Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/20/2006

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle sehr herzlich und wünsche uns ebenso intensive wie konstruktive Beratungen. Die Haushaltswoche des Deutschen Bundestages gilt im Allgemeinen als ein Höhepunkt des parlamentarischen Jahres. In diesem Jahr wird sie voraussichtlich die Aufmerksamkeit mit einem anderen bedeutenden Ereignis teilen müssen, das in der deutschen Öffentlichkeit ähnlich große Begeisterung zu erzeugen scheint wie die Einnahmen und Ausgaben des Bundeshaushaltes. Deswegen könnte es ganz gewiss nicht schaden, wenn die Begabung zu einem fröhlichen Patriotismus, die das Land in diesen Tagen entdeckt zu haben scheint, auch in dieser Debatte ihren Niederschlag finden könnte. Vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich ein paar Mitteilungen zu machen. Der Kollege Volker Blumentritt feierte am 16. Juni seinen 60. Geburtstag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich nachträglich herzlich und wünsche alles Gute. ({0}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung um die Beratung des Antrags der FDPFraktion mit dem Titel „Bürokratie schützt nicht vor Diskriminierung - Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz ist der falsche Weg“ zu erweitern. ({1}) - Und wie ich den jetzt vorgetragen habe, Herr Vorsit- zender! - Die Vorlage soll beim Einzelplan 07 - Bundes- ministerium der Justiz - aufgerufen werden. Sind Sie da- mit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte I. a und b auf: a) Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2006 ({2}) - Drucksachen 16/750, 16/1348 - b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses ({3}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Finanzplan des Bundes 2005 bis 2009 - Drucksachen 16/751, 16/1348, 16/1327 Berichterstattung: Abgeordnete Otto Fricke Carsten Schneider ({4}) Anja Hajduk Wir kommen nun zur Beratung der Einzelpläne, und zwar zunächst der drei Einzelpläne, zu denen nach Ver- einbarung der Fraktionen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.1 auf: Einzelplan 01 Bundespräsident und Bundespräsidialamt - Drucksachen 16/1301, 16/1324 - Berichterstattung: Abgeordnete Herbert Frankenhauser Klaas Hübner Dr. Dietmar Bartsch Wer stimmt für den Einzelplan 01 in der Ausschuss- fassung? - Wer möchte dagegen stimmen? - Wer möchte sich der Stimme enthalten? - Der Einzelplan 01 ist einstimmig angenommen. Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.2 auf: Einzelplan 02 Deutscher Bundestag - Drucksachen 16/1302, 16/1324 - Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Koppelin Gunter Weißgerber Anja Hajduk Wer stimmt für den Einzelplan 02 in der Ausschuss- fassung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist auch der Einzelplan 02 einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.3 auf: Einzelplan 03 Bundesrat - Drucksachen 16/1303, 16/1324 - Berichterstattung: Abgeordnete Otto Fricke Jens Spahn Johannes Kahrs Dr. Dietmar Bartsch Wer für den Einzelplan 03 in der Ausschussfassung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Möchte je- mand dagegen stimmen? - Möchte sich jemand der Stimme enthalten? - Bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke ist auch dieser Einzelplan mit hinreichender Mehrheit angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.4 auf: a) Einzelplan 08 Bundesministerium der Finanzen - Drucksachen 16/1308, 16/1324 Berichterstattung: Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme Bernhard Brinkmann ({5}) Ulrike Flach Anja Hajduk b) Einzelplan 20 Bundesrechnungshof - Drucksache 16/1324 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Barthle Petra Merkel ({6}) Michael Leutert Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zu diesen beiden Einzelplänen drei Stunden vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Also ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Jürgen Koppelin für die FDP-Fraktion. ({7})

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Woche soll nun endlich nach wochenlanger Beratung der vom Bundesfinanzminister eingebrachte Bundeshaushalt 2006 beschlossen werden. Es gibt keinen Grund zur Freude über diesen Bundeshaushalt. Mit 38,2 Milliarden Euro liegt die Neuverschuldung um 7 Milliarden Euro höher als 2005, als Rot-Grün noch regierte. ({0}) Jetzt verantwortet Rot-Schwarz diesen Haushalt und diese hohe Neuverschuldung. ({1}) Zukünftig - so wollen es SPD und Union - soll die notwendige Reduzierung der Neuverschuldung - wir sind uns darüber einig, dass es eine Reduzierung der Neuverschuldung geben muss - im Wesentlichen über ein gigantisches Steuererhöhungsprogramm erfolgen. Das bringt dem Staat zwar mehr Geld, bremst aber die Konjunktur und belastet die Bürger und die Unternehmen. ({2}) Die Hoffnung, dass die Koalition unserem Land wieder Wachstum bringt und damit auch den Bundesetat aus der Krise holt, wird sich mit dem Haushalt der rotschwarzen Koalition nicht erfüllen. Was ist vom Satz der Bundeskanzlerin „Wir werden es grundlegend anders machen, damit es grundlegend besser wird in Deutschland“ übrig geblieben? Für den Bundeshaltshalt, Frau Kanzlerin, trifft das jedenfalls nicht zu. Der Haushalt 2006, jetzt in Ihrer Verantwortung, ist noch schlechter als der Haushalt 2005. Damals - das wiederhole ich hatte Rot-Grün die Verantwortung. ({3}) Der Bundeshaushalt 2006 ist verfassungswidrig und setzt den Verfassungsbruch der letzten vier Jahre fort. Angesichts einer konjunkturellen Erholung und des von der Bundesregierung erwarteten Wachstums kann doch nicht erneut die Ausnahmeregelung des Art. 115 des Grundgesetzes herangezogen werden. ({4}) Sie begründen das mit der schwachen Binnennachfrage. Wenn Sie eine schwache Binnennachfrage feststellen, dann müssen Sie sich doch fragen, wieso Sie eine MehrJürgen Koppelin wertsteuererhöhung durchführen, da die Binnennachfrage dadurch noch einmal geschwächt wird. ({5}) Der Bundesfinanzminister hat in den letzten Wochen, auch im Bundesrat, in seiner eigenen Art die Haushaltspolitik der rot-schwarzen Koalition dargestellt. Er hat versucht, die hohe Neuverschuldung und das gigantische Steuererhöhungsprogramm der Koalition zu begründen. Herr Bundesfinanzminister, wer von unseren Bürgern soll Ihnen Ihre Argumente abnehmen? Wer soll Ihnen das jetzt glauben? Vor der Bundestagswahl haben die Sozialdemokraten und auch Sie sich massiv gegen eine Mehrwertsteuererhöhung gewandt. Wählt SPD, dann verhindert ihr eine Mehrwertsteuererhöhung - das war eines der Hauptargumente der Sozialdemokraten im Wahlkampf. Viele Bürger - nach meiner Auffassung: zu viele Bürger - haben Ihnen geglaubt und SPD gewählt. Nun, nach wenigen Monaten, erzählen die SPD und Sie, Herr Bundesfinanzminister, genau das Gegenteil. Wer soll Ihnen noch glauben? ({6}) Hatte die SPD vor der Bundestagswahl mit ihren Argumenten Recht oder hat sie nach der Bundestagswahl Recht? Darüber müssen Sie uns doch eigentlich einmal aufklären. Ich sage Ihnen ganz offen, Herr Bundesfinanzminister, dass mich das ein bisschen an das alte Lied erinnert, das es früher in der DDR gegeben hat: Die Partei hat immer Recht. - Das scheint das Motto der Sozialdemokraten zu sein: Heute entscheiden wir so, morgen so und die Partei hat immer Recht. ({7}) Dies hat die Politik in Verruf gebracht hat und sorgt dafür - das erleben wir an manchen Wahlabenden -, dass die Menschen nicht mehr zur Wahl gehen. Sie sind parteienverdrossen, und zwar auch und besonders durch Ihre Politik. Kommen Sie bitte nicht mit dem Argument - die Kanzlerin macht das auch -, die Wählerinnen und Wähler in Deutschland hätten diese Koalition und diese Politik gewollt. Kein Wähler der Sozialdemokraten hat gewollt, dass Sie in einer Koalition mit der CDU/CSU eine Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte durchführen. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Koalition ist zu einem Kartell der Abkassierer geworden. Zu mehr sind Sie, wie der vorliegende Bundeshaushalt zeigt, nicht fähig. Die beispiellosen Steuererhöhungen werden seitens des Bundesfinanzministers damit begründet, dass die öffentlichen Haushalte ohne diese Maßnahmen zerreißen würden. Doch das ist nur dann richtig, wenn man nicht bereit ist - dazu ist er und ist die Koalition nicht bereit -, auch bei den Ausgaben stärker zu kürzen. Ausgabenkürzungen? Fehlanzeige. Dazu hat die Koalition nicht die Kraft gehabt. Oder wollen Sie etwa sagen, Ausgabenkürzungen in Höhe von 100 Millionen Euro - um genau diesen Betrag haben die Haushälter Kürzungen vorgenommen - seien der große Wurf? Sie haben Monate der Beratung benötigt, um in einem Etat von 261 Milliarden Euro 100 Millionen Euro einzusparen. Das, was Sie uns hier vorlegen, ist ein Armutszeugnis. ({9}) Wenn wir das Ergebnis, das Sie uns heute präsentieren, bereits im Februar gekannt hätten, dann hätten wir den Haushalt bereits damals beschließen können. Dafür hätten wir nicht monatelang beraten müssen. ({10}) Das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts hat die rotschwarze Koalition völlig aus den Augen verloren. Stattdessen wird die Schuldenlast des Bundes kräftig erhöht. Die Nettoneuverschuldung im Bundeshaushalt 2006 in Höhe von mehr als 38 Milliarden Euro sei „ausgesprochen hoch“, erklärte der haushaltspolitische Sprecher der Union, Steffen Kampeter. Das ist wohl wahr. Aber die Union hat bei den Haushaltsberatungen nichts dagegen unternommen ({11}) und nennt das nun plötzlich, so wiederum der Kollege Kampeter, „einen erfolgreichen Start für die große Koalition“. Über 38 Milliarden Euro neue Schulden! Und da wagt es die Koalition, von diesem Bundeshaushalt als einem soliden Zahlenwerk mit angemessener Risikovorsorge zu sprechen! Das, was Sie uns vorlegen, ist einfach peinlich. Damit stellen Sie sich ein Armutszeugnis aus. ({12}) Wo trifft die Koalition eigentlich Vorsorge für die bestehenden Risiken, zum Beispiel im Hinblick auf das Arbeitslosengeld II? Fehlanzeige! Dabei hat sogar der Bundesfinanzminister wörtlich erklärt: „Ich bin von Risiken umzingelt.“ Das mag so sein. Wenn ich die Tageszeitungen lese, habe ich hin und wieder den Eindruck, dass er, wenn er von „Risiken“ spricht, nicht nur die Haushaltsrisiken, sondern auch die Koalitionsfraktionen meint. ({13}) Zu den Risiken des Bundeshaushalts - auch darauf will ich hinweisen; denn das ist bisher noch nicht deutlich genug gesagt geworden - gehört auch die steigende Zinslast, die wir berücksichtigen müssen. Kollege Meister hat gestern erklärt, er sehe große Risiken für den Bundeshaushalt. Da sowohl der Bundesfinanzminister als auch der Kollege Meister von der Union von Risiken sprechen, frage ich mich: Wie können Sie es wagen, uns einen solch unsoliden Haushalt vorzulegen? Das ist nicht zu verantworten. ({14}) Die CDU/CSU hat sich gegenüber dem Bundesfinanzminister, der einen typischen SPD-Haushalt vorgelegt hat, nicht durchsetzen können. Das ist das Ergeb3474 nis der Haushaltsberatungen. Anders als die Koalition hat die FDP in ihren mehr als 500 Anträgen aufgezeigt, wie der Bundeshaushalt um 8,3 Milliarden Euro entlastet werden könnte. ({15}) Dann könnten auch die Vorgaben des Maastrichtvertrages endlich wieder erfüllt werden. Diese 500 Anträge, die wir eingebracht haben, ({16}) haben Sie in Bausch und Bogen abgelehnt. Die Oppositionsfraktionen haben insgesamt über 1 000 Anträge gestellt, die Sie abgelehnt haben. ({17}) Der Kollege Meister hat in der Debatte zur Regierungserklärung der Kanzlerin am 1. Dezember 2005 erklärt, die Union biete den Freien Demokraten an, ihre Anträge sehr sorgfältig zu prüfen und sie, wenn sie als solide beurteilt würden, auch zu übernehmen. ({18}) Kollege Meister, ich frage Sie: Haben sie unsere Anträge wirklich sorgfältig geprüft? ({19}) - Er nickt; vielen Dank. - Ich muss Ihnen sagen: Unter den mehr als 500 Anträgen, die wir gestellt haben, waren über 50 Anträge, die die Union bei der Beratung des letzten Haushalts, also in der Zeit, als sie in der Opposition war, selbst gestellt hat; ich gebe zu, dass wir das auch getan haben, um Sie zu testen. Auch diese Anträge haben Sie abgelehnt. ({20}) Kollege Meister, ich muss doch davon ausgehen, dass die Anträge, die Sie damals gestellt haben, von Ihnen überprüft und als solide beurteilt worden sind; denn sonst hätten Sie sie nicht eingebracht. Zumindest diese Anträge müssten also solide sein, sodass Sie sie hätten übernehmen können. Aber das haben Sie nicht getan. Sie haben im Rahmen der Haushaltsberatungen all unsere Anträge, auch die, die Originalanträgen der Union gleichen, abgelehnt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in unseren Anträgen, allein was den Subventionsabbau betrifft, Vorschläge gemacht, durch die 1 Milliarde Euro eingespart werden könnten. Die Koalition hat das abgelehnt. Wir haben eine Kürzung der Verwaltungsausgaben von 10 Prozent - nur 10 Prozent! - vorgeschlagen; das brächte bereits 800 Millionen Euro. Die Koalition hat das abgelehnt. Wir haben, weil wir das für notwendig erachten, auch Beschaffungsmaßnahmen im Verteidigungsetat auf den Prüfstand gestellt. Einsparvolumen: 400 Millionen Euro. Die Union sollte sich die Anträge anschauen, die sie gestellt hat, als sie noch in der Opposition war: Da hat sie die gleichen Anträge gestellt wie wir als FDP jetzt. ({21}) Ein Einsparvolumen von 400 Millionen Euro ist schon etwas anderes als die popeligen 100 Millionen Euro, die Sie, Kollege Meister, uns hier heute präsentieren. ({22}) Mit unseren Anträgen, mit unseren Entlastungsvorschlägen, wäre ein erster großer Schritt in Richtung eines soliden Haushalts und mehr Glaubwürdigkeit getan worden. Eine Wende wäre eingeleitet worden, damit man den Haushalt 2007 vernünftig aufbauen kann. Sie haben diese Chance vertan. Und dann legen Sie noch ein schuldenfinanziertes Konjunkturprogramm auf! Dabei lehrt doch die Vergangenheit, dass solche Programme - wenn überhaupt - kurzzeitige Strohfeuer sind. Was von Ihrem Konjunkturprogramm bleibt, sind bloß noch mehr Schulden. Wissen Sie: Ihr Konjunkturprogramm erinnert mich an den Versuch, mit einem Gummiband eine Rakete zum Mond zu schießen - mehr ist es nicht. ({23}) Dreh- und Angelpunkt auch für diesen Bundeshaushalt ist der Arbeitsmarkt. Solange es 4,5 Millionen Arbeitslose gibt, Menschen Angst um ihren Arbeitsplatz haben, kann die Binnenkonjunktur nicht anspringen. Doch wie können arbeitslose Menschen in unserem Land wieder einen Arbeitsplatz bekommen? Wohl kaum - das sage ich in Richtung Union - mit dem von RotSchwarz beschlossenen Gebäudesanierungsprogramm oder der verbesserten Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen. ({24}) Erst recht nicht gibt es neue Arbeitsplätze, Kollege Kampeter, wenn man die Steuern so drastisch erhöht, wie Sie das gemacht haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer die öffentlichen Haushalte konsolidieren will, wer neue Arbeitsplätze schaffen will, wer die Einnahmequellen der Sozialversicherungen sichern will, der muss für mehr Wachstum in unserem Land sorgen. Mit einer Erhöhung der Abgabenlast wird das Wachstum aber nicht gefördert, sondern gebremst. Deswegen ist das Konzept der Koalition falsch angelegt. Dass es anders geht, haben doch die 80er-Jahre gezeigt; damals war die Haushaltslage ähnlich prekär. Anscheinend muss man Sie daran erinnern, dass es einen Bundesfinanzminister Stoltenberg von der Union gegeben hat, der gesagt hat: Ich spare ein - die Steuern werden auf keinen Fall erhöht! - Diese Strategie ist damals aufgegangen und die Lage hat sich von Jahr zu Jahr verbessert. Es ist traurig, dass man die Union heute daran erinnern muss. ({25}) Heute nutzt die Union ihre Macht nur noch, um mit den Sozialdemokraten zusammen an der Steuerschraube zu drehen. Sie vergessen völlig: Was der Staat gewinnt, das verlieren seine Bürger. Bei der Union hat der Ausspruch von Franz Müntefering Einzug gehalten, dass der Staat besser mit dem Geld umgehen kann als die Bürger. Das scheint jetzt auch das Motto der Union zu werden. Generell ist festzustellen, dass sich die Haushaltspolitik von Union und SPD nur darauf konzentriert, wie man durch Abkassieren beim Bürger zu noch mehr Einnahmen kommen kann. Es geht Ihnen nicht darum, die Ausgaben zu reduzieren. Deshalb geht das größte Risiko für die deutsche Konjunktur und letzten Endes für die Bürger und die Unternehmen nach unserer Auffassung von dieser Koalition aus. ({26}) Sie reden in der Koalition davon - der Bundeswirtschaftsminister macht es; auch die anderen Minister machen es -, dass mit Ihrer Politik Licht am Ende des Tunnels zu sehen sei. Ich stelle für die FDP fest, dass die Koalition mit ihrer Politik alles, aber auch alles daransetzt, um den Tunnel zu verlängern. Dabei denke ich zum Beispiel an die Vorstellungen - wenn man überhaupt von Vorstellungen sprechen kann -, die die Koalitionsfraktionen in diesen Tagen im Hinblick auf eine Gesundheitsreform präsentieren. Das wird den Tunnel verlängern. Dabei denke ich auch an die Vorverlegung des Termins für die Fälligkeit der Sozialabgaben. Auch das hat den Tunnel verlängert. Und ich denke an das Umfallen der CDU/CSU beim Antidiskriminierungsgesetz. Diese Liste ließe sich fortsetzen. Wir, Union und FDP, haben doch in der Opposition zusammen immer wieder auf die unsolide Haushaltspolitik der Sozialdemokraten hingewiesen, ja wir sind sogar zusammen vor das Bundesverfassungsgericht gezogen und haben eine Klage eingereicht, die noch anhängig ist. Warum haben Sie von der Union das alles vergessen? ({27}) - Kollege Kampeter, Sie haben das alles vergessen. Ich finde, die Wählerinnen und Wähler der Union haben eine solche Haushaltspolitik nicht verdient; die übrigen Bürger unseres Landes übrigens auch nicht. ({28}) Es ist festzustellen: Die CDU/CSU hat sich gegen den SPD-Finanzminister nicht durchsetzen können. Die Bundeskanzlerin hat kürzlich erklärt: Wort und Tat, Verkündung und Ergebnis müssen in der Politik wieder zusammenpassen. Das ist richtig. Warum machen Sie das dann nicht? Ihre Kanzlerin hat es Ihnen doch erlaubt; sonst hätte sie doch nicht so gesprochen. Nein, Sie haben es nicht getan. Wer hindert Sie daran, eine solide Haushaltspolitik zu machen? Wir, die Opposition, bestimmt nicht. Wenn sie solide ist, werden wir Sie dabei unterstützen. Die Abkehr der Union von ihren eigenen haushaltspolitischen Forderungen der vergangenen Jahre ist beispiellos. Es muss etwas geschehen, aber wir von der Union dürfen mit Rücksicht auf unseren Koalitionspartner SPD nichts ändern - das ist das Motto der Regierungspolitik der Union geworden. Dieser Bundeshaushalt ist ein Beispiel dafür. Wenn Sie diesen Bundeshaushalt 2006 beschließen, dann ist wieder ein Jahr zur Neuausrichtung des Bundeshaushaltes, das wir dringend gebraucht hätten, vertan worden. Es tut mir Leid, aber ich muss es so deutlich sagen: Dieser Bundeshaushalt 2006 erinnert mich an den Gammelfleischskandal: Er wurde neu verpackt, umetikettiert und als frisch angeboten. Er bleibt aber das, was er bisher schon war: Gammel. Mit diesem Haushalt 2006 legen Sie uns hier heute Gammel vor. ({29}) Sie werden verstehen, dass Sie die Zustimmung der Freien Demokraten dafür nicht bekommen können. In Richtung des Herrn Bundesfinanzministers sage ich: Reden Sie zukünftig nicht davon, zu Ihrer Politik gebe es keine Alternative! Es ist zwar eigentlich ein trauriger Anlass, aber es ist mir trotzdem ein Vergnügen, Ihnen noch einmal das Sparbuch der Fraktion der Freien Demokraten überreichen zu können, das über 500 Anträge enthält. ({30}) Schauen Sie einmal hinein, dann wissen Sie, dass Sie hätten einsparen können. ({31}) Herzlichen Dank für Ihre Geduld. ({32})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Carsten Schneider für die SPD-Fraktion. ({0})

