Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
sehr herzlich und wünsche uns ebenso intensive wie
konstruktive Beratungen. Die Haushaltswoche des Deutschen Bundestages gilt im Allgemeinen als ein Höhepunkt des parlamentarischen Jahres. In diesem Jahr wird
sie voraussichtlich die Aufmerksamkeit mit einem anderen bedeutenden Ereignis teilen müssen, das in der deutschen Öffentlichkeit ähnlich große Begeisterung zu erzeugen scheint wie die Einnahmen und Ausgaben des
Bundeshaushaltes. Deswegen könnte es ganz gewiss
nicht schaden, wenn die Begabung zu einem fröhlichen
Patriotismus, die das Land in diesen Tagen entdeckt zu
haben scheint, auch in dieser Debatte ihren Niederschlag
finden könnte.
Vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich ein paar
Mitteilungen zu machen. Der Kollege Volker
Blumentritt feierte am 16. Juni seinen 60. Geburtstag.
Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich nachträglich
herzlich und wünsche alles Gute.
({0})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige
Tagesordnung um die Beratung des Antrags der FDPFraktion mit dem Titel „Bürokratie schützt nicht vor
Diskriminierung - Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz ist der falsche Weg“ zu erweitern.
({1})
- Und wie ich den jetzt vorgetragen habe, Herr Vorsit-
zender! - Die Vorlage soll beim Einzelplan 07 - Bundes-
ministerium der Justiz - aufgerufen werden. Sind Sie da-
mit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte I. a und b auf:
a) Zweite Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2006
({2})
- Drucksachen 16/750, 16/1348 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses ({3}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 2005 bis 2009
- Drucksachen 16/751, 16/1348, 16/1327 Berichterstattung:
Abgeordnete Otto Fricke
Carsten Schneider ({4})
Anja Hajduk
Wir kommen nun zur Beratung der Einzelpläne, und
zwar zunächst der drei Einzelpläne, zu denen nach Ver-
einbarung der Fraktionen keine Aussprache vorgesehen
ist.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.1 auf:
Einzelplan 01
Bundespräsident und Bundespräsidialamt
- Drucksachen 16/1301, 16/1324 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaas Hübner
Dr. Dietmar Bartsch
Wer stimmt für den Einzelplan 01 in der Ausschuss-
fassung? - Wer möchte dagegen stimmen? - Wer
möchte sich der Stimme enthalten? - Der Einzelplan 01
ist einstimmig angenommen.
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.2 auf:
Einzelplan 02
Deutscher Bundestag
- Drucksachen 16/1302, 16/1324 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Koppelin
Gunter Weißgerber
Anja Hajduk
Wer stimmt für den Einzelplan 02 in der Ausschuss-
fassung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Damit ist auch der Einzelplan 02 einstimmig
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.3 auf:
Einzelplan 03
Bundesrat
- Drucksachen 16/1303, 16/1324 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Otto Fricke
Jens Spahn
Johannes Kahrs
Dr. Dietmar Bartsch
Wer für den Einzelplan 03 in der Ausschussfassung
stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Möchte je-
mand dagegen stimmen? - Möchte sich jemand der
Stimme enthalten? - Bei Stimmenthaltung der Fraktion
Die Linke ist auch dieser Einzelplan mit hinreichender
Mehrheit angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.4 auf:
a) Einzelplan 08
Bundesministerium der Finanzen
- Drucksachen 16/1308, 16/1324 Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Bernhard Brinkmann ({5})
Ulrike Flach
Anja Hajduk
b) Einzelplan 20
Bundesrechnungshof
- Drucksache 16/1324 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Petra Merkel ({6})
Michael Leutert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zu diesen beiden Einzelplänen drei Stunden vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch.
Also ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Jürgen Koppelin für die FDP-Fraktion.
({7})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
dieser Woche soll nun endlich nach wochenlanger Beratung der vom Bundesfinanzminister eingebrachte Bundeshaushalt 2006 beschlossen werden. Es gibt keinen
Grund zur Freude über diesen Bundeshaushalt. Mit
38,2 Milliarden Euro liegt die Neuverschuldung um
7 Milliarden Euro höher als 2005, als Rot-Grün noch regierte.
({0})
Jetzt verantwortet Rot-Schwarz diesen Haushalt und
diese hohe Neuverschuldung.
({1})
Zukünftig - so wollen es SPD und Union - soll die
notwendige Reduzierung der Neuverschuldung - wir
sind uns darüber einig, dass es eine Reduzierung der
Neuverschuldung geben muss - im Wesentlichen über
ein gigantisches Steuererhöhungsprogramm erfolgen.
Das bringt dem Staat zwar mehr Geld, bremst aber die
Konjunktur und belastet die Bürger und die Unternehmen.
({2})
Die Hoffnung, dass die Koalition unserem Land wieder Wachstum bringt und damit auch den Bundesetat aus
der Krise holt, wird sich mit dem Haushalt der rotschwarzen Koalition nicht erfüllen. Was ist vom Satz der
Bundeskanzlerin „Wir werden es grundlegend anders
machen, damit es grundlegend besser wird in Deutschland“ übrig geblieben? Für den Bundeshaltshalt, Frau
Kanzlerin, trifft das jedenfalls nicht zu. Der Haushalt
2006, jetzt in Ihrer Verantwortung, ist noch schlechter
als der Haushalt 2005. Damals - das wiederhole ich hatte Rot-Grün die Verantwortung.
({3})
Der Bundeshaushalt 2006 ist verfassungswidrig und
setzt den Verfassungsbruch der letzten vier Jahre fort.
Angesichts einer konjunkturellen Erholung und des von
der Bundesregierung erwarteten Wachstums kann doch
nicht erneut die Ausnahmeregelung des Art. 115 des
Grundgesetzes herangezogen werden.
({4})
Sie begründen das mit der schwachen Binnennachfrage.
Wenn Sie eine schwache Binnennachfrage feststellen,
dann müssen Sie sich doch fragen, wieso Sie eine MehrJürgen Koppelin
wertsteuererhöhung durchführen, da die Binnennachfrage dadurch noch einmal geschwächt wird.
({5})
Der Bundesfinanzminister hat in den letzten Wochen,
auch im Bundesrat, in seiner eigenen Art die Haushaltspolitik der rot-schwarzen Koalition dargestellt. Er hat
versucht, die hohe Neuverschuldung und das gigantische
Steuererhöhungsprogramm der Koalition zu begründen.
Herr Bundesfinanzminister, wer von unseren Bürgern
soll Ihnen Ihre Argumente abnehmen? Wer soll Ihnen
das jetzt glauben?
Vor der Bundestagswahl haben die Sozialdemokraten
und auch Sie sich massiv gegen eine Mehrwertsteuererhöhung gewandt. Wählt SPD, dann verhindert ihr eine
Mehrwertsteuererhöhung - das war eines der Hauptargumente der Sozialdemokraten im Wahlkampf. Viele Bürger - nach meiner Auffassung: zu viele Bürger - haben
Ihnen geglaubt und SPD gewählt. Nun, nach wenigen
Monaten, erzählen die SPD und Sie, Herr Bundesfinanzminister, genau das Gegenteil. Wer soll Ihnen noch glauben?
({6})
Hatte die SPD vor der Bundestagswahl mit ihren Argumenten Recht oder hat sie nach der Bundestagswahl
Recht? Darüber müssen Sie uns doch eigentlich einmal
aufklären. Ich sage Ihnen ganz offen, Herr Bundesfinanzminister, dass mich das ein bisschen an das alte
Lied erinnert, das es früher in der DDR gegeben hat: Die
Partei hat immer Recht. - Das scheint das Motto der Sozialdemokraten zu sein: Heute entscheiden wir so, morgen so und die Partei hat immer Recht.
({7})
Dies hat die Politik in Verruf gebracht hat und sorgt
dafür - das erleben wir an manchen Wahlabenden -, dass
die Menschen nicht mehr zur Wahl gehen. Sie sind parteienverdrossen, und zwar auch und besonders durch
Ihre Politik. Kommen Sie bitte nicht mit dem Argument
- die Kanzlerin macht das auch -, die Wählerinnen und
Wähler in Deutschland hätten diese Koalition und diese
Politik gewollt. Kein Wähler der Sozialdemokraten hat
gewollt, dass Sie in einer Koalition mit der CDU/CSU
eine Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte
durchführen.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Koalition ist zu
einem Kartell der Abkassierer geworden. Zu mehr sind
Sie, wie der vorliegende Bundeshaushalt zeigt, nicht fähig.
Die beispiellosen Steuererhöhungen werden seitens
des Bundesfinanzministers damit begründet, dass die öffentlichen Haushalte ohne diese Maßnahmen zerreißen
würden. Doch das ist nur dann richtig, wenn man nicht
bereit ist - dazu ist er und ist die Koalition nicht bereit -,
auch bei den Ausgaben stärker zu kürzen. Ausgabenkürzungen? Fehlanzeige. Dazu hat die Koalition nicht die
Kraft gehabt. Oder wollen Sie etwa sagen, Ausgabenkürzungen in Höhe von 100 Millionen Euro - um genau
diesen Betrag haben die Haushälter Kürzungen vorgenommen - seien der große Wurf? Sie haben Monate der
Beratung benötigt, um in einem Etat von 261 Milliarden
Euro 100 Millionen Euro einzusparen. Das, was Sie uns
hier vorlegen, ist ein Armutszeugnis.
({9})
Wenn wir das Ergebnis, das Sie uns heute präsentieren,
bereits im Februar gekannt hätten, dann hätten wir den
Haushalt bereits damals beschließen können. Dafür hätten wir nicht monatelang beraten müssen.
({10})
Das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts hat die rotschwarze Koalition völlig aus den Augen verloren. Stattdessen wird die Schuldenlast des Bundes kräftig erhöht.
Die Nettoneuverschuldung im Bundeshaushalt 2006 in
Höhe von mehr als 38 Milliarden Euro sei „ausgesprochen hoch“, erklärte der haushaltspolitische Sprecher der
Union, Steffen Kampeter. Das ist wohl wahr. Aber die
Union hat bei den Haushaltsberatungen nichts dagegen
unternommen
({11})
und nennt das nun plötzlich, so wiederum der Kollege
Kampeter, „einen erfolgreichen Start für die große Koalition“. Über 38 Milliarden Euro neue Schulden! Und
da wagt es die Koalition, von diesem Bundeshaushalt als
einem soliden Zahlenwerk mit angemessener Risikovorsorge zu sprechen! Das, was Sie uns vorlegen, ist einfach
peinlich. Damit stellen Sie sich ein Armutszeugnis aus.
({12})
Wo trifft die Koalition eigentlich Vorsorge für die bestehenden Risiken, zum Beispiel im Hinblick auf das
Arbeitslosengeld II? Fehlanzeige! Dabei hat sogar der
Bundesfinanzminister wörtlich erklärt: „Ich bin von Risiken umzingelt.“ Das mag so sein. Wenn ich die Tageszeitungen lese, habe ich hin und wieder den Eindruck,
dass er, wenn er von „Risiken“ spricht, nicht nur die
Haushaltsrisiken, sondern auch die Koalitionsfraktionen
meint.
({13})
Zu den Risiken des Bundeshaushalts - auch darauf
will ich hinweisen; denn das ist bisher noch nicht deutlich genug gesagt geworden - gehört auch die steigende
Zinslast, die wir berücksichtigen müssen. Kollege
Meister hat gestern erklärt, er sehe große Risiken für den
Bundeshaushalt. Da sowohl der Bundesfinanzminister
als auch der Kollege Meister von der Union von Risiken
sprechen, frage ich mich: Wie können Sie es wagen, uns
einen solch unsoliden Haushalt vorzulegen? Das ist nicht
zu verantworten.
({14})
Die CDU/CSU hat sich gegenüber dem Bundesfinanzminister, der einen typischen SPD-Haushalt vorgelegt hat, nicht durchsetzen können. Das ist das Ergeb3474
nis der Haushaltsberatungen. Anders als die Koalition
hat die FDP in ihren mehr als 500 Anträgen aufgezeigt,
wie der Bundeshaushalt um 8,3 Milliarden Euro entlastet
werden könnte.
({15})
Dann könnten auch die Vorgaben des Maastrichtvertrages endlich wieder erfüllt werden. Diese 500 Anträge,
die wir eingebracht haben,
({16})
haben Sie in Bausch und Bogen abgelehnt. Die Oppositionsfraktionen haben insgesamt über 1 000 Anträge gestellt, die Sie abgelehnt haben.
({17})
Der Kollege Meister hat in der Debatte zur Regierungserklärung der Kanzlerin am 1. Dezember 2005 erklärt, die Union biete den Freien Demokraten an, ihre
Anträge sehr sorgfältig zu prüfen und sie, wenn sie als
solide beurteilt würden, auch zu übernehmen.
({18})
Kollege Meister, ich frage Sie: Haben sie unsere Anträge
wirklich sorgfältig geprüft?
({19})
- Er nickt; vielen Dank. - Ich muss Ihnen sagen: Unter
den mehr als 500 Anträgen, die wir gestellt haben, waren
über 50 Anträge, die die Union bei der Beratung des
letzten Haushalts, also in der Zeit, als sie in der Opposition war, selbst gestellt hat; ich gebe zu, dass wir das
auch getan haben, um Sie zu testen. Auch diese Anträge
haben Sie abgelehnt.
({20})
Kollege Meister, ich muss doch davon ausgehen, dass
die Anträge, die Sie damals gestellt haben, von Ihnen
überprüft und als solide beurteilt worden sind; denn
sonst hätten Sie sie nicht eingebracht. Zumindest diese
Anträge müssten also solide sein, sodass Sie sie hätten
übernehmen können. Aber das haben Sie nicht getan. Sie
haben im Rahmen der Haushaltsberatungen all unsere
Anträge, auch die, die Originalanträgen der Union gleichen, abgelehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in unseren Anträgen, allein was den Subventionsabbau betrifft,
Vorschläge gemacht, durch die 1 Milliarde Euro eingespart werden könnten. Die Koalition hat das abgelehnt.
Wir haben eine Kürzung der Verwaltungsausgaben von
10 Prozent - nur 10 Prozent! - vorgeschlagen; das
brächte bereits 800 Millionen Euro. Die Koalition hat
das abgelehnt. Wir haben, weil wir das für notwendig erachten, auch Beschaffungsmaßnahmen im Verteidigungsetat auf den Prüfstand gestellt. Einsparvolumen:
400 Millionen Euro. Die Union sollte sich die Anträge
anschauen, die sie gestellt hat, als sie noch in der Opposition war: Da hat sie die gleichen Anträge gestellt wie
wir als FDP jetzt.
({21})
Ein Einsparvolumen von 400 Millionen Euro ist schon
etwas anderes als die popeligen 100 Millionen Euro, die
Sie, Kollege Meister, uns hier heute präsentieren.
({22})
Mit unseren Anträgen, mit unseren Entlastungsvorschlägen, wäre ein erster großer Schritt in Richtung eines soliden Haushalts und mehr Glaubwürdigkeit getan
worden. Eine Wende wäre eingeleitet worden, damit
man den Haushalt 2007 vernünftig aufbauen kann. Sie
haben diese Chance vertan. Und dann legen Sie noch ein
schuldenfinanziertes Konjunkturprogramm auf! Dabei
lehrt doch die Vergangenheit, dass solche Programme
- wenn überhaupt - kurzzeitige Strohfeuer sind. Was
von Ihrem Konjunkturprogramm bleibt, sind bloß noch
mehr Schulden. Wissen Sie: Ihr Konjunkturprogramm
erinnert mich an den Versuch, mit einem Gummiband
eine Rakete zum Mond zu schießen - mehr ist es nicht.
({23})
Dreh- und Angelpunkt auch für diesen Bundeshaushalt ist der Arbeitsmarkt. Solange es 4,5 Millionen Arbeitslose gibt, Menschen Angst um ihren Arbeitsplatz
haben, kann die Binnenkonjunktur nicht anspringen.
Doch wie können arbeitslose Menschen in unserem
Land wieder einen Arbeitsplatz bekommen? Wohl kaum
- das sage ich in Richtung Union - mit dem von RotSchwarz beschlossenen Gebäudesanierungsprogramm
oder der verbesserten Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen.
({24})
Erst recht nicht gibt es neue Arbeitsplätze, Kollege
Kampeter, wenn man die Steuern so drastisch erhöht,
wie Sie das gemacht haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer die öffentlichen
Haushalte konsolidieren will, wer neue Arbeitsplätze
schaffen will, wer die Einnahmequellen der Sozialversicherungen sichern will, der muss für mehr Wachstum in
unserem Land sorgen. Mit einer Erhöhung der Abgabenlast wird das Wachstum aber nicht gefördert, sondern gebremst. Deswegen ist das Konzept der Koalition falsch
angelegt. Dass es anders geht, haben doch die 80er-Jahre
gezeigt; damals war die Haushaltslage ähnlich prekär.
Anscheinend muss man Sie daran erinnern, dass es einen
Bundesfinanzminister Stoltenberg von der Union gegeben hat, der gesagt hat: Ich spare ein - die Steuern werden auf keinen Fall erhöht! - Diese Strategie ist damals
aufgegangen und die Lage hat sich von Jahr zu Jahr
verbessert. Es ist traurig, dass man die Union heute daran erinnern muss.
({25})
Heute nutzt die Union ihre Macht nur noch, um mit
den Sozialdemokraten zusammen an der Steuerschraube
zu drehen. Sie vergessen völlig: Was der Staat gewinnt,
das verlieren seine Bürger. Bei der Union hat der Ausspruch von Franz Müntefering Einzug gehalten, dass der
Staat besser mit dem Geld umgehen kann als die Bürger.
Das scheint jetzt auch das Motto der Union zu werden.
Generell ist festzustellen, dass sich die Haushaltspolitik von Union und SPD nur darauf konzentriert, wie man
durch Abkassieren beim Bürger zu noch mehr Einnahmen kommen kann. Es geht Ihnen nicht darum, die Ausgaben zu reduzieren. Deshalb geht das größte Risiko für
die deutsche Konjunktur und letzten Endes für die Bürger und die Unternehmen nach unserer Auffassung von
dieser Koalition aus.
({26})
Sie reden in der Koalition davon - der Bundeswirtschaftsminister macht es; auch die anderen Minister machen es -, dass mit Ihrer Politik Licht am Ende des Tunnels zu sehen sei. Ich stelle für die FDP fest, dass die
Koalition mit ihrer Politik alles, aber auch alles daransetzt, um den Tunnel zu verlängern. Dabei denke ich
zum Beispiel an die Vorstellungen - wenn man überhaupt von Vorstellungen sprechen kann -, die die Koalitionsfraktionen in diesen Tagen im Hinblick auf eine Gesundheitsreform präsentieren. Das wird den Tunnel
verlängern. Dabei denke ich auch an die Vorverlegung
des Termins für die Fälligkeit der Sozialabgaben. Auch
das hat den Tunnel verlängert. Und ich denke an das
Umfallen der CDU/CSU beim Antidiskriminierungsgesetz. Diese Liste ließe sich fortsetzen.
Wir, Union und FDP, haben doch in der Opposition
zusammen immer wieder auf die unsolide Haushaltspolitik der Sozialdemokraten hingewiesen, ja wir sind sogar
zusammen vor das Bundesverfassungsgericht gezogen
und haben eine Klage eingereicht, die noch anhängig ist.
Warum haben Sie von der Union das alles vergessen?
({27})
- Kollege Kampeter, Sie haben das alles vergessen. Ich
finde, die Wählerinnen und Wähler der Union haben
eine solche Haushaltspolitik nicht verdient; die übrigen
Bürger unseres Landes übrigens auch nicht.
({28})
Es ist festzustellen: Die CDU/CSU hat sich gegen den
SPD-Finanzminister nicht durchsetzen können. Die
Bundeskanzlerin hat kürzlich erklärt:
Wort und Tat, Verkündung und Ergebnis müssen in
der Politik wieder zusammenpassen.
Das ist richtig. Warum machen Sie das dann nicht? Ihre
Kanzlerin hat es Ihnen doch erlaubt; sonst hätte sie doch
nicht so gesprochen. Nein, Sie haben es nicht getan. Wer
hindert Sie daran, eine solide Haushaltspolitik zu machen? Wir, die Opposition, bestimmt nicht. Wenn sie solide ist, werden wir Sie dabei unterstützen.
Die Abkehr der Union von ihren eigenen haushaltspolitischen Forderungen der vergangenen Jahre ist beispiellos. Es muss etwas geschehen, aber wir von der
Union dürfen mit Rücksicht auf unseren Koalitionspartner SPD nichts ändern - das ist das Motto der
Regierungspolitik der Union geworden. Dieser Bundeshaushalt ist ein Beispiel dafür. Wenn Sie diesen Bundeshaushalt 2006 beschließen, dann ist wieder ein Jahr zur
Neuausrichtung des Bundeshaushaltes, das wir dringend
gebraucht hätten, vertan worden.
Es tut mir Leid, aber ich muss es so deutlich sagen:
Dieser Bundeshaushalt 2006 erinnert mich an den Gammelfleischskandal: Er wurde neu verpackt, umetikettiert
und als frisch angeboten. Er bleibt aber das, was er bisher schon war: Gammel. Mit diesem Haushalt 2006 legen Sie uns hier heute Gammel vor.
({29})
Sie werden verstehen, dass Sie die Zustimmung der
Freien Demokraten dafür nicht bekommen können.
In Richtung des Herrn Bundesfinanzministers sage
ich: Reden Sie zukünftig nicht davon, zu Ihrer Politik
gebe es keine Alternative! Es ist zwar eigentlich ein trauriger Anlass, aber es ist mir trotzdem ein Vergnügen, Ihnen noch einmal das Sparbuch der Fraktion der Freien
Demokraten überreichen zu können, das über 500 Anträge enthält.
({30})
Schauen Sie einmal hinein, dann wissen Sie, dass Sie
hätten einsparen können.
({31})
Herzlichen Dank für Ihre Geduld.
({32})
Das Wort hat nun der Kollege Carsten Schneider für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ferdinand Lassalle hat einmal gesagt:
Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle
politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.
Carsten Schneider ({0})
Nun wollen wir uns als SPD und auch als große Koalition nicht der politischen Kleingeisterei schuldig machen, sondern die große politische Aktion beginnen. Der
Beschluss über den Bundeshaushalt 2006 nach der zweiten und dritten Lesung in dieser Woche wird dafür den
Grundstein bilden.
Was ist? Ich denke, nach dem, was Herr Koppelin
eben vorgetragen hat, ist es ganz erquicklich und erfrischend, zu sehen, wie die Situation überhaupt ist. Nehmen wir die Gesamtverschuldung des Bundes. Sie liegt
- Stand: Februar 2006 - bei 890,8 Milliarden Euro. In
der Zeit, in der die FDP an der Regierung beteiligt war
- das war von 1969 bis 1998 -, sind 711 Milliarden Euro
davon angefallen.
({1})
- Herr Kollege Solms, in den letzten Jahren sind
144 Milliarden Euro dazugekommen. Dazu stehe ich
auch. Ich will nur sagen: Es gibt eine Gesamtverantwortung aller hier vertretenen Parteien. Niemand kann sich
hier vom Acker machen.
({2})
Nun komme ich zur Zinslast. Sie kritisieren, dass wir
in diesem Jahr eine Nettokreditaufnahme in Höhe von
38,2 Milliarden Euro haben. Die Zinslast beträgt aber
ebenfalls circa 38 Milliarden Euro. Wenn Sie sich das
anschauen, dann erkennen Sie, dass wir die Nettokreditaufnahme in diesem Jahr nur benötigen, um die Zinsen
für die Schulden aus der Vergangenheit zu bezahlen. Dabei ist noch keine Tilgung erfolgt. Mein politisches Ziel
als Abgeordneter ist es, dass wir einen Weg finden - ich
glaube, mit diesem Haushalt und auch mit dem Haushaltsbegleitgesetz, das wir vor einigen Wochen beschlossen haben, wird dies gelingen -, zu einem konsolidierten
Staatshaushalt zu kommen, wodurch wir, so hoffe ich, in
der nächsten Legislaturperiode auch einen ausgeglichenen Haushalt erreichen werden.
({3})
Beim Bundeshaushalt haben wir eine strukturelle Deckungslücke von 50 Milliarden Euro. Das sind 20 Prozent der beschlossenen Gesamtausgaben in Höhe von
261 Milliarden Euro. Diese müssen durch die Nettokreditaufnahme und durch Privatisierungserlöse finanziert
werden. Das zeigt: Nur durch eine Verbesserung der Einnahmebasis oder allein durch Ausgabenkürzungen kann
man diesen Haushalt nicht konsolidieren.
Herr Kollege Koppelin, wir tun daher beides: Wir
haben nicht nur die Nettokreditaufnahme um 100 Millionen Euro abgesenkt, sondern wir haben auch in enormem Maße umgeschichtet. Erkennbare Risiken, die auch
beim Vollzug dieses Haushalts auftreten - wir befinden
uns ja schon fast in der Jahresmitte -, haben wir verringert.
({4})
In diesem Jahr sind für den Bund zum Glück Steuermehreinnahmen in Höhe von 4 Milliarden Euro zu verzeichnen. Davon waren 2,5 Milliarden Euro bereits im
Regierungsentwurf eingeplant, sodass wir tatsächlich
nur noch über Mehreinnahmen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro gegenüber dem Plan reden konnten. Diese haben wir zur Deckung von Risiken und Einnahmeausfällen eingesetzt.
({5})
Bei den Einnahmeausfällen ist zum einen der Aussteuerungsbetrag der Bundesagentur für Arbeit zu nennen. Wir sind von Einnahmen in Höhe von 5,3 Milliarden Euro ausgegangen, aber uns stehen nur 4 Milliarden
Euro zur Verfügung. Zum anderen konnten wir nur einen
um 140 Millionen Euro verminderten Bundesbankgewinn etatisieren. Damit sind die Mehreinnahmen - hier
werden öfter Märchen erzählt - in das Gesamtpaket eingearbeitet worden. Das heißt, für den Haushalt 2006 sind
diese Einnahmen entsprechend veranschlagt und die
Ausgaben entsprechend kalkuliert. Das heißt aber auch,
dass wir für den Etat 2007 keine Entwarnung geben können.
Sie haben in Ihrer Rede, Herr Koppelin, schon einige
Reformen angesprochen, die wir in den nächsten Wochen angehen werden. Ich nenne hier noch einmal die
Gesundheitsreform; ich nenne ferner die Föderalismusreform für den Gesamtstaatsaufbau oder auch die wichtige Unternehmensteuerreform. Mit diesen Reformen hat
der Haushalt eine gute Grundlage.
Als Antwort auf die Frage: „Was ist?“ zitiere ich die
Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages vom 12. Juni 2006 zur Situation in Deutschland.
Nach dieser Umfrage seien die deutschen Unternehmen
so positiv gestimmt wie seit dem Wiedervereinigungsboom nicht mehr. Der Konjunkturaufschwung gewinne
an Tempo und für 2006 sei mit einem Wirtschaftswachstum von 2 Prozent zu rechnen. Nicht nur der Export sei
Wachstumstreiber, sondern nach und nach auch die Binnennachfrage.
Nun haben Sie gefragt, warum wir in diesem Jahr die
Mehrwertsteuer erhöhen würden. Das tun wir in diesem Jahr doch gar nicht. Die Mehrwertsteuererhöhung
ist für diesen Haushalt überhaupt nicht relevant, sondern
sie betrifft den Haushalt 2007. Wir haben uns bewusst
dafür entschieden, mit dem Haushalt 2006 Schwung zu
nehmen, um für 2007 die Auswirkungen der Mehrwertsteuererhöhung, die sich in der Wirtschaft niederschlagen werden - die Bundesbank geht von einem halben bis
dreiviertel Prozentpunkt weniger Wachstum für 2007,
aber auch von einem stärkeren Wachstum in diesem Jahr
aus -, abzumildern.
Auf die Frage: „Was ist?“ muss man auch antworten,
dass die Bundesrepublik mit knapp 20 Prozent eine historisch niedrige Steuerquote hat. Nur noch die Slowakei
liegt im europäischen Vergleich hinter der Bundesrepublik Deutschland. Für mich als Sozialdemokrat ist entscheidend, dass wir nicht einen Nachtwächterstaat
Carsten Schneider ({6})
haben, sondern dass der Staat auch soziale Sicherheit gewährleistet und die Angst vor Freiheit nimmt.
({7})
- Entschuldigung, ich meine natürlich, dass er die Angst
vor dem Verlust von sozialer Sicherheit nimmt. Sie wissen genau, was ich sagen will. Durch die soziale Sicherheit muss der Staat jedem die Chance geben, wieder aufzustehen, wenn er fällt.
Ein anderer Zukunftsbereich, der uns wichtig ist, ist
das 6-Milliarden-Euro-Programm für Forschung und
Entwicklung zur Stärkung der Wissensgesellschaft.
Diese Mittel sind in den Haushalt und die Finanzplanung
eingestellt. Ich bin guter Dinge, dass diese Maßnahmen
zusammen mit dem 25-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm dazu führen werden, dass wir dank der positiven
Konjunkturentwicklung, die sich erstmals seit langer
Zeit in den Beschäftigungszahlen widerspiegelt, 2007
sowohl das Maastrichtkriterium hinsichtlich der Verschuldung als auch die Vorgaben aus Art. 115 des
Grundgesetzes, wonach die Summe der Investitionen
höher als die Nettokreditaufnahme sein muss, einhalten
werden.
({8})
Die Haushaltspläne für das Jahr 2007 werden von der
Regierung noch verhandelt; da will ich mich nicht einmischen. Aber ich möchte für meine Fraktion die Erwartung ausdrücken, dass der Koalitionsvertrag eingehalten
wird. Ich habe keinen Zweifel daran, dass es dem
Finanzminister gemeinsam mit der Bundeskanzlerin gelingt, für 2007 einen Haushalt aufzustellen, der sowohl
die Regelgrenze nach Art. 115 des Grundgesetzes als
auch die Vorgaben der Europäischen Kommission hinsichtlich des Stabilitätspaktes einhält.
({9})
Sie haben vorhin die Vorgaben zur Haushaltskonsolidierung und zur Verstärkung der Einnahmebasis kritisiert. Ich kann nur sagen: Die Europäische Kommission
hat das Wachstumsprogramm, aber auch den Finanzbericht, den wir der Kommission jährlich vorlegen
- schließlich läuft ein Defizitverfahren gegen uns -, begrüßt und erklärt, dass insbesondere die Maßnahmen zur
Steuergesetzgebung, die wir hier im Deutschen Bundestag beschlossen haben - auch der Bundesrat hat diesem
Paket letzten Freitag zugestimmt -, konjunkturgerecht
sind; da bin ich guter Dinge.
Weil es wichtig ist, die Rahmendaten zu nennen,
komme ich zu der Frage: Was haben wir in den Haushaltsberatungen tatsächlich verändert? Hier sind einige
Punkte für das Parlament besonders wichtig.
Ich nenne zum Beispiel den Wunsch, der von vielen
Kollegen geäußert wurde, die Mittel für Maßnahmen im
Bereich der politischen Bildungsarbeit, bei denen die
Regierung einige Kürzungen vorgesehen hat, um
5 Millionen Euro zu erhöhen. Wir haben im Haushaltsbegleitgesetz im Gegenzug zur Kürzung des Weihnachtsgeldes die Sonderzahlung für Beamtinnen und Beamte der niedrigen Einkommensgruppen A 2 bis A 8
erhöht und wir haben im Bereich Wissenschaft und Forschung insbesondere bei den Verpflichtungsermächtigungen die Mittel verstärkt.
Wir hatten uns als Koalitionsfraktion vorgenommen,
die globalen Minderausgaben zu reduzieren. Das ist uns
im Einzelplan 60 um 300 Millionen Euro gelungen. Damit leisten wir einen Beitrag zur Haushaltswahrheit
und -klarheit und zur Stärkung des Parlaments. Wir haben zudem in den Einzeletats die globalen Minderausgaben deutlich gekürzt.
Zur strukturellen Verbesserung des Bundeshaushalts
auch im Personalbereich haben wir die Stelleneinsparung in Höhe von 1,9 Prozent, die die Regierung vorgesehen hatte, auf 2 Prozent erhöht. Das entspricht
220 Stellen im Bundeshaushalt und ist deutlich mehr als
die Zahl neuer Stellen, die durch die Regierungsneubildung entstanden sind. Damit haben wir unsere Aufgabe
als Haushälter, Kontrolle auszuüben und ein Gegengewicht darzustellen, wahrgenommen.
Wir haben die Investitionsausgaben auf dem Niveau
gelassen, das von der Regierung vorgeschlagen wurde.
Wir haben einige Veränderungen vorgenommen. Insbesondere haben wir bei den Verpflichtungsermächtigungen im Rahmen des 25-Milliarden-Euro-Paketes wesentliche Punkte konkretisiert. Ich denke dabei vor allen
Dingen an den Verkehrsbereich, aber auch an einzelne
Bereiche im Forschungsministerium.
Ein weiterer Punkt, den ich für einen entscheidenden
Schritt hinsichtlich der Struktur des Bundeshaushaltes
halte, mag zunächst abstrakt klingen. Bisher lagen die
Pensionslasten, die für die Beamten des Bundes aufzubringen sind, in der Zuständigkeit des Bundesfinanzministers. Das heißt, die einzelnen Häuser waren nicht für
die Finanzierung verantwortlich. Wir haben dieses System umgestellt. Das Parlament hat sich an dieser Stelle
gegen harten Widerstand durchgesetzt. Ab 2007 wird es
zum einen einen Pensionsfonds geben, mit dem für alle
ab 2007 neu eingestellten Beamten Vorsorge getroffen
wird. Das ist für mich ein entscheidender Punkt auch für
die nachhaltige Sicherung der öffentlichen Finanzen im
Interesse zukünftiger Generationen.
Wir haben des Weiteren vorgesehen, dass die Pensionslasten bei den Ressorts veranschlagt werden. Das
heißt, künftig ist jedes Ressort für die Pensionäre verantwortlich und muss deren Pensionen aus dem Etat finanzieren. Das hat meines Erachtens zur Folge, dass mit den
öffentlichen Geldern - das heißt mit den Steuergeldern noch sachgerechter umgegangen wird.
({10})
Weil sich gute Politik auch gut verkauft, haben wir
die Mittel für Öffentlichkeitsarbeit um 10 Prozent bzw.
um 10 Millionen Euro gekürzt. Ich glaube, das würde Ihnen vonseiten der Opposition nie einfallen. Es steht den
Ressorts frei, zu entscheiden, wie sie die Kürzungen
Carsten Schneider ({11})
umsetzen werden. Ich denke, das ist ein Signal, dass das
Parlament durchaus selbstbewusst ist.
({12})
Ich möchte gerne noch auf einen Punkt eingehen, der
die Kritik der FDP-Fraktion betrifft. Kollege Koppelin
hat eben noch einmal auf sein Maßnahmebündel verwiesen. Er hat kritisiert - ich nehme an, Herr Westerwelle
wird das morgen noch einmal bestätigen -, dass die Nettokreditaufnahme in diesem Jahr rund 38 Milliarden
Euro beträgt und damit - das ist richtig - um rund
16 Milliarden Euro über der Regelgrenze des Art. 115
des Grundgesetzes liegt. Sie haben das als verfassungswidrig bezeichnet. Ich habe dazu eine andere Auffassung: Wir machen von dem Ausnahmetatbestand des
Art. 115 des Grundgesetzes Gebrauch.
Wenn es Ihnen wirklich um sachgerechte Oppositionsarbeit geht, dann frage ich Sie, wie Sie bei einer
Einsparung in Höhe von 8 Milliarden Euro, bei der die
Nettokreditaufnahme immer noch 30 Milliarden Euro
betragen würde und die Investitionsausgaben bei
22 Milliarden Euro verharren würden, begründen wollen, dass die auch dann bestehende Differenz von
8 Milliarden Euro, um die die Nettokreditaufnahme die
Investitionsausgaben überstiege, nicht verfassungswidrig wäre. Ich glaube, es wird deutlich, dass die von Ihnen
vorgelegte Alternative absurd ist. Ich würde gerne dem
einen oder anderen Antrag zustimmen, wenn er denn
sachgerecht wäre. Es ist mir aber aufgrund der Absurdität Ihrer Vorschläge im Rahmen der Haushaltsberatungen nicht möglich gewesen. Ich nenne gerne ein paar
Beispiele, um es der Bevölkerung zu verdeutlichen. Sie
wollen die Beiträge für internationale Organisationen
um 2 Millionen Euro kürzen. Wir sind aber an dieser
Stelle vertraglich gebunden. Sie wollen die Ausgaben im
Verteidigungsbereich um 1 Milliarde Euro kürzen.
Schöne Grüße an alle Soldatinnen und Soldaten, die im
internationalen Bereich tätig sind!
({13})
Sie wollen bei der internationalen Krisenprävention
die Ausgaben um 3 Millionen Euro senken. Die Menschen in den Krisengebieten werden sich bedanken.
Sie wollen bei der Flug- und Gepäckkontrolle und der
Fahrgastsicherheit Kürzungen in Höhe von 20 Millionen
Euro vornehmen. Ist Ihnen nicht bekannt,
({14})
dass sich die Sicherheitslage in der Bundesrepublik
Deutschland insbesondere seit dem 11. September 2001
und vor dem Hintergrund der Fußballweltmeisterschaft,
durch die wir im Fokus stehen, nachhaltig verändert hat?
Dies alles scheint Ihnen nicht deutlich zu sein. Daher
verbuche ich Ihren Vorschlag unter „Heiteres und Weiteres“.
({15})
Zudem wollen Sie die Mittel für die Eingliederungsleistungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, die wir mit
6 Milliarden Euro etatisiert haben, um 3 Milliarden Euro
kürzen. Schönen Gruß nach Ostdeutschland! Denn
50 Prozent dieser Mittel fließen dorthin. Die Menschen
dort werden sich bedanken, dass Sie ihnen die letzte
Chance nehmen wollen. Ein weiteres Beispiel: Im Verteidigungsbereich werden Sie nur noch von der Linkspartei übertroffen, die die dafür vorgesehenen Mittel um
2,5 Milliarden Euro kürzen will. Aber darauf will ich
nicht näher eingehen.
Sie nennen als Beispiel für Kürzungsmöglichkeiten
ständig die Steinkohlesubventionen. Ich glaube, dass
keine andere Subvention einer so starken Degression unterliegt wie die Steinkohlesubvention.
