autokennzeichenscreening aufrüsten würden. ({5}) Damit müssten Sie alle vorbeifahrenden PKWs und LKWs erfassen. ({6}) Das bedeutet eine Fahndung gegen Unschuldige, eine Fahndung gegen jedermann. In anderen Zusammenhängen - auch im Zusammenhang mit Landesgesetzen - hat das Verfassungsgericht mehrfach gesagt, dass eine solche Fahndung gegen jedermann verfassungswidrig ist. ({7}) Das, was mich genauso erschreckt hat, ist Ihre Aussage - ich messe Sie schon an Ihrem eigenen Anspruch, auch Verfassungsminister zu sein -, in Bezug auf den Terrorismus müsse alles Menschenmögliche getan werden. ({8}) Dies ist eine Aussage, die mich erschreckt; denn das bedeutet, dass mit der Begründung der Bedrohung durch den Terrorismus alles möglich ist. Damit gibt der Staat die verfassungsrechtlichen Grenzen auf. ({9}) Ich fand die Äußerung - ({10}) - Es ist ein Unterschied, ob Sie das Menschenmögliche erlauben wollen oder ob Sie die Verhältnismäßigkeit betonen bzw. einräumen, dass die Mittel des Rechtsstaats auch in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus begrenzt sind. ({11}) Justizkommissar Franco Frattini hat auf der internationalen Sicherheitskonferenz in Berlin gesagt: Wir können unsere Werte nicht aufgeben, um den Terrorismus zu bekämpfen. Das ist eine Aussage, die ich unterstütze. Es würde mich freuen, wenn das eine Aussage wäre, die Sie genauso deutlich unterstützen. Ich habe es durchaus begrüßt, dass Sie auf dieser Sicherheitskonferenz gesagt haben, das Folterverbot müsse gelten. Aber angesichts der Debatte, die wir heute hier führen, möchte ich schon, dass Sie konkreter werden. Ich wünsche mir von dem Bundesinnenminister ein klares Bekenntnis, dass deutsche Sicherheitsbehörden keine Information nutzen oder verwenden, die durch Folter erhoben worden ist. Es kann dabei keine Arbeitsteilung dergestalt geben, dass in Drittstaaten gefoltert wird, die BKA-Beamten anwesend sind, wenn auch nicht im selben Raum, und die so gewonnenen Erkenntnisse zuhause in den westlichen Demokratien ausgewertet werden. Sie müssen hier konkret werden, wenn ich ernst nehmen soll, dass Sie die Grundsätze der Verfassung wirklich einhalten wollen. Das absolute Folterverbot heißt für mich: ({12}) Informationen, die durch Folter erlangt worden sind, können in Deutschland nicht verwendet werden. Das ist eine klare Aussage. ({13}) Noch kurz zum Thema Integration. Integration ist mehr als das Erlernen der Sprache. Wir werden Sie daran messen. Ich weiß aus meiner Heimat, der Region Hannover, dass sich dort viel mehr Migranten zu Integrationskursen anmelden, als Angebote vorhanden sind. Solange die Situation so ist, können wir hier keine Schuldzuweisung in Richtung Migranten vornehmen. Ich erwarte von dieser Bundesregierung, dass sie das Zuwanderungsgesetz mit Leben füllt und Integrations- und Sprachkurse auch wirklich finanziert. Meine Redezeit ist leider zu Ende. ({14}) Danke schön. ({15})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zuerst gratuliere ich Ihnen, lieber Herr Dr. Schäuble, im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und - als Vertreter ohne Vertretungsmacht - der Koalition zu Ihrem neuen Amt. Ich weiß gar nicht, ob Sie vor Monaten damit gerechnet haben, dass Sie einmal Ihr eigener Nachfolger werden. Jedenfalls wissen wir die Innenpolitik des Bundes bei Wolfgang Schäuble in besten Händen. Wir wünschen Ihnen für die Arbeit viel Erfolg und auch das bisschen Glück und Fortune, das man haben muss, um ein guter Bundesinnenminister zu sein. Sie haben unsere volle Unterstützung. ({0}) Wie können Sie sich diese Unterstützung auf Dauer sichern? ({1}) Sie haben zum Schluss den zutreffenden Hinweis gegeben, dass Sie auch Sportminister sind. Wenn Sie bei dieser Gelegenheit auch die Kartenwünsche der Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen erfüllten, dann wäre Ihnen unsere Unterstützung auf Dauer sicher. ({2}) Eine weitere Bemerkung. Wenn es sonst schon keiner tut, dann will wenigstens ich es tun - er ist nicht hier; aber, Herr Kollege Wiefelspütz, Sie hatten doch die besten Beziehungen zu ihm -: Wir sollten uns auch bei dieser Gelegenheit bei dem Bundesinnenminister a. D. Otto Schily für seine Arbeit in den vergangenen Jahren bedanken. ({3}) Er war Bundesinnenminister in einer schwierigen Zeit. Er hat es uns nicht leicht gemacht. Wir haben es ihm nicht leicht gemacht. Insbesondere die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat manche harte Auseinandersetzung mit ihm geführt. Das ändert aber nichts an unserem Respekt vor seiner politischen Lebensleistung und deswegen danken wir ihm für seine Arbeit. ({4}) Ich möchte folgende drei Punkte ansprechen: Erstens. Die Koalition möchte Deutschland sicherer machen. Natürlich haben wir es in unserem Leben mit der Spannung zwischen Sicherheit und Freiheit zu tun. Aber Sicherheit und Freiheit sind keine Gegensätze und wir sollten nicht so tun, als wenn es Gegensätze wären. Es sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Ansonsten müsste man die Rechnung aufmachen: Je weniger Sicherheit wir haben, desto mehr Freiheit haben wir. Genau umgekehrt ist es richtig. Ich wiederhole: Es sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Bei allem, was wir zur Gefahrenabwehr tun, befinden wir uns in einem Abwägungsprozess: Auf der einen Seite wollen wir das Land sicherer machen, aber auf der anderen Seite wollen wir auch die Freiheitsrechte nicht aufgeben, sondern verteidigen. Das gilt übrigens auch für den Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Wir werden Rechtsstaatlichkeit und Freiheit nicht preisgeben; denn dann hätten die Terroristen schon ein Ziel erreicht, das sie erreichen wollen, nämlich die westliche Zivilisation zu destabilisieren. ({5}) Um auf das Thema Mautgesetz zurückzukommen: Diese Debatte nimmt mittlerweile wirklich skurrile Züge an. ({6}) Es ist doch ein Unterschied, ob sich ein Staat auf den Weg macht und sagt, wir sammeln auf Bundesfernstraßen und auf Bundesautobahnen alle Daten, die wir bekommen können, vielleicht können wir sie eines Tages einmal gebrauchen, ({7}) oder ob er sagt, wir haben zu einem legitimen Zweck Daten gespeichert. Im Übrigen, Frau Kollegin: Diese Daten werden selbstverständlich registriert. Das gilt auch in Bezug auf die Daten derjenigen, die bezahlt haben. Diese Daten werden nur nicht gespeichert. Aber zur Beantwortung der Frage, ob jemand die Mautgebühr geprellt hat oder nicht, muss man ja zunächst jedes Kennzeichen erfassen und die Daten derjenigen, die gezahlt haben, anschließend sofort löschen. Man speichert dann die Daten der so genannten Mautpreller. Speicherzweck ist also legitimerweise, an diejenigen heranzukommen, die die Mautgebühr geprellt haben. Wir könnten die legitimerweise gespeicherten Daten dazu nutzen, schwerste Straftaten aufzuklären. Dazu sagt der Staat: Das tue ich nicht. Dazu muss ich sagen: Das kann ich nicht verstehen, egal wie die Debatten im Verkehrsausschuss gewesen sind. ({8}) Wir sollten uns über diese Thematik noch einmal in aller Ruhe unterhalten. Ich berufe mich ausdrücklich auf den Vorgänger von Herrn Schaar, auf Herrn Jacob, der gesagt hat: Es wird behauptet, der Datenschutz sei Täterschutz; wenn man mir eine Vorschrift nennt, die die Aufklärung von Straftaten behindert, dann bin ich bereit, darüber zu reden. ({9}) Eine solche Vorschrift ist die Vorschrift im Mautgesetz. Deswegen sollten wir über diese Vorschrift reden - ohne Zorn und Eifer. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Bevölkerung dagegen überhaupt nichts hat, weil es nämlich kein Bürgerrecht gibt, als Straftäter nicht entdeckt zu werden, und weil es auch kein Bürgerrecht gibt, Straftaten unerkannt begehen zu können. ({10}) Herr Kollege Ströbele, wie oft warnen Sie davor, die Bundesrepublik Deutschland sei auf dem Weg in den Überwachungsstaat? In düsteren Farben wird die Zukunft der Republik geschildert. ({11}) In dem Moment, als Ihr Fahrrad gestohlen worden war, ({12}) konnten Sie aber all Ihre Reden beiseite legen; da wären Sie heilfroh gewesen, wenn Sie mithilfe modernster Überwachungstechnik des Deutschen Bundestages ({13}) Ihr Fahrrad schnell hätten zurückbekommen können. Was Ihnen Ihr Fahrrad, ist uns die Sicherheit von 82 Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. ({14}) Zweiter Punkt. Wir wollen mehr für Integration tun. Wir haben keinen Mangel an Zuwanderung, aber wir haben einen Mangel an Integration. Das bedeutet auf der einen Seite: Wenn wir mehr Integration fordern, dann müssen wir auch mehr Integration fördern. Auf der anderen Seite geht der Appell an all jene, die zu uns kommen, aus welchen Gründen auch immer, sich um Integration zu bemühen; denn ohne Integrationsbereitschaft und ohne Integrationsfähigkeit, insbesondere ohne den festen Vorsatz, die deutsche Sprache in Wort und Schrift zu erlernen, kann Integration in Staat und Gesellschaft nicht funktionieren. Nicht alle Nachrichten dieser Tage waren gut. Sie haben das Thema aber dankenswerterweise angesprochen. Hier die neuesten Zahlen: 94 000 Migrantinnen und Migranten ohne Rechtsanspruch, so genannte Bestandsausländer, befinden sich in Sprach- und Integrationskursen. 15 000 sind zur Teilnahme verpflichtet worden. 