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ferdinand Lassalle hat einmal gesagt: Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist. Carsten Schneider ({0}) Nun wollen wir uns als SPD und auch als große Koalition nicht der politischen Kleingeisterei schuldig machen, sondern die große politische Aktion beginnen. Der Beschluss über den Bundeshaushalt 2006 nach der zweiten und dritten Lesung in dieser Woche wird dafür den Grundstein bilden. Was ist? Ich denke, nach dem, was Herr Koppelin eben vorgetragen hat, ist es ganz erquicklich und erfrischend, zu sehen, wie die Situation überhaupt ist. Nehmen wir die Gesamtverschuldung des Bundes. Sie liegt - Stand: Februar 2006 - bei 890,8 Milliarden Euro. In der Zeit, in der die FDP an der Regierung beteiligt war - das war von 1969 bis 1998 -, sind 711 Milliarden Euro davon angefallen. ({1}) - Herr Kollege Solms, in den letzten Jahren sind 144 Milliarden Euro dazugekommen. Dazu stehe ich auch. Ich will nur sagen: Es gibt eine Gesamtverantwortung aller hier vertretenen Parteien. Niemand kann sich hier vom Acker machen. ({2}) Nun komme ich zur Zinslast. Sie kritisieren, dass wir in diesem Jahr eine Nettokreditaufnahme in Höhe von 38,2 Milliarden Euro haben. Die Zinslast beträgt aber ebenfalls circa 38 Milliarden Euro. Wenn Sie sich das anschauen, dann erkennen Sie, dass wir die Nettokreditaufnahme in diesem Jahr nur benötigen, um die Zinsen für die Schulden aus der Vergangenheit zu bezahlen. Dabei ist noch keine Tilgung erfolgt. Mein politisches Ziel als Abgeordneter ist es, dass wir einen Weg finden - ich glaube, mit diesem Haushalt und auch mit dem Haushaltsbegleitgesetz, das wir vor einigen Wochen beschlossen haben, wird dies gelingen -, zu einem konsolidierten Staatshaushalt zu kommen, wodurch wir, so hoffe ich, in der nächsten Legislaturperiode auch einen ausgeglichenen Haushalt erreichen werden. ({3}) Beim Bundeshaushalt haben wir eine strukturelle Deckungslücke von 50 Milliarden Euro. Das sind 20 Prozent der beschlossenen Gesamtausgaben in Höhe von 261 Milliarden Euro. Diese müssen durch die Nettokreditaufnahme und durch Privatisierungserlöse finanziert werden. Das zeigt: Nur durch eine Verbesserung der Einnahmebasis oder allein durch Ausgabenkürzungen kann man diesen Haushalt nicht konsolidieren. Herr Kollege Koppelin, wir tun daher beides: Wir haben nicht nur die Nettokreditaufnahme um 100 Millionen Euro abgesenkt, sondern wir haben auch in enormem Maße umgeschichtet. Erkennbare Risiken, die auch beim Vollzug dieses Haushalts auftreten - wir befinden uns ja schon fast in der Jahresmitte -, haben wir verringert. ({4}) In diesem Jahr sind für den Bund zum Glück Steuermehreinnahmen in Höhe von 4 Milliarden Euro zu verzeichnen. Davon waren 2,5 Milliarden Euro bereits im Regierungsentwurf eingeplant, sodass wir tatsächlich nur noch über Mehreinnahmen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro gegenüber dem Plan reden konnten. Diese haben wir zur Deckung von Risiken und Einnahmeausfällen eingesetzt. ({5}) Bei den Einnahmeausfällen ist zum einen der Aussteuerungsbetrag der Bundesagentur für Arbeit zu nennen. Wir sind von Einnahmen in Höhe von 5,3 Milliarden Euro ausgegangen, aber uns stehen nur 4 Milliarden Euro zur Verfügung. Zum anderen konnten wir nur einen um 140 Millionen Euro verminderten Bundesbankgewinn etatisieren. Damit sind die Mehreinnahmen - hier werden öfter Märchen erzählt - in das Gesamtpaket eingearbeitet worden. Das heißt, für den Haushalt 2006 sind diese Einnahmen entsprechend veranschlagt und die Ausgaben entsprechend kalkuliert. Das heißt aber auch, dass wir für den Etat 2007 keine Entwarnung geben können. Sie haben in Ihrer Rede, Herr Koppelin, schon einige Reformen angesprochen, die wir in den nächsten Wochen angehen werden. Ich nenne hier noch einmal die Gesundheitsreform; ich nenne ferner die Föderalismusreform für den Gesamtstaatsaufbau oder auch die wichtige Unternehmensteuerreform. Mit diesen Reformen hat der Haushalt eine gute Grundlage. Als Antwort auf die Frage: „Was ist?“ zitiere ich die Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages vom 12. Juni 2006 zur Situation in Deutschland. Nach dieser Umfrage seien die deutschen Unternehmen so positiv gestimmt wie seit dem Wiedervereinigungsboom nicht mehr. Der Konjunkturaufschwung gewinne an Tempo und für 2006 sei mit einem Wirtschaftswachstum von 2 Prozent zu rechnen. Nicht nur der Export sei Wachstumstreiber, sondern nach und nach auch die Binnennachfrage. Nun haben Sie gefragt, warum wir in diesem Jahr die Mehrwertsteuer erhöhen würden. Das tun wir in diesem Jahr doch gar nicht. Die Mehrwertsteuererhöhung ist für diesen Haushalt überhaupt nicht relevant, sondern sie betrifft den Haushalt 2007. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, mit dem Haushalt 2006 Schwung zu nehmen, um für 2007 die Auswirkungen der Mehrwertsteuererhöhung, die sich in der Wirtschaft niederschlagen werden - die Bundesbank geht von einem halben bis dreiviertel Prozentpunkt weniger Wachstum für 2007, aber auch von einem stärkeren Wachstum in diesem Jahr aus -, abzumildern. Auf die Frage: „Was ist?“ muss man auch antworten, dass die Bundesrepublik mit knapp 20 Prozent eine historisch niedrige Steuerquote hat. Nur noch die Slowakei liegt im europäischen Vergleich hinter der Bundesrepublik Deutschland. Für mich als Sozialdemokrat ist entscheidend, dass wir nicht einen Nachtwächterstaat Carsten Schneider ({6}) haben, sondern dass der Staat auch soziale Sicherheit gewährleistet und die Angst vor Freiheit nimmt. ({7}) - Entschuldigung, ich meine natürlich, dass er die Angst vor dem Verlust von sozialer Sicherheit nimmt. Sie wissen genau, was ich sagen will. Durch die soziale Sicherheit muss der Staat jedem die Chance geben, wieder aufzustehen, wenn er fällt. Ein anderer Zukunftsbereich, der uns wichtig ist, ist das 6-Milliarden-Euro-Programm für Forschung und Entwicklung zur Stärkung der Wissensgesellschaft. Diese Mittel sind in den Haushalt und die Finanzplanung eingestellt. Ich bin guter Dinge, dass diese Maßnahmen zusammen mit dem 25-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm dazu führen werden, dass wir dank der positiven Konjunkturentwicklung, die sich erstmals seit langer Zeit in den Beschäftigungszahlen widerspiegelt, 2007 sowohl das Maastrichtkriterium hinsichtlich der Verschuldung als auch die Vorgaben aus Art. 115 des Grundgesetzes, wonach die Summe der Investitionen höher als die Nettokreditaufnahme sein muss, einhalten werden. ({8}) Die Haushaltspläne für das Jahr 2007 werden von der Regierung noch verhandelt; da will ich mich nicht einmischen. Aber ich möchte für meine Fraktion die Erwartung ausdrücken, dass der Koalitionsvertrag eingehalten wird. Ich habe keinen Zweifel daran, dass es dem Finanzminister gemeinsam mit der Bundeskanzlerin gelingt, für 2007 einen Haushalt aufzustellen, der sowohl die Regelgrenze nach Art. 115 des Grundgesetzes als auch die Vorgaben der Europäischen Kommission hinsichtlich des Stabilitätspaktes einhält. ({9}) Sie haben vorhin die Vorgaben zur Haushaltskonsolidierung und zur Verstärkung der Einnahmebasis kritisiert. Ich kann nur sagen: Die Europäische Kommission hat das Wachstumsprogramm, aber auch den Finanzbericht, den wir der Kommission jährlich vorlegen - schließlich läuft ein Defizitverfahren gegen uns -, begrüßt und erklärt, dass insbesondere die Maßnahmen zur Steuergesetzgebung, die wir hier im Deutschen Bundestag beschlossen haben - auch der Bundesrat hat diesem Paket letzten Freitag zugestimmt -, konjunkturgerecht sind; da bin ich guter Dinge. Weil es wichtig ist, die Rahmendaten zu nennen, komme ich zu der Frage: Was haben wir in den Haushaltsberatungen tatsächlich verändert? Hier sind einige Punkte für das Parlament besonders wichtig. Ich nenne zum Beispiel den Wunsch, der von vielen Kollegen geäußert wurde, die Mittel für Maßnahmen im Bereich der politischen Bildungsarbeit, bei denen die Regierung einige Kürzungen vorgesehen hat, um 5 Millionen Euro zu erhöhen. Wir haben im Haushaltsbegleitgesetz im Gegenzug zur Kürzung des Weihnachtsgeldes die Sonderzahlung für Beamtinnen und Beamte der niedrigen Einkommensgruppen A 2 bis A 8 erhöht und wir haben im Bereich Wissenschaft und Forschung insbesondere bei den Verpflichtungsermächtigungen die Mittel verstärkt. Wir hatten uns als Koalitionsfraktion vorgenommen, die globalen Minderausgaben zu reduzieren. Das ist uns im Einzelplan 60 um 300 Millionen Euro gelungen. Damit leisten wir einen Beitrag zur Haushaltswahrheit und -klarheit und zur Stärkung des Parlaments. Wir haben zudem in den Einzeletats die globalen Minderausgaben deutlich gekürzt. Zur strukturellen Verbesserung des Bundeshaushalts auch im Personalbereich haben wir die Stelleneinsparung in Höhe von 1,9 Prozent, die die Regierung vorgesehen hatte, auf 2 Prozent erhöht. Das entspricht 220 Stellen im Bundeshaushalt und ist deutlich mehr als die Zahl neuer Stellen, die durch die Regierungsneubildung entstanden sind. Damit haben wir unsere Aufgabe als Haushälter, Kontrolle auszuüben und ein Gegengewicht darzustellen, wahrgenommen. Wir haben die Investitionsausgaben auf dem Niveau gelassen, das von der Regierung vorgeschlagen wurde. Wir haben einige Veränderungen vorgenommen. Insbesondere haben wir bei den Verpflichtungsermächtigungen im Rahmen des 25-Milliarden-Euro-Paketes wesentliche Punkte konkretisiert. Ich denke dabei vor allen Dingen an den Verkehrsbereich, aber auch an einzelne Bereiche im Forschungsministerium. Ein weiterer Punkt, den ich für einen entscheidenden Schritt hinsichtlich der Struktur des Bundeshaushaltes halte, mag zunächst abstrakt klingen. Bisher lagen die Pensionslasten, die für die Beamten des Bundes aufzubringen sind, in der Zuständigkeit des Bundesfinanzministers. Das heißt, die einzelnen Häuser waren nicht für die Finanzierung verantwortlich. Wir haben dieses System umgestellt. Das Parlament hat sich an dieser Stelle gegen harten Widerstand durchgesetzt. Ab 2007 wird es zum einen einen Pensionsfonds geben, mit dem für alle ab 2007 neu eingestellten Beamten Vorsorge getroffen wird. Das ist für mich ein entscheidender Punkt auch für die nachhaltige Sicherung der öffentlichen Finanzen im Interesse zukünftiger Generationen. Wir haben des Weiteren vorgesehen, dass die Pensionslasten bei den Ressorts veranschlagt werden. Das heißt, künftig ist jedes Ressort für die Pensionäre verantwortlich und muss deren Pensionen aus dem Etat finanzieren. Das hat meines Erachtens zur Folge, dass mit den öffentlichen Geldern - das heißt mit den Steuergeldern noch sachgerechter umgegangen wird. ({10}) Weil sich gute Politik auch gut verkauft, haben wir die Mittel für Öffentlichkeitsarbeit um 10 Prozent bzw. um 10 Millionen Euro gekürzt. Ich glaube, das würde Ihnen vonseiten der Opposition nie einfallen. Es steht den Ressorts frei, zu entscheiden, wie sie die Kürzungen Carsten Schneider ({11}) umsetzen werden. Ich denke, das ist ein Signal, dass das Parlament durchaus selbstbewusst ist. ({12}) Ich möchte gerne noch auf einen Punkt eingehen, der die Kritik der FDP-Fraktion betrifft. Kollege Koppelin hat eben noch einmal auf sein Maßnahmebündel verwiesen. Er hat kritisiert - ich nehme an, Herr Westerwelle wird das morgen noch einmal bestätigen -, dass die Nettokreditaufnahme in diesem Jahr rund 38 Milliarden Euro beträgt und damit - das ist richtig - um rund 16 Milliarden Euro über der Regelgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes liegt. Sie haben das als verfassungswidrig bezeichnet. Ich habe dazu eine andere Auffassung: Wir machen von dem Ausnahmetatbestand des Art. 115 des Grundgesetzes Gebrauch. Wenn es Ihnen wirklich um sachgerechte Oppositionsarbeit geht, dann frage ich Sie, wie Sie bei einer Einsparung in Höhe von 8 Milliarden Euro, bei der die Nettokreditaufnahme immer noch 30 Milliarden Euro betragen würde und die Investitionsausgaben bei 22 Milliarden Euro verharren würden, begründen wollen, dass die auch dann bestehende Differenz von 8 Milliarden Euro, um die die Nettokreditaufnahme die Investitionsausgaben überstiege, nicht verfassungswidrig wäre. Ich glaube, es wird deutlich, dass die von Ihnen vorgelegte Alternative absurd ist. Ich würde gerne dem einen oder anderen Antrag zustimmen, wenn er denn sachgerecht wäre. Es ist mir aber aufgrund der Absurdität Ihrer Vorschläge im Rahmen der Haushaltsberatungen nicht möglich gewesen. Ich nenne gerne ein paar Beispiele, um es der Bevölkerung zu verdeutlichen. Sie wollen die Beiträge für internationale Organisationen um 2 Millionen Euro kürzen. Wir sind aber an dieser Stelle vertraglich gebunden. Sie wollen die Ausgaben im Verteidigungsbereich um 1 Milliarde Euro kürzen. Schöne Grüße an alle Soldatinnen und Soldaten, die im internationalen Bereich tätig sind! ({13}) Sie wollen bei der internationalen Krisenprävention die Ausgaben um 3 Millionen Euro senken. Die Menschen in den Krisengebieten werden sich bedanken. Sie wollen bei der Flug- und Gepäckkontrolle und der Fahrgastsicherheit Kürzungen in Höhe von 20 Millionen Euro vornehmen. Ist Ihnen nicht bekannt, ({14}) dass sich die Sicherheitslage in der Bundesrepublik Deutschland insbesondere seit dem 11. September 2001 und vor dem Hintergrund der Fußballweltmeisterschaft, durch die wir im Fokus stehen, nachhaltig verändert hat? Dies alles scheint Ihnen nicht deutlich zu sein. Daher verbuche ich Ihren Vorschlag unter „Heiteres und Weiteres“. ({15}) Zudem wollen Sie die Mittel für die Eingliederungsleistungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, die wir mit 6 Milliarden Euro etatisiert haben, um 3 Milliarden Euro kürzen. Schönen Gruß nach Ostdeutschland! Denn 50 Prozent dieser Mittel fließen dorthin. Die Menschen dort werden sich bedanken, dass Sie ihnen die letzte Chance nehmen wollen. Ein weiteres Beispiel: Im Verteidigungsbereich werden Sie nur noch von der Linkspartei übertroffen, die die dafür vorgesehenen Mittel um 2,5 Milliarden Euro kürzen will. Aber darauf will ich nicht näher eingehen. Sie nennen als Beispiel für Kürzungsmöglichkeiten ständig die Steinkohlesubventionen. Ich glaube, dass keine andere Subvention einer so starken Degression unterliegt wie die Steinkohlesubvention. ({16}) Sie sollten nicht vergessen, dass wir die bis 2009 geltenden rechtsverbindlichen Zuwendungsbescheide gar nicht ändern können. - Herr Westerwelle, Sie haben zugerufen, keine andere Subvention sei so hoch gewesen wie die Steinkohlesubvention. Ich darf Sie daran erinnern, dass es ein Wirtschaftsminister der FDP war, der den entsprechenden Vertrag unterschrieben hat. Das alles holt Sie nun wieder ein und hat dazu geführt, dass wir Ihre Vorschläge ablehnen mussten. ({17}) Das Verhältnis des Bundes zu den Ländern halte ich persönlich für sehr wichtig. Es hat Auseinandersetzungen über die Regionalisierungsmittel gegeben. Ich bin froh, dass wir nun einen Kompromiss gefunden haben, wiewohl ich sagen muss, dass es mir lieber gewesen wäre, wenn wir den ursprünglichen Ansatz der Bundesregierung fortgeschrieben hätten. Bund und Länder haben schließlich gemeinsam Verantwortung für diesen Staat. ({18}) Wenn ich mir einen Ausblick auf 2007 erlaube und insbesondere die Zinslast der einzelnen Körperschaften anschaue, dann stelle ich fest, dass die Situation des Bundes am schlechtesten ist. Das liegt daran, dass in den letzten Jahren im Vermittlungsausschuss ständig zulasten des Bundes verhandelt wurde. Ich möchte noch einen anderen Punkt nennen, der nicht nur im Verhältnis zwischen Bund und Ländern, sondern auch zwischen Ost und West eine maßgebliche Rolle spielt. Das ist die Verwendung der Solidarpaktmittel durch die ostdeutschen Bundesländer. Wir werden diese Mittel - die reinen Bundesmittel beliefen sich im Jahr 2006 auf insgesamt 10 Milliarden Euro; die Bundesländer haben dazu nichts gegeben - nicht kürzen. Das ist gut im Hinblick auf die Planungssicherheit und die Tragfähigkeit der vom Deutschen Bundestag gefassten Beschlüsse. Klar muss aber auch sein, dass diese Mittel tatsächlich für den Aufbau Ost und insbesondere für die Schließung der Lücke zwischen Ost und West verwendet Carsten Schneider ({19}) werden. Ich unterstütze daher ausdrücklich die Position des Bundesfinanzministers gegenüber dem einen oder anderen Ministerpräsidenten, egal welcher Couleur. Es ist wichtig, dass wir diese Mittel zum einen zum Schließen der Infrastrukturlücke und zum anderen für den Ausgleich der unterproportionalen Finanzkraft der Kommunen und für nichts anderes einsetzen. ({20}) Denn alles andere führte dazu, dass die ostdeutschen Bundesländer, deren Haushalte sich schon jetzt in einer bedrohlichen Schieflage befinden, 2009, wenn diese Mittel der Degression unterliegen, in eine Schuldenfalle liefen. Um die Diskussion ein bisschen zu versachlichen, mache ich darauf aufmerksam, dass man die Entwicklung nicht einseitig den ostdeutschen Bundesländern vorwerfen darf. Sie leisten zwar eine gute Arbeit, sind aber in besonderem Maße durch Abwanderung, die sich auch auf die Zuweisungen im Rahmen des Länderfinanzausgleichs auswirkt, betroffen. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein paar Zahlen betreffend den Vollzug der Länderhaushalte nennen. So hat der Finanzplanungsrat vereinbart, dass die Haushaltsmittel nur um 1 Prozent steigen dürfen. Tatsächlich wiesen die Haushalte der Stadtstaaten eine Steigerung von 2,4 Prozent und die der westdeutschen Flächenländer eine Steigerung von 1,7 Prozent auf, während die ostdeutschen Flächenländer ihre Haushaltsmittel um 0,7 Prozent zurückgeführt haben. Es gibt also Licht und Schatten. Ich glaube, wir tun als Deutscher Bundestag gut daran, an dieser Stelle hart zu bleiben. Wir sollten aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die Situation insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern sehr schwierig ist. Wir sollten uns in der zweiten Hälfte dieses Jahres mit diesem Thema noch einmal beschäftigen. Das liegt im Gesamtinteresse nicht nur des Deutschen Bundestages, sondern auch der Bundesrepublik Deutschland; denn es wird uns nur gelingen, die binnenwirtschaftliche Situation zu verbessern und letztendlich das Zusammenwachsen von Ost und West zu befördern, wenn der Aufbau in den neuen Bundesländern sachgerecht fortgeführt wird und wenn es dafür weiterhin das Verständnis und die Solidarität der Menschen im Westen Deutschlands gibt. Vielen Dank. ({21})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine Damen und Herren! Am 4. Juli gibt es an den Berliner Schulen Zeugnisse und die Empfehlung für die weiterführenden Schulen. Nach diesen Haushaltsberatungen komme ich, wie sicher auch viele Wähler, zu dem Schluss: Diese Bundesregierung ist stark versetzungsgefährdet. Eine Empfehlung für die gymnasiale Oberstufe würde wohl kein Regierungsmitglied erhalten, wenn die Wähler entscheiden könnten. ({0}) Die Aufgabenstellung war klar: Die Bundesregierung war von den Wähler beauftragt, die Arbeitslosigkeit zu senken. Diese Aufgabe hat sie nicht erfüllt. Sie hat sich einfach andere Aufgaben gesucht, die ihnen keiner gestellt hat, zum Beispiel das SGB-II-Optimierungsgesetz. Herr Müntefering hat es als seine Aufgabe angesehen, die Kosten für Hartz IV zu senken - allerdings auf Kosten der Arbeitslosen. Dabei war es die eigentliche Aufgabenstellung, die Arbeitslosen nicht nur zu fordern, sondern auch zu fördern. Aber was machen Herr Müntefering und Herr Beck, der Parteivorsitzende der SPD? Sie beklagen, obwohl sie es besser wissen, in einer unerträglich populistischen Art die angebliche Faulheit und Raffgier der Hartz-IV-Empfänger. Das ist unerträglich und unerhört. Wir als Linke werden uns dagegen immer wehren. ({1}) Denn man kann die Menschen noch so drangsalieren und piesacken, sie werden keine Arbeitsplätze bekommen, wenn es nicht ausreichend Arbeitsplätze gibt. Dieser Populismus gefällt einigen CDU- und SPDWählern, die sich an Stammtischen das Maul über die Arbeitslosen zerreißen. ({2}) Allerdings bringt uns das keinen Schritt weiter bei der Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen. Ich habe daraus übrigens gelernt, dass Populismus nicht ein Privileg von Oppositionsparteien ist. Er wird offensichtlich auch von mittelgroßen Volksparteien genutzt, um Stimmung gegen Arbeitslose zu machen. ({3}) Genauso populistisch finde ich es, wenn Herr Müntefering behauptet, dass viele Arbeitslose Angebote ablehnen. Viele können aus ihren Abgeordnetensprechstunden gegenteilige Beispiele erzählen. Ich sage Ihnen einmal eines aus meiner Sprechstunde: Da ist ein Mann - Anfang 40, mit Frau und Kindern -, der eine Umschulung zum Physiotherapeuten machen möchte. Er hat bereits eine Einstellungszusage eines zukünftigen Arbeitgebers, doch die Arbeitsagentur will die Ausbildung nicht bezahlen. Sie bietet ihm dafür einen Job als Pizzaausfahrer in Köln an. Das ist doch absurd; mit einer nachhaltigen Arbeitsmarktpolitik hat das nichts zu tun. ({4}) Herr Müntefering hat im Wahlkampf über Frau Merkel geäußert: „Sie kann es nicht.“ Heute müssen wir feststellen: Er kann es auch nicht. ({5}) Finanzminister Steinbrück gehört zu denjenigen, die gerne etwas von Nachbarn abschreiben. Dumm ist nur, wenn der Nachbar einen Fehler gemacht hat. Das fällt dem Lehrer in der Regel auf. Herr Steinbrück hat von seinem Vorgänger, Herrn Eichel, abgeschrieben. Der hatte es nämlich in kürzester Zeit geschafft, auf Steuereinnahmen in Höhe von mehr als 50 Milliarden Euro zu verzichten. Damit hatte er die Hoffnung verbunden, dass die Unternehmen, die von diesen Steuerreformen am meisten profitierten, die gesparten Mittel in neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze investieren würden. Das ist bekanntlich nicht passiert. Aber der aktuelle Finanzminister macht den gleichen Fehler. Er hebt die Mehrwertsteuer ab dem 1. Januar 2007 um 3 Prozentpunkte von 16 auf 19 Prozent an - die größte Steuererhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik und ein Griff in die Taschen der kleinen Leute. Pro Prozentpunkt will der Finanzminister 8 Milliarden Euro einnehmen. Komischerweise wird die geplante Unternehmensteuerreform dieses Ministers die Steuerzahler ebenfalls 8 Milliarden Euro kosten. Das heißt, die Einnahmen aus einem Prozentpunkt Mehrwertsteuererhöhung fließen direkt an die Unternehmen. - Meine Damen und Herren, ich finde, jeder hat das Recht, Fehler zu machen. Doch wissentlich Fehler zu wiederholen, das ist schon beängstigend und ein Fall für den Schulpsychologen. ({6}) Minister Tiefensee ist schon deshalb versetzungsgefährdet, weil ihn nie jemand gesehen hat. ({7}) Der Aufbau Ost hat in dieser Legislaturperiode bisher noch nicht stattgefunden. In einem Interview mit Herrn Tiefensee habe ich jetzt gelesen, dass er gerne im Verborgenen arbeitet. ({8}) Doch das scheint nicht erfolgreich zu sein. ({9}) Der Finanzminister hat schon angekündigt, dass er Herrn Tiefensee in Zukunft 100 Millionen Euro für den Aufbau Ost wegnehmen will. Das ist Geld, das für die Gemeinschaftsaufgabe in Ostdeutschland gebraucht wird. Ich habe auch gehört, dass sich der Ostbeauftragte der Bundesregierung über die angebliche Verschwendung von Solidarpaktmitteln öffentlich beklagt. Ich halte das im Gegensatz zu meinem Vorredner für eine Anbiederei bei den Herren Koch und Stoiber. Es ist richtig: Mittel, die für Investitionen gedacht sind, sind in den konsumtiven Bereich geflossen, allerdings um die Erfüllung von Pflichtaufgaben der Länder und Kommunen abzusichern. Der Osten verjubelt das Geld nicht. Die Steuereinnahmen der neuen Länder und der Gemeinden in Ostdeutschland sind im Vergleich zu denen in den alten Ländern so niedrig, dass man dort nicht einmal mehr seine Pflichtaufgaben erfüllen kann. In Anbetracht der dramatischen Situation im Osten ist es ein Gebot der Vernunft, die Nutzung der Solidarpaktmittel flexibler zu gestalten, so wie es übrigens auch der Ministerpräsident Thüringens, Herr Althaus von der CDU, gefordert hat. ({10}) Er will die Mittel für Bildungsinvestitionen nutzen dürfen. Wir brauchen im Osten nicht noch mehr Autobahnen, sondern Investitionen in die Köpfe, also in Schulen und Universitäten. Die Kriterien für die Vergabe der Mittel sind überholt. Doch es gibt eine breite Front von Personen, die diese Kriterien nicht ändern wollen. Sie haben nämlich kein Interesse daran, dass im Osten mehr Geld in die Bildung gesteckt wird. Noch fataler ist allerdings die Abwesenheit des so genannten Ostministers bei der Föderalismusreform. Nur so viel - wir werden nächste Woche ausführlich darüber diskutieren -: Ich habe den Eindruck, dass einige Ministerpräsidenten den Zug zur deutschen Einheit stoppen wollen, und das ist nicht sehr patriotisch, schon gar nicht „fröhlich“, wie es der Präsident uns allen heute Morgen empfohlen hat. Es gibt allerdings einen Erfolg, mit dem sich Herr Tiefensee gerne schmückt: Das ist die Angleichung des Ostniveaus des Arbeitslosengeldes II an das Westniveau. Allerdings muss dieser Erfolg gerechterweise den Hartz-IV-Demonstranten zugestanden werden, die bei Wind und Wetter jeden Montag auf die Straße gegangen sind, um gegen diese Ungerechtigkeit zu demonstrieren. Ihnen gebührt meine Hochachtung. ({11}) Der Finanzminister verteilt schon heute das Geld, das er noch gar nicht hat. Er und die Familienministerin wollen jedes Jahr 3,9 Milliarden Euro Erziehungsgeld zahlen. Es wird immer wieder gern erklärt - auch von Herrn Steinbrück -, dass die Steuergelder zielgenauer eingesetzt werden müssen, dass nur diejenigen Geld bekommen sollen, die es dringend brauchen und sich selbst nicht helfen können. Da stimme ich zu. Doch beim Erziehungsgeld ist es genau umgekehrt: Die Mütter, die auf das Erziehungsgeld angewiesen sind, bekommen weniger; die Mütter, die es nicht unbedingt brauchen, bekommen mehr. Bisher begann die Sozialauswahl in unserem Land erst nach der Grundschule. Dort wurde entschieden, wer auf das Gymnasium und wer auf die Hauptschule kommt, wer also Gewinner oder Verlierer ist. Die Familienministerin will die Sozialauswahl schon vor der Geburt treffen. Das ist wirklich erschreckend. ({12}) Wenn die ganze Bundesregierung versetzungsgefährdet ist, kann das nicht nur an den Schülern liegen. Dann muss man sich auch einmal die Frage stellen, was die Lehrer denn falsch gemacht haben; nehmen wir einmal den Wirtschaftsweisen Rürup. Egal welche Regierung wir haben: Die falschen Konzepte kommen immer aus den gleichen Häusern. Ich erinnere an die Gesundheitsreform 2004: Ziel war es, die Lohnnebenkosten und die Beitragssätze der Krankenkassen auf Kosten der Beitragszahler zu senken. Was ist passiert? Die Lohnnebenkosten wurden nicht gesenkt; aber die Kassenbeiträge steigen und der Patient zahlt. Da muss man sich doch die Frage stellen: Wie lange noch dürfen diese nicht gewählten Experten ihre falschen Konzepte verkaufen? ({13}) Aber vielleicht interessieren sich die Mitglieder der Bundesregierung gar nicht mehr dafür, ob die Reformen das Land wirklich weiterbringen, ob sie ihre Aufgaben im Interesse der Wähler erfüllen. Vielleicht gibt es für das eine oder andere Regierungsmitglied auch schon lukrative Angebote aus der Wirtschaft, sodass sie auf die Beurteilung der Wähler pfeifen können, wie es Altbundeskanzler Schröder getan hat. Noch ein Wort zum Verlauf der Beratungen. Kein Antrag der Opposition bekam im Haushaltsausschuss eine Mehrheit; Herr Koppelin ist darauf schon eingegangen. Das ist natürlich eine ideologiebetriebene Politik. Es kann und darf aus der Sicht von CDU/CSU und SPD nicht sein, dass Oppositionspolitiker - in unserem Falle sind es Linke - vernünftige Vorschläge machen. Wenn die Regierungsfraktionen an diesen Vorschlägen nicht vorbei können, dann werden die entsprechenden Anträge trotzdem abgelehnt und diese Vorschläge werden über eigene Anträge in die Beratungen eingebracht. Ist das wirklich ein souveränes Verhalten oder ist das nicht eher kleinkariert und ein schlechtes Vorbild für diejenigen, die sich an den Diskussionen hier im Bundestag orientieren wollen? ({14}) In diesem Jahr werden mit dem Haushalt 260 Milliarden Euro verteilt. Die Bundesregierung behauptet im gleichen Atemzug, dass es nichts mehr zu verteilen gibt. Das klingt unlogisch, ist es aber nicht. Es gibt zwar an die Mehrheit nichts zu verteilen, aber - wie ich an einigen Beispielen dargestellt habe -: Eine Minderheit wird eher diskret bedient. Wir als Linke schenken den Menschen reinen Wein ein. ({15}) Es ist genügend Geld da; es muss nur richtig verteilt werden. ({16}) Das ist von dieser Regierung aber nicht zu erwarten. Deshalb werden wir den Haushalt ablehnen. Vielen Dank. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Steffen Kampeter, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die große Koalition hat sich drei zentrale Ziele im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik gesetzt: ({0}) den Haushalt in Ordnung bringen, die Arbeitslosigkeit senken und die sozialen Sicherungssysteme konsolidieren. Das sind große Aufgaben. Wir wollen in dieser Woche als große Koalition gemeinsam deutlich machen, dass wir die Haushaltskonsolidierung mit Entschiedenheit angehen. Es gibt zu ihr keine Alternative. ({1}) Das Leitbild der großen Koalition ist dabei eine generationengerechte Haushaltspolitik. Wir wollen keine vermeidbaren Lasten auf die nächsten Generationen wälzen. Dieses ehrgeizige Anliegen umzusetzen ist keine Aufgabe für einen Tag, sondern soll für die nächsten Legislaturperioden unsere Leitlinie bleiben. Damit leistet die Haushaltspolitik durch strikte Haushaltskonsolidierung ihren Beitrag dazu, dass es unserem Land weiter besser geht. ({2}) Kein Land hat eine wirtschaftliche Spitzenposition dauerhaft gehalten, das seinen Haushalt nicht konsolidiert hat, das einen Haushalt vorgewiesen hat, der nicht in Ordnung war. ({3}) Kein Sozialstaat kann es sich auf Dauer leisten, dass die öffentlichen Finanzen nicht in Ordnung sind. Da liegt eine enorme Aufgabe, die weit über die heutigen Haushaltsberatungen hinausreicht. Sie wird von der großen Koalition angegangen. ({4}) Mit dem Haushalt 2006 und dem Finanzplan für die Zeit bis 2009 geht die große Koalition einen ersten Schritt auf dem beschwerlichen Weg zu dauerhaft und nachhaltig konsolidierten Bundesfinanzen. Der erste Haushalt der großen Koalition ist Ergebnis eines komplexen Vorgangs. Warum? Hierzu empfiehlt es sich, sich die haushalts- und finanzpolitische Lage zu Beginn der Koalitionsverhandlungen im vergangenen Oktober ins Gedächtnis zu rufen. Entscheidender Ausgangspunkt war die gemeinsame Feststellung der Koalitionspartner, dass wir im Bundeshaushalt ein strukturelles Defizit von über 60 Milliarden Euro per annum haben. Um die Dimension dieser haushaltspolitischen Schieflage einmal klar zu machen, kann man auch sagen: Rund 20 Prozent der Ausgaben des Bundes waren zu diesem Zeitpunkt nicht durch regelmäßige Einnahmen gedeckt. Dieser Besorgnis erregende Zustand der Bundesfinanzen ist das Ergebnis eines Prozesses, der sich seit Jahren abgezeichnet hat. Wir haben in den vergangenen Jahren, und zwar nicht erst seit 1998, deutlich über unsere Verhältnisse gelebt. Die Neuverschuldung des Bundeshaushalts lag 2005 zum vierten Mal in Folge über der Regelgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes. Ebenso haben wir als Gesamtstaat, also Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherungen, viermal in Folge das 3-Prozent-Defizitkriterium des Stabilitäts- und Wachstumspaktes verletzt. Es ist allerhöchste Zeit, diese Entwicklung zu stoppen, wollen wir nicht die Lasten unseren Kindern und Enkelkindern aufbürden. Wir fangen mit der Haushaltskonsolidierung an. Es ist ein schwerer Weg. Er muss gegangen werden. Es gibt zu ihm keine Alternative. ({5}) Vor diesem Hintergrund haben wir uns ehrgeizige Ziele gesetzt, nämlich die Regelgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes sowie das Defizitkriterium wieder einzuhalten. Dieser Anspruch erfordert eine enorme Kraftanstrengung. Schon die Einhaltung der Regelgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes bedeutet ein Konsolidierungsvolumen von 35 Milliarden Euro allein für den Bundeshaushalt. Ein solches Einsparvolumen lässt sich nicht von heute auf morgen erzielen. Jeder, der etwas anderes behauptet, macht den Menschen etwas vor. Er ist unehrlich. Eine unehrliche Politik hat beim Haushalt ausgedient. ({6}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir betreiben keine Verschleierung der dramatischen Finanzsituation, sondern wir wollen eine transparente Haushaltspolitik machen. Wahrheit und Vollständigkeit sind verfassungsrechtlich gebotene Haushaltsgrundsätze, die wir achten wollen. Dazu gehört, dass wir mit den der Haushaltsplanung zugrunde gelegten gesamtwirtschaftlichen Entwicklungsannahmen vorsichtig umgegangen sind. Korrekturen wird es auch in der großen Koalition geben, zum Beispiel bei den Wachstumsannahmen. Sie entwickeln sich in den letzten Wochen positiv. Das ist eine gute Botschaft für Deutschland. Wir wollen, dass es so weiter geht. ({7}) Auch bei den großen Schätzansätzen haben wir realistische Größenordnungen veranschlagt. Schließlich haben wir die Nettokreditaufnahme offen ausgewiesen, die sich aus einem strukturellen Defizit von 60 Milliarden Euro ergibt. Sie liegt mit rund 38 Milliarden Euro - der Kollege Koppelin hat mich ja schon zitiert, indem er darauf verwies, dass ich das nicht besonders gut finde - um rund 15 Milliarden Euro über den Investitionsausgaben und ist auch höher als die Nettokreditaufnahme im vergangenen Haushaltsjahr. Nun beschäftigen wir uns einmal ein wenig mit der Realität: Das strukturelle Defizit beträgt 60 Milliarden Euro und erst seit wenigen Monaten wurden erste kräftige Schritte zur