({16})
Sie sollten nicht vergessen, dass wir die bis 2009 geltenden rechtsverbindlichen Zuwendungsbescheide gar nicht
ändern können. - Herr Westerwelle, Sie haben zugerufen, keine andere Subvention sei so hoch gewesen wie
die Steinkohlesubvention. Ich darf Sie daran erinnern,
dass es ein Wirtschaftsminister der FDP war, der den
entsprechenden Vertrag unterschrieben hat. Das alles
holt Sie nun wieder ein und hat dazu geführt, dass wir
Ihre Vorschläge ablehnen mussten.
({17})
Das Verhältnis des Bundes zu den Ländern halte ich
persönlich für sehr wichtig. Es hat Auseinandersetzungen über die Regionalisierungsmittel gegeben. Ich bin
froh, dass wir nun einen Kompromiss gefunden haben,
wiewohl ich sagen muss, dass es mir lieber gewesen
wäre, wenn wir den ursprünglichen Ansatz der Bundesregierung fortgeschrieben hätten. Bund und Länder haben schließlich gemeinsam Verantwortung für diesen
Staat.
({18})
Wenn ich mir einen Ausblick auf 2007 erlaube und insbesondere die Zinslast der einzelnen Körperschaften anschaue, dann stelle ich fest, dass die Situation des Bundes am schlechtesten ist. Das liegt daran, dass in den
letzten Jahren im Vermittlungsausschuss ständig zulasten des Bundes verhandelt wurde.
Ich möchte noch einen anderen Punkt nennen, der
nicht nur im Verhältnis zwischen Bund und Ländern,
sondern auch zwischen Ost und West eine maßgebliche
Rolle spielt. Das ist die Verwendung der Solidarpaktmittel durch die ostdeutschen Bundesländer. Wir werden
diese Mittel - die reinen Bundesmittel beliefen sich im
Jahr 2006 auf insgesamt 10 Milliarden Euro; die Bundesländer haben dazu nichts gegeben - nicht kürzen. Das
ist gut im Hinblick auf die Planungssicherheit und die
Tragfähigkeit der vom Deutschen Bundestag gefassten
Beschlüsse. Klar muss aber auch sein, dass diese Mittel
tatsächlich für den Aufbau Ost und insbesondere für die
Schließung der Lücke zwischen Ost und West verwendet
Carsten Schneider ({19})
werden. Ich unterstütze daher ausdrücklich die Position
des Bundesfinanzministers gegenüber dem einen oder
anderen Ministerpräsidenten, egal welcher Couleur. Es
ist wichtig, dass wir diese Mittel zum einen zum Schließen der Infrastrukturlücke und zum anderen für den Ausgleich der unterproportionalen Finanzkraft der Kommunen und für nichts anderes einsetzen.
({20})
Denn alles andere führte dazu, dass die ostdeutschen
Bundesländer, deren Haushalte sich schon jetzt in einer
bedrohlichen Schieflage befinden, 2009, wenn diese
Mittel der Degression unterliegen, in eine Schuldenfalle
liefen. Um die Diskussion ein bisschen zu versachlichen,
mache ich darauf aufmerksam, dass man die Entwicklung nicht einseitig den ostdeutschen Bundesländern
vorwerfen darf. Sie leisten zwar eine gute Arbeit, sind
aber in besonderem Maße durch Abwanderung, die sich
auch auf die Zuweisungen im Rahmen des Länderfinanzausgleichs auswirkt, betroffen. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein paar Zahlen betreffend den
Vollzug der Länderhaushalte nennen. So hat der Finanzplanungsrat vereinbart, dass die Haushaltsmittel nur um
1 Prozent steigen dürfen. Tatsächlich wiesen die Haushalte der Stadtstaaten eine Steigerung von 2,4 Prozent
und die der westdeutschen Flächenländer eine Steigerung von 1,7 Prozent auf, während die ostdeutschen Flächenländer ihre Haushaltsmittel um 0,7 Prozent zurückgeführt haben.
Es gibt also Licht und Schatten. Ich glaube, wir tun
als Deutscher Bundestag gut daran, an dieser Stelle hart
zu bleiben. Wir sollten aber auch zur Kenntnis nehmen,
dass die Situation insbesondere in den ostdeutschen
Bundesländern sehr schwierig ist. Wir sollten uns in der
zweiten Hälfte dieses Jahres mit diesem Thema noch
einmal beschäftigen. Das liegt im Gesamtinteresse nicht
nur des Deutschen Bundestages, sondern auch der Bundesrepublik Deutschland; denn es wird uns nur gelingen,
die binnenwirtschaftliche Situation zu verbessern und
letztendlich das Zusammenwachsen von Ost und West
zu befördern, wenn der Aufbau in den neuen Bundesländern sachgerecht fortgeführt wird und wenn es dafür
weiterhin das Verständnis und die Solidarität der Menschen im Westen Deutschlands gibt.
Vielen Dank.
({21})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine
Lötzsch, Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und
Herren! Am 4. Juli gibt es an den Berliner Schulen
Zeugnisse und die Empfehlung für die weiterführenden
Schulen. Nach diesen Haushaltsberatungen komme ich,
wie sicher auch viele Wähler, zu dem Schluss: Diese
Bundesregierung ist stark versetzungsgefährdet. Eine
Empfehlung für die gymnasiale Oberstufe würde wohl
kein Regierungsmitglied erhalten, wenn die Wähler entscheiden könnten.
({0})
Die Aufgabenstellung war klar: Die Bundesregierung
war von den Wähler beauftragt, die Arbeitslosigkeit zu
senken. Diese Aufgabe hat sie nicht erfüllt. Sie hat sich
einfach andere Aufgaben gesucht, die ihnen keiner gestellt hat, zum Beispiel das SGB-II-Optimierungsgesetz. Herr Müntefering hat es als seine Aufgabe angesehen, die Kosten für Hartz IV zu senken - allerdings
auf Kosten der Arbeitslosen. Dabei war es die eigentliche Aufgabenstellung, die Arbeitslosen nicht nur zu fordern, sondern auch zu fördern. Aber was machen Herr
Müntefering und Herr Beck, der Parteivorsitzende der
SPD? Sie beklagen, obwohl sie es besser wissen, in einer
unerträglich populistischen Art die angebliche Faulheit
und Raffgier der Hartz-IV-Empfänger. Das ist unerträglich und unerhört. Wir als Linke werden uns dagegen immer wehren.
({1})
Denn man kann die Menschen noch so drangsalieren und
piesacken, sie werden keine Arbeitsplätze bekommen,
wenn es nicht ausreichend Arbeitsplätze gibt.
Dieser Populismus gefällt einigen CDU- und SPDWählern, die sich an Stammtischen das Maul über die
Arbeitslosen zerreißen.
({2})
Allerdings bringt uns das keinen Schritt weiter bei der
Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Ich
habe daraus übrigens gelernt, dass Populismus nicht ein
Privileg von Oppositionsparteien ist. Er wird offensichtlich auch von mittelgroßen Volksparteien genutzt, um
Stimmung gegen Arbeitslose zu machen.
({3})
Genauso populistisch finde ich es, wenn Herr
Müntefering behauptet, dass viele Arbeitslose Angebote
ablehnen. Viele können aus ihren Abgeordnetensprechstunden gegenteilige Beispiele erzählen. Ich sage Ihnen
einmal eines aus meiner Sprechstunde: Da ist ein Mann
- Anfang 40, mit Frau und Kindern -, der eine Umschulung zum Physiotherapeuten machen möchte. Er hat bereits eine Einstellungszusage eines zukünftigen Arbeitgebers, doch die Arbeitsagentur will die Ausbildung
nicht bezahlen. Sie bietet ihm dafür einen Job als Pizzaausfahrer in Köln an. Das ist doch absurd; mit einer
nachhaltigen Arbeitsmarktpolitik hat das nichts zu tun.
({4})
Herr Müntefering hat im Wahlkampf über Frau Merkel
geäußert: „Sie kann es nicht.“ Heute müssen wir feststellen: Er kann es auch nicht.
({5})
Finanzminister Steinbrück gehört zu denjenigen, die
gerne etwas von Nachbarn abschreiben. Dumm ist nur,
wenn der Nachbar einen Fehler gemacht hat. Das fällt
dem Lehrer in der Regel auf. Herr Steinbrück hat von
seinem Vorgänger, Herrn Eichel, abgeschrieben. Der
hatte es nämlich in kürzester Zeit geschafft, auf Steuereinnahmen in Höhe von mehr als 50 Milliarden Euro zu
verzichten. Damit hatte er die Hoffnung verbunden, dass
die Unternehmen, die von diesen Steuerreformen am
meisten profitierten, die gesparten Mittel in neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze investieren würden. Das ist bekanntlich nicht passiert. Aber der aktuelle
Finanzminister macht den gleichen Fehler. Er hebt die
Mehrwertsteuer ab dem 1. Januar 2007 um 3 Prozentpunkte von 16 auf 19 Prozent an - die größte Steuererhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik und ein
Griff in die Taschen der kleinen Leute. Pro Prozentpunkt
will der Finanzminister 8 Milliarden Euro einnehmen.
Komischerweise wird die geplante Unternehmensteuerreform dieses Ministers die Steuerzahler ebenfalls
8 Milliarden Euro kosten. Das heißt, die Einnahmen aus
einem Prozentpunkt Mehrwertsteuererhöhung fließen direkt an die Unternehmen. - Meine Damen und Herren,
ich finde, jeder hat das Recht, Fehler zu machen. Doch
wissentlich Fehler zu wiederholen, das ist schon beängstigend und ein Fall für den Schulpsychologen.
({6})
Minister Tiefensee ist schon deshalb versetzungsgefährdet, weil ihn nie jemand gesehen hat.
({7})
Der Aufbau Ost hat in dieser Legislaturperiode bisher
noch nicht stattgefunden. In einem Interview mit Herrn
Tiefensee habe ich jetzt gelesen, dass er gerne im Verborgenen arbeitet.
({8})
Doch das scheint nicht erfolgreich zu sein.
({9})
Der Finanzminister hat schon angekündigt, dass er
Herrn Tiefensee in Zukunft 100 Millionen Euro für den
Aufbau Ost wegnehmen will. Das ist Geld, das für die
Gemeinschaftsaufgabe in Ostdeutschland gebraucht
wird. Ich habe auch gehört, dass sich der Ostbeauftragte
der Bundesregierung über die angebliche Verschwendung von Solidarpaktmitteln öffentlich beklagt. Ich
halte das im Gegensatz zu meinem Vorredner für eine
Anbiederei bei den Herren Koch und Stoiber. Es ist richtig: Mittel, die für Investitionen gedacht sind, sind in den
konsumtiven Bereich geflossen, allerdings um die Erfüllung von Pflichtaufgaben der Länder und Kommunen
abzusichern. Der Osten verjubelt das Geld nicht. Die
Steuereinnahmen der neuen Länder und der Gemeinden
in Ostdeutschland sind im Vergleich zu denen in den alten Ländern so niedrig, dass man dort nicht einmal mehr
seine Pflichtaufgaben erfüllen kann.
In Anbetracht der dramatischen Situation im Osten ist
es ein Gebot der Vernunft, die Nutzung der Solidarpaktmittel flexibler zu gestalten, so wie es übrigens auch der
Ministerpräsident Thüringens, Herr Althaus von der
CDU, gefordert hat.
({10})
Er will die Mittel für Bildungsinvestitionen nutzen dürfen. Wir brauchen im Osten nicht noch mehr Autobahnen, sondern Investitionen in die Köpfe, also in Schulen
und Universitäten. Die Kriterien für die Vergabe der
Mittel sind überholt. Doch es gibt eine breite Front von
Personen, die diese Kriterien nicht ändern wollen. Sie
haben nämlich kein Interesse daran, dass im Osten mehr
Geld in die Bildung gesteckt wird.
Noch fataler ist allerdings die Abwesenheit des so genannten Ostministers bei der Föderalismusreform. Nur
so viel - wir werden nächste Woche ausführlich darüber
diskutieren -: Ich habe den Eindruck, dass einige Ministerpräsidenten den Zug zur deutschen Einheit stoppen
wollen, und das ist nicht sehr patriotisch, schon gar nicht
„fröhlich“, wie es der Präsident uns allen heute Morgen
empfohlen hat.
Es gibt allerdings einen Erfolg, mit dem sich Herr
Tiefensee gerne schmückt: Das ist die Angleichung des
Ostniveaus des Arbeitslosengeldes II an das Westniveau.
Allerdings muss dieser Erfolg gerechterweise den
Hartz-IV-Demonstranten zugestanden werden, die bei
Wind und Wetter jeden Montag auf die Straße gegangen
sind, um gegen diese Ungerechtigkeit zu demonstrieren.
Ihnen gebührt meine Hochachtung.
({11})
Der Finanzminister verteilt schon heute das Geld, das
er noch gar nicht hat. Er und die Familienministerin wollen jedes Jahr 3,9 Milliarden Euro Erziehungsgeld zahlen. Es wird immer wieder gern erklärt - auch von Herrn
Steinbrück -, dass die Steuergelder zielgenauer eingesetzt werden müssen, dass nur diejenigen Geld bekommen sollen, die es dringend brauchen und sich selbst
nicht helfen können. Da stimme ich zu. Doch beim Erziehungsgeld ist es genau umgekehrt: Die Mütter, die auf
das Erziehungsgeld angewiesen sind, bekommen weniger; die Mütter, die es nicht unbedingt brauchen, bekommen mehr. Bisher begann die Sozialauswahl in unserem
Land erst nach der Grundschule. Dort wurde entschieden, wer auf das Gymnasium und wer auf die Hauptschule kommt, wer also Gewinner oder Verlierer ist. Die
Familienministerin will die Sozialauswahl schon vor der
Geburt treffen. Das ist wirklich erschreckend.
({12})
Wenn die ganze Bundesregierung versetzungsgefährdet ist, kann das nicht nur an den Schülern liegen. Dann
muss man sich auch einmal die Frage stellen, was die
Lehrer denn falsch gemacht haben; nehmen wir einmal
den Wirtschaftsweisen Rürup. Egal welche Regierung
wir haben: Die falschen Konzepte kommen immer aus
den gleichen Häusern. Ich erinnere an die Gesundheitsreform 2004: Ziel war es, die Lohnnebenkosten und die
Beitragssätze der Krankenkassen auf Kosten der Beitragszahler zu senken. Was ist passiert? Die Lohnnebenkosten wurden nicht gesenkt; aber die Kassenbeiträge
steigen und der Patient zahlt. Da muss man sich doch die
Frage stellen: Wie lange noch dürfen diese nicht gewählten Experten ihre falschen Konzepte verkaufen?
({13})
Aber vielleicht interessieren sich die Mitglieder der
Bundesregierung gar nicht mehr dafür, ob die Reformen
das Land wirklich weiterbringen, ob sie ihre Aufgaben
im Interesse der Wähler erfüllen. Vielleicht gibt es für
das eine oder andere Regierungsmitglied auch schon lukrative Angebote aus der Wirtschaft, sodass sie auf die
Beurteilung der Wähler pfeifen können, wie es Altbundeskanzler Schröder getan hat.
Noch ein Wort zum Verlauf der Beratungen. Kein Antrag der Opposition bekam im Haushaltsausschuss eine
Mehrheit; Herr Koppelin ist darauf schon eingegangen.
Das ist natürlich eine ideologiebetriebene Politik. Es
kann und darf aus der Sicht von CDU/CSU und SPD
nicht sein, dass Oppositionspolitiker - in unserem Falle
sind es Linke - vernünftige Vorschläge machen. Wenn
die Regierungsfraktionen an diesen Vorschlägen nicht
vorbei können, dann werden die entsprechenden Anträge
trotzdem abgelehnt und diese Vorschläge werden über
eigene Anträge in die Beratungen eingebracht. Ist das
wirklich ein souveränes Verhalten oder ist das nicht eher
kleinkariert und ein schlechtes Vorbild für diejenigen,
die sich an den Diskussionen hier im Bundestag orientieren wollen?
({14})
In diesem Jahr werden mit dem Haushalt 260 Milliarden Euro verteilt. Die Bundesregierung behauptet im
gleichen Atemzug, dass es nichts mehr zu verteilen gibt.
Das klingt unlogisch, ist es aber nicht. Es gibt zwar an
die Mehrheit nichts zu verteilen, aber - wie ich an einigen Beispielen dargestellt habe -: Eine Minderheit wird
eher diskret bedient.
Wir als Linke schenken den Menschen reinen Wein
ein.
({15})
Es ist genügend Geld da; es muss nur richtig verteilt
werden.
({16})
Das ist von dieser Regierung aber nicht zu erwarten.
Deshalb werden wir den Haushalt ablehnen.
Vielen Dank.
({17})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Steffen
Kampeter, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die große Koalition hat sich drei zentrale Ziele
im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik gesetzt:
({0})
den Haushalt in Ordnung bringen, die Arbeitslosigkeit
senken und die sozialen Sicherungssysteme konsolidieren. Das sind große Aufgaben. Wir wollen in dieser Woche als große Koalition gemeinsam deutlich machen,
dass wir die Haushaltskonsolidierung mit Entschiedenheit angehen. Es gibt zu ihr keine Alternative.
({1})
Das Leitbild der großen Koalition ist dabei eine generationengerechte Haushaltspolitik. Wir wollen keine vermeidbaren Lasten auf die nächsten Generationen wälzen. Dieses ehrgeizige Anliegen umzusetzen ist keine
Aufgabe für einen Tag, sondern soll für die nächsten Legislaturperioden unsere Leitlinie bleiben. Damit leistet
die Haushaltspolitik durch strikte Haushaltskonsolidierung ihren Beitrag dazu, dass es unserem Land weiter
besser geht.
({2})
Kein Land hat eine wirtschaftliche Spitzenposition
dauerhaft gehalten, das seinen Haushalt nicht konsolidiert hat, das einen Haushalt vorgewiesen hat, der nicht
in Ordnung war.
({3})
Kein Sozialstaat kann es sich auf Dauer leisten, dass die
öffentlichen Finanzen nicht in Ordnung sind. Da liegt
eine enorme Aufgabe, die weit über die heutigen Haushaltsberatungen hinausreicht. Sie wird von der großen
Koalition angegangen.
({4})
Mit dem Haushalt 2006 und dem Finanzplan für die
Zeit bis 2009 geht die große Koalition einen ersten
Schritt auf dem beschwerlichen Weg zu dauerhaft und
nachhaltig konsolidierten Bundesfinanzen. Der erste
Haushalt der großen Koalition ist Ergebnis eines komplexen Vorgangs. Warum? Hierzu empfiehlt es sich, sich
die haushalts- und finanzpolitische Lage zu Beginn der
Koalitionsverhandlungen im vergangenen Oktober ins
Gedächtnis zu rufen. Entscheidender Ausgangspunkt
war die gemeinsame Feststellung der Koalitionspartner,
dass wir im Bundeshaushalt ein strukturelles Defizit
von über 60 Milliarden Euro per annum haben. Um die
Dimension dieser haushaltspolitischen Schieflage einmal klar zu machen, kann man auch sagen: Rund
20 Prozent der Ausgaben des Bundes waren zu diesem
Zeitpunkt nicht durch regelmäßige Einnahmen gedeckt.
Dieser Besorgnis erregende Zustand der Bundesfinanzen ist das Ergebnis eines Prozesses, der sich seit Jahren
abgezeichnet hat. Wir haben in den vergangenen Jahren,
und zwar nicht erst seit 1998, deutlich über unsere
Verhältnisse gelebt. Die Neuverschuldung des Bundeshaushalts lag 2005 zum vierten Mal in Folge über der
Regelgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes. Ebenso haben wir als Gesamtstaat, also Bund, Länder, Gemeinden
und Sozialversicherungen, viermal in Folge das 3-Prozent-Defizitkriterium des Stabilitäts- und Wachstumspaktes verletzt. Es ist allerhöchste Zeit, diese Entwicklung zu stoppen, wollen wir nicht die Lasten unseren
Kindern und Enkelkindern aufbürden. Wir fangen mit
der Haushaltskonsolidierung an. Es ist ein schwerer
Weg. Er muss gegangen werden. Es gibt zu ihm keine
Alternative.
({5})
Vor diesem Hintergrund haben wir uns ehrgeizige
Ziele gesetzt, nämlich die Regelgrenze des Art. 115 des
Grundgesetzes sowie das Defizitkriterium wieder einzuhalten. Dieser Anspruch erfordert eine enorme Kraftanstrengung. Schon die Einhaltung der Regelgrenze des
Art. 115 des Grundgesetzes bedeutet ein Konsolidierungsvolumen von 35 Milliarden Euro allein für den
Bundeshaushalt. Ein solches Einsparvolumen lässt sich
nicht von heute auf morgen erzielen. Jeder, der etwas anderes behauptet, macht den Menschen etwas vor. Er ist
unehrlich. Eine unehrliche Politik hat beim Haushalt
ausgedient.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir betreiben keine Verschleierung der dramatischen Finanzsituation, sondern wir wollen eine transparente Haushaltspolitik machen. Wahrheit und Vollständigkeit sind
verfassungsrechtlich gebotene Haushaltsgrundsätze, die
wir achten wollen.
Dazu gehört, dass wir mit den der Haushaltsplanung
zugrunde gelegten gesamtwirtschaftlichen Entwicklungsannahmen vorsichtig umgegangen sind. Korrekturen wird es auch in der großen Koalition geben, zum
Beispiel bei den Wachstumsannahmen. Sie entwickeln
sich in den letzten Wochen positiv. Das ist eine gute Botschaft für Deutschland. Wir wollen, dass es so weiter
geht.
({7})
Auch bei den großen Schätzansätzen haben wir realistische Größenordnungen veranschlagt.
Schließlich haben wir die Nettokreditaufnahme offen
ausgewiesen, die sich aus einem strukturellen Defizit
von 60 Milliarden Euro ergibt. Sie liegt mit rund
38 Milliarden Euro - der Kollege Koppelin hat mich ja
schon zitiert, indem er darauf verwies, dass ich das nicht
besonders gut finde - um rund 15 Milliarden Euro über
den Investitionsausgaben und ist auch höher als die Nettokreditaufnahme im vergangenen Haushaltsjahr.
Nun beschäftigen wir uns einmal ein wenig mit der
Realität: Das strukturelle Defizit beträgt 60 Milliarden
Euro und erst seit wenigen Monaten wurden erste kräftige Schritte zur Konsolidierung eingeleitet. Wenn nun
die FDP behauptet, man könne diesen Haushalt innerhalb weniger Wochen konsolidieren, indem man die in
einem dicken Buch vorgelegten Anträge, von denen einige rechtlich nicht möglich bzw. politisch nicht geboten
sind, umsetzt,
({8})
dann ist das unanständig, unseriös und hemmungslos
populistisch. Meine sehr verehrten Damen und Herren,
so kann man keine seriöse Haushaltspolitik machen.
({9})
Ein Beispiel: Wir alle wissen, dass wir bestimmte Aufgaben im Zusammenhang mit der Lage am Arbeitsmarkt
- Herr Kollege Müntefering weiß das - lösen müssen.
({10})
Die FDP schlägt angesichts eines möglichen Mehrbedarfs für arbeitsmarktpolitische Ausgaben eine Leistungsabsenkung vor. Wer so unrealistisch den Menschen
Sand in die Augen streut, der erschüttert den Glauben an
die Seriosität der Politik. Wer so Oppositionspolitik betreibt, der macht damit deutlich, dass er keinerlei Regierungsfähigkeit besitzt. Das hat die FDP mit ihrem Vorgehen klar deutlich gemacht.
({11})
Die Überschreitung der Regelgrenze des Art. 115 des
Grundgesetzes ist erforderlich, um eine drohende Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abzuwehren. Insbesondere das Ziel eines hohen Beschäftigungsstandes, aber auch das Ziel eines angemessenen
Wirtschaftswachstums wäre bei alternativen Maßnahmen gefährdet. Die Lage am Arbeitsmarkt ist nach wie
vor schwierig; insbesondere das Fehlen einer nachhaltigen Besserung im Bereich der Langzeitarbeitslosen
zeigt, dass die konjunkturellen Erholungsimpulse, die
wir Gott sei Dank verspüren, den Arbeitsmarkt noch
nicht spürbar erreicht haben. Die Wachstumserwartungen haben sich ausweislich der Frühjahrsprojektion nur
geringfügig von 1,4 auf 1,6 Prozent erhöht. Die gesamtwirtschaftlichen Eckwerte, die Grundlage der Entscheidung der Bundesregierung, die Ausnahmeregelung des
Art. 115 in Anspruch zu nehmen, sind, liegen im Mittelfeld des Spektrums der Prognosen wichtiger nationaler
und internationaler Institutionen.
Zwar sieht die Deutsche Bundesbank in ihrer aktuellen Einschätzung der Konjunkturlage die wirtschaftliche
Aufwärtsbewegung zu Beginn des Jahres durch eine
günstige Entwicklung bei den Ausrüstungsinvestitionen
sowie durch einen kräftigen außenwirtschaftlichen Impuls gestützt, von einer nachhaltigen Wende beim privaten Konsum kann aber nach Auffassung der Bundesbank
noch nicht gesprochen werden. Der Kollege Schneider
hat darüber hinaus in seiner Rede auf die erfreuliche Entwicklung bei den Steuereinnahmen hingewiesen. Bisher
deutet allerdings wenig darauf hin, dass sich die Steuerbasis strukturell verändert hat. Aufgrund der aktuellen
Steuerschätzung belaufen sich die Mehreinnahmen im
Bundeshaushalt, denen ja Mindereinnahmen gegenüberstehen, lediglich auf 1,5 Milliarden Euro.
Jeder, der hier im Gegensatz zu unseren Planungen
eine abrupte Haushaltskonsolidierung fordert - gleich,
ob sie durch Abgabenerhöhung oder durch Reduzierung
staatlicher Leistungen erfolgt -, muss sich der Gefahr
bewusst sein, dass dies zusätzlich nachdrücklich negative Impulse auf die derzeitige Konjunkturentwicklung
ausüben und die Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts nach sich ziehen würde. Eine Störung
des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu erreichen
ist nicht Ziel der großen Koalition. Wir wollen, dass es
besser wird in diesem Land und aufwärts geht. Der
Haushalt 2006 dient diesem Ziel.
({12})
Ich weiß, dass viele der Experten - dazu zähle ich auch
viele Mitglieder dieses Hauses aus allen Fraktionen ({13})
im Zusammenhang mit der Debatte zur Mehrwertsteuererhöhung gesagt haben: Wir sind nicht begeistert, dass
wir diese Mehrwertsteueranpassung vornehmen müssen.
({14})
Aber angesichts der Handlungsmöglichkeiten in den verbleibenden sechs Monaten dieses Jahres und im
Jahr 2007 - ich habe Ihnen die Alternativperspektiven
hier klar und deutlich aufgezeigt - gibt es dazu keine
vernünftige, realistische, konjunkturverträgliche Alternative. Wir sind bereit, diesen schweren Weg zu gehen,
weil er ohne Alternative für unser Land ist. Das ist ehrlich und das muss gesagt werden.
({15})
Angesichts des Sachverhaltes, dass internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds
diese Mehrwertsteuererhöhung im Rahmen des wirtschaftlichen Umfeldes und der Reformperspektiven, die
die große Koalition in vielen Bereichen geschaffen hat,
weitaus positiver bewerten, müssen all diejenigen, die
die Mehrwertsteuererhöhung hier als Konjunkturkiller
charakterisieren, sich fragen lassen, ob sie nicht einen interessengeleiteten Pessimismus zum Maßstab ihres politischen Handelns machen, der weder im Interesse der öffentlichen Finanzen noch im Interesse der Menschen in
Deutschland sein kann.
({16})
Wir als große Koalition haben uns deshalb für den
Weg einer konjunkturunterstützenden Konsolidierung entschieden. Durch kurzfristige Wachstumsimpulse soll die konjunkturelle Erholung gefördert werden,
um in diesem Jahr zunächst Schwung zu holen und auf
höherem Niveau die dämpfenden Effekte, die ich keinesfalls bestreite, besser zu verkraften. Gleichzeitig sollen
die Angebotskräfte dann so weit gestärkt sein, dass die
Belastungen - wir haben ja Erfahrung mit Mehrwertsteueranpassungen in den vergangenen Jahrzehnten nur einen temporären Effekt darstellen. Daher ist auch in
der Frühjahrsprojektion unterstellt, dass, betrachtet man
die Jahre 2006 und 2007 zusammen, der begonnene Weg
in Richtung eines höheren Wachstums stabilisiert, unterstützt und nicht abgebrochen wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit den Beschlüssen zum Haushalt 2006 sind die Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung in
dieser Legislaturperiode gegeben. Die nachhaltige, konjunkturschonende Haushaltskonsolidierung wird von einem Maßnahmenbündel begleitet, das sowohl Konsolidierungsmaßnahmen im engeren Sinne enthält als auch
Wachstumsimpulse im weiteren Sinne gibt.
Der erste Schritt ist dabei in der vergangenen Woche
auch vom Bundesrat abgesegnet worden: das so genannte Haushaltsbegleitgesetz 2006, das mit ansteigenden Entlastungen des Bundeshaushalts - beginnend
2007 bei 12,5 Milliarden Euro, gefolgt von weiteren
Schritten - die Konsolidierung vorantreiben wird. Wir
haben aber auch im Bereich der sozialen Sicherungssysteme mutige Reformschritte zur Flankierung des Haushaltskonsolidierungskonzeptes eingeleitet. Ich erwähne
beispielsweise die Rente mit 67. Sie ist ein wichtiger
Meilenstein. Durch sie wird nicht nur die demografische
Entwicklung aufgegriffen, sondern auch eine strukturelle
Entlastung der sozialen Sicherungssysteme und damit
auch des Bundeshaushalts herbeigeführt.
Wir müssen darüber nachdenken, ob die solide Finanzpolitik, aufgrund dessen die große Koalition diesen
Haushalt vorlegt, nicht auch auf andere öffentliche
Haushalte übertragen werden sollte. Einzelne Bundesländer haben bereits Notlagen angezeigt; eventuell kommen weitere Länder hinzu. Insoweit war die Debatte um
die richtige Verwendung der Solidarpaktgelder sinnvoll.
Es kann nach meiner Auffassung nicht sein, dass einige
Länder die Mittel für Investitionen einsetzen, während
andere sie - nicht regelkonform - anderen Verwendungen zuführen. Wir brauchen eine strengere Finanzdisziplin auf allen Gebietskörperschaftsebenen. Ich spreche
mich dafür aus, die Idee eines nationalen Stabilitätspakts, die wir auf allen Ebenen erörtern, weiterzuverfolgen.
({17})
Es kann nicht sein, dass der Bundeshaushalt in der Konsolidierung voranschreitet, aber andere Gebietskörperschaften in eine andere Richtung marschieren. Die
öffentlichen Haushalte sitzen alle in einem Boot. Konso3484
lidierung ist eine föderale Gemeinschaftsaufgabe. Dies
wollen und müssen wir deutlich machen. Bund und Länder müssen gemeinsam - und zwar nicht nur im Rahmen
der Fortentwicklung des Föderalismuskonzeptes, sondern auch durch verbindliche Regelungen bezüglich der
Konsolidierung der Haushalte - deutlich machen, dass
es um eine nationale Aufgabe geht, der wir uns stellen
wollen.
({18})
Die Sozialisierung finanzpolitischen Fehlverhaltens
kann eben nicht Ziel der großen Koalition sein. Ich setze
da hohe Erwartungen in die Beratungen für diesen Bereich.
Mit dem Bundeshaushalt 2006 haben wir einen ersten
Schritt auf dem steinigen Weg der Konsolidierung getan.
Ich will in diesem Zusammenhang einen Bereich ausdrücklich hervorheben, bei dem uns dieser Schritt nicht
ganz einfach gefallen ist, nämlich den Bereich der Arbeitsmarktpolitik. Dazu gehört Hartz IV, worüber in
diesem Hause schon oft debattiert wurde. Man muss
kein Hellseher sein, um vorherzusagen, dass das auch
zukünftig so sein wird. Vielleicht könnte man auch den
Namen dieses Reformprojekts einer Revision unterziehen.
({19})
Das halte ich auch im Interesse der Betroffenen für sinnvoll.
Ich will einen Punkt besonders deutlich machen: Aus
Sicht der Union, aber auch aus Sicht der großen Koalition war und bleibt die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe richtig. Sie war ordnungspolitisch sinnvoll. Mit ihr wurden allerdings noch nicht die
erwünschten Haushaltseinsparungen erzielt.
({20})
Dies muss aber in einem weiteren Schritt gelingen.
Wir sind uns bewusst - insbesondere die Union hat
sich dieses Themas angenommen -, dass wir, wenn wir
die Annahmen des Gesetzentwurfes zugrunde legen,
eine erhebliche Zielabweichung von der Finanzprognose
für diese Legislaturperiode haben werden, und zwar in
einer Größenordnung von zwei Mehrwertsteuerpunkten.
Ich wiederhole: Die Zielabweichung hinsichtlich des Finanzvolumens für die Arbeitsmarktpolitik umfasst zwei
Mehrwertsteuerpunkte!
Deswegen war es richtig - dafür danke ich allen Beteiligten -, dass wir für das Haushaltsjahr 2006 eine
Risikovorsorge getroffen haben, um höhere Kosten
durch mögliche Umschichtungen innerhalb des Arbeitsmarktetats auffangen zu können. Die Koalition hat sich
insbesondere auf eine Haushaltssperre im Bereich der arbeitsmarktpolitischen Leistungen verständigt. Wir haben
es gleichzeitig abgelehnt, dass weiter auf Beitragsmittel
zugegriffen wird;
({21})
denn wir glauben, dass die von den Beitragszahlerinnen
und Beitragszahlern gezahlten Beiträge innerhalb dieses
Systems verwendet werden sollen.
({22})
Mit den überschüssigen Einnahmen, die sich aufgrund
der positiven Entwicklung ergeben und die von den Beitragszahlern stammen, soll nicht der Bundeshaushalt saniert werden.
Bei der Arbeitsmarktpolitik stehen wir erst am Anfang eines durchgreifenden Prozesses, der auch etwas
mit dem Bundeshaushalt zu tun hat. In einem ersten
Schritt müssen wir die Strukturreformen am Arbeitsmarkt vorantreiben. Wir müssen in einem zweiten
Schritt die Reformen innerhalb des Systems weiter vorantreiben. Ich danke Bundesminister Müntefering, dass
er hier engagiert vorangegangen ist
({23})
und dass er mit den bestehenden Gesetzen einen wichtigen Grundstein dafür gelegt hat, dass wir die Ausgabenentwicklung erstmals in den Griff bekommen können.
Aber ich mache für die Union auch deutlich, dass wir
noch nicht am Ende der Entwicklung sind und dass die
Reformschritte innerhalb des SGB sozialverträglich, für
die Menschen nachvollziehbar und der Konsolidierung
des Bundeshaushalts dienend weitergeführt werden müssen.
({24})
Wir müssen in einem dritten Schritt dazu beitragen,
dass die Belastung für den Bundeshaushalt durch die Arbeitsmarktpolitik begrenzt wird, indem wir Beschäftigungsimpulse nutzen. Mit dem Bundeshaushalt 2006 haben wir zur Stärkung von besonders zukunftsträchtigen
Bereichen ein Sofortprogramm mit einem Volumen
von 25 Milliarden Euro aufgelegt, von dem insbesondere
auch die Arbeitslosen profitieren werden. Nicht ohne
Grund haben wir die Abschreibungsbedingungen für
Unternehmen verbessert und die Mittel für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm aufgestockt. Auch die Mittel
für Verkehrsinvestitionen werden mit diesem Bundeshaushalt erheblich, nämlich um 1 Milliarde Euro, aufgestockt. Das soll nicht nur zur Verbesserung der Infrastruktur beitragen, sondern auch einen wesentlichen
Beschäftigungsimpuls liefern.
All das macht deutlich, dass dies nicht ein Haushalt
der harten Konsolidierung, sondern ein Haushalt ist, mit
dem im Rahmen des Möglichen auch Wachstumsimpulse gesetzt werden. Diese Politik müssen wir als große
Koalition gemeinsam offensiv vertreten.
({25})
Insgesamt ist zu vermerken, dass die Höhe der Investitionsausgaben mit über 23 Milliarden Euro auf dem
Niveau des Regierungsentwurfs gehalten werden kann.
Wir müssen uns zukünftig überlegen, wie wir diesen Bereich ausbauen. Wir haben zu den ForschungsinvestitioSteffen Kampeter
nen, aber auch zu den Investitionen, die die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf betreffen, wichtige Entscheidungen getroffen, die sich teilweise nicht auf dem engen
Investitionsbegriff abbilden lassen. Auch dies macht
deutlich, dass wir für die Sicherstellung der Zukunftsfähigkeit unseres Landes Haushaltsmittel in erheblicher
Höhe zur Verfügung stellen.
Was sind weitere Ergebnisse der Beratungen für den
Haushalt 2006? Der Kollege Schneider hat bereits auf
die Dezentralisierung der Versorgungsausgaben und die
Auflösung des Versorgungsplanes hingewiesen. Seit
über 20 Jahren diskutieren wir bei jeweils unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen über die Dezentralisierung
der Versorgungsleistungen im öffentlichen Bereich.
Wir haben der gesetzlichen Rentenversicherung viele
Reformnotwendigkeiten aufgebürdet. Die Dezentralisierung der Versorgungsausgaben ist ein wesentlicher
Schritt zur Modernisierung des Aufbaus der Bundesverwaltung. Zum ersten Mal müssen die einzelnen Ministerien die fiskalische Verantwortung für ihre Pensionäre
übernehmen. Dies löst die kollektive Verantwortungslosigkeit im Bereich der öffentlichen Versorgung auf.
Nach 20 Jahren hat die große Koalition in diesem Bereich eine wesentliche Modernisierung erreicht. Dies ist
ein Erfolg, den wir deutlich machen müssen.
({26})
Die Einsparungen, die wir den Bürgerinnen und Bürgern zumuten, müssen wir vorantreiben. Wir haben im
Bereich der öffentlichen Verwaltung weitere Einsparungen vorgenommen. Wir haben im Übrigen im personalwirtschaftlichen Bereich alle zusätzlichen Stellenanforderungen, die sich aus dem Regierungswechsel ergeben,
überkompensiert. Es kann keiner sagen, dass wir hier
nicht entschieden vorgegangen seien. Wir haben die
jährlichen Sonderzahlungen an die Beamten schon in
diesem Jahr halbiert. Weil wir glauben, dass es eines
wichtigen Signales bedurfte, sind die Mitglieder der
Bundesregierung, insbesondere die Bundeskanzlerin,
vorangeschritten: Die Sonderzahlungen an sie wurden
nicht nur befristet halbiert, sondern dauerhaft abgeschafft. Damit machen wir deutlich: Gekehrt wird auch
oben und gespart wird auch an der Spitze der Regierung.