52 000 neu Zugewanderte und 31 000 Spätaussiedler sind in diesen Kursen. Also nehmen zurzeit knapp 200 000 Menschen an Sprach- und Integrationskursen teil. Natürlich wird legitimerweise die Frage gestellt: Kostet das nicht eine Menge? Dies ist zu bejahen. Es ist eine gewaltige staatliche Anstrengung. Wir müssen uns aber auch fragen: Was kostet fehlgeschlagene Integration? ({15}) Sind die sozialen Folgekosten ({16}) einer nicht erfolgten Integration für Staat und Gesellschaft auf Dauer nicht viel belastender als die Anstrengungen, die wir hier unternehmen? ({17}) Ich füge hinzu: Wir müssen uns insbesondere um die kleinen Kinder bemühen. Wir müssen in den Migrantenfamilien dafür werben, dass ihre Kinder möglichst schon in den Kindergarten kommen, sodass sie dort eine Förderung erfahren; denn wenn sie mit einem sprachlichen Handicap eingeschult werden, dann begleitet sie dieses sprachliche Handicap möglicherweise in ihrer gesamten Schullaufbahn. Dritter Punkt. Wir wollen ein modernes öffentliches Dienstrecht, ein modernes Beamtenrecht schaffen nicht gegen die Betroffenen, sondern mit den Betroffenen. Die Basis ist das, was BMI, Deutscher Beamtenbund und Verdi miteinander vereinbart haben. Das aktuelle Thema ist nun das Weihnachtsgeld. Wahrscheinlich geht es auch manch anderem so wie mir: Vormittags beantworte ich die Briefe empörter Bürger, die schreiben: Jetzt müsst ihr aber mal den öffentlichen Dienst ein bisschen zur Sanierung der Staatsfinanzen heranziehen. - Nachmittags beantworte ich die Briefe empörter Beamtinnen und Beamten, die sich darüber beklagen, dass sie erneut zu ungerechtfertigten Sonderopfern herangezogen werden. Jeder meint natürlich, dass er Recht hat, und irgendwo hat auch jeder Recht. Das ist das Fatale an dieser Situation. Es wäre gut, wenn diese Frage Besoldung/Versorgung - hier geht es auch um die Versorgung derjenigen, die sich im Ruhestand befinden - nicht den Haushaltspolitikern allein überlassen würde, sondern - das ist unsere Bitte, Herr Bundesinnenminister - dass auch der Innenausschuss des Deutschen Bundestags Gelegenheit erhielte, sich mit dieser Fachfrage zu beschäftigen. Die Verwaltungsausgaben für den Schwerpunkt Personal betragen etwa 15 Milliarden Euro. In der Koalition ist verabredet worden, dass der Sparbeitrag pro Jahr 1 Milliarde Euro betragen soll, im Wesentlichen aufgebracht durch eine Reduzierung des Weihnachtsgeldes und eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit auf 41 Stunden. Wie das ausgestaltet wird, muss noch diskutiert werden. Dass wir bei den Einsparbemühungen um den öffentlichen Dienst, um die Verwaltungs- und Personalausgaben, keinen Bogen schlagen können, ist richtig. Wie wir das ausgestalten, müssen wir in diesem Hause, wie gesagt, noch diskutieren. Dabei sollten wir allerdings eines bedenken: Wenn es gegen die Beamten geht, gibt es in jeder Versammlung Applaus. ({18}) Aber bevor jetzt Schadenfreude ausbricht, füge ich hinzu: Wenn es gegen die Politiker geht, gibt es genauso lauten Applaus. ({19}) - Oder noch mehr Applaus. - Die Beamtinnen und Beamten haben deswegen einen Anspruch darauf, dass wir fair mit ihnen umgehen. ({20}) Wenn man einmal addiert, was wir diesem Personenkreis in den letzten Jahren zugemutet haben - seit 1998 hat es keinen realen Anstieg der Löhne mehr gegeben, wir haben das Urlaubsgeld gestrichen, wir haben die Arbeitszeit zweimal verlängert, wir haben die Beihilfe gekürzt -, kann niemand behaupten, dass die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes keinen Konsolidierungsbeitrag geleistet hätten. ({21}) In diesem Sinne - das ist die Schlussbemerkung - haben sie einen fairen Umgang verdient. Der Hinweis, dass sie sich in einem sicheren, unkündbaren Arbeitsverhältnis befinden, ist richtig; aber damit kann man natürlich nicht alles rechtfertigen. Deswegen müssen wir auf der einen Seite fair mit den Beamtinnen und Beamten umgehen, ihnen auf der anderen Seite aber auch deutlich machen, dass wir den öffentlichen Dienst bei den notwendigen Einsparungen nicht ausnehmen können. Danke fürs Zuhören. ({22})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Dieter Wiefelspütz, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich räume ein, dass wir Innenpolitiker vermutlich häufiger über Fragen der Sicherheit als über Fragen der Freiheit reden. Das liegt vielleicht ein wenig in der Natur der Sache. Ich höre häufig, auch in der heutigen Debatte, Freiheit und Sicherheit gehörten doch zwingend zueinander; der eine Wert sei die Kehrseite des jeweils anderen. Ich bin da ein ganz klein wenig anderer Auffassung. Ich bin der Auffassung - da spreche ich nur für mich -, dass die Freiheit noch ein wenig wichtiger ist als die Sicherheit. ({0}) Frau Bundeskanzlerin Merkel hat das heute Morgen in einem anderen Zusammenhang hervorgehoben, mehr unter dem Stichwort Wirtschaftsfreiheit und unter ähnlichen Aspekten. ({1}) Für mich sind die beiden zentralen Werte unseres Landes Freiheit und Menschenwürde. Eine ganz konkrete Erfahrung dieser Tage zeigt es: Frau Susanne Osthoff und ihr Fahrer, deren Schicksal heute hier in vielen Reden zu Recht angesprochen worden ist, leben erst sicher, wenn sie frei sind. Deswegen ist nach meinem Verständnis - bei allem Respekt vor dem Anspruch des Staates, Menschen vor Verbrechen zu schützen, worüber wir als Innenpolitiker natürlich sehr häufig reden - Freiheit im Zweifel immer noch etwas wichtiger. Es ist völlig richtig, dass es in diesem Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland keine totale Sicherheit geben kann. Leben ist gefährlich und bestimmte Risiken können wir nicht ausschließen. Insoweit ist der freie Rechtsstaat immer ein imperfekter Staat. Das ist, denke ich, die Ordnungsvorstellung, die uns alle eint, meine sehr verehrten Damen und Herren. Deswegen bitte ich sehr darum, dass niemand hier die Arroganz aufbringt, zu sagen, Freiheit und Bürgerrechte seien der Anspruch einer einzelnen Fraktion. ({2}) Ich gehe davon aus, dass wir alle, die wir hier sitzen, der Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit dienen, jeder auf seine Weise. ({3}) Ich verwahre mich dagegen, dass hier Gespensterdebatten geführt werden. Der Rechtsstaat bekämpft Verbrechen, auch Terrorismus, ausschließlich in den Grenzen des Rechtsstaates. Wir streiten hier über die Instrumente des Rechtsstaates, aber die rote Linie ist in diesem Hause doch noch nie in Zweifel gezogen worden. Die rote Linie beginnt nicht erst bei Folter, sondern sie beginnt nach meiner festen Überzeugung früher. ({4}) Datenschutz ist nichts Überflüssiges. Datenschutz ist Bürgerrecht; Datenschutz ist ein Grundrecht. ({5}) Aber wir müssen doch das Recht haben, Herr Dr. Stadler, selbstkritisch zu beurteilen ({6}) - Herr Wieland, hören Sie doch einmal zu! -, an welcher Stelle Datenschutz unbeabsichtigt dazu führt, dass schwerwiegende Verbrechen nicht aufgeklärt werden können. Das kann doch niemand wollen. ({7}) Ich bekenne mich dazu, dass wir im Deutschen Bundestag beim Autobahnmautgesetz Unfug gemacht haben. Das ist meine feste Überzeugung. Wer dies konkret untersucht, kann gar nicht zu einem anderen Ergebnis kommen. Wir wollen doch nicht den Onlinezugriff auf alle Daten. Auch der Bundesinnenminister hat dies nicht vorgetragen. Wenn auf einer Autobahnraststätte ein Tötungsdelikt verübt wird und ein LKW im Spiel war, dann wird nicht auf alle Mautdaten Deutschlands zugegriffen, sondern nur für ein paar Stunden auf die Daten der nächsten Mautstelle, beispielsweise 600 Meter vor dieser Autobahnraststätte. Das soll gegenwärtig nicht möglich sein? Wer das für Datenschutz hält, der allerdings pervertiert Datenschutz zum Täterschutz. Das wollen wir alle doch nicht. So etwas kann doch nicht wahr sein! ({8}) Ich bitte alle, bei diesem Thema auf dem Teppich zu bleiben. - Ich bitte Sie um Nachsicht, wenn ich an dieser Stelle leidenschaftlich werde. Denn Unfug darf der Deutsche Bundestag nicht veranstalten. ({9}) Ich sage das selbstkritisch, weil wir dieses Gesetz einstimmig verabschiedet haben. ({10}) - Herr Dr. Gerhardt, ich freue mich auf eine konkret geführte Debatte, weil ich Ihnen gerne die Chance einräumen möchte, die Überprüfung mit uns gemeinsam durchzuführen. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass Sie an dieser Stelle gegen vernünftige Regelungen sind.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Wiefelspütz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Stokar?

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne. Dann kann ich mich abregen. ({0}) - Die Fragen sind verabredet gewesen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Wiefelspütz, ich frage Sie ganz kühl und nüchtern: Haben Sie die Koalitionsvereinbarung jemals gelesen? ({0}) Ich möchte Sie auf zwei Punkte hinweisen. Der Begriff „Bürgerrechte“ kommt in Ihrer Koalitionsvereinbarung nicht vor. Datenschutz findet nur in einem Halbsatz Erwähnung, wo es heißt, dass Datenschutz an bestimmten Stellen nicht Hindernis sein darf.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geschätzte Frau Kollegin Stokar, ich habe ebenso wenig wie der Amtsvorgänger von Frau Dr. Merkel die Koalitionsvereinbarung gelesen. Aber ich habe die Koalitionsvereinbarung in Sachen Innenpolitik mitgestaltet. ({0}) Ich war bei allen Sitzungen dabei und weiß, worüber wir gesprochen haben. Ich finde den Prüfvorbehalt, Frau Stokar, ob nicht möglicherweise Datenschutz punktuell und unbeabsichtigt dieses und jenes verhindert, völlig in Ordnung. Wir prüfen das. Wir können das gemeinsam prüfen; Sie werden mit dabei sein. Dann wird man zu einem Ergebnis kommen. An einer anderen Stelle steht, dass Datenschutz und Datensicherheit weiterentwickelt werden müssen. ({1}) Das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Sie haben die Koalitionsvereinbarung zwar nicht mit erarbeitet. Aber Sie können sie lesen. Ich zeige Ihnen nachher die betreffende Stelle. Es ist dort auf ausdrücklichen Wunsch von Frau Ministerin Zypries eine Passage enthalten, dass der Datenschutz dazugehört. Zu einem modernen Rechtsstaat gehört eine Weiterentwicklung des Datenschutzes. Das ist nichts Überflüssiges. Merken Sie sich das bitte, Frau Stokar! ({2}) Lassen Sie mich jenseits der Fragen der Sicherheit aus gegebenem Anlass noch Folgendes sagen. Die elementaren rechtsstaatlichen Grenzen gelten in Deutschland für alle: für deutsche Behörden, aber auch für Menschen, die sich aufgrund internationaler Vereinbarungen in Deutschland bewegen. Ich bin gegen jede Art von Vorverurteilung. Aber die Europäische Menschenrechtskonvention, das Allgemeine Völkerrecht und insbesondere auch das Grundgesetz gelten an allen Stellen Deutschlands: am Boden, in der Luft und seewärts auf deutschem Staatsgebiet. Ich wollte das mal gesagt haben. Der Bundesinnenminister hat unsere ausdrückliche Unterstützung, wenn er hervorhebt, dass Integration eine zentrale Aufgabe dieses Staates ist, keineswegs nur des Bundes, sondern auch der Länder, der Gemeinden, der Sportvereine, was immer Ihnen dazu einfällt. Dies ist eine der ganz großen Aufgaben. Es ist eine elementare Verkürzung, zu glauben, das alles sei ausschließlich eine Frage der Sprache. Sicherlich, es geht auch um die Sprache. Aber nur derjenige kann sich in diesem Land zu Hause fühlen, der deutsch spricht, der eine Chance hat, Bildungsabschlüsse wie jeder andere auch zu machen, der einen Arbeitsplatz bzw. einen Ausbildungsplatz findet, der spürt, dass in dieser Gesellschaft seine kulturelle Identität ernst genommen und seine Religion geachtet wird. An manchen Stellen in Deutschland läuft das gut und an manchen Stellen müssen wir eine ganze Menge aufholen. Ich finde es sehr wichtig - das eint uns -, dass Fragen der Integration nicht in erster, zweiter und dritter Linie als Sicherheitsproblem gesehen werden, sondern als eine integrale gesellschaftliche Aufgabe für dieses Land. Wir werden die Verfassungswirklichkeit, den Geist dieses Landes daran messen müssen, wie wir mit den Menschen umgehen, die zu uns kommen. Letzten Endes geht es darum, dass die Menschen, die zu uns kommen, gleichberechtigt in diesem Lande zu Hause sein können. ({3}) Es ist mir wichtig, dies zum Schluss noch gesagt zu haben. Herzlichen Dank für Ihr Zuhören. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Zu diesem Themenbereich liegen uns keine weiteren Wortmeldungen vor. Wir kommen dann zu dem Bereich Recht. Dazu rufe ich außerdem die Tagesordnungspunkte 2 und 3 auf: 2 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung der Bundesnotarordnung - Drucksache 16/106 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 3 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes - Drucksache 16/88 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Finanzausschuss Ich erteile das Wort der Bundesministerin für Justiz,