Konsolidierung eingeleitet. Wenn nun die FDP behauptet, man könne diesen Haushalt innerhalb weniger Wochen konsolidieren, indem man die in einem dicken Buch vorgelegten Anträge, von denen einige rechtlich nicht möglich bzw. politisch nicht geboten sind, umsetzt, ({8}) dann ist das unanständig, unseriös und hemmungslos populistisch. Meine sehr verehrten Damen und Herren, so kann man keine seriöse Haushaltspolitik machen. ({9}) Ein Beispiel: Wir alle wissen, dass wir bestimmte Aufgaben im Zusammenhang mit der Lage am Arbeitsmarkt - Herr Kollege Müntefering weiß das - lösen müssen. ({10}) Die FDP schlägt angesichts eines möglichen Mehrbedarfs für arbeitsmarktpolitische Ausgaben eine Leistungsabsenkung vor. Wer so unrealistisch den Menschen Sand in die Augen streut, der erschüttert den Glauben an die Seriosität der Politik. Wer so Oppositionspolitik betreibt, der macht damit deutlich, dass er keinerlei Regierungsfähigkeit besitzt. Das hat die FDP mit ihrem Vorgehen klar deutlich gemacht. ({11}) Die Überschreitung der Regelgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes ist erforderlich, um eine drohende Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abzuwehren. Insbesondere das Ziel eines hohen Beschäftigungsstandes, aber auch das Ziel eines angemessenen Wirtschaftswachstums wäre bei alternativen Maßnahmen gefährdet. Die Lage am Arbeitsmarkt ist nach wie vor schwierig; insbesondere das Fehlen einer nachhaltigen Besserung im Bereich der Langzeitarbeitslosen zeigt, dass die konjunkturellen Erholungsimpulse, die wir Gott sei Dank verspüren, den Arbeitsmarkt noch nicht spürbar erreicht haben. Die Wachstumserwartungen haben sich ausweislich der Frühjahrsprojektion nur geringfügig von 1,4 auf 1,6 Prozent erhöht. Die gesamtwirtschaftlichen Eckwerte, die Grundlage der Entscheidung der Bundesregierung, die Ausnahmeregelung des Art. 115 in Anspruch zu nehmen, sind, liegen im Mittelfeld des Spektrums der Prognosen wichtiger nationaler und internationaler Institutionen. Zwar sieht die Deutsche Bundesbank in ihrer aktuellen Einschätzung der Konjunkturlage die wirtschaftliche Aufwärtsbewegung zu Beginn des Jahres durch eine günstige Entwicklung bei den Ausrüstungsinvestitionen sowie durch einen kräftigen außenwirtschaftlichen Impuls gestützt, von einer nachhaltigen Wende beim privaten Konsum kann aber nach Auffassung der Bundesbank noch nicht gesprochen werden. Der Kollege Schneider hat darüber hinaus in seiner Rede auf die erfreuliche Entwicklung bei den Steuereinnahmen hingewiesen. Bisher deutet allerdings wenig darauf hin, dass sich die Steuerbasis strukturell verändert hat. Aufgrund der aktuellen Steuerschätzung belaufen sich die Mehreinnahmen im Bundeshaushalt, denen ja Mindereinnahmen gegenüberstehen, lediglich auf 1,5 Milliarden Euro. Jeder, der hier im Gegensatz zu unseren Planungen eine abrupte Haushaltskonsolidierung fordert - gleich, ob sie durch Abgabenerhöhung oder durch Reduzierung staatlicher Leistungen erfolgt -, muss sich der Gefahr bewusst sein, dass dies zusätzlich nachdrücklich negative Impulse auf die derzeitige Konjunkturentwicklung ausüben und die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts nach sich ziehen würde. Eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu erreichen ist nicht Ziel der großen Koalition. Wir wollen, dass es besser wird in diesem Land und aufwärts geht. Der Haushalt 2006 dient diesem Ziel. ({12}) Ich weiß, dass viele der Experten - dazu zähle ich auch viele Mitglieder dieses Hauses aus allen Fraktionen ({13}) im Zusammenhang mit der Debatte zur Mehrwertsteuererhöhung gesagt haben: Wir sind nicht begeistert, dass wir diese Mehrwertsteueranpassung vornehmen müssen. ({14}) Aber angesichts der Handlungsmöglichkeiten in den verbleibenden sechs Monaten dieses Jahres und im Jahr 2007 - ich habe Ihnen die Alternativperspektiven hier klar und deutlich aufgezeigt - gibt es dazu keine vernünftige, realistische, konjunkturverträgliche Alternative. Wir sind bereit, diesen schweren Weg zu gehen, weil er ohne Alternative für unser Land ist. Das ist ehrlich und das muss gesagt werden. ({15}) Angesichts des Sachverhaltes, dass internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds diese Mehrwertsteuererhöhung im Rahmen des wirtschaftlichen Umfeldes und der Reformperspektiven, die die große Koalition in vielen Bereichen geschaffen hat, weitaus positiver bewerten, müssen all diejenigen, die die Mehrwertsteuererhöhung hier als Konjunkturkiller charakterisieren, sich fragen lassen, ob sie nicht einen interessengeleiteten Pessimismus zum Maßstab ihres politischen Handelns machen, der weder im Interesse der öffentlichen Finanzen noch im Interesse der Menschen in Deutschland sein kann. ({16}) Wir als große Koalition haben uns deshalb für den Weg einer konjunkturunterstützenden Konsolidierung entschieden. Durch kurzfristige Wachstumsimpulse soll die konjunkturelle Erholung gefördert werden, um in diesem Jahr zunächst Schwung zu holen und auf höherem Niveau die dämpfenden Effekte, die ich keinesfalls bestreite, besser zu verkraften. Gleichzeitig sollen die Angebotskräfte dann so weit gestärkt sein, dass die Belastungen - wir haben ja Erfahrung mit Mehrwertsteueranpassungen in den vergangenen Jahrzehnten nur einen temporären Effekt darstellen. Daher ist auch in der Frühjahrsprojektion unterstellt, dass, betrachtet man die Jahre 2006 und 2007 zusammen, der begonnene Weg in Richtung eines höheren Wachstums stabilisiert, unterstützt und nicht abgebrochen wird. Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit den Beschlüssen zum Haushalt 2006 sind die Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung in dieser Legislaturperiode gegeben. Die nachhaltige, konjunkturschonende Haushaltskonsolidierung wird von einem Maßnahmenbündel begleitet, das sowohl Konsolidierungsmaßnahmen im engeren Sinne enthält als auch Wachstumsimpulse im weiteren Sinne gibt. Der erste Schritt ist dabei in der vergangenen Woche auch vom Bundesrat abgesegnet worden: das so genannte Haushaltsbegleitgesetz 2006, das mit ansteigenden Entlastungen des Bundeshaushalts - beginnend 2007 bei 12,5 Milliarden Euro, gefolgt von weiteren Schritten - die Konsolidierung vorantreiben wird. Wir haben aber auch im Bereich der sozialen Sicherungssysteme mutige Reformschritte zur Flankierung des Haushaltskonsolidierungskonzeptes eingeleitet. Ich erwähne beispielsweise die Rente mit 67. Sie ist ein wichtiger Meilenstein. Durch sie wird nicht nur die demografische Entwicklung aufgegriffen, sondern auch eine strukturelle Entlastung der sozialen Sicherungssysteme und damit auch des Bundeshaushalts herbeigeführt. Wir müssen darüber nachdenken, ob die solide Finanzpolitik, aufgrund dessen die große Koalition diesen Haushalt vorlegt, nicht auch auf andere öffentliche Haushalte übertragen werden sollte. Einzelne Bundesländer haben bereits Notlagen angezeigt; eventuell kommen weitere Länder hinzu. Insoweit war die Debatte um die richtige Verwendung der Solidarpaktgelder sinnvoll. Es kann nach meiner Auffassung nicht sein, dass einige Länder die Mittel für Investitionen einsetzen, während andere sie - nicht regelkonform - anderen Verwendungen zuführen. Wir brauchen eine strengere Finanzdisziplin auf allen Gebietskörperschaftsebenen. Ich spreche mich dafür aus, die Idee eines nationalen Stabilitätspakts, die wir auf allen Ebenen erörtern, weiterzuverfolgen. ({17}) Es kann nicht sein, dass der Bundeshaushalt in der Konsolidierung voranschreitet, aber andere Gebietskörperschaften in eine andere Richtung marschieren. Die öffentlichen Haushalte sitzen alle in einem Boot. Konso3484 lidierung ist eine föderale Gemeinschaftsaufgabe. Dies wollen und müssen wir deutlich machen. Bund und Länder müssen gemeinsam - und zwar nicht nur im Rahmen der Fortentwicklung des Föderalismuskonzeptes, sondern auch durch verbindliche Regelungen bezüglich der Konsolidierung der Haushalte - deutlich machen, dass es um eine nationale Aufgabe geht, der wir uns stellen wollen. ({18}) Die Sozialisierung finanzpolitischen Fehlverhaltens kann eben nicht Ziel der großen Koalition sein. Ich setze da hohe Erwartungen in die Beratungen für diesen Bereich. Mit dem Bundeshaushalt 2006 haben wir einen ersten Schritt auf dem steinigen Weg der Konsolidierung getan. Ich will in diesem Zusammenhang einen Bereich ausdrücklich hervorheben, bei dem uns dieser Schritt nicht ganz einfach gefallen ist, nämlich den Bereich der Arbeitsmarktpolitik. Dazu gehört Hartz IV, worüber in diesem Hause schon oft debattiert wurde. Man muss kein Hellseher sein, um vorherzusagen, dass das auch zukünftig so sein wird. Vielleicht könnte man auch den Namen dieses Reformprojekts einer Revision unterziehen. ({19}) Das halte ich auch im Interesse der Betroffenen für sinnvoll. Ich will einen Punkt besonders deutlich machen: Aus Sicht der Union, aber auch aus Sicht der großen Koalition war und bleibt die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe richtig. Sie war ordnungspolitisch sinnvoll. Mit ihr wurden allerdings noch nicht die erwünschten Haushaltseinsparungen erzielt. ({20}) Dies muss aber in einem weiteren Schritt gelingen. Wir sind uns bewusst - insbesondere die Union hat sich dieses Themas angenommen -, dass wir, wenn wir die Annahmen des Gesetzentwurfes zugrunde legen, eine erhebliche Zielabweichung von der Finanzprognose für diese Legislaturperiode haben werden, und zwar in einer Größenordnung von zwei Mehrwertsteuerpunkten. Ich wiederhole: Die Zielabweichung hinsichtlich des Finanzvolumens für die Arbeitsmarktpolitik umfasst zwei Mehrwertsteuerpunkte! Deswegen war es richtig - dafür danke ich allen Beteiligten -, dass wir für das Haushaltsjahr 2006 eine Risikovorsorge getroffen haben, um höhere Kosten durch mögliche Umschichtungen innerhalb des Arbeitsmarktetats auffangen zu können. Die Koalition hat sich insbesondere auf eine Haushaltssperre im Bereich der arbeitsmarktpolitischen Leistungen verständigt. Wir haben es gleichzeitig abgelehnt, dass weiter auf Beitragsmittel zugegriffen wird; ({21}) denn wir glauben, dass die von den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern gezahlten Beiträge innerhalb dieses Systems verwendet werden sollen. ({22}) Mit den überschüssigen Einnahmen, die sich aufgrund der positiven Entwicklung ergeben und die von den Beitragszahlern stammen, soll nicht der Bundeshaushalt saniert werden. Bei der Arbeitsmarktpolitik stehen wir erst am Anfang eines durchgreifenden Prozesses, der auch etwas mit dem Bundeshaushalt zu tun hat. In einem ersten Schritt müssen wir die Strukturreformen am Arbeitsmarkt vorantreiben. Wir müssen in einem zweiten Schritt die Reformen innerhalb des Systems weiter vorantreiben. Ich danke Bundesminister Müntefering, dass er hier engagiert vorangegangen ist ({23}) und dass er mit den bestehenden Gesetzen einen wichtigen Grundstein dafür gelegt hat, dass wir die Ausgabenentwicklung erstmals in den Griff bekommen können. Aber ich mache für die Union auch deutlich, dass wir noch nicht am Ende der Entwicklung sind und dass die Reformschritte innerhalb des SGB sozialverträglich, für die Menschen nachvollziehbar und der Konsolidierung des Bundeshaushalts dienend weitergeführt werden müssen. ({24}) Wir müssen in einem dritten Schritt dazu beitragen, dass die Belastung für den Bundeshaushalt durch die Arbeitsmarktpolitik begrenzt wird, indem wir Beschäftigungsimpulse nutzen. Mit dem Bundeshaushalt 2006 haben wir zur Stärkung von besonders zukunftsträchtigen Bereichen ein Sofortprogramm mit einem Volumen von 25 Milliarden Euro aufgelegt, von dem insbesondere auch die Arbeitslosen profitieren werden. Nicht ohne Grund haben wir die Abschreibungsbedingungen für Unternehmen verbessert und die Mittel für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm aufgestockt. Auch die Mittel für Verkehrsinvestitionen werden mit diesem Bundeshaushalt erheblich, nämlich um 1 Milliarde Euro, aufgestockt. Das soll nicht nur zur Verbesserung der Infrastruktur beitragen, sondern auch einen wesentlichen Beschäftigungsimpuls liefern. All das macht deutlich, dass dies nicht ein Haushalt der harten Konsolidierung, sondern ein Haushalt ist, mit dem im Rahmen des Möglichen auch Wachstumsimpulse gesetzt werden. Diese Politik müssen wir als große Koalition gemeinsam offensiv vertreten. ({25}) Insgesamt ist zu vermerken, dass die Höhe der Investitionsausgaben mit über 23 Milliarden Euro auf dem Niveau des Regierungsentwurfs gehalten werden kann. Wir müssen uns zukünftig überlegen, wie wir diesen Bereich ausbauen. Wir haben zu den ForschungsinvestitioSteffen Kampeter nen, aber auch zu den Investitionen, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf betreffen, wichtige Entscheidungen getroffen, die sich teilweise nicht auf dem engen Investitionsbegriff abbilden lassen. Auch dies macht deutlich, dass wir für die Sicherstellung der Zukunftsfähigkeit unseres Landes Haushaltsmittel in erheblicher Höhe zur Verfügung stellen. Was sind weitere Ergebnisse der Beratungen für den Haushalt 2006? Der Kollege Schneider hat bereits auf die Dezentralisierung der Versorgungsausgaben und die Auflösung des Versorgungsplanes hingewiesen. Seit über 20 Jahren diskutieren wir bei jeweils unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen über die Dezentralisierung der Versorgungsleistungen im öffentlichen Bereich. Wir haben der gesetzlichen Rentenversicherung viele Reformnotwendigkeiten aufgebürdet. Die Dezentralisierung der Versorgungsausgaben ist ein wesentlicher Schritt zur Modernisierung des Aufbaus der Bundesverwaltung. Zum ersten Mal müssen die einzelnen Ministerien die fiskalische Verantwortung für ihre Pensionäre übernehmen. Dies löst die kollektive Verantwortungslosigkeit im Bereich der öffentlichen Versorgung auf. Nach 20 Jahren hat die große Koalition in diesem Bereich eine wesentliche Modernisierung erreicht. Dies ist ein Erfolg, den wir deutlich machen müssen. ({26}) Die Einsparungen, die wir den Bürgerinnen und Bürgern zumuten, müssen wir vorantreiben. Wir haben im Bereich der öffentlichen Verwaltung weitere Einsparungen vorgenommen. Wir haben im Übrigen im personalwirtschaftlichen Bereich alle zusätzlichen Stellenanforderungen, die sich aus dem Regierungswechsel ergeben, überkompensiert. Es kann keiner sagen, dass wir hier nicht entschieden vorgegangen seien. Wir haben die jährlichen Sonderzahlungen an die Beamten schon in diesem Jahr halbiert. Weil wir glauben, dass es eines wichtigen Signales bedurfte, sind die Mitglieder der Bundesregierung, insbesondere die Bundeskanzlerin, vorangeschritten: Die Sonderzahlungen an sie wurden nicht nur befristet halbiert, sondern dauerhaft abgeschafft. Damit machen wir deutlich: Gekehrt wird auch oben und gespart wird auch an der Spitze der Regierung. Das ist ein Signal, das die große Koalition setzen wollte. ({27}) Selbstverständlich haben wir auch bei der Öffentlichkeitsarbeit der Ressorts Mittel eingespart. Der eingesparte Betrag von 10 Millionen Euro mag manchem nicht hoch genug erscheinen, wie ich aus dem Redebeitrag der FDP vernommen habe. Man muss aber eines deutlich machen: Es hat sich zwar noch kein Bundesminister bei uns dafür bedankt, dass wir ihm weniger Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit zugestehen. Aber die Glaubhaftigkeit der Konsolidierungspolitik setzt voraus, dass die die Regierung tragende Koalition auch in denjenigen Bereichen, von denen man vermuten könnte, dass die Regierung ein großes Interesse an ihnen hat, sparsam vorgeht und Einsparungen durchführt. Das ist glaubwürdige Haushaltspolitik. Das macht deutlich: Wir sparen auch bei den Dingen, die wir selbst verantworten müssen. ({28}) Die Einhaltung des in den Koalitionsverhandlungen verabredeten Finanztableaus bis 2009 ist ein schweres Geschäft. Erschwerend kommt die Erkenntnis dazu, dass Haushalte, deren Neuverschuldung sich knapp unter der Höhe der Investitionsausgaben bewegt, keine Dauerlösung auf dem Weg zu nachhaltigen und tragfähigen Finanzen sein können. Wir wollen mit dem Ziel sinkender Schulden wieder größere Handlungsspielräume für die öffentliche Hand erreichen. Das bedeutet, dass wir auch das Ziel eines ausgeglichenen Haushaltes anpeilen müssen. Dies ist Grundlage der Koalitionsvereinbarung. Als nächste Etappe müssen wir in dieser und in der nächsten Legislaturperiode nach dem Umsteuern einen klaren Sinkflug in Bezug auf die Nettokreditaufnahme schaffen und im Laufe der nächsten Legislaturperiode zur Sicherung der dauerhaften Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen ausgeglichene Haushalte vorlegen. Dazu sind viele - auch unangenehme - Beschlüsse erforderlich. Die wollen und werden wir gemeinsam treffen, weil wir glauben: Nur mit ausgeglichenen Haushalten wird die Haushaltspolitik ihren Beitrag dazu leisten, dass es in diesem Land weiter aufwärts geht. Ich danke Ihnen. ({29})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich stelle eine außergewöhnliche Disziplin im Einhalten der Redezeiten fest, die mir - zumal bei Haushaltsdebatten - überhaupt nicht erinnerlich ist. ({0}) Dafür mag es Gründe geben. Nun erteile ich das Wort der Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Steffen Kampeter hat seine Rede mit einer beachtlichen Ehrlichkeit eröffnet. Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist: Er hat davon gesprochen, dass die große Koalition sich drei Ziele gesetzt hat: die sozialen Sicherungssysteme zu konsolidieren, die Arbeitslosigkeit abzubauen und den Haushalt zu konsolidieren. Dann hat er ganz deutlich gesagt: Das haben wir uns für die nächste Legislaturperiode vorgenommen. ({0}) Das war eine beachtliche Ehrlichkeit. ({1}) Herr Kampeter, ich will Ihnen sagen: Sich zu versprechen, passiert uns allen und wahrscheinlich auch mir in dieser Rede. Aber wir wissen auch: Diese Versprecher sind nicht zufällig. Sie haben einen tiefen, wahren Kern. Das war ein guter Beitrag zur Debatte. ({2}) Sie haben Ihre Rede zwar mit einer freudschen Fehlleistung begonnen. Aber ich möchte ernster werden und sagen, dass die Haushaltsberatungen leider durch eines gekennzeichnet sind: Wir haben nicht nur eine große Koalition, die das Land regiert, sondern wir werden regiert von einer großen Selbstgefälligkeit. Wenn Sie, Herr Kampeter und andere in der Koalition, diesen Haushalt am Freitag beschließen, der sich durch die größte Nettokreditaufnahme auszeichnet, die es jemals in der Planung gegeben hat - es ist mit über 38 Milliarden Euro ein Schuldenrekord -, und gleichzeitig sagen, dass Sie brutal konsolidieren, dann ist das der Versuch einer Volksverdummung, der nicht gelingen wird. Das ist Selbstgefälligkeit und zeugt von Kraftlosigkeit in der großen Koalition. ({3}) - Man kann auch härtere Worte dafür finden, Herr Westerwelle; da gebe ich Ihnen Recht. - Damit leisten Sie diesem Land keinen Dienst. Das müssten Sie aber eigentlich tun. Ich komme noch einmal zu den Ergebnissen der Haushaltsberatungen. 261 Milliarden Euro sollten ausgegeben werden; das sind 1,8 Milliarden mehr als im Vorjahr. Dies entspricht immerhin einer Steigerung um 0,7 Prozent. Die große Koalition hat während der Haushaltsberatungen Kürzungen in Höhe von 100 Millionen Euro vorgenommen. Im Verhältnis zu den 261 Milliarden entspricht dies 0,04 Prozent. Das muss man sich einmal klar machen. - Ich erinnere mich noch daran, wie der frühere haushaltspolitische Sprecher der CDU/CSU, der Kollege Austermann, ({4}) gewettert hat, der hemmungslose Schuldenaufbau werde jedes Jahr ungebremst fortgesetzt. So hat er gepoltert. Dieses Jahr tritt die CDU/CSU mit einer Kürzung von 100 Millionen Euro an; damals hat sie 8 Milliarden Euro gefordert. Die CDU/CSU bewegt sich jetzt bei rund 1 Prozent davon. So viel ist von Ihren alten Vorstellungen übrig geblieben. Sie sind ein ganz kleines Karo in dieser großen Koalition. ({5}) Vor diesem Hintergrund muss ich sagen: Die große Koalition hat die wirtschaftliche Erholung, die wir zurzeit haben, nicht genutzt, um im Rahmen der Haushaltsberatungen eine Perspektive für eine längerfristige Konsolidierungsstrategie zu eröffnen. Im Gegenteil: Sie waren selbstgefällig. Sie haben 100 Millionen Euro eingespart, 0,04 Prozent. Dafür versuchen Sie sich auch noch zu rühmen. Das ist schlichtweg lächerlich. ({6}) Auch die Investitionsquote sieht mit unter 9 Prozent eher bescheiden aus. Hier haben Sie den Mittelansatz um 9 Millionen Euro verändert, bei einem Volumen von 23 Milliarden Euro. ({7}) Ich kann nur sagen: Die Wochen der Haushaltsberatungen waren von marginalen Veränderungen gekennzeichnet. Das ist, gemessen an der Größe dieser Koalition, ein eklatantes Armutszeugnis. Die Zahl, die diesen Haushalt prägt, ist die Nettokreditaufnahme in Höhe von 38,2 Milliarden Euro. Ich will noch einmal darauf eingehen, weil diese Zahl - sie müsste nicht so hoch sein - die Belastung angibt, die wir den kommenden Generationen aufbürden. Die Nettokreditaufnahme in Höhe von 38 Milliarden Euro entspricht ziemlich genau der Summe, die wir für die laufenden Zinszahlungen ausgeben. Wenn wir die Kredite ausschließlich für die Zinszahlungen brauchen, dann sieht man doch, dass wir mit der kompletten Summe Vergangenheitsbewältigung betreiben und überhaupt nichts für die Zukunft bereithalten. ({8}) Deswegen kann ich nicht verstehen, dass die Regierungsfraktionen nicht angetreten sind, die Nettokreditaufnahme abzumildern. Wir Grünen haben nicht versprochen, sie wegzuputzen. Aber wir haben Vorschläge gemacht, sie um 6 Milliarden Euro deutlich zu senken. Was Sie machen, ist verantwortungslos gegenüber den kommenden Generationen; denn Sie betreiben ausschließlich Vergangenheitsbewältigung. Lieber Herr Schneider, Sie haben hier von Ihren politischen Zielen gesprochen, von konsolidierten Haushalten. Sie als haushaltspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion haben keinen einzigen Schritt in diese Richtung vorgeschlagen. Auch das ist ein schwaches Bild nach diesen Haushaltsberatungen. ({9}) Ich will deutlich machen, dass es gar nicht so schwer gewesen wäre. Sie hatten doch so genannte WindfallProfits: Die Steuermehreinnahmen betrugen im Vergleich zum letzten Jahr 3,7 Milliarden Euro; im Mai dieses Jahres besagte die Steuerschätzung Mehreinnahmen in Höhe von 1,4 Milliarden Euro. Kollege Schneider hat in der Öffentlichkeit gesagt, diese Einnahmen würden zur Reduzierung der Nettokreditaufnahme verwendet. Nichts davon ist geblieben. Mit einem kraftlosen Akt haben Sie sie nur stabil gehalten. Sie haben für meine Begriffe sehr müde agiert. ({10}) Ich möchte noch weitergehen. Ich habe schon angedeutet, dass bisher noch kein Haushalt mit einer solch hohen Nettokreditaufnahme vorgelegt worden ist. Man könnte glatt die Losung ausgeben: Große Koalition macht große Schulden. Ich will die Debatte noch vertiefen. Sie nehmen in Anspruch, eine neue Ehrlichkeit zu pflegen. Es wurde schon erwähnt, man müsse sagen, was Sache ist. Das sei wichtig, um Vertrauen zu gewinnen. Ich muss Ihnen sagen, dass Ehrlichkeit kein Freibrief dafür ist, regungslos zu verharren. Man kann nicht sagen, die Lage sei ernst, die öffentliche Verschuldung sei hoch und wir hätten strukturelle Probleme und deshalb bringe man nicht die Kraft auf, die Richtung anzugeben, die eingeschlagen werden müsse, um die Schulden zu verringern. Eine Neuverschuldung in Höhe von 38 Milliarden Euro hat nichts mit Ehrlichkeit zu tun, sondern sie ist Ausdruck der Behäbigkeit der großen Koalition, die keine Alternativen aufzeigt. Ich komme gleich zu unseren Alternativen. ({11}) Ich will einen Punkt ansprechen, bevor ich zu den Alternativen komme, nämlich die Maastrichtkriterien. Mit der Neuverschuldung von 38 Milliarden Euro besteht das Risiko, dass wir auch in diesem Jahr das Maastrichtkriterium nicht einhalten, obwohl viele Experten sagen, dass das bei der wirtschaftlichen Entwicklung, die wir haben, im Jahre 2006 sehr wohl möglich wäre. Die Vorgängerregierung hat in Verhandlungen viel dazu beigetragen, dass der Stabilitätspakt reformiert bzw. angepasst wurde. Das geschah ausdrücklich mit der Ansage, konjunkturgerechter zu agieren. Das haben wir Grüne mitgetragen. Ich kann die Kritik aus EU-Kreisen verstehen. Viele reiben sich ein Jahr nach der Reform des Stabilitätspaktes die Augen, weil in diesem Jahr eine konjunkturelle Erholung zu verzeichnen ist, aber wichtige Länder der Europäischen Union diese nicht genutzt haben, um weniger Schulden aufzunehmen. Leider gehört auch Deutschland dazu. Aufgrund der besseren wirtschaftlichen Bedingungen könnten wir die Maastrichtkriterien in diesem Jahr einhalten. Nichts davon ist in der Planung der Regierung zu sehen. Sie stützt sich auf ein „vielleicht“ und glückliche Wendungen, setzt sich das aber nicht zum Ziel. Das halte ich für eine Missdeutung der Reform des Stabilitätspaktes. Der einzige Grund, warum Deutschland nicht in der Kritik steht und warum der Konsolidierungsplan in Deutschland gebilligt wird, ist die massive Mehrwertsteuererhöhung zum nächsten Jahr. Das ist eine einseitige und falsche Ausrichtung Ihrer Politik. ({12}) Ich möchte ganz kurz auf das Reizthema der Mehrwertsteuererhöhung eingehen. Was ist eigentlich das Dramatische und das Schlimme an Ihrer Politik? Ich glaube, das Schlimmste daran ist die Unordnung und das Chaos. Was machen Sie 2006 und was machen Sie 2007? Sie argumentieren, Sie wollten im Jahr 2006 das Wachstum unterstützen, und Sie legten ein Programm in Höhe von 25 Milliarden Euro zur Stabilisierung der Konjunktur auf. Sie machen viele Schulden unter Hinweis auf die Konjunktur und geben richtig Gas im Jahr 2006. Im Jahr 2007 aber ziehen Sie voll die Handbremse an. Gasgeben bei voll angezogener Handbremse führt dazu, dass es schon nach einigen Metern zum Himmel stinkt. So ist es auch mit Ihrer Politik. ({13}) Ich habe deutlich gemacht, dass die Mehrwertsteuererhöhung insbesondere deshalb ein Problem ist, weil die Einnahmen ausschließlich zum Stopfen der Haushaltslöcher verwendet werden. Es ist ja nicht so, dass Sie mit der Reform der sozialen Sicherungssysteme schon vorangekommen wären. Sie senken zwar die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, indem Sie Steuermittel hineinstecken. Bei den Lohnnebenkosten veranstalten Sie genau das gleiche Chaos wie bei der Mehrwertsteuer: Gas geben und Vollbremsung gleichzeitig! Sie senken die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, erhöhen aber die Beiträge zur Rentenversicherung um 0,4 Prozent. Ich komme auf die Gesundheitsreform zu sprechen. In einem Punkt kann man sich ganz sicher sein: Weder die Kanzlerin Merkel noch sonst irgendjemand in der großen Koalition glaubt noch, dass eine Gesundheitsreform zum 1. Januar 2007 finanzwirksam wird und die Beiträge gesenkt werden können. Genau das müssen Sie aber schaffen, wenn Sie die Lohnnebenkosten senken wollen. ({14}) Ab dem 1. Januar 2007 stehen die Krankenkassen unter Druck, ihre Beiträge um 0,5 Prozent, konservativ gerechnet, bis 1 Prozent zu steigern. Trotzdem vertagen Sie Ihre Einigung über die Eckpunkte der Gesundheitsreform ständig von dem einen Wochenende auf das nächste. Die Bevölkerung ahnt schon, dass es nicht klappen wird. Die Lohnnebenkosten werden nicht unter 40 Prozent sinken. Mit Sicherheit werden wir aber eine um 3 Prozentpunkte höhere Mehrwertsteuer zahlen. Diese Konjunkturbremse kann das Land nicht gebrauchen. Daran sieht man einmal wieder: Die große Koalition macht nicht nur große Schulden, sondern verursacht langfristig auch große Probleme auf dem Arbeitsmarkt. ({15}) Ich komme jetzt zu den Alternativen. Wir Grünen haben uns natürlich dem Anspruch gestellt, die Regierung nicht nur zu kritisieren, sondern ein Szenario aufzuzeigen, wie man es besser machen könnte. ({16}) Der Kollege Schneider hat gesagt, dass sich niemand vom Acker machen darf. Dazu gehört, dass man beim Haushalt Veränderungen vorschlägt. Das haben Sie nicht gemacht. ({17}) Wir haben zwar kein Buch gebunden, wie es die FDP getan hat, aber wir haben 400 Änderungsvorschläge gemacht. Wir haben drei Ziele verfolgt: Erstens. Weniger Schulden machen. Das habe ich schon begründet. Weniger Schulden kann man insbesondere dadurch machen, dass man beim Subventionsabbau konsequenter vorgeht. Im Rahmen der Beratungen über das Haushaltsbegleitgesetz haben wir Maßnahmen vorgeschlagen, die die Steuereinnahmen um 1,4 Milliarden Euro erhöhen. Bei dem schönen Thema Kohlesubventionen gibt es Verbesserungsmöglichkeiten. Die Kohlesubvention ist keine heilige Kuh. ({18}) Sie entwickelt sich bereits heute degressiv. Ein vollständiger Abbau ist aber immer noch nicht geplant. Fragen Sie einmal Experten aus der Wirtschaft. Keiner würde Ihnen sagen, eine Dauersubventionierung der Kohle ist eine vernünftige Maßnahme. Das muss auch die SPD einmal zur Kenntnis nehmen. ({19}) Wir schlagen einen Subventionsabbau in Höhe von insgesamt 2 Milliarden Euro vor. Wir haben keine Fabelzahlen errechnet. Wir haben eine Summe von 2 Milliarden Euro errechnet, die in den nächsten Jahren auf 5 Milliarden Euro anwächst. Wir schlagen Ausgabenkürzungen in Höhe von 2,3 Milliarden Euro vor. Diese Summe können wir einsparen. Ich befinde mich in guter Gesellschaft, wenn ich diese Zahl nenne. Das ist eine realistische Größe. Auch der Präsident des Bundesrechnungshofs hat in der Diskussion über das Haushaltsbegleitgesetz gesagt: Man kann den Haushalt nicht nur über Ausgabenkürzungen ausgleichen; auch Einnahmesteigerungen gehören dazu. Dem stimmen wir zu. Aber man kann durchaus Ausgabenkürzungen in Höhe von rund 2 Milliarden Euro jährlich vornehmen. Subventionsabbau plus Ausgabenkürzungen plus zusätzliche Steuereinnahmen, die in der Steuerschätzung im Mai errechnet wurden, bieten eine Möglichkeit zur Konsolidierung dieses Haushaltes in Höhe von knapp 6 Milliarden Euro. Wir lägen dann bei der Neuverschuldung unter 33 Milliarden Euro. Damit würden wir die Maastrichtkriterien einhalten. Ich frage die große Koalition: Warum machen Sie das nicht? Warum bringen Sie die Kraft nicht auf? Wenn Sie von einer Konsolidierungsstrategie reden und für sich in Anspruch nehmen wollen, zu konsolidieren, dann hätten Sie auf diesem Weg wenigstens ein Stück weit mitgehen müssen. Sie haben nicht eine einzige Maßnahme vorgeschlagen, die in diese Richtung zielt. Deswegen spreche ich Ihnen einen Willen zur Konsolidierung des Haushaltes ab. Sie zeigen an dieser Stelle keine Verantwortung gegenüber den zukünftigen Generationen. Auch wenn Sie dieses Thema immer im Munde führen, Sie handeln nicht entsprechend. ({20}) Ich möchte meine Ausführungen mit einigen Beispielen unsinniger Maßnahmen garnieren. Die rot-grüne Regierung hat - das wurde damals kritisiert - den Umzug des BND von Pullach nach Berlin geplant. Es ist eine sehr kostspielige Angelegenheit, wenn der Nachrichtendienst umzieht. Wir Grüne - damals im Übrigen sogar interfraktionell mit der CDU/CSU noch in der Opposition und auch mit der FDP - waren sehr skeptisch, ob das nicht eine Maßnahme sei, die man noch aufschieben müsse, ob die Planung überhaupt schon so weit gediehen sei. Was macht die große Koalition aus dem geplanten Umzug des Nachrichtendienstes von Pullach nach Berlin, der erwiesenermaßen über 1 Milliarde Euro kosten wird? Sie macht daraus eine Doppelbelastung für alle Bürgerinnen und Bürger. Der Umzug nach Berlin soll stattfinden, obgleich teuer; aber damit die CSU auch mitmacht, bleibt ein großer Teil des BND dann doch in Pullach. Das bedeutet eine Neubelastung in Höhe eines dreistelligen Millionenbetrages. ({21}) Man muss wirklich sagen: Die Lösung und die Einigung der großen Koalition zum inneren Frieden hinsichtlich des BND-Umzuges ist inhaltlich unsinnig und eine teure Hypothek für die Bürgerinnen und Bürger. Wir haben vorgeschlagen, davon Abstand zu nehmen. Auch dazu hatten Sie nicht die Kraft. Das ist ein schönes Beispiel für den Unsegen, den Ihre Politik für das Land bedeutet. ({22}) Zweites Beispiel: die SPD-Fraktion. Wie sehr haben wir in der vergangenen Legislaturperiode darauf geachtet, dass die Integrationsmittel nicht gekürzt werden! Das war schon immer eine schwierige Übung, da der Innenminister zu SPD-Zeiten hinsichtlich der Integrationsmittel sehr bescheiden war. Was haben wir gemacht? Wir haben in den Haushaltsberatungen dafür gesorgt, dass die Mittel auf einem vernünftigen Niveau geblieben sind. Sie haben nun zugelassen, dass diese Mittel um 30 Prozent gekürzt werden. Das ist angesichts der Zielsetzung des geplanten Integrationsgipfels ein Armutszeugnis. Auch das zeigt: Die SPD-Fraktion hat keine Kraft für Maßnahmen, die sie eigentlich für richtig hält. ({23}) Ich komme zum Schluss. Das Maastrichtkriterium wird dieses Jahr vielleicht erreicht. Ehrgeiz hat die große Koalition nicht. Sie sagen: Das Maastrichtkriterium wird in 2007 erreicht; denn da haben wir ja die Mehrwertsteuererhöhung. Aber in der jetzigen Finanzplanung gibt es insgesamt keine Sicht auf Besserung. Trotz der massiven Steuererhöhungen im satten zweistelligen MilliardenbeAnja Hajduk reich ist nicht in Sicht, die Nettokreditaufnahme zu senken. Mit großer Sorge sehe ich auf das Jahr 2007. Denn ich glaube, dass die wirtschaftliche Belebung durch die Mehrwertsteuererhöhung kaputtgemacht wird. Man kann eigentlich nur ein Fazit ziehen: Die große Koalition hat die haushaltspolitischen Risiken nicht entschärft. Sie hat sie auf die Zukunft verlagert. ({24}) Das ist verantwortungslos gegenüber der jungen Generation. Die große Koalition mit ihrer übergroßen Mehrheit ist - das wissen wir seit acht Monaten und das spüren auch die Bürgerinnen und Bürger, deren Zustimmung sinkt - gemessen an ihren Taten nichts weiter als ein kleinmütiger Verein. Das ist die traurige Wahrheit. ({25})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück. ({0})