Das ist ein Signal, das die große Koalition setzen wollte.
({27})
Selbstverständlich haben wir auch bei der Öffentlichkeitsarbeit der Ressorts Mittel eingespart. Der eingesparte Betrag von 10 Millionen Euro mag manchem
nicht hoch genug erscheinen, wie ich aus dem Redebeitrag der FDP vernommen habe. Man muss aber eines
deutlich machen: Es hat sich zwar noch kein Bundesminister bei uns dafür bedankt, dass wir ihm weniger
Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit zugestehen. Aber die
Glaubhaftigkeit der Konsolidierungspolitik setzt voraus,
dass die die Regierung tragende Koalition auch in denjenigen Bereichen, von denen man vermuten könnte, dass
die Regierung ein großes Interesse an ihnen hat, sparsam
vorgeht und Einsparungen durchführt. Das ist glaubwürdige Haushaltspolitik. Das macht deutlich: Wir sparen
auch bei den Dingen, die wir selbst verantworten müssen.
({28})
Die Einhaltung des in den Koalitionsverhandlungen
verabredeten Finanztableaus bis 2009 ist ein schweres
Geschäft. Erschwerend kommt die Erkenntnis dazu, dass
Haushalte, deren Neuverschuldung sich knapp unter der
Höhe der Investitionsausgaben bewegt, keine Dauerlösung auf dem Weg zu nachhaltigen und tragfähigen Finanzen sein können. Wir wollen mit dem Ziel sinkender
Schulden wieder größere Handlungsspielräume für die
öffentliche Hand erreichen. Das bedeutet, dass wir auch
das Ziel eines ausgeglichenen Haushaltes anpeilen müssen. Dies ist Grundlage der Koalitionsvereinbarung.
Als nächste Etappe müssen wir in dieser und in der
nächsten Legislaturperiode nach dem Umsteuern einen
klaren Sinkflug in Bezug auf die Nettokreditaufnahme
schaffen und im Laufe der nächsten Legislaturperiode
zur Sicherung der dauerhaften Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen ausgeglichene Haushalte vorlegen. Dazu
sind viele - auch unangenehme - Beschlüsse erforderlich. Die wollen und werden wir gemeinsam treffen, weil
wir glauben: Nur mit ausgeglichenen Haushalten wird
die Haushaltspolitik ihren Beitrag dazu leisten, dass es in
diesem Land weiter aufwärts geht.
Ich danke Ihnen.
({29})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich stelle eine außergewöhnliche Disziplin im Einhalten der Redezeiten
fest, die mir - zumal bei Haushaltsdebatten - überhaupt
nicht erinnerlich ist.
({0})
Dafür mag es Gründe geben.
Nun erteile ich das Wort der Kollegin Anja Hajduk,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der
Kollege Steffen Kampeter hat seine Rede mit einer beachtlichen Ehrlichkeit eröffnet. Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist: Er hat davon gesprochen, dass die
große Koalition sich drei Ziele gesetzt hat: die sozialen
Sicherungssysteme zu konsolidieren, die Arbeitslosigkeit abzubauen und den Haushalt zu konsolidieren. Dann
hat er ganz deutlich gesagt: Das haben wir uns für die
nächste Legislaturperiode vorgenommen.
({0})
Das war eine beachtliche Ehrlichkeit.
({1})
Herr Kampeter, ich will Ihnen sagen: Sich zu versprechen, passiert uns allen und wahrscheinlich auch mir in
dieser Rede. Aber wir wissen auch: Diese Versprecher
sind nicht zufällig. Sie haben einen tiefen, wahren Kern.
Das war ein guter Beitrag zur Debatte.
({2})
Sie haben Ihre Rede zwar mit einer freudschen Fehlleistung begonnen. Aber ich möchte ernster werden und
sagen, dass die Haushaltsberatungen leider durch eines
gekennzeichnet sind: Wir haben nicht nur eine große
Koalition, die das Land regiert, sondern wir werden regiert von einer großen Selbstgefälligkeit. Wenn Sie,
Herr Kampeter und andere in der Koalition, diesen
Haushalt am Freitag beschließen, der sich durch die
größte Nettokreditaufnahme auszeichnet, die es jemals
in der Planung gegeben hat - es ist mit über
38 Milliarden Euro ein Schuldenrekord -, und gleichzeitig sagen, dass Sie brutal konsolidieren, dann ist das der
Versuch einer Volksverdummung, der nicht gelingen
wird. Das ist Selbstgefälligkeit und zeugt von Kraftlosigkeit in der großen Koalition.
({3})
- Man kann auch härtere Worte dafür finden, Herr
Westerwelle; da gebe ich Ihnen Recht. - Damit leisten
Sie diesem Land keinen Dienst. Das müssten Sie aber eigentlich tun.
Ich komme noch einmal zu den Ergebnissen der
Haushaltsberatungen. 261 Milliarden Euro sollten ausgegeben werden; das sind 1,8 Milliarden mehr als im
Vorjahr. Dies entspricht immerhin einer Steigerung um
0,7 Prozent. Die große Koalition hat während der Haushaltsberatungen Kürzungen in Höhe von 100 Millionen
Euro vorgenommen. Im Verhältnis zu den 261 Milliarden entspricht dies 0,04 Prozent. Das muss man sich einmal klar machen. - Ich erinnere mich noch daran, wie
der frühere haushaltspolitische Sprecher der CDU/CSU,
der Kollege Austermann,
({4})
gewettert hat, der hemmungslose Schuldenaufbau
werde jedes Jahr ungebremst fortgesetzt. So hat er gepoltert. Dieses Jahr tritt die CDU/CSU mit einer Kürzung von 100 Millionen Euro an; damals hat sie 8 Milliarden Euro gefordert. Die CDU/CSU bewegt sich jetzt
bei rund 1 Prozent davon. So viel ist von Ihren alten Vorstellungen übrig geblieben. Sie sind ein ganz kleines
Karo in dieser großen Koalition.
({5})
Vor diesem Hintergrund muss ich sagen: Die große
Koalition hat die wirtschaftliche Erholung, die wir zurzeit haben, nicht genutzt, um im Rahmen der Haushaltsberatungen eine Perspektive für eine längerfristige Konsolidierungsstrategie zu eröffnen. Im Gegenteil: Sie
waren selbstgefällig. Sie haben 100 Millionen Euro eingespart, 0,04 Prozent. Dafür versuchen Sie sich auch
noch zu rühmen. Das ist schlichtweg lächerlich.
({6})
Auch die Investitionsquote sieht mit unter 9 Prozent
eher bescheiden aus. Hier haben Sie den Mittelansatz um
9 Millionen Euro verändert, bei einem Volumen von
23 Milliarden Euro.
({7})
Ich kann nur sagen: Die Wochen der Haushaltsberatungen waren von marginalen Veränderungen gekennzeichnet. Das ist, gemessen an der Größe dieser Koalition, ein
eklatantes Armutszeugnis.
Die Zahl, die diesen Haushalt prägt, ist die Nettokreditaufnahme in Höhe von 38,2 Milliarden Euro. Ich
will noch einmal darauf eingehen, weil diese Zahl - sie
müsste nicht so hoch sein - die Belastung angibt, die wir
den kommenden Generationen aufbürden. Die Nettokreditaufnahme in Höhe von 38 Milliarden Euro entspricht
ziemlich genau der Summe, die wir für die laufenden
Zinszahlungen ausgeben. Wenn wir die Kredite ausschließlich für die Zinszahlungen brauchen, dann sieht
man doch, dass wir mit der kompletten Summe Vergangenheitsbewältigung betreiben und überhaupt nichts für
die Zukunft bereithalten.
({8})
Deswegen kann ich nicht verstehen, dass die Regierungsfraktionen nicht angetreten sind, die Nettokreditaufnahme abzumildern. Wir Grünen haben nicht versprochen, sie wegzuputzen. Aber wir haben Vorschläge
gemacht, sie um 6 Milliarden Euro deutlich zu senken.
Was Sie machen, ist verantwortungslos gegenüber den
kommenden Generationen; denn Sie betreiben ausschließlich Vergangenheitsbewältigung.
Lieber Herr Schneider, Sie haben hier von Ihren politischen Zielen gesprochen, von konsolidierten Haushalten. Sie als haushaltspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion haben keinen einzigen Schritt in diese Richtung
vorgeschlagen. Auch das ist ein schwaches Bild nach
diesen Haushaltsberatungen.
({9})
Ich will deutlich machen, dass es gar nicht so schwer
gewesen wäre. Sie hatten doch so genannte WindfallProfits: Die Steuermehreinnahmen betrugen im Vergleich zum letzten Jahr 3,7 Milliarden Euro; im Mai dieses Jahres besagte die Steuerschätzung Mehreinnahmen
in Höhe von 1,4 Milliarden Euro. Kollege Schneider hat
in der Öffentlichkeit gesagt, diese Einnahmen würden
zur Reduzierung der Nettokreditaufnahme verwendet.
Nichts davon ist geblieben. Mit einem kraftlosen Akt haben Sie sie nur stabil gehalten. Sie haben für meine Begriffe sehr müde agiert.
({10})
Ich möchte noch weitergehen. Ich habe schon angedeutet, dass bisher noch kein Haushalt mit einer solch
hohen Nettokreditaufnahme vorgelegt worden ist. Man
könnte glatt die Losung ausgeben: Große Koalition
macht große Schulden. Ich will die Debatte noch vertiefen. Sie nehmen in Anspruch, eine neue Ehrlichkeit zu
pflegen. Es wurde schon erwähnt, man müsse sagen, was
Sache ist. Das sei wichtig, um Vertrauen zu gewinnen.
Ich muss Ihnen sagen, dass Ehrlichkeit kein Freibrief dafür ist, regungslos zu verharren. Man kann nicht sagen,
die Lage sei ernst, die öffentliche Verschuldung sei hoch
und wir hätten strukturelle Probleme und deshalb bringe
man nicht die Kraft auf, die Richtung anzugeben, die
eingeschlagen werden müsse, um die Schulden zu verringern. Eine Neuverschuldung in Höhe von 38 Milliarden Euro hat nichts mit Ehrlichkeit zu tun, sondern
sie ist Ausdruck der Behäbigkeit der großen Koalition,
die keine Alternativen aufzeigt. Ich komme gleich zu unseren Alternativen.
({11})
Ich will einen Punkt ansprechen, bevor ich zu den Alternativen komme, nämlich die Maastrichtkriterien.
Mit der Neuverschuldung von 38 Milliarden Euro besteht das Risiko, dass wir auch in diesem Jahr das
Maastrichtkriterium nicht einhalten, obwohl viele Experten sagen, dass das bei der wirtschaftlichen Entwicklung, die wir haben, im Jahre 2006 sehr wohl möglich
wäre. Die Vorgängerregierung hat in Verhandlungen viel
dazu beigetragen, dass der Stabilitätspakt reformiert
bzw. angepasst wurde. Das geschah ausdrücklich mit der
Ansage, konjunkturgerechter zu agieren. Das haben wir
Grüne mitgetragen. Ich kann die Kritik aus EU-Kreisen
verstehen. Viele reiben sich ein Jahr nach der Reform
des Stabilitätspaktes die Augen, weil in diesem Jahr
eine konjunkturelle Erholung zu verzeichnen ist, aber
wichtige Länder der Europäischen Union diese nicht genutzt haben, um weniger Schulden aufzunehmen. Leider
gehört auch Deutschland dazu. Aufgrund der besseren
wirtschaftlichen Bedingungen könnten wir die
Maastrichtkriterien in diesem Jahr einhalten. Nichts davon ist in der Planung der Regierung zu sehen. Sie stützt
sich auf ein „vielleicht“ und glückliche Wendungen,
setzt sich das aber nicht zum Ziel. Das halte ich für eine
Missdeutung der Reform des Stabilitätspaktes. Der einzige Grund, warum Deutschland nicht in der Kritik steht
und warum der Konsolidierungsplan in Deutschland gebilligt wird, ist die massive Mehrwertsteuererhöhung
zum nächsten Jahr. Das ist eine einseitige und falsche
Ausrichtung Ihrer Politik.
({12})
Ich möchte ganz kurz auf das Reizthema der Mehrwertsteuererhöhung eingehen. Was ist eigentlich das
Dramatische und das Schlimme an Ihrer Politik? Ich
glaube, das Schlimmste daran ist die Unordnung und das
Chaos. Was machen Sie 2006 und was machen Sie
2007? Sie argumentieren, Sie wollten im Jahr 2006 das
Wachstum unterstützen, und Sie legten ein Programm in
Höhe von 25 Milliarden Euro zur Stabilisierung der
Konjunktur auf. Sie machen viele Schulden unter Hinweis auf die Konjunktur und geben richtig Gas im
Jahr 2006. Im Jahr 2007 aber ziehen Sie voll die Handbremse an. Gasgeben bei voll angezogener Handbremse
führt dazu, dass es schon nach einigen Metern zum Himmel stinkt. So ist es auch mit Ihrer Politik.
({13})
Ich habe deutlich gemacht, dass die Mehrwertsteuererhöhung insbesondere deshalb ein Problem ist, weil die
Einnahmen ausschließlich zum Stopfen der Haushaltslöcher verwendet werden. Es ist ja nicht so, dass Sie mit
der Reform der sozialen Sicherungssysteme schon vorangekommen wären. Sie senken zwar die Beiträge zur
Arbeitslosenversicherung, indem Sie Steuermittel hineinstecken. Bei den Lohnnebenkosten veranstalten Sie
genau das gleiche Chaos wie bei der Mehrwertsteuer:
Gas geben und Vollbremsung gleichzeitig! Sie senken
die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, erhöhen aber
die Beiträge zur Rentenversicherung um 0,4 Prozent.
Ich komme auf die Gesundheitsreform zu sprechen.
In einem Punkt kann man sich ganz sicher sein: Weder
die Kanzlerin Merkel noch sonst irgendjemand in der
großen Koalition glaubt noch, dass eine Gesundheitsreform zum 1. Januar 2007 finanzwirksam wird und die
Beiträge gesenkt werden können. Genau das müssen Sie
aber schaffen, wenn Sie die Lohnnebenkosten senken
wollen.
({14})
Ab dem 1. Januar 2007 stehen die Krankenkassen unter
Druck, ihre Beiträge um 0,5 Prozent, konservativ gerechnet, bis 1 Prozent zu steigern. Trotzdem vertagen Sie
Ihre Einigung über die Eckpunkte der Gesundheitsreform ständig von dem einen Wochenende auf das
nächste.
Die Bevölkerung ahnt schon, dass es nicht klappen
wird. Die Lohnnebenkosten werden nicht unter 40 Prozent sinken. Mit Sicherheit werden wir aber eine um
3 Prozentpunkte höhere Mehrwertsteuer zahlen. Diese
Konjunkturbremse kann das Land nicht gebrauchen. Daran sieht man einmal wieder: Die große Koalition macht
nicht nur große Schulden, sondern verursacht langfristig
auch große Probleme auf dem Arbeitsmarkt.
({15})
Ich komme jetzt zu den Alternativen. Wir Grünen
haben uns natürlich dem Anspruch gestellt, die Regierung nicht nur zu kritisieren, sondern ein Szenario aufzuzeigen, wie man es besser machen könnte.
({16})
Der Kollege Schneider hat gesagt, dass sich niemand
vom Acker machen darf. Dazu gehört, dass man beim
Haushalt Veränderungen vorschlägt. Das haben Sie nicht
gemacht.
({17})
Wir haben zwar kein Buch gebunden, wie es die FDP getan hat, aber wir haben 400 Änderungsvorschläge gemacht.
Wir haben drei Ziele verfolgt:
Erstens. Weniger Schulden machen. Das habe ich
schon begründet. Weniger Schulden kann man insbesondere dadurch machen, dass man beim Subventionsabbau konsequenter vorgeht. Im Rahmen der Beratungen
über das Haushaltsbegleitgesetz haben wir Maßnahmen
vorgeschlagen, die die Steuereinnahmen um 1,4 Milliarden Euro erhöhen. Bei dem schönen Thema Kohlesubventionen gibt es Verbesserungsmöglichkeiten. Die
Kohlesubvention ist keine heilige Kuh.
({18})
Sie entwickelt sich bereits heute degressiv. Ein vollständiger Abbau ist aber immer noch nicht geplant. Fragen
Sie einmal Experten aus der Wirtschaft. Keiner würde
Ihnen sagen, eine Dauersubventionierung der Kohle ist
eine vernünftige Maßnahme. Das muss auch die SPD
einmal zur Kenntnis nehmen.
({19})
Wir schlagen einen Subventionsabbau in Höhe von
insgesamt 2 Milliarden Euro vor. Wir haben keine Fabelzahlen errechnet. Wir haben eine Summe von 2 Milliarden Euro errechnet, die in den nächsten Jahren auf
5 Milliarden Euro anwächst.
Wir schlagen Ausgabenkürzungen in Höhe von
2,3 Milliarden Euro vor. Diese Summe können wir einsparen. Ich befinde mich in guter Gesellschaft, wenn ich
diese Zahl nenne. Das ist eine realistische Größe. Auch
der Präsident des Bundesrechnungshofs hat in der Diskussion über das Haushaltsbegleitgesetz gesagt: Man
kann den Haushalt nicht nur über Ausgabenkürzungen
ausgleichen; auch Einnahmesteigerungen gehören dazu.
Dem stimmen wir zu. Aber man kann durchaus Ausgabenkürzungen in Höhe von rund 2 Milliarden Euro jährlich vornehmen.
Subventionsabbau plus Ausgabenkürzungen plus zusätzliche Steuereinnahmen, die in der Steuerschätzung
im Mai errechnet wurden, bieten eine Möglichkeit zur
Konsolidierung dieses Haushaltes in Höhe von knapp
6 Milliarden Euro. Wir lägen dann bei der Neuverschuldung unter 33 Milliarden Euro. Damit würden wir die
Maastrichtkriterien einhalten.
Ich frage die große Koalition: Warum machen Sie das
nicht? Warum bringen Sie die Kraft nicht auf? Wenn Sie
von einer Konsolidierungsstrategie reden und für sich in
Anspruch nehmen wollen, zu konsolidieren, dann hätten
Sie auf diesem Weg wenigstens ein Stück weit mitgehen
müssen. Sie haben nicht eine einzige Maßnahme vorgeschlagen, die in diese Richtung zielt. Deswegen spreche
ich Ihnen einen Willen zur Konsolidierung des Haushaltes ab. Sie zeigen an dieser Stelle keine Verantwortung
gegenüber den zukünftigen Generationen. Auch wenn
Sie dieses Thema immer im Munde führen, Sie handeln
nicht entsprechend.
({20})
Ich möchte meine Ausführungen mit einigen Beispielen unsinniger Maßnahmen garnieren. Die rot-grüne Regierung hat - das wurde damals kritisiert - den Umzug
des BND von Pullach nach Berlin geplant. Es ist eine
sehr kostspielige Angelegenheit, wenn der Nachrichtendienst umzieht. Wir Grüne - damals im Übrigen sogar
interfraktionell mit der CDU/CSU noch in der Opposition und auch mit der FDP - waren sehr skeptisch, ob
das nicht eine Maßnahme sei, die man noch aufschieben
müsse, ob die Planung überhaupt schon so weit gediehen
sei. Was macht die große Koalition aus dem geplanten
Umzug des Nachrichtendienstes von Pullach nach Berlin, der erwiesenermaßen über 1 Milliarde Euro kosten
wird? Sie macht daraus eine Doppelbelastung für alle
Bürgerinnen und Bürger. Der Umzug nach Berlin soll
stattfinden, obgleich teuer; aber damit die CSU auch
mitmacht, bleibt ein großer Teil des BND dann doch in
Pullach. Das bedeutet eine Neubelastung in Höhe eines
dreistelligen Millionenbetrages.
({21})
Man muss wirklich sagen: Die Lösung und die Einigung
der großen Koalition zum inneren Frieden hinsichtlich
des BND-Umzuges ist inhaltlich unsinnig und eine teure
Hypothek für die Bürgerinnen und Bürger. Wir haben
vorgeschlagen, davon Abstand zu nehmen. Auch dazu
hatten Sie nicht die Kraft. Das ist ein schönes Beispiel
für den Unsegen, den Ihre Politik für das Land bedeutet.
({22})
Zweites Beispiel: die SPD-Fraktion. Wie sehr haben
wir in der vergangenen Legislaturperiode darauf geachtet, dass die Integrationsmittel nicht gekürzt werden!
Das war schon immer eine schwierige Übung, da der Innenminister zu SPD-Zeiten hinsichtlich der Integrationsmittel sehr bescheiden war. Was haben wir gemacht?
Wir haben in den Haushaltsberatungen dafür gesorgt,
dass die Mittel auf einem vernünftigen Niveau geblieben
sind. Sie haben nun zugelassen, dass diese Mittel um
30 Prozent gekürzt werden. Das ist angesichts der Zielsetzung des geplanten Integrationsgipfels ein Armutszeugnis. Auch das zeigt: Die SPD-Fraktion hat keine
Kraft für Maßnahmen, die sie eigentlich für richtig hält.
({23})
Ich komme zum Schluss. Das Maastrichtkriterium
wird dieses Jahr vielleicht erreicht. Ehrgeiz hat die große
Koalition nicht. Sie sagen: Das Maastrichtkriterium wird
in 2007 erreicht; denn da haben wir ja die Mehrwertsteuererhöhung. Aber in der jetzigen Finanzplanung gibt es
insgesamt keine Sicht auf Besserung. Trotz der massiven
Steuererhöhungen im satten zweistelligen MilliardenbeAnja Hajduk
reich ist nicht in Sicht, die Nettokreditaufnahme zu senken. Mit großer Sorge sehe ich auf das Jahr 2007. Denn
ich glaube, dass die wirtschaftliche Belebung durch die
Mehrwertsteuererhöhung kaputtgemacht wird.
Man kann eigentlich nur ein Fazit ziehen: Die große
Koalition hat die haushaltspolitischen Risiken nicht entschärft. Sie hat sie auf die Zukunft verlagert.
({24})
Das ist verantwortungslos gegenüber der jungen Generation. Die große Koalition mit ihrer übergroßen Mehrheit
ist - das wissen wir seit acht Monaten und das spüren
auch die Bürgerinnen und Bürger, deren Zustimmung
sinkt - gemessen an ihren Taten nichts weiter als ein
kleinmütiger Verein. Das ist die traurige Wahrheit.
({25})
Das Wort hat nun der Bundesminister der Finanzen,
Peer Steinbrück.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Mir ist an einer eher grundsätzlichen Vorbemerkung gelegen, ehe ich auf einige Hinweise und Argumente eingehe.
Ich möchte gern eine Bemerkung zu der Debatte in
der Bundesrepublik Deutschland machen, die ich im Augenblick als ziemlich schrill empfinde und die gelegentlich auch aus unseren Reihen befeuert wird. Das ist die
Debatte - das ist vornehm ausgedrückt; denn in vielen
Fällen ist es gar keine Debatte - über die aktuelle und
die künftige Rolle des Staates und seiner Finanzierung. Man kann darüber sehr engagiert diskutieren. Man
kann den Staat in seinem Ausgabeverhalten kritisieren.
Man muss den Staat in seinem Ausgabeverhalten kritisieren, insbesondere in der Funktion als Opposition. Das
hat es immer gegeben und das wird es auch in Zukunft
geben.
Aber mir ist daran gelegen, darauf hinzuweisen, dass
von manchen Absendern inzwischen Vorwürfe und auch
Polemiken gegen den Staat sowie gegen seine Repräsentanten in Ämtern und Mandaten gerichtet werden, die,
wie ich finde, eine neue Qualität haben und in meinen
Augen gelegentlich jene Linie überschreiten, an deren
Einhaltung auch diesen Kritikern gelegen sein sollte,
weil deren Überschreitung sich auf die demokratische
Substanz unseres Gemeinwesens auswirken könnte. Der
Staat wird als Moloch verteufelt, als jemand, der sich auf
Kosten der Steuerzahler bereichert und immer fetter
wird. Dies korrespondiert angeblich mit Sozialabbau.
Das ist definitiv nicht der Fall.
({0})
- Entschuldigen Sie bitte, mit 70 Cent von jedem Euro
Steuern, den wir einnehmen, betreiben wir Sozialpolitik.
Wer angesichts dessen davon redet, dass wir Sozialabbau
betreiben, der hat eine ziemlich schiefe Optik.
({1})
Gelegentlich wird - nicht nur auf dem Boulevard der Popanz, ja sogar das Feindbild eines geradezu irrsinnigen Steuerstaates aufgebaut, der von den Bürgerinnen
und Bürgern mit geballter Faust gestoppt werden müsse.
Ich denke, es ist - auch was unsere politische Selbstachtung betrifft - wichtig, darauf hinzuweisen, dass eine
solche Debatte für unser demokratisches Gemeinwesen
kein positiver Beitrag ist.
Tatsächlich ist es so, dass die Staatsquote in Deutschland sinkt. Unsere Steuerquote ist im europäischen Vergleich eher unterdurchschnittlich. Ich gebe zu: Die anstehenden Entscheidungen werden zur Folge haben, dass
sie ungefähr das durchschnittliche Niveau der Mitgliedstaaten der Europäischen Union erreicht. Auch die
Staatsausgaben stagnieren; auf die verzerrenden Hinweise mit Blick auf die Nettokreditaufnahme komme ich
noch zu sprechen. Die gegenwärtige Entwicklung widerspricht also dem, was als Schimäre aufgebaut bzw. zumindest als Vorurteil geäußert wird.
Das hat Konsequenzen für die Bürgerinnen und Bürger. Sie alle haben den Eindruck, als würden wir verantwortungslos mit Geld um uns werfen bzw. als würden
wir das Geld aus dem Fenster werfen. Tatsächlich aber
stagnieren die öffentlichen Ausgaben, und zwar auf den
verschiedenen Ebenen der Gebietskörperschaften.
({2})
Ich lasse mich gerne auf eine kritische Debatte darüber ein, ob wir das Geld zielgerichtet genug ausgeben
und ob es effektiv eingesetzt wird. Aber angesichts der
Bilder, die teilweise verbreitet werden, möchte ich in
dieser Haushaltsdebatte ein etwas anderes Bild zeichnen.
({3})
Man muss sich vor Augen halten, dass auch von seriöseren Stellen - ich rede jetzt nicht vom Boulevard behauptet wird, der Staat sei gefräßig, bereichere sich,
arbeite für sein eigenes Konto - welches Konto auch immer das sein soll - und habe sich auf das Kassieren statt
auf das Reformieren verlegt. Mancher, Herr Koppelin,
erliegt dann der Versuchung, sogar im Rahmen dieser
Debatte um des kurzfristigen rhetorischen Effektes willen Bilder vom „Kartell der Abkassierer“ zu zeichnen.
Das korrespondiert nicht mit der Selbstachtung, die die
politische Klasse eigentlich haben sollte.
({4})
- Dann bezeichnen Sie es anders. Herr Westerwelle, regen Sie sich nicht über den Begriff auf, sondern über den
Sachverhalt, den ich vermittle.
({5})
Es gibt einen verbreiteten Reflex gegen das Staatliche, der gelegentlich jedes Augenmaß und oft auch jedes
Niveau vermissen lässt. Tatsächlich ist es so, dass die
Bürgerinnen und Bürger dieses Landes einen handlungsfähigen Staat brauchen. Eine 80-MillionenGesellschaft wie unsere ist auf intakte und politisch legitimierte Einrichtungen, die Spielregeln erlassen, angewiesen; sonst würden wir im Chaos landen. Wir brauchen den Staat, weil er für seine Bürger Leistungen
vielfältiger Art erbringt.
Das fängt schon morgens an, wenn sie zur Arbeit fahren und dabei den öffentlichen Nahverkehr bzw. den
Schienenpersonennahverkehr in Anspruch nehmen. Das
setzt sich fort, wenn sie ihre Kinder in Kindergärten oder
Schulen schicken wollen. Die Bürger wollen, dass Hochschulen vorgehalten werden. Sie wollen, dass Polizisten
bezahlt werden. Gelegentlich wollen sie vielleicht auch
ein subventioniertes Theater besuchen. Sie wollen, dass
öffentliche Sicherheit gewährleistet wird. Sie wollen
kommunale Daseinsvorsorge. Sie brauchen Ver- und
Entsorgung. Sie möchten, dass die Bundesrepublik
Deutschland, auch im Außenverhältnis, gesichert ist. Sie
möchten, dass Sportförderung betrieben wird. Und sie
möchten, dass Kulturförderung betrieben wird. Das
muss finanziert werden - oder wir müssen Abstriche machen.
({6})
Wenn jemand, der zum Beispiel eine andere Auffassung zur Mehrwertsteuererhöhung hat, der Regierung
vor das Schienbein treten will, ist das nachvollziehbar.
Die Regierung und die Koalition werden das verschmerzen müssen. Das ist eine demokratische Spielregel. Aber
die Vermischung von Politikschelte und Staatskritik ist
unredlich. Ich füge hinzu: Sie ist auch gefährlich. Jeder
muss die aktuelle Politik und die Mitglieder der Bundesregierung kritisieren dürfen. Aber dazu muss man kein
Zerrbild unseres Staates zeichnen und die Bürger nicht
gegen den Staat in Stellung bringen.
({7})
Abschließend zur Frage: Wer ist der Staat? Es wird
immer der Eindruck erweckt, als bestünde der Staat aus
irgendwelchen Leuten „da oben“ und als sei das eine
sich bereichernde und unfähige Politikerkaste. Dem leisten wir sogar Vorschub, auch durch wechselseitige Vorwürfe, die gelegentlich über das erträgliche Maß hinausgehen.
Ich möchte betonen: Wir alle sind der Staat. Durch
Wahlakte haben die Bürgerinnen und Bürger die Ausübung staatlicher Gewalt für eine begrenzte Zeit delegiert und demokratisch legitimiert. Dennoch besteht der
Staat aus uns allen. Wenn wir also über das Ausgabeverhalten des Staates reden, reden wir auch über unser Verhalten und unsere Erwartungen. Teilweise sind die
Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an die Bereitstellung staatlicher Leistungen gewachsen. Es liegt also
nicht nur an den verrückt gewordenen Politikern, dass
uns gelegentlich manches aus dem Ruder gelaufen ist,
sondern das hat auch etwas mit nicht mehr zu bedienenden, weil nicht mehr zu finanzierenden Erwartungen der
Bürger an die Bereitstellung kommunaler bzw. staatlicher Leistungen zu tun.
Ich hielt und halte es für wichtig, diesen relativ
schlichten Tatbestand an den Anfang meiner Rede zu
stellen.
Herr Koppelin, ich war über Ihre Rede, gelinde gesagt, nicht überrascht: Ich habe sie jetzt zum dritten oder
vierten Mal gehört. Ich frage mich, ob wir nicht originellere Beiträge, auch im Wechselspiel, machen können.
({8})
Welchen Sinn hat es, sich gelegentlich über Sachverhalte auszutauschen, wenn dies auf die politische Debatte absolut wirkungslos bleibt? Frau Hajduk, ich habe
Ihnen die Entwicklung der Nettokreditaufnahme auf
das Niveau von 38 Milliarden Euro im Ausschuss und
auch hier im Plenum zwei- oder dreimal erklärt - mindestens!
({9})
- Entschuldigen Sie, wenn ich das sage: Das spielt bei
Ihnen keine Rolle. Ich habe Ihnen gesagt, dass die Nettokreditaufnahme im Wesentlichen dadurch geprägt ist,
dass wir inzwischen ein Wachstums- und Investitionsprogramm, ein Impulsprogramm,
({10})
verabschiedet haben und bereit sind, dafür mehr Geld in
die Hand zu nehmen; das war die erste Komponente. Die
zweite Komponente, die ich hier mehrmals erklärt habe,
ist, dass wir von der Koalition die Einmaleffekte über
die Zeitachse dieser Legislaturperiode, wie ich finde,
sehr vernünftig verteilt haben.
({11})
Die dritte Komponente sind Mehrkosten mit Blick auf
Hartz IV. Das sind die drei Komponenten, wegen deren
wir auf das Niveau von 38 Milliarden Euro kommen.
({12})
Herr Koppelin, Sie reden wiederholt davon, der Bundeshaushalt sei verfassungswidrig. Das tun Sie, weil Sie
diese Aussage in der Zeitung wieder finden wollen.
({13})
- Es stimmt nicht. Sie sind zwar Jurist, Herr
Westerwelle, aber ich muss doch Zweifel haben, ob Sie
die Verfassung richtig interpretieren.
({14})
Wir überschreiten die Regelgrenze des Art. 115. Aber
das ist keineswegs verfassungswidrig. Doch Sie arguBundesminister Peer Steinbrück
mentieren genau so, weil Sie gerne eine Zeitungsüberschrift „FDP hält den Bundeshaushalt für verfassungswidrig“ hätten.
({15})
Mit Blick auf die Mehrwertsteuererhöhung war ich
eher erstaunt, dass Sie nicht ganz so viele Zitate gebracht
haben wie Herr Westerwelle in den letzten Debatten. Er
war auch etwas aufgeregter in der Gestik; auch das erleben wir das vierte oder fünfte Mal.
({16})
- Auch sehr laut.
Ich stelle jetzt einmal die Gegenthese in den Raum.
({17})
Die Gegenthese lautet: Herr Westerwelle, wenn Sie tatsächlich dort gelandet wären, wo Sie gerne gelandet wären, nämlich in der Regierung, dann hätten Sie die Mehrwertsteuererhöhung mitgemacht.
({18})
Ja, Sie hätten sie mitgemacht!
Sie haben im Mai des Jahres 2005 dem ZDF ein, wie
ich finde, ganz interessantes Interview gegeben. Ich zitiere aus der Zusammenfassung: Auf die Frage, ob er,
Herr Westerwelle, seine Unterschrift unter einen Koalitionsvertrag setzen würde, der eine Erhöhung der Mehrwertsteuer vorsehe, antwortete Westerwelle, er werde
nicht apodiktisch sagen: Niemals, nimmer, auf gar keinen Fall und nur über meine Leiche.
({19})
Was Sie uns vorhalten, auch mit Blick auf die richtige
Beschreibung der Position vor und nach der Wahl, das
ist so vorgetragen, als ob Sie sich in denselben Zwängen
befänden wie diese Koalition. Unter der Notwendigkeit,
in einer Regierung Verantwortung zu übernehmen, hätten Sie diese Mehrwertsteuererhöhung genauso vorgenommen wie wir in dieser großen Koalition; insofern ist
vieles an Ihren Vorwürfen bigott.
({20})
Herr Minister, darf der Kollege Westerwelle Ihnen
eine Frage stellen?
Bitte sehr.
Herr Minister, zunächst einmal will ich darauf aufmerksam machen, dass Sie bei diesem richtigen Zitat eines weglassen, nämlich die klare Aussage meiner Person
in diesem Interview - wie übrigens auch in vielen anderen Interviews -, dass wir Freie Demokraten aus volkswirtschaftlichen Gründen strikt gegen eine Mehrwertsteuererhöhung sind. Ich darf Sie daran erinnern, dass
Sie selbst als Sozialdemokrat überhaupt nur auf dieser
Das haben Sie mir jetzt schon ein paar Mal gesagt;
das ist doch nichts Neues.
({0})
- Wiederholung, Wiederholung; so etwas haben Sie in
jeder Rede gesagt.
Herr Präsident, könnten Sie dem Minister sagen, dass
eine Zwischenfrage aus einer Frage und einer Antwort
besteht?
({0})
Es wäre gut, wenn möglichst bald die Frage käme, damit auch möglichst bald die Antwort erfolgen kann.
({0})
Das ist natürlich wahr; ich danke Ihnen, Herr Präsident, dass Sie mir das noch einmal klar gemacht haben.
Herr Minister, ich möchte Sie fragen: Sind Sie bereit,
das ganze Zitat wiederzugeben? Und wie können Sie erklären, dass Sie mir heute eine Ansicht vorwerfen, die
Sie selbst im Wahlkampf so oft vertreten haben? Sie waren doch selbst gegen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer
und sitzen auf dieser Regierungsbank doch nur, weil Sie
gegen die Mehrwertsteuererhöhung Wahlkampf gemacht
haben. Darf ich Sie daran erinnern, dass meine Partei
hätte regieren können, wenn wir bereit gewesen wären,
Ihrer Einladung zu folgen und all die Wahlversprechen
zu brechen,
({0})
die wir gegeben haben, wozu wir, anders als Sie, nicht
bereit gewesen sind?
({1})
Herr Präsident, ich muss zugeben, dass ich die Frage
nach diesem längeren Beitrag von Herrn Westerwelle
leider vergessen habe.
Ich habe gar keine Mühe damit, zuzugeben, dass ich
eine Position im Bundestagswahlkampf gehabt habe.
Das tue ich sofort und das habe ich auch in der letzten
Sitzung des Bundesrates getan. Ich habe auch zugegeben, dass eine Mehrwertsteuererhöhung konjunktur3492
dämpfend bzw. konjunkturschädlich ist. Die Frage ist
nur, wie das in der Abwägung mit anderen relativen
Nachteilen aussieht.
({0})
Ich komme dabei zu dem Ergebnis, dass diese Mehrwertsteuererhöhung unter den obwaltenden Bedingungen das weniger Schädliche ist. Das ist das Ergebnis unserer Abwägung.
Bezogen auf mich habe ich Ihnen nichts vorgehalten.
Ich halte Ihnen nur vor, dass Sie hier in mehreren Reden
und auch heute wieder sehr redundant einen bestimmten
Eindruck vermittelt haben, wobei ich mir ziemlich sicher
bin, dass Sie genau so wie wir entschieden hätten, wenn
Sie dort auf der Regierungsbank sitzen würden. Das ist
mein Vorwurf an Sie.
({1})
Der erste Teil des Zitats, den Sie ja nicht für falsch erklärt haben - den zweiten Teil besorge ich mir gerne -,
gibt Nahrung und Perspektive für die Annahme, dass Sie
sich so wie wir eingelassen hätten. Darauf will ich vor
dem Hintergrund Ihrer wiederholten Darstellung bis hin
zu dieser Fragestellung hinaus.
Meine Damen und Herren, diese Lesung eines Haushaltes ist die erste seit sehr langer Zeit, die mitten in einem stabilen Konjunkturaufschwung stattfindet. Das
ist anders als in den vergangenen Jahren. Die Stimmung
in der deutschen Wirtschaft ist so gut wie seit 16 Jahren
nicht mehr. Das sagen mehrere Protagonisten, insbesondere auch der DIHK. Die zentralen konjunkturellen
Kennziffern, der Ifo-Geschäftsklimaindex und der Konsumklimaindex, die Zahlen für die Gesamterzeugung
des produzierenden Gewerbes, die Ausrüstungsinvestitionen und die Auftragseingänge sowie der Export haben
seit Monaten eine klare Tendenz nach oben mit anhaltend positiven Prognosen.