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie auch ich jetzt sagen darf! ({0}) In der Rechtspolitik können wir an die erfolgreiche Arbeit der vergangenen Jahre anknüpfen, ({1}) und dies auch unter den veränderten politischen Mehrheiten. Beide Koalitionspartner haben ihre guten Ideen erfolgreich durchgesetzt. Auf die nicht ganz so guten Vorschläge haben wir übereinstimmend relativ schnell verzichten können. Hierfür und für die konstruktiven und guten Verhandlungen möchte ich allen Beteiligten sehr danken, insbesondere dem Verhandlungsführer der CDU/CSU, dem Herrn Kollegen Bosbach. ({2}) - Jederzeit wieder, Herr Bosbach. ({3}) Was also haben wir für die nächsten vier Jahre vereinbart? Es wird - dies war eben schon Gegenstand der Debatte - um das Strafrecht, das Strafprozessrecht und die Frage des grundsätzlichen Ausgleichs zwischen den grundrechtlich garantierten Freiheiten der Menschen und dem Anspruch auf Sicherheit gehen. Bürgerrechte dürfen nicht - darin sind wir uns einig - ohne Maß eingeschränkt werden und der Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor Kriminalität sowie die damit verbundenen Eingriffe in ihre persönlichen Freiheitsrechte müssen in einem angemessenen Verhältnis dazu stehen: So viel Freiheit wie möglich, so viel Sicherheit wie nötig. Diesen Maßstab werden wir auch in Zukunft befolgen. Wir haben es in der vergangenen Legislaturperiode nicht anders getan. Wir sind wir uns darin einig, dass wir die Kriminalität auf allen Ebenen bekämpfen wollen. Deswegen ist es nicht richtig, nur vom Terrorismus zu reden. Wir wollen wirksame Strafgesetze schaffen und da, wo es erforderlich ist, Lücken ausfüllen. Ich nenne als Beispiele das Stalking oder die Zwangsprostitution. Zur effektiven Strafverfolgung ist es unabdingbar, Straftaten möglichst zügig aufzuklären. Dazu brauchen wir Hilfsmittel. Wir sind deshalb übereingekommen, das Recht der Telekommunikationsüberwachung zu überarbeiten und eine stimmige Gesamtregelung vorzulegen. Das hatten wir uns schon für die letzte Legislaturperiode vorgenommen. Dazu reichte aber nicht die Zeit. Wir werden dies deshalb in dieser Legislaturperiode angehen. Wir haben uns auch darauf verständigt, eine Kronzeugenregelung einzuführen. Eine solche Regelung, die Tätern in besonderen Einzelfällen die Möglichkeit der Bundesministerin Brigitte Zypries Strafmilderung bietet, ist, wie wir alle wissen, nicht ganz unproblematisch und wird kontrovers diskutiert. ({4}) In der Praxis heißt es aber, dass es dieser Regelung bedarf. Ich erinnere an die letzte Entscheidung aus Düsseldorf und die mahnenden Worte des Vorsitzenden Richters. Ich kann Ihnen versichern, dass wir uns nicht leichtfertig über die Bedenken hinwegsetzen werden. ({5}) Der Vorschlag, den wir machen wollen, ist ein Kompromiss zwischen abstrakten Grundsätzen und praktischen Notwendigkeiten der Strafverfolgung und entspricht den Forderungen der gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Praxis, mit der wir schon in der letzten Legislaturperiode den Diskurs gesucht haben. Seien Sie sich sicher, dass wir darauf achten werden, dass der Entwurf nicht zu Verwerfungen im Strafrecht führt. Die Regelungen zur erleichterten DNA-Speicherung und zur akustischen Wohnraumüberwachung haben wir am Ende der letzten Legislaturperiode bereits verabschiedet. Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, diese Regeln in der Praxis zunächst einmal zu testen, sie dann ordnungsgemäß zu evaluieren und dann zu sehen, ob es Bedarf gibt, die Regelungen als solche zu ändern. Damit habe ich einen Grundsatz angesprochen, der die Arbeit der neuen Bundesregierung in der Rechtspolitik prägen wird: Wir werden uns nicht scheuen, neue Gesetze zu schaffen oder bestehende Gesetze zu ändern, aber immer erst nach einer sorgfältigen Analyse; denn kluge Rechtspolitik besteht auch und gerade darin, zunächst zwischen den verschiedenen Interessen abzuwägen und dann zu entscheiden, ob Gesetze für eine andere Gewichtung erforderlich sind. ({6}) - Herr Ströbele, waren Sie vielleicht in den letzten sieben Jahren beteiligt? Wir werden deshalb auch keinen Paradigmenwechsel im Jugendstrafrecht vornehmen. Der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts wird auch bei der großen Koalition im Mittelpunkt stehen. ({7}) Lediglich in einem Punkt wird im Koalitionsvertrag Handlungsbedarf festgestellt: Die nachträgliche Sicherungsverwahrung wird - natürlich in engen Grenzen auch für die Täter eingeführt, die nach dem Jugendstrafrecht verurteilt wurden, aber zum Zeitpunkt ihrer Entlassung erwachsen sind. Dies soll nur bei solchen Tätern möglich sein, die wegen schwerster Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung verurteilt worden sind. Klar muss sein, dass es eine generelle Gleichstellung von Jugendlichen und Erwachsenen nicht geben kann. ({8}) Die Hürden für die Anordnung der Sicherungsverwahrung müssen bei Jugendlichen und Heranwachsenden höher sein, so wie wir es in der letzten Legislaturperiode bereits bei der Sicherungsverwahrung für Heranwachsende, die nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt wurden, gemacht haben. ({9}) - Nein, es sollen keine Jugendlichen in die Sicherungsverwahrung. Es geht um Erwachsene, die einstmals nach Jugendstrafrecht verurteilt worden sind. ({10}) Sie sind ja mit 18 Jahren erwachsen. ({11}) Wir diskutieren dies dann, wenn der Gesetzentwurf vorliegt, aber nicht jetzt, Herr Kollege. Ich möchte gerne auf andere Themen eingehen, die auch mit Rechtspolitik zu tun haben, aber nicht mit dem Strafrecht - das überwiegt ja oft -, und zunächst kurz auf den Datenschutz Bezug nehmen. Es ist in der Tat so, wie Herr Wiefelspütz vorgetragen hat, dass das Datenschutzrecht - das geschah auch aufgrund meiner Initiative -, grundsätzlich überarbeitet werden soll. Wahrscheinlich ist Ihnen, Frau Kollegin, bei aller Leidenschaft für das Datenschutzrecht entgangen, dass es heute doch eine Menge an Veränderungen gibt, die von dem geltenden Recht gar nicht mehr erfasst werden; man kann das ja auch einmal so herum sehen. Der Online-Zugriff beispielsweise ist überhaupt nicht mehr geregelt, wenn man nur von „Übermittlung“ redet. ({12}) Dann heißt es nämlich immer: Einer sendet etwas. Deswegen haben wir gesagt: Wir müssen das Datenschutzrecht einmal gründlich angehen und grundsätzlich überarbeiten. Dabei müssen wir auch - ich bitte, das jetzt nicht falsch zu verstehen - bestimmte bürokratische Regelungen abschaffen. Beispielsweise gibt es noch Meldepflichten für diejenigen, die in der Nähe dieser Motte, die es in Berlin in den Kastanien gibt, leben. Bundesministerin Brigitte Zypries ({13}) Über die Zweckmäßigkeit solcher Bestimmungen kann man sich in der Tat streiten. Deswegen haben wir gesagt: Es macht Sinn, einmal zu schauen, ob es nicht auch wirklich völlig widersinnige Regelungen gibt. Der Koalitionsvertrag sieht deshalb im Abschnitt V unter Punkt 2 dazu eine Regelung vor. Das gehört nicht zum Bereich des Innern, sondern steht an anderer Stelle. Wer den Koalitionsvertrag ganz liest, findet das aber. ({14}) Was die anderen Bereiche und das Leben in einer modernen, sich wandelnden Gesellschaft anbelangt, zu der auch der Datenschutz gehört, würde ich gerne kurz die Möglichkeit ansprechen, die wir im Unterhaltsrecht schaffen wollen, den Unterhaltsanspruch zu verändern. Das Projekt kennen Sie schon, das ist schon auf dem Weg. Die Eigenverantwortung von Ehegatten in und nach der Ehe soll gestärkt werden, ebenso wie klar sein soll, dass Kinder die ersten sind, die in Mangelfällen unterhaltsberechtigt sind. Wir haben der Tatsache Rechnung getragen, dass unsere Gesellschaft toleranter geworden ist und unterschiedliche Lebensentwürfe akzeptiert sowie auf Minderheiten Rücksicht nimmt. Dies ist vor allem ein Verdienst der Gesellschaft, wird aber selbstverständlich auch durch die Rechtspolitik begleitet. Von dieser Rechtspolitik wird manchmal gesagt, sie bestehe aus reinen Programmsätzen; sie führt aber tatsächlich zu einem veränderten Verhalten, wie wir gerade in einer rechtstatsächlichen Untersuchung zu dem Programmsatz „Kinder dürfen nicht geschlagen werden“ festgestellt haben. Das Bewusstsein in der Bevölkerung hat sich in der Tat massiv verändert. ({15}) Unser Ziel ist es also, Gleichbehandlungsrichtlinien zügig umzusetzen. Wir sind uns einig, dass wir die Richtlinien im Arbeitsrecht eins zu eins umsetzen werden. Es gibt aber keine Festlegung im Koalitionsvertrag, dass die Umsetzung der anderen Richtlinien ohne andere Merkmale erfolgen soll. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich werde mich weiterhin dafür einsetzen, dass Menschen bei so genannten Massengeschäften des täglichen Lebens und beim Abschluss von Versicherungen nicht wegen Behinderung, Alter, sexueller Orientierung, Religion oder Weltanschauung diskriminiert werden. ({16}) Zur Akzeptanz neuer Lebensentwürfe gehört auch, dass wir gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften gerecht behandeln. Deswegen bleibt auch auf der Tagesordnung, die Gleichbehandlung von Homosexuellen auch im Steuerrecht oder im Beamtenrecht vorzusehen. Es kann nicht sein, dass wir ihnen dieselben Pflichten auferlegen wie Verheirateten, ihnen aber bei den entsprechenden Vergünstigungen nicht dieselben Rechte geben. Das halte ich nicht für richtig. ({17}) Unsere Gesellschaft wird immer älter, die Versorgung der Menschen - gerade auch die medizinische Versorgung im Alter - immer besser. Wir diskutieren deshalb schon seit einer ganzen Zeit das Thema Patientenverfügung. Wir haben es auch in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Wir waren uns beim Abschluss des Koalitionsvertrages einig, dass das nichts ist, was vonseiten der Regierung kommen sollte, sondern etwas, was aus der Mitte des Bundestages kommen sollte. Es geht um Grundfragen der menschlichen Selbstbestimmung, um ethische, moralische und religiöse Überzeugungen. Parteipolitische Festlegungen sollte es in dem Bereich nicht geben. ({18}) Deshalb wird die Bundesregierung keinen Entwurf vorlegen. Ich verbinde das aber mit der Bitte an das Hohe Haus, dass wir möglichst schnell ein Gesetz auf den Weg bringen oder auch zwei Gesetze zur Abstimmung stellen. Ich habe nach all den Briefen und nach all den Diskussionen, die ich dazu geführt habe, den Eindruck, dass die Bürgerinnen und Bürger in der Tat erwarten, dass an dieser Stelle mehr Rechtsklarheit geschaffen wird. ({19}) Lassen Sie mich zum Schluss noch ein paar Worte zum Wirtschaftsrecht sagen: Sie wissen, dass wir immer dafür eintreten, Verbraucherinnen und Verbrauchern die für ihre vernünftigen Entscheidungen notwendigen Informationen zu geben. Das gilt in allen Bereichen. Wir wollen das auch weiterhin machen. Eines Schutzes bedürfen sie dennoch. Wir wollen beim Versicherungsvertragsgesetz einen etwas gerechteren Interessenausgleich zugunsten der Versicherten vorsehen, indem die Abschlussgebühren künftig über einen längeren Zeitraum verteilt werden, sodass man die Chance hat, einen Teil seiner zwei Jahresbeiträge zurückzuerhalten, wenn man nach zwei Jahren den Versicherungsvertrag kündigt. Wir werden das Urheberrecht novellieren, das wissen Sie, und ferner werden wir das GmbH-Recht reformieren. Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, nicht nur die Eingangssumme abzusenken, sondern auch eine umfassende Reform vorzunehmen. Natürlich wird auch für diesen Bereich gelten, dass wir die Möglichkeiten der elektronischen Medien stärker nutzen wollen, beispielsweise indem wir elektronische Anmeldungen zum Handelsregister ermöglichen. Ein Thema, das insbesondere die Länder betrifft, ist die Modernisierung der Justiz, die so genannte große Justizreform. Die werden wir mit den Ländern angehen. Wir wollen insbesondere in dem Bereich, in dem es um verständliche, überschaubare und einheitliche Verfahrensstrukturen geht, Fortschritte erzielen. Ich meine, das ist ein Thema, bei dem der Bundestag, ohne Sorge zu haben, es könne zu einem Rechtsverlust kommen, ohne Bundesministerin Brigitte Zypries weiteres mitmachen kann. Dabei wird es unter anderem um das Wohnungseigentum und die freiwillige Gerichtsbarkeit gehen, die wir gemeinsam novellieren wollen. Das waren nur einige Vorhaben von den zahlreichen, die im Bundesministerium der Justiz in jeder Legislaturperiode angegangen werden. In den letzten sieben Jahren sind, wie ich heute gelernt habe, 975 Gesetze aus dem Justizministerium gekommen. Vielleicht ist auch hier ein Ansatz für Reformen darin zu sehen, künftig weniger zu machen. Herr Schäuble, da haben Sie völlig Recht. ({20})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger von der FDP-Fraktion.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ihre letzte Bemerkung, Frau Ministerin, galt dem Bürokratieabbau. Bei solchen Gelegenheiten wird immer die Anzahl der Gesetze genannt, die neu geschaffen wurden. Von daher ist Bürokratieabbau anscheinend eine unendliche Aufgabe. Es ist ja schön, dass in der Debatte zur Innenpolitik wie auch in der zur Rechtspolitik die Grundrechte und Bürgerrechte sehr häufig genannt wurden. Aber dann ist es auch notwendig, zu schauen, wer denn in den letzten Jahren die Grundrechte geachtet und gestärkt hat. ({0}) Das war letztendlich in den meisten Fällen das Bundesverfassungsgericht, das die Gesetze, die hier von der Mehrheit durchgedrückt wurden, zu korrigieren hatte. ({1}) - Nein, ich zähle sie Ihnen gleich alle auf. Sie, die SPD, haben übrigens allen einschlägigen Gesetzen zugestimmt, auch als noch CDU/CSU und FDP regiert haben. Das wissen wir. Sie sprechen wohl das Gesetz zur akustischen Wohnraumüberwachung an. ({2}) Ich denke, die Tatsache, dass es eine Fülle von Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes gibt und dass mehrere Urteile bevorstehen, ist ganz entscheidend, zum Beispiel zum Luftsicherheitsgesetz oder zur Einschränkung des Fernmeldegeheimnisses; hierbei geht es um die Durchsuchung und die Beschlagnahme bei einer Richterin. All das zeigt doch, dass zwar über Bürgerrechte geredet wird, aber wenn konkret in einem Gesetzgebungsverfahren abzuwägen ist, wie der unantastbare Kernbereich der Grundrechte, der durch das Bundesverfassungsgericht festgeschrieben ist, tatsächlich geschützt werden kann, wird argumentiert: Wie kann ich am besten Urteile des Bundesverfassungsgerichts umgehen und Regelungen finden? Dabei handelt es sich um Regelungen, die dann in ein paar Jahren wieder aufgehoben werden. Das muss sich ändern. ({3}) Da haben Sie, Frau Ministerin, unsere Unterstützung, wenn sich die Politik in dieser Legislaturperiode an diesen Grundsätzen orientiert. Denn es war ja nicht nur ein Urteil, das Fernwirkung hat. Es betraf zum einen das Gesetz zur akustischen Wohnraumüberwachung aus der letzten Legislaturperiode, das nicht Ihr Gesetz ist. Es handelt sich zum anderen um das AWG, das Außenwirtschaftsgesetz. Heute überweisen wir in erster Lesung einen Gesetzentwurf zur Verlängerung des Zollfahndungsdienstgesetzes um weitere zwei Jahre, eines Gesetzes, das verfassungsrechtlich, um es ganz vorsichtig auszudrücken, extrem bedenklich ist. ({4}) Deshalb hat es die FDP in der letzten Legislaturperiode nicht mitgetragen. Jetzt wird uns ein Entwurf vorgelegt, mit dem Sie ein verfassungswidriges Gesetz für weitere zwei Jahre in Kraft lassen wollen. Ich denke, das Äußerste der Gefühle wäre ein halbes Jahr. Dann müssten hier im Hause die Hausaufgaben gemacht worden sein, um in dieser Angelegenheit einen verfassungskonformen rechtlichen Zustand wiederherzustellen. ({5}) Wir haben uns auch mit dem Europäischen Haftbefehl zu beschäftigen. Hierzu gibt es einen Referentenentwurf aus Ihrem Haus, Frau Ministerin. Es handelt sich um ein Gesetz aus der letzten Legislaturperiode, das in Teilen nicht verfassungskonform war. Wenn an einzelnen Punkten zaghaft und vorsichtig Kritik geäußert wurde, dann wurde entgegnet, man wolle ja nur die europäische Zusammenarbeit behindern und habe eigentlich gar nicht die Qualifikation bzw. Berechtigung, Kritikpunkte anzumerken. Jetzt muss das Gesetz natürlich nachgebessert werden. Sie haben diesen Referentenentwurf vorgelegt. Aber ich habe vermisst, dass Sie darin nicht einmal mit einem einzigen Wort darauf eingehen, dass der belgische Verfassungsgerichtshof den Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt hat, weil er nicht mit den europäischen Vertragsgrundlagen in Einklang zu bringen ist. Es geht konkret um Art. 34 des EU-Vertrages. Ich denke, im Rahmen der Gesetzgebung im Bundestag, wo es um die Umsetzung geht, sollte man sich vielleicht auch einmal damit befassen, welche Bedeutung es hat, dass die Rechtsgrundlage dieses Gesetzes beim Europäischen Gerichtshof zur grundsätzlichen Überprüfung ansteht. Wir als FDP-Fraktion erwarten, dass das in dieser Legislaturperiode auch mit Blick auf die zahlreichen künftigen Vorhaben im Bereich der europäischen Innen- und Justizzusammenarbeit geschieht; denn hier ist die Zahl von Rahmenbeschlüssen, Entwürfen und Überlegungen sehr groß. Wir wissen - auch Sie haben das immer gesagt, Frau Ministerin -, dass Stellungnahmen, die wir im BundesSabine Leutheusser-Schnarrenberger tag abgeben, für Sie rechtlich nicht verpflichtend sind. Aber wir alle sollten aus der mündlichen Verhandlung zum Europäischen Haftbefehl vor dem Verfassungsgericht gelernt haben, in der uns Parlamentariern klar vor Augen geführt wurde, dass Gesetze viel zu unkritisch und viel zu schnell durchgewunken werden, die hinterher keinen Bestand hatten. ({6}) Deshalb sage ich für die FDP-Fraktion: Wenn der Bundestag - ich hoffe: mit großer Mehrheit - seine Positionen zu den Rahmenbeschlussvorhaben in den Bereichen der Strafvollstreckung, der Justizverfahren und der strafrechtlichen Bestimmungen gefunden hat, sollten seine Vorstellungen von Ihnen, Frau Ministerin, als wichtige Aufträge und als Verpflichtungen angesehen werden. Dann sollte versucht werden, diese Vorgaben im Rat der Europäischen Union durchzusetzen. Denn das einzige Recht, das wir Abgeordnete im Bereich der europäischen Gesetzgebung haben, ist, dass wir ein Umsetzungsgesetz in toto ablehnen können. Das wollen wir aber nicht tun; denn das ist ja nicht konstruktiv. Aber wenn Sie uns keine andere Möglichkeit lassen, denke ich, darf man diesen Weg - gerade vor dem Hintergrund der Mahnungen der Verfassungsrichter beim Thema Europäischer Haftbefehl - nicht mehr generell ausschließen. Wir sehen, Frau Ministerin, dass es in der Koalitionsvereinbarung eine Ansammlung von Einzelpunkten gibt. Es sind auch manche Vorhaben dabei, die wir unterstützen und bei denen wir Sie konstruktiv begleiten werden, gerade wenn es zum Beispiel um Stalking oder eine rechtsstaatliche, eng gefasste Kronzeugenregelung geht, die diesen Namen auch wirklich verdient und nicht nur zu einer Milderung des Strafmaßes führt; wir wissen ja um die rechtsstaatliche Bedenklichkeit dieses Instrumentes. Wir werden Sie auch bei anderen Vorhaben unterstützen, zum Beispiel, wenn es tatsächlich zu einer Unterhaltsrechtsreform sowie zu Änderungen im Familienrecht und insbesondere beim Versorgungsausgleich - das sind aus unserer Sicht notwendige Reformen kommen sollte. Was Sie aber bei diesen vielen Einzelvorhaben, die Sie aneinander reihen, ohne dass man aus ihnen ein klares, grundlegendes und stringentes Konzept für eine zukunftsgerichtete Rechtspolitik erkennen könnte, ({7}) haben vermissen lassen, ist, dass Sie kein Wort zur Pressefreiheit gesagt haben. ({8}) Wir halten es angesichts einer Fülle von Fällen - es war nicht nur ein Einzelfall - im Laufe der letzten Jahre für notwendig, dass man sich im Bereich der Strafprozessordnung und des Strafrechts nach vorsichtigen, ausgewogenen Korrekturen nicht nur umschaut, sondern auch entsprechende Vorschläge macht. Wir als FDP-Fraktion werden einen eigenen Vorschlag dazu in die Diskussion einbringen. Wir hätten uns ebenfalls gewünscht, dass entweder in der Innen- oder in der Rechtsdebatte das Thema Datenschutz im Zusammenhang mit dem Bankgeheimnis wenigstens einmal angesprochen wird. ({9}) Denn es ist ja richtig: In der Koalitionsvereinbarung steht zum Datenschutz im dritten Absatz des Vorspanns zur Innenpolitik nur: Wir werden Gesetze daraufhin überprüfen, ob der Datenschutz ein Hindernis darstellt. Wir sehen im Zusammenhang mit dem Eingriff in das ja sowieso nicht uneingeschränkt bestehende Bankgeheimnis erhebliche datenschutzrechtliche Bedenken - auch das Bundesverfassungsgericht prüft das ja derzeit. Ich denke, da ist es dringend notwendig, dass sich die Ministerin, aber auch dieses Haus mit dieser Frage intensiv befassen. Wenn das alles wahr sein soll - Bürgerrechte sollen eine wichtige Rolle spielen; es soll einen richtigen Ausgleich geben -, dann muss es, denke ich, in einigen Bereichen der Rechtspolitik zu deutlichen Korrekturen kommen. Wir als FDP-Fraktion werden sie einfordern. Vielen Dank. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Jürgen Gehb, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In vielen Zeitungsberichten über die Koalitionsvereinbarung im Bereich der Rechtspolitik dominierte das Strafrecht. Nachträgliche Sicherungsverwahrung - Herr Kollege Wieland: „nachträgliche“ Sicherungsverwahrung ({0}) - Sie haben es eben vielleicht phonetisch nicht verstanden - heißt, dass ein 17-jähriger Jugendlicher, der während seiner Zeit im Strafvollzug gezeigt hat, dass er therapieresistent ist, nicht wieder herausgelassen werden darf, sozusagen als tickende Zeitbombe. ({1}) Regelungen über Stalking, Zwangsheirat, Zwangsprostitution oder die Kronzeugenregelung seien hier als Stichworte genannt - sicherlich alles wichtige und richtige Gesetzesvorhaben. Aber wir sollten doch nicht den Eindruck erwecken, als erschöpfe sich die Rechtspolitik darin. Zu Recht hat uns die Bundeskanzlerin heute Morgen aufgefordert: Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen! Lassen Sie uns die Wachstumsbremsen lösen! Lassen Sie uns uns selbst befreien von Bürokratie und altbackenen Verordnungen! Viele unserer europäischen Nachbarn zeigen uns …, was möglich ist. Diese Worte und diese Aufforderungen an uns alle sind auch für die Rechtspolitik gültig: Auch hier gilt es, auf die Herausforderungen einer veränderten Zeit und einer veränderten Welt möglichst rasch die passenden Antworten zu geben. Sicherlich können wir auf unsere Rechtsordnung und unsere Rechtspraxis stolz sein ({2}) und insgesamt ist unsere Justiz noch immer ein dickes Plus und ein wichtiger Standortfaktor für Deutschland. Deswegen sollte man auch mit dem Begriff der „großen Justizreform“ und allen damit verbundenen Zusammenlegungen von gewachsenen, traditionellen Fachgerichtsbarkeiten vorsichtig umgehen. ({3}) Wenn man eine Resettaste drücken könnte, könnte man manches sich anders entwickeln lassen. Die Frage ist aber, ob man alte Rechtstraditionen jetzt mit einem Schlag und in Bausch und Bogen verändern sollte. Da muss man im Detail genau hinschauen. ({4}) Dennoch müssen wir immer wieder fragen: Welche Spielregeln haben im Laufe der Jahrzehnte ein wenig Patina angesetzt? Welche Spielregeln sind vielleicht viel zu kompliziert geworden? Und welche neuen Spielregeln brauchen wir gar, um den Wünschen und Bedürfnissen unserer Bürger wie auch der Wirtschaft gerecht zu werden? Denken Sie beispielsweise an die Konkurrenz durch ausländische Rechtsformen, der wir uns in Europa und in einer globalisierten Welt unweigerlich stellen müssen! Wir als große Koalition nehmen diese Herausforderung jetzt an. Wenn inzwischen fast jede fünfte Neugründung einer Kapitalgesellschaft in Deutschland in Form einer britischen Limited erfolgt, dann haben wir darauf eine Antwort zu geben, und zwar eine Antwort, die so attraktiv ist, dass sie dem einzelnen Existenzgründer in diesem Land die Flucht in ausländische Rechtsformen überflüssig macht und selbstverständlich auch unsere Rechtsordnung im Wettbewerb mit anderen stärkt. ({5}) Vor diesem Hintergrund ist die verabredete GmbHReform wichtig, richtig und viel bedeutungsvoller, als manche dies im ersten Augenblick denken. Es gibt hierzu Vorarbeiten aus dem Haus der Justizministerin; einzelne Länder haben Überlegungen angestellt und auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat im Herbst einen Anstoß zur Schaffung einer so genannten Unternehmensgründungsgesellschaft gegeben. Das ist, wie ich finde, ein schöner produktiver Wettbewerb der besten Ideen. Erlauben Sie mir, einen weiteren Punkt aufzugreifen, der wichtig ist, wenn wir es schaffen wollen, in Europa wieder aufzuschließen. Wir müssen uns doch ernsthaft fragen, ob das Zusammenspiel zwischen dem geltenden deutschen Planungs- und Genehmigungsrecht und den europäischen Vorgaben nicht dazu geführt hat, dass der Industrie- und Wirtschaftsstandort Deutschland im Konzert unserer europäischen Nachbarn stark gelitten hat und ob er ohne massive Änderungen weiterhin Schaden nehmen wird. Jeder, der das Wort „Vorfahrt für Arbeit“ ernst nimmt - wir stehen in unserer Fraktion dafür ein -, muss für eine baldige Reform des Planungs- und Genehmigungsrechts eintreten. ({6}) Wir müssen auch wieder eine Debatte darüber führen, ob das Verhältnis zwischen Individual- und Gemeinwohlinteressen nicht neu justiert werden muss. In meiner Zeit als Richter am Hessischen Verwaltungsgerichtshof habe ich dem Senat für atomrechtliche, imissionsschutzrechtliche und abfallrechtliche Verfahren angehört. In Kassel ist man von zwei Autobahnen umgeben, nämlich von der A 44 und der A 49. Die A 49 dümpelt seit 21 Jahren vor sich hin und endet auf einem Feldweg im Nirwana. Im 16. Jahr der Wiedervereinigung ist die A 44 gerade einmal in einem Teilabschnitt von drei Kilometern fertig gestellt. Während in anderen Staaten inzwischen zum 20. Mal der Straßenbelag erneuert wird, fahren wir noch mit dem Finger auf der Landkarte herum und suchen eine geeignete Trasse. Aber links gibt es Kaulquappen, rechts gibt es Kammmolche, in der Mitte ist ein Trockenrasen. ({7}) Meine Damen und Herren, wenn das so weitergeht, dürfen wir uns nicht wundern, dass alle Großprojekte mit einem Moratorium belegt sind. Ich warne davor, falsche Begehrlichkeiten und Hoffnungen zu wecken, indem man glaubt, nur durch Drehen deutscher Stellschrauben einen großen Beschleunigungseffekt zu erreichen. Es sind die FFH-Richtlinie, die Vogelschutzrichtlinie und zuletzt die Århus-Konvention, durch die die Schar der Kläger unendlich ausgeweitet worden ist. Nicht umsonst steht in § 42 Abs. 2 VwGO, dass nur derjenige gegen belastende Verwaltungsakte klagen kann, der selbst betroffen ist. Den „quivis ex populo“ kennen wir nicht. Aber wir haben ihn eingeführt mit der Folge, dass sich jahrzehntelangen administrativen Verfahren jahrzehntelange gerichtliche Anfechtungsverfahren anschließen. Das muss geändert werden. ({8}) Das zeigt, wie eng inzwischen unser nationaler Spielraum geworden ist. ({9}) Deshalb müssen wir aufpassen, dass er zukünftig nicht noch enger wird. Ich meine nicht, dass wir hier zurückschrauben können. Aber entscheidend ist doch, meine Damen und Herren, dass wir „in statu nascendi“, also am Beginn aller europäischen Regelungen, rechtzeitig Stoppschilder setzen, damit wir als nationale Parlamentarier nicht - wie das jetzt häufig der Fall ist - quasi in einer Ratifizierungsfalle sitzen und weitgehend nur noch Vollstreckungsgehilfen europäischer Vorgaben sind. Bildhaft kann ich mich an eine für Siegfried Kauder eher ungewöhnlich resignative Äußerung in der Debatte zum Europäischen Haftbefehl erinnern, als er sagte: Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion werden uns nicht sperren. Wir werden diesem Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses mit Tränen in den Augen und murrend zustimmen, weil wir keine andere Möglichkeit haben. Obwohl der Verfassungsvertrag ruht, müssen wir Überlegungen anstellen, ob man die Beteiligungsrechte nicht vorab an anderer Stelle - unabhängig von der Ratifizierung - implementiert, sodass wir bereits am Anfang, wenn die europäischen Richtlinien formuliert werden, unsere nationalen Interessen durchsetzen können. Ansonsten werden unsere Entscheidungen immer mehr präjudiziert. ({10}) Das ist im Übrigen auch für das Selbstwertgefühl aller Kolleginnen und Kollegen wichtig, damit sie hinterher nicht sagen müssen: Ich stehe hier, ich kann nicht anders. Wenn wir schon beim Thema Wettbewerb innerhalb Europas sind, will ich kurz einen weiteren Punkt anschneiden: Die Koalitionspartner haben vereinbart, dass die EU-Gleichbehandlungsrichtlinien umgesetzt werden. Das ist so, als wenn man vereinbaren würde, dass es nie wieder Malaria in Berlin geben soll. Es ist doch klar, dass Richtlinien umgesetzt werden müssen. Das ist geradezu trivial. Ich kann mich daran erinnern, dass wir sie eins zu eins umsetzen wollten. Ich habe eben beklagt, dass uns die europäischen Richtlinien zum Teil zu enge Korsettstangen anlegen, und kann daher nicht verstehen, weshalb wir hier und dort noch einmal Anderthalbe draufsetzen. Darüber muss sicherlich noch mal geredet werden. Wie unsere Bundeskanzlerin sehe auch ich überhaupt keinen Grund, warum wir unseren Unternehmen mehr Lasten aufbürden sollen als den Unternehmen in anderen Ländern aufgebürdet werden, und dass wir von ihnen dann auch noch verlangen, dass sie schneller laufen sollen. In diesen schwierigen Zeiten sollten wir die Prioritäten wirklich zum Wohle unseres Landes setzen und uns eng an die Vorgaben halten und sie nicht noch ausweiten. Meine Damen und Herren, die Bundeskanzlerin forderte uns alle heute früh auf: Lassen Sie uns verzichten auf die eingeübten Rituale, auf die reflexhaften Aufschreie, wenn wir etwas verändern wollen! Es sollte wirklich möglich sein, dass wir das hinter uns lassen. Diese Aufforderung, diese Bitte um ein offenes und faires Gespräch möchte ich an alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus, aber auch an alle außerhalb dieses Hauses richten, wenn es um die Modernisierung des Strafrechts für junge Erwachsene geht. Hören Sie doch mit dem Märchen auf, dass immer gesagt wird, dass Jugendliche härter bestraft werden sollen! Ein 18-Jähriger ist kein Jugendlicher! Er will sich auch sonst nirgendwo als Jugendlicher behandeln lassen. Er ist ein Erwachsener! ({11}) Es ist nicht einzusehen, dass ein 19-jähriger Mörder als Haupttäter mit acht Jahren Freiheitsstrafe davonkommt, während ein 22-jähriger Anstifter mit lebenslänglich aus dem Gerichtssaal herausgeht. Diese Debatte muss man führen dürfen, ohne dass man gesagt bekommt: Härter, schneller und immer auf die armen Jugendlichen. Das muss man in diesem Haus einfach debattieren dürfen. ({12}) Auch in der Rechtspolitik hat sich diese Koalition viel vorgenommen, weil wir sicher sind, dass vieles möglich ist. Frau Ministerin, liebe Brigitte, ({13}) ich denke an die fast freundschaftliche Atmosphäre bei unseren Koalitionsverhandlungen und möchte mich an dieser Stelle für die freundschaftliche Bewirtung recht herzlich bedanken. Damit verbinde ich eine Hoffnung: Ich hoffe, dass das Ergebnis für die Rechtspolitik in unseren Koalitionsverhandlungen nicht ganz so mager wie die Pellkartoffel mit dem Quark ist. Ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Neskovic von der Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Neskovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003819, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Gegensatz zu meinem Vorredner bin ich der Auffassung, dass die Festlegungen im Koalitionsvertrag enttäuschen. Insgesamt belegen sie den geringen Stellenwert, den Sie der Rechtspolitik beimessen. Sie wird als Stiefkind und lästige Nebensache bezeichnet. ({0}) Die Debatte hier hat deutlich gezeigt: Die Rechtspolitik wird vornehmlich auf die Begriffe Sicherheit und Freiheit reduziert. Sie haben Ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Buchhalterischer Fleiß bei der Aufzählung von Gesetzen reicht sicherlich nicht. ({1}) Am Beginn des 21. Jahrhunderts sind gerade Sie als Sozialdemokraten für sehr viel mehr als für Sicherheit und Freiheit verantwortlich, wenn Sie Ihre Arbeit gut machen wollen. ({2}) Lesen Sie bei Rousseau nach, was Sie uns nicht glauben: Zwischen dem Starken und dem Schwachen befreit das Gesetz, während die Freiheit unterdrückt. ({3}) Der Starke braucht weder den Staat noch das Recht. Er hat die Macht. Der Schwache braucht den Staat und das Recht - sie schützen ihn vor dem Starken. ({4}) Die friedensstiftende Kraft des Rechts und seine sozialstaatliche Fundierung werden bei Ihnen nicht erkennbar. ({5}) - Meine Herren, bleiben Sie doch ruhig. Sie wirken irgendwie aufgeregt. ({6}) Sie wissen ja, dass ich einmal in Ihrer Partei war, und ich weiß, warum ich ausgetreten bin. Dafür gab es gute Gründe. Sie machen nämlich keine sozialstaatliche Politik mehr. ({7}) Ich setze noch eines obendrauf: Wenn die Linkspartei die Regierung stellen würde und für die Rechtspolitik verantwortlich wäre, dann könnten die Bürger in diesem Land zumindest auf mehr Gerechtigkeit hoffen. ({8}) Voltaire hat einmal gesagt, das Vorurteil sei die Vernunft der Narren. ({9}) Sie sind dabei, ihm in diesem Punkt Recht zu geben. Eine linke Rechtspolitik tritt für soziale Gerechtigkeit und Freiheitsrechte, ({10}) die Solidarität der Menschen gegen die Vernichtung durch Krieg, die innere Demokratisierung von Gesellschaft und Justiz, die Gleichheit aller, die Gleichberechtigung der Geschlechter und den Schutz der Minderheiten sowie die Bewahrung der Lebensgrundlagen ein. Ich habe von Ihnen kein Programm gehört. Dies hier ist ein echtes Programm, an dem sich Rechtspolitik messen lässt. ({11}) Wir treten für die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter ein ({12}) und schützen sie vor Einflüssen, die dagegen gerichtet sind. Das Grundgesetz hat die Rechtsprechung den Richtern anvertraut. ({13}) Als Demokrat auf dem Richterstuhl sind sie dem Rechtsstaat ebenso - auch das vergessen Sie - wie dem Sozialstaat verpflichtet. In diesem Sinne ist der Richter politisch und sollte sich dessen bewusst sein. Aus dem Sozialstaatsgebot folgt die Verpflichtung des Richters, den Schwächeren vor der Übermacht des Stärkeren zu schätzen. Zu einem solchen Richterbild bekennen wir uns. ({14}) Wir werden eine Justizreform, auch wenn sie sich eine große nennt, bekämpfen, die den Richter zum bloßen Erledigungsautomaten degradiert. Für eine sozialstaatliche Justizpolitik darf eine große Justizreform niemals durch die Verlockung von Kostenersparnissen in der Justiz motiviert sein. ({15}) Im Gegenteil: Wer die Macht des Rechts betonen will, den trifft auch die Verantwortung, für eine starke und unabhängige Justiz zu sorgen. Die dritte Gewalt - das kann ich aus eigener Erfahrung wirklich sagen - arbeitet derzeit schlecht ausgestattet und personell unterbesetzt mit einem durchschnittlichen Haushaltsanteil von 1,5 Prozent. ({16}) Unter Berücksichtigung ihrer eigenen Einnahmen kostet sie jeden Bürger des Landes monatlich lediglich 5 Euro. Mehr als eine Pizza ist Ihnen die Justiz nicht wert. Selbst da wollen Sie noch sparen. ({17}) Für eine sozialstaatliche Justizpolitik kommt ein Abbau von Rechtsmitteln, wie er im Wege der großen Justizreform angedacht wird, nicht infrage. Zwischen dem Starken und dem Schwachen befreit nämlich nur das durchsetzbare Recht. Die Einschränkung von Rechtsmitteln trifft ganz vorwiegend denjenigen, der dringend auf sie angewiesen ist. Sie trifft vor allen anderen den Schwachen und ist deswegen sozialstaatswidrig. ({18}) In fast allen Völkern galten zu fast allen Zeiten die Rechtshüter auch als Hüter der Zeit. Sie hüten das Recht nicht nur in der Zeit, in der sie richten, vielmehr ist Zeit auch das, was sie für das schwierige Amt brauchen, das ihnen anvertraut ist, nämlich die Trennung zwischen Recht und Unrecht. Der Wahrheit Mutter ist die Zeit und nicht der richterliche Erledigungsautomat. Eine Rechtspolitik, die auf eine Ökonomisierung von Recht und Rechtsprechung zielt, ist nicht nur verfehlt, weil sie die Stabilisierungsfunktion des Rechts, den sozialen Kitt, vernachlässigt. Eine solche Rechtspolitik widerspricht vor allem den Grundwerten unserer Verfassung. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich lade Sie ein: Blättern Sie einmal in dieser Verfassung! Sie ist großartig. ({19}) Sie lebt von der Erkenntnis, dass das moderne Recht ohne den Sozialstaat nicht auskommt. Ich verstehe ja, dass die Sozialdemokraten hier motzen, weil es um den Sozialstaat geht und sie ihn vergessen haben. Dies ist falsch. ({20}) Die Verfassung hat die Erkenntnis, dass das Recht ohne den Sozialstaat nicht auskommt, gegen jeden Störungsversuch der Nachgeborenen vor einer Veränderung geschützt. Es lohnt sich, für die Auffindung und das richtige Verständnis des Sozialstaatsprinzips auf die alte Kulturtechnik des Lesens und nicht des Zwischenrufes, schon gar nicht des unqualifizierten, zurückzugreifen. ({21}) Ich darf Ihnen die Vorschriften des Art. 20 und Art. 79 Abs. 3 in Erinnerung bringen. ({22}) In Art. 79 Abs. 3 sind bestimmte Grundsätze unserer Verfassung für unabänderlich erklärt. Lesen Sie nach! ({23}) - Genau, wunderbar, Prüfung bestanden. ({24}) - Hören Sie doch einmal ganz ruhig zu. Die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes haben alle nachfolgenden Generationen auf diese Grundsätze verpflichtet. Zu diesen der Ewigkeitsklausel unterliegenden Grundsätzen gehört auch der Sozialstaat; das ist der Punkt. Er stellt demnach in der Wertordnung unserer Verfassung einen zentralen Grundwert dar. Wer angesichts dieser verfassungsrechtlichen Lage behauptet, wir könnten uns den Sozialstaat nicht leisten, ist ein Verfassungsfeind, bestenfalls ein Verfassungsignorant. ({25}) Wir müssen uns den Sozialstaat leisten, so lautet der Auftrag unseres Grundgesetzes. Wir werden in unserer Rechtspolitik zentral darauf hinwirken, dass die Bedeutung des Sozialstaates gerade in den Zeiten der Globalisierung nicht entwertet wird, sondern seine prägende Wirkungskraft zum Wohle der Menschen in diesem Land entfaltet. Viele Menschen sorgen sich zu Recht um die soziale Gerechtigkeit in unserem Land. Ungerechtigkeit ist kein Naturereignis. Den Spitzensteuersatz zu senken und zeitgleich mit Hartz IV Armut und Demütigung gesetzlich zu verordnen zeigt, dass die herrschende neoliberale Politik wesentliche Grundwerte unserer Verfassung aus den Augen verloren hat. Ich komme zum Schluss. Das Grundgesetz ist sozial ausgerichtet. Es bildet geradezu eine Aufforderung zum demokratischen Sozialismus. ({26}) Wenn Sie sich dieser zentralen Aufforderung unseres Grundgesetzes weiter verschließen, werden wir gerne für Sie diese Aufgabe und damit zukünftig auch die Regierung übernehmen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Zwischenrufe. ({27})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Neskovic, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. ({0}) Ich gratuliere Ihnen dazu und wünsche Ihnen weiterhin alles Gute. Nun hat der Kollege Jerzy Montag von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren gerade - wenn auch unter dem Stichwort Rechtspolitik - die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin Merkel. Deshalb will ich auch damit anfangen und darauf hinweisen, dass ich der Regierungserklärung zwar ganze eineinhalb Stunden zugehört habe, aber kein einziges Mal das Wort Rechtspolitik gefallen ist. Ich habe auch nicht gehört, dass die Kanzlerin von der Bundesrepublik Deutschland als einem Rechtsstaat gesprochen hätte. Ich habe nichts über die Rechtsstaatlichkeit gehört. ({0}) Deswegen finde ich es angemessen und richtig, einige Worte darüber zu verlieren. Ich habe 2002 anlässlich der Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder auch von der Kultur des Rechts gesprochen. Zur Kultur des Rechts, über die wir am Anfang einer Legislaturperiode reden sollten, gehört unbedingt, sich zu vergegenwärtigen, dass es nichts anderes als die Grundrechte sind, die sowohl die Justiz als auch die Regierung als vollziehende Gewalt und nicht zuletzt uns selbst, das Parlament, das die Gesetze gibt, unmittelbar binden. Deswegen gehört es zur Kultur des Rechts auch dazu, dass die Grund- und Bürgerrechte des Grundgesetzes und die völkerrechtlich anerkannten Menschenrechte nicht erschüttert und abgebaut, sondern gefestigt und ausgebaut werden. Das macht die Kultur des Rechts aus und das muss der Gradmesser jeder und nunmehr der Rechtspolitik der großen Koalition sein. Ein Recht oder gar ein Grundrecht auf Sicherheit ({1}) - Herr Kollege Wiefelspütz hat in diesem Zusammenhang völlig richtig argumentiert - gehört aber nicht dazu. Sicherheit für alle Menschen zu optimieren ist die Pflicht des Staates im Rahmen der geltenden Gesetze und in den Grenzen des Möglichen. Sicherheit ist aber kein gegenläufiges Grundrecht, das die Freiheiten der Menschen mit dem gleichen Recht verdrängt und aushebelt, mit dem diese für sich Geltung und strikte Beachtung einfordern. ({2}) Nach einigen wenigen Überlegungen grundsätzlicher Art komme ich zum Koalitionsvertrag, über den wir heute diskutieren. Die Präambel des Koalitionsvertrags kennt den Begriff Rechtspolitik nicht. Fett hervorgehoben haben Sie nur die Sicherheit. Ich zitiere: „Sicherheit ... zu garantieren, ist Aufgabe unserer staatlichen Ordnung.