Peer Steinbrück (Minister:in)

Politiker ID: 11004165

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mir ist an einer eher grundsätzlichen Vorbemerkung gelegen, ehe ich auf einige Hinweise und Argumente eingehe. Ich möchte gern eine Bemerkung zu der Debatte in der Bundesrepublik Deutschland machen, die ich im Augenblick als ziemlich schrill empfinde und die gelegentlich auch aus unseren Reihen befeuert wird. Das ist die Debatte - das ist vornehm ausgedrückt; denn in vielen Fällen ist es gar keine Debatte - über die aktuelle und die künftige Rolle des Staates und seiner Finanzierung. Man kann darüber sehr engagiert diskutieren. Man kann den Staat in seinem Ausgabeverhalten kritisieren. Man muss den Staat in seinem Ausgabeverhalten kritisieren, insbesondere in der Funktion als Opposition. Das hat es immer gegeben und das wird es auch in Zukunft geben. Aber mir ist daran gelegen, darauf hinzuweisen, dass von manchen Absendern inzwischen Vorwürfe und auch Polemiken gegen den Staat sowie gegen seine Repräsentanten in Ämtern und Mandaten gerichtet werden, die, wie ich finde, eine neue Qualität haben und in meinen Augen gelegentlich jene Linie überschreiten, an deren Einhaltung auch diesen Kritikern gelegen sein sollte, weil deren Überschreitung sich auf die demokratische Substanz unseres Gemeinwesens auswirken könnte. Der Staat wird als Moloch verteufelt, als jemand, der sich auf Kosten der Steuerzahler bereichert und immer fetter wird. Dies korrespondiert angeblich mit Sozialabbau. Das ist definitiv nicht der Fall. ({0}) - Entschuldigen Sie bitte, mit 70 Cent von jedem Euro Steuern, den wir einnehmen, betreiben wir Sozialpolitik. Wer angesichts dessen davon redet, dass wir Sozialabbau betreiben, der hat eine ziemlich schiefe Optik. ({1}) Gelegentlich wird - nicht nur auf dem Boulevard der Popanz, ja sogar das Feindbild eines geradezu irrsinnigen Steuerstaates aufgebaut, der von den Bürgerinnen und Bürgern mit geballter Faust gestoppt werden müsse. Ich denke, es ist - auch was unsere politische Selbstachtung betrifft - wichtig, darauf hinzuweisen, dass eine solche Debatte für unser demokratisches Gemeinwesen kein positiver Beitrag ist. Tatsächlich ist es so, dass die Staatsquote in Deutschland sinkt. Unsere Steuerquote ist im europäischen Vergleich eher unterdurchschnittlich. Ich gebe zu: Die anstehenden Entscheidungen werden zur Folge haben, dass sie ungefähr das durchschnittliche Niveau der Mitgliedstaaten der Europäischen Union erreicht. Auch die Staatsausgaben stagnieren; auf die verzerrenden Hinweise mit Blick auf die Nettokreditaufnahme komme ich noch zu sprechen. Die gegenwärtige Entwicklung widerspricht also dem, was als Schimäre aufgebaut bzw. zumindest als Vorurteil geäußert wird. Das hat Konsequenzen für die Bürgerinnen und Bürger. Sie alle haben den Eindruck, als würden wir verantwortungslos mit Geld um uns werfen bzw. als würden wir das Geld aus dem Fenster werfen. Tatsächlich aber stagnieren die öffentlichen Ausgaben, und zwar auf den verschiedenen Ebenen der Gebietskörperschaften. ({2}) Ich lasse mich gerne auf eine kritische Debatte darüber ein, ob wir das Geld zielgerichtet genug ausgeben und ob es effektiv eingesetzt wird. Aber angesichts der Bilder, die teilweise verbreitet werden, möchte ich in dieser Haushaltsdebatte ein etwas anderes Bild zeichnen. ({3}) Man muss sich vor Augen halten, dass auch von seriöseren Stellen - ich rede jetzt nicht vom Boulevard behauptet wird, der Staat sei gefräßig, bereichere sich, arbeite für sein eigenes Konto - welches Konto auch immer das sein soll - und habe sich auf das Kassieren statt auf das Reformieren verlegt. Mancher, Herr Koppelin, erliegt dann der Versuchung, sogar im Rahmen dieser Debatte um des kurzfristigen rhetorischen Effektes willen Bilder vom „Kartell der Abkassierer“ zu zeichnen. Das korrespondiert nicht mit der Selbstachtung, die die politische Klasse eigentlich haben sollte. ({4}) - Dann bezeichnen Sie es anders. Herr Westerwelle, regen Sie sich nicht über den Begriff auf, sondern über den Sachverhalt, den ich vermittle. ({5}) Es gibt einen verbreiteten Reflex gegen das Staatliche, der gelegentlich jedes Augenmaß und oft auch jedes Niveau vermissen lässt. Tatsächlich ist es so, dass die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes einen handlungsfähigen Staat brauchen. Eine 80-MillionenGesellschaft wie unsere ist auf intakte und politisch legitimierte Einrichtungen, die Spielregeln erlassen, angewiesen; sonst würden wir im Chaos landen. Wir brauchen den Staat, weil er für seine Bürger Leistungen vielfältiger Art erbringt. Das fängt schon morgens an, wenn sie zur Arbeit fahren und dabei den öffentlichen Nahverkehr bzw. den Schienenpersonennahverkehr in Anspruch nehmen. Das setzt sich fort, wenn sie ihre Kinder in Kindergärten oder Schulen schicken wollen. Die Bürger wollen, dass Hochschulen vorgehalten werden. Sie wollen, dass Polizisten bezahlt werden. Gelegentlich wollen sie vielleicht auch ein subventioniertes Theater besuchen. Sie wollen, dass öffentliche Sicherheit gewährleistet wird. Sie wollen kommunale Daseinsvorsorge. Sie brauchen Ver- und Entsorgung. Sie möchten, dass die Bundesrepublik Deutschland, auch im Außenverhältnis, gesichert ist. Sie möchten, dass Sportförderung betrieben wird. Und sie möchten, dass Kulturförderung betrieben wird. Das muss finanziert werden - oder wir müssen Abstriche machen. ({6}) Wenn jemand, der zum Beispiel eine andere Auffassung zur Mehrwertsteuererhöhung hat, der Regierung vor das Schienbein treten will, ist das nachvollziehbar. Die Regierung und die Koalition werden das verschmerzen müssen. Das ist eine demokratische Spielregel. Aber die Vermischung von Politikschelte und Staatskritik ist unredlich. Ich füge hinzu: Sie ist auch gefährlich. Jeder muss die aktuelle Politik und die Mitglieder der Bundesregierung kritisieren dürfen. Aber dazu muss man kein Zerrbild unseres Staates zeichnen und die Bürger nicht gegen den Staat in Stellung bringen. ({7}) Abschließend zur Frage: Wer ist der Staat? Es wird immer der Eindruck erweckt, als bestünde der Staat aus irgendwelchen Leuten „da oben“ und als sei das eine sich bereichernde und unfähige Politikerkaste. Dem leisten wir sogar Vorschub, auch durch wechselseitige Vorwürfe, die gelegentlich über das erträgliche Maß hinausgehen. Ich möchte betonen: Wir alle sind der Staat. Durch Wahlakte haben die Bürgerinnen und Bürger die Ausübung staatlicher Gewalt für eine begrenzte Zeit delegiert und demokratisch legitimiert. Dennoch besteht der Staat aus uns allen. Wenn wir also über das Ausgabeverhalten des Staates reden, reden wir auch über unser Verhalten und unsere Erwartungen. Teilweise sind die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an die Bereitstellung staatlicher Leistungen gewachsen. Es liegt also nicht nur an den verrückt gewordenen Politikern, dass uns gelegentlich manches aus dem Ruder gelaufen ist, sondern das hat auch etwas mit nicht mehr zu bedienenden, weil nicht mehr zu finanzierenden Erwartungen der Bürger an die Bereitstellung kommunaler bzw. staatlicher Leistungen zu tun. Ich hielt und halte es für wichtig, diesen relativ schlichten Tatbestand an den Anfang meiner Rede zu stellen. Herr Koppelin, ich war über Ihre Rede, gelinde gesagt, nicht überrascht: Ich habe sie jetzt zum dritten oder vierten Mal gehört. Ich frage mich, ob wir nicht originellere Beiträge, auch im Wechselspiel, machen können. ({8}) Welchen Sinn hat es, sich gelegentlich über Sachverhalte auszutauschen, wenn dies auf die politische Debatte absolut wirkungslos bleibt? Frau Hajduk, ich habe Ihnen die Entwicklung der Nettokreditaufnahme auf das Niveau von 38 Milliarden Euro im Ausschuss und auch hier im Plenum zwei- oder dreimal erklärt - mindestens! ({9}) - Entschuldigen Sie, wenn ich das sage: Das spielt bei Ihnen keine Rolle. Ich habe Ihnen gesagt, dass die Nettokreditaufnahme im Wesentlichen dadurch geprägt ist, dass wir inzwischen ein Wachstums- und Investitionsprogramm, ein Impulsprogramm, ({10}) verabschiedet haben und bereit sind, dafür mehr Geld in die Hand zu nehmen; das war die erste Komponente. Die zweite Komponente, die ich hier mehrmals erklärt habe, ist, dass wir von der Koalition die Einmaleffekte über die Zeitachse dieser Legislaturperiode, wie ich finde, sehr vernünftig verteilt haben. ({11}) Die dritte Komponente sind Mehrkosten mit Blick auf Hartz IV. Das sind die drei Komponenten, wegen deren wir auf das Niveau von 38 Milliarden Euro kommen. ({12}) Herr Koppelin, Sie reden wiederholt davon, der Bundeshaushalt sei verfassungswidrig. Das tun Sie, weil Sie diese Aussage in der Zeitung wieder finden wollen. ({13}) - Es stimmt nicht. Sie sind zwar Jurist, Herr Westerwelle, aber ich muss doch Zweifel haben, ob Sie die Verfassung richtig interpretieren. ({14}) Wir überschreiten die Regelgrenze des Art. 115. Aber das ist keineswegs verfassungswidrig. Doch Sie arguBundesminister Peer Steinbrück mentieren genau so, weil Sie gerne eine Zeitungsüberschrift „FDP hält den Bundeshaushalt für verfassungswidrig“ hätten. ({15}) Mit Blick auf die Mehrwertsteuererhöhung war ich eher erstaunt, dass Sie nicht ganz so viele Zitate gebracht haben wie Herr Westerwelle in den letzten Debatten. Er war auch etwas aufgeregter in der Gestik; auch das erleben wir das vierte oder fünfte Mal. ({16}) - Auch sehr laut. Ich stelle jetzt einmal die Gegenthese in den Raum. ({17}) Die Gegenthese lautet: Herr Westerwelle, wenn Sie tatsächlich dort gelandet wären, wo Sie gerne gelandet wären, nämlich in der Regierung, dann hätten Sie die Mehrwertsteuererhöhung mitgemacht. ({18}) Ja, Sie hätten sie mitgemacht! Sie haben im Mai des Jahres 2005 dem ZDF ein, wie ich finde, ganz interessantes Interview gegeben. Ich zitiere aus der Zusammenfassung: Auf die Frage, ob er, Herr Westerwelle, seine Unterschrift unter einen Koalitionsvertrag setzen würde, der eine Erhöhung der Mehrwertsteuer vorsehe, antwortete Westerwelle, er werde nicht apodiktisch sagen: Niemals, nimmer, auf gar keinen Fall und nur über meine Leiche. ({19}) Was Sie uns vorhalten, auch mit Blick auf die richtige Beschreibung der Position vor und nach der Wahl, das ist so vorgetragen, als ob Sie sich in denselben Zwängen befänden wie diese Koalition. Unter der Notwendigkeit, in einer Regierung Verantwortung zu übernehmen, hätten Sie diese Mehrwertsteuererhöhung genauso vorgenommen wie wir in dieser großen Koalition; insofern ist vieles an Ihren Vorwürfen bigott. ({20})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Minister, darf der Kollege Westerwelle Ihnen eine Frage stellen?

Peer Steinbrück (Minister:in)

Politiker ID: 11004165

Bitte sehr.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, zunächst einmal will ich darauf aufmerksam machen, dass Sie bei diesem richtigen Zitat eines weglassen, nämlich die klare Aussage meiner Person in diesem Interview - wie übrigens auch in vielen anderen Interviews -, dass wir Freie Demokraten aus volkswirtschaftlichen Gründen strikt gegen eine Mehrwertsteuererhöhung sind. Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie selbst als Sozialdemokrat überhaupt nur auf dieser

Peer Steinbrück (Minister:in)

Politiker ID: 11004165

Das haben Sie mir jetzt schon ein paar Mal gesagt; das ist doch nichts Neues. ({0}) - Wiederholung, Wiederholung; so etwas haben Sie in jeder Rede gesagt.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, könnten Sie dem Minister sagen, dass eine Zwischenfrage aus einer Frage und einer Antwort besteht? ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Es wäre gut, wenn möglichst bald die Frage käme, damit auch möglichst bald die Antwort erfolgen kann. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist natürlich wahr; ich danke Ihnen, Herr Präsident, dass Sie mir das noch einmal klar gemacht haben. Herr Minister, ich möchte Sie fragen: Sind Sie bereit, das ganze Zitat wiederzugeben? Und wie können Sie erklären, dass Sie mir heute eine Ansicht vorwerfen, die Sie selbst im Wahlkampf so oft vertreten haben? Sie waren doch selbst gegen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer und sitzen auf dieser Regierungsbank doch nur, weil Sie gegen die Mehrwertsteuererhöhung Wahlkampf gemacht haben. Darf ich Sie daran erinnern, dass meine Partei hätte regieren können, wenn wir bereit gewesen wären, Ihrer Einladung zu folgen und all die Wahlversprechen zu brechen, ({0}) die wir gegeben haben, wozu wir, anders als Sie, nicht bereit gewesen sind? ({1})

Peer Steinbrück (Minister:in)

Politiker ID: 11004165

Herr Präsident, ich muss zugeben, dass ich die Frage nach diesem längeren Beitrag von Herrn Westerwelle leider vergessen habe. Ich habe gar keine Mühe damit, zuzugeben, dass ich eine Position im Bundestagswahlkampf gehabt habe. Das tue ich sofort und das habe ich auch in der letzten Sitzung des Bundesrates getan. Ich habe auch zugegeben, dass eine Mehrwertsteuererhöhung konjunktur3492 dämpfend bzw. konjunkturschädlich ist. Die Frage ist nur, wie das in der Abwägung mit anderen relativen Nachteilen aussieht. ({0}) Ich komme dabei zu dem Ergebnis, dass diese Mehrwertsteuererhöhung unter den obwaltenden Bedingungen das weniger Schädliche ist. Das ist das Ergebnis unserer Abwägung. Bezogen auf mich habe ich Ihnen nichts vorgehalten. Ich halte Ihnen nur vor, dass Sie hier in mehreren Reden und auch heute wieder sehr redundant einen bestimmten Eindruck vermittelt haben, wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass Sie genau so wie wir entschieden hätten, wenn Sie dort auf der Regierungsbank sitzen würden. Das ist mein Vorwurf an Sie. ({1}) Der erste Teil des Zitats, den Sie ja nicht für falsch erklärt haben - den zweiten Teil besorge ich mir gerne -, gibt Nahrung und Perspektive für die Annahme, dass Sie sich so wie wir eingelassen hätten. Darauf will ich vor dem Hintergrund Ihrer wiederholten Darstellung bis hin zu dieser Fragestellung hinaus. Meine Damen und Herren, diese Lesung eines Haushaltes ist die erste seit sehr langer Zeit, die mitten in einem stabilen Konjunkturaufschwung stattfindet. Das ist anders als in den vergangenen Jahren. Die Stimmung in der deutschen Wirtschaft ist so gut wie seit 16 Jahren nicht mehr. Das sagen mehrere Protagonisten, insbesondere auch der DIHK. Die zentralen konjunkturellen Kennziffern, der Ifo-Geschäftsklimaindex und der Konsumklimaindex, die Zahlen für die Gesamterzeugung des produzierenden Gewerbes, die Ausrüstungsinvestitionen und die Auftragseingänge sowie der Export haben seit Monaten eine klare Tendenz nach oben mit anhaltend positiven Prognosen. Ich will nicht missverstanden werden und schon gar nicht behaupten, dass die Politik der Bundesregierung diese positive Entwicklung ausgelöst hat. ({2}) Das war nie unser Anspruch. Wir nehmen den Mund hier nicht zu voll; aber ich nehme für die Bundesregierung und für die große Koalition in Anspruch, dass wir einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass das so ist. Das sage ich mit dem gebotenen Selbstbewusstsein. ({3}) Es zeigt sich zunehmend, dass die von uns vertretene Doppelstrategie für den Haushalt 2006 und 2007 richtig ist, nämlich in 2006 alles zu tun, um die Konjunktur zu unterstützen, und alles zu unterlassen, was den konjunkturellen Verlauf auf der Einnahme- und der Ausgabenseite beschädigen oder eintrüben könnte, um 2007 einen konsolidierten Haushalt und eine in der Tendenz weiter konsolidierende mittelfristige Finanzplanung vorzulegen. Das heißt, in der Logik der Politik der Bundesregierung gehört beides zusammen, weshalb ich häufig von der doppelten Tonlage spreche, nämlich auf der einen Seite Wachstum und Impulse zu geben - nicht zuletzt durch ein Programm von 25 Milliarden Euro, das durch die Länder um weitere 12 Milliarden Euro und durch die dadurch ausgelösten privaten Investitionen ergänzt wird, sodass wir über mehr als nur über die 37 Milliarden Euro reden, die staatlich in Gang gesetzt wurden - und auf der anderen Seite eine notwendige Konsolidierung zu erreichen. Frau Hajduk, bezogen auf Ihre Einlassung bin ich erstaunt. Sie sagten, wir könnten im Jahre 2006 das Maastrichtkriterium von unter 3 Prozent erreichen, und Sie fragten, warum die Bundesregierung das nicht anstrebe. Die Antwort lautet: Ja, am Ende dieses Jahres könnten wir dieses Maastrichtkriterium von unter 3 Prozent erreichen. Aber wenn sich die Bundesregierung dies zum Ziel gesetzt hätte, dann hätte sie bei der Haushaltsverabschiedung im Februar korrespondierende Maßnahmen nach Brüssel berichten müssen. ({4}) Diese hätten wir auch ergreifen müssen. Unsere unterschiedliche Einschätzung besteht darin: Dadurch wäre das Kriterium verletzt worden, die Konjunktur nicht einzutrüben. ({5}) Das ist ein ganz unterschiedlicher inhaltlicher Ansatz. Den kann man bewerten, aber bitte nicht mit Unterstellungen gegenüber der Bundesregierung arbeiten. Das ist ausgesprochen vorsätzlich. Ich halte die Politik dieser Bundesregierung für das Jahr 2006 für absolut richtig. Die große Koalition kann für sich in Anspruch nehmen, dass wir niemandem etwas vormachen. ({6}) Wir haben eine realistische Bestandsaufnahme gemacht und wir rechnen sehr konservativ bezüglich dessen, was auf uns zukommt. Wir rechnen uns nicht gesund und wir rechnen nicht zweckoptimistisch. Es kann sein, dass die Bundesregierung am Ende dieses Jahres wirtschaftliche Kennziffern - auch Haushaltskennziffern - vertreten kann, die besser sind als heute. Ich würde mich darüber freuen, weil die Bundesregierung dem Publikum dann zum ersten Mal seit langem sagen könnte, dass sie sich zugunsten der Konjunktur, des Wachstums, der Beschäftigung und des Haushalts geirrt hat, was sehr vertrauensbildend wäre. An dieser Stelle möchte ich den Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen sehr herzlich danken, die das parlamentarische Verfahren sehr engagiert, kritisch und konstruktiv gestaltet haben. Sie haben bereits im Februar 2006 ein solides haushaltspolitisches Fundament gelegt. Die Änderungen gegenüber dem Regierungsentwurf sprechen für den Ehrgeiz dieser Koalition, Gutes besser zu machen und selbst gesteckte Ziele sogar noch zu überbieten. Die Beispiele sind Ihnen geläufig: Die Nettokreditaufnahme wird um 110 Millionen Euro geringer ausfallen. Der moderate Ausgabenkurs wird fortgesetzt. Die globalen Minderausgaben werden um nicht weniger als fast ein Drittel weiter reduziert; das sind immerhin 500 Millionen Euro. Ich freue mich, dass wir damit unsere Konsolidierungsziele noch stärker übertroffen haben, als es in dem Regierungsentwurf festgehalten war. Herzlichen Dank dafür! Ich möchte auch bestätigen, dass die Koalitionsfraktionen einem möglichen Vorurteil begegnet sind, nämlich dass eine so große Mehrheit eher zu Bequemlichkeit, vielleicht auch zu Überbietungswettbewerb und zu Selbstzufriedenheit neigen könnte. Das tut sie nicht. Damit hat diese große Koalition ein wichtiges Signal gesetzt. Sie hat sich den Realitäten gestellt. Das kann ich von den Vorschlägen der Opposition nicht behaupten. ({7}) - Ich gehe auf einiges ein. Die FDP hat Vorschläge mit einem Einsparvolumen von 9,4 Milliarden Euro gemacht, die Grünen - helfen Sie mir, Frau Hajduk - fordern Einsparungen von 6 Milliarden Euro; da bin ich mir nicht ganz sicher. ({8}) - Gut, wie auch immer. Die Linkspartei möchte gerne 1 Milliarde Euro draufsatteln. Sie möchte also den Schuldenstand in der Bundesrepublik Deutschland noch weiter erhöhen. Aber das ist Utopia 2006. ({9}) Ihren Ehrgeiz, noch mehr einzusparen, liebe Kollegen von der FDP und den Grünen, in allen Ehren, aber es muss auch realistisch sein. Mehrere Redner der Koalition haben bereits darauf hingewiesen: Was Sie vorlegen, ist nicht realistisch. Ich muss nicht wiederholen, was Sie hinsichtlich des Verteidigungsetats vorschlagen: Die FDP will 1,1 Milliarden Euro, die Grünen wollen fast 500 Millionen Euro und die Linkspartei will sogar 2,6 Milliarden Euro einsparen. Dies ist auch vor dem Hintergrund der internationalen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland und mit Blick auf die Konsequenzen für die Soldaten und Soldatinnen, aber auch in Bezug auf Verträge mit Erfüllungsansprüchen, die wir nicht so einfach kündigen können, nicht zu realisieren. Dasselbe gilt für Ihre Vorschläge, die Wohnungsbauprämien und die Beiträge für nationale und internationale Organisationen zu kürzen, sowie diverse andere Punkte. ({10}) Sie sind schlicht und einfach nicht realitätsfest, sondern irrational.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Minister, würden Sie eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Dr. Dehm zulassen?