Ich will nicht missverstanden werden und schon gar
nicht behaupten, dass die Politik der Bundesregierung
diese positive Entwicklung ausgelöst hat.
({2})
Das war nie unser Anspruch. Wir nehmen den Mund hier
nicht zu voll; aber ich nehme für die Bundesregierung
und für die große Koalition in Anspruch, dass wir einen
wichtigen Beitrag dazu leisten, dass das so ist. Das sage
ich mit dem gebotenen Selbstbewusstsein.
({3})
Es zeigt sich zunehmend, dass die von uns vertretene
Doppelstrategie für den Haushalt 2006 und 2007 richtig
ist, nämlich in 2006 alles zu tun, um die Konjunktur zu
unterstützen, und alles zu unterlassen, was den konjunkturellen Verlauf auf der Einnahme- und der Ausgabenseite beschädigen oder eintrüben könnte, um 2007 einen
konsolidierten Haushalt und eine in der Tendenz weiter
konsolidierende mittelfristige Finanzplanung vorzulegen. Das heißt, in der Logik der Politik der Bundesregierung gehört beides zusammen, weshalb ich häufig von
der doppelten Tonlage spreche, nämlich auf der einen
Seite Wachstum und Impulse zu geben - nicht zuletzt
durch ein Programm von 25 Milliarden Euro, das durch
die Länder um weitere 12 Milliarden Euro und durch die
dadurch ausgelösten privaten Investitionen ergänzt wird,
sodass wir über mehr als nur über die 37 Milliarden Euro
reden, die staatlich in Gang gesetzt wurden - und auf der
anderen Seite eine notwendige Konsolidierung zu erreichen.
Frau Hajduk, bezogen auf Ihre Einlassung bin ich erstaunt. Sie sagten, wir könnten im Jahre 2006 das
Maastrichtkriterium von unter 3 Prozent erreichen,
und Sie fragten, warum die Bundesregierung das nicht
anstrebe. Die Antwort lautet: Ja, am Ende dieses Jahres
könnten wir dieses Maastrichtkriterium von unter
3 Prozent erreichen. Aber wenn sich die Bundesregierung dies zum Ziel gesetzt hätte, dann hätte sie bei der
Haushaltsverabschiedung im Februar korrespondierende Maßnahmen nach Brüssel berichten müssen.
({4})
Diese hätten wir auch ergreifen müssen. Unsere unterschiedliche Einschätzung besteht darin: Dadurch wäre
das Kriterium verletzt worden, die Konjunktur nicht einzutrüben.
({5})
Das ist ein ganz unterschiedlicher inhaltlicher Ansatz.
Den kann man bewerten, aber bitte nicht mit Unterstellungen gegenüber der Bundesregierung arbeiten. Das ist
ausgesprochen vorsätzlich. Ich halte die Politik dieser
Bundesregierung für das Jahr 2006 für absolut richtig.
Die große Koalition kann für sich in Anspruch nehmen, dass wir niemandem etwas vormachen.
({6})
Wir haben eine realistische Bestandsaufnahme gemacht
und wir rechnen sehr konservativ bezüglich dessen, was
auf uns zukommt. Wir rechnen uns nicht gesund und wir
rechnen nicht zweckoptimistisch. Es kann sein, dass die
Bundesregierung am Ende dieses Jahres wirtschaftliche
Kennziffern - auch Haushaltskennziffern - vertreten
kann, die besser sind als heute. Ich würde mich darüber
freuen, weil die Bundesregierung dem Publikum dann
zum ersten Mal seit langem sagen könnte, dass sie sich
zugunsten der Konjunktur, des Wachstums, der Beschäftigung und des Haushalts geirrt hat, was sehr vertrauensbildend wäre.
An dieser Stelle möchte ich den Kolleginnen und
Kollegen aus den Koalitionsfraktionen sehr herzlich
danken, die das parlamentarische Verfahren sehr engagiert, kritisch und konstruktiv gestaltet haben. Sie haben bereits im Februar 2006 ein solides haushaltspolitisches Fundament gelegt. Die Änderungen gegenüber
dem Regierungsentwurf sprechen für den Ehrgeiz dieser
Koalition, Gutes besser zu machen und selbst gesteckte
Ziele sogar noch zu überbieten. Die Beispiele sind Ihnen
geläufig: Die Nettokreditaufnahme wird um 110 Millionen Euro geringer ausfallen. Der moderate Ausgabenkurs wird fortgesetzt. Die globalen Minderausgaben
werden um nicht weniger als fast ein Drittel weiter reduziert; das sind immerhin 500 Millionen Euro. Ich freue
mich, dass wir damit unsere Konsolidierungsziele noch
stärker übertroffen haben, als es in dem Regierungsentwurf festgehalten war. Herzlichen Dank dafür!
Ich möchte auch bestätigen, dass die Koalitionsfraktionen einem möglichen Vorurteil begegnet sind, nämlich dass eine so große Mehrheit eher zu Bequemlichkeit, vielleicht auch zu Überbietungswettbewerb und zu
Selbstzufriedenheit neigen könnte. Das tut sie nicht. Damit hat diese große Koalition ein wichtiges Signal gesetzt.
Sie hat sich den Realitäten gestellt. Das kann ich von
den Vorschlägen der Opposition nicht behaupten.
({7})
- Ich gehe auf einiges ein. Die FDP hat Vorschläge mit
einem Einsparvolumen von 9,4 Milliarden Euro gemacht, die Grünen - helfen Sie mir, Frau Hajduk - fordern Einsparungen von 6 Milliarden Euro; da bin ich mir
nicht ganz sicher.
({8})
- Gut, wie auch immer. Die Linkspartei möchte gerne
1 Milliarde Euro draufsatteln. Sie möchte also den
Schuldenstand in der Bundesrepublik Deutschland noch
weiter erhöhen. Aber das ist Utopia 2006.
({9})
Ihren Ehrgeiz, noch mehr einzusparen, liebe Kollegen
von der FDP und den Grünen, in allen Ehren, aber es
muss auch realistisch sein. Mehrere Redner der Koalition haben bereits darauf hingewiesen: Was Sie vorlegen, ist nicht realistisch. Ich muss nicht wiederholen,
was Sie hinsichtlich des Verteidigungsetats vorschlagen:
Die FDP will 1,1 Milliarden Euro, die Grünen wollen
fast 500 Millionen Euro und die Linkspartei will sogar
2,6 Milliarden Euro einsparen. Dies ist auch vor dem
Hintergrund der internationalen Verpflichtungen der
Bundesrepublik Deutschland und mit Blick auf die Konsequenzen für die Soldaten und Soldatinnen, aber auch
in Bezug auf Verträge mit Erfüllungsansprüchen, die wir
nicht so einfach kündigen können, nicht zu realisieren.
Dasselbe gilt für Ihre Vorschläge, die Wohnungsbauprämien und die Beiträge für nationale und internationale
Organisationen zu kürzen, sowie diverse andere Punkte.
({10})
Sie sind schlicht und einfach nicht realitätsfest, sondern
irrational.
Herr Minister, würden Sie eine weitere Zusatzfrage
des Kollegen Dr. Dehm zulassen?
Nein, ich habe nur noch sehr wenig Redezeit. Außerdem bin ich jetzt ganz gut in Schwung.
({0})
Deswegen möchte ich gerne weitermachen.
({1})
Dasselbe gilt auch für die Arbeitsmarktpolitik. Hier
4 Milliarden Euro einzusparen, wie es, glaube ich, die
FDP vorschlägt - sie ist einer der Lieblingsgegner der
Langzeitarbeitslosen -, hieße, die aktive Arbeitsmarktpolitik massiv zu kürzen. Das ist völlig irrational.
Ähnliches gilt für Forderungen nach Kürzungen bei
den Kohlesubventionen. Hier möchte ich in keine
Grundsatzdebatte einsteigen. Vielmehr möchte ich
schlicht und einfach darauf hinweisen, dass die FDP,
ausgestattet mit juristischem Sachverstand, darüber hinweggeht, dass es bindende Zuwendungsbescheide in der
Perspektive bis 2008 gibt. Sie aber machen Vorschläge
für 2006. Irgendjemand in Ihren Reihen müsste Ihnen
doch sagen, dass Rechtsansprüche entstanden sind und
dass das, was Sie vorschlagen, jenseits einer Grundsatzdebatte über die Kohle, nicht zu erreichen ist. Etwas umgangssprachlicher formuliert und hoffentlich ohne eine
Intervention des Herrn Bundestagspräsidenten nach sich
zu ziehen: Das, was Sie vorgelegt haben, ist schlichter
Unsinn!
({2})
Dasselbe lässt sich bei den Vorschlägen der Grünen
und auch der Linkspartei nachweisen. Ich will nur zwei
Beispiele nennen. Das erste Beispiel ist die Rückzahlung
von Zuschüssen für den Steinkohleabsatz, den die Grünen wegen gestiegener Weltmarktpreise fordern. Hierzu
gibt es nicht einmal eine abgeschlossene Abrechnung.
Wie können Sie dann so etwas fordern?
({3})
- Entschuldigen Sie bitte, aber wir müssen die normale
Reihenfolge einhalten. Das, was Sie in die Welt setzen,
ist populistisch.
Das zweite Beispiel: Die Linkspartei will höhere Einnahmen von 1,25 Milliarden Euro aus dem Mautschiedsgerichtsverfahren in den Haushalt einstellen.
Das klingt fantastisch, hat aber einen Pferdefuß: In diesem Jahr ist in dieser Auseinandersetzung überhaupt
kein Urteil zu erwarten. Wie können Sie dann
1,25 Milliarden Euro einstellen wollen?
Keiner der Vorschläge von der FDP, den Grünen und
der Linkspartei sowieso nicht würde das Problem des
verfassungswidrigen Haushalts lösen, den uns Herr
Koppelin vorwirft. Auch Ihre Vorschläge würden dazu
führen, dass nach Ihrer Interpretation der Haushalt verfassungswidrig wäre.
({4})
Ich finde es faszinierend: Sie stellen sich hier hin und
kritisieren die Bundesregierung dafür, dass sie einen verfassungswidrigen Haushalt vorlegt. Aber sehr schnell
kommt man zu dem Ergebnis, dass Sie ebenfalls die Regelgrenze nach Art. 115 des Grundgesetzes verletzen
würden. Diese Logik ist faszinierend.
({5})
Noch eine Zwischenbemerkung, Herr Koppelin.
Wenn man einmal einen Weg eingeschlagen und seinen
Stil gefunden hat, dann sollte man dabei bleiben. Das
heißt, wenn Sie mir und der Bundesregierung vorwerfen,
wir würden Gammelfleisch verteilen, dann sollten Sie
dem Hersteller nicht anschließend die Hand reichen wollen. Das passt nicht zusammen.
({6})
Es gibt nur zwei Erklärungen dafür, dass Sie solche
Vorschläge machen, die erkennbar nicht realitätsfest
sind. Die erste lautet: Sie wissen es nicht besser. Aber in
Wertschätzung Ihrer intellektuellen Kapazitäten weise
ich das mit dem Ausdruck des Abscheus und der Empörung zurück. Die zweite lautet: Sie wissen es besser, aber
Sie stellen sich ahnungslos. Damit haben Sie sich allerdings ein Armutszeugnis ausgestellt. Ich kann mit diesen
Vorschlägen nichts anfangen.
Erlauben Sie mir zum Schluss einige Bemerkungen
zum Haushaltsbegleitgesetz. Ich bin dem Bundesrat
dankbar, dass er dem Gesetz am vergangenen Freitag zugestimmt hat. Damit wird ein Kernbestandteil unserer
Strategie zur Konsolidierung der Haushalte - ich rede
von den öffentlichen Haushalten insgesamt - herbeigeführt. Ich erinnere daran, dass dies nicht nur mit Blick
auf den Bundeshaushalt nötig ist. Es gibt sieben oder
acht Länder, die im Aufstellungsverfahren die Regelgrenze ihrer Verfassungen verletzen. Die wenigen
Länder, die das Haushaltsbegleitgesetz im Bundesrat abgelehnt haben, haben das in einer Haltung der hoffnungsvollen Verweigerung - nach dem Motto „Hoffentlich stimmen die anderen zu“ - getan.
({7})
Das stimmt leider insbesondere für das Bundesland, in
dem ich zu Hause bin und für das ich längere Zeit Verantwortung gehabt habe.
({8})
- Nicht mehr. Damit habe ich keine Mühe.
Ich will an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass
für die Bundesregierung - ich sage das gezielt wegen
mancher Pressespekulationen, die offenbar immer aufs
Wochenende fallen - die beiden Ziele für 2007 und die
Folgejahre, die Regelgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes einzuhalten und das Maastrichtverfahren zu bestreiten, sodass wir wieder von den Auflagen entlastet
werden, für uns von konstitutiver Bedeutung sind. An
diesen Zielen wird nicht gewackelt. Glauben Sie nicht
den Zeitungsartikeln; glauben Sie mir!
({9})
Es liegen schwere Brocken vor uns. Deshalb ist es
kein Widerspruch, Herr Koppelin, über Risiken zu reden
und trotzdem nach bestem Wissen und Gewissen Haushalts- und Finanzpolitik zu betreiben. Wir sind von Risiken umzingelt, um dieses Verb aufzugreifen. Man muss
sie kennen, um verantwortliche Politik zu machen. Man
darf sich nicht von ihnen erdrücken lassen. Im Übrigen
gleichen sich gelegentlich manche dieser Entwicklungen
aus.
Ich will aber kein Hehl daraus machen, dass mit der
Gesundheitsreform, der Unternehmensteuerreform, der
Optimierung der Arbeitsmarktpolitik und dem Haushaltsentwurf 2007, den das Kabinett am 5. Juli beschließen will, schwere Brocken vor uns liegen. Insbesondere
der Bundeshaushalt 2007 ist von erheblicher Bedeutung,
wenn die Konsolidierungsmaßnahmen - auch und gerade durch die Mehrwertsteuererhöhung - greifen. Dabei
ist es in gewisser Weise beispielgebend, in welcher Tonlage und mit welchen Absichten wir über dieses Thema
reden.
In den meisten Debatten geht verloren - damit
komme ich zum Schluss -, dass bei der Mehrwertsteuererhöhung die Arbeitnehmer und Arbeitgeber in der Bundesrepublik Deutschland durch die Absenkung der
Arbeitslosenversicherungsbeiträge um 14,4 Milliarden Euro entlastet werden. Frau Hajduk hat das infrage
gestellt, nach dem Motto „Die Menschen ahnen schon
wieder etwas“. Die Menschen ahnen aber nichts. Möglich ist höchstens, dass Sie ihnen etwas einreden und unser Vorhaben in Zweifel stellen.
({10})
Was die Menschen glauben und wie viel Vertrauen sie zu
dem fassen, was wir in der Politik entscheiden, ist auch
von Ihrer öffentlichen Rede abhängig und davon, wie
Sie an manche Punkte herangehen.
({11})
- Das ist keine Selbstgefälligkeit.
Denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie den Haushaltsentwurf in der vorgesehenen Fassung verabschieden würden. Ich darf Ihnen in Aussicht stellen, dass wir dann
sehr schnell - nämlich gleich nach der Sommerpause in die nächsten Haushaltsberatungen hineingehen werden. Ich freue mich, wenn ich Ihnen dabei wieder Rede
und Antwort stehen darf.
Herzlichen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention erhält das Wort der Kollege
Dr. Dehm, Fraktion Die Linke.
Herr Bundesminister, wenn Sie darum bitten, Ihnen
zu glauben, dann sollten Sie bedenken, dass es den Glauben erschüttern könnte, wenn Sie so mit Zahlen umgehen, wie Sie mit Zitaten des Kollegen Westerwelle umgegangen sind, und wenn Sie eine Zwischenfrage mit
dem Hinweis auf Ihre beschränkte Redezeit nicht zulassen. Dabei weiß doch sicherlich jeder, der dieser Debatte
zuhört, dass eine Zwischenfrage und die Antwort darauf
nicht auf die Redezeit angerechnet werden. Das erschüttert dann auch ein bisschen Ihre Glaubwürdigkeit.
({0})
Ich will Ihnen jetzt meine Fragen stellen. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Linkspartei in allererster Linie an der Einnahmesituation des Staates interessiert ist?
({1})
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir in
diesem Zusammenhang immer darauf hingewiesen haben, dass Sie und auch Ihre Vorgängerregierung willkürlich und bewusst den Staat verarmen, indem Sie auf
Steuereinnahmen verzichten? Sind Sie darüber hinaus
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Freistellung
von Veräußerungsgewinnen der Staatskasse sowohl
unter der Vorgängerregierung und als unter der jetzigen
Regierung - daran waren Sie, Herr Steinbrück, nicht
ganz unbeteiligt - Milliarden entzogen hat?
Darf ich Sie fragen, wie es in diesem Land ankommt,
wenn man um Steuerehrlichkeit sowie die Vertrauenswürdigkeit und die Verbindlichkeit unseres Steuersystems wirbt und wenn gleichzeitig ein Mensch wie Franz
Beckenbauer - wir sollten bei Steuermeidung nicht nur
über die Deutsche Bank, Daimler oder BMW reden -,
der seinen Wohnsitz in Kitzbühel hat und ständig mit der
Bundeskanzlerin gesehen wird, in Deutschland keine
Steuern zahlt?
({2})
Herr Steinbrück, möchten Sie darauf antworten? Das ist nicht der Fall.
Dann erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Hermann
Otto Solms, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich werde unabhängig davon, welche
Schulnote ich nun für Betragen oder Ausdruck von unserem neuen Schulmeister Peer Steinbrück bekomme, das
sagen, was ich für richtig halte.
({0})
Das ist schließlich die Aufgabe der Opposition. Im Übrigen lohnt es sich, über bestimmte Grundsatzfragen zu
streiten. Wenn beispielsweise die Mehrheit der deutschen Bevölkerung den Eindruck hat, dass in Deutschland Nichtarbeit durch den Staat und seine Instrumente
zu stark gefördert und Arbeit zu stark belastet wird, dann
ist das ein Grund, darüber zu streiten und zu fragen, ob
eine bessere Justierung möglich ist. Es ist gerade die
Aufgabe der Regierung, die aus ihrer Sicht richtige Justierung vorzunehmen, und die Aufgabe der Opposition,
dort zu kritisieren, wo etwas zu kritisieren ist. Es gibt
viele Beispiele, über die es sich lohnt zu streiten, und
zwar auch heftig; denn es geht um das Schicksal der
Menschen in diesem Land.
({1})
Auch nach den Haushaltsberatungen bleibt es dabei:
Der Bundeshaushalt 2006 und die Finanzplanung bis
2009 sind eine einzige finanzpolitische Bankrotterklärung.
({2})
Dafür trägt die Regierung Merkel/Müntefering nun einmal die Verantwortung und nicht die Opposition, der
man gerne die Verantwortung zuschieben will. Das, was
Sie hier vorlegen, ist kein Zukunftsentwurf, sondern ein
Armutszeugnis. Die Neuverschuldung übersteigt sogar
noch die im letzten Haushalt von Hans Eichel vorgesehene Nettokreditaufnahme um 7 Milliarden Euro und
den Wert in der mittelfristigen Finanzplanung um
16 Milliarden Euro. Es ist dreist und unehrlich gegenüber den Bürgern, dies als Erfolg und Neuanfang zu verkaufen.
({3})
Stattdessen bleibt alles wie gehabt: noch mehr Schulden und keine Korrektur an der ungezügelten Ausgabenerweiterung. Geschönt werden soll die katastrophale
Situation durch als Haushaltsentlastung titulierte vielfältige Steuererhöhungen. Damit werden alle Anstrengungen zur Erhöhung des Wirtschaftswachstums und zur
Ankurbelung der Binnenkonjunktur zunichte gemacht.
Im Übrigen beruhen die Maßnahmen auf einem eklatanten Wahlbetrug der beiden regierenden Parteien. Darauf
werden wir die nächsten drei Jahre ständig hinweisen.
Das ist unsere Pflicht; denn wir müssen uns dem Wähler
stellen und ihm gegenüber ehrlich sein. Wir dürfen nicht
das Gegenteil von dem tun, was wir im Wahlkampf versprochen haben.
({4})
Mittelfristig verschlechtern sich die Aussichten für
mehr Wachstum und eine nachhaltige Haushaltskonsolidierung, weil die Zahl der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten weiter zurückgehen wird. Damit fallen
noch mehr Menschen als Steuer- und Beitragszahler aus.
Wenn Sie die aktuelle Ausgabe des „Spiegel“ lesen,
dann stellen Sie fest, dass die verbesserte Arbeitslosenstatistik nicht auf tatsächlichen Entwicklungen beruht,
sondern auf statistischen Manipulationen. Die momentane Entwicklung der Arbeitslosigkeit ist saisonüblich.
Sie sollten also nicht so große Töne spucken. Wir sind
weiterhin in einer beängstigenden Situation, was die Arbeitslosigkeit betrifft.
Ich will auf einige wesentliche Punkte des Bundeshaushalts hinweisen. Erstens. Der Bundeshaushalt 2006
ist vorsätzlich verfassungswidrig. Zu diesem Schluss
kommen auch Sie, wenn Sie Art. 115 des Grundgesetzes
richtig lesen. Wenn Sie anderer Meinung sein sollten,
dann empfehle ich: Warten wir doch einmal ab, was das
Bundesverfassungsgericht dazu sagt! Es ist aufgefordert, ein endgültiges Urteil zu fällen. Der Bezug auf die
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts
scheint mir jedenfalls bei einem Wachstum von 1,6 bis
2 Prozent weit hergeholt zu sein.
Zweitens. Die Bundesregierung legt zum fünften Mal
und in voller Absicht einen stabilitätswidrigen Haushalt vor, obwohl - bei ohnehin steigenden Steuereinnahmen - die Lücke durch entschlossene Sparanstrengungen ohne weiteres zu schließen wäre. Dazu haben die
Haushälter der FDP ein „Sparbuch“ vorgelegt. Wir wollen zeigen, dass wir bereit sind, auch unbequeme Einsparungen zu verlangen und dafür geradezustehen. Wir
glauben, dass wir das im Hinblick auf die Gesamtverantwortung tun müssen.
({5})
Drittens. Trotz vollmundiger Sparversprechungen
steigen die Bundesausgaben von 2006 bis 2009 weiter
um 13,6 Milliarden Euro an. Von einem Sparhaushalt
kann also keine Rede sein.
Viertens. Das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts
hat die Bundesregierung völlig aus den Augen verloren.
Selbst in den Folgejahren bis 2009 verharrt die mittelfristige Finanzplanung bei einer Neuverschuldung von
mehr als 20 Milliarden Euro. Die Schuldenlast, die unsere Kinder und Enkel zu tragen haben, steigt kontinuierlich weiter.
Fünftens. Der Investitionsverfall findet in der mittelfristigen Finanzplanung seine Fortsetzung. Die Investitionsquote sinkt von 8,9 auf 8,5 Prozent im Jahre 2009.
Ich erinnere daran: Im Jahre 1998 lag die Investitionsquote noch bei 12,5 Prozent. Daran sehen Sie, was die
rot-grüne Regierung und jetzt die schwarz-rote Regierung getan bzw. unterlassen hat.
Sechstens. Die in vielen Gesetzen unter harmlosen
Bezeichnungen verborgenen direkten und indirekten
Steuern und Abgaben sind unsozial, wirtschaftsfeindlich und arbeitsplatzvernichtend. Das brauchen Sie mir
nicht zu glauben; das wird die wirtschaftliche Entwicklung in den nächsten Jahren beweisen. Die Gesetze
heißen beschönigend: Gesetz zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm, Haushaltsbegleitgesetz,
Steueränderungsgesetz usw. Niemand, der diese Bezeichnungen hört, befürchtet, dahinter verberge sich
Dramatisches. Ebendies ist aber der Fall.
Ich wette, dass die Abgeordneten der Koalition gar
nicht mehr wissen, welche Mehrbelastungen sie schon
beschlossen haben oder dabei sind zu beschließen. Deswegen will ich Ihnen die Freude machen, das in Erinnerung zu rufen. So können Sie sich das einprägen und vor
Ihren Wählern Rechenschaft ablegen.
Die Verbraucher, insbesondere die Familien, werden
belastet. Erhöhung der Mehrwertsteuer: 12,36 Milliarden Euro; Erhöhung der Versicherungsteuer: knapp
2 Milliarden Euro; Abschaffung der Eigenheimzulage:
3,5 Milliarden Euro; Gewährung von Kindergeld und
Kinderfreibetrag nur noch für Kinder unter 25 Jahren:
534 Millionen Euro; Tausch von Erziehungsgeld gegen
Elterngeld. Dazu ist noch etwas Besonderes zu sagen.
Das Erziehungsgeld in Höhe von 1,9 Milliarden wird abgeschafft, dafür wird mit 4 Milliarden das Elterngeld
eingeführt. Allerdings bezahlen die Eltern das doppelt
und dreifach, zum Beispiel über die Mehrwertsteuererhöhung, über die Kürzungen beim Kindergeld, über
die Erhöhung bei der Versicherungsteuer und weitere
Abgabensteigerungen. Abschaffung des Sonderausgabenabzugs für Steuerberatungskosten: 600 Millionen
Euro. Das ist besonders elegant: Einerseits verkompliziert man das Steuerrecht weiter, andererseits streicht
man die Steuerabzugsfähigkeit von Beraterkosten.
({6})
Reduzierung des Sparerfreibetrages: 750 Millionen
Euro; Besteuerung von Kohle als Heizstoff: 33 Millionen Euro.
Für die Wirtschaft: Abschaffung der degressiven
AfA für den Wohnungsbau: 150 Millionen Euro; Beschränkung der Verlustverrechnung bei Steuerstundungsmodellen: 2,135 Milliarden Euro; Verschärfung bei
der Gewinnermittlung für Freiberufler: 500 Millionen
Euro.
Für die Arbeitnehmer: Abschaffung des Freibetrages
für Abfindungen: 450 Millionen Euro; Abschaffung des
Freibetrages für Heirats- und Geburtsbeihilfen:
50 Millionen Euro; Abschaffung der Aufwendungen für
das häusliche Arbeitszimmer: 300 Millionen Euro; Reichensteuer für gutverdienende Arbeitnehmer: 1,3 Milliarden.
Schließlich die Autofahrer, zusätzlich zu den Steuererhöhungen - insbesondere der Mehrwertsteuer -: Streichung der Entfernungspauschale: 2,53 Milliarden Euro;
Besteuerung von Biokraftstoffen: 370 Millionen Euro;
Verschärfung der Einprozentregelung für Dienstwagen:
255 Millionen Euro - wobei man auch noch bedenken
muss, welches Chaos in den Vorschriften bei der Dienstwagenregelung besteht.
({7})
Allein um das richtig zu machen, braucht man einen
Steuerberater.
Hinzu kommt der so genannte Gesundheitssoli. Dahinter verbirgt sich eine weitere Einkommensteuer, vermutlich - je nach Ausgestaltung - in Höhe von 14 bis
16 Milliarden Euro.
Zu der geplanten Einschränkung des Ehegattensplittings wird es nicht kommen, auch wenn dies immer wieder gefordert wird. Eine solche Einschränkung ist ganz
einfach verfassungswidrig. Ich verstehe nicht, wie der
CDU-Generalsekretär, der Volljurist ist, so einen Unsinn
in die Welt setzen kann.
({8})
- Das kann ich Ihnen erklären. In Art. 9 des Grundgesetzes ist die Vereinigungsfreiheit verankert. Wenn zwei
Personen sich zusammentun und beispielsweise eine offene Handelsgesellschaft bilden, dann werden sie so wie
beim Ehegattensplitting besteuert. Man darf ein Ehepaar,
das nach Aussagen des Verfassungsgerichts eine Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft bildet, nicht
schlechter stellen als andere Erwerbsgemeinschaften.
Das gebietet der Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 des
Grundgesetzes. So einfach ist der Zusammenhang. Eine
Abschaffung des Ehegattensplittings ist schlicht verfassungswidrig. Ein Blick ins Gesetzbuch - in diesem Fall
ins Grundgesetz - erleichtert die Rechtsfindung auch in
diesem Fall.
({9})
Schließlich - das ist der Höhepunkt - die zusätzlichen
Sozialabgaben, die 13. Abgabe in diesem Jahr, einmalig
20 Milliarden Euro. All das führt dazu, dass in den
nächsten drei Jahren dieser Legislaturperiode Kaufkraft
in einem Volumen von 120 Milliarden Euro abgeschöpft
wird und das wird - Sie können die ökonomischen Gesetze nicht außer Kraft setzen - zu einer entsprechenden
Dämpfung, zu einer Schwächung des Wachstums und zu
mehr Arbeitslosen führen. Damit werden sich die Löcher
in den öffentlichen Haushalten weiter öffnen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Als Nächster hat der Kollege Otto Bernhardt, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Finanzpolitik der großen Koalition hat sich
das Ziel gesetzt, zwei Aufgaben gleichzeitig zu erfüllen:
einmal die Stärkung der Wachstumskräfte der Wirtschaft
und zum Zweiten eine nachhaltige Haushaltskonsolidierung. Ich sage sehr deutlich: Es wäre natürlich einfacher,
auch einfacher darstellbar, wenn wir uns nur ein Ziel,
etwa die Haushaltskonsolidierung oder die Förderung
der Wachstumskräfte, gesetzt hätten; aber das geht nicht.
Dieser Konflikt wird bei dem auch heute immer wieder angesprochenen Thema der Mehrwertsteuererhöhung offensichtlich. Ein Drittel der Mittel durch diese
Steuererhöhung ist ein Beitrag zur Stärkung der Beschäftigung; dieses Drittel ist bekanntlich bestimmt, um
die Lohnnebenkosten zu senken.
({0})
Ein weiteres Drittel dieser Mittel ist für die Konsolidierung der Finanzen der Länder vorgesehen; die meisten
Länder haben diese Mittel sehr nötig. Das letzte Drittel
ist für die Konsolidierung des Bundeshaushalts bestimmt. Ich sage ganz klar: Es gibt keine andere Möglichkeit, unser Ziel zu erreichen, im Jahre 2007 einen
Haushalt vorzulegen, der eine Neuverschuldung vorsieht, deren Umfang nicht höher ist als der der Investitionen.
({1})
An der Erhöhung der Mehrwertsteuer führt bei solider
Betrachtung - ich sage es sehr deutlich - leider kein Weg
vorbei.
({2})
Ich habe gesagt: Wir haben uns das Ziel gesetzt, zwei
Aufgaben gleichzeitig zu erfüllen. Ich will darauf hinweisen, wie es mit den Zielen aussieht. Ich habe den
Eindruck, dass mancher, der von öffentlichen Finanzen
spricht, nicht weiß, wie es um sie bestellt ist. Die Bundesebene nähert sich einer Gesamtverschuldung von
900 Milliarden Euro. Unsere jährlichen Zinszahlungen
betragen annähernd 40 Milliarden Euro. Das ist die
Situation. Dass wir angesichts dessen gezwungen sind,
die Sanierung des Haushalts in den Mittelpunkt unserer
Betrachtungen zu stellen, dürfte klar sein.
({3})
Die Sanierung des Haushalts ist - auch bezogen auf die
nächste Generation; Vorredner haben es gesagt - dringend notwendig. Wir müssen den Haushalt konsolidieren; sonst betreiben wir auf Dauer keine solide Politik.
({4})
Es wird dabei ein Weiteres vergessen. Wenn es uns
wirklich gelingt, eine Nettoneuverschuldung von 2,9 Prozent zu erreichen, halten wir alle uns schon für gut; das
wären wir auch. Nur, unserer Ziel ist natürlich - das
steht im Maastrichtvertrag -, langfristig einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Ein Bundesland hat das
bisher geschafft - das wollen wir an dieser Stelle einmal
festhalten -: Bayern hat einen ausgeglichenen Haushalt
vorgelegt. Bis wir dieses Ziel erreichen, dauert es sicherlich noch länger.
Zum zweiten Ziel, der Förderung der Wachstumskräfte. Ich will nicht so sehr in die Vergangenheit gehen
- das bringt uns nicht weiter -, nur so viel: Sie alle wissen, dass Deutschland, aus welchem Grund auch immer,
seit einer Reihe von Jahren in der EU zu den Ländern
mit den geringsten Wachstumsraten gehört. Sie wissen
auch, dass die Arbeitslosigkeit bei uns im EU-Vergleich
eher im oberen Drittel liegt. Das heißt, auch dieses Ziel,
hier zu einer Verbesserung zu kommen, dürfen wir nicht
vernachlässigen. Wir haben für die Erreichung dieses
Ziels ein 25-Milliarden-Programm aufgelegt. Wir versuchen wirklich, beiden Zielen gerecht zu werden.
Jetzt zum Ergebnis. Wir alle neigen ein bisschen
dazu, die Dinge schlecht zu reden; die Presse hilft zum
Teil dabei. Wenn ich mir allerdings die objektiven Zahlen zur Arbeitslosigkeit - daran werden wir am stärksten gemessen - anschaue, dann stelle ich fest, dass es im
Mai dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr einen Rückgang um 350 000 gibt. Das ist der größte Rückgang seit
vielen Jahren.
In diesen Tagen hat das renommierte Weltwirtschaftsinstitut in Kiel seine Prognosen für das Jahr 2007 vorgelegt. Das Weltwirtschaftsinstitut kommt zu dem Ergebnis, dass wir 2007 in Deutschland im Durchschnitt
4,3 Millionen Arbeitslose haben werden. Im letzten Jahr
waren es noch 4,8 Millionen. Das ist ein Rückgang um
500 000. Wir können heute sagen: Die Wende am Arbeitsmarkt haben wir geschafft, auch wenn an diesem
Punkt noch viel vor uns liegt.
({5})
- Gerne.
Sie möchten die Zwischenfrage vom Kollegen
Dr. Solms zulassen.
Gern. Zwischenfragen von Herrn Dr. Solms lasse ich
immer zu.
Bitte schön.
Vielen Dank. - Ich möchte auf das zurückkommen,
was ich eben in meinen Ausführungen gesagt habe, nämlich dass nach dem „Spiegel“-Artikel der Rückgang der
Arbeitslosigkeit bei weitem nicht so hoch ausfällt, wie er
jetzt auch von Ihnen dargestellt worden ist. Würden Sie
bitte zur Kenntnis nehmen, dass ein Gutteil des Rückgangs der Arbeitslosigkeit durch eine statistische Veränderung, eine Veränderung im Softwareprogramm - dabei
geht es um kranke Arbeitslose -, entstanden ist und dass
es sich bei dem Rückgang deswegen nur um den normalen saisonbedingten handelt?
Herr Kollege Solms, ich habe die Prognosen des
Weltwirtschaftsinstituts zitiert. Ich weiß, dass die Software bei der Arbeitsverwaltung mal in der einen und mal
in der anderen Richtung ein Stück verändert wird. Aber
jeder, der die Fakten in Deutschland zur Kenntnis
nimmt, wird mir zustimmen, wenn ich sage: Die Arbeitslosigkeit ist nachhaltig zurückgegangen. Wir sind auch
hier auf dem richtigen Weg.
({0})
Ähnlich sieht es beim Wirtschaftswachstum aus.
Die Prognosen der Institute gehen ein Stück auseinander,
aber alle sind sich darin einig, dass wir in diesem Jahr
ein Wirtschaftswachstum von roundabout 2 Prozent haben werden. Im Vergleich zum Durchschnitt der Vorjahre ist das schon ein interessanter Wert. Nur muss uns
natürlich nachdenklich stimmen, dass das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr in den anderen Industrieländern der Welt 50 Prozent höher ist als bei uns. Es beträgt
dort gut 3 Prozent, bei uns nur 2 Prozent. Das zeigt, dass
wir hier noch ein Stück Nachholbedarf haben; davon
müssen wir ausgehen.
Aber das, was wir heute erkennen, nämlich dass die
Stimmung in der Wirtschaft heute so gut ist wie noch nie
in den letzten 16 Jahren und dass der private Konsum
endlich wieder steigt, was für die wirtschaftliche Entwicklung nun wirklich von entscheidender Bedeutung
ist, unterstreicht: Die große Koalition kann nach gut einem halben Jahr schon Erfolge bei der Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit und bei der Stärkung der Wachstumskräfte der Wirtschaft vorzeigen. Die Bilanz bis heute ist
- bescheiden gesagt - zumindest zufrieden stellend; ich
würde sagen: Drei plus. Wir sind auf dem richtigen Weg.
({1})
Nun weiß ich natürlich, meine Damen und Herren,
dass alle wirtschaftswissenschaftlichen Institute sagen:
Die Mehrwertsteuererhöhung - ich habe begründet,
warum wir sie brauchen - wird im Jahre 2007 zu einer
gewissen Belastung für die Konjunktur führen. Das ist
nachrechenbar, denn letztlich bedeutet diese Erhöhung
ja, dass der Bevölkerung 14 Milliarden Euro Kaufkraft
genommen werden - ich lege nur die entsprechenden
2 Prozentpunkte zugrunde -, die für die Konsolidierung
der Haushalte benutzt werden. Die große Koalition ruht
sich darauf aber nicht aus. Wir haben zwei große Projekte in der Pipeline, die schon sehr konkrete Formen annehmen und die beide einen Beitrag zur Stärkung von
Wachstum und Beschäftigung darstellen:
Das erste Vorhaben beinhaltet Änderungen bei der
Erbschaftsteuer in der Weise, dass dann, wenn Betriebe
auf die nächste Generation übergehen, unter bestimmten
Voraussetzungen keine Erbschaftsteuer mehr gezahlt
werden muss - und das bereits ab dem 1. Januar 2007.
Dies ist ein erheblicher Beitrag zur Stärkung von Beschäftigung in Deutschland.