“ Garantieren ist ein starkes Wort. Sie wissen genau, dass das gar nicht möglich ist. Die Freiheitsräume für die Bürgerinnen und Bürger kommen nur im Kleingedruckten vor. Dieser in der Präambel angeschlagene Ton der Geringschätzung der Rechtspolitik als Gestalterin und Hüterin der Rechtsstaatlichkeit zieht sich durch den gesamten Koalitionsvertrag. Es gibt gar kein eigenes Kapitel zur Rechtspolitik. Sie kommt lediglich unter Nr. 2 des Kapitels - wie könnte es anders lauten? - „Sicherheit für die Bürger“ vor. Bundesjustizministerin Zypries hat am 14. November dieses Jahres die Koalitionsvereinbarung mit folgenden Worten kommentiert: Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz sind der Maßstab, an dem sich die große Koalition messen lassen muss. - Wie wahr, Frau Bundesjustizministerin Zypries! Das werden wir von nun an jeden Tag tun. ({3}) Von Kontinuität in der Rechtspolitik kann aber wahrhaft - auch dies ist eine Ihrer Bewertungen - keine Rede sein. Ich beginne einmal mit den Ungereimtheiten. Zwangsverheiratung soll nach der Koalitionsvereinbarung ein Straftatbestand werden. Kolleginnen und Kollegen von der großen Koalition, aufwachen! Zwangsverheiratung ist längst ein Straftatbestand, genauso wie die von Ihnen angesprochene Zwangsprostitution. Wir haben diesen in das Gesetz eingeführt. ({4}) Wir lesen, dass Sie den Entwurf eines Untersuchungshaftvollzugsgesetzes auf den Weg bringen wollen, ein Gesetz, das die Untersuchungshaft von Erwachsenen und Jugendlichen regeln soll. Löblich! Aber gleichzeitig kündigen Sie im Rahmen der Föderalismusreform an, die Regelung der Untersuchungshaft den Ländern zu überlassen. Ein Gesetz ohne Zuständigkeit! Konfuser geht es nicht mehr. ({5}) Herr Kollege Stünker und Frau Bundesjustizministerin Zypries, wir waren uns einmal einig, dass das Strafverfahren, Ermittlungsverfahren wie Hauptverhandlung, dringend reformiert werden muss. Es sollte einen Dreiklang geben. Nach einem Justizmodernisierungsgesetz in der ersten Stufe und einer Neuregelung der Opferrechte in der zweiten Stufe sollten im dritten Teil die Beschuldigten- und Verteidigungsrechte folgen, um die Einheit der Reform zu vervollständigen. Im Koalitionsvertrag lässt sich dazu kein Wort finden. Statt Stärkung der Beschuldigten- und Verteidigungsrechte gibt es nur alte Kamellen und Stückwerk. Sie wollen die Kronzeugenregelung wieder einführen. Wir werden sehr genau prüfen, ob es das sein wird, was Sie behaupten, nämlich eine Strafzumessungsnorm, oder ob es sich um eine Regelung handelt, die wir ablehnen. Sie haben außerdem im Koalitionsvertrag angekündigt, dass Sie sich Gedanken machen wollen, ob Absprachen im Strafverfahren gesetzlich geregelt werden sollen. Meine Damen und Herren von der großen Koalition, der Bundesgerichtshof hat das dringend gefordert. Das muss also gemacht werden. Aber Sie wollen darüber lediglich nachdenken. Das Sanktionenrecht - sowohl für Erwachsene als auch für Jugendliche - ist veraltet. Eine Reform ist seit Jahren notwendig. Aber eine solche Reform taucht in Ihrem Koalitionsvertrag gar nicht auf. Stattdessen wollen Sie nach Jugendstrafrecht verurteilte 14- bis 18-Jährige in Sicherungsverwahrung nehmen. Sie wollen unliebsame Meinungsäußerungen unter Strafe stellen ({6}) - aber selbstverständlich -, indem Sie die Sympathiewerbung als Straftatbestand - wir haben ihn vor lanJerzy Montag ger Zeit abgeschafft - wieder einführen wollen. Das ist nichts anderes als die Strafbarkeit unliebsamer Meinungsäußerungen. ({7}) Sie wollen sogar noch - dafür haben Sie Zeit und Platz im Koalitionsvertrag gefunden - über Graffitibekämpfung reden, eine Sache, über die schon alles gesagt worden ist und die schon längst geregelt ist. Für die Populisten, die Stammtischbrüder und die Strategen des nächsten Wahlkampfes wollen Sie wieder einmal das Sexualstrafrecht verschärfen. ({8}) - Selbstverständlich wollen Sie das. - Wir werden uns die Debatten, die im Rechtsausschuss darüber geführt werden, genau anschauen. Dann werden wir feststellen, was gilt und was nicht. Ich komme zum Ende. Kurzum: Ihre Ankündigungen in der Rechtspolitik verheißen wenig Gutes. Wir werden mit eigenen konstruktiven Vorschlägen dagegenhalten. Wir werden die Kultur des Rechts hochhalten sowie die Menschen- und Grundrechte zur Richtschnur unserer Rechtspolitik und zum Maßstab der Kritik an der Regierung machen. Danke schön. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Joachim Stünker von der SPD-Fraktion. ({0})

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer die Koalitionsvereinbarung, lieber Kollege Montag und Kollege Neskovic, halbwegs vorurteilsfrei gelesen hat, der konnte es bereits wissen, und wer heute der Rede unserer Bundesjustizministerin Brigitte Zypries zugehört hat, der müsste es jetzt eigentlich auch besser wissen. Er müsste wissen, dass all das, was heute Abend teilweise gepredigt worden ist, nämlich in einer schwarz-roten Koalition würden die Bürgerrechte der Zivilgesellschaft zugunsten überzogener Maßnahmen der inneren Sicherheit oder der Kriminalitätsbekämpfung auf der Strecke bleiben, Schall und Rauch ist. Sie beschreiben nicht das, was wir rechtspolitisch tatsächlich vereinbart haben. Ich bitte Sie wirklich, das noch einmal nachzulesen. Ich sage Ihnen heute am Anfang dieser Legislaturperiode: Sie können uns in diesen vier Jahren beim Wort nehmen. Sie können uns dann im Ergebnis an unseren Taten messen. Ich versichere Ihnen: Diese Koalition wird ein Garant der Bürgerrechte in diesem Land sein. ({0}) Rechtspolitische Kontinuität wird die Tagesordnung bestimmen. Ebenso werden wir Garant für die innere Sicherheit sein. Ich denke, damit machen wir genau das, was auch dem Bedürfnis der Menschen in diesem Lande entspricht. Die Menschen wollen beides. Sie wollen ihre Freiheitsrechte und sie wollen den Schutz vor Kriminalität und vor Terrorismus. Genau diese Rahmenbedingungen haben wir herzustellen. Das werden wir ganz nüchtern machen. ({1}) Die Frau Ministerin hat das rechtspolitische Programm skizziert. Ich muss das nicht wiederholen. Ich möchte daher zwei Themenbereiche kurz ansprechen, die bisher nicht so sehr im Mittelpunkt gestanden haben, die meiner Fraktion für diese vier Jahre aber auch sehr wichtig sind. Wir haben in diesem Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir gemeinsam das Thema „Große Justizreform“ in Angriff nehmen werden, gemeinsam mit Bund und Ländern und unter Einbeziehung der Vorschläge der Justizministerkonferenz und des Bundesministeriums der Justiz. Soweit der Koalitionsvertrag. Darin steht nichts von Rechtswegverkürzung oder von Rechtsmittelverkürzung. Vielleicht sollten Sie, Herr Kollege, der Sie eben diese fulminante Rede gehalten haben, einmal zuhören. - Nein, er ist beschäftigt. ({2}) Das alles ist nicht Bestandteil der Vereinbarung, die wir hier getroffen haben. ({3}) Ich füge des Weiteren mit Nachdruck hinzu: Wir haben gesagt, dass wir das gemeinsam, Bund und Länder, machen wollen. Das Ganze hat eine Geschichte. Wir wissen seit Jahren, dass wir im europäischen Kontext und bei den Aufgaben, die zunehmend auf die Justiz zukommen, eine Modernisierung bzw. Reform der Justiz brauchen. Wenn wir „gemeinsam“ sagen, dann meinen wir auch gemeinsam. In der Koalitionsvereinbarung steht ausdrücklich nicht der Satz, dass die Justiz in ihrem Aufgabenzuschnitt auf den so genannten Kernbereich beschränkt werden soll. Das heißt ganz klar - das muss auch heute Abend gesagt werden -: Wir wollen keine Privatisierung der Aufgaben der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Das heißt, dass Beschlüsse der Justizministerkonferenz aus der jüngsten Vergangenheit - das ist zwei, drei Wochen her -, das Nachlasswesen auf die Notare zu übertragen oder im Bereich des Gerichtsvollzieherwesens bestimmte Privatisierungen vorzunehmen, nicht Bestandteile dieses Vertrages sind und auch nicht mit uns zu machen sein werden. ({4}) Gemeinsam heißt in der Tat, dass wir uns diesen Aufgaben gemeinsam stellen werden. ({5}) - Das werden Sie dann sehen, Herr Kollege. ({6}) Sie sind neu im Rechtsausschuss. ({7}) Wenn Sie das Thema in den letzten sieben Jahren verfolgt hätten, dann wüssten Sie, was wir schon alles diskutiert haben. Ich freue mich auf die Diskussionen mit Ihnen. Das, was wir wollen, ist eine moderne Justiz für Rechtsstaatlichkeit und für Bürgernähe. ({8}) Deshalb werden wir die hohe Qualität und die Leistungsstärke der Justiz auch für die Zukunft sicherstellen. ({9}) - Ich freue mich, das dann mit Ihnen, Herr Kollege, im Rechtsausschuss gemeinsam zu diskutieren. Wir müssen uns aber auch gemeinsam darüber im Klaren sein, dass dieser Gesellschaft die Justiz - da treffe ich mich mit dem, was vorhin hier gesagt worden ist - ein gewisser Preis wert sein muss. Die Justiz hat letzten Endes ihren Preis. Das heißt, es muss Schluss damit sein, dass die Justizhaushalte der Länder zum Steinbruch der Finanzminister werden. ({10}) - Dass wir gemeinsam diese Auffassung vertreten, das ist doch schon einmal etwas. Da sind wir auf einem guten Weg, Frau Leutheusser-Schnarrenberger. Wir haben noch schwierige Diskussionen - ich habe in den letzten Jahren einige hinter mich gebracht - über dieses Thema vor uns. Es wäre gut, wenn wir hier im Deutschen Bundestag dabei eine große Gemeinsamkeit fänden. Wir müssen diese Gesetze beraten und verabschieden. Es handelt sich um Bundesgesetze, die nicht einmal zustimmungspflichtig sind. Ich freue mich darauf, dass wir hier am selben Strang ziehen werden. Eine effiziente, schnelle und verlässliche Justiz ist fürwahr ein wirtschaftlicher Standortfaktor; das ist richtig. Aber das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land in eine schnelle Justizgewährung des Staates für jedermann - ich betone: für jedermann ohne Ansehen der Person und unabhängig vom Geldbeutel des einzelnen Rechtsuchenden ist letztendlich die dritte Säule der Gewaltenteilung in unserer Demokratie. Dieses Vertrauen darf verantwortliche Rechtspolitik in diesem Lande dadurch, dass man fiskalisch bedingte Reformen macht, nicht erschüttern. Meine Botschaft von dieser Stelle heute Abend lautet: Wir werden dazu stehen und andere Reformen wird es mit uns nicht geben. ({11}) Meine Redezeit ist so gut wie zu Ende. Frau Präsidentin, lassen Sie mich noch eine Anmerkung zu einem Thema machen, das im Koalitionsvertrag nicht so viel Beachtung gefunden hat. Wir haben dort ganz bewusst hineingeschrieben: Die Koalitionspartner lehnen deshalb die Übertragung des „Bologna-Prozesses“ auf die Juristenausbildung ab. ({12}) Angesichts der Presseveröffentlichungen in den letzten Tagen bin ich der Meinung - wir haben die Juristenausbildung vor einigen Jahren novelliert -: Dies ist ein ganz wichtiges Thema, das sich damit beschäftigt, wie die Ausbildung der Juristen in diesem Land - Stichwort „dritte Säule“; ich habe davon gesprochen - in der Zukunft aussehen soll. Das wird bei uns im Rechtsausschuss ein wichtiges Thema sein. Auch der Weg, den der DAV und andere gegenwärtig beschreiten wollen - ich erinnere an das, was in Bezug auf Reglementierung und Kontingentierung gemacht werden soll -, kann nicht richtig sein. ({13}) An all dem, was bisher diskutiert worden ist, sehen Sie: Es gibt eine Fülle von Aufgaben. Es lohnt sich, sie im Rechtsausschuss gemeinsam anzupacken. Ich hoffe, dass es im Rechtsausschuss auch in Zukunft Kooperation und dann gute Ergebnisse geben wird. Eines wollen wir alle: Wir wollen einen funktionierenden Rechtsstaat. Schönen Dank. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Götzer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit der vorliegenden Koalitionsvereinbarung haben Union und SPD auch und gerade in der Rechtspolitik eine tragfähige Grundlage für unsere gemeinsame Arbeit in dieser Wahlperiode geschaffen. Nach den durchaus positiven Erfahrungen aus den Koalitionsverhandlungen - Frau Ministerin, ich möchte das ausgesprochen gute Gesprächsklima ausdrücklich noch einmal ansprechen - gehe ich davon aus, dass wir mit unserem Koalitionspartner auch bei der Umsetzung der vereinbarten Vorhaben gut zusammenarbeiten werden. Wir alle wissen, dass Rechtspolitik in der Öffentlichkeit nicht immer den Stellenwert hat, der ihrer Bedeutung entspricht. Das mag auch an der Nüchternheit und Sachorientierung liegen, mit der wir Rechtspolitiker unsere Arbeit tun. Andererseits liegt gerade in dieser Sachlichkeit ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Ich hoffe, dass einige der Reden, die wir vorhin gehört haben, uns keinen Anlass zu der Befürchtung geben, dass wir im Rechtsausschuss in Zukunft von der Sachlichkeit abweichen. ({0}) Die Vereinbarungen zur Rechtspolitik stehen sicherlich nicht gerade an vorderster Stelle im Koalitionsvertrag. ({1}) Dafür wird unser Bereich diesmal gleich am ersten Tag der Haushaltsdebatte behandelt. ({2}) Deswegen möchte ich der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass künftig die Tagesordnungen für die Haushaltsberatung die Rechtsdebatte nicht mehr in der Regel als krönenden Abschluss kurz vor Mitternacht, sondern auch einmal zu früheren Tageszeiten vorsehen. ({3}) Welche zentrale Bedeutung die Rechtspolitik für die Menschen und den Staat hat, ergibt sich aus den einzelnen Abschnitten des Koalitionsvertrags. Die Menschen haben ein Recht auf Freiheit und Sicherheit. So ist der erste Abschnitt überschrieben. Sicherheit und Freiheit gehören zusammen. Das ist heute schon angesprochen worden. Natürlich hat der Kollege Wiefelspütz Recht, wenn er sagt: Freiheit ist höher einzustufen als Sicherheit. Aber es gibt keine Freiheit ohne die Sicherheit, die uns der Rechtsstaat gibt. Das heißt für uns, dass wir auch in Zukunft den rechtlichen Rahmen garantieren werden, um Kriminalität auf allen Ebenen zu bekämpfen. Dazu gehören wirksame Strafgesetze, eine effektive und schnelle Strafverfolgung und der konsequente Umgang mit Straftätern. Beispielhaft möchte ich hier nur die Bekämpfung von Stalking, Zwangsprostitution und Zwangsverheiratung nennen sowie vor allem, wie schon angesprochen, die nachträgliche Sicherungsverwahrung in besonders schweren Fällen auch bei Straftätern, die nach Jugendstrafrecht wegen schwerster Straftaten verurteilt worden sind. So steht es im Koalitionsvertrag. Hervorheben möchte ich auch die geplante grundlegende Reform des Sexualstrafrechts - es geht also nicht um eine Verschärfung, sondern um eine Reform, Herr Kollege Montag -, ({4}) weil es dort Wertungswidersprüche gibt, ({5}) die wir beseitigen wollen. Außerdem möchte ich die neue Kronzeugenregelung erwähnen, die aus der Richterschaft wiederholt nachdrücklich gefordert worden ist. Betonen möchte ich auch das Prüfvorhaben bezüglich der Ausweitung der DNA-Analyse; denn der so genannte genetische Fingerabdruck ist ein Glücksfall für die Bekämpfung und die Aufklärung von Verbrechen. ({6}) Der zweite Abschnitt trägt den Titel „Rechtspolitik für eine soziale Marktwirtschaft“. Hier kommt die Bedeutung der Rechtsordnung für ein funktionierendes Wirtschaftssystem in allen seinen Facetten klar zum Ausdruck: nicht nur zur Förderung der Vertragsfreiheit und des Eigentums, sondern auch zur Beschränkung von Marktmacht. Besonderes Gewicht kommt hierbei der Reform des Gesellschaftsrechts zu, durch die Unternehmensgründungen nachhaltig erleichtert und beschleunigt werden sollen. Das ist im Übrigen einer von vielen Beiträgen zur Entbürokratisierung. Zum anderen wollen wir eine Modernisierung des Urheberrechts angehen; denn kreative Menschen brauchen einen sicheren rechtlichen Schutz für ihr geistiges Eigentum, was dem Land der Dichter und Denker mehr als gut ansteht. Ein besonderes Augenmerk möchte ich auf den dritten Abschnitt mit dem Titel „Für Selbstbestimmung und Toleranz“ lenken. Es ist vorgesehen, die EU-Gleichbehandlungsrichtlinien in deutsches Recht umzusetzen in der Tat, wie der Kollege Gehb angesprochen hat, eine Selbstverständlichkeit. Deswegen muss man dazu etwas sagen. Nach unserem Rechtssystem sind Diskriminierungen schon jetzt vielfach sittenwidrig und somit verboten. Es gilt also, genau zu prüfen, wo noch Handlungsbedarf besteht. Die Vertragsfreiheit ist ein tragender Pfeiler unseres Zivilrechts und darf deshalb nicht ausgehöhlt werden. Die Folgen für unsere Grundrechte, die Rechtsprechung und den Rechtsfrieden wären nicht abzusehen. Wir waren uns in der Koalitionsarbeitsgruppe Rechtspolitik einig darüber, dass künftig EU-Richtlinien grundsätzlich nur noch eins zu eins umgesetzt werden sollen. ({7}) Dies ist von der Frau Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung heute nochmals unterstrichen worden. Es hat auch Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden, in dem es in dem Kapitel „Europa“ wörtlich heißt - ich zitiere -: Entscheidend für die Zustimmung der Menschen wird sein, dass es gelingt, unnötige Bürokratie abzubauen und die europäische Gesetzgebung auf das tatsächlich Notwendige zu beschränken. ({8}) Das gilt auch für die innerstaatliche Umsetzung von Richtlinien. Wir sind der Auffassung, dass das auch für die Antidiskriminierungsrichtlinien gelten soll. ({9}) Bleibt noch der vierte Abschnitt mit dem Titel „Eine moderne Justiz für Rechtsstaatlichkeit und Bürgernähe“. Wir wollen die hohe Qualität, die Leistungsstärke und die gesamtgesellschaftliche Stabilisierungsfunktion der bundesdeutschen Justiz auch mittel- und langfristig gewährleisten. Das geht aber nur in Abstimmung mit den Ländern, die hierzu bereits einige Vorarbeiten geleistet haben, auf denen wir aufzubauen gedenken. Dazu gehört nicht nur eine Vereinheitlichung der Verfahrensregeln in den Prozessordnungen, sondern auch eine Modernisierung des Zwangsvollstreckungsverfahrens. Wer weiß, wie umständlich es ist, einen vollstreckbaren Titel auch tatsächlich zu vollstrecken, und wie lange das alles dauert, weiß auch, wie nötig hier Reformen sind. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Unsere Agenda für die kommende Wahlperiode ist umfangreich. Es ist nicht auszuschließen, dass es zusätzliche aktuelle Erfordernisse für weitere, nicht vereinbarte Gesetzgebungsvorhaben gibt. Doch auch diese - davon bin ich überzeugt - werden wir in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit unserem Koalitionspartner sachgerecht lösen. An den Grünen sind in den vergangenen Jahren wichtige Gesetze für mehr Sicherheit gescheitert. ({10}) Diese Koalitionsvereinbarung ist nicht von Ideologie geprägt, sondern von Vernunft und Verantwortungsbewusstsein der Koalitionspartner in Bezug auf das, was notwendig und machbar ist. Meine Damen und Herren, die Menschen können sich darauf verlassen, dass auch für die Rechtspolitik gilt: Wir wollen den Erfolg dieser Koalition und diese große Koalition wird ein Bündnis für die Sicherheit der Bürger sein. Vielen Dank. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Weitere Wortmeldungen liegen zu diesem Themenbe- reich nicht vor. Gleichwohl darf ich Sie bitten, noch ei- nige Minuten hier zu bleiben, weil wir noch einige Ent- scheidungen zu treffen haben. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent- würfe auf den Drucksachen 16/106 und 16/88 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- schlossen. Ich rufe die Zusatzpunkte 1 a bis 1 d auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. November 2003 zur Änderung des Europol-Übereinkommens und zur Änderung des Europol-Gesetzes - Drucksache 16/30 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Betrieb elektronischer Mautsysteme ({1}) - Drucksache 16/32 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über konjunkturstatistische Erhebungen in bestimmten Dienstleistungsbereichen ({2}) - Drucksache 16/36 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über die grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit und die Zusammenarbeit in strafrechtlichen Angelegenheiten - Drucksache 16/57 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt überweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 16/36 - das ist der Zusatzpunkt 1 c - soll federführend im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Erhöhung der Anzahl von Ausschussmitgliedern - Drucksache 16/110 Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 16/110 zur Erhöhung der Anzahl von Ausschussmitgliedern. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? Dann ist dieser Antrag einstimmig angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 1. Dezember 2005, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.