Peer Steinbrück (Minister:in)

Politiker ID: 11004165

Nein, ich habe nur noch sehr wenig Redezeit. Außerdem bin ich jetzt ganz gut in Schwung. ({0}) Deswegen möchte ich gerne weitermachen. ({1}) Dasselbe gilt auch für die Arbeitsmarktpolitik. Hier 4 Milliarden Euro einzusparen, wie es, glaube ich, die FDP vorschlägt - sie ist einer der Lieblingsgegner der Langzeitarbeitslosen -, hieße, die aktive Arbeitsmarktpolitik massiv zu kürzen. Das ist völlig irrational. Ähnliches gilt für Forderungen nach Kürzungen bei den Kohlesubventionen. Hier möchte ich in keine Grundsatzdebatte einsteigen. Vielmehr möchte ich schlicht und einfach darauf hinweisen, dass die FDP, ausgestattet mit juristischem Sachverstand, darüber hinweggeht, dass es bindende Zuwendungsbescheide in der Perspektive bis 2008 gibt. Sie aber machen Vorschläge für 2006. Irgendjemand in Ihren Reihen müsste Ihnen doch sagen, dass Rechtsansprüche entstanden sind und dass das, was Sie vorschlagen, jenseits einer Grundsatzdebatte über die Kohle, nicht zu erreichen ist. Etwas umgangssprachlicher formuliert und hoffentlich ohne eine Intervention des Herrn Bundestagspräsidenten nach sich zu ziehen: Das, was Sie vorgelegt haben, ist schlichter Unsinn! ({2}) Dasselbe lässt sich bei den Vorschlägen der Grünen und auch der Linkspartei nachweisen. Ich will nur zwei Beispiele nennen. Das erste Beispiel ist die Rückzahlung von Zuschüssen für den Steinkohleabsatz, den die Grünen wegen gestiegener Weltmarktpreise fordern. Hierzu gibt es nicht einmal eine abgeschlossene Abrechnung. Wie können Sie dann so etwas fordern? ({3}) - Entschuldigen Sie bitte, aber wir müssen die normale Reihenfolge einhalten. Das, was Sie in die Welt setzen, ist populistisch. Das zweite Beispiel: Die Linkspartei will höhere Einnahmen von 1,25 Milliarden Euro aus dem Mautschiedsgerichtsverfahren in den Haushalt einstellen. Das klingt fantastisch, hat aber einen Pferdefuß: In diesem Jahr ist in dieser Auseinandersetzung überhaupt kein Urteil zu erwarten. Wie können Sie dann 1,25 Milliarden Euro einstellen wollen? Keiner der Vorschläge von der FDP, den Grünen und der Linkspartei sowieso nicht würde das Problem des verfassungswidrigen Haushalts lösen, den uns Herr Koppelin vorwirft. Auch Ihre Vorschläge würden dazu führen, dass nach Ihrer Interpretation der Haushalt verfassungswidrig wäre. ({4}) Ich finde es faszinierend: Sie stellen sich hier hin und kritisieren die Bundesregierung dafür, dass sie einen verfassungswidrigen Haushalt vorlegt. Aber sehr schnell kommt man zu dem Ergebnis, dass Sie ebenfalls die Regelgrenze nach Art. 115 des Grundgesetzes verletzen würden. Diese Logik ist faszinierend. ({5}) Noch eine Zwischenbemerkung, Herr Koppelin. Wenn man einmal einen Weg eingeschlagen und seinen Stil gefunden hat, dann sollte man dabei bleiben. Das heißt, wenn Sie mir und der Bundesregierung vorwerfen, wir würden Gammelfleisch verteilen, dann sollten Sie dem Hersteller nicht anschließend die Hand reichen wollen. Das passt nicht zusammen. ({6}) Es gibt nur zwei Erklärungen dafür, dass Sie solche Vorschläge machen, die erkennbar nicht realitätsfest sind. Die erste lautet: Sie wissen es nicht besser. Aber in Wertschätzung Ihrer intellektuellen Kapazitäten weise ich das mit dem Ausdruck des Abscheus und der Empörung zurück. Die zweite lautet: Sie wissen es besser, aber Sie stellen sich ahnungslos. Damit haben Sie sich allerdings ein Armutszeugnis ausgestellt. Ich kann mit diesen Vorschlägen nichts anfangen. Erlauben Sie mir zum Schluss einige Bemerkungen zum Haushaltsbegleitgesetz. Ich bin dem Bundesrat dankbar, dass er dem Gesetz am vergangenen Freitag zugestimmt hat. Damit wird ein Kernbestandteil unserer Strategie zur Konsolidierung der Haushalte - ich rede von den öffentlichen Haushalten insgesamt - herbeigeführt. Ich erinnere daran, dass dies nicht nur mit Blick auf den Bundeshaushalt nötig ist. Es gibt sieben oder acht Länder, die im Aufstellungsverfahren die Regelgrenze ihrer Verfassungen verletzen. Die wenigen Länder, die das Haushaltsbegleitgesetz im Bundesrat abgelehnt haben, haben das in einer Haltung der hoffnungsvollen Verweigerung - nach dem Motto „Hoffentlich stimmen die anderen zu“ - getan. ({7}) Das stimmt leider insbesondere für das Bundesland, in dem ich zu Hause bin und für das ich längere Zeit Verantwortung gehabt habe. ({8}) - Nicht mehr. Damit habe ich keine Mühe. Ich will an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass für die Bundesregierung - ich sage das gezielt wegen mancher Pressespekulationen, die offenbar immer aufs Wochenende fallen - die beiden Ziele für 2007 und die Folgejahre, die Regelgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes einzuhalten und das Maastrichtverfahren zu bestreiten, sodass wir wieder von den Auflagen entlastet werden, für uns von konstitutiver Bedeutung sind. An diesen Zielen wird nicht gewackelt. Glauben Sie nicht den Zeitungsartikeln; glauben Sie mir! ({9}) Es liegen schwere Brocken vor uns. Deshalb ist es kein Widerspruch, Herr Koppelin, über Risiken zu reden und trotzdem nach bestem Wissen und Gewissen Haushalts- und Finanzpolitik zu betreiben. Wir sind von Risiken umzingelt, um dieses Verb aufzugreifen. Man muss sie kennen, um verantwortliche Politik zu machen. Man darf sich nicht von ihnen erdrücken lassen. Im Übrigen gleichen sich gelegentlich manche dieser Entwicklungen aus. Ich will aber kein Hehl daraus machen, dass mit der Gesundheitsreform, der Unternehmensteuerreform, der Optimierung der Arbeitsmarktpolitik und dem Haushaltsentwurf 2007, den das Kabinett am 5. Juli beschließen will, schwere Brocken vor uns liegen. Insbesondere der Bundeshaushalt 2007 ist von erheblicher Bedeutung, wenn die Konsolidierungsmaßnahmen - auch und gerade durch die Mehrwertsteuererhöhung - greifen. Dabei ist es in gewisser Weise beispielgebend, in welcher Tonlage und mit welchen Absichten wir über dieses Thema reden. In den meisten Debatten geht verloren - damit komme ich zum Schluss -, dass bei der Mehrwertsteuererhöhung die Arbeitnehmer und Arbeitgeber in der Bundesrepublik Deutschland durch die Absenkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge um 14,4 Milliarden Euro entlastet werden. Frau Hajduk hat das infrage gestellt, nach dem Motto „Die Menschen ahnen schon wieder etwas“. Die Menschen ahnen aber nichts. Möglich ist höchstens, dass Sie ihnen etwas einreden und unser Vorhaben in Zweifel stellen. ({10}) Was die Menschen glauben und wie viel Vertrauen sie zu dem fassen, was wir in der Politik entscheiden, ist auch von Ihrer öffentlichen Rede abhängig und davon, wie Sie an manche Punkte herangehen. ({11}) - Das ist keine Selbstgefälligkeit.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Peer Steinbrück (Minister:in)

Politiker ID: 11004165

Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie den Haushaltsentwurf in der vorgesehenen Fassung verabschieden würden. Ich darf Ihnen in Aussicht stellen, dass wir dann sehr schnell - nämlich gleich nach der Sommerpause in die nächsten Haushaltsberatungen hineingehen werden. Ich freue mich, wenn ich Ihnen dabei wieder Rede und Antwort stehen darf. Herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Kurzintervention erhält das Wort der Kollege Dr. Dehm, Fraktion Die Linke.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Bundesminister, wenn Sie darum bitten, Ihnen zu glauben, dann sollten Sie bedenken, dass es den Glauben erschüttern könnte, wenn Sie so mit Zahlen umgehen, wie Sie mit Zitaten des Kollegen Westerwelle umgegangen sind, und wenn Sie eine Zwischenfrage mit dem Hinweis auf Ihre beschränkte Redezeit nicht zulassen. Dabei weiß doch sicherlich jeder, der dieser Debatte zuhört, dass eine Zwischenfrage und die Antwort darauf nicht auf die Redezeit angerechnet werden. Das erschüttert dann auch ein bisschen Ihre Glaubwürdigkeit. ({0}) Ich will Ihnen jetzt meine Fragen stellen. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Linkspartei in allererster Linie an der Einnahmesituation des Staates interessiert ist? ({1}) Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir in diesem Zusammenhang immer darauf hingewiesen haben, dass Sie und auch Ihre Vorgängerregierung willkürlich und bewusst den Staat verarmen, indem Sie auf Steuereinnahmen verzichten? Sind Sie darüber hinaus bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Freistellung von Veräußerungsgewinnen der Staatskasse sowohl unter der Vorgängerregierung und als unter der jetzigen Regierung - daran waren Sie, Herr Steinbrück, nicht ganz unbeteiligt - Milliarden entzogen hat? Darf ich Sie fragen, wie es in diesem Land ankommt, wenn man um Steuerehrlichkeit sowie die Vertrauenswürdigkeit und die Verbindlichkeit unseres Steuersystems wirbt und wenn gleichzeitig ein Mensch wie Franz Beckenbauer - wir sollten bei Steuermeidung nicht nur über die Deutsche Bank, Daimler oder BMW reden -, der seinen Wohnsitz in Kitzbühel hat und ständig mit der Bundeskanzlerin gesehen wird, in Deutschland keine Steuern zahlt? ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Steinbrück, möchten Sie darauf antworten? Das ist nicht der Fall. Dann erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich werde unabhängig davon, welche Schulnote ich nun für Betragen oder Ausdruck von unserem neuen Schulmeister Peer Steinbrück bekomme, das sagen, was ich für richtig halte. ({0}) Das ist schließlich die Aufgabe der Opposition. Im Übrigen lohnt es sich, über bestimmte Grundsatzfragen zu streiten. Wenn beispielsweise die Mehrheit der deutschen Bevölkerung den Eindruck hat, dass in Deutschland Nichtarbeit durch den Staat und seine Instrumente zu stark gefördert und Arbeit zu stark belastet wird, dann ist das ein Grund, darüber zu streiten und zu fragen, ob eine bessere Justierung möglich ist. Es ist gerade die Aufgabe der Regierung, die aus ihrer Sicht richtige Justierung vorzunehmen, und die Aufgabe der Opposition, dort zu kritisieren, wo etwas zu kritisieren ist. Es gibt viele Beispiele, über die es sich lohnt zu streiten, und zwar auch heftig; denn es geht um das Schicksal der Menschen in diesem Land. ({1}) Auch nach den Haushaltsberatungen bleibt es dabei: Der Bundeshaushalt 2006 und die Finanzplanung bis 2009 sind eine einzige finanzpolitische Bankrotterklärung. ({2}) Dafür trägt die Regierung Merkel/Müntefering nun einmal die Verantwortung und nicht die Opposition, der man gerne die Verantwortung zuschieben will. Das, was Sie hier vorlegen, ist kein Zukunftsentwurf, sondern ein Armutszeugnis. Die Neuverschuldung übersteigt sogar noch die im letzten Haushalt von Hans Eichel vorgesehene Nettokreditaufnahme um 7 Milliarden Euro und den Wert in der mittelfristigen Finanzplanung um 16 Milliarden Euro. Es ist dreist und unehrlich gegenüber den Bürgern, dies als Erfolg und Neuanfang zu verkaufen. ({3}) Stattdessen bleibt alles wie gehabt: noch mehr Schulden und keine Korrektur an der ungezügelten Ausgabenerweiterung. Geschönt werden soll die katastrophale Situation durch als Haushaltsentlastung titulierte vielfältige Steuererhöhungen. Damit werden alle Anstrengungen zur Erhöhung des Wirtschaftswachstums und zur Ankurbelung der Binnenkonjunktur zunichte gemacht. Im Übrigen beruhen die Maßnahmen auf einem eklatanten Wahlbetrug der beiden regierenden Parteien. Darauf werden wir die nächsten drei Jahre ständig hinweisen. Das ist unsere Pflicht; denn wir müssen uns dem Wähler stellen und ihm gegenüber ehrlich sein. Wir dürfen nicht das Gegenteil von dem tun, was wir im Wahlkampf versprochen haben. ({4}) Mittelfristig verschlechtern sich die Aussichten für mehr Wachstum und eine nachhaltige Haushaltskonsolidierung, weil die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten weiter zurückgehen wird. Damit fallen noch mehr Menschen als Steuer- und Beitragszahler aus. Wenn Sie die aktuelle Ausgabe des „Spiegel“ lesen, dann stellen Sie fest, dass die verbesserte Arbeitslosenstatistik nicht auf tatsächlichen Entwicklungen beruht, sondern auf statistischen Manipulationen. Die momentane Entwicklung der Arbeitslosigkeit ist saisonüblich. Sie sollten also nicht so große Töne spucken. Wir sind weiterhin in einer beängstigenden Situation, was die Arbeitslosigkeit betrifft. Ich will auf einige wesentliche Punkte des Bundeshaushalts hinweisen. Erstens. Der Bundeshaushalt 2006 ist vorsätzlich verfassungswidrig. Zu diesem Schluss kommen auch Sie, wenn Sie Art. 115 des Grundgesetzes richtig lesen. Wenn Sie anderer Meinung sein sollten, dann empfehle ich: Warten wir doch einmal ab, was das Bundesverfassungsgericht dazu sagt! Es ist aufgefordert, ein endgültiges Urteil zu fällen. Der Bezug auf die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts scheint mir jedenfalls bei einem Wachstum von 1,6 bis 2 Prozent weit hergeholt zu sein. Zweitens. Die Bundesregierung legt zum fünften Mal und in voller Absicht einen stabilitätswidrigen Haushalt vor, obwohl - bei ohnehin steigenden Steuereinnahmen - die Lücke durch entschlossene Sparanstrengungen ohne weiteres zu schließen wäre. Dazu haben die Haushälter der FDP ein „Sparbuch“ vorgelegt. Wir wollen zeigen, dass wir bereit sind, auch unbequeme Einsparungen zu verlangen und dafür geradezustehen. Wir glauben, dass wir das im Hinblick auf die Gesamtverantwortung tun müssen. ({5}) Drittens. Trotz vollmundiger Sparversprechungen steigen die Bundesausgaben von 2006 bis 2009 weiter um 13,6 Milliarden Euro an. Von einem Sparhaushalt kann also keine Rede sein. Viertens. Das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts hat die Bundesregierung völlig aus den Augen verloren. Selbst in den Folgejahren bis 2009 verharrt die mittelfristige Finanzplanung bei einer Neuverschuldung von mehr als 20 Milliarden Euro. Die Schuldenlast, die unsere Kinder und Enkel zu tragen haben, steigt kontinuierlich weiter. Fünftens. Der Investitionsverfall findet in der mittelfristigen Finanzplanung seine Fortsetzung. Die Investitionsquote sinkt von 8,9 auf 8,5 Prozent im Jahre 2009. Ich erinnere daran: Im Jahre 1998 lag die Investitionsquote noch bei 12,5 Prozent. Daran sehen Sie, was die rot-grüne Regierung und jetzt die schwarz-rote Regierung getan bzw. unterlassen hat. Sechstens. Die in vielen Gesetzen unter harmlosen Bezeichnungen verborgenen direkten und indirekten Steuern und Abgaben sind unsozial, wirtschaftsfeindlich und arbeitsplatzvernichtend. Das brauchen Sie mir nicht zu glauben; das wird die wirtschaftliche Entwicklung in den nächsten Jahren beweisen. Die Gesetze heißen beschönigend: Gesetz zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm, Haushaltsbegleitgesetz, Steueränderungsgesetz usw. Niemand, der diese Bezeichnungen hört, befürchtet, dahinter verberge sich Dramatisches. Ebendies ist aber der Fall. Ich wette, dass die Abgeordneten der Koalition gar nicht mehr wissen, welche Mehrbelastungen sie schon beschlossen haben oder dabei sind zu beschließen. Deswegen will ich Ihnen die Freude machen, das in Erinnerung zu rufen. So können Sie sich das einprägen und vor Ihren Wählern Rechenschaft ablegen. Die Verbraucher, insbesondere die Familien, werden belastet. Erhöhung der Mehrwertsteuer: 12,36 Milliarden Euro; Erhöhung der Versicherungsteuer: knapp 2 Milliarden Euro; Abschaffung der Eigenheimzulage: 3,5 Milliarden Euro; Gewährung von Kindergeld und Kinderfreibetrag nur noch für Kinder unter 25 Jahren: 534 Millionen Euro; Tausch von Erziehungsgeld gegen Elterngeld. Dazu ist noch etwas Besonderes zu sagen. Das Erziehungsgeld in Höhe von 1,9 Milliarden wird abgeschafft, dafür wird mit 4 Milliarden das Elterngeld eingeführt. Allerdings bezahlen die Eltern das doppelt und dreifach, zum Beispiel über die Mehrwertsteuererhöhung, über die Kürzungen beim Kindergeld, über die Erhöhung bei der Versicherungsteuer und weitere Abgabensteigerungen. Abschaffung des Sonderausgabenabzugs für Steuerberatungskosten: 600 Millionen Euro. Das ist besonders elegant: Einerseits verkompliziert man das Steuerrecht weiter, andererseits streicht man die Steuerabzugsfähigkeit von Beraterkosten. ({6}) Reduzierung des Sparerfreibetrages: 750 Millionen Euro; Besteuerung von Kohle als Heizstoff: 33 Millionen Euro. Für die Wirtschaft: Abschaffung der degressiven AfA für den Wohnungsbau: 150 Millionen Euro; Beschränkung der Verlustverrechnung bei Steuerstundungsmodellen: 2,135 Milliarden Euro; Verschärfung bei der Gewinnermittlung für Freiberufler: 500 Millionen Euro. Für die Arbeitnehmer: Abschaffung des Freibetrages für Abfindungen: 450 Millionen Euro; Abschaffung des Freibetrages für Heirats- und Geburtsbeihilfen: 50 Millionen Euro; Abschaffung der Aufwendungen für das häusliche Arbeitszimmer: 300 Millionen Euro; Reichensteuer für gutverdienende Arbeitnehmer: 1,3 Milliarden. Schließlich die Autofahrer, zusätzlich zu den Steuererhöhungen - insbesondere der Mehrwertsteuer -: Streichung der Entfernungspauschale: 2,53 Milliarden Euro; Besteuerung von Biokraftstoffen: 370 Millionen Euro; Verschärfung der Einprozentregelung für Dienstwagen: 255 Millionen Euro - wobei man auch noch bedenken muss, welches Chaos in den Vorschriften bei der Dienstwagenregelung besteht. ({7}) Allein um das richtig zu machen, braucht man einen Steuerberater. Hinzu kommt der so genannte Gesundheitssoli. Dahinter verbirgt sich eine weitere Einkommensteuer, vermutlich - je nach Ausgestaltung - in Höhe von 14 bis 16 Milliarden Euro. Zu der geplanten Einschränkung des Ehegattensplittings wird es nicht kommen, auch wenn dies immer wieder gefordert wird. Eine solche Einschränkung ist ganz einfach verfassungswidrig. Ich verstehe nicht, wie der CDU-Generalsekretär, der Volljurist ist, so einen Unsinn in die Welt setzen kann. ({8}) - Das kann ich Ihnen erklären. In Art. 9 des Grundgesetzes ist die Vereinigungsfreiheit verankert. Wenn zwei Personen sich zusammentun und beispielsweise eine offene Handelsgesellschaft bilden, dann werden sie so wie beim Ehegattensplitting besteuert. Man darf ein Ehepaar, das nach Aussagen des Verfassungsgerichts eine Erwerbs- und Verbrauchsgemeinschaft bildet, nicht schlechter stellen als andere Erwerbsgemeinschaften. Das gebietet der Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 des Grundgesetzes. So einfach ist der Zusammenhang. Eine Abschaffung des Ehegattensplittings ist schlicht verfassungswidrig. Ein Blick ins Gesetzbuch - in diesem Fall ins Grundgesetz - erleichtert die Rechtsfindung auch in diesem Fall. ({9}) Schließlich - das ist der Höhepunkt - die zusätzlichen Sozialabgaben, die 13. Abgabe in diesem Jahr, einmalig 20 Milliarden Euro. All das führt dazu, dass in den nächsten drei Jahren dieser Legislaturperiode Kaufkraft in einem Volumen von 120 Milliarden Euro abgeschöpft wird und das wird - Sie können die ökonomischen Gesetze nicht außer Kraft setzen - zu einer entsprechenden Dämpfung, zu einer Schwächung des Wachstums und zu mehr Arbeitslosen führen. Damit werden sich die Löcher in den öffentlichen Haushalten weiter öffnen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächster hat der Kollege Otto Bernhardt, CDU/ CSU-Fraktion, das Wort.

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Finanzpolitik der großen Koalition hat sich das Ziel gesetzt, zwei Aufgaben gleichzeitig zu erfüllen: einmal die Stärkung der Wachstumskräfte der Wirtschaft und zum Zweiten eine nachhaltige Haushaltskonsolidierung. Ich sage sehr deutlich: Es wäre natürlich einfacher, auch einfacher darstellbar, wenn wir uns nur ein Ziel, etwa die Haushaltskonsolidierung oder die Förderung der Wachstumskräfte, gesetzt hätten; aber das geht nicht. Dieser Konflikt wird bei dem auch heute immer wieder angesprochenen Thema der Mehrwertsteuererhöhung offensichtlich. Ein Drittel der Mittel durch diese Steuererhöhung ist ein Beitrag zur Stärkung der Beschäftigung; dieses Drittel ist bekanntlich bestimmt, um die Lohnnebenkosten zu senken. ({0}) Ein weiteres Drittel dieser Mittel ist für die Konsolidierung der Finanzen der Länder vorgesehen; die meisten Länder haben diese Mittel sehr nötig. Das letzte Drittel ist für die Konsolidierung des Bundeshaushalts bestimmt. Ich sage ganz klar: Es gibt keine andere Möglichkeit, unser Ziel zu erreichen, im Jahre 2007 einen Haushalt vorzulegen, der eine Neuverschuldung vorsieht, deren Umfang nicht höher ist als der der Investitionen. ({1}) An der Erhöhung der Mehrwertsteuer führt bei solider Betrachtung - ich sage es sehr deutlich - leider kein Weg vorbei. ({2}) Ich habe gesagt: Wir haben uns das Ziel gesetzt, zwei Aufgaben gleichzeitig zu erfüllen. Ich will darauf hinweisen, wie es mit den Zielen aussieht. Ich habe den Eindruck, dass mancher, der von öffentlichen Finanzen spricht, nicht weiß, wie es um sie bestellt ist. Die Bundesebene nähert sich einer Gesamtverschuldung von 900 Milliarden Euro. Unsere jährlichen Zinszahlungen betragen annähernd 40 Milliarden Euro. Das ist die Situation. Dass wir angesichts dessen gezwungen sind, die Sanierung des Haushalts in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen zu stellen, dürfte klar sein. ({3}) Die Sanierung des Haushalts ist - auch bezogen auf die nächste Generation; Vorredner haben es gesagt - dringend notwendig. Wir müssen den Haushalt konsolidieren; sonst betreiben wir auf Dauer keine solide Politik. ({4}) Es wird dabei ein Weiteres vergessen. Wenn es uns wirklich gelingt, eine Nettoneuverschuldung von 2,9 Prozent zu erreichen, halten wir alle uns schon für gut; das wären wir auch. Nur, unserer Ziel ist natürlich - das steht im Maastrichtvertrag -, langfristig einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Ein Bundesland hat das bisher geschafft - das wollen wir an dieser Stelle einmal festhalten -: Bayern hat einen ausgeglichenen Haushalt vorgelegt. Bis wir dieses Ziel erreichen, dauert es sicherlich noch länger. Zum zweiten Ziel, der Förderung der Wachstumskräfte. Ich will nicht so sehr in die Vergangenheit gehen - das bringt uns nicht weiter -, nur so viel: Sie alle wissen, dass Deutschland, aus welchem Grund auch immer, seit einer Reihe von Jahren in der EU zu den Ländern mit den geringsten Wachstumsraten gehört. Sie wissen auch, dass die Arbeitslosigkeit bei uns im EU-Vergleich eher im oberen Drittel liegt. Das heißt, auch dieses Ziel, hier zu einer Verbesserung zu kommen, dürfen wir nicht vernachlässigen. Wir haben für die Erreichung dieses Ziels ein 25-Milliarden-Programm aufgelegt. Wir versuchen wirklich, beiden Zielen gerecht zu werden. Jetzt zum Ergebnis. Wir alle neigen ein bisschen dazu, die Dinge schlecht zu reden; die Presse hilft zum Teil dabei. Wenn ich mir allerdings die objektiven Zahlen zur Arbeitslosigkeit - daran werden wir am stärksten gemessen - anschaue, dann stelle ich fest, dass es im Mai dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr einen Rückgang um 350 000 gibt. Das ist der größte Rückgang seit vielen Jahren. In diesen Tagen hat das renommierte Weltwirtschaftsinstitut in Kiel seine Prognosen für das Jahr 2007 vorgelegt. Das Weltwirtschaftsinstitut kommt zu dem Ergebnis, dass wir 2007 in Deutschland im Durchschnitt 4,3 Millionen Arbeitslose haben werden. Im letzten Jahr waren es noch 4,8 Millionen. Das ist ein Rückgang um 500 000. Wir können heute sagen: Die Wende am Arbeitsmarkt haben wir geschafft, auch wenn an diesem Punkt noch viel vor uns liegt. ({5}) - Gerne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie möchten die Zwischenfrage vom Kollegen Dr. Solms zulassen.

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern. Zwischenfragen von Herrn Dr. Solms lasse ich immer zu.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Ich möchte auf das zurückkommen, was ich eben in meinen Ausführungen gesagt habe, nämlich dass nach dem „Spiegel“-Artikel der Rückgang der Arbeitslosigkeit bei weitem nicht so hoch ausfällt, wie er jetzt auch von Ihnen dargestellt worden ist. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass ein Gutteil des Rückgangs der Arbeitslosigkeit durch eine statistische Veränderung, eine Veränderung im Softwareprogramm - dabei geht es um kranke Arbeitslose -, entstanden ist und dass es sich bei dem Rückgang deswegen nur um den normalen saisonbedingten handelt?