Viel wichtiger ist das andere große Vorhaben, das in
diesen Tagen Gestalt annimmt: die Unternehmensteuerreform. Natürlich sind Steuersätze von 39 Prozent,
die wir heute auf einbehaltene Gewinne von Kapitalgesellschaften erheben, innerhalb der EU nicht mehr wettOtto Bernhardt
bewerbsfähig. Wir nehmen hier eine Spitzenposition ein;
nicht, weil wir die Steuern erhöht haben - nein, wir haben die Steuern sogar gesenkt -, sondern weil die anderen Länder sie stärker gesenkt haben bzw. osteuropäische Länder mit deutlich geringeren Steuersätzen
aufgenommen wurden. Die sich jetzt abzeichnende Senkung von 39 Prozent - das sind immer Circawerte, weil
da der Hebesatz eine gewisse Rolle spielt - auf voraussichtlich 29 Prozent bedeutet eine Reduzierung um
10 Prozentpunkte bzw. um 25 Prozent.
Zu dem immer wieder erhobenen Vorwurf, die große
Koalition sei eine Koalition der Steuererhöher, kann ich
nur sagen: Mit der Reform der Erbschaftsteuer, die der
Sicherung von Arbeitsplätzen dient, und der der Unternehmensteuer werden wir die größte Steuersenkung für
die Unternehmen - ich sage es noch einmal - seit Bestehen der Bundesrepublik durchführen. Hier geht es nicht
darum, Unternehmer zu privilegieren, hier geht es darum, Firmen zu privilegieren, damit sie vorhandene Arbeitsplätze erhalten und neue Arbeitsplätze schaffen. Ich
stelle sogar die These auf - ich glaube, der Finanzminister rechnet da ähnlich -,
({2})
dass, da mit 29 Prozent die steuerliche Belastung bei uns
günstiger als in den anderen großen Volkswirtschaften
Europas wäre, besser als in Italien, Spanien, Frankreich
und Großbritannien, vermutlich eine ganze Reihe von
Steuern, die heute nicht in Deutschland anfallen, den
Weg zurück nach Deutschland finden und wir mittelfristig - meiner Ansicht über einen Zeitraum von drei bis
vier Jahren - trotz deutlich niedrigerer Steuersätze voraussichtlich sogar mehr Steuern einnehmen werden und
zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Erhöhung des
Wirtschaftswachstums und der Beschäftigung in der
Bundesrepublik leisten.
({3})
Lassen Sie mich abschließend feststellen, meine Damen und Herren: Die große Koalition ist auf einem erfolgreichen Weg, beide Ziele, Stabilisierung bzw. nachhaltige Sanierung des Haushaltes und Stärkung der
Wachstumskräfte der Wirtschaft, zu erreichen. Wir können nach sechs Monaten eine hervorragende Zwischenbilanz vorlegen. Das unterstreicht der Haushalt.
({4})
Zugleich wissen wir, große Aufgaben liegen noch vor
uns, aber die große Koalition hat noch viel Kraft, auch
diese zu lösen.
Danke schön.
({5})
Als Nächste hat die Kollegin Dr. Barbara Höll, Die
Linke, das Wort.
({0})
Herr Minister Steinbrück! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Bernhardt, Sie können vor allem eines:
sich erfolgreich ein X für ein U vormachen. Herr
Kampeter hat hier zum Glück sehr offen gesprochen: Er
hat von einem Haushalt der brutalen Konsolidierung gesprochen. Herr Kampeter, selbst seit 1990 im Bundestag,
also durchaus Mitverantwortung tragend für den Zustand, in dem sich der Bundeshaushalt befindet, der bei
jeder Haushaltsberatung konsolidiert werden soll, verkündet, die Politik, die hier gemeinschaftlich gemacht
werde - ich möchte unterstreichen: die Linksfraktion
war nicht beteiligt an der unsozialen Politik, die Sie vornehmen, und wird sich auch nicht beteiligen -,
({0})
sei alternativlos. Das ist nicht nur feige, weil Sie damit
nicht zu Ihren Entscheidungen stehen; es ist kleinmütig
und Sie machen sich damit eigentlich überflüssig. Wozu
brauchen wir Sie denn noch als Parlamentarier, wenn es
keine Alternativen gibt? Dann können wir doch irgendeine Verwaltung einsetzen, die das umsetzt.
Nein, unser Anspruch ist höher. Politik hat etwas mit
dem Finden von Antworten auf die anstehenden Fragen
zu tun. Es gibt immer verschiedene Antworten. Man
braucht aber Mut, um darüber zu diskutieren.
({1})
Herr Steinbrück, ich habe sehr wohl gehört, dass Sie
- zu Recht - große Worte bezüglich der Notwendigkeit
des Staates gefunden haben. Wir brauchen tatsächlich einen Staat, der für Infrastruktur, öffentliche Daseinsvorsorge, Bildung und vieles andere bürgt. Niemand sonst
wird entsprechend für die Umwelt eintreten und für Kindertagesstätten, Schulen sowie einen gleichen Zugang zu
Bildung für alle sorgen. Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Denn das, was Sie an Antworten vorlegen, entspricht nicht dem, was Sie thematisiert
haben. Sie selbst haben beim Neujahrsempfang der Industrie- und Handelskammer in Frankfurt gesagt:
Man kann den Bundeshaushalt als nüchternes Zahlenwerk betrachten - was er natürlich auch ist. Aber
es macht auch viel Sinn, sich immer wieder die gesellschaftspolitischen Botschaften, die sich in den
nüchternen Zahlen abbilden, vor Augen zu führen.
Die nüchternen Zahlen belegen, dass die Verschuldung der öffentlichen Hand und eben auch des Bundes
seit Jahren kontinuierlich ansteigt. 1995 waren es umgerechnet 1 019 Milliarden Euro, 2000 waren es 1 468 Milliarden Euro, 2006 sind es 1 491 Milliarden Euro.
38 Milliarden Euro sind die höchste Neuverschuldung in
der Geschichte der Bundesrepublik überhaupt. Die Neuverschuldung war unabhängig davon, ob die Regierung
von CDU/CSU und FDP, von SPD und Grünen oder von
der großen Koalition gestellt wurde. In schöner Einigkeit
haben Sie in den letzten 16 Jahren eine Politik gemacht,
die dazu geführt hat, dass unsere Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf die Probleme in der gegenwärtigen Situation beschränkt sind, weil ein großer Teil des Geldes, das
wir eigentlich haben, durch die Tilgung der aufgenommenen Kredite gebunden ist.
Wir haben also auch im Bundeshaushalt durchaus ein
strukturelles Problem. Die Frage ist, wenn man diesen finanztechnischen Begriff zu unterfüttern versucht: Ist es
ein Einnahme- oder ein Ausgabenproblem? Ihre heutige Antwort war wieder eindeutig: Wir brauchen eine
brutale Konsolidierung. Das heißt, Sie gehen - und das
seit Jahren - von einem Ausgabenproblem aus. Könnte
es nicht aber vielleicht sein, dass wir ein Einnahmeproblem haben?
({2})
Ich stelle klar, dass wir als Linksfraktion nicht gegen
die Aufnahme von Krediten sind. Nein; Kredite sind im
privaten Bereich sehr gut und können das auch für die
öffentliche Hand sehr wohl sein ({3})
wenn sie tatsächlich dazu dienen, Investitionen in die
Zukunft zu tätigen. Geld für Bildung ist nicht falsch,
auch nicht, wenn es kreditfinanziert ist. Aber was haben
Sie mit den Krediten gemacht? Sie haben in den letzten
Jahren einfach Blankoschecks an die Wirtschaft ausgeteilt und sind dabei, das wieder zu tun. Sie versprechen
weitere Steuererleichterungen; immer mehr Geld wird
rausgepfeffert. Wir können es uns anscheinend leisten,
darauf zu verzichten. Irgendwann werden sicher Arbeitsplätze geschaffen werden.
Aber es sind keine Arbeitsplätze geschaffen worden.
Wir haben einen Arbeitslosenstand von offiziell fast
5 Millionen Menschen. Viele können trotz Vollerwerbstätigkeit von ihrer Arbeit nicht leben. So viel zu der Bemerkung, die vorhin nebenbei fiel, es könne sein, dass in
Deutschland die Nichttätigkeit zu stark gefördert werde.
Im Gegenteil, die Menschen arbeiten und können trotzdem nicht davon leben. Aber Sie stellen sich diesen Problemen nicht.
Wie sehen nun Ihre Antworten aus? Sie sagen, dass
wir kein Geld haben und deshalb konsolidieren müssen.
Eine Maßnahme zur Konsolidierung ist die Mehrwertsteuererhöhung, mit der insbesondere Arbeitslose sowie
Rentnerinnen und Rentner getroffen werden; denn sie
müssen ab 1. Januar nächsten Jahres durchschnittlich
20 Euro im Monat mehr für ihren Lebensunterhalt aufbringen. Ich habe aber noch nichts davon gehört, dass
Sie die BAföG-Sätze erhöhen wollen. Warum bringen
Sie nicht ein entsprechendes Gesetz ein? Das wäre eine
ehrliche Antwort auf die durch Ihre Politik verursachten
Probleme.
({4})
Ich habe auch noch nicht gehört, dass Sie bereit sind,
das Kindergeld zu erhöhen. Nein, etwas anderes wird anvisiert. Nächste Woche wollen Sie eine Regelung verabschieden, mit der die Bezugsdauer für das Kindergeld
gekürzt werden soll, indem die Altersgrenze von 27 auf
25 Jahre herabgesetzt wird. Das bedeutet nicht nur, dass
das Kindergeld einer bisher anspruchsberechtigten Person gestrichen wird. Es bedeutet auch, dass noch weitere
Leistungen verloren gehen. Davon werden im nächsten
Jahr 451 000 Kindergeldberechtigte betroffen sein:
10 000 unterhaltspflichtigen Eltern, die arbeitslos sind,
streichen Sie einfach das Kindergeld. Gleichzeitig sinkt
auch der Anspruch der arbeitslosen Eltern, so sie noch
Arbeitslosengeld I bekommen, von 67 auf 62 Prozent.
Sie haben nicht nur den Ausfall von 154 Euro zu verkraften. Nein, sie haben auch noch die Senkung des Arbeitslosengeldes zu verkraften. Außerdem hängen noch
eine ganze Reihe anderer Punkte wie die Riesterrente daran. Entsprechende Maßnahmen, die hier einfach mal so
verkündet werden, sollen nächste Woche durchgewunken werden.
Sie haben die Hartz-IV-Gesetze verschärft, indem Sie
unter anderem die Rentenversicherungsbeiträge von Arbeitslosengeld-II-Empfängerinnen und -Empfängern von
78 Euro auf 40 Euro gesenkt haben. Wissen Sie überhaupt, was das bedeutet? Diese Menschen werden später
in Altersarmut leben müssen, weil die Rentenbeiträge
gesenkt werden und sie auf der anderen Seite keine
Chance haben, Arbeit zu bekommen und für ihr Alter
selbst vorzusorgen.
Sie haben die Begrenzung der Sozialversicherungsfreiheit für Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschläge
eingeführt. Sie wollen die Zuschüsse für die gesetzlichen
Rentenkassen senken. Auch das wird natürlich dazu führen, dass die Beiträge steigen. Durch diese Reihe von
Maßnahmen - es ist Ihnen auch jede Schnüffelei bei
Empfängerinnen und Empfängern von Hartz IV recht werden die Menschen belastet, die nur ein sehr geringes
oder ein mittleres Einkommen haben.
Merkwürdigerweise ist jedoch ausreichend Geld für
andere Dinge vorhanden. Die degressive AfA für bewegliche Wirtschaftsgüter wurde von 20 auf 30 Prozent erhöht. Was kostet die Welt? Was macht es schon,
wenn wir 2,4 Milliarden Euro weniger Einnahmen in einem Jahr haben? Wir haben es doch!
Sie wollen eine Abgeltungssteuer auf Kapitaleinkünfte von 30 Prozent. Der Sparerfreibetrag für die
Kleinsparer hingegen wird halbiert. Das heißt, der Kleinsparer muss mehr zahlen; aber diejenigen, die ein hohes
Sparvermögen haben, werden privilegiert, indem auf
ihre Zinserträge nicht mehr eine Steuer in Höhe ihres individuellen Steuersatzes erhoben wird.
({5})
Die Eckdaten der Unternehmenssteuerreform sind der
Öffentlichkeit schon bekannt. Herr Steinbrück, ich muss
Sie loben - das mache ich in diesem Fall gerne -, dass
Sie hart bleiben, was die Gewerbesteuer betrifft. Denn
Sie treten für den Erhalt dieser Steuer und für die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage ein. Andererseits
wollen Sie als Finanzminister auf 8 Milliarden Euro verzichten. Ich frage mich wirklich, woher Sie das fehlende
Geld nehmen wollen.
({6})
Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Punkt ist
Ihre Antwort auf diese Einnahmeausfälle.
Eine solche Politik kann man nicht mittragen. Sie ist
unsozial und die Fortsetzung einer neoliberalen Politik
der Umverteilung von unten nach oben. Wenn Sie mutig
wären, dann würden Sie sich gerade im Bereich der Unternehmensbesteuerung dem realen Problem stellen,
dass wir in Deutschland auf der einen Seite zwar eine
hohe nominale Steuerbelastung haben, dass wir aber auf
der anderen Seite - auf die entsprechenden Zahlen wies
Herr Bernhardt vorhin hin - eine sehr geringe effektive
Steuerbelastung haben. Das heißt, die Unternehmen zahlen effektiv keine Steuern in Höhe der von Ihnen vorhin
genannten 39 Prozent. Im Durchschnitt zahlen die international tätigen Konzerne in Deutschland auf ihre Gewinne gerade einmal 15 bis höchstens 20 Prozent Steuern.
Wenn Sie mutig wären, würden Sie sagen, dass es
diese Lücke gibt und dass sie geschlossen werden muss.
Aber wir schließen sie nicht, indem wir einfach die Steuersätze senken; wir schließen sie vielmehr, indem wir sicherstellen, dass die nominalen Steuersätze auch tatsächlich gezahlt werden. - Das wäre mutig.
({7})
Der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, von der
Sie immer reden und die hierbei eine Rolle spielen
würde, stellen Sie sich nicht. Sie sind zwar bereit, die
Steuersätze zu senken. Sie sind aber nicht bereit, Steuerschlupflöcher tatsächlich zu schließen, und Sie sind
nicht bereit, sich den realen Problemen in diesem Land
zu stellen.
Wir werden diese Politik nicht mitmachen, so wie wir
auch bei der Mehrwertsteuererhöhung nicht mitmachen.
Die Landesregierungen mit unserer Beteiligung haben
der Mehrwertsteuererhöhung nicht zugestimmt. Sie können davon ausgehen, dass sich diese Glaubwürdigkeit
bei der Bevölkerung auszahlt. Wenn wir an weiteren Regierungen beteiligt sein werden, wird es auf Bundesebene und in den Ländern Widerstand geben.
Ich danke.
({8})
Das Wort hat der Kollege Alexander Bonde,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir erleben hier eine stückweise absurde Debatte. Es ist
absurd, mit welcher Selbstgefälligkeit die große Koalition den Haushalt 2006 zu verkaufen versucht.
Der Bundesfinanzminister hat sich pathetisch hier
vorne hingestellt, mit Tremolo in der Stimme und heißem Blick in den Augen formuliert: „Glauben Sie mir!“
und danach versucht, eine Schnecke als Rennpferd zu
verkaufen.
({0})
Dann hat er weinerlich kritisiert, dass es in diesem
Hause trotz großer Koalition eine Opposition gibt, die es
auch noch wagt, zu bemerken, dass dieser Haushalt mit
einer Rekordverschuldung operiert.
Wir reden hier über einen Haushalt mit einer geplanten Neuverschuldung in Höhe von 38,2 Milliarden
Euro. Der Bundesfinanzminister aber sagt, es gebe keine
Alternative und es sei peinlich, dass die Haushaltspolitik
der Koalition überhaupt hinterfragt werde. Herr Finanzminister, Sie müssen schon mehr liefern, um zu begründen, was Sie mit dieser Neuverschuldung anstellen wollen. Ihre Begründung, warum die Abwehr einer Störung
des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts nötig wird,
ist auch nach Ihrer dritten Begründung, die zu erklären
Ihnen wichtig war, nicht besser geworden. Ihre Begründung für eine Neuverschuldung in Höhe von 38,2 Milliarden Euro ist platt. Deshalb dürfen Sie - mit Verlaub nicht davon ausgehen, dass wir als Opposition und wir
als Grüne uns von Ihnen hinters Licht führen lassen.
({1})
Angesichts der großen Zahl an Anträgen hatten Sie
natürlich die Möglichkeit, Kostenreduzierungen vorzunehmen. Meine Fraktion hat 400 Anträge vorgelegt. Davon haben Sie einen, politisch motiviert, als falsch kritisiert. Sie haben sich hier wieder als Kohlelobbyist
geoutet. Sie verschweigen dabei, dass die Kohlesubventionen von Ihnen politisch gewollt sind und nicht auf
Sachzwängen beruhen. Das ist die Wirklichkeit in Sachen Peer Steinbrück und Kohlesubventionen.
({2})
Wir haben Ihnen vom kürzesten bis zum längsten Antrag Vorschläge für Ausgabenkürzungen in Höhe von
2,3 Milliarden Euro vorgelegt. Sie glauben doch selber
nicht, dass Sie nicht in der Lage gewesen wären, das politisch motivierte zusätzliche Einstellen von Personal in
den Ministerien zu reduzieren.
({3})
Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass es nicht möglich
gewesen wäre, bei den sächlichen Verwaltungskosten
einzusparen. Wenn Sie tatsächlich glauben, dass jeder
Radiergummi in Ihrem Ministerium heilig ist, dann werden Sie eine Konsolidierung des Bundeshaushaltes nie
hinbekommen, Herr Steinbrück.
({4})
Das Gleiche gilt für die unterschiedlichsten Bereiche
dieses Haushaltes, wozu wir umsetzbare Vorschläge vorgelegt haben.
Wenn das so ist wie beschrieben, dann muss man sich
fragen, ob Sie wirklich eine Konsolidierung wollen und
ob die Koalition in der Lage ist, eine Konsolidierung zu
betreiben. Wir haben erlebt, dass, politisch motiviert,
Ausgabenkürzungen in vielen Punkten verweigert und
keine Einsparungen vorgenommen werden. Wir haben
erlebt, dass die Erfüllung der langen Wunschlisten der
Fraktionen in vielen Punkten wichtiger war als das Ziel
der Konsolidierung.
Da wir hier wieder große Worte von der Konsolidierung, der Generationengerechtigkeit und der Verantwortung vorgeschmettert bekommen haben, kann ich nur sagen: Sie haben zwar für 2007 erneut viel versprochen;
aber zum Haushalt 2006, über den wir heute reden, haben Sie nichts Neues geliefert.
Ich finde, dass es dieser Koalition, wenn sie sich weiterhin „groß“ nennen will, gut anstünde, endlich einmal
haushaltspolitisch Großes zu tun. Das, was Sie bisher
tun, ist klein und selbstgefällig. Sie müssen sich deshalb
zumuten, dass die Koalition dafür von uns kritisiert wird.
Sie haben nach meinem Beitrag wieder die Möglichkeit,
40 Minuten lang selbstgefällige Selbstgespräche zu halten. So ist es eben, wenn die Mehrheiten in diesem Parlament so sind. Glauben Sie aber nicht, dass dadurch,
dass Sie hier die Debattenbeiträge bestimmen, irgendetwas an diesem Bundeshaushalt besser wird. Glauben Sie
nicht, dass sich die Zinszahlungen dadurch reduzieren.
Glauben Sie nicht, dass die Menschen nicht merken, was
Sie hier tun. Diese Koalition ist eine Aussitzerkoalition
und dieser Haushalt ist peinlich, Herr Finanzminister.
({5})
Das Wort hat der Kollege Jörg-Otto Spiller, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Nettokreditaufnahme in Höhe von
38,2 Milliarden Euro überschreitet die Investitionsausgaben in Höhe von 23,2 Milliarden Euro um 15 Milliarden. Das bedarf der Begründung; denn nach der Regel
in Art. 115 des Grundgesetzes versteht sich das nicht
von selbst. Art. 115 steht allerdings nicht alleine da. Es
gibt noch Art. 109, der besagt:
Bund und Länder haben bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen.
Das ist seit 1967 präzisiert, und zwar - das war ein besonders wichtiges Gesetz der ersten großen Koalition im Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft. Darin heißt es in § 1 als Erläuterung
zu Art. 109 des Grundgesetzes:
Die Maßnahmen sind so zu treffen, dass sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen
Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem
Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem
Wirtschaftswachstum beitragen.
Das ist das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht.
Die ökonomischen Rahmenbedingungen sind heute
anders als 1967; aber den Auftrag, dass Bund und Länder bei ihrer Finanz- und Haushaltswirtschaft Rücksicht
nehmen auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung,
schreibt uns das Grundgesetz nach wie vor vor.
({0})
Danach hat die Koalition gehandelt.
Wie war denn die gesamtwirtschaftliche Lage zu Beginn des Jahres? Ich glaube, man kann sagen, dass es
keine Bedrohung der Preisstabilität gibt. Eine Inflationsrate um die 2 Prozent kann man durchaus als Stabilität bezeichnen. Wir haben eine brillante außenwirtschaftliche Situation; der Leistungsbilanzüberschuss belief sich im Jahr 2005 auf 92 Milliarden Euro. Dieses
Ergebnis ist besser, als es in der alten Bundesrepublik zu
ihren besten Zeiten war.
Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fricke zulassen?
Ja, bitte.
Bitte schön, Herr Fricke.
Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, dass
Sie gerade gesagt haben, eine Inflationsrate um die
2 Prozent gehe in Ordnung?
({0})
Widerspricht das nicht der Tatsache, dass die Europäische Zentralbank, wenn die Inflationsrate dauerhaft, jedenfalls regelmäßig, über 2 Prozent liegt - seien es auch
nur 2,01 Prozent -, die Zinsen erhöhen muss? Ist es nicht
ein Widerspruch, wenn die Europäische Zentralbank, der
wir verpflichtet sind, dann die Zinsen erhöhen muss, was
unseren Haushalt im Übrigen wiederum belastet, denn
um 0,11 Prozentpunkte höhere Zinsen bedeuten 1 Milliarde Euro mehr?
Wir haben, gemessen am Anstieg der Verbraucherpreise in Deutschland, trotz massiver Verteuerung der
importierten Energie, trotz massiver Steigerungen der
Rohstoffpreise eine Inflationsrate um die 2 Prozent;
meistens liegt sie etwas darunter. Das ist eine Inflationsrate, die sowohl im Zeitvergleich als auch im internationalen Vergleich allgemein als ein Maßstab für innere
Geldwertstabilität betrachtet wird.
({0})
Wenn die Europäische Zentralbank warnt, wenn die
Inflationsrate darüber hinausgehe, müsse sie sich Gedanken machen, dann entspricht das ihrer Verpflichtung. Sie
werden anerkennen müssen - mehr habe ich nicht gesagt -,
dass die Gefährdung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts nicht aus der Preisentwicklung resultiert. Sie
resultiert auch nicht aus außenwirtschaftlichen Entwicklungen. Sie ist vielmehr das Ergebnis der Arbeitslosigkeit. Wir haben rund 4,5 Millionen arbeitslose Menschen in Deutschland. Deshalb haben wir kein
gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht; dieses ist vielmehr gestört.
Es trifft zu, dass wir erfreulicherweise eine Belebung
des wirtschaftlichen Wachstums haben. Diese ist aber
nicht gerade donnernd. Das Wachstum bewegt sich in einer Größenordnung von 1,5 Prozent, wobei nach wie vor
der Hauptimpuls von der Auslandsnachfrage ausgeht.
Erfreulicherweise belebt sich auch die Investitionsgüternachfrage insbesondere in Bezug auf Ausrüstungsinvestitionen bei den inländischen Unternehmen. Aber wir haben kein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht. Es war
voll gerechtfertigt, dass sich die Bundesregierung und
die Koalitionsfraktionen nach sorgfältiger Überlegung
entschieden haben, im Jahre 2006 nicht auf die Bremse
zu treten und mit der Haushaltspolitik nicht die aufkeimende konjunkturelle Erholung zu bremsen, sondern dafür zu sorgen, dass die Voraussetzungen für die mittelfristige Konsolidierung geschaffen werden.
({1})
Das passt genau in das Schema, das uns das Grundgesetz
vorschreibt.
Es gibt die nüchterne Erkenntnis bei allen Ökonomen,
dass es ohne gesamtwirtschaftliches Wachstum nahezu
unmöglich sein wird, die Haushalte der Gebietskörperschaften zu konsolidieren, es sei denn, wir nehmen
unerträgliche Verwerfungen in Kauf, was wir nicht wollen. Das heißt nicht, dass wir so naiv sind, zu glauben,
mit klassischem Deficit Spending - der Staat gibt bloß
mehr Geld aus und dann wird schon wieder alles ins Lot
kommen - könnten wir den Haushalt und die gesamtwirtschaftliche Entwicklung auf einen richtigen Pfad
bringen. Das glauben wir nicht.
({2})
Die Situation hat sich seit den 60er-Jahren deutlich verändert, auch deswegen, weil wir über die Jahrzehnte
- der Kollege Carsten Schneider hat das schon angesprochen; da sind alle beteiligt gewesen - einen Schuldensockel aufgebaut haben. Am deutlichsten sind die Schulden immer in der Zeit gestiegen, als die FPD mitregiert
hat.
({3})
Ich finde es erfreulich, dass die FDP jetzt begonnen hat,
sich für Haushalt und Finanzen zu interessieren, und
dass sie gemerkt hat, dass das Heil nicht in der Verwüstung des Steuerrechts zugunsten einer bestimmten Klientel liegt und diese Verwüstung nicht dem Staate dient. Es
wäre noch viel schöner gewesen, sie wäre auf diese guten Ideen gekommen, als sie noch in der Regierungsverantwortung stand.
({4})
Wir glauben auch - das muss man anerkennen -, dass
das Wachstum heute eher dadurch gestärkt wird, dass die
Menschen in unserem Lande wieder Vertrauen in die Fähigkeit des Staates gewinnen, dass er mit seinen Haushaltsproblemen fertig wird - das betrifft Bund, Länder
und Gemeinden -, und dass Investoren und Verbraucher
wieder das Vertrauen in die Fähigkeit des Staates finden,
seinen Aufgaben gerecht zu werden und nicht immer nur
Schulden zu bedienen. Deswegen werden wir nicht den
einfachen Weg gehen, Schulden zu machen. Das will uns
die Fraktion der Linken zwar schmackhaft machen; aber
das ist nicht Erfolg versprechend.
Das erste Gesetz, das die große Koalition 2005 beschlossen hat - das wurde von den meisten Rednern der
Opposition völlig zu Unrecht überhaupt nicht erwähnt -,
brachte den Einstieg in eine dezidierte Konsolidierungspolitik. Wir haben damals die größte Subvention, die
Eigenheimzulage, abgeschafft und ein großes Steuerschlupfloch - Stichwort Medienfonds und ähnliche Steuerstundungsmodelle - dicht gemacht. Wir wären noch
weiter gegangen, wenn Herr Trittin nicht mit Blick auf
seine Windmühlenklientel gebremst hätte. Da hätten wir
eigentlich noch ein paar Milliarden Euro mehr sparen
können. Wir hätten noch stärker konsolidieren und früher zu einem guten Ergebnis kommen können. Das haben die Grünen damals aus Gründen der Klientelpolitik
verhindert.
({5})
Die vorübergehende Hinnahme eines zugegebenermaßen großen Defizits im Jahr 2006 geht mit einer zielbewussten Konsolidierungspolitik einher, die insbesondere darauf abzielt, die Einnahmen von Bund, Ländern
und Gemeinden zu festigen und die Handlungsfähigkeit
des Staates durch den Abbau von Vergünstigungen,
durch den Abbau von nicht mehr zu rechtfertigenden
Subventionen zu stärken.
Ich finde es erfreulich, dass sich inzwischen auch bei
nüchternen Beobachtern herumgesprochen hat, dass
Deutschland ein ausgesprochen guter Wirtschaftsstandort ist. Dass die Verbände das nicht immer so sehen, gehört zu ihren Pflichten. Ob es weise ist, immer nur zu
kritisieren, lasse ich einmal dahingestellt.
Vor ein paar Wochen ist das Ergebnis einer Untersuchung von Ernst & Young vorgestellt worden, in der der
Standort Deutschland mit anderen Standorten in der Welt
verglichen wurde. Befragt wurden circa 1 000 Manager
und Vorstandsmitglieder. Kernaussage: International gesehen gilt Westeuropa als attraktivster Standort der Welt;
als für Unternehmen attraktivstes Land in Westeuropa
gilt Deutschland. In der Studie steht nicht, dass Deutschland so attraktiv ist - das trifft zu -, weil hier alles so
billig ist. In der Studie steht, Deutschland bietet Qualität:
hervorragende Infrastruktur, etwa Verkehrswege,
Rechtssicherheit, hohe Qualität bei den Arbeitskräften,
es gibt Forschung und Entwicklung. Deutschland ist
einfach ein Premiumstandort.
({6})
Ein Premiumstandort ist natürlich nicht ganz billig.
Das gilt für die Arbeitslöhne wie auch für die Besteuerung. Wenn sich jemand darüber wundert, dass der Porsche teurer ist als die Vespa, dann muss er sich überlegen, ob er nicht lieber die Vespa nimmt. Wenn man sehr
schnell fahren will, ist das allerdings nicht das ideale
Fahrzeug.
Ich sage das, weil wir auch künftig in der Politik darauf zu achten haben, dass die Handlungsfähigkeit des
Staates nicht beschränkt wird; denn sonst verliert dieser
Standort seine Qualität. Dieser Standort braucht einen
handlungsfähigen Staat, der die Infrastruktur und die
Bildung sicherstellt sowie Rechtssicherheit gewährt. Ich
bin ganz sicher, dass sich die große Koalition dessen
auch bei den künftigen Schritten bewusst sein wird und
dass wir an die ökonomisch sehr erfolgreiche Politik der
ersten großen Koalition - Stichwort Stabilitäts- und
Wachstumsgesetz von 1967 - anknüpfen werden.
({7})
Das Wort hat der Kollege Georg Fahrenschon, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kollege Kampeter hat es schon herausgearbeitet: Nachhaltige, stabile Staatsfinanzen gehören für die
Union zum Kern erfolgreicher bürgerlicher Politik. Ich
möchte betonen: Generationenengerechte Haushaltspolitik bedeutet, keine vermeidbaren Kosten auf die folgenden Generationen zu übertragen.
({0})
Dafür gibt es im Jahr 2006 auch einen Kronzeugen.
Denn seit über 30 Jahren gibt es in Deutschland ein Bundesland, das endlich einmal wieder einen ausgeglichenen Haushalt vorlegt. Das ist der Freistaat Bayern.
({1})
Das zeigt, dass wir die Möglichkeiten haben, diesen Weg
zu gehen. Er ist nicht einfach und steinig; aber er ist
machbar. Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir uns
an diesem leuchtenden Beispiel orientieren.
({2})
Für den Bund ist dieses ehrgeizige Anliegen keine
Aufgabe, die er an einem Tag erledigen kann, sondern
sie muss, angefangen mit dieser Legislaturperiode, die
Leitlinie unserer Haushalts- und Finanzpolitik sein. Als
erster Schritt - diesen gehen wir mit dem Haushalt 2006 bedeutet das die Rückkehr zur Ehrlichkeit in der Haushaltspolitik. Mit dem Haushalt 2006 wird das wirkliche
Ausmaß der finanziellen Fehlentwicklungen der letzten
Jahre deutlich.
({3})
Das betrifft alle, ohne Zensuren zu vergeben oder Schuld
zu verteilen. Wir haben im Bund, aber auch in der Mehrzahl der Länder über unsere Verhältnisse gelebt.
({4})
Allein der Bundeshaushalt hat ein strukturelles Defizit
von mehr als 50 Milliarden Euro angehäuft. Mit anderen
Worten: Der Bund hat jeden fünften Euro, den er heute
ausgibt, gar nicht, den muss er sich von der Bank holen,
den muss er über Schulden finanzieren. Dass dieses
strukturelle Defizit abgebaut werden muss, versteht sich
von selbst. Ebenso klar ist aber auch: Es wird einige Zeit
dauern, bis wir zufriedener auf die Haushaltszahlen blicken können.
Die zweite Botschaft im Zusammenhang mit dem
Haushalt 2006 lautet: Die große Koalition setzt auch in
dieser Konsolidierungsphase erkennbare politische Akzente: Konsolidierung einerseits und Wachstum andererseits. Denn Konsolidierung und Wirtschaftswachstum
bedingen einander. Solide Staatsfinanzen und eine nachhaltige Konsolidierung sind wichtige Voraussetzungen
für eine Steigerung von Wachstum und Beschäftigung.
Sparen fördert Wachstum. Sparen leistet einen unverzichtbaren Beitrag zu stabilen Preisen und niedrigen Zinsen und stärkt das Vertrauen der Konsumenten und Investoren.
({5})
Umgekehrt gilt genauso, dass uns ohne ein erhöhtes
Wirtschaftswachstum der Abbau der Arbeitslosigkeit,
die Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme und
die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte nicht gelingen werden.
Angesichts der enormen Dimensionen des Konsolidierungsbedarfs müssen wir allerdings bei allen Maßnahmen auch deren Rückwirkung prüfen. Wir müssen
alle Sparanstrengungen und alle Einsparungen in ihren
Auswirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung austarieren. Deshalb stehen Anpassungen bei den konsumtiven Ausgaben, zum Beispiel bei Einsparungen von
Subventionen und sonstigen Fördertatbeständen, und
Maßnahmen zum Abbau von Steuervergünstigungen
und steuerlichen Sonderregelungen im Vordergrund.
Denn man darf in dieser Haushaltswoche nicht vergessen, dass die große Koalition und die von ihr getragene Bundesregierung bereits eine Reihe von gesetzlichen Maßnahmen beschlossen hat: Stichwort „Abbau
der Eigenheimzulage“, Stichwort „Beschränkung der
Verlustverrechnung im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen“, Stichwort „Einstieg in ein steuerliches
Sofortprogramm“ und Stichwort „Gesetz zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltung“. Die große
Koalition verbindet die notwendige Konsolidierungspolitik, die auf längere Sicht die Basis für ein dauerhaftes Wachstum verbessert, mit Maßnahmen, die bereits
kurzfristig die Wachstumsdynamik erhöhen.
Deshalb legen wir ein befristetes Impulsprogramm
zur Stärkung besonders zukunftsträchtiger Bereiche mit
einem Gesamtvolumen von 25 Milliarden Euro auf, um
kurzfristig übergreifend wirkende Wachstumsimpulse zu
setzen. Im Haushalt 2006 haben wir dafür bereits mit
3,5 Milliarden Euro den Start gemacht.
Um positive Impulse für den Standort Deutschland zu
schaffen, um also ein höheres Wirtschaftswachstum und
mehr Beschäftigung zu ermöglichen, arbeiten wir gerade
mit Hochdruck an Eckpunkten einer durchgreifenden
Unternehmensteuerreform. Denn zwischen allen Experten besteht Konsens: Die Steuerbelastung für Unternehmen in Deutschland ist im internationalen Vergleich
zu hoch. Die Unternehmensbesteuerung ist mittlerweile
zu einem echten Standortnachteil im internationalen
Wettbewerb um knappes Investitionspotenzial und -kapital geworden.
({6})
Unsere Unternehmensbesteuerung ist ein Wachstumshemmnis. Deshalb ist eine durchgreifende Reform
dringlich - für höheres Wachstum und mehr Beschäftigung in Deutschland.
({7})
Wenn wir zum 1. Januar 2008 eine kluge und richtig
konzipierte Unternehmensteuerreform durchführen, kann
das wesentlich dazu beitragen, dass in- und ausländische
Unternehmer wieder vermehrt in Deutschland investieren
und so neue Arbeitsplätze im Inland entstehen. Dazu ist
es allerdings notwendig, auch die Steuerstruktur zu reformieren und die ertragsteuerliche Belastung der Unternehmer auf unter 30 Prozent zu senken. Im Ziel bedeutet das,
dass es uns über diesen Weg gelingen kann, Steuersubstrat, das wir in den vergangenen Jahren in erheblichem
Maße verloren haben, wieder nach Deutschland zu holen
und hier zu halten.
Eine kleine und zu eng gezogene Reform, bei der die
Strukturen beibehalten werden und lediglich die Höhe
einiger Steuersätze variiert wird, würde den Erwartungen an eine durchgreifende Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen am Standort Deutschland mit
Sicherheit nicht gerecht.
({8})
Politik kann nicht direkt Arbeitsplätze schaffen. Das
können in einer sozialen Marktwirtschaft nur die Unternehmer bzw. Unternehmen. Damit sie aber in die Lage
versetzt werden, zu investieren und Menschen in Lohn
und Brot zu bringen, müssen die Rahmenbedingungen
stimmen. Für die Schaffung der richtigen Rahmenbedingungen trägt die Politik die Verantwortung. Die große
Koalition wird diese Verantwortung wahrnehmen, angefangen mit der Haushaltspolitik über die Steuerpolitik
bis hin zur Reform der sozialen Sicherungssysteme.
Bezogen auf den Haushalt treibt uns eine politische
und, wenn Sie so wollen, auch eine moralische Verantwortung an. Denn insbesondere unter Berücksichtigung
des Gebots der Nachhaltigkeit darf die heutige Generation nicht dauerhaft mehr verbrauchen, als sie leistet.
Wir müssen die bestehenden Verteilungskonflikte jetzt
angehen und lösen. Wir dürfen sie nicht im Wege der
Verschuldung auf dem Rücken unserer Kinder und Kindeskinder austragen.
({9})
- Lieber Kollege Bonde, Sie sind der Letzte, der darauf
hinweisen sollte, dass wir zu spät dran sind. Wo waren
Sie denn in den letzten sieben Jahren?
({10})
Sie haben in den letzten sieben Jahren den Weg zu einer
maximalen Staatsverschuldung mitgetragen! Und da sagen Sie und Ihre Kollegen, wir seien nicht mutig genug.
Sie sind doch in den letzten sieben Jahren den falschen
Weg mitgegangen; Sie haben sich an keiner Stelle gemeldet. Heute sprechen Sie von Windfall-Profits und
weisen auf die Steuerschätzung vom Mai hin. Was haben
Sie denn mit den UMTS-Erlösen gemacht? Sie haben
daraus nichts Produktives gemacht.
({11})
Sie fangen hier an, parlamentarische Regeln zu brechen, und führen jetzt den BND-Umzug in die Debatte
ein, obwohl Sie genau wissen, dass wir angesichts der
Vorlagen nicht in der Lage sind, hierauf zu reagieren.
({12})
Dabei müssen wir feststellen: Die Entscheidung des Sicherheitskabinetts war doch geprägt durch Ihren Vizekanzler. Sie hat sonst überhaupt keine Grundlage gehabt;
das Sicherheitskabinett ist nicht einmal einberufen worden. Man hat den Finanzminister vor der Tür stehen lassen und hat den Umzug des BND beschlossen, weil der
Vizekanzler und Kanzler der alten Regierung einfach gesagt haben: Wir machen jetzt Politik. Da haben Sie bis
vor kurzem mitgemacht. Sie waren doch nicht zu hören.