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Solms, ich habe die Prognosen des Weltwirtschaftsinstituts zitiert. Ich weiß, dass die Software bei der Arbeitsverwaltung mal in der einen und mal in der anderen Richtung ein Stück verändert wird. Aber jeder, der die Fakten in Deutschland zur Kenntnis nimmt, wird mir zustimmen, wenn ich sage: Die Arbeitslosigkeit ist nachhaltig zurückgegangen. Wir sind auch hier auf dem richtigen Weg. ({0}) Ähnlich sieht es beim Wirtschaftswachstum aus. Die Prognosen der Institute gehen ein Stück auseinander, aber alle sind sich darin einig, dass wir in diesem Jahr ein Wirtschaftswachstum von roundabout 2 Prozent haben werden. Im Vergleich zum Durchschnitt der Vorjahre ist das schon ein interessanter Wert. Nur muss uns natürlich nachdenklich stimmen, dass das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr in den anderen Industrieländern der Welt 50 Prozent höher ist als bei uns. Es beträgt dort gut 3 Prozent, bei uns nur 2 Prozent. Das zeigt, dass wir hier noch ein Stück Nachholbedarf haben; davon müssen wir ausgehen. Aber das, was wir heute erkennen, nämlich dass die Stimmung in der Wirtschaft heute so gut ist wie noch nie in den letzten 16 Jahren und dass der private Konsum endlich wieder steigt, was für die wirtschaftliche Entwicklung nun wirklich von entscheidender Bedeutung ist, unterstreicht: Die große Koalition kann nach gut einem halben Jahr schon Erfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und bei der Stärkung der Wachstumskräfte der Wirtschaft vorzeigen. Die Bilanz bis heute ist - bescheiden gesagt - zumindest zufrieden stellend; ich würde sagen: Drei plus. Wir sind auf dem richtigen Weg. ({1}) Nun weiß ich natürlich, meine Damen und Herren, dass alle wirtschaftswissenschaftlichen Institute sagen: Die Mehrwertsteuererhöhung - ich habe begründet, warum wir sie brauchen - wird im Jahre 2007 zu einer gewissen Belastung für die Konjunktur führen. Das ist nachrechenbar, denn letztlich bedeutet diese Erhöhung ja, dass der Bevölkerung 14 Milliarden Euro Kaufkraft genommen werden - ich lege nur die entsprechenden 2 Prozentpunkte zugrunde -, die für die Konsolidierung der Haushalte benutzt werden. Die große Koalition ruht sich darauf aber nicht aus. Wir haben zwei große Projekte in der Pipeline, die schon sehr konkrete Formen annehmen und die beide einen Beitrag zur Stärkung von Wachstum und Beschäftigung darstellen: Das erste Vorhaben beinhaltet Änderungen bei der Erbschaftsteuer in der Weise, dass dann, wenn Betriebe auf die nächste Generation übergehen, unter bestimmten Voraussetzungen keine Erbschaftsteuer mehr gezahlt werden muss - und das bereits ab dem 1. Januar 2007. Dies ist ein erheblicher Beitrag zur Stärkung von Beschäftigung in Deutschland. Viel wichtiger ist das andere große Vorhaben, das in diesen Tagen Gestalt annimmt: die Unternehmensteuerreform. Natürlich sind Steuersätze von 39 Prozent, die wir heute auf einbehaltene Gewinne von Kapitalgesellschaften erheben, innerhalb der EU nicht mehr wettOtto Bernhardt bewerbsfähig. Wir nehmen hier eine Spitzenposition ein; nicht, weil wir die Steuern erhöht haben - nein, wir haben die Steuern sogar gesenkt -, sondern weil die anderen Länder sie stärker gesenkt haben bzw. osteuropäische Länder mit deutlich geringeren Steuersätzen aufgenommen wurden. Die sich jetzt abzeichnende Senkung von 39 Prozent - das sind immer Circawerte, weil da der Hebesatz eine gewisse Rolle spielt - auf voraussichtlich 29 Prozent bedeutet eine Reduzierung um 10 Prozentpunkte bzw. um 25 Prozent. Zu dem immer wieder erhobenen Vorwurf, die große Koalition sei eine Koalition der Steuererhöher, kann ich nur sagen: Mit der Reform der Erbschaftsteuer, die der Sicherung von Arbeitsplätzen dient, und der der Unternehmensteuer werden wir die größte Steuersenkung für die Unternehmen - ich sage es noch einmal - seit Bestehen der Bundesrepublik durchführen. Hier geht es nicht darum, Unternehmer zu privilegieren, hier geht es darum, Firmen zu privilegieren, damit sie vorhandene Arbeitsplätze erhalten und neue Arbeitsplätze schaffen. Ich stelle sogar die These auf - ich glaube, der Finanzminister rechnet da ähnlich -, ({2}) dass, da mit 29 Prozent die steuerliche Belastung bei uns günstiger als in den anderen großen Volkswirtschaften Europas wäre, besser als in Italien, Spanien, Frankreich und Großbritannien, vermutlich eine ganze Reihe von Steuern, die heute nicht in Deutschland anfallen, den Weg zurück nach Deutschland finden und wir mittelfristig - meiner Ansicht über einen Zeitraum von drei bis vier Jahren - trotz deutlich niedrigerer Steuersätze voraussichtlich sogar mehr Steuern einnehmen werden und zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Erhöhung des Wirtschaftswachstums und der Beschäftigung in der Bundesrepublik leisten. ({3}) Lassen Sie mich abschließend feststellen, meine Damen und Herren: Die große Koalition ist auf einem erfolgreichen Weg, beide Ziele, Stabilisierung bzw. nachhaltige Sanierung des Haushaltes und Stärkung der Wachstumskräfte der Wirtschaft, zu erreichen. Wir können nach sechs Monaten eine hervorragende Zwischenbilanz vorlegen. Das unterstreicht der Haushalt. ({4}) Zugleich wissen wir, große Aufgaben liegen noch vor uns, aber die große Koalition hat noch viel Kraft, auch diese zu lösen. Danke schön. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächste hat die Kollegin Dr. Barbara Höll, Die Linke, das Wort. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Minister Steinbrück! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bernhardt, Sie können vor allem eines: sich erfolgreich ein X für ein U vormachen. Herr Kampeter hat hier zum Glück sehr offen gesprochen: Er hat von einem Haushalt der brutalen Konsolidierung gesprochen. Herr Kampeter, selbst seit 1990 im Bundestag, also durchaus Mitverantwortung tragend für den Zustand, in dem sich der Bundeshaushalt befindet, der bei jeder Haushaltsberatung konsolidiert werden soll, verkündet, die Politik, die hier gemeinschaftlich gemacht werde - ich möchte unterstreichen: die Linksfraktion war nicht beteiligt an der unsozialen Politik, die Sie vornehmen, und wird sich auch nicht beteiligen -, ({0}) sei alternativlos. Das ist nicht nur feige, weil Sie damit nicht zu Ihren Entscheidungen stehen; es ist kleinmütig und Sie machen sich damit eigentlich überflüssig. Wozu brauchen wir Sie denn noch als Parlamentarier, wenn es keine Alternativen gibt? Dann können wir doch irgendeine Verwaltung einsetzen, die das umsetzt. Nein, unser Anspruch ist höher. Politik hat etwas mit dem Finden von Antworten auf die anstehenden Fragen zu tun. Es gibt immer verschiedene Antworten. Man braucht aber Mut, um darüber zu diskutieren. ({1}) Herr Steinbrück, ich habe sehr wohl gehört, dass Sie - zu Recht - große Worte bezüglich der Notwendigkeit des Staates gefunden haben. Wir brauchen tatsächlich einen Staat, der für Infrastruktur, öffentliche Daseinsvorsorge, Bildung und vieles andere bürgt. Niemand sonst wird entsprechend für die Umwelt eintreten und für Kindertagesstätten, Schulen sowie einen gleichen Zugang zu Bildung für alle sorgen. Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Denn das, was Sie an Antworten vorlegen, entspricht nicht dem, was Sie thematisiert haben. Sie selbst haben beim Neujahrsempfang der Industrie- und Handelskammer in Frankfurt gesagt: Man kann den Bundeshaushalt als nüchternes Zahlenwerk betrachten - was er natürlich auch ist. Aber es macht auch viel Sinn, sich immer wieder die gesellschaftspolitischen Botschaften, die sich in den nüchternen Zahlen abbilden, vor Augen zu führen. Die nüchternen Zahlen belegen, dass die Verschuldung der öffentlichen Hand und eben auch des Bundes seit Jahren kontinuierlich ansteigt. 1995 waren es umgerechnet 1 019 Milliarden Euro, 2000 waren es 1 468 Milliarden Euro, 2006 sind es 1 491 Milliarden Euro. 38 Milliarden Euro sind die höchste Neuverschuldung in der Geschichte der Bundesrepublik überhaupt. Die Neuverschuldung war unabhängig davon, ob die Regierung von CDU/CSU und FDP, von SPD und Grünen oder von der großen Koalition gestellt wurde. In schöner Einigkeit haben Sie in den letzten 16 Jahren eine Politik gemacht, die dazu geführt hat, dass unsere Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf die Probleme in der gegenwärtigen Situation beschränkt sind, weil ein großer Teil des Geldes, das wir eigentlich haben, durch die Tilgung der aufgenommenen Kredite gebunden ist. Wir haben also auch im Bundeshaushalt durchaus ein strukturelles Problem. Die Frage ist, wenn man diesen finanztechnischen Begriff zu unterfüttern versucht: Ist es ein Einnahme- oder ein Ausgabenproblem? Ihre heutige Antwort war wieder eindeutig: Wir brauchen eine brutale Konsolidierung. Das heißt, Sie gehen - und das seit Jahren - von einem Ausgabenproblem aus. Könnte es nicht aber vielleicht sein, dass wir ein Einnahmeproblem haben? ({2}) Ich stelle klar, dass wir als Linksfraktion nicht gegen die Aufnahme von Krediten sind. Nein; Kredite sind im privaten Bereich sehr gut und können das auch für die öffentliche Hand sehr wohl sein ({3}) wenn sie tatsächlich dazu dienen, Investitionen in die Zukunft zu tätigen. Geld für Bildung ist nicht falsch, auch nicht, wenn es kreditfinanziert ist. Aber was haben Sie mit den Krediten gemacht? Sie haben in den letzten Jahren einfach Blankoschecks an die Wirtschaft ausgeteilt und sind dabei, das wieder zu tun. Sie versprechen weitere Steuererleichterungen; immer mehr Geld wird rausgepfeffert. Wir können es uns anscheinend leisten, darauf zu verzichten. Irgendwann werden sicher Arbeitsplätze geschaffen werden. Aber es sind keine Arbeitsplätze geschaffen worden. Wir haben einen Arbeitslosenstand von offiziell fast 5 Millionen Menschen. Viele können trotz Vollerwerbstätigkeit von ihrer Arbeit nicht leben. So viel zu der Bemerkung, die vorhin nebenbei fiel, es könne sein, dass in Deutschland die Nichttätigkeit zu stark gefördert werde. Im Gegenteil, die Menschen arbeiten und können trotzdem nicht davon leben. Aber Sie stellen sich diesen Problemen nicht. Wie sehen nun Ihre Antworten aus? Sie sagen, dass wir kein Geld haben und deshalb konsolidieren müssen. Eine Maßnahme zur Konsolidierung ist die Mehrwertsteuererhöhung, mit der insbesondere Arbeitslose sowie Rentnerinnen und Rentner getroffen werden; denn sie müssen ab 1. Januar nächsten Jahres durchschnittlich 20 Euro im Monat mehr für ihren Lebensunterhalt aufbringen. Ich habe aber noch nichts davon gehört, dass Sie die BAföG-Sätze erhöhen wollen. Warum bringen Sie nicht ein entsprechendes Gesetz ein? Das wäre eine ehrliche Antwort auf die durch Ihre Politik verursachten Probleme. ({4}) Ich habe auch noch nicht gehört, dass Sie bereit sind, das Kindergeld zu erhöhen. Nein, etwas anderes wird anvisiert. Nächste Woche wollen Sie eine Regelung verabschieden, mit der die Bezugsdauer für das Kindergeld gekürzt werden soll, indem die Altersgrenze von 27 auf 25 Jahre herabgesetzt wird. Das bedeutet nicht nur, dass das Kindergeld einer bisher anspruchsberechtigten Person gestrichen wird. Es bedeutet auch, dass noch weitere Leistungen verloren gehen. Davon werden im nächsten Jahr 451 000 Kindergeldberechtigte betroffen sein: 10 000 unterhaltspflichtigen Eltern, die arbeitslos sind, streichen Sie einfach das Kindergeld. Gleichzeitig sinkt auch der Anspruch der arbeitslosen Eltern, so sie noch Arbeitslosengeld I bekommen, von 67 auf 62 Prozent. Sie haben nicht nur den Ausfall von 154 Euro zu verkraften. Nein, sie haben auch noch die Senkung des Arbeitslosengeldes zu verkraften. Außerdem hängen noch eine ganze Reihe anderer Punkte wie die Riesterrente daran. Entsprechende Maßnahmen, die hier einfach mal so verkündet werden, sollen nächste Woche durchgewunken werden. Sie haben die Hartz-IV-Gesetze verschärft, indem Sie unter anderem die Rentenversicherungsbeiträge von Arbeitslosengeld-II-Empfängerinnen und -Empfängern von 78 Euro auf 40 Euro gesenkt haben. Wissen Sie überhaupt, was das bedeutet? Diese Menschen werden später in Altersarmut leben müssen, weil die Rentenbeiträge gesenkt werden und sie auf der anderen Seite keine Chance haben, Arbeit zu bekommen und für ihr Alter selbst vorzusorgen. Sie haben die Begrenzung der Sozialversicherungsfreiheit für Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschläge eingeführt. Sie wollen die Zuschüsse für die gesetzlichen Rentenkassen senken. Auch das wird natürlich dazu führen, dass die Beiträge steigen. Durch diese Reihe von Maßnahmen - es ist Ihnen auch jede Schnüffelei bei Empfängerinnen und Empfängern von Hartz IV recht werden die Menschen belastet, die nur ein sehr geringes oder ein mittleres Einkommen haben. Merkwürdigerweise ist jedoch ausreichend Geld für andere Dinge vorhanden. Die degressive AfA für bewegliche Wirtschaftsgüter wurde von 20 auf 30 Prozent erhöht. Was kostet die Welt? Was macht es schon, wenn wir 2,4 Milliarden Euro weniger Einnahmen in einem Jahr haben? Wir haben es doch! Sie wollen eine Abgeltungssteuer auf Kapitaleinkünfte von 30 Prozent. Der Sparerfreibetrag für die Kleinsparer hingegen wird halbiert. Das heißt, der Kleinsparer muss mehr zahlen; aber diejenigen, die ein hohes Sparvermögen haben, werden privilegiert, indem auf ihre Zinserträge nicht mehr eine Steuer in Höhe ihres individuellen Steuersatzes erhoben wird. ({5}) Die Eckdaten der Unternehmenssteuerreform sind der Öffentlichkeit schon bekannt. Herr Steinbrück, ich muss Sie loben - das mache ich in diesem Fall gerne -, dass Sie hart bleiben, was die Gewerbesteuer betrifft. Denn Sie treten für den Erhalt dieser Steuer und für die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage ein. Andererseits wollen Sie als Finanzminister auf 8 Milliarden Euro verzichten. Ich frage mich wirklich, woher Sie das fehlende Geld nehmen wollen. ({6}) Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Punkt ist Ihre Antwort auf diese Einnahmeausfälle. Eine solche Politik kann man nicht mittragen. Sie ist unsozial und die Fortsetzung einer neoliberalen Politik der Umverteilung von unten nach oben. Wenn Sie mutig wären, dann würden Sie sich gerade im Bereich der Unternehmensbesteuerung dem realen Problem stellen, dass wir in Deutschland auf der einen Seite zwar eine hohe nominale Steuerbelastung haben, dass wir aber auf der anderen Seite - auf die entsprechenden Zahlen wies Herr Bernhardt vorhin hin - eine sehr geringe effektive Steuerbelastung haben. Das heißt, die Unternehmen zahlen effektiv keine Steuern in Höhe der von Ihnen vorhin genannten 39 Prozent. Im Durchschnitt zahlen die international tätigen Konzerne in Deutschland auf ihre Gewinne gerade einmal 15 bis höchstens 20 Prozent Steuern. Wenn Sie mutig wären, würden Sie sagen, dass es diese Lücke gibt und dass sie geschlossen werden muss. Aber wir schließen sie nicht, indem wir einfach die Steuersätze senken; wir schließen sie vielmehr, indem wir sicherstellen, dass die nominalen Steuersätze auch tatsächlich gezahlt werden. - Das wäre mutig. ({7}) Der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, von der Sie immer reden und die hierbei eine Rolle spielen würde, stellen Sie sich nicht. Sie sind zwar bereit, die Steuersätze zu senken. Sie sind aber nicht bereit, Steuerschlupflöcher tatsächlich zu schließen, und Sie sind nicht bereit, sich den realen Problemen in diesem Land zu stellen. Wir werden diese Politik nicht mitmachen, so wie wir auch bei der Mehrwertsteuererhöhung nicht mitmachen. Die Landesregierungen mit unserer Beteiligung haben der Mehrwertsteuererhöhung nicht zugestimmt. Sie können davon ausgehen, dass sich diese Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung auszahlt. Wenn wir an weiteren Regierungen beteiligt sein werden, wird es auf Bundesebene und in den Ländern Widerstand geben. Ich danke. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Alexander Bonde, Bündnis 90/Die Grünen.

Alexander Bonde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003509, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben hier eine stückweise absurde Debatte. Es ist absurd, mit welcher Selbstgefälligkeit die große Koalition den Haushalt 2006 zu verkaufen versucht. Der Bundesfinanzminister hat sich pathetisch hier vorne hingestellt, mit Tremolo in der Stimme und heißem Blick in den Augen formuliert: „Glauben Sie mir!“ und danach versucht, eine Schnecke als Rennpferd zu verkaufen. ({0}) Dann hat er weinerlich kritisiert, dass es in diesem Hause trotz großer Koalition eine Opposition gibt, die es auch noch wagt, zu bemerken, dass dieser Haushalt mit einer Rekordverschuldung operiert. Wir reden hier über einen Haushalt mit einer geplanten Neuverschuldung in Höhe von 38,2 Milliarden Euro. Der Bundesfinanzminister aber sagt, es gebe keine Alternative und es sei peinlich, dass die Haushaltspolitik der Koalition überhaupt hinterfragt werde. Herr Finanzminister, Sie müssen schon mehr liefern, um zu begründen, was Sie mit dieser Neuverschuldung anstellen wollen. Ihre Begründung, warum die Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts nötig wird, ist auch nach Ihrer dritten Begründung, die zu erklären Ihnen wichtig war, nicht besser geworden. Ihre Begründung für eine Neuverschuldung in Höhe von 38,2 Milliarden Euro ist platt. Deshalb dürfen Sie - mit Verlaub nicht davon ausgehen, dass wir als Opposition und wir als Grüne uns von Ihnen hinters Licht führen lassen. ({1}) Angesichts der großen Zahl an Anträgen hatten Sie natürlich die Möglichkeit, Kostenreduzierungen vorzunehmen. Meine Fraktion hat 400 Anträge vorgelegt. Davon haben Sie einen, politisch motiviert, als falsch kritisiert. Sie haben sich hier wieder als Kohlelobbyist geoutet. Sie verschweigen dabei, dass die Kohlesubventionen von Ihnen politisch gewollt sind und nicht auf Sachzwängen beruhen. Das ist die Wirklichkeit in Sachen Peer Steinbrück und Kohlesubventionen. ({2}) Wir haben Ihnen vom kürzesten bis zum längsten Antrag Vorschläge für Ausgabenkürzungen in Höhe von 2,3 Milliarden Euro vorgelegt. Sie glauben doch selber nicht, dass Sie nicht in der Lage gewesen wären, das politisch motivierte zusätzliche Einstellen von Personal in den Ministerien zu reduzieren. ({3}) Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass es nicht möglich gewesen wäre, bei den sächlichen Verwaltungskosten einzusparen. Wenn Sie tatsächlich glauben, dass jeder Radiergummi in Ihrem Ministerium heilig ist, dann werden Sie eine Konsolidierung des Bundeshaushaltes nie hinbekommen, Herr Steinbrück. ({4}) Das Gleiche gilt für die unterschiedlichsten Bereiche dieses Haushaltes, wozu wir umsetzbare Vorschläge vorgelegt haben. Wenn das so ist wie beschrieben, dann muss man sich fragen, ob Sie wirklich eine Konsolidierung wollen und ob die Koalition in der Lage ist, eine Konsolidierung zu betreiben. Wir haben erlebt, dass, politisch motiviert, Ausgabenkürzungen in vielen Punkten verweigert und keine Einsparungen vorgenommen werden. Wir haben erlebt, dass die Erfüllung der langen Wunschlisten der Fraktionen in vielen Punkten wichtiger war als das Ziel der Konsolidierung. Da wir hier wieder große Worte von der Konsolidierung, der Generationengerechtigkeit und der Verantwortung vorgeschmettert bekommen haben, kann ich nur sagen: Sie haben zwar für 2007 erneut viel versprochen; aber zum Haushalt 2006, über den wir heute reden, haben Sie nichts Neues geliefert. Ich finde, dass es dieser Koalition, wenn sie sich weiterhin „groß“ nennen will, gut anstünde, endlich einmal haushaltspolitisch Großes zu tun. Das, was Sie bisher tun, ist klein und selbstgefällig. Sie müssen sich deshalb zumuten, dass die Koalition dafür von uns kritisiert wird. Sie haben nach meinem Beitrag wieder die Möglichkeit, 40 Minuten lang selbstgefällige Selbstgespräche zu halten. So ist es eben, wenn die Mehrheiten in diesem Parlament so sind. Glauben Sie aber nicht, dass dadurch, dass Sie hier die Debattenbeiträge bestimmen, irgendetwas an diesem Bundeshaushalt besser wird. Glauben Sie nicht, dass sich die Zinszahlungen dadurch reduzieren. Glauben Sie nicht, dass die Menschen nicht merken, was Sie hier tun. Diese Koalition ist eine Aussitzerkoalition und dieser Haushalt ist peinlich, Herr Finanzminister. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Jörg-Otto Spiller, SPDFraktion.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Nettokreditaufnahme in Höhe von 38,2 Milliarden Euro überschreitet die Investitionsausgaben in Höhe von 23,2 Milliarden Euro um 15 Milliarden. Das bedarf der Begründung; denn nach der Regel in Art. 115 des Grundgesetzes versteht sich das nicht von selbst. Art. 115 steht allerdings nicht alleine da. Es gibt noch Art. 109, der besagt: Bund und Länder haben bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen. Das ist seit 1967 präzisiert, und zwar - das war ein besonders wichtiges Gesetz der ersten großen Koalition im Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft. Darin heißt es in § 1 als Erläuterung zu Art. 109 des Grundgesetzes: Die Maßnahmen sind so zu treffen, dass sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen. Das ist das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht. Die ökonomischen Rahmenbedingungen sind heute anders als 1967; aber den Auftrag, dass Bund und Länder bei ihrer Finanz- und Haushaltswirtschaft Rücksicht nehmen auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, schreibt uns das Grundgesetz nach wie vor vor. ({0}) Danach hat die Koalition gehandelt. Wie war denn die gesamtwirtschaftliche Lage zu Beginn des Jahres? Ich glaube, man kann sagen, dass es keine Bedrohung der Preisstabilität gibt. Eine Inflationsrate um die 2 Prozent kann man durchaus als Stabilität bezeichnen. Wir haben eine brillante außenwirtschaftliche Situation; der Leistungsbilanzüberschuss belief sich im Jahr 2005 auf 92 Milliarden Euro. Dieses Ergebnis ist besser, als es in der alten Bundesrepublik zu ihren besten Zeiten war.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke zulassen?

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön, Herr Fricke.

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie gerade gesagt haben, eine Inflationsrate um die 2 Prozent gehe in Ordnung? ({0}) Widerspricht das nicht der Tatsache, dass die Europäische Zentralbank, wenn die Inflationsrate dauerhaft, jedenfalls regelmäßig, über 2 Prozent liegt - seien es auch nur 2,01 Prozent -, die Zinsen erhöhen muss? Ist es nicht ein Widerspruch, wenn die Europäische Zentralbank, der wir verpflichtet sind, dann die Zinsen erhöhen muss, was unseren Haushalt im Übrigen wiederum belastet, denn um 0,11 Prozentpunkte höhere Zinsen bedeuten 1 Milliarde Euro mehr?