({13})
Meine Damen und Herren, der Haushalt 2006 und der
Finanzplan bis 2009 sind der in Zahlen gegossene Fahrplan der großen Koalition zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Ich versichere Ihnen - und das steht im
Zentrum der politischen Auseinandersetzung -: Mit dem
Bundeshaushalt 2007 werden es CDU und CSU gemeinsam mit den Kollegen der SPD schaffen, dass die Regelgrenze der Neuverschuldung des Art. 115 des Grundgesetzes wieder eingehalten wird.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat der Kollege Bernhard Brinkmann, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man in diesem Hohen Haus kurz vor Schluss der
Debatte über den Einzelplan 08 reden darf, könnte man
eine Menge Vergangenheitsbewältigung betreiben.
({0})
- Die Kollegin Flach hat das schon geahnt; doch ich will
das nicht tun. Ich will stattdessen auf drei zentrale
Punkte eingehen, die für diesen Haushalt 2006 wichtig
Bernhard Brinkmann ({1})
sind und es verdienen, noch einmal erwähnt zu werden.
Der Bundeshaushalt 2006 folgt einem politischen Dreiklang, und zwar - in dieser Reihenfolge - sanieren, reformieren und investieren.
({2})
- Herr Kollege Koppelin, ich bin für jeden Hinweis
dankbar, und sei es unter der Überschrift „abkassieren“;
aber damit reizen Sie mich, doch ein Stückchen Vergangenheitsbewältigung zu betreiben.
({3})
Ich gebe Ihnen am Schluss meiner Rede eine Liste der
Schulden, die die FDP allein seit 1990 mit zu verantworten hat. Sie waren ja weitaus länger in der Regierungsverantwortung, in unterschiedlichsten Koalitionen. Ich
nenne Ihnen nur zwei Steuererhöhungen, die Sie
seit 1990 beschlossen haben - fairerweise muss man sagen: als Gegenfinanzierung der Sonderkosten der deutschen Einheit; darüber ist heute überhaupt noch nicht gesprochen worden -: Erstens. Versicherungsteuer von
5 Prozent auf 15 Prozent verdreifacht. Zweitens. Von Ihren Erhöhungen der Mineralölsteuer haben Sie den
Bürgern letztendlich nichts zurückgegeben, wie das zumindest in bestimmten Bereichen nach Ihrer Regierungszeit passiert ist. Das hat schon mehr mit Abkassieren zu tun als das, was Sie eben mit Ihrem Zwischenruf
zum Ausdruck bringen wollten.
Ich will einen zweiten Punkt ansprechen - das war
schon beeindruckend für mich -: Bisher haben die
Freien Demokraten hier an diesem Rednerpult, in Ausschussberatungen und natürlich auch gegenüber der Bevölkerung immer von weiteren Steuersenkungen gesprochen. Darauf haben Sie heute, jedenfalls solange ich
hier gesessen habe, keinen Bezug genommen. Sie scheinen also zumindest, was Haushalts- und Finanzpolitik
angeht, in der Realität angekommen zu sein; denn auch
Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass kein Landesfinanzminister - auch da nicht, wo Sie noch Regierungsverantwortung tragen - ernsthaft über weitere Steuersenkungen nachdenkt respektive bereit wäre, einer solchen
Senkung im Bundesrat zuzustimmen.
Aber es wird noch abenteuerlicher, was das Verhalten
der Freien Demokraten angeht: Die Landesregierung
von Nordrhein-Westfalen hat, wenn ich richtig informiert bin, im Bundesrat die Erhöhung der Mehrwertsteuer abgelehnt, und zwar unter maßgeblicher Begleitung des kleineren Koalitionspartners, der FDP.
({4})
Allerdings schreibt der „Westfälische Anzeiger“ vom
15. Juni, dass diese Einnahmen im Etat letztlich schon
veranschlagt sind.
({5})
Das hat nichts mit Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
FDP. Da liegen Sie falsch. Auch das muss man hier in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringen.
({6})
- Frau Kollegin Flach, wenn Sie mir in den nächsten Tagen belegen können, dass das, was im „Westfälischen
Anzeiger“ steht, nicht wahr ist,
({7})
bin ich gerne bereit, meine Meinung in dieser Hinsicht
zu ändern.
({8})
Wenn man sich den Haushalt 2006 anschaut, wird
man feststellen, dass auch bei den Mehreinnahmen ab
und zu - aus welchen Gründen auch immer, wider besseres Wissen oder absichtlich - falsche Informationen verbreitet werden. Es geht um die Frage der Mehreinnahmen durch die - ich gebe zu, eine sehr bittere Pille Erhöhung der Mehrwertsteuer. Wir sollten bei dieser
Frage und bei einigen anderen auch darauf hinweisen,
dass alle öffentlichen Haushalte, also die des Bundes,
der Länder und der Kommunen, Not leidend sind. Die
Einnahmen aus der Mehrwertsteuererhöhung werden
sich im Rahmen des Finanzausgleichs vom Bund über
die Länder bis zu den Kommunen vorteilhaft auswirken.
Hoffentlich werden die Mehreinnahmen nicht mehr oder
weniger in den Portemonnaies einiger Landesfinanzminister bleiben.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die große Koalition der gemeinsamen nationalen Anstrengung, das gesamtwirtschaftliche Wachstum zu steigern und die Finanzen langfristig auf eine solide Basis zu stellen,
gerecht wird.
Zum Schluss meiner Ausführungen habe ich die herzliche Bitte, dass sich sowohl die linke als auch die rechte
Seite dieses Hohen Hauses bei dieser Arbeit konstruktiv
und nachvollziehbar einbringt. Die Bezeichnung rechte
und linke Seite gilt übrigens unabhängig davon, wo man
steht. Da die Grünen in der Mitte sitzen und gemeinsam
mit meiner Fraktion bis 2005 diese Haushalts- und Finanzpolitik zu verantworten hatten, wäre ich Ihnen sehr
dankbar - ganz besonders auch dem Kollegen Bonde -,
wenn Sie das so fortführen könnten, wie Sie das in den
Haushaltsberatungen zumindest bis November 2005 eigentlich immer sehr konstruktiv getan haben, und wenn
der Auftritt von Ihnen heute, Herr Bonde, nicht wiederholt wird.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat der Kollege Norbert Königshofen,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will zu einem Teilaspekt des Haushalts
Stellung nehmen, nämlich zu den Folgen von PrivatisieNorbert Königshofen
rungen von bundeseigenen Unternehmen für den
Bundeshaushalt. Es gibt ja nur nicht gesellschaftspolitische, betriebs- und volkswirtschaftliche Gründe, so etwas vorzunehmen, sondern die Privatisierung bringt in
der Regel auch ein wenig Geld in unsere Bundeskasse.
Ich erinnere daran, dass es in den vergangenen Jahren
durch die Privatisierung der Lufthansa, der Deutschen
Post und der Deutschen Telekom namhafte Erlöse für
den Bundeshaushalt gab. Im April dieses Jahres haben
wir beschlossen, 74,9 Prozent der Anteile an der Deutschen Flugsicherung zu verkaufen. Hier rechnen wir
vielleicht noch nicht in 2006, aber spätestens in 2007 mit
Erlösen von weit über 1 Milliarde Euro für den Bundeshaushalt.
Zurzeit wird über den Börsengang der Deutschen
Bahn AG diskutiert. Es gibt ein Gutachten der Booz
Allen Hamilton GmbH und zwei verschiedene Grundmodelle, je nachdem, ob der Börsengang mit oder ohne
Netz durchgeführt wird. Geht die Bahn mit dem Netz an
die Börse, dann können wir nur bis zu 49,9 Prozent verkaufen, da der Bund nach Art. 87 e des Grundgesetzes
mit über 50 Prozent Eigentümer bleiben muss. Der Erlös
für den Haushalt wird sich dann zwischen 5 und
8,7 Milliarden Euro belaufen.
({0})
Das geht jedenfalls aus dem Gutachten hervor. Trennen
wir Netz und Betrieb, bleibt das Netz also beim Bund,
dann kann der Betrieb bis zu 100 Prozent privatisiert
werden. Hier rechnet man mit Erlösen von
14,6 Milliarden Euro.
Der Vorstand der DB AG ist für den Börsengang mit
Netz. Die Frage lautet also, welche Vor- und Nachteile
für den Bundeshaushalt zu erwarten sind.
Kurz zur Erinnerung, dass mit der Bahnreform 1993
folgende Ziele verfolgt wurden: geringere Belastung des
Bundes, mehr Verkehr auf die Schiene und Wettbewerb.
Die neu geschaffene DB AG wurde komplett entschuldet. Der Bund übernahm 68,45 Milliarden DM an Altschulden, was nach heutigem Geld 35 Milliarden Euro
sind.
Nach dem Deutsche Bahn Gründungsgesetz vom
27. Dezember 1993 sollte eine organisatorische und
rechnerische Trennung der Bereiche Personennahverkehr, Personenfernverkehr, Güterverkehr und Fahrweg
vorgenommen werden. Diese sollten dann als neu gegründete Aktiengesellschaften ausgegliedert werden.
Die Holding Deutsche Bahn AG sollte nur kontrollierende und koordinierende Aufgaben haben und später
eventuell sogar aufgegeben werden. Das ist damals von
den beiden Koalitionsfraktionen Union und FDP so beschlossen und auch von der Opposition - auch von der
SPD - mitgetragen worden.
Leider ist diese Bahnreform nicht konsequent umgesetzt worden.
({1})
Man muss sagen: Mit Duldung der letzten Regierung hat
seit 2000 eine Rezentralisierung stattgefunden. Das Ergebnis sieht heute so aus: Die Ziele sind nicht erreicht
worden. Der Bund zahlt für das System Schiene jährlich
9 bis 19 Milliarden Euro, je nachdem, ob man die Bedienung der Altlasten mitrechnet oder nicht. Der Anteil des
Verkehrs auf der Schiene ist nicht signifikant größer als
vor zehn Jahren. Der Wettbewerb hält sich in Grenzen.
Die DB AG hat erneut Schulden in Höhe von
19,7 Milliarden Euro angehäuft.
Hinzu kommt das, was wir in den letzten Tagen erfahren mussten: Es geht um eine gesetzeswidrige Zuordnung von Immobilien auf die einzelnen Bereiche. Wir lesen und hören jetzt: Nach Verhandlungen hat es eine
Einigung zwischen Verkehrsminister und Bahnvorstand
gegeben, nach der die Immobilien innerhalb des Konzerns wieder richtig zuzuordnen sind. Nun muss man
dem Herrn Minister Tiefensee bei aller Koalitionsfreundschaft sagen: Das Management eines Unternehmens, das zu 100 Prozent dem Bund gehört, ist kein
gleichwertiger Verhandlungspartner.
({2})
Der Bahnvorstand hat das Deutsche Bahn Gründungsgesetz zu beachten und Anweisungen des Eigentümers
zu befolgen; sonst muss er gehen.
({3})
Sollten die erhobenen Vorwürfe stimmen, müssen die
Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.
Der Bundestag soll noch in diesem Jahr entscheiden,
ob die Kapitalprivatisierung mit oder ohne Netz vorgenommen wird. Der Wiederbeschaffungswert des Netzes beträgt 150 Milliarden Euro. Laut Gutachten erhält
der Bund für die Hälfte von Netz und Betrieb maximal
8,7 Milliarden Euro. Können wir, so frage ich als Abgeordneter - das gilt auch für die Regierung -, überhaupt
vertreten, die Hälfte des Netzes an Private fast zu verschenken?
({4})
Der Rückkauf ist eine andere Frage. Was passiert,
wenn wir zurückkaufen müssen, weil beispielsweise in
Europa geklagt wird oder, wie in England geschehen,
das Netz verrottet und der Staat zurückkaufen muss?
Wie hoch sind dann der Preis und die Belastung für den
Bundeshaushalt? Sicherlich wird der Preis ein Vielfaches des heutigen Verkaufserlöses betragen.
({5})
„Fresh money“, also neues Geld, für das Unternehmen ist die nächste Frage. Was bleibt dann, Herr Minister Steinbrück, vom Verkaufserlös für den Bundeshaushalt übrig,
({6})
wenn Sie aus dem Verkaufserlös Milliardenbeträge wieder zurück in das Unternehmen pumpen müssen? Auch
stellt sich bei dieser Gelegenheit die Frage: Muss der
Bund überhaupt an einem weltweit operierenden Logis3508
tikunternehmen beteiligt sein? Auch diese Frage muss
man einmal grundsätzlich klären.
({7})
Was geschieht bei notwendigen Kapitalerhöhungen?
Wie ausgeführt, muss der Bund wegen des Netzes mehr
als 50 Prozent behalten und dann bei Kapitalerhöhungen
mitgehen. Was wird uns das kosten? Das Netz muss unterhalten werden. Wem immer es gehört, aus der Sicht
der Bürger ist die Politik für das Netz verantwortlich.
Für private Eigentümer sind Investitionen in das Netz
betriebswirtschaftlich nicht vertretbar; denn die Bahn
verdient im Kerngeschäft kaum Geld. Im Nahverkehr
verdient sie zwar etwas Geld, aber sie ist von Struktur
und Höhe der staatlichen Bezuschussung auch in Zukunft abhängig. Ohne Regionalisierungsmittel sähe das
alles andere als rosig aus. Also muss der Staat das Netz
unterhalten.
Nun soll es eine Leistungsfinanzierungsvereinbarung
geben. Der Bund verpflichtet sich, zehn Jahre lang jährlich 2,5 Milliarden Euro für das Netz an die DB AG zu
zahlen. Schon jetzt zahlen wir im Schnitt der Jahre
3,5 Milliarden Euro. Also sind 2,5 Milliarden Euro ein
wenig tief gegriffen.
Dann stellt sich natürlich die Frage: Wie viel Einfluss
haben wir auf die Verwendung? Das Beispiel mit der falschen Zuordnung der Immobilien hat unseren Einfluss
deutlich gemacht; denn dies ist nur durch einen Bericht
des Bundesrechnungshofes an den Haushaltsausschuss
bekannt geworden. Ansonsten hätten dies die Herren in
den Ministerien wahrscheinlich gar nicht gemerkt. Ich
bezweifle, dass wir einen größeren Einfluss haben werden.
Deswegen ist es auch kein Wunder, dass sich in zwei
Anhörungen des Deutschen Bundestages nur die Vertreter der DB AG und der Gewerkschaft Transnet - das ist
die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands - für
den Börsengang mit Netz ausgesprochen haben. Die
überwältigende Mehrheit der Sachverständigen, der Betroffenen und der Experten hält den Weg eines Börsengangs mit Netz für falsch.
In einer Haushaltsdebatte ist es wichtig, Dinge anzusprechen, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist.
({8})
Wir reden in der Regel immer über Dinge, die schon erledigt und abgehakt sind. Die Opposition kritisiert das
dann und wir verteidigen das. Das ist aber nicht zielführend. Wir müssen vorher über diese Fragen sprechen,
und zwar auch hier, nicht nur in kleinen Runden. Die Beratung des Haushalts ist ein guter Anlass dafür. Denn die
Verantwortung tragen wir alle.
({9})
Wir alle - auch die Regierung - müssen uns sehr kritisch mit den außerordentlich hohen Haushaltsrisiken
- es geht um zweistellige Milliardenbeträge, um die
Größenordnung deutlich zu machen - auseinander setzen. Der Staat darf auch nicht erpressbar sein,
({10})
beispielsweise wenn das Netz zur Hälfte ihm gehört und
zur anderen Hälfte in privater Hand ist und die DB AG
feststellt, dass sie es mit 2,5 Milliarden Euro jährlich
nicht unterhalten kann, uns den Ball wieder zuspielt und
wir auf die Forderungen - seien es 3,5 Milliarden, seien
es 4,5 Milliarden Euro - eingehen. Es geht doch nicht
an, dass ein großes Unternehmen die Führung der Bundesrepublik an der Nase herumführt.
({11})
Als Abgeordneter, zumal als Mitglied des Haushaltsausschusses, sehe ich es als meine Aufgabe an, den Bund
vor unübersehbaren Risiken zu bewahren und vorhandene Risiken so weit wie möglich zu minimieren. Im
Falle der geplanten Kapitalprivatisierung der DB AG
scheint es mir deshalb dringend geboten zu sein, sich auf
das zu besinnen, was uns die Väter der Bahnreform vorgegeben haben: Sie wollten eine Privatisierung aller Bereiche mit Ausnahme des Netzes.
Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.
({12})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Punkt.
Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zu-
nächst zur Abstimmung über den Einzelplan 08 - Bun-
desministerium der Finanzen - in der Ausschussfassung.
Wer stimmt für diesen Einzelplan? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Damit ist der Einzelplan 08 mit den
Stimmen der Koalition gegen den Rest des Hauses ange-
nommen.
Abstimmung über den Einzelplan 20 - Bundesrech-
nungshof - in der Ausschussfassung. Wer stimmt da-
für? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die-
ser Einzelplan mit den Stimmen des ganzen Hauses
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.5 auf:
a) Einzelplan 07
Bundesministerium der Justiz
- Drucksachen 16/1307, 16/1324 Berichterstattung:
Abgeordnete Lothar Binding ({0})
Dr. Claudia Winterstein
Roland Claus
Anna Lührmann
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
b) Einzelplan 19
Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 16/1324 Berichterstattung:
Abgeordnete Lothar Binding ({1})
Otto Fricke
Dr. Dietmar Bartsch
Anna Lührmann
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung
- Drucksachen 16/1780, 16/1852Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
d) Erste Beratung des von der Fraktion der LINKEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Schuldrechtsanpassungsgesetzes
- Drucksache 16/1736 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jerzy
Montag, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Jan Korte und weiterer Abgeordneter
Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung durch
den Europäischen Gerichtshof prüfen lassen
- Drucksache 16/1622 ZP 1 Beratung des Antrags der Fraktion der FDP
Bürokratie schützt nicht vor Diskriminierung - Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz
ist der falsche Weg
- Drucksache 16/1861 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Zum Einzelplan 07 liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen, wobei
die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD jeweils zwei
Minuten zusätzlich und die Fraktionen der FDP, Die
Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen jeweils eine
Minute zusätzlich erhalten. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe der Kollegin
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Fraktion, das
Wort.
({5})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Menschen wollen in rechtlich verlässlichen Strukturen frei und sicher leben. Rechtspolitik schafft
den Ausgleich zwischen dem Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit und ihrem grundgesetzlich
garantierten Recht auf Freiheit.
Dieses Zitat steht am Anfang Ihrer Koalitionsvereinbarung, Frau Ministerin. Es ist inhaltlich richtig. Aber wie
sieht die Rechtspolitik der schwarz-roten Koalition in
den ersten acht Monaten tatsächlich aus? Sie haben die
Geltungsdauer eines verfassungsrechtlich äußerst bedenklichen Gesetzes, des Zollfahndungsdienstgesetzes,
für anderthalb Jahre verlängert. Der Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl, den Sie in einem zweiten Anlauf
vorgelegt haben, wurde in einer Expertenanhörung
scharf kritisiert: zu unbestimmt, zu wenig Rechtsschutz
und Nachteile für im Ausland straffällig gewordene
Deutsche, die sich in Deutschland für dieselbe Tat nicht
strafbar gemacht hätten. Sie sollen nicht rücküberstellt
werden. Die Verfassungswidrigkeit des Luftsicherheitsgesetzes aus der letzten Legislaturperiode, von Liberalen
eingeklagt und vom Bundesverfassungsgericht am
15. Februar 2006 festgestellt, hat innerhalb der Bundesregierung zu einer gespenstischen Debatte über die Möglichkeit einer Umgehung des Urteils und des Grundgesetzes ausgelöst. Stattdessen hätte dieses missglückte
Vorhaben endgültig ad acta gelegt werden müssen.
({0})
Das alles trägt nicht dazu bei, dass sich der Bürger
- wie in der Koalitionsvereinbarung zu Recht eingefordert - sicherer fühlt und dass Rechtssicherheit gewährleistet wird. Vertrauen in die Funktionsfähigkeit unseres
Rechtsstaates ist das wichtigste Gut, das wir als Rechtspolitiker insbesondere bei den Beratungen über den Justizhaushalt zu verteidigen haben.
({1})
Der Justizhaushalt kann mit Sicherheit nicht entscheidend zur Sanierung des Gesamthaushalts 2006 beitragen.
({2})
Es gibt zwar einige Ansätze, deren Sparpotenzial nicht
vollständig ausgeschöpft wird. Hier können die Mittel
möglicherweise niedriger angesetzt werden; das wäre in
Ordnung.
({3})
Aber sonst, denke ich, sind wir uns im Großen und Ganzen einig: Der Justizhaushalt ist nicht dazu da, entscheidend zur Sanierung des Bundeshaushalts beizutragen.
Es ist entscheidend, dass die Justiz, die Gerichte in
Bund und Ländern, die Anerkennung - auch in dieser
Debatte im Bundestag - bekommen, die sie verdient haben und brauchen; denn das Vertrauen der Bürgerinnen
und Bürger in die Justiz, sowohl in die oberste Gerichtsbarkeit als auch in die Gerichte der Länder, ist mit am
größten. Unsere Justiz leistet hervorragende Arbeit und
genießt hohes Ansehen. Deshalb dürfen - meistens fiskalisch orientierte - Überlegungen zu einer Justizreform, die in erster Linie die Einschränkung des
Rechtsschutzes sowie die Beschränkung des Zugangs
der Bürgerinnen und Bürger zu den Gerichten, wenn es
um niedrige Streitwerte geht, zum Ziel haben, nicht weiter verfolgt werden.
({4})
Frau Justizministerin, Sie haben hier unsere Unterstützung im Bundestag. Sie wissen, dass sich gerade der
Bundestag über alle Fraktionsgrenzen hinweg für Ihre
Position immer stark gemacht hat. Ich weiß angesichts
der Diskussionen und der Vorschläge der Länder - das
ist parteipolitisch neutral gemeint -, dass Sie diese Unterstützung brauchen.
Ich möchte noch ein anderes für unsere Justiz und ihr
Ansehen wichtiges Vorhaben - es liegt zwar noch kein
Gesetzentwurf vor, wohl aber ein Referentenentwurf erwähnen. Sie wollen ein großes Familiengericht errichten. Wir halten das auch im Hinblick auf eine bessere
Übersichtlichkeit und das Zusammenführen vieler Streitigkeiten für einen richtigen Weg. Aber wir sehen die geplante „Scheidung light“ kritisch, weil gerade die Wahrnehmung der Interessen der Schwächeren bei einer
Scheidung - das sind heutzutage meistens Frauen; das
können in zehn Jahren aber auch Männer sein - nicht
ausreichend gewährleistet ist. Deshalb halten wir es für
dringend notwendig, dass in jedem Fall eine anwaltliche
Beratung gegeben ist, sodass nicht der ökonomisch Stärkere den Schwächeren beim Versuch, eine einvernehmliche Regelung zu erzielen, über den Tisch ziehen kann.
({5})
Frau Ministerin, es gibt eine Fülle von Vorhaben, die
in der Koalitionsvereinbarung angekündigt werden. Ich
bedauere, dass bis heute noch nicht einmal ein Zeitplan
für die Beratung eines wichtigen Vorhabens, nämlich der
Neuordnung der Telekommunikationsüberwachung
in der Strafprozessordnung, hier im Bundestag und in
den Ausschüssen vorliegt. Es gibt seit einigen Jahren
ausreichend Urteile des Bundesverfassungsgerichts, die
sich mit Bundes- und Landesgesetzen befasst haben und
die klar dazu auffordern, auch politisch, die Telekommunikationsüberwachung anders auszugestalten.
({6})
Sie haben das in der Koalitionsvereinbarung als Notwendigkeit angesprochen, aber bisher hat das Thema überhaupt noch keine Rolle gespielt. Ich fordere Sie auf - ich
hoffe, Sie kommen dem nach -, möglichst schnell zumindest Eckpunkte vorzulegen, damit wir darüber hier
im Bundestag, wohin es gehört, beraten können.
Die Europäische Union mit ihren Initiativen und Vorhaben spielt gerade in der Rechtspolitik eine immer größere Rolle. Hierbei geht es wirklich im Kern um das
Selbstverständnis des Deutschen Bundestages, um das
Verhältnis von Exekutive und Legislative und um den
Stellenwert, den der Bundestag hat. Deshalb haben wir
einen Gruppenantrag mit initiiert, der die Bundesregierung auffordert, sich mit einem Vorhaben, das extrem kritisch ist und in der letzten Legislaturperiode im gesamten
Bundestag sehr kritisch gesehen wurde, nämlich mit der
Vorratsdatenspeicherung, in einer bestimmten Weise
auseinander zu setzen. Die Vorratsdatenspeicherung ist
beschlossen worden. Wir fordern die Bundesregierung
auf, mit ihren Möglichkeiten - nur sie hat solche Möglichkeiten; wir haben sie nicht - dagegen vorzugehen.
({7})
Warum? Weil es keine Rechtsgrundlage für die Richtlinie gibt. Das ist nicht aus der Luft gegriffen. Das Urteil
des EuGH zum Passagierdatenübereinkommen hat aufgezeigt, dass es dafür keine Rechtsgrundlage gab. Jetzt
stützen Sie sich auf genau dieselbe Rechtsgrundlage, die
dort angeführt worden war. Das hat keinen Bestand. Lassen wir uns doch nicht durch den EuGH immer wieder
zu Reaktionen veranlassen, sondern machen wir es anders! Machen Sie von der Bundesregierung, machen Sie,
Frau Justizministerin, von den Möglichkeiten Gebrauch,
die es gibt! Ich fordere CDU/CSU- und SPD-Kollegen
auf, diesem Antrag zuzustimmen; denn nur dann macht
der Bundestag von seinen Machtmöglichkeiten Gebrauch.
({8})
Ich darf zum Schluss
Ganz zum Schluss!
- einen ausdrücklichen Dank sagen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Justizministerium, an alle, die
an diesem Haushalt mitgewirkt haben, auch an den
Rechtsausschuss. Ich würde mich natürlich sehr freuen,
liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns nicht nur
hier sehen würden, sondern auch übermorgen in einer
Sitzung des Rechtsausschusses, die jetzt leider abgesagt
worden ist.
Recht herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Lothar Binding, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu den rechtspolitischen Inhalten und zu den Aufgaben, die das Ministerium hat und erledigt, möchte ich mich nicht äußern,
weil wir in der Haushaltsdebatte sind. Ich möchte vornehmlich die haushaltspolitische Seite etwas beleuchten.
Da kann ich an den Dank anschließen, den die Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger schon zum Ausdruck
gebracht hat.
({0})
Ich denke, dass die Berichterstatter - ich möchte sie nennen: Es sind außer mir Dr. Ole Schröder, Dr. Claudia
Winterstein, Roland Claus und Anna Lührmann sowie
zu Einzelplan 19 noch Otto Fricke und Dr. Dietmar
Bartsch - mit der Unterstützung durch die Ministerin
Brigitte Zypries, aber auch durch den Ministerialrat
Dr. Vogel und durch die Direktorin beim Bundesverfassungsgericht Frau Dr. Bahnstedt sehr zufrieden sein
konnten. Ich glaube, dass sie exzellente Unterstützungsarbeit geleistet haben, als es darum ging, unsere schwierigste Aufgabe zu bewältigen, nämlich die globale Minderausgabe aufzulösen.
Man wird es kaum glauben: Je kleiner der Haushalt,
umso komplizierter scheint es, eine globale Minderausgabe aufzulösen. Die Aufgabe war, immerhin
9 Millionen Euro zu sparen. Bei einem Haushalt, dessen
Volumen kaum über 300 Millionen Euro beträgt, ist das
eine sehr große Aufgabe, vor allem mit Blick darauf,
dass in einem solchen Haushalt bis zu 86 Prozent Personalkosten sind - das ist für viele vielleicht gar nicht so
transparent - und damit die Einsparmöglichkeiten bekannterweise sehr gering sind. Deshalb möchte ich dem
Ministerium danken. Diese Kooperation war nicht
selbstverständlich.
({1})
Ich möchte auf zwei kleine Einzelheiten eingehen, die
im Ministerium immer eine wichtige Rolle spielen und
die zu einer besonderen Aufgabe geführt haben. Das
BMJ kümmert sich maßgeblich um das Deutsche
Patent- und Markenamt. Das ist auch wieder eine
wichtige Angelegenheit; denn durch den Deckungsbeitrag, also durch die Gebühren, die dort erhoben werden,
wird das Ministerium zu einem ganz großen Teil gegenfinanziert. Hierfür ist aus Haushältersicht ein sehr großes
Lob angebracht.
Hier gab es aber ein Problem: Über die Jahre hatten
sich mehr als 100 000 Bearbeitungsfälle aufgestaut.
Brigitte Zypries und ihre Vorgängerin hatten deshalb ein
Stauabbaukonzept entwickelt und umgesetzt. So wird
seit knapp zwei Jahren dieser Rückstau abgebaut. Wir
können davon ausgehen, dass neben den jährlich hinzukommenden 30 000 Patentfällen auch die aufgestauten
bis zum Jahr 2009 abgearbeitet sein werden. Wir glauben, dass das ein sehr gutes Konzept ist, solche Bearbeitungsrückstände abzubauen.
({2})
Dann gibt es eine weitere Neuerung, die sehr wichtig
ist. Sie trägt den schönen Namen ELSA; das steht für
Elektronische Schutzrechtsakte und umfasst die Einführung einer vollständig IT-gestützten Vorgangsbearbeitung in den Schutzrechtsbereichen Patente- und Gebrauchsmuster. Die Unterstützung dieses Bereichs stellt
für das Ministerium einen besonderen Schwerpunkt dar
und deshalb wurde auch schon im Haushaltsentwurf des
Ministeriums vorgesehen, diesen Haushaltstitel deutlich
zu erhöhen, nämlich um 9 Millionen.
Diesen Haushaltsansatz möchte ich zum Anlass nehmen, einmal über unser Politikverständnis nachzudenken. Die Linke hatte, wohl wissend, dass der ursprüngliche Haushaltsansatz insgesamt schon um 9 Millionen
erhöht wird, den Antrag gestellt, ihn um weitere
5 Millionen zu erhöhen, ohne dabei sicherzustellen, dass
diese Mittel überhaupt gebraucht werden und sinnvoll in
die Projektarbeit dieses Jahres einfließen können. Warum mich diese Art von Politikverständnis besonders geärgert hat, möchte ich an einem kleinen Beispiel deutlich
machen: Bevor ich in den Bundestag gewählt wurde,
war ich Planer und habe für die Universität Heidelberg
große EDV-Netze für 10 000 bis 15 000 Arbeitsplätze
geplant und habe so etwas Ähnliches auch für die Industrie gemacht. Dabei habe ich zwei Kategorien von Planern kennen gelernt:
Es gibt Planer, die für ihre Planung beliebig viel Geld
und einen großen Zeitvorrat haben. Diese planen sehr
detailliert; das Projekt wird immer schöner, größer, dicker. Der Plan landet dann aber - das wissen diese Planer meistens schon von vornherein - im Regal.
Dann gibt es Planer - zu denen gehörte ich -, die
große Projekte planen, für die vielleicht
10 000 Komponenten erforderlich sind, die eine Größenordnung von 30 bis 50 Millionen Euro umfassen und bei
denen viele hundert Menschen und möglicherweise auch
noch mehr beteiligt sind. Denken Sie etwa an ein großes
Hochregallager mit 50 000 Palettenplätzen, das Zusammenspiel von vielen Maschinen, verkettete Fertigung
oder ein Ausgangslager. Wenn Sie nun anfangen, den
Plan zu verwirklichen, merken Sie bald, dass es kompliziert wird. Schließlich geht es an die Inbetriebnahme.
Man schaltet ein, aber es funktioniert nicht. Das kann daran liegen, dass ein Denkfehler gemacht wurde, jemand
eine Komponente mit nach Hause genommen hat, irgendein Bagger ein Kabel durchtrennt hat oder ein Fehler bei der Bedienung gemacht wurde.
Deshalb geht man in der Praxis nicht so vor, sondern
reserviert sich für die Inbetriebnahme einen längeren
Zeitraum und lässt den Vorstand der auftraggebenden
Firma erst nach drei, sechs oder gar neun Monaten den
Schalter zur Inbetriebnahme umlegen, weil dann das
Lothar Binding ({3})
System eingeschwungen ist, die Fehler ausgemerzt sind
und alles gut funktioniert. Man hat also seine ursprünglichen Planungen in dieser Phase an die realistischen
Möglichkeiten angepasst.
So ähnlich ist es in der Politik auch. Es gibt zwei Sorten von Leuten, die Programme machen: Die einen machen das geniale Programm, das meistens noch etwas dicker, noch etwas schöner, noch etwas größer und teurer
ist, und nehmen sich dafür beliebig viel Zeit. Der kleine
Antrag, den die PDS gestellt hat, zeigt beispielhaft, dass
hier die realistischen Möglichkeiten überschätzt wurden.
Ich nehme das nur als Beispiel für einen systemischen
Ansatz, sich politisch entsprechend zu verhalten. Auch
mit anderen Beobachtungen kann man das leicht belegen: Was ist nämlich passiert, als Planer dieser Kategorie
die Chance hatten, ihren Plan umzusetzen? Oskar
Lafontaine ist als Superminister kurze Zeit nach der Inbetriebnahmekatastrophe geflüchtet. Auch Gregor Gysi,
davon nicht sehr verschieden, ist geflüchtet, kaum dass
er die Chance hatte, seine Pläne wirklich umzusetzen.
({4})
Deshalb glaube ich, mit diesem Ansatz kann man Oppositions- und Regierungspolitik charakterisieren und
die möglichen und realistischen Politikansätze von jenen
unterscheiden, deren Antragsteller gleich wissen, dass
sie keine Realisierungschance haben. Letzteres halte ich
für eine unseriöse Politik.
Mit dem Hinweis auf meinen beruflichen Hintergrund
und die Beobachtung, wie Regierungs- und Oppositionspolitik hier gegeneinander gestellt werden, möchte ich
schließen, aber nicht ohne Ihnen den Lösungsansatz von
jemandem zu zeigen, der von mir eine kleine Aufgabe
gestellt bekommen hat. Viele von Ihnen wissen, dass ich
oft einen kleinen Bleistift an eine Jacke hefte, den man
mit etwas Geschick ablösen kann. Ich sage Ihnen, wie
Ulrich Maurer dieses Problem gelöst hat: Er hat ihn
durchgebrochen.
Das war eine Lösung, der ich nicht folgen will.
({5})
Ich glaube deshalb, dass es sehr gut ist, einen Haushalt
wie diesen zu haben, mit seriösen Anträgen der Regierungskoalition, einen Haushalt, der realistisch, konsequent und mit unseren Zielsetzungen auch zukunftsweisend ist.
Schönen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Nešković, Die
Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Im vierten Nachwendejahr äußerte
Theo Sommer in der „Zeit“ die Überlegung, der Kapitalismus habe gar nicht gesiegt, er sei nur übrig geblieben.
Heute, 16 Jahre nach dem gewaltigen Umbruch, werden
die Wahrheit und die Tragik dieses Satzes vom übrig gebliebenen Kapitalismus für uns alle erkennbar.
Die Bundesrepublik war weit davon entfernt, eine
perfekte Gesellschaft zu sein. Aber unter der Herrschaft
des Grundgesetzes hat sie sich immerhin zu einem Staat
entwickelt, der sich ernsthaft bemühte, den Menschen
nicht nur Freiheit und Selbstverwirklichung zu verschaffen, sondern ihnen auch zu sozialer Sicherheit und Chancengleichheit zu verhelfen. Man hat bewiesen, dass Kapitalismus und soziale Ziele nicht notwendigerweise
Gegner sein müssen. Die Wiedervereinigung Deutschlands stand unter dem Versprechen, diesen Erfolg zu halten und weiter auszubauen. Wir erleben heute jedoch,
wie die Erfolge des sozialen Rechtsstaats hinwegreformiert werden. So gewinnt das eingangs verwandte Zitat
erst heute seine wirkliche Bedeutung: Übrig geblieben
ist heute der Kapitalismus.
Die politische Mehrheit in diesem Hause schämt sich
nicht einmal dafür, dass sie die Werkzeuge des Abrisses
von Errungenschaften aus Jahrzehnten als Reformen
bezeichnet. Eine Reform reißt soziale Errungenschaften
nicht nieder, sondern schafft soziale Errungenschaften.
({0})
Die Anerkennung der Gewerkschaften als Vertreter der
Interessen der Arbeitnehmer - das war eine Reform. Die
Bindung der drei Gewalten an das Sozialstaatsprinzip das war eine Reform. Die Einrichtung und der Ausbau
der Arbeitnehmermitbestimmung - das war eine Reform. Eine Reform erkennen Sie immer daran, dass sie
die Position der Schwachen stärkt. Keine Reform ist es,
wenn die Schwachen der Gesellschaft für ihre Schwächen auch noch büßen müssen.
Hartz IV ist dabei nur die Spitze des Eisberges in einem kalten Meer neoliberaler Maßnahmen, in dem die
Verlierer der Gesellschaft frierend ertrinken.
({1})
- Sie sollten darüber keine Scherze machen. Für viele
Menschen ist das bittere Wahrheit.
({2})
Der Erfolg des sozialen Rechtsstaates Bundesrepublik
ruhte auf vier stabilen Säulen. Als erste der Säulen ist die
Pflicht zur Einrichtung eines sozialstaatlichen Rechtssystems zu nennen, zu dem Arm und Reich gleichermaßen Zugang haben. Der Gerichtssaal nivelliert die soziale
Herkunft für die Dauer der Verhandlung. Er ist die
Schicksalskorrektur, wenn es um die Durchsetzung des
Rechts geht.
Sie können dem Einzelplan 19 entnehmen, dass dem
Bundesverfassungsgericht zukünftig rund 1 Million Euro
weniger zur Verfügung stehen. Ähnliches können Sie
den Haushaltsplänen der Länder entnehmen. Dieser Abwärtstrend in Ausstattung und Besetzung der Gerichte
trifft zuerst diejenigen, die den Gleichmacher Recht am
dringendsten benötigen: die Schwachen in der Gesellschaft.