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir haben, gemessen am Anstieg der Verbraucherpreise in Deutschland, trotz massiver Verteuerung der importierten Energie, trotz massiver Steigerungen der Rohstoffpreise eine Inflationsrate um die 2 Prozent; meistens liegt sie etwas darunter. Das ist eine Inflationsrate, die sowohl im Zeitvergleich als auch im internationalen Vergleich allgemein als ein Maßstab für innere Geldwertstabilität betrachtet wird. ({0}) Wenn die Europäische Zentralbank warnt, wenn die Inflationsrate darüber hinausgehe, müsse sie sich Gedanken machen, dann entspricht das ihrer Verpflichtung. Sie werden anerkennen müssen - mehr habe ich nicht gesagt -, dass die Gefährdung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts nicht aus der Preisentwicklung resultiert. Sie resultiert auch nicht aus außenwirtschaftlichen Entwicklungen. Sie ist vielmehr das Ergebnis der Arbeitslosigkeit. Wir haben rund 4,5 Millionen arbeitslose Menschen in Deutschland. Deshalb haben wir kein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht; dieses ist vielmehr gestört. Es trifft zu, dass wir erfreulicherweise eine Belebung des wirtschaftlichen Wachstums haben. Diese ist aber nicht gerade donnernd. Das Wachstum bewegt sich in einer Größenordnung von 1,5 Prozent, wobei nach wie vor der Hauptimpuls von der Auslandsnachfrage ausgeht. Erfreulicherweise belebt sich auch die Investitionsgüternachfrage insbesondere in Bezug auf Ausrüstungsinvestitionen bei den inländischen Unternehmen. Aber wir haben kein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht. Es war voll gerechtfertigt, dass sich die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen nach sorgfältiger Überlegung entschieden haben, im Jahre 2006 nicht auf die Bremse zu treten und mit der Haushaltspolitik nicht die aufkeimende konjunkturelle Erholung zu bremsen, sondern dafür zu sorgen, dass die Voraussetzungen für die mittelfristige Konsolidierung geschaffen werden. ({1}) Das passt genau in das Schema, das uns das Grundgesetz vorschreibt. Es gibt die nüchterne Erkenntnis bei allen Ökonomen, dass es ohne gesamtwirtschaftliches Wachstum nahezu unmöglich sein wird, die Haushalte der Gebietskörperschaften zu konsolidieren, es sei denn, wir nehmen unerträgliche Verwerfungen in Kauf, was wir nicht wollen. Das heißt nicht, dass wir so naiv sind, zu glauben, mit klassischem Deficit Spending - der Staat gibt bloß mehr Geld aus und dann wird schon wieder alles ins Lot kommen - könnten wir den Haushalt und die gesamtwirtschaftliche Entwicklung auf einen richtigen Pfad bringen. Das glauben wir nicht. ({2}) Die Situation hat sich seit den 60er-Jahren deutlich verändert, auch deswegen, weil wir über die Jahrzehnte - der Kollege Carsten Schneider hat das schon angesprochen; da sind alle beteiligt gewesen - einen Schuldensockel aufgebaut haben. Am deutlichsten sind die Schulden immer in der Zeit gestiegen, als die FPD mitregiert hat. ({3}) Ich finde es erfreulich, dass die FDP jetzt begonnen hat, sich für Haushalt und Finanzen zu interessieren, und dass sie gemerkt hat, dass das Heil nicht in der Verwüstung des Steuerrechts zugunsten einer bestimmten Klientel liegt und diese Verwüstung nicht dem Staate dient. Es wäre noch viel schöner gewesen, sie wäre auf diese guten Ideen gekommen, als sie noch in der Regierungsverantwortung stand. ({4}) Wir glauben auch - das muss man anerkennen -, dass das Wachstum heute eher dadurch gestärkt wird, dass die Menschen in unserem Lande wieder Vertrauen in die Fähigkeit des Staates gewinnen, dass er mit seinen Haushaltsproblemen fertig wird - das betrifft Bund, Länder und Gemeinden -, und dass Investoren und Verbraucher wieder das Vertrauen in die Fähigkeit des Staates finden, seinen Aufgaben gerecht zu werden und nicht immer nur Schulden zu bedienen. Deswegen werden wir nicht den einfachen Weg gehen, Schulden zu machen. Das will uns die Fraktion der Linken zwar schmackhaft machen; aber das ist nicht Erfolg versprechend. Das erste Gesetz, das die große Koalition 2005 beschlossen hat - das wurde von den meisten Rednern der Opposition völlig zu Unrecht überhaupt nicht erwähnt -, brachte den Einstieg in eine dezidierte Konsolidierungspolitik. Wir haben damals die größte Subvention, die Eigenheimzulage, abgeschafft und ein großes Steuerschlupfloch - Stichwort Medienfonds und ähnliche Steuerstundungsmodelle - dicht gemacht. Wir wären noch weiter gegangen, wenn Herr Trittin nicht mit Blick auf seine Windmühlenklientel gebremst hätte. Da hätten wir eigentlich noch ein paar Milliarden Euro mehr sparen können. Wir hätten noch stärker konsolidieren und früher zu einem guten Ergebnis kommen können. Das haben die Grünen damals aus Gründen der Klientelpolitik verhindert. ({5}) Die vorübergehende Hinnahme eines zugegebenermaßen großen Defizits im Jahr 2006 geht mit einer zielbewussten Konsolidierungspolitik einher, die insbesondere darauf abzielt, die Einnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden zu festigen und die Handlungsfähigkeit des Staates durch den Abbau von Vergünstigungen, durch den Abbau von nicht mehr zu rechtfertigenden Subventionen zu stärken. Ich finde es erfreulich, dass sich inzwischen auch bei nüchternen Beobachtern herumgesprochen hat, dass Deutschland ein ausgesprochen guter Wirtschaftsstandort ist. Dass die Verbände das nicht immer so sehen, gehört zu ihren Pflichten. Ob es weise ist, immer nur zu kritisieren, lasse ich einmal dahingestellt. Vor ein paar Wochen ist das Ergebnis einer Untersuchung von Ernst & Young vorgestellt worden, in der der Standort Deutschland mit anderen Standorten in der Welt verglichen wurde. Befragt wurden circa 1 000 Manager und Vorstandsmitglieder. Kernaussage: International gesehen gilt Westeuropa als attraktivster Standort der Welt; als für Unternehmen attraktivstes Land in Westeuropa gilt Deutschland. In der Studie steht nicht, dass Deutschland so attraktiv ist - das trifft zu -, weil hier alles so billig ist. In der Studie steht, Deutschland bietet Qualität: hervorragende Infrastruktur, etwa Verkehrswege, Rechtssicherheit, hohe Qualität bei den Arbeitskräften, es gibt Forschung und Entwicklung. Deutschland ist einfach ein Premiumstandort. ({6}) Ein Premiumstandort ist natürlich nicht ganz billig. Das gilt für die Arbeitslöhne wie auch für die Besteuerung. Wenn sich jemand darüber wundert, dass der Porsche teurer ist als die Vespa, dann muss er sich überlegen, ob er nicht lieber die Vespa nimmt. Wenn man sehr schnell fahren will, ist das allerdings nicht das ideale Fahrzeug. Ich sage das, weil wir auch künftig in der Politik darauf zu achten haben, dass die Handlungsfähigkeit des Staates nicht beschränkt wird; denn sonst verliert dieser Standort seine Qualität. Dieser Standort braucht einen handlungsfähigen Staat, der die Infrastruktur und die Bildung sicherstellt sowie Rechtssicherheit gewährt. Ich bin ganz sicher, dass sich die große Koalition dessen auch bei den künftigen Schritten bewusst sein wird und dass wir an die ökonomisch sehr erfolgreiche Politik der ersten großen Koalition - Stichwort Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 - anknüpfen werden. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Georg Fahrenschon, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Georg Fahrenschon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kollege Kampeter hat es schon herausgearbeitet: Nachhaltige, stabile Staatsfinanzen gehören für die Union zum Kern erfolgreicher bürgerlicher Politik. Ich möchte betonen: Generationenengerechte Haushaltspolitik bedeutet, keine vermeidbaren Kosten auf die folgenden Generationen zu übertragen. ({0}) Dafür gibt es im Jahr 2006 auch einen Kronzeugen. Denn seit über 30 Jahren gibt es in Deutschland ein Bundesland, das endlich einmal wieder einen ausgeglichenen Haushalt vorlegt. Das ist der Freistaat Bayern. ({1}) Das zeigt, dass wir die Möglichkeiten haben, diesen Weg zu gehen. Er ist nicht einfach und steinig; aber er ist machbar. Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir uns an diesem leuchtenden Beispiel orientieren. ({2}) Für den Bund ist dieses ehrgeizige Anliegen keine Aufgabe, die er an einem Tag erledigen kann, sondern sie muss, angefangen mit dieser Legislaturperiode, die Leitlinie unserer Haushalts- und Finanzpolitik sein. Als erster Schritt - diesen gehen wir mit dem Haushalt 2006 bedeutet das die Rückkehr zur Ehrlichkeit in der Haushaltspolitik. Mit dem Haushalt 2006 wird das wirkliche Ausmaß der finanziellen Fehlentwicklungen der letzten Jahre deutlich. ({3}) Das betrifft alle, ohne Zensuren zu vergeben oder Schuld zu verteilen. Wir haben im Bund, aber auch in der Mehrzahl der Länder über unsere Verhältnisse gelebt. ({4}) Allein der Bundeshaushalt hat ein strukturelles Defizit von mehr als 50 Milliarden Euro angehäuft. Mit anderen Worten: Der Bund hat jeden fünften Euro, den er heute ausgibt, gar nicht, den muss er sich von der Bank holen, den muss er über Schulden finanzieren. Dass dieses strukturelle Defizit abgebaut werden muss, versteht sich von selbst. Ebenso klar ist aber auch: Es wird einige Zeit dauern, bis wir zufriedener auf die Haushaltszahlen blicken können. Die zweite Botschaft im Zusammenhang mit dem Haushalt 2006 lautet: Die große Koalition setzt auch in dieser Konsolidierungsphase erkennbare politische Akzente: Konsolidierung einerseits und Wachstum andererseits. Denn Konsolidierung und Wirtschaftswachstum bedingen einander. Solide Staatsfinanzen und eine nachhaltige Konsolidierung sind wichtige Voraussetzungen für eine Steigerung von Wachstum und Beschäftigung. Sparen fördert Wachstum. Sparen leistet einen unverzichtbaren Beitrag zu stabilen Preisen und niedrigen Zinsen und stärkt das Vertrauen der Konsumenten und Investoren. ({5}) Umgekehrt gilt genauso, dass uns ohne ein erhöhtes Wirtschaftswachstum der Abbau der Arbeitslosigkeit, die Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme und die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte nicht gelingen werden. Angesichts der enormen Dimensionen des Konsolidierungsbedarfs müssen wir allerdings bei allen Maßnahmen auch deren Rückwirkung prüfen. Wir müssen alle Sparanstrengungen und alle Einsparungen in ihren Auswirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung austarieren. Deshalb stehen Anpassungen bei den konsumtiven Ausgaben, zum Beispiel bei Einsparungen von Subventionen und sonstigen Fördertatbeständen, und Maßnahmen zum Abbau von Steuervergünstigungen und steuerlichen Sonderregelungen im Vordergrund. Denn man darf in dieser Haushaltswoche nicht vergessen, dass die große Koalition und die von ihr getragene Bundesregierung bereits eine Reihe von gesetzlichen Maßnahmen beschlossen hat: Stichwort „Abbau der Eigenheimzulage“, Stichwort „Beschränkung der Verlustverrechnung im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen“, Stichwort „Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm“ und Stichwort „Gesetz zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltung“. Die große Koalition verbindet die notwendige Konsolidierungspolitik, die auf längere Sicht die Basis für ein dauerhaftes Wachstum verbessert, mit Maßnahmen, die bereits kurzfristig die Wachstumsdynamik erhöhen. Deshalb legen wir ein befristetes Impulsprogramm zur Stärkung besonders zukunftsträchtiger Bereiche mit einem Gesamtvolumen von 25 Milliarden Euro auf, um kurzfristig übergreifend wirkende Wachstumsimpulse zu setzen. Im Haushalt 2006 haben wir dafür bereits mit 3,5 Milliarden Euro den Start gemacht. Um positive Impulse für den Standort Deutschland zu schaffen, um also ein höheres Wirtschaftswachstum und mehr Beschäftigung zu ermöglichen, arbeiten wir gerade mit Hochdruck an Eckpunkten einer durchgreifenden Unternehmensteuerreform. Denn zwischen allen Experten besteht Konsens: Die Steuerbelastung für Unternehmen in Deutschland ist im internationalen Vergleich zu hoch. Die Unternehmensbesteuerung ist mittlerweile zu einem echten Standortnachteil im internationalen Wettbewerb um knappes Investitionspotenzial und -kapital geworden. ({6}) Unsere Unternehmensbesteuerung ist ein Wachstumshemmnis. Deshalb ist eine durchgreifende Reform dringlich - für höheres Wachstum und mehr Beschäftigung in Deutschland. ({7}) Wenn wir zum 1. Januar 2008 eine kluge und richtig konzipierte Unternehmensteuerreform durchführen, kann das wesentlich dazu beitragen, dass in- und ausländische Unternehmer wieder vermehrt in Deutschland investieren und so neue Arbeitsplätze im Inland entstehen. Dazu ist es allerdings notwendig, auch die Steuerstruktur zu reformieren und die ertragsteuerliche Belastung der Unternehmer auf unter 30 Prozent zu senken. Im Ziel bedeutet das, dass es uns über diesen Weg gelingen kann, Steuersubstrat, das wir in den vergangenen Jahren in erheblichem Maße verloren haben, wieder nach Deutschland zu holen und hier zu halten. Eine kleine und zu eng gezogene Reform, bei der die Strukturen beibehalten werden und lediglich die Höhe einiger Steuersätze variiert wird, würde den Erwartungen an eine durchgreifende Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen am Standort Deutschland mit Sicherheit nicht gerecht. ({8}) Politik kann nicht direkt Arbeitsplätze schaffen. Das können in einer sozialen Marktwirtschaft nur die Unternehmer bzw. Unternehmen. Damit sie aber in die Lage versetzt werden, zu investieren und Menschen in Lohn und Brot zu bringen, müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Für die Schaffung der richtigen Rahmenbedingungen trägt die Politik die Verantwortung. Die große Koalition wird diese Verantwortung wahrnehmen, angefangen mit der Haushaltspolitik über die Steuerpolitik bis hin zur Reform der sozialen Sicherungssysteme. Bezogen auf den Haushalt treibt uns eine politische und, wenn Sie so wollen, auch eine moralische Verantwortung an. Denn insbesondere unter Berücksichtigung des Gebots der Nachhaltigkeit darf die heutige Generation nicht dauerhaft mehr verbrauchen, als sie leistet. Wir müssen die bestehenden Verteilungskonflikte jetzt angehen und lösen. Wir dürfen sie nicht im Wege der Verschuldung auf dem Rücken unserer Kinder und Kindeskinder austragen. ({9}) - Lieber Kollege Bonde, Sie sind der Letzte, der darauf hinweisen sollte, dass wir zu spät dran sind. Wo waren Sie denn in den letzten sieben Jahren? ({10}) Sie haben in den letzten sieben Jahren den Weg zu einer maximalen Staatsverschuldung mitgetragen! Und da sagen Sie und Ihre Kollegen, wir seien nicht mutig genug. Sie sind doch in den letzten sieben Jahren den falschen Weg mitgegangen; Sie haben sich an keiner Stelle gemeldet. Heute sprechen Sie von Windfall-Profits und weisen auf die Steuerschätzung vom Mai hin. Was haben Sie denn mit den UMTS-Erlösen gemacht? Sie haben daraus nichts Produktives gemacht. ({11}) Sie fangen hier an, parlamentarische Regeln zu brechen, und führen jetzt den BND-Umzug in die Debatte ein, obwohl Sie genau wissen, dass wir angesichts der Vorlagen nicht in der Lage sind, hierauf zu reagieren. ({12}) Dabei müssen wir feststellen: Die Entscheidung des Sicherheitskabinetts war doch geprägt durch Ihren Vizekanzler. Sie hat sonst überhaupt keine Grundlage gehabt; das Sicherheitskabinett ist nicht einmal einberufen worden. Man hat den Finanzminister vor der Tür stehen lassen und hat den Umzug des BND beschlossen, weil der Vizekanzler und Kanzler der alten Regierung einfach gesagt haben: Wir machen jetzt Politik. Da haben Sie bis vor kurzem mitgemacht. Sie waren doch nicht zu hören. ({13}) Meine Damen und Herren, der Haushalt 2006 und der Finanzplan bis 2009 sind der in Zahlen gegossene Fahrplan der großen Koalition zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Ich versichere Ihnen - und das steht im Zentrum der politischen Auseinandersetzung -: Mit dem Bundeshaushalt 2007 werden es CDU und CSU gemeinsam mit den Kollegen der SPD schaffen, dass die Regelgrenze der Neuverschuldung des Art. 115 des Grundgesetzes wieder eingehalten wird. Herzlichen Dank. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Bernhard Brinkmann, SPDFraktion.

Bernhard Brinkmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003057, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man in diesem Hohen Haus kurz vor Schluss der Debatte über den Einzelplan 08 reden darf, könnte man eine Menge Vergangenheitsbewältigung betreiben. ({0}) - Die Kollegin Flach hat das schon geahnt; doch ich will das nicht tun. Ich will stattdessen auf drei zentrale Punkte eingehen, die für diesen Haushalt 2006 wichtig Bernhard Brinkmann ({1}) sind und es verdienen, noch einmal erwähnt zu werden. Der Bundeshaushalt 2006 folgt einem politischen Dreiklang, und zwar - in dieser Reihenfolge - sanieren, reformieren und investieren. ({2}) - Herr Kollege Koppelin, ich bin für jeden Hinweis dankbar, und sei es unter der Überschrift „abkassieren“; aber damit reizen Sie mich, doch ein Stückchen Vergangenheitsbewältigung zu betreiben. ({3}) Ich gebe Ihnen am Schluss meiner Rede eine Liste der Schulden, die die FDP allein seit 1990 mit zu verantworten hat. Sie waren ja weitaus länger in der Regierungsverantwortung, in unterschiedlichsten Koalitionen. Ich nenne Ihnen nur zwei Steuererhöhungen, die Sie seit 1990 beschlossen haben - fairerweise muss man sagen: als Gegenfinanzierung der Sonderkosten der deutschen Einheit; darüber ist heute überhaupt noch nicht gesprochen worden -: Erstens. Versicherungsteuer von 5 Prozent auf 15 Prozent verdreifacht. Zweitens. Von Ihren Erhöhungen der Mineralölsteuer haben Sie den Bürgern letztendlich nichts zurückgegeben, wie das zumindest in bestimmten Bereichen nach Ihrer Regierungszeit passiert ist. Das hat schon mehr mit Abkassieren zu tun als das, was Sie eben mit Ihrem Zwischenruf zum Ausdruck bringen wollten. Ich will einen zweiten Punkt ansprechen - das war schon beeindruckend für mich -: Bisher haben die Freien Demokraten hier an diesem Rednerpult, in Ausschussberatungen und natürlich auch gegenüber der Bevölkerung immer von weiteren Steuersenkungen gesprochen. Darauf haben Sie heute, jedenfalls solange ich hier gesessen habe, keinen Bezug genommen. Sie scheinen also zumindest, was Haushalts- und Finanzpolitik angeht, in der Realität angekommen zu sein; denn auch Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass kein Landesfinanzminister - auch da nicht, wo Sie noch Regierungsverantwortung tragen - ernsthaft über weitere Steuersenkungen nachdenkt respektive bereit wäre, einer solchen Senkung im Bundesrat zuzustimmen. Aber es wird noch abenteuerlicher, was das Verhalten der Freien Demokraten angeht: Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hat, wenn ich richtig informiert bin, im Bundesrat die Erhöhung der Mehrwertsteuer abgelehnt, und zwar unter maßgeblicher Begleitung des kleineren Koalitionspartners, der FDP. ({4}) Allerdings schreibt der „Westfälische Anzeiger“ vom 15. Juni, dass diese Einnahmen im Etat letztlich schon veranschlagt sind. ({5}) Das hat nichts mit Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Da liegen Sie falsch. Auch das muss man hier in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringen. ({6}) - Frau Kollegin Flach, wenn Sie mir in den nächsten Tagen belegen können, dass das, was im „Westfälischen Anzeiger“ steht, nicht wahr ist, ({7}) bin ich gerne bereit, meine Meinung in dieser Hinsicht zu ändern. ({8}) Wenn man sich den Haushalt 2006 anschaut, wird man feststellen, dass auch bei den Mehreinnahmen ab und zu - aus welchen Gründen auch immer, wider besseres Wissen oder absichtlich - falsche Informationen verbreitet werden. Es geht um die Frage der Mehreinnahmen durch die - ich gebe zu, eine sehr bittere Pille Erhöhung der Mehrwertsteuer. Wir sollten bei dieser Frage und bei einigen anderen auch darauf hinweisen, dass alle öffentlichen Haushalte, also die des Bundes, der Länder und der Kommunen, Not leidend sind. Die Einnahmen aus der Mehrwertsteuererhöhung werden sich im Rahmen des Finanzausgleichs vom Bund über die Länder bis zu den Kommunen vorteilhaft auswirken. Hoffentlich werden die Mehreinnahmen nicht mehr oder weniger in den Portemonnaies einiger Landesfinanzminister bleiben. Ich bin der festen Überzeugung, dass die große Koalition der gemeinsamen nationalen Anstrengung, das gesamtwirtschaftliche Wachstum zu steigern und die Finanzen langfristig auf eine solide Basis zu stellen, gerecht wird. Zum Schluss meiner Ausführungen habe ich die herzliche Bitte, dass sich sowohl die linke als auch die rechte Seite dieses Hohen Hauses bei dieser Arbeit konstruktiv und nachvollziehbar einbringt. Die Bezeichnung rechte und linke Seite gilt übrigens unabhängig davon, wo man steht. Da die Grünen in der Mitte sitzen und gemeinsam mit meiner Fraktion bis 2005 diese Haushalts- und Finanzpolitik zu verantworten hatten, wäre ich Ihnen sehr dankbar - ganz besonders auch dem Kollegen Bonde -, wenn Sie das so fortführen könnten, wie Sie das in den Haushaltsberatungen zumindest bis November 2005 eigentlich immer sehr konstruktiv getan haben, und wenn der Auftritt von Ihnen heute, Herr Bonde, nicht wiederholt wird. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Norbert Königshofen, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Königshofen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002703, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will zu einem Teilaspekt des Haushalts Stellung nehmen, nämlich zu den Folgen von PrivatisieNorbert Königshofen rungen von bundeseigenen Unternehmen für den Bundeshaushalt. Es gibt ja nur nicht gesellschaftspolitische, betriebs- und volkswirtschaftliche Gründe, so etwas vorzunehmen, sondern die Privatisierung bringt in der Regel auch ein wenig Geld in unsere Bundeskasse. Ich erinnere daran, dass es in den vergangenen Jahren durch die Privatisierung der Lufthansa, der Deutschen Post und der Deutschen Telekom namhafte Erlöse für den Bundeshaushalt gab. Im April dieses Jahres haben wir beschlossen, 74,9 Prozent der Anteile an der Deutschen Flugsicherung zu verkaufen. Hier rechnen wir vielleicht noch nicht in 2006, aber spätestens in 2007 mit Erlösen von weit über 1 Milliarde Euro für den Bundeshaushalt. Zurzeit wird über den Börsengang der Deutschen Bahn AG diskutiert. Es gibt ein Gutachten der Booz Allen Hamilton GmbH und zwei verschiedene Grundmodelle, je nachdem, ob der Börsengang mit oder ohne Netz durchgeführt wird. Geht die Bahn mit dem Netz an die Börse, dann können wir nur bis zu 49,9 Prozent verkaufen, da der Bund nach Art. 87 e des Grundgesetzes mit über 50 Prozent Eigentümer bleiben muss. Der Erlös für den Haushalt wird sich dann zwischen 5 und 8,7 Milliarden Euro belaufen. ({0}) Das geht jedenfalls aus dem Gutachten hervor. Trennen wir Netz und Betrieb, bleibt das Netz also beim Bund, dann kann der Betrieb bis zu 100 Prozent privatisiert werden. Hier rechnet man mit Erlösen von 14,6 Milliarden Euro. Der Vorstand der DB AG ist für den Börsengang mit Netz. Die Frage lautet also, welche Vor- und Nachteile für den Bundeshaushalt zu erwarten sind. Kurz zur Erinnerung, dass mit der Bahnreform 1993 folgende Ziele verfolgt wurden: geringere Belastung des Bundes, mehr Verkehr auf die Schiene und Wettbewerb. Die neu geschaffene DB AG wurde komplett entschuldet. Der Bund übernahm 68,45 Milliarden DM an Altschulden, was nach heutigem Geld 35 Milliarden Euro sind. Nach dem Deutsche Bahn Gründungsgesetz vom 27. Dezember 1993 sollte eine organisatorische und rechnerische Trennung der Bereiche Personennahverkehr, Personenfernverkehr, Güterverkehr und Fahrweg vorgenommen werden. Diese sollten dann als neu gegründete Aktiengesellschaften ausgegliedert werden. Die Holding Deutsche Bahn AG sollte nur kontrollierende und koordinierende Aufgaben haben und später eventuell sogar aufgegeben werden. Das ist damals von den beiden Koalitionsfraktionen Union und FDP so beschlossen und auch von der Opposition - auch von der SPD - mitgetragen worden. Leider ist diese Bahnreform nicht konsequent umgesetzt worden. ({1}) Man muss sagen: Mit Duldung der letzten Regierung hat seit 2000 eine Rezentralisierung stattgefunden. Das Ergebnis sieht heute so aus: Die Ziele sind nicht erreicht worden. Der Bund zahlt für das System Schiene jährlich 9 bis 19 Milliarden Euro, je nachdem, ob man die Bedienung der Altlasten mitrechnet oder nicht. Der Anteil des Verkehrs auf der Schiene ist nicht signifikant größer als vor zehn Jahren. Der Wettbewerb hält sich in Grenzen. Die DB AG hat erneut Schulden in Höhe von 19,7 Milliarden Euro angehäuft. Hinzu kommt das, was wir in den letzten Tagen erfahren mussten: Es geht um eine gesetzeswidrige Zuordnung von Immobilien auf die einzelnen Bereiche. Wir lesen und hören jetzt: Nach Verhandlungen hat es eine Einigung zwischen Verkehrsminister und Bahnvorstand gegeben, nach der die Immobilien innerhalb des Konzerns wieder richtig zuzuordnen sind. Nun muss man dem Herrn Minister Tiefensee bei aller Koalitionsfreundschaft sagen: Das Management eines Unternehmens, das zu 100 Prozent dem Bund gehört, ist kein gleichwertiger Verhandlungspartner. ({2}) Der Bahnvorstand hat das Deutsche Bahn Gründungsgesetz zu beachten und Anweisungen des Eigentümers zu befolgen; sonst muss er gehen. ({3}) Sollten die erhobenen Vorwürfe stimmen, müssen die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Der Bundestag soll noch in diesem Jahr entscheiden, ob die Kapitalprivatisierung mit oder ohne Netz vorgenommen wird. Der Wiederbeschaffungswert des Netzes beträgt 150 Milliarden Euro. Laut Gutachten erhält der Bund für die Hälfte von Netz und Betrieb maximal 8,7 Milliarden Euro. Können wir, so frage ich als Abgeordneter - das gilt auch für die Regierung -, überhaupt vertreten, die Hälfte des Netzes an Private fast zu verschenken? ({4}) Der Rückkauf ist eine andere Frage. Was passiert, wenn wir zurückkaufen müssen, weil beispielsweise in Europa geklagt wird oder, wie in England geschehen, das Netz verrottet und der Staat zurückkaufen muss? Wie hoch sind dann der Preis und die Belastung für den Bundeshaushalt? Sicherlich wird der Preis ein Vielfaches des heutigen Verkaufserlöses betragen. ({5}) „Fresh money“, also neues Geld, für das Unternehmen ist die nächste Frage. Was bleibt dann, Herr Minister Steinbrück, vom Verkaufserlös für den Bundeshaushalt übrig, ({6}) wenn Sie aus dem Verkaufserlös Milliardenbeträge wieder zurück in das Unternehmen pumpen müssen? Auch stellt sich bei dieser Gelegenheit die Frage: Muss der Bund überhaupt an einem weltweit operierenden Logis3508 tikunternehmen beteiligt sein? Auch diese Frage muss man einmal grundsätzlich klären. ({7}) Was geschieht bei notwendigen Kapitalerhöhungen? Wie ausgeführt, muss der Bund wegen des Netzes mehr als 50 Prozent behalten und dann bei Kapitalerhöhungen mitgehen. Was wird uns das kosten? Das Netz muss unterhalten werden. Wem immer es gehört, aus der Sicht der Bürger ist die Politik für das Netz verantwortlich. Für private Eigentümer sind Investitionen in das Netz betriebswirtschaftlich nicht vertretbar; denn die Bahn verdient im Kerngeschäft kaum Geld. Im Nahverkehr verdient sie zwar etwas Geld, aber sie ist von Struktur und Höhe der staatlichen Bezuschussung auch in Zukunft abhängig. Ohne Regionalisierungsmittel sähe das alles andere als rosig aus. Also muss der Staat das Netz unterhalten. Nun soll es eine Leistungsfinanzierungsvereinbarung geben. Der Bund verpflichtet sich, zehn Jahre lang jährlich 2,5 Milliarden Euro für das Netz an die DB AG zu zahlen. Schon jetzt zahlen wir im Schnitt der Jahre 3,5 Milliarden Euro. Also sind 2,5 Milliarden Euro ein wenig tief gegriffen. Dann stellt sich natürlich die Frage: Wie viel Einfluss haben wir auf die Verwendung? Das Beispiel mit der falschen Zuordnung der Immobilien hat unseren Einfluss deutlich gemacht; denn dies ist nur durch einen Bericht des Bundesrechnungshofes an den Haushaltsausschuss bekannt geworden. Ansonsten hätten dies die Herren in den Ministerien wahrscheinlich gar nicht gemerkt. Ich bezweifle, dass wir einen größeren Einfluss haben werden. Deswegen ist es auch kein Wunder, dass sich in zwei Anhörungen des Deutschen Bundestages nur die Vertreter der DB AG und der Gewerkschaft Transnet - das ist die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands - für den Börsengang mit Netz ausgesprochen haben. Die überwältigende Mehrheit der Sachverständigen, der Betroffenen und der Experten hält den Weg eines Börsengangs mit Netz für falsch. In einer Haushaltsdebatte ist es wichtig, Dinge anzusprechen, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. ({8}) Wir reden in der Regel immer über Dinge, die schon erledigt und abgehakt sind. Die Opposition kritisiert das dann und wir verteidigen das. Das ist aber nicht zielführend. Wir müssen vorher über diese Fragen sprechen, und zwar auch hier, nicht nur in kleinen Runden. Die Beratung des Haushalts ist ein guter Anlass dafür. Denn die Verantwortung tragen wir alle. ({9}) Wir alle - auch die Regierung - müssen uns sehr kritisch mit den außerordentlich hohen Haushaltsrisiken - es geht um zweistellige Milliardenbeträge, um die Größenordnung deutlich zu machen - auseinander setzen. Der Staat darf auch nicht erpressbar sein, ({10}) beispielsweise wenn das Netz zur Hälfte ihm gehört und zur anderen Hälfte in privater Hand ist und die DB AG feststellt, dass sie es mit 2,5 Milliarden Euro jährlich nicht unterhalten kann, uns den Ball wieder zuspielt und wir auf die Forderungen - seien es 3,5 Milliarden, seien es 4,5 Milliarden Euro - eingehen. Es geht doch nicht an, dass ein großes Unternehmen die Führung der Bundesrepublik an der Nase herumführt. ({11}) Als Abgeordneter, zumal als Mitglied des Haushaltsausschusses, sehe ich es als meine Aufgabe an, den Bund vor unübersehbaren Risiken zu bewahren und vorhandene Risiken so weit wie möglich zu minimieren. Im Falle der geplanten Kapitalprivatisierung der DB AG scheint es mir deshalb dringend geboten zu sein, sich auf das zu besinnen, was uns die Väter der Bahnreform vorgegeben haben: Sie wollten eine Privatisierung aller Bereiche mit Ausnahme des Netzes. Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache zu diesem Punkt. Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zu- nächst zur Abstimmung über den Einzelplan 08 - Bun- desministerium der Finanzen - in der Ausschussfassung. Wer stimmt für diesen Einzelplan? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Einzelplan 08 mit den Stimmen der Koalition gegen den Rest des Hauses ange- nommen. Abstimmung über den Einzelplan 20 - Bundesrech- nungshof - in der Ausschussfassung. Wer stimmt da- für? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die- ser Einzelplan mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt I.5 auf: a) Einzelplan 07 Bundesministerium der Justiz - Drucksachen 16/1307, 16/1324 Berichterstattung: Abgeordnete Lothar Binding ({0}) Dr. Claudia Winterstein Roland Claus Anna Lührmann Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt b) Einzelplan 19 Bundesverfassungsgericht - Drucksache 16/1324 Berichterstattung: Abgeordnete Lothar Binding ({1}) Otto Fricke Dr. Dietmar Bartsch Anna Lührmann c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung - Drucksachen 16/1780, 16/1852Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO d) Erste Beratung des von der Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Schuldrechtsanpassungsgesetzes - Drucksache 16/1736 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({3}) Innenausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jerzy Montag, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Jan Korte und weiterer Abgeordneter Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung durch den Europäischen Gerichtshof prüfen lassen - Drucksache 16/1622 ZP 1 Beratung des Antrags der Fraktion der FDP Bürokratie schützt nicht vor Diskriminierung - Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz ist der falsche Weg - Drucksache 16/1861 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({4}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Zum Einzelplan 07 liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen, wobei die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD jeweils zwei Minuten zusätzlich und die Fraktionen der FDP, Die Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen jeweils eine Minute zusätzlich erhalten. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe der Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Fraktion, das Wort. ({5})