({3})
Ganz im Trend der Zeit legte der Bundesrat kürzlich
einen wirklich schaurigen Gesetzentwurf zur Neuregelung der Prozesskostenhilfe vor. Der Entwurf sieht
ganz erhebliche Erschwernisse für die Gewährung der
Prozesskostenhilfe vor. Um Ihnen nur den unerträglichsten Neuregelungsvorschlag zu nennen: Allein die Prüfung der Gewährung der Prozesskostenhilfe soll eine
Zahlungspflicht von 50 Euro für jeden Bürger auslösen,
dessen monatliches Einkommen nur 100 Euro über dem
Existenzminimum liegt. Das ist also die Praxisgebühr im
Gerichtssaal. Wenn das Gesetz wird, dann werden viele
in unserem Land feststellen, dass sie sich sogar ihren
von der Verfassung garantierten Justizgewährungsanspruch nicht mehr leisten können. Übrig geblieben ist
der Kapitalismus.
Ich komme zur zweiten Säule des sozialen Rechtsstaates. Verwandt mit dem sozialen Recht ist der Anspruch, ein Recht zu schaffen, das mit Besonderheiten
angemessen umgeht und dabei den Grundsatz der Billigkeit beachtet.
({4})
Ein Recht um jeden Preis ist Unrecht. Als die alte Bundesrepublik fünf neue Länder dazu brachte, sich in den
Geltungsbereich des Grundgesetzes zu begeben, da verpflichtete sie sich, mit den Besonderheiten des Ostens
gerecht umzugehen. Das bedeutete die Pflicht, grobe
Unbill zu korrigieren. Das bedeutet aber auch die Pflicht,
lang Gewachsenes anzuerkennen.
Man hat die Rechtsfigur des getrennten Gebäudeeigentums nicht anerkannt, sondern den Häuschen- und
Garageneigentümern lediglich Übergangsfristen eingeräumt, nach deren Ablauf sie ihr Eigentum faktisch entschädigungslos verlieren.
({5})
Wir haben Ihnen heute einen Antrag vorgelegt, der
mit dem Ablauf dieser Fristen Entschädigungsleistungen
in der Höhe des Zeitwerts vorsieht.
({6})
Da der Antrag von uns kommt, werden Sie ihn erwartungsgemäß ablehnen. Übrig geblieben ist der Kapitalismus.
Ich komme zur dritten Säule des sozialen Rechtsstaates. Ein dritter Grund für die Erfolge der alten Bundesrepublik bestand darin, dass man am Ende, trotz aller Meinungsverschiedenheiten und heftiger Streitigkeiten, für
mehr Gleichheit unter den Menschen sorgte. Um dieses
Ideal von der Gleichheit der Menschen ging es auch bei
den Antidiskriminierungsrichtlinien der Europäischen Union, die längst in innerdeutsches Recht umzusetzen waren. Indem diese Aufgabe erst lustlos angegangen, dann wiederholt verschleppt wurde, ist deutlich
geworden, was Sie von diesem politischen Erbe heute
halten.
Der Entwurf des AGG, den Sie heute in die Beratung
eingebracht haben, hat der Wirtschaft viel Sorge bereitet.
Die Wirtschaft wird ihre Ängste rasch los sein. Der Entwurf ist nur ein schüchternes Schäfchen in einem gewaltigen Wolfskostüm.
({7})
Ein ganz wesentlicher Mangel ist die fehlende Verbandsklage für Antidiskriminierungsverbände.
({8})
- Genau. Um Himmels willen! Der Kapitalismus ist übrig geblieben.
({9})
Dort, wo Ihr Mut, Ihre Veränderungsbereitschaft besonders gefragt gewesen wären, nämlich bei der Anerkennung der sozialen Herkunft als Merkmal für Diskriminierung, haben Sie gekniffen. Die soziale Herkunft sucht
man in Text und Begründung des Entwurfs vergeblich.
Zu den ganz alltäglichen Benachteiligungen bestens
ausgebildeter und hoch intelligenter Jobbewerber aus armem Elternhaus empfehle ich Ihnen statt Polemik und
unqualifizierter Zwischenrufe Michael Hartmanns Buch
„Der Mythos von den Leistungseliten“. Darin wird empirisch aufbereitet, dass die soziale Herkunft weit bedeutsamer für eine Karriere ist als aller Fleiß und alle
Klugheit.
({10})
Trotz dieser schwer wiegenden Mängel wäre dieser
Entwurf noch von einem gewissen Wert gewesen, hätten
Sie nicht den Anspruch auf Abschluss einen Arbeitsvertrages ausdrücklich ausgeschlossen. Was also hat der
diskriminierend abgewiesene Arbeitsuchende von Ihrem
Entwurf? Wenn es ihm überhaupt gelingt, die Diskriminierung nachzuweisen, dann erhält er nicht etwa die begehrte Stelle, sondern hat Anspruch auf Schadenersatz.
Damit geben Sie dem Abgewiesenen Geld an die Hand
anstelle einer Chance im Leben. Fortan kann sich also
jeder ausrechnen, was ihn die Diskriminierung seines
Mitmenschen kostet. Lohnt sie sich oder ist sie mit Blick
auf die Gesamtbilanz bereits ineffektiv?
({11})
Heribert Prantl
({12})
fragte unlängst völlig zu Recht, ob wir wirklich eine Gesellschaft wollen, in der der Wert des Menschen am Lineal des Ökonomen gemessen wird.
Wolfgang NeškoviæWolfgang Nešković
({13})
Übrig geblieben ist ganz offenbar der Kapitalismus.
({14})
Ich komme zur vierten und letzten Säule des sozialen
Rechtsstaates. Die vierte Säule ist die Begrenzung staatlichen Handelns durch die Grundrechte. Auch hier treiben Sie heute Pfusch am Staatsbau. Die Liste der Grundrechtsverletzungen per Gesetzesverabschiedung, die
Ausdruck Ihres politischen Grundverständnisses sind, ist
lang: großer Lauschangriff, Zollfahndungsdienstgesetz,
Europäisches Haftbefehlgesetz, Luftsicherheitsgesetz,
Rasterfahndung, Jugendstrafvollzug. Man kann sagen:
Verfassungsbruch im Fortsetzungszusammenhang.
({15})
Immer wieder musste Ihnen das Bundesverfassungsgericht in den Arm fallen, weil Sie jeden Respekt vor der
Verfassung und ihren Werten verloren haben.
({16})
Mit bisher nicht bekannter Schärfe hat Ihnen das Bundesverfassungsgericht beim Luftsicherheitsgesetz ins
Stammbuch geschrieben, dass das Parlament mit diesem
Gesetz die Kernvorschrift unserer Verfassung verletzt
hat. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass
die Annahme des Gesetzgebers, der Staat sei berechtigt,
unschuldige Menschen vorsätzlich zu töten, unter der
Geltung des Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes schlechterdings unvorstellbar sei. Sie haben sich dies nicht nur
vorgestellt. Nein, Sie sind weit darüber hinausgegangen.
Sie haben ein solches Gesetz gemacht. Niemals zuvor in
der Geschichte der Bundesrepublik hat ein Gesetzgeber
ein Gericht gebraucht, um in Erfahrung zu bringen, dass
es falsch sei, Unschuldige durch den Staat vorsätzlich zu
töten.
({17})
- Es reicht in der Tat, was Sie mit diesem Staat und seiner Verfassung machen.
({18})
Noch etwas anderes ist in diesem Zusammenhang
neu: Ihr Verfassungsbruch im Fortsetzungszusammenhang ruft Allianzen hervor, die ich mir früher nicht hätte
vorstellen können. Ihnen liegt heute ein Gruppenantrag
aller drei Oppositionsfraktionen zur Vorratsdatenspeicherung vor, den Sie annehmen sollten.
({19})
Der Antrag bezweckt die Überprüfung der europäischen
Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung im Wege der
Nichtigkeitsklage.
({20})
- So einfach strukturiert denken Sie; das ist wahr.
({21})
Die Freiheitsrechte waren bislang für nahezu jedermann - ob links oder konservativ - eine Grundbedingung des demokratischen Staates. Ich frage mich: Was
ist aus diesem Grundkonsens geworden? Ist er noch
Richtlinie der Politik, die Sie machen?
Frau Bundeskanzlerin Merkel sagte vor deutschen
und amerikanischen Wirtschaftsvertretern am 6. Mai
2006 in New York, das „demokratische Modell“ stehe
im Wettbewerb der globalen Wirtschaft auf dem „Prüfstand“. Sie sagte wörtlich:
… man kann nicht von einer Überlegenheit der Demokratie sprechen, wenn die ökonomischen Erfolge
ausbleiben …
Diese Formulierung, Herr Kampeter, zeugt von einem
fundamentalen Missverstehen unserer Verfassung. Das
Grundgesetz enthält, wie allgemein - und somit auch Ihnen - bekannt ist, keine Festlegung auf ein bestimmtes
Wirtschaftssystem. Aber dieses Grundgesetz enthält sehr
wohl eine ganz eindeutige Festlegung auf das politische
System. Es handelt sich nämlich um die Demokratie und nur um die.
({22})
Da gibt es keinen Bedarf für Wettbewerb.
Übrig geblieben ist der Kapitalismus, der den in Jahrzehnten geschaffenen Schutz der Schwachen beseitigt,
der sich der Politik mit seinen Interessen als Entscheidungsprimat aufzwingt, der seinen ökonomischen Zielen
sogar demokratische Grundprinzipien opfern möchte.
Das ist die Politik, die wir von der Linksfraktion bekämpfen. Dafür sind wir gewählt worden; dafür stehen
wir hier.
Vielen Dank.
({23})
Das Wort hat der Kollege Dr. Ole Schröder, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Wolfgang NeškoviæWolfgang Nešković
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Nešković, Ihre
Rede war ein Griff in die Mottenkiste des Sozialismus.
({0})
Sie haben davon gesprochen, was insbesondere in der
Bundesrepublik Deutschland, in unserem Heimatland,
übrig geblieben ist und was nicht. Nicht übrig geblieben
ist der Sozialismus.
({1})
Nicht übrig geblieben ist der Überwachungsstaat. Nicht
übrig geblieben ist der Kommunismus.
({2})
Übrig geblieben ist die soziale Marktwirtschaft. Dafür
sollten wir dankbar sein.
({3})
Wir sollten diese soziale Marktwirtschaft und die
Demokratie weiter verteidigen und nicht auf so eine unflätige Art und Weise beschimpfen, wie Sie das hier zum
Teil getan haben.
({4})
Wir sind im Haushaltsausschuss und auch hier im
Parlament sachliches Arbeiten gewöhnt. Ich danke Ihnen, Frau Ministerin, und insbesondere dem Hauptberichterstatter, Herrn Binding, und den Mitberichterstattern für die sachliche und gute Zusammenarbeit im
Rahmen der Haushaltsberatung.
Das Bundesjustizministerium erfüllt, wie ich meine,
zwei wichtige Funktionen, zum einen die Gesetzgebung
und die Gesetzesanwendung im Bereich der Justiz und
ihrer Behörden. Zum anderen erfüllt das Justizministerium eine wichtige Querschnittsaufgabe für alle Ministerien. Das Bundesjustizministerium ist nämlich dafür
verantwortlich, die gesetzgeberischen Aktivitäten auf
nationaler und immer mehr auch auf internationaler
Ebene zu ordnen. In der Vergangenheit ist die Zahl nationaler Gesetze stetig gestiegen. Hinzu kamen die europäische Gesetzgebung und die internationalen Verträge,
die wir in deutsches Recht umsetzen müssen. Gleichzeitig ist die Regelungskomplexität extrem gestiegen. Hier
kommt das Justizministerium ins Spiel: Die Vielzahl der
unterschiedlichen Bausteine muss zu einem stimmigen
Gesamtbild zusammengefügt werden. Ein stimmiges
Rechtssystem muss erhalten werden. Leider verhält es
sich hier wie mit einem komplexen Puzzle: Je mehr Teile
vorhanden sind und je komplexer die Form dieser Teile
ist, desto schwieriger ist es, sie richtig zusammenzusetzen.
Ohne im Einzelnen auf die Inhalte einzugehen: Das
Antidiskriminierungsgesetz ist ein besonders gutes
Beispiel für diese Problematik. Diesem Gesetz liegen
bekanntermaßen viele Richtlinien zugrunde.
({5})
Ob die ehemalige Ministerin Künast genau wusste, was
sie tat, als sie diesen Richtlinien auf europäischer Ebene
zugestimmt hat, mag einmal dahingestellt bleiben. Wir
müssen jedenfalls mit diesen Richtlinien leben
({6})
und sie in deutsches Recht umsetzen,
({7})
obwohl sie eher angloamerikanischen Rechtstandards
entstammen. Das ist eine schwierige Aufgabe, nicht nur
für das Bundesjustizministerium.
Unser deutsches Rechtssystem befindet sich in einem
internationalen Wettbewerb. Dadurch gewinnt die
Aufgabe, einen in sich stimmigen Rechtsrahmen zu
schaffen, zusätzlich an Bedeutung. Wie in jedem Wettbewerb ist auch hier Stillstand der erste Schritt dahin, die
eigene gute Position zu verlieren. Also müssen wir uns
immer wieder die Frage stellen, was noch verbessert
werden kann. Hier hilft natürlich auch ein Blick über die
Grenze, ein Blick in andere Rechtssysteme.
Im Bereich des Unternehmensrechts konnte man
den Handlungsbedarf leicht erkennen, da in der Vergangenheit immer mehr Unternehmen die englische Limited
und nicht die deutsche GmbH als Rechtsform gewählt
haben. Insofern ist es richtig, dass vonseiten des Bundesjustizministeriums auf diese Entwicklung mit einer
GmbH-Reform reagiert wird.
({8})
Eine weitere wichtige Aufgabe, die das Bundesjustizministerium als Querschnittsfunktion innehat, ist die
Förmlichkeitsprüfung aller Gesetze. Wir haben zwei wesentliche Probleme: zum einen die extreme Regelungsund Bürokratiedichte, die kaum noch überschaubar ist
- der neu eingesetzte Normenkontrollrat wird hier ansetzen; die Koalition hat einen Anfang gemacht -, zum anderen die Unverständlichkeit von Gesetzen. Das ist ein
oft unterschätztes Problem. Hier besteht großes Potenzial, unser Rechtssystem noch effizienter zu gestalten.
Wenn Bürgerinnen und Bürger nicht mehr verstehen,
was staatliche Stellen formulieren, dann wenden sie sich
ab. Wenn Unternehmen Gesetze aufwendig interpretieren müssen, entstehen unnötige Kosten. Ich verzichte
hier auf unnötige Stilblüten zur Belustigung aller. Wichtig ist, dass wir das Problem ernst nehmen und anpacken.
Ich bin froh, dass wir in der Bereinigungssitzung des
Haushaltsausschusses die Weichen hierfür gestellt haben.
({9})
Das Bundesjustizministerium - da bin ich mir sicher wird Wächter über eine verständliche Sprache in den
Gesetzen sein. Es freut mich, dass wir Signale von der
Justizministerin empfangen haben, dass dieses Problem
verstärkt angepackt wird.
({10})
Wesentliches Merkmal der beiden Einzelpläne, die wir
heute beraten - Justiz und Bundesverfassungsgericht -,
ist, dass in ihnen die Personalkosten dominieren. Das bedeutet nicht, dass wir bei den Beratungen nicht auch andere Positionen kritisch beleuchtet hätten. Insbesondere
im Hinblick auf den Haushalt 2007 wird wieder kritisch
zu fragen sein, ob es sinnvoll ist, dass der Bund eine kriminologische Zentralstelle mit Bundesmitteln fördert,
oder ob das nicht beispielsweise die Universitäten machen können.
({11})
Wir werden kritisch hinterfragen, ob es sinnvoll ist, dass
das Institut für Menschenrechte aus drei unterschiedlichen Haushalten finanziert wird und damit die Transparenz verloren geht.
({12})
Entscheidend bei den Einzelplänen sind die Personalkosten. Darüber sind wir uns im Klaren. Das Problem
bei den Personalkosten ist, dass sie sich langfristig auswirken und stetig wiederkehrend anfallen. Deshalb müssen wir gerade bei den Personalkosten besonders aufpassen. Falsche Entscheidungen wirken sich langfristig
negativ aus, nicht nur in dem jeweiligen Haushaltsjahr.
Das beste Beispiel hierfür ist die Regelung der Altersteilzeit. In der Vergangenheit sind hervorragende Beamtinnen und Beamte in den Vorruhestand geschickt worden. Diese Politik, die ein Irrtum war, ist von uns in der
Vergangenheit noch finanziell unterstützt worden. Wir
haben das Problem erkannt und angepackt. Aber die
Kosten treffen uns heute und sie werden uns weiterhin
treffen. Der Schaden im Haushalt bleibt.
Auf die weiteren Positionen der Einzelpläne will ich
nicht weiter eingehen. Wir haben diese Einzelpläne mit
großer Übereinstimmung beschlossen, mit Ausnahme einiger Anträge der FDP, die sich eher willkürlich über
den Einzelplan Justiz verteilt haben. Das Volumen dieser
Anträge ist selbst in Relation zu den kleinen Einzelplänen - sie machen wenig mehr als ein Tausendstel des
Gesamthaushalts aus - geringfügig.
Wichtig bei den Beratungen war das Deutsche Patent- und Markenamt. Hier werden bundesweit die Patente und Marken angemeldet. Während der Beratungen
gab es einerseits den Antrag von der Fraktion der Linken, die Mittel wesentlich zu erhöhen, zum anderen den
Antrag der Fraktion der FDP, die Mittel wesentlich zu
kürzen. Ich denke, dass wir mit dem von uns gewählten
Mittelweg richtig liegen. Die Entscheidung der letzten
Jahre, zusätzliche Prüfer einzustellen, trägt langsam
Früchte. Die Prüfer sind jetzt ausgebildet. Der Anmeldestau der letzten Jahre bei den Patentanmeldungen kann
behoben werden.
Aufgrund der Komplexität der Materie ist leider nur
eine langfristige Steuerung möglich. Wir haben jetzt den
Turnaround geschafft und sind auf einem guten Weg.
Diese Tendenz ist aus zwei Gründen sehr erfreulich: Einerseits ist das Deutsche Patent- und Markenamt für den
Innovationsstandort Deutschland von herausragender
Bedeutung. In keinem anderen Patentamt in Europa gehen so viele Anträge ein wie in Deutschland. Andererseits - das ist für den Haushaltsausschuss erfreulich - erwirtschaftet das Deutsche Patent- und Markenamt sogar
einen kleinen Überschuss.
Ich möchte am Schluss meiner Ausführungen auf die
Veränderungen eingehen, die wir im kommenden Haushaltsjahr zu beraten haben. Ich nenne etwa das neu zu
schaffende Bundesamt für Justiz. Wichtig bei der Reorganisation wird sein, dass wirklich Kosten gesenkt und
nicht nur Beamte mit ihrem Wunscheinsatzort Bonn versorgt werden.
({13})
Ich halte die Maßnahme organisatorisch für sinnvoll. In
dieser Bundesbehörde werden die Aufgaben des Bundeszentralregisters und der nichtministeriellen Bereiche
des Justizministeriums gebündelt und das Bundesjustizministerium kann sich dann auf die wesentlichen Aufgaben, die ich beschrieben habe, konzentrieren. Das ist vor
allen Dingen im Hinblick auf das Jahr 2007 wichtig, in
dem wir die Präsidentschaft im Europäischen Rat übernehmen. Da kommen eine Menge Aufgaben auf uns zu.
Ich bedanke mich noch einmal für die guten Beratungen und hoffe, dass wir die Einzelpläne 19 und 07 für
das nächste Haushaltsjahr genauso kritisch und konstruktiv beraten werden.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will
in Erinnerung rufen, dass wir unter diesem Tagesordnungspunkt nicht nur über den Justizhaushalt, sondern
auch über den Gruppenantrag gegen die Vorratsdatenspeicherung diskutieren.
({0})
Mit unserem Gruppenantrag fordern wir die Bundesregierung auf, gegen die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof zu erheben und bis zu einer Entscheidung keine
Umsetzung in deutsches Recht vorzunehmen. Ich will an
dieser Stelle allen 130 Kolleginnen und Kollegen, die
diesen Gruppenantrag unterstützen, ganz ausdrücklich
danken.
({1})
Es zeugt nicht von großem Mut und parlamentarischem
Selbstbewusstsein, dass sich trotz mannigfacher Zustimmung hinter vorgehaltener Hand bis heute keine Kollegin und kein Kollege der Koalition zur Unterstützung
bereit gefunden hat.
Der Deutsche Bundestag hat sich in der letzten Legislaturperiode eindeutig und einstimmig dagegen ausgesprochen, dass in der EU und in Deutschland von Privatfirmen Daten der Telekommunikation auf Vorrat
gesammelt und den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung gestellt werden müssen. Grundlegende rechtstaatliche Bedenken, besonders hinsichtlich des Schutzes von
persönlichen Daten von Abermillionen von Menschen,
waren dafür ausschlaggebend. Auch wenn die jetzige
große Koalition hierbei inzwischen eingeknickt ist, in einem Punkt herrscht in diesem Hause immer noch Einigkeit: Die Speicherung von Daten auf Vorrat und deren
Zurverfügungstellung für Strafverfolgungsbehörden ist
keine Frage, die mit der Regelung des Wettbewerbs im
Binnenmarkt zu tun hat, sondern das gehört zum Strafrecht, zum Strafverfahrensrecht und in den Bereich der
Gefahrenabwehr.
Die Regelung von Normen im Bereich der Strafverfolgung gehört nicht zur originären Kompetenz europäischer Gesetzgebung. Nach Art. 5 des EG-Vertrages wird
die Gemeinschaft nur im Rahmen der ihr zugewiesenen
Befugnisse tätig. Sie kann und darf sich selbst keine
Kompetenzen zuweisen. Nur mit Zustimmung aller Mitgliedstaaten im Rat kann die Kommission im Wege von
Rahmenbeschlüssen auf eine Harmonisierung nationaler
Vorschriften hinwirken, die damit jedoch nicht europäisches Recht werden, sondern nationales Recht bleiben.
Im ersten Entwurf hinsichtlich der Speicherung von
Telekommunikationsdaten - damals war es noch ein
Rahmenbeschluss - hieß es, dass damit die justizielle
Zusammenarbeit in Strafsachen geregelt werden soll. In
der inzwischen verabschiedeten Richtlinie vom
15. März 2006 steht, dass damit sichergestellt werden
soll, dass die Daten zum Zwecke der Ermittlung, Feststellung und Verfolgung schwerer Straftaten zur Verfügung stehen. Jedem wird klar, dass Kommission und Rat
im laufenden Gesetzgebungsverfahren zwar die Pferde
gewechselt haben, der zu ziehende Wagen aber der gleiche geblieben ist. Zur Regelung eines identischen Sachverhalts wurde erst ein Rahmenbeschluss angestrebt und
dann mit Zustimmung des Europäischen Parlaments eine
Richtlinie durchgesetzt.
Nun gibt es Stimmen, die sagen, für eine einwandfreie Rechtsgrundlage auf europäischer Ebene sei es
zweitrangig, was man als Grundlage nimmt, wenn nur
das Europäische Parlament an dem Verfahren beteiligt
ist. Ich meine, dass wir als Initiatoren des Gruppenantrages deswegen eine Antwort auf die Frage schuldig sind,
warum wir trotz der Beteiligung des Europäischen Parlaments darauf bestehen, dass die Kompetenzregeln der
Europäischen Gemeinschaft nicht beliebig austauschbar
sind, sondern strikt eingehalten werden müssen.
Zwei Argumente sprechen dafür: Bei den Kompetenzregeln handelt es sich um rechtsstaatliche Grundlagen der Europäischen Gemeinschaft. Es würde politischen Opportunitätserwägungen und in der Konsequenz
jeder Willkür Tür und Tor geöffnet, wenn sich die Gesetzgebungsorgane der Europäischen Gemeinschaft
nicht an die ihnen zugewiesenen Kompetenzen halten
würden. Es geht um den Schutz der Bürger- und Grundrechte in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen;
das ist zentral. Normen der Strafverfolgung - um die
geht es - können nur da rechtsstaatlich eingehegt werden, wo ihnen verfassungsrechtlich garantierte Grundund Bürgerrechte gegenüberstehen, die auch von einem
durchsetzungsstarken Verfassungsgericht geschützt werden.
Deswegen sind wir nur bereit, die Gesetzgebungskompetenz auf diesem besonders sensiblen Feld auf Europa zu übertragen, wenn dies Hand in Hand mit der
Konstituierung europäischer Grund- und Bürgerrechte
und einer europäischen Gerichtsbarkeit geht. Deshalb
beharren wir darauf, dass wir uns im konkreten Fall gegen eine europäische Richtlinie wenden, auch wenn ihr
das Europäische Parlament mehrheitlich zugestimmt hat,
weil die Europäische Gemeinschaft keine Kompetenz
auf dem Gebiet der Strafverfolgung hat.
Die Kommission und der Rat haben ihr Vorgehen damit begründet, dass sie damit einen europarechtlichen
Besitzstand verteidigen würden. Die Grundlage hierfür
sehen sie in Art. 95 des EG-Vertrages, der die Errichtung
und das Funktionieren des Binnenmarkes behandelt. Ich
meine, mit Verlaub, dass einer solchen Argumentation
der Unsinn auf der Stirn geschrieben steht,
({2})
und zwar auch dann, wenn jetzt zwei Gutachten auf europäischer Ebene dies angeblich rechtfertigen. Inzwischen liegen uns die Gutachten, die die ganze Zeit gesperrt waren, vor. Sie sind juristisch absolut jämmerlich
und haben reinen Gefälligkeitscharakter. Es ist eine Absurdität, dass man mit der Datenschutzrichtlinie aus dem
Jahre 2002, die die Mindestnormen zum Datenschutz
festlegt, nun die Untergrabung und den Abbau des Datenschutzes begründen will. Es ist ebenfalls eine Absurdität, dass man jetzt deswegen, weil private Unternehmer gezwungen werden, Daten auf Vorrat zu speichern,
sagt, dass dies zur Gewährleistung eines sauberen Wettbewerbs europarechtlich, über europäische Normen, zu
regeln ist.
({3})
Wir sind der Überzeugung, dass der Europäische Gerichtshof, der bereits im Verfahren zu den Flugpassagierdaten ein analoges Problem zugunsten der Grundrechte
der Menschen und zulasten einer willkürlichen Rechtsgrundlage der europäischen Rechtssetzung gelöst hat,
auch in diesem Falle richtig entscheiden würde. Es
kommt jetzt darauf an, dass Sie, meine Damen und Herren von der großen Koalition, uns helfen, die Bundesregierung zu bitten, Klage vor dem Europäischen Gerichtshof einzureichen. Dies würde konsequent zu
unserer Haltung im letzten und in diesem Parlament passen, weil wir bisher immer einstimmig die fehlenden
Grundlagen dieser Richtlinie gerügt haben. Deswegen
bitte ich Sie: Gehen Sie noch einmal in sich, prüfen Sie,
ob es nicht sinnvoller wäre, dass dieses Haus heute gemeinsam vor den Europäischen Gerichtshof zieht! Denn
damit würden wir vermeiden, hinterher der Gelackmeierte zu sein, der von anderer Stelle gesagt bekommt, dass
wir schon wieder auf eine falsche Rechtsgrundlage abgestellt haben.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Brigitte
Zypries.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen
und Kollegen! Lieber Herr Montag, die Flexibilität ist
zwar groß, aber irgendwo hat sie Grenzen. Ich kann
mich erinnern: Ich glaube, es war im Februar dieses Jahres, als der Deutsche Bundestag - ich meine, es war einstimmig - die Bundesregierung aufgefordert hat, dieser
Richtlinie, gegen die nunmehr geklagt werden soll, im
Ministerrat zuzustimmen.
({0})
- War das nicht richtig?
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Montag?
({0})
Ja.
Danke, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin, es tut mir
Leid, dass ich Sie korrigieren muss. Sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass wir in der 15. Legislaturperiode, als wir gemeinsam in der Regierungskoalition
waren, sowohl die Vorratsdatenspeicherung abgelehnt
als auch die Rechtsgrundlage gerügt haben? Mit dem
neuen Beschluss des Deutschen Bundestages geben Sie
in der 16. Legislaturperiode gegen die Stimmen der Opposition - ausschließlich mit den Stimmen der großen
Koalition - grünes Licht für die Vorratsdatenspeicherung
auf europäischer Ebene. Die Koalition selbst stellt aber
in ihrem Antrag unter Nr. 13 fest, dass Bedenken im
Hinblick auf die Rechtsgrundlage bestehen.
Ich bin gerne bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Ich
bin mir nicht sicher, ob ich mich richtig erinnere.
({0})
Ich weiß nur - insofern ist meine Erinnerung richtig -,
dass wir vielfältig über die Rechtsgrundlage diskutiert
und immer das Hohe Haus sorgfältig informiert haben.
({1})
Es gab immer einen Konsens darüber, dass es besser ist,
wenn sich die deutsche Bundesregierung in Brüssel an
den Diskussionen über die Richtlinie, die Verordnung
bzw. den Rahmenbeschluss beteiligt und versucht, sie inhaltlich zu gestalten, als wenn sie sagt: Wenn ihr bestimmte Rechtsgrundlagen heranziehen wollt, dann machen wir nicht mehr mit und klinken uns aus der
Diskussion aus. - Letzteres zu vermeiden, war unser Ansinnen.
Auf Brüsseler Ebene haben wir all das, worüber wir
immer materiell, inhaltlich diskutiert haben, umgesetzt:
Wir haben die Speicherdauer auf das geringstmögliche
Maß - sechs Monate - reduziert; wir haben den Umfang
der Daten, die gespeichert werden sollen, auf das geringstmögliche Maß reduziert. All das, was seinerzeit
auf EU-Ebene vorgesehen war - beispielsweise die Speicherung von Anrufversuchen -, haben wir in harten Verhandlungen abgewehrt. Ich habe nicht nur scherzhaft gesagt, Deutschland habe den Oscar für den größten
Widerstand auf Brüsseler Ebene im letzten Jahr erhalten.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - sie haben wirklich einen exzellenten Job gemacht - haben es geschafft,
vieles von dem, was intendiert war, abzuwehren.
Es gab auf der Ebene des Rates unter der englischen
Präsidentschaft mehrere Rechtsgutachten - nicht die, die
Sie eben genannt haben -, in denen es hieß, dass die
nunmehr gewählte Rechtsgrundlage besser sei als die andere. Wir haben notgedrungen dabei mitgemacht, um die
materielle Position nicht zu untergraben. Sie brauchen
aber keine Sorgen zu haben; denn der Europäische Gerichtshof wird sich mit der Rechtsgrundlage beschäftigen. Irland wird nämlich auf alle Fälle klagen. Insofern
wird das, was Sie anstreben, gemacht, selbst wenn wir
nicht dafür eintreten. Es wäre völlig unsinnig, einen Verhandlungserfolg, den wir so hart erkämpft haben, nunmehr zu beklagen.
({2})
Es ist auch in der Sache nicht nötig; denn das Ergebnis,
das wir erzielt haben, beschneidet keine Bürgerrechte.
Es ginge jetzt allenfalls um die Frage der reinen Rechtslehre: Was ist die richtige Rechtsgrundlage? Dass es
sich darüber oft zu streiten lohnt, will ich Ihnen gerne
zugestehen.
Jetzt sollten wir die anderen Punkte, die - außer dem
kommenden Fußballspiel - heute zur Diskussion stehen,
ansprechen. Ein Thema ist die erste Lesung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes
der Gleichbehandlung. Wir haben in der Aktuellen
Stunde am 11. Mai darüber ausführlich diskutiert. Ich
möchte auf zwei Punkte besonders hinweisen:
Erstens. Der Kompromiss der Koalition steht. Zusammen mit der Stellungnahme des Bundesrates vom vergangenen Freitag stellt er die Grundlage für die weitere
parlamentarische Beratung dar.
Zweitens: Eine Bitte. Lassen Sie uns die parlamentarischen Beratungen zügig abschließen. Sie wissen, dass
wir uns in erheblichem Zeitverzug befinden und uns
massive Strafzahlungen von Brüssel drohen. Ich meine,
dass wir die parlamentarischen Beratungen zügig abschließen können, denn wir haben bei diesem Thema
kein Erkenntnisdefizit. Deshalb brauchen wir auch keine
Anhörung zu diesem Gesetzentwurf.
Sie wissen - ich habe es am 11. Mai ausführlich dargelegt -, was das Gesetz regeln soll. Wir setzen die
Richtlinien im Wesentlichen eins zu eins um. Von der
Erweiterung bei den Massengeschäften des täglichen Lebens um vier Gruppen ist keine exorbitante Klagewelle
zu befürchten; so etwas zu behaupten, ist absolut übertrieben und geht an der Sache vorbei.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Seifert?
Ja, aber kurz; ich höre dann auch früher auf.
Vielen Dank, Frau Ministerin. Ich glaube, Fragen
müssen immer kurz sein.
Können Sie mir bitte erklären, warum in allen europäischen Ländern „Antidiskriminierungsgesetze“ verabschiedet werden,
({0})
nur in Deutschland ein „Gleichbehandlungsgesetz“?
({1})
Gibt es denn in Deutschland keine Diskriminierung?
Oder fürchten Sie den Begriff? Oder was ist sonst der
Grund?
Materiell ist es derselbe Regelungsgehalt, es gibt
keine Differenz: Es geht um die Umsetzung der europäischen Richtlinien, bei der wir, wie ich glaube, richtig gehandelt und zu der wir vernünftige Vorschläge gemacht
haben. Die Frage ist nur, wie man das Ganze nennt.
Noch einmal: Ich wäre sehr dankbar, wenn wir dieses
Gesetz zügig verabschieden könnten; denn Sie wissen,
dass uns Strafzahlungen drohen und dass wir handeln
müssen.
Ich will einen weiteren Gesichtspunkt ansprechen, der
bei der ersten Lesung unseres Haushalts eine Rolle gespielt hat. Damals war es der Kollege Montag, der kritisiert hatte, dass die Gesamtausgaben für das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2006 um 1 Million Euro
abgesenkt würden. Heute hat der Kollege Nešković dieses auch noch einmal behauptet.
({0})
- Das ist nur die folgerichtige Aufzählung derjenigen,
die kritisieren und denen ich die Lektüre der Haushaltspläne ans Herz legen würde. Wenn Sie sie lesen, wird
sich Ihnen nämlich erhellen, dass dieser Betrag auf die
Absenkung eines Bautitels zurückgeht. Sie wissen vielleicht - wenigstens Herr Montag weiß es; er war ja
kürzlich mit mir in Karlsruhe -, dass das Bundesverfassungsgericht einen Erweiterungsbau errichtet. Dafür gibt
es einen speziellen Bautitel. Dieser Bautitel wird, wie
das immer ist, mit dem Baufortschritt abgeschmolzen.
Das Bauwerk wächst, der Bautitel schmilzt,
({1})
genauso ist es auch hier: Es gibt im Haushalt 1 Million
Euro weniger, weil das Bauwerk Fortschritte macht.
Ohne diesen Bautitel hat das Bundesverfassungsgericht
im Jahre 2006 sogar über rund 200 000 Euro mehr verfügt als im letzten Jahr.
({2})
Ich sage das auch deshalb, weil der Präsident des Bundesverfassungsgerichts kürzlich öffentlich darüber geklagt hat, dass die Anzahl der eingehenden Klagen in
den ersten fünf Monaten des Jahres 2006 im Vergleich
zum Vorjahreszeitraum um 25 Prozent gestiegen sei. Das
könnte den Schluss nahe legen, man habe erheblich
mehr Klagen zu bearbeiten, bekomme aber zur Erledigung der Verfahren weniger Geld. Das ist nicht der Fall.
Deswegen ist eine solche global geäußerte Rechtsstaatskritik, die darin gipfelt, dass selbst das höchste deutsche
Gericht nicht mehr genug Geld habe, um die Verfahren
zu behandeln, leider fehlerhaft und geht an der Sache
vorbei.
({3})
Meine Damen und Herren, ich hatte an und für sich
vor, einen größeren rechtspolitischen Exkurs über die
Bedeutung der Rechtsordnung Deutschlands zu machen;
den gebe ich jetzt aber zu Protokoll und wünsche Ihnen
allen einen schönen Nachmittag.1)
({4})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Montag.
({0})
Wir sehen uns nachher beim Fußball wieder, aber
noch ist es nicht so weit.
Frau Bundesministerin, Sie haben in Ihrer Rede ge-
rade gesagt, dass die Richtlinie zur Vorratsdatenspei-
cherung, die Sie ausverhandelt haben und die letztend-
lich ins europäische Gesetzblatt hineingeschrieben
worden ist, die Rechte der Bürger nicht mehr beschnei-
den würde. Diese Aussage von Ihnen ist, um es milde zu
formulieren, kühn: Immerhin führt diese Richtlinie dazu,
dass von Millionen von Menschen, gegen die keinerlei
1) Anlage 2
Tatverdacht besteht, für die Dauer von sechs Monaten
- in Deutschland; in anderen Staaten vielleicht länger viele persönliche und sensible Daten gespeichert werden. Ich meine, dass eine solche Speicherung nach dem
Datenschutzrecht und nach allgemeinem Rechtsverständnis für sich bereits ein erheblicher, grundrechtsrelevanter Eingriff in die Rechte der Bürger ist.
Zum Zweiten haben Sie gesagt, dass die von mir angesprochenen beiden Gutachten auf der europäischen
Ebene nicht die einzigen seien, die es gebe und durch die
die These bestätigt würde, dass die gewählte Rechtsgrundlage für Europa die richtige sei. Dazu will ich Ihnen sagen, dass wir uns über Monate hinweg um alle
möglichen Gutachten in dieser Frage bemüht haben.
Nachdem wir lernen mussten, dass auf europäischer
Ebene Rechtsgutachten Geheimsachen sind, und es uns
gelungen ist, zwei von ihnen entpflichtet zu bekommen,
damit wir sie lesen können, wären wir Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns auch alle anderen Schriftstücke und
Rechtsgutachten benennen, damit wir diese studieren
und dann vielleicht zu einer Einschätzung kommen können.
Zum Schluss will ich Sie selbst zitieren und Ihnen sagen, dass ich mich über das gefreut habe, was Sie nach
der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur
Übermittlung der Flugpassagierdaten gesagt haben. Ich
darf Sie zitieren: Für die Vorratsdatenspeicherung steht
nun das Klageverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof offen. - Um nichts anderes bitten wir Sie. Wir erwarten von Ihnen als Bundesregierung, dass Sie jetzt vor
dem Europäischen Gerichtshof klagen; denn nur Sie sind
klageberechtigt.
({0})
Herr Montag, es geht nicht um die Speicherung einer
Vielzahl sensibler Daten, sondern es geht um die Frage,
wer mit wem eine Verbindung gehabt hat. Um das noch
einmal ganz klar zu sagen: Es geht überhaupt nicht um
Inhalte. Diese werden nicht gespeichert. Sie wissen, dass
90 Prozent dieser Daten auch heute schon gespeichert
werden.
({0})
In Deutschland ist das so.
In Deutschland ist die Telekom der größte Anbieter
und bei der Telekom werden alle diese Daten, über die
wir jetzt reden, längst zu Abrechnungszwecken gespeichert.
({1})
Man kann doch nicht so tun, als sei das alles nicht die
Wirklichkeit in diesem Land.
({2})
Das ist doch irgendwann auch naiv und völlig übertrieben. Lassen Sie uns gerne darüber diskutieren, was Eingriffe sind! Aber nehmen Sie auch zur Kenntnis, was
hier im Einverständnis aller Telefonbenutzer geschieht!
Die Menschen wissen, dass ihre Daten zu Abrechnungszwecken gespeichert werden. Das müssen sie
nämlich erfahren, wenn sie diese Verträge unterschreiben. Die Strafvollzugsbehörden können auch heute
schon auf diese Daten zugreifen. Das ist in der Strafprozessordnung so vorgesehen. Das nur zu der Frage der
Vielzahl sensibler Daten.
({3})
Bezüglich der Gutachten will ich mich im Hause
gerne kundig machen, damit wir abgleichen können,
welche Gutachten gemeint sind. Ich hatte Sie vorhin inhaltlich anders verstanden. Vielleicht habe ich Sie da
aber auch missverstanden.
Es bleibt dabei: Ich meine, dass wir für Deutschland
und für die Sache extrem gute Ergebnisse in Brüssel erzielt haben. Deshalb werden wir dieses Ergebnis jetzt
nicht beklagen, weil es in der Sache nicht besser werden
wird. Wir haben keinen Grund, diese Klage jetzt anzustrengen. Wir müssen sehen, dass aufgrund der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs objektiv zur Kenntnis zu nehmen ist, dass sich offenbar, vielleicht oder wie
auch immer eine Meinungsänderung beim EuGH vollzieht. Ich bin Juristin und kann die Entscheidungen lesen. Dass Ergebnisse offener sind, als sie es vorher waren, ist dann halt so. Das kann ich nicht inkriminierend
finden.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Mechthild Dyckmans für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben von der Frau Justizministerin schon einiges zum
Entwurf des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes
gehört. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU,
Sie werden mir und Ihren Wählerinnen und Wählern, die
zum Teil heute hier auch zuhören, aber erst einmal
schlüssig erklären müssen, warum Sie dieses Gesetz, das
Sie noch vor einem Jahr heftigst bekämpft haben, jetzt
gemeinsam mit der SPD, dem Bündnis 90/Die Grünen
und eventuell vielleicht sogar mit der Linkspartei verabschieden wollen.
({0})
In der Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin
am 30. November 2005 noch erklärt - ich zitiere -:
Wir haben uns vorgenommen, die EU-Richtlinien
im Grundsatz nur noch eins zu eins umzusetzen …
Wenn wir uns zusätzlich zu dem, was wir in Europa
vereinbaren - das ist oft schon bürokratisch genug;
das muss ich leider sagen -, Lasten aufbürden, dann
haben wir gegenüber unseren europäischen Mitbewerbern keine fairen Chancen.
Das, was die Bundeskanzlerin damals gesagt hat, ist
auch heute noch richtig.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/
CSU-Fraktion, Herr Röttgen, hat noch im Januar 2006
erklärt:
Den alten Gesetzentwurf wird es mit der neuen Regierung nicht mehr geben.
Der Gesetzentwurf hat jetzt zwar einen neuen Titel, den
sich viele von Ihnen noch nicht merken können, aber inhaltlich ist er derselbe geblieben. Ich habe hier eine
Synopse vorliegen. Das, was farbig markiert ist, hat sich
geändert. Wie Sie sehen, ist das sehr wenig. Inhaltlich
hat sich gar nichts geändert; das wissen Sie auch, meine
Damen und Herren von der CDU/CSU.
({1})
Nun sagen Sie natürlich immer wieder: In einer
Koalition muss man Kompromisse machen. - Wer weiß
das besser als wir von der FDP?
({2})
Aber selbst die Frau Justizministerin muss von Ihrem
plötzlichen Einlenken sehr überrascht gewesen sein. Sie
hat noch im Dezember 2005 im Hinblick auf das Antidiskriminierungsgesetz bekräftigt, dass man sich im
Koalitionsvertrag geeinigt habe, Richtlinien nur noch
eins zu eins umzusetzen.
({3})
Dass diese plötzliche politische Kehrtwendung nicht
zu erklären ist, zeigt auch die Reaktion der unionsgeführten Länder im Bundesrat. In ihrer Stellungnahme
zum Entwurf eines Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes haben die Länder am vergangenen Freitag nur zu
deutlich gemacht, was sie von dieser Kehrtwendung halten. Sie fordern eindeutig eine Änderung des Gesetzes
und eine Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinien.
Frau Ministerin, ich habe gehört, dass diese Stellungnahme des Bundesrates Grundlage der Beratungen sein
wird. Ich bin gespannt, wie Sie, meine Damen und Herren von CDU und CSU, dieser Aufforderung der Ministerpräsidenten nachkommen. Bei einer namentlichen
Abstimmung, die wir von der FDP fordern werden, müssen Sie dann Farbe bekennen.
({4})
Sie wollen diesen Gesetzentwurf jetzt im Schnellverfahren ohne eine zusätzliche Sachverständigenanhörung
durch den Bundestag jagen. Der Hinweis auf die Strafzahlungen greift nicht. Noch nie hat der EuGH Strafzahlungen festgesetzt, wenn sich ein Mitgliedstaat unmittelbar im Umsetzungsverfahren befunden hat.
({5})
Das ist also kein Grund. Sie können es nicht auf die EU
schieben.
({6})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie
handeln nach dem Motto: Augen zu und durch! Der Gesetzentwurf soll schnell vom Tisch, damit Sie sich nicht
mehr damit beschäftigen und Rede und Antwort stehen
müssen, warum Sie jetzt genau das Gegenteil von dem
machen, was Sie noch bis Januar dieses Jahres gesagt
haben und was Sie überwiegend auch heute noch hinter
vorgehaltener Hand für richtig halten. So kann man sich
nicht aus der Verantwortung stehlen.
({7})
Ich komme jetzt zu einigen Einzelheiten des Gesetzentwurfs. Wenn ich im Bundestagswahlkampf meinem
Kollegen Dr. Gehb vorhergesagt hätte, er werde einmal
dem von der SPD vorgeschlagenen Klagerecht der Gewerkschaften zustimmen, hätte er mich für verrückt erklärt.
({8})
- Du hättest es wahrscheinlich noch drastischer ausgedrückt. - Aber der Gesetzentwurf enthält dieses Klagerecht sogar gegen den Willen der Betroffenen. Mich haben Frauen und Schwule angesprochen, die sich über die
Bevormundung, die in diesem Gesetzentwurf steht, ausdrücklich beschwert haben.
({9})
Die weit gehenden Dokumentationspflichten der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, der hohe bürokratische
Aufwand, der bei der Umsetzung des Gesetzes gefordert
wird, die Verkomplizierung des Kündigungsrechts - all
dies ist in den letzten Tagen immer wieder kritisiert worden. Dies haben wir in unserem Antrag im Einzelnen
ausgeführt.
Im zivilrechtlichen Bereich geht der Gesetzentwurf
weit über das von der EU Geforderte hinaus. Im Zivilrecht gilt grundsätzlich Vertragsfreiheit und damit das
Recht, keine Gründe dafür benennen zu müssen, einen
Vertrag abzuschließen oder zu verweigern. Bundesjustizministerin Frau Zypries hat dazu in einer Rede am
24. Juni 2004 ausdrücklich erklärt - ich zitiere -:
Die Freiheit für Bürgerinnen und Bürger in einem
liberalen Staat besteht auch und gerade darin, Unterschiede zu machen und ungleich behandeln zu
dürfen.
({10})
Dennoch haben wir in dem Gesetzentwurf Regelungen vorgesehen, die es einem Gastwirt, der regelmäßig
seine Räumlichkeiten für Familienfeiern oder politische
Veranstaltungen zur Verfügung stellt, nicht mehr erlauben werden, diese Räumlichkeiten wegen seiner eigenen
politischen Überzeugung einer rechtsextremen oder
linksextremen Gruppierung zu verweigern. Können wir
dies wirklich wollen?
Frau Zypries hat in der eben zitierten Rede zu Recht
die Meinung vertreten, ein umfassendes zivilrechtliches
Antidiskriminierungsgesetz ließe sich gar nicht vernünftig regeln, jedenfalls nicht so - ich zitiere weiter -, „dass
es rechtlich einen fassbaren Mehrwert bringt“. Darin
kann ich Frau Zypries nur zustimmen. Dieses Gesetz
bringt keinen Mehrwert.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, lassen
Sie uns den Gesetzentwurf im Rechtsausschuss ordentlich beraten
({11})
und lassen Sie uns nur solche Regelungen treffen, die
notwendig sind, um die EU-Richtlinien eins zu eins umzusetzen.
({12})
Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Gehb für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
ich möchte zu Beginn meiner Rede die heute schon öfter
zum Ausdruck gekommene Tradition pflegen und erst
einmal als Fachpolitiker allen Haushältern für ihre zeitintensive und ordentliche Arbeit danken.
({0})
Aber nicht nur für die Haushälter, sondern auch für
die Mitglieder des Rechtsausschusses stellten die vergangenen Wochen und Monate eine Zeit besonderer Arbeitsbelastung dar. Schließlich fiel in diese Zeit eine besondere Premiere in unserer Parlamentsgeschichte.
Ich spreche von den gemeinsamen Anhörungen des Bundesrates und Bundestages zur Föderalismusreform, die
aufseiten dieses Hauses federführend vom Rechtsausschuss durchgeführt wurden.
({1})
Wie es bei Premieren üblich ist, haben alle Beteiligten
auch ein bisschen Lampenfieber. Anschließend ist man
glücklich und zufrieden, wenn die Premiere gut über die
Bühne gegangen ist. Nach meinem Eindruck sind die
Anhörungen zur Föderalismusreform gut über die Bühne
gegangen.
({2})
Das Pro und Kontra zu Dutzenden von Einzelaspekten ist ausführlich beleuchtet und dargestellt worden. Ich
glaube, nicht nur im Namen meiner Fraktion zu sprechen, wenn ich unserem Kollegen Andreas Schmidt als
Vorsitzendem des Rechtsausschusses für seine umsichtige und kompetente Leitung über sehr viele Stunden
hier und heute ausdrücklich Dank sage.
({3})
In diesen Dank sind selbstverständlich auch der Kovorsitzende Minister Stegner sowie alle Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen des Rechtsausschusses, dieses Hauses,
der Fraktionen und unserer Büros eingeschlossen, die
neben ihren Alltagsgeschäften zusätzlich eine Anhörung
vorbereitet haben und sie auch nachbereiten werden.
({4})
Damit bin ich beim Thema. Die Nachbereitung steht
nun ins Haus. Ich will ihr heute nicht im Detail vorgreifen.
({5})
Wir alle sollten allerdings bei unserer Nachbereitung
nicht den Erfolg des Gesamtprojektes aus dem Blick verlieren. Schließlich geht es bei dem Reformvorhaben
letztlich auch um die Reformfähigkeit Deutschlands
selbst,
({6})
wie unser Altbundespräsident Roman Herzog uns allen
vor wenigen Wochen noch einmal ins Stammbuch geschrieben hat.
Roman Herzog erinnert in seinem Namensartikel in
der „Süddeutschen Zeitung“ auch völlig zu Recht an die
Konsequenzen, die bei einem Großprojekt wie der Föderalismusreform quasi unvermeidlich eintreten. Zum einen bleibt so ein Kompromiss - um einen solchen handelt es sich bei diesem Großprojekt schließlich - immer
hinter einer abstrakten Ideallösung zurück. Zum anderen
ist ein in so mühsamen Verhandlungen ausgehandelter
Kompromiss etwas sehr Fragiles, weil die Konzessionen
und Gegenkonzessionen aller Seiten so fein austariert
und ausbalanciert sind, dass schon kleine Veränderungen
ihn wieder aus dem Gleichgewicht kippen könnten.
Ein solch umfassender und damit zwangläufig auch
recht unvollkommener Kompromiss - das will ich gerne
einräumen - lädt nachvollziehbar auch zu Änderungen
ein.
({7})
Auch im Bereich der Justiz werden wir als Folge der Anhörung darüber reden müssen, ob beispielsweise die
Regelungen zum Notariat nicht besser in der Bundeskompetenz bleiben.
({8})
Wir haben doch hier kein Schaulaufen veranstaltet!
Auch bei allen denkbaren Änderungen müssen wir allerdings immer wieder darauf achten, dass wir die Feinbalance nicht gefährden. Wenn wir dies nicht tun, kann daran das Gesamtprojekt noch scheitern. Daran haben wir
Christdemokraten jedenfalls gar kein Interesse. Wir wollen endlich einen besseren Zustand als den jetzigen erreichen. Wir wollen eine stärkere Entflechtung der Kompetenzen von Bund und Länder. Wenn dies mit dem
vorliegenden Entwurf und den noch zu erfolgenden Änderungen machbar ist, dann sollten wir diesen Weg auch
mutig und zügig beschreiten.
Überrascht war nicht nur ich während der Anhörung
allerdings über den Widerwillen mancher Experten,
wenn es generell darum ging, Kompetenzen an die Länderebene abzutreten. Es scheint bei dem einen oder anderen schlicht in Vergessenheit geraten zu sein, dass der
Leitwert in einem demokratischen Gemeinwesen Vielfalt heißt. Vielfalt ist nicht nur produktiv, sondern kann
paradoxerweise auch zu einer Einheitlichkeit führen, die
einer verordneten Einheitslösung haushoch überlegen
ist. Dieser Fall tritt dann ein, wenn sich ein Lösungsansatz findet, der so gut und überzeugend ist, dass die anderen ihn nachahmen. Wir Christdemokraten jedenfalls
stehen zur Vielfalt in einem freiheitlichen Gemeinwesen
wie dem unseren.
({9})
Wer dies im Grundsatz infrage stellt oder - anders formuliert - die Einheitlichkeit über alles stellt, der sollte
dann auch so konsequent sein, auf das Hohelied des Föderalismus in seinen Sonntagsreden zu verzichten, und
stattdessen für das Modell eines Zentralstaats einstehen.
An seiner Seite wird man uns Christdemokraten allerdings nicht finden. Ich kann mich des Eindrucks nicht
erwehren, dass manche Leute den Föderalismus - quasi
als Synonym - mit Kleinstaaterei verwechseln.
Wir sollten in diesem Zusammenhang auch nicht aus
den Augen verlieren, dass wir im Verhältnis zu Europa
genau diese Vielfalt immer wieder für uns einfordern
und uns gegenüber überzogenen oder sogar absprachewidrigen Zentralisierungstendenzen der europäischen Ebene wehren und auch weiterhin wehren wollen.
An dieser Stelle möchte ich nur ein Beispiel aus diesem
Monat nennen. Das Europäische Parlament debattierte
über eine Beschleunigung der gegenseitigen Anerkennung und der Vollstreckung von freiheitsentziehenden
Maßnahmen innerhalb der EU, ein im Kern berechtigtes
und nachvollziehbares Anliegen. Mein Verständnis für
die Kollegen aus dem Europäischen Parlament endet allerdings dort, wo es nach all den richtigen und wichtigen
Sätzen zur besseren Harmonisierung und gegenseitigen
Anerkennung in einer Mitteilung des Europäischen Parlaments lapidar heißt: Darüber hinaus soll nach Ansicht
der Abgeordneten ein europäisches Strafrecht geschaffen werden. - Ohne Ihnen auf den Leim zu gehen, Herr
Montag: Das Strafrecht gehört eindeutig nicht zur Kompetenz der europäischen Ebene. Es steigert auch nicht
die Sympathie für Europa, wenn man den Eindruck hat,
dass über Umwege doch noch der Versuch gestartet
wird, diese Kompetenz an sich zu ziehen. An dieser
Stelle sollten wir als nationales Parlament einmal lauthals und vernehmlich Nein sagen, auch gegenüber unseren Kollegen im Europäischen Parlament.
Nun weiß man allerdings, dass über die Bande Europas noch ganz anders gespielt wird, und zwar schon zu
Zeiten von Gerhard Schröder und Joschka Fischer. Jetzt
komme ich auf die Antidiskriminierungsrichtlinien zu
sprechen. Unser Land hat schlicht und einfach die
Pflicht, die vier allseits bekannten Antidiskriminierungsrichtlinien umzusetzen. Frau Dyckmans, liebe
Mechthild,
({10})
ich nehme gerne deinen Ball auf, ohne dass ich dich jemals in deinem Wahlkreis für verrückt erklärt hätte.
({11})
Ich habe bei keiner Gelegenheit einen Hehl daraus gemacht, dass ich bereits in den Antidiskriminierungsrichtlinien - ohne Ansehen ihrer Umsetzung - einen fundamentalen Angriff auf unser kontinentaleuropäisches
Rechtssystem sehe; dazu stehe ich auch in Zukunft.
({12})
Aber das ändert nichts daran - das zeigt die Perfidie; die
Richtlinien sind ja nicht vom Himmel gefallen -, dass
uns die Exekutive häufig - weil sie weiß, dass sie im
eigenen Parlament keine Mehrheit bekommt - geschickt
über den Tauchsieder Europa Richtlinien zuspielt und
dass wir dann sagen müssen: Hier stehe ich und kann
nicht anders. So wird es auch beim Gleichbehandlungsgesetz sein.
Es gibt noch anderes Recht, das uns von Europa
oktroyiert wird und unter dem wir sehr leiden. Unser
nationales Planungsrecht, sowohl das materielle als
auch das verfahrensrechtliche, ist nicht beim Justizministerium angesiedelt; vielleicht wird sich Frau
Zypries dieses Problems noch einmal annehmen. Das
führt dazu, dass bei uns keine Landesstraße innerhalb
von 15 Jahren gebaut wird. Meistens dauert es über
30 Jahre. Ich wohne in Kassel an der A 44 und der A 49.
Die A 49 dümpelt jetzt schon seit 21 Jahren im Nirwana
vor sich hin. Sie endet in einer So-da-Brücke. Wenn ich
gefragt werde: „Was ist eigentlich eine So-da-Brücke?“,
antworte ich: Das ist eine Brücke, die steht nur so da. Die A 44 ist im 17. Jahr nach der Wiedervereinigung gerade mal auf einem Streckenabschnitt von drei Kilometer Länge fertig gestellt, was mit großem Tamtam begangen wurde. Während in anderen europäischen Ländern
bei entsprechenden Projekten schon zum zehnten Mal
der Straßenbelag gewechselt wird, fahren wir immer
noch mit dem Finger auf der Landkarte herum und überlegen, wie wir die Kammmolche und den Ameisenbläuling schützen können. So fahren die 30-Tonner weiter an
den Gartenzäunen vorbei, dass den Menschen die Tassen
aus dem Schrank fallen.
({13})
Damit lösen wir uns von unserem europäischen und
deutschen anthropozentrischen Weltbild. Das darf nicht
sein.
Deswegen appelliere ich an die Justizministerin, das
Planungsrecht endlich so zu entschlacken, dass der
Standortvorteil Deutschlands nicht so verspielt wird, wie
der Erfolg verspielt werden würde, wenn dem Ballack
als Mitglied der Fußballnationalmannschaft heute Nachmittag auch noch eine Eisenkugel an den Fuß gebunden
würde.
({14})
Ich werbe insgesamt - ganz bewusst nicht nur an diesem Punkt - für etwas mehr Mut. Das gilt auch für das
Gesellschaftsrecht, das schon angesprochen worden ist.
Auch hier befinden wir uns im internationalen Wettbewerb mit anderen Rechtsordnungen. Da muss man überlegen, ob die ach so löbliche GmbH-Novelle, wie sie
jetzt im Referentenentwurf vorliegt - ich finde sie auch
in Ordnung -, dem bereits Genüge tun wird oder ob es
vielleicht noch das eine oder andere daneben geben
kann. Ich werbe also insgesamt für etwas mehr Mut.
Alle reden in Sonntagsreden immer davon, dass man die
Dinge mutig anpacken soll, und im Alltag verlieren alle
dann den Mut. Wenn sich unsere Welt ändert - sie ändert
sich rasant -, müssen wir hierauf zukunftstaugliche Antworten geben. Ich weiß, dass zukunftstaugliche Antworten nicht immer sofort den Beifall aller finden, manchmal deshalb nicht, weil sie einfach neu sind oder im
Augenblick nicht ganz angenehm sind. Aber vergessen
wir nicht, dass sie die notwendigen Weichenstellungen
für eine gute Zukunft sind! Für diese gute Zukunft arbeiten wir in der großen Koalition unter Leitung unserer
Bundeskanzlerin Angela Merkel und auf dem Feld der
Rechtspolitik in gutem Zusammenwirken mit der Justizministerin Brigitte Zypries.
Herzlichen Dank.
({15})
Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat
der Kollege Volker Beck das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte zur ersten Lesung des Antidiskriminierungsgesetzes oder des Gleichbehandlungsgesetzes - so heißt es
ja unter neuer Verpackung - reden und Ihnen massiv widersprechen, Herr Kollege Gehb.
Einen Angriff auf kontinentaleuropäische Rechtsgrundsätze kann ich in den vier Richtlinien der Europäischen Union nicht erkennen.
({0})
Gehören Frankreich und die Niederlande jetzt nicht
mehr zu Kontinentaleuropa? Haben Sie die Länder zu
Inselstaaten erklärt? Warum hatten diese Länder in Bezug auf die Richtlinien überhaupt keinen Umsetzungsbedarf? Weil in den Niederlanden seit den 80er-Jahren ein
zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz gilt, so wie
wir es jetzt auf dem Tisch liegen haben, und in Frankreich diese Normen, was ich für falsch halte, sogar von
strafrechtlicher Relevanz sind. Es gehört zum selbstverständlichen Grundbestand der Republik, dass die Freiheit da aufhört, wo sie nur noch Freiheit ist, willkürlich
zu diskriminieren und Menschen vom Arbeitsmarkt oder
Zugang zu Gütern und Dienstleistungen auszuschließen.
Es muss doch klar sein, dass jeder Mensch in dieser Gesellschaft die gleichen Chancen haben muss. Dem dient
der Entwurf des Gleichbehandlungs- oder Antidiskriminierungsgesetzes.
({1})
Lieber Kollege, ich gestehe allerdings, dass wir die
europäische Ebene tatsächlich genutzt haben.
({2})
1990 hat unsere Fraktion eine erste Fassung für ein Antidiskriminierungsgesetz entworfen. 1991 habe ich für
eine NGO einen ersten Entwurf für eine Antidiskriminierungsrichtlinie geschrieben, deren wesentliche Elemente heute europäische Gesetzgebung sind. In der Tat,
wir haben auf allen Ebenen versucht, Gleichbehandlung
durchzusetzen, weil das in Deutschland so schwierig ist.
Es gibt kein Land in der Europäischen Union, in dem es
so ein ideologisches Buhei um die selbstverständliche
Umsetzung dieser Grundsätze gibt wie in unserem Land.
Mittlerweile haben Sie realisiert - das haben Sie in
Ihrer Rede zu erkennen gegeben; kürzlich hat es auch Ihr
Parlamentarischer Geschäftsführer zugestanden -: 90 Prozent dessen, was hier auf dem Tisch liegt, ist Recht europäischer Richtlinien. Dagegen haben Sie im Wahlkampf
eine Kampagne geführt und jetzt - Regieren macht immer klüger - müssen Sie gestehen, dass Sie gar nicht die
Freiheit haben, davon abzuweichen.
Die einzige Abweichung, die der nationale Gesetzgeber vornehmen kann, liegt in der Entscheidung, ob er für
alle Kriterien des Art. 13 des Amsterdamer Vertrages
oder nur für Geschlecht, ethnische Herkunft und Rasse
den zivilrechtlichen Diskriminierungsschutz formuliert.
Dass Sie von der FDP wie auch der Bundesrat auf der
Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie herumreiten,
verstehe ich nicht. Sie können doch nicht allen Ernstes
sagen, die Freiheit unserer Marktwirtschaft und unser
Wirtschaftswachstum hänge daran, dass man Schwule
oder Lesben, dass man Juden, Muslime oder Christen,
dass man Behinderte, Alte oder Junge beim Abschluss
von Versicherungs-, Miet- und Hotelverträgen diskriminieren darf. Sie wollen doch nicht den Leuten draußen
ernsthaft sagen, dass das Wirtschaftswachstum davon
Volker Beck ({3})
abhänge, ob man solche Menschen diskriminieren darf
oder nicht.
({4})
Sie haben ja gerade über Gaststätten geredet; lassen
Sie mich dazu sagen: Ich habe mich damals tierisch aufgeregt, als in München den Verwandten eines Rabbi am
Vortag ihrer Familienfeier von einem Gaststättenbesitzer
unter Hinweis auf ihre jüdische Religionszugehörigkeit
die Räume gekündigt wurden und die Familienfeier
nicht in der Gaststätte stattfinden konnte - das nach unserer Geschichte! Ich will nicht, dass so etwas in
Deutschland rechtens ist. Deshalb ist es richtig, dass wir
den entsprechenden gesetzgeberischen Schritt unternehmen.
({5})
Die Koalition hat ja nicht nur den Namen unseres Antidiskriminierungsgesetzes geändert - ich weiß ja, wie es
manchmal zwischen Koalitionspartnern zugeht -, sondern auch in einigen Punkten etwas gerupft. Hier möchte
ich Sie warnen: Wenn mit der Beschneidung der zivilrechtlichen Rechte der Verbände bzw. dem Herausstreichen des Abtretens von Rechten an Verbände und mit
der Streichung des Kontrahierungszwanges bei Versicherungsverträgen
({6})
tatsächlich eine rechtliche Änderung bewirkt werden
soll, werden Sie, wie ich glaube, ein Problem bekommen; denn zivilrechtliche Vorgaben werden dann nicht
mehr vollinhaltlich durch dieses Gesetz umgesetzt. Ich
denke, das sollten wir noch intensiv diskutieren.
Trotzdem möchte ich der Bitte der Justizministerin
gerne nachkommen. Auch ich denke, wir sollten das Gesetz nicht länger aufhalten, sondern jetzt schnell durch
den Bundestag bringen. Es muss dazu vorher keine langatmige Anhörung stattfinden, da zwischen uns rein politische Divergenzen bestehen. Sobald aber das Gesetz im
Gesetzblatt steht, möchte ich Sie bitten, auf der Basis
von Anträgen unserer Fraktion noch einmal mit uns darüber zu reden, ob nicht an einigen Punkten im Sinne einer vollständigen Umsetzung der Richtlinie nachgearbeitet werden sollte. Dazu könnte man noch einmal eine
Anhörung durchführen. Hierdurch sollte aber der Fortgang der Gesetzgebung nicht behindert werden.
Zum Schluss noch ein Wort zum weiteren Verfahren:
Die Bundesländer haben ja angekündigt, dass sie gerne
im Vermittlungsausschuss nachverhandeln möchten. Ich
ermutige die Sozialdemokraten und die von Angela
Merkel angeführte Bundesregierung: Lassen Sie sich
nicht auf diese zweite Runde ein. Die grüne Fraktion
hilft Ihnen notfalls aus, wenn Ihnen die Leute aus der
CDU/CSU-Fraktion weglaufen. Das machen wir ja sonst
nicht.
({7})
Bei der Zurückweisung eines entsprechenden Einspruchs des Bundesrates sind wir aber jederzeit gerne
bereit, dieser Bundesregierung zu helfen, damit Frau
Merkel ihr Gleichbehandlungsgesetz ungerupft durch
Bundestag und Bundesrat bekommt.
({8})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Norbert Geis das Wort.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich komme
vielleicht ganz zum Schluss, wenn die Zeit noch reicht,
zum Antidiskriminierungsgesetz; ich will es nicht anders
bezeichnen. Lassen Sie mich aber erst ein paar andere
Gedanken dieser sicherlich sehr interessanten Debatte
hinzufügen.
Zunächst ein Blick ins Strafrecht: Wenn man die Zeitungen aufschlägt, hat man manchmal den Eindruck, als
würden wir in Deutschland in einem furchtbar unsicheren Land leben. Dabei - das sei auch einmal festgestellt ist die Kriminalitätsrate bei uns zurückgegangen.
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Vom Jahre 2004 auf das Jahr 2005 ging allein in Bayern
- für die anderen Länder kenne ich die Zahlen nicht die Kriminalitätsrate um 5,1 Prozent zurück. Auch das
sollte man vielleicht bei einer solchen Debatte erwähnen.
Sorgen macht uns nach wie vor die Jugendkriminalität. Unsere jugendlichen Täter sind nicht sehr kriminell, sondern sehr jung. Aus jugendlichem Übermut geschehen eben oft entsprechende Straftaten, auf die
natürlich der Staat reagieren muss, aber zugleich auch
mit Maß reagieren sollte.
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- Gut, applaudieren Sie ruhig. Da stimme ich ja mit Ihnen überein.
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Ich bin der Auffassung, dass unser Jugendstrafrecht genug Reaktionsmöglichkeiten hat, um solchen Straftaten
begegnen zu können.
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Allerdings - darin können Sie mir wahrscheinlich
nicht folgen - muss man differenzieren. Es gibt jugendliche Gewalttäter, die nicht unter das Jugendstrafrecht fallen können, weil sie die Jugendlichkeit nicht mehr haben
und die Straftat nicht mehr aus jugendlichem Übermut
heraus geschieht. Wenn ein 18-Jähriger einen Jungen
vergewaltigt, sexuell missbraucht und dann umbringt,
dann ist das eine kriminelle Tat schwersten Ausmaßes,
die entsprechend geahndet werden muss.
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Deshalb sind wir dafür, bei Heranwachsenden zwischen
18 und 21 Jahren bei solch schweren Straftaten nicht die
Jugendstrafe von zehn Jahren anzuwenden. In einem solchen Fall muss für den Heranwachsenden - wenn er
überhaupt nach dem Jugendstrafrecht verurteilt werden
kann und nicht das Erwachsenenstrafrecht anzuwenden
ist, was wir für Täter ab 18 Jahren ja grundsätzlich wollen, weil man ab diesem Zeitpunkt als erwachsen gilt mindestens eine 15-jährige Höchststrafe angesetzt werden. Das sollten wir uns, glaube ich, noch in dieser Legislaturperiode vornehmen.
Wir sollten uns, gerade in diesen Fällen, ebenso die
Sicherungsverwahrung für Heranwachsende vornehmen. Wenn in dem Fall eines Straftäters, der mit
18 Jahren wegen einer schwersten Straftat verurteilt
wurde und diese mit 28 Jahren, wenn es bei den zehn
Jahren Haft bleibt, abgebüßt hat, alle Sachverständigen
sagen, dass dieser Täter nach der Entlassung erneut
Straftaten schwersten Ausmaßes begehen wird, dann
muss es möglich sein, diesen Straftäter, auch wenn er zunächst nach Jugendstrafrecht verurteilt worden ist, später
noch in die Sicherungsverwahrung zu nehmen. Das
scheint mir vor allen Dingen im Interesse der Sicherheit
unserer Bevölkerung wichtig zu sein.
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Lassen Sie mich einen weiteren Punkt anführen. Wir
hatten vor der Weltmeisterschaft die Diskussion über das
Thema Zwangsprostitution, die bei uns in diesen Tagen
vielleicht Platz greifen könnte. Es gibt - die UN hat
diese Zahl ermittelt, aber auch das Europäische Parlament - jährlich weltweit etwa 600 000 bis 800 000 Fälle
von Zwangsprostitution. Das heißt, in 600 000 bis
800 000 Fällen werden Frauen gezwungen, sich zu prostituieren; sie werden ausgenutzt wie Sklaven. Das ist bei
uns strafbar; das ist wahr. Aber die Frage ist, ob wir
nicht auch die Freier, die diese Situation wissentlich ausnutzen, wie beispielsweise in Schweden bestrafen. Auch
darüber sollten wir einmal ernsthaft diskutieren.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Standort
Deutschland sagen. Ich glaube, dass die Rechtspolitik
auch einiges für einen guten Standort Deutschland leisten kann. Wir bemühen uns darum. Es gibt die Novellierung des Urheberrechtsgesetzes, den Korb II. Ich glaube,
dass das ein guter Weg ist, jedenfalls die Voraussetzungen dafür zu schaffen, das Potenzial, das wir in Deutschland haben, zu nutzen. Wir haben keine großen Ressourcen, aber von den Anmeldungen beim Europäischen
Patentamt kommen 42 Prozent aus Deutschland; das
heißt, wir haben ein großes Potenzial an geistigem Eigentum. Dieses geistige Eigentum muss geschützt werden; da darf es keine strafrechtliche Aufweichung geben.
Es muss ein Ausgleich gefunden werden zwischen
Künstler und Hersteller, zwischen Produzent und Schauspieler. Ich glaube, dass in diesem Gesetz ein guter Ansatz dafür zu finden ist.
Ein weiterer Gedanke. Nach dem Karikaturenstreit
wurde die Überlegung laut, ob nicht § 166 StGB erneut
in die Diskussion gebracht werden sollte, weil diese
Rechtsnorm offenbar nicht in der Lage ist, die Verletzung religiöser Gefühle zu bändigen. § 166 StGB ist
keine leichte Norm und in der Praxis wahrscheinlich
schwer umzusetzen; das sehe auch ich. Deswegen müssen wir uns überlegen, ob wir nicht eine bessere Formulierung finden. Es geht dabei nicht nur um die christlichen Kirchen, sondern auch um den jüdischen und den
muslimischen Glauben. Wir können es nicht erlauben,
dass Menschen bei uns einfach um sich schlagen, wenn
es beispielsweise um den muslimischen Glauben geht.
Was glauben Sie, was dann in Deutschland los ist? Davon wäre der Tatbestand der Verletzung des öffentlichen
Friedens betroffen. Deswegen müssen wir über eine bessere Formulierung nachdenken. Das Nachdenken müsste
insbesondere den Begriff „Beschimpfen“ umfassen, weil
wir unter diesem weit gefassten Begriff alles fassen können.
Ein weiterer Gedanke. Wir werden in dieser Legislaturperiode ganz sicher auch eine Diskussion über den
Schutz des Lebens am Ende und ganz am Anfang bekommen. Wir sind noch nicht weit genug mit der Patientenverfügung. Auch zur Sterbehilfe werden wir eine Diskussion bekommen. Beim Embryonenschutz wird uns
eine Diskussion wahrscheinlich von der Forschung aufgezwungen.
Was ich als einen besonders großen Nachteil empfinde und was mich auch schmerzlich berührt, ist die
Tatsache, dass wir bei der Problematik der Spätabtreibung immer noch nicht zu einem Ergebnis gekommen
sind. Es kommt noch hinzu: Das Bundesverfassungsgericht hat uns 1993, als die Beratungsregelung eingeführt
worden ist, aufgegeben, nach einer gewissen Zeit nachzuprüfen, ob diese Regelung wirklich zu einer Verbesserung des Lebensschutzes geführt hat. Diese Überprüfung
fand bis heute, 13 Jahre nach dem Urteil, nicht statt.
Der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts muss nun
endlich ernst genommen werden.
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Denn es könnte sein, dass die heutige Praxis nicht den in
dem Urteil von 1993 niedergelegten Vorstellungen des
Bundesverfassungsgerichtes entspricht. Es würde sich
also um eine verfassungswidrige Praxis handeln. Das
kann eigentlich keiner wollen. Deswegen muss zumindest eine Überprüfung vorgenommen werden.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Antidiskriminierungsgesetz sagen. Ich bin der Auffassung, dass
schon die vier Richtlinien eine Katastrophe gewesen
sind.
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Ich habe die Dame, die diese Richtlinien in Brüssel vorbereitet hat - es handelt sich um Frau Dr. Helfferich; sie
wurde gestern in der „FAZ“ in einem hervorragend recherchierten Artikel von Zastrow erwähnt -, vor vier
Wochen angeschrieben. Sie hat bis heute nicht geantwortet. Keine Antwort ist auch eine Antwort.
Ich halte schon die vorliegenden Richtlinien, die wir
nicht mehr ändern können, für einen großen Fehler. Aber
da sie vorliegen, müssen wir sie umsetzen. Wir sollten
sie aber nicht im Schnellverfahren umsetzen, Herr Beck.
Ich bin dagegen, ein solch schwieriges Gesetz auf diese
Weise zu behandeln. Sie verlangen viel von uns. Sie verlangen nämlich, dass wir einem Gesetz zustimmen sollen, das Sie, Herr Beck - dessen rühmen Sie sich -, formuliert haben. Sie sollten uns daher wenigstens darin
zustimmen, dieses Gesetz in aller Ruhe im Rechtsausschuss zu beraten. Ich glaube nicht daran, dass uns die
Brüsseler Behörde mit einer Strafregelung belegen wird.
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Ich komme zum Schluss. Ich bitte Sie darum: Lassen
Sie uns dieses Gesetz nicht mit der Brechstange verabschieden! Es wird sonst nur Widerspruch geben. Es wird
dann vielleicht viele geben, die nicht zustimmen, ansonsten aber vielleicht zugestimmt hätten. Ich bitte um
eine ruhige und sachliche parlamentarische Beratung
dieses Gesetzes.
Danke schön.
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Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen.
Zum Einzelplan 07 in der Ausschussfassung, Bundesministerium der Justiz, liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
16/1860? - Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen? Dann ist dieser Antrag gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzelplan 07. Wer stimmt für den Einzelplan 07 in der Ausschussfassung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Dann ist der Einzelplan 07 mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 19, Bundesverfassungsgericht, ebenfalls in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Dann ist der Einzelplan 19 einstimmig
beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten I.5 c
und d sowie zu Zusatzpunkt 1. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/
1780, 16/1736 und 16/1861 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage
auf Drucksache 16/1780 zu Tagesordnungspunkt I.5 c
soll zusätzlich an den Ausschuss für Tourismus überwiesen werden. Die Vorlage auf Drucksache 16/1861 zu
Zusatzpunkt 1 soll zusätzlich an den Ausschuss für Tourismus, jedoch nicht an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt I.5 e, zur Abstimmung über den Antrag der Abgeordneten Jerzy
Montag, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Jan Korte
und weiterer Abgeordneter auf Drucksache 16/1622 mit
dem Titel „Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung durch
den Europäischen Gerichtshof prüfen lassen“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei einer Enthaltung aus der
Unionsfraktion mit den Stimmen der SPD- und der
Unionsfraktion abgelehnt.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Mittwoch, den 21. Juni 2006,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.