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Menschen wollen in rechtlich verlässlichen Strukturen frei und sicher leben. Rechtspolitik schafft den Ausgleich zwischen dem Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit und ihrem grundgesetzlich garantierten Recht auf Freiheit. Dieses Zitat steht am Anfang Ihrer Koalitionsvereinbarung, Frau Ministerin. Es ist inhaltlich richtig. Aber wie sieht die Rechtspolitik der schwarz-roten Koalition in den ersten acht Monaten tatsächlich aus? Sie haben die Geltungsdauer eines verfassungsrechtlich äußerst bedenklichen Gesetzes, des Zollfahndungsdienstgesetzes, für anderthalb Jahre verlängert. Der Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl, den Sie in einem zweiten Anlauf vorgelegt haben, wurde in einer Expertenanhörung scharf kritisiert: zu unbestimmt, zu wenig Rechtsschutz und Nachteile für im Ausland straffällig gewordene Deutsche, die sich in Deutschland für dieselbe Tat nicht strafbar gemacht hätten. Sie sollen nicht rücküberstellt werden. Die Verfassungswidrigkeit des Luftsicherheitsgesetzes aus der letzten Legislaturperiode, von Liberalen eingeklagt und vom Bundesverfassungsgericht am 15. Februar 2006 festgestellt, hat innerhalb der Bundesregierung zu einer gespenstischen Debatte über die Möglichkeit einer Umgehung des Urteils und des Grundgesetzes ausgelöst. Stattdessen hätte dieses missglückte Vorhaben endgültig ad acta gelegt werden müssen. ({0}) Das alles trägt nicht dazu bei, dass sich der Bürger - wie in der Koalitionsvereinbarung zu Recht eingefordert - sicherer fühlt und dass Rechtssicherheit gewährleistet wird. Vertrauen in die Funktionsfähigkeit unseres Rechtsstaates ist das wichtigste Gut, das wir als Rechtspolitiker insbesondere bei den Beratungen über den Justizhaushalt zu verteidigen haben. ({1}) Der Justizhaushalt kann mit Sicherheit nicht entscheidend zur Sanierung des Gesamthaushalts 2006 beitragen. ({2}) Es gibt zwar einige Ansätze, deren Sparpotenzial nicht vollständig ausgeschöpft wird. Hier können die Mittel möglicherweise niedriger angesetzt werden; das wäre in Ordnung. ({3}) Aber sonst, denke ich, sind wir uns im Großen und Ganzen einig: Der Justizhaushalt ist nicht dazu da, entscheidend zur Sanierung des Bundeshaushalts beizutragen. Es ist entscheidend, dass die Justiz, die Gerichte in Bund und Ländern, die Anerkennung - auch in dieser Debatte im Bundestag - bekommen, die sie verdient haben und brauchen; denn das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Justiz, sowohl in die oberste Gerichtsbarkeit als auch in die Gerichte der Länder, ist mit am größten. Unsere Justiz leistet hervorragende Arbeit und genießt hohes Ansehen. Deshalb dürfen - meistens fiskalisch orientierte - Überlegungen zu einer Justizreform, die in erster Linie die Einschränkung des Rechtsschutzes sowie die Beschränkung des Zugangs der Bürgerinnen und Bürger zu den Gerichten, wenn es um niedrige Streitwerte geht, zum Ziel haben, nicht weiter verfolgt werden. ({4}) Frau Justizministerin, Sie haben hier unsere Unterstützung im Bundestag. Sie wissen, dass sich gerade der Bundestag über alle Fraktionsgrenzen hinweg für Ihre Position immer stark gemacht hat. Ich weiß angesichts der Diskussionen und der Vorschläge der Länder - das ist parteipolitisch neutral gemeint -, dass Sie diese Unterstützung brauchen. Ich möchte noch ein anderes für unsere Justiz und ihr Ansehen wichtiges Vorhaben - es liegt zwar noch kein Gesetzentwurf vor, wohl aber ein Referentenentwurf erwähnen. Sie wollen ein großes Familiengericht errichten. Wir halten das auch im Hinblick auf eine bessere Übersichtlichkeit und das Zusammenführen vieler Streitigkeiten für einen richtigen Weg. Aber wir sehen die geplante „Scheidung light“ kritisch, weil gerade die Wahrnehmung der Interessen der Schwächeren bei einer Scheidung - das sind heutzutage meistens Frauen; das können in zehn Jahren aber auch Männer sein - nicht ausreichend gewährleistet ist. Deshalb halten wir es für dringend notwendig, dass in jedem Fall eine anwaltliche Beratung gegeben ist, sodass nicht der ökonomisch Stärkere den Schwächeren beim Versuch, eine einvernehmliche Regelung zu erzielen, über den Tisch ziehen kann. ({5}) Frau Ministerin, es gibt eine Fülle von Vorhaben, die in der Koalitionsvereinbarung angekündigt werden. Ich bedauere, dass bis heute noch nicht einmal ein Zeitplan für die Beratung eines wichtigen Vorhabens, nämlich der Neuordnung der Telekommunikationsüberwachung in der Strafprozessordnung, hier im Bundestag und in den Ausschüssen vorliegt. Es gibt seit einigen Jahren ausreichend Urteile des Bundesverfassungsgerichts, die sich mit Bundes- und Landesgesetzen befasst haben und die klar dazu auffordern, auch politisch, die Telekommunikationsüberwachung anders auszugestalten. ({6}) Sie haben das in der Koalitionsvereinbarung als Notwendigkeit angesprochen, aber bisher hat das Thema überhaupt noch keine Rolle gespielt. Ich fordere Sie auf - ich hoffe, Sie kommen dem nach -, möglichst schnell zumindest Eckpunkte vorzulegen, damit wir darüber hier im Bundestag, wohin es gehört, beraten können. Die Europäische Union mit ihren Initiativen und Vorhaben spielt gerade in der Rechtspolitik eine immer größere Rolle. Hierbei geht es wirklich im Kern um das Selbstverständnis des Deutschen Bundestages, um das Verhältnis von Exekutive und Legislative und um den Stellenwert, den der Bundestag hat. Deshalb haben wir einen Gruppenantrag mit initiiert, der die Bundesregierung auffordert, sich mit einem Vorhaben, das extrem kritisch ist und in der letzten Legislaturperiode im gesamten Bundestag sehr kritisch gesehen wurde, nämlich mit der Vorratsdatenspeicherung, in einer bestimmten Weise auseinander zu setzen. Die Vorratsdatenspeicherung ist beschlossen worden. Wir fordern die Bundesregierung auf, mit ihren Möglichkeiten - nur sie hat solche Möglichkeiten; wir haben sie nicht - dagegen vorzugehen. ({7}) Warum? Weil es keine Rechtsgrundlage für die Richtlinie gibt. Das ist nicht aus der Luft gegriffen. Das Urteil des EuGH zum Passagierdatenübereinkommen hat aufgezeigt, dass es dafür keine Rechtsgrundlage gab. Jetzt stützen Sie sich auf genau dieselbe Rechtsgrundlage, die dort angeführt worden war. Das hat keinen Bestand. Lassen wir uns doch nicht durch den EuGH immer wieder zu Reaktionen veranlassen, sondern machen wir es anders! Machen Sie von der Bundesregierung, machen Sie, Frau Justizministerin, von den Möglichkeiten Gebrauch, die es gibt! Ich fordere CDU/CSU- und SPD-Kollegen auf, diesem Antrag zuzustimmen; denn nur dann macht der Bundestag von seinen Machtmöglichkeiten Gebrauch. ({8}) Ich darf zum Schluss

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ganz zum Schluss!

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- einen ausdrücklichen Dank sagen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Justizministerium, an alle, die an diesem Haushalt mitgewirkt haben, auch an den Rechtsausschuss. Ich würde mich natürlich sehr freuen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns nicht nur hier sehen würden, sondern auch übermorgen in einer Sitzung des Rechtsausschusses, die jetzt leider abgesagt worden ist. Recht herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Lothar Binding, SPD-Fraktion.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu den rechtspolitischen Inhalten und zu den Aufgaben, die das Ministerium hat und erledigt, möchte ich mich nicht äußern, weil wir in der Haushaltsdebatte sind. Ich möchte vornehmlich die haushaltspolitische Seite etwas beleuchten. Da kann ich an den Dank anschließen, den die Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger schon zum Ausdruck gebracht hat. ({0}) Ich denke, dass die Berichterstatter - ich möchte sie nennen: Es sind außer mir Dr. Ole Schröder, Dr. Claudia Winterstein, Roland Claus und Anna Lührmann sowie zu Einzelplan 19 noch Otto Fricke und Dr. Dietmar Bartsch - mit der Unterstützung durch die Ministerin Brigitte Zypries, aber auch durch den Ministerialrat Dr. Vogel und durch die Direktorin beim Bundesverfassungsgericht Frau Dr. Bahnstedt sehr zufrieden sein konnten. Ich glaube, dass sie exzellente Unterstützungsarbeit geleistet haben, als es darum ging, unsere schwierigste Aufgabe zu bewältigen, nämlich die globale Minderausgabe aufzulösen. Man wird es kaum glauben: Je kleiner der Haushalt, umso komplizierter scheint es, eine globale Minderausgabe aufzulösen. Die Aufgabe war, immerhin 9 Millionen Euro zu sparen. Bei einem Haushalt, dessen Volumen kaum über 300 Millionen Euro beträgt, ist das eine sehr große Aufgabe, vor allem mit Blick darauf, dass in einem solchen Haushalt bis zu 86 Prozent Personalkosten sind - das ist für viele vielleicht gar nicht so transparent - und damit die Einsparmöglichkeiten bekannterweise sehr gering sind. Deshalb möchte ich dem Ministerium danken. Diese Kooperation war nicht selbstverständlich. ({1}) Ich möchte auf zwei kleine Einzelheiten eingehen, die im Ministerium immer eine wichtige Rolle spielen und die zu einer besonderen Aufgabe geführt haben. Das BMJ kümmert sich maßgeblich um das Deutsche Patent- und Markenamt. Das ist auch wieder eine wichtige Angelegenheit; denn durch den Deckungsbeitrag, also durch die Gebühren, die dort erhoben werden, wird das Ministerium zu einem ganz großen Teil gegenfinanziert. Hierfür ist aus Haushältersicht ein sehr großes Lob angebracht. Hier gab es aber ein Problem: Über die Jahre hatten sich mehr als 100 000 Bearbeitungsfälle aufgestaut. Brigitte Zypries und ihre Vorgängerin hatten deshalb ein Stauabbaukonzept entwickelt und umgesetzt. So wird seit knapp zwei Jahren dieser Rückstau abgebaut. Wir können davon ausgehen, dass neben den jährlich hinzukommenden 30 000 Patentfällen auch die aufgestauten bis zum Jahr 2009 abgearbeitet sein werden. Wir glauben, dass das ein sehr gutes Konzept ist, solche Bearbeitungsrückstände abzubauen. ({2}) Dann gibt es eine weitere Neuerung, die sehr wichtig ist. Sie trägt den schönen Namen ELSA; das steht für Elektronische Schutzrechtsakte und umfasst die Einführung einer vollständig IT-gestützten Vorgangsbearbeitung in den Schutzrechtsbereichen Patente- und Gebrauchsmuster. Die Unterstützung dieses Bereichs stellt für das Ministerium einen besonderen Schwerpunkt dar und deshalb wurde auch schon im Haushaltsentwurf des Ministeriums vorgesehen, diesen Haushaltstitel deutlich zu erhöhen, nämlich um 9 Millionen. Diesen Haushaltsansatz möchte ich zum Anlass nehmen, einmal über unser Politikverständnis nachzudenken. Die Linke hatte, wohl wissend, dass der ursprüngliche Haushaltsansatz insgesamt schon um 9 Millionen erhöht wird, den Antrag gestellt, ihn um weitere 5 Millionen zu erhöhen, ohne dabei sicherzustellen, dass diese Mittel überhaupt gebraucht werden und sinnvoll in die Projektarbeit dieses Jahres einfließen können. Warum mich diese Art von Politikverständnis besonders geärgert hat, möchte ich an einem kleinen Beispiel deutlich machen: Bevor ich in den Bundestag gewählt wurde, war ich Planer und habe für die Universität Heidelberg große EDV-Netze für 10 000 bis 15 000 Arbeitsplätze geplant und habe so etwas Ähnliches auch für die Industrie gemacht. Dabei habe ich zwei Kategorien von Planern kennen gelernt: Es gibt Planer, die für ihre Planung beliebig viel Geld und einen großen Zeitvorrat haben. Diese planen sehr detailliert; das Projekt wird immer schöner, größer, dicker. Der Plan landet dann aber - das wissen diese Planer meistens schon von vornherein - im Regal. Dann gibt es Planer - zu denen gehörte ich -, die große Projekte planen, für die vielleicht 10 000 Komponenten erforderlich sind, die eine Größenordnung von 30 bis 50 Millionen Euro umfassen und bei denen viele hundert Menschen und möglicherweise auch noch mehr beteiligt sind. Denken Sie etwa an ein großes Hochregallager mit 50 000 Palettenplätzen, das Zusammenspiel von vielen Maschinen, verkettete Fertigung oder ein Ausgangslager. Wenn Sie nun anfangen, den Plan zu verwirklichen, merken Sie bald, dass es kompliziert wird. Schließlich geht es an die Inbetriebnahme. Man schaltet ein, aber es funktioniert nicht. Das kann daran liegen, dass ein Denkfehler gemacht wurde, jemand eine Komponente mit nach Hause genommen hat, irgendein Bagger ein Kabel durchtrennt hat oder ein Fehler bei der Bedienung gemacht wurde. Deshalb geht man in der Praxis nicht so vor, sondern reserviert sich für die Inbetriebnahme einen längeren Zeitraum und lässt den Vorstand der auftraggebenden Firma erst nach drei, sechs oder gar neun Monaten den Schalter zur Inbetriebnahme umlegen, weil dann das Lothar Binding ({3}) System eingeschwungen ist, die Fehler ausgemerzt sind und alles gut funktioniert. Man hat also seine ursprünglichen Planungen in dieser Phase an die realistischen Möglichkeiten angepasst. So ähnlich ist es in der Politik auch. Es gibt zwei Sorten von Leuten, die Programme machen: Die einen machen das geniale Programm, das meistens noch etwas dicker, noch etwas schöner, noch etwas größer und teurer ist, und nehmen sich dafür beliebig viel Zeit. Der kleine Antrag, den die PDS gestellt hat, zeigt beispielhaft, dass hier die realistischen Möglichkeiten überschätzt wurden. Ich nehme das nur als Beispiel für einen systemischen Ansatz, sich politisch entsprechend zu verhalten. Auch mit anderen Beobachtungen kann man das leicht belegen: Was ist nämlich passiert, als Planer dieser Kategorie die Chance hatten, ihren Plan umzusetzen? Oskar Lafontaine ist als Superminister kurze Zeit nach der Inbetriebnahmekatastrophe geflüchtet. Auch Gregor Gysi, davon nicht sehr verschieden, ist geflüchtet, kaum dass er die Chance hatte, seine Pläne wirklich umzusetzen. ({4}) Deshalb glaube ich, mit diesem Ansatz kann man Oppositions- und Regierungspolitik charakterisieren und die möglichen und realistischen Politikansätze von jenen unterscheiden, deren Antragsteller gleich wissen, dass sie keine Realisierungschance haben. Letzteres halte ich für eine unseriöse Politik. Mit dem Hinweis auf meinen beruflichen Hintergrund und die Beobachtung, wie Regierungs- und Oppositionspolitik hier gegeneinander gestellt werden, möchte ich schließen, aber nicht ohne Ihnen den Lösungsansatz von jemandem zu zeigen, der von mir eine kleine Aufgabe gestellt bekommen hat. Viele von Ihnen wissen, dass ich oft einen kleinen Bleistift an eine Jacke hefte, den man mit etwas Geschick ablösen kann. Ich sage Ihnen, wie Ulrich Maurer dieses Problem gelöst hat: Er hat ihn durchgebrochen. Das war eine Lösung, der ich nicht folgen will. ({5}) Ich glaube deshalb, dass es sehr gut ist, einen Haushalt wie diesen zu haben, mit seriösen Anträgen der Regierungskoalition, einen Haushalt, der realistisch, konsequent und mit unseren Zielsetzungen auch zukunftsweisend ist. Schönen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Nešković, Die Linke. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im vierten Nachwendejahr äußerte Theo Sommer in der „Zeit“ die Überlegung, der Kapitalismus habe gar nicht gesiegt, er sei nur übrig geblieben. Heute, 16 Jahre nach dem gewaltigen Umbruch, werden die Wahrheit und die Tragik dieses Satzes vom übrig gebliebenen Kapitalismus für uns alle erkennbar. Die Bundesrepublik war weit davon entfernt, eine perfekte Gesellschaft zu sein. Aber unter der Herrschaft des Grundgesetzes hat sie sich immerhin zu einem Staat entwickelt, der sich ernsthaft bemühte, den Menschen nicht nur Freiheit und Selbstverwirklichung zu verschaffen, sondern ihnen auch zu sozialer Sicherheit und Chancengleichheit zu verhelfen. Man hat bewiesen, dass Kapitalismus und soziale Ziele nicht notwendigerweise Gegner sein müssen. Die Wiedervereinigung Deutschlands stand unter dem Versprechen, diesen Erfolg zu halten und weiter auszubauen. Wir erleben heute jedoch, wie die Erfolge des sozialen Rechtsstaats hinwegreformiert werden. So gewinnt das eingangs verwandte Zitat erst heute seine wirkliche Bedeutung: Übrig geblieben ist heute der Kapitalismus. Die politische Mehrheit in diesem Hause schämt sich nicht einmal dafür, dass sie die Werkzeuge des Abrisses von Errungenschaften aus Jahrzehnten als Reformen bezeichnet. Eine Reform reißt soziale Errungenschaften nicht nieder, sondern schafft soziale Errungenschaften. ({0}) Die Anerkennung der Gewerkschaften als Vertreter der Interessen der Arbeitnehmer - das war eine Reform. Die Bindung der drei Gewalten an das Sozialstaatsprinzip das war eine Reform. Die Einrichtung und der Ausbau der Arbeitnehmermitbestimmung - das war eine Reform. Eine Reform erkennen Sie immer daran, dass sie die Position der Schwachen stärkt. Keine Reform ist es, wenn die Schwachen der Gesellschaft für ihre Schwächen auch noch büßen müssen. Hartz IV ist dabei nur die Spitze des Eisberges in einem kalten Meer neoliberaler Maßnahmen, in dem die Verlierer der Gesellschaft frierend ertrinken. ({1}) - Sie sollten darüber keine Scherze machen. Für viele Menschen ist das bittere Wahrheit. ({2}) Der Erfolg des sozialen Rechtsstaates Bundesrepublik ruhte auf vier stabilen Säulen. Als erste der Säulen ist die Pflicht zur Einrichtung eines sozialstaatlichen Rechtssystems zu nennen, zu dem Arm und Reich gleichermaßen Zugang haben. Der Gerichtssaal nivelliert die soziale Herkunft für die Dauer der Verhandlung. Er ist die Schicksalskorrektur, wenn es um die Durchsetzung des Rechts geht. Sie können dem Einzelplan 19 entnehmen, dass dem Bundesverfassungsgericht zukünftig rund 1 Million Euro weniger zur Verfügung stehen. Ähnliches können Sie den Haushaltsplänen der Länder entnehmen. Dieser Abwärtstrend in Ausstattung und Besetzung der Gerichte trifft zuerst diejenigen, die den Gleichmacher Recht am dringendsten benötigen: die Schwachen in der Gesellschaft. ({3}) Ganz im Trend der Zeit legte der Bundesrat kürzlich einen wirklich schaurigen Gesetzentwurf zur Neuregelung der Prozesskostenhilfe vor. Der Entwurf sieht ganz erhebliche Erschwernisse für die Gewährung der Prozesskostenhilfe vor. Um Ihnen nur den unerträglichsten Neuregelungsvorschlag zu nennen: Allein die Prüfung der Gewährung der Prozesskostenhilfe soll eine Zahlungspflicht von 50 Euro für jeden Bürger auslösen, dessen monatliches Einkommen nur 100 Euro über dem Existenzminimum liegt. Das ist also die Praxisgebühr im Gerichtssaal. Wenn das Gesetz wird, dann werden viele in unserem Land feststellen, dass sie sich sogar ihren von der Verfassung garantierten Justizgewährungsanspruch nicht mehr leisten können. Übrig geblieben ist der Kapitalismus. Ich komme zur zweiten Säule des sozialen Rechtsstaates. Verwandt mit dem sozialen Recht ist der Anspruch, ein Recht zu schaffen, das mit Besonderheiten angemessen umgeht und dabei den Grundsatz der Billigkeit beachtet. ({4}) Ein Recht um jeden Preis ist Unrecht. Als die alte Bundesrepublik fünf neue Länder dazu brachte, sich in den Geltungsbereich des Grundgesetzes zu begeben, da verpflichtete sie sich, mit den Besonderheiten des Ostens gerecht umzugehen. Das bedeutete die Pflicht, grobe Unbill zu korrigieren. Das bedeutet aber auch die Pflicht, lang Gewachsenes anzuerkennen. Man hat die Rechtsfigur des getrennten Gebäudeeigentums nicht anerkannt, sondern den Häuschen- und Garageneigentümern lediglich Übergangsfristen eingeräumt, nach deren Ablauf sie ihr Eigentum faktisch entschädigungslos verlieren. ({5}) Wir haben Ihnen heute einen Antrag vorgelegt, der mit dem Ablauf dieser Fristen Entschädigungsleistungen in der Höhe des Zeitwerts vorsieht. ({6}) Da der Antrag von uns kommt, werden Sie ihn erwartungsgemäß ablehnen. Übrig geblieben ist der Kapitalismus. Ich komme zur dritten Säule des sozialen Rechtsstaates. Ein dritter Grund für die Erfolge der alten Bundesrepublik bestand darin, dass man am Ende, trotz aller Meinungsverschiedenheiten und heftiger Streitigkeiten, für mehr Gleichheit unter den Menschen sorgte. Um dieses Ideal von der Gleichheit der Menschen ging es auch bei den Antidiskriminierungsrichtlinien der Europäischen Union, die längst in innerdeutsches Recht umzusetzen waren. Indem diese Aufgabe erst lustlos angegangen, dann wiederholt verschleppt wurde, ist deutlich geworden, was Sie von diesem politischen Erbe heute halten. Der Entwurf des AGG, den Sie heute in die Beratung eingebracht haben, hat der Wirtschaft viel Sorge bereitet. Die Wirtschaft wird ihre Ängste rasch los sein. Der Entwurf ist nur ein schüchternes Schäfchen in einem gewaltigen Wolfskostüm. ({7}) Ein ganz wesentlicher Mangel ist die fehlende Verbandsklage für Antidiskriminierungsverbände. ({8}) - Genau. Um Himmels willen! Der Kapitalismus ist übrig geblieben. ({9}) Dort, wo Ihr Mut, Ihre Veränderungsbereitschaft besonders gefragt gewesen wären, nämlich bei der Anerkennung der sozialen Herkunft als Merkmal für Diskriminierung, haben Sie gekniffen. Die soziale Herkunft sucht man in Text und Begründung des Entwurfs vergeblich. Zu den ganz alltäglichen Benachteiligungen bestens ausgebildeter und hoch intelligenter Jobbewerber aus armem Elternhaus empfehle ich Ihnen statt Polemik und unqualifizierter Zwischenrufe Michael Hartmanns Buch „Der Mythos von den Leistungseliten“. Darin wird empirisch aufbereitet, dass die soziale Herkunft weit bedeutsamer für eine Karriere ist als aller Fleiß und alle Klugheit. ({10}) Trotz dieser schwer wiegenden Mängel wäre dieser Entwurf noch von einem gewissen Wert gewesen, hätten Sie nicht den Anspruch auf Abschluss einen Arbeitsvertrages ausdrücklich ausgeschlossen. Was also hat der diskriminierend abgewiesene Arbeitsuchende von Ihrem Entwurf? Wenn es ihm überhaupt gelingt, die Diskriminierung nachzuweisen, dann erhält er nicht etwa die begehrte Stelle, sondern hat Anspruch auf Schadenersatz. Damit geben Sie dem Abgewiesenen Geld an die Hand anstelle einer Chance im Leben. Fortan kann sich also jeder ausrechnen, was ihn die Diskriminierung seines Mitmenschen kostet. Lohnt sie sich oder ist sie mit Blick auf die Gesamtbilanz bereits ineffektiv? ({11}) Heribert Prantl ({12}) fragte unlängst völlig zu Recht, ob wir wirklich eine Gesellschaft wollen, in der der Wert des Menschen am Lineal des Ökonomen gemessen wird. Wolfgang NeškoviæWolfgang Nešković ({13}) Übrig geblieben ist ganz offenbar der Kapitalismus. ({14}) Ich komme zur vierten und letzten Säule des sozialen Rechtsstaates. Die vierte Säule ist die Begrenzung staatlichen Handelns durch die Grundrechte. Auch hier treiben Sie heute Pfusch am Staatsbau. Die Liste der Grundrechtsverletzungen per Gesetzesverabschiedung, die Ausdruck Ihres politischen Grundverständnisses sind, ist lang: großer Lauschangriff, Zollfahndungsdienstgesetz, Europäisches Haftbefehlgesetz, Luftsicherheitsgesetz, Rasterfahndung, Jugendstrafvollzug. Man kann sagen: Verfassungsbruch im Fortsetzungszusammenhang. ({15}) Immer wieder musste Ihnen das Bundesverfassungsgericht in den Arm fallen, weil Sie jeden Respekt vor der Verfassung und ihren Werten verloren haben. ({16}) Mit bisher nicht bekannter Schärfe hat Ihnen das Bundesverfassungsgericht beim Luftsicherheitsgesetz ins Stammbuch geschrieben, dass das Parlament mit diesem Gesetz die Kernvorschrift unserer Verfassung verletzt hat. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass die Annahme des Gesetzgebers, der Staat sei berechtigt, unschuldige Menschen vorsätzlich zu töten, unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes schlechterdings unvorstellbar sei. Sie haben sich dies nicht nur vorgestellt. Nein, Sie sind weit darüber hinausgegangen. Sie haben ein solches Gesetz gemacht. Niemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik hat ein Gesetzgeber ein Gericht gebraucht, um in Erfahrung zu bringen, dass es falsch sei, Unschuldige durch den Staat vorsätzlich zu töten. ({17}) - Es reicht in der Tat, was Sie mit diesem Staat und seiner Verfassung machen. ({18}) Noch etwas anderes ist in diesem Zusammenhang neu: Ihr Verfassungsbruch im Fortsetzungszusammenhang ruft Allianzen hervor, die ich mir früher nicht hätte vorstellen können. Ihnen liegt heute ein Gruppenantrag aller drei Oppositionsfraktionen zur Vorratsdatenspeicherung vor, den Sie annehmen sollten. ({19}) Der Antrag bezweckt die Überprüfung der europäischen Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung im Wege der Nichtigkeitsklage. ({20}) - So einfach strukturiert denken Sie; das ist wahr. ({21}) Die Freiheitsrechte waren bislang für nahezu jedermann - ob links oder konservativ - eine Grundbedingung des demokratischen Staates. Ich frage mich: Was ist aus diesem Grundkonsens geworden? Ist er noch Richtlinie der Politik, die Sie machen? Frau Bundeskanzlerin Merkel sagte vor deutschen und amerikanischen Wirtschaftsvertretern am 6. Mai 2006 in New York, das „demokratische Modell“ stehe im Wettbewerb der globalen Wirtschaft auf dem „Prüfstand“. Sie sagte wörtlich: … man kann nicht von einer Überlegenheit der Demokratie sprechen, wenn die ökonomischen Erfolge ausbleiben … Diese Formulierung, Herr Kampeter, zeugt von einem fundamentalen Missverstehen unserer Verfassung. Das Grundgesetz enthält, wie allgemein - und somit auch Ihnen - bekannt ist, keine Festlegung auf ein bestimmtes Wirtschaftssystem. Aber dieses Grundgesetz enthält sehr wohl eine ganz eindeutige Festlegung auf das politische System. Es handelt sich nämlich um die Demokratie und nur um die. ({22}) Da gibt es keinen Bedarf für Wettbewerb. Übrig geblieben ist der Kapitalismus, der den in Jahrzehnten geschaffenen Schutz der Schwachen beseitigt, der sich der Politik mit seinen Interessen als Entscheidungsprimat aufzwingt, der seinen ökonomischen Zielen sogar demokratische Grundprinzipien opfern möchte. Das ist die Politik, die wir von der Linksfraktion bekämpfen. Dafür sind wir gewählt worden; dafür stehen wir hier. Vielen Dank. ({23})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Dr. Ole Schröder, CDU/ CSU-Fraktion. ({0}) Wolfgang NeškoviæWolfgang Nešković

Dr. Ole Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003628, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Nešković, Ihre Rede war ein Griff in die Mottenkiste des Sozialismus. ({0}) Sie haben davon gesprochen, was insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, in unserem Heimatland, übrig geblieben ist und was nicht. Nicht übrig geblieben ist der Sozialismus. ({1}) Nicht übrig geblieben ist der Überwachungsstaat. Nicht übrig geblieben ist der Kommunismus. ({2}) Übrig geblieben ist die soziale Marktwirtschaft. Dafür sollten wir dankbar sein. ({3}) Wir sollten diese soziale Marktwirtschaft und die Demokratie weiter verteidigen und nicht auf so eine unflätige Art und Weise beschimpfen, wie Sie das hier zum Teil getan haben. ({4}) Wir sind im Haushaltsausschuss und auch hier im Parlament sachliches Arbeiten gewöhnt. Ich danke Ihnen, Frau Ministerin, und insbesondere dem Hauptberichterstatter, Herrn Binding, und den Mitberichterstattern für die sachliche und gute Zusammenarbeit im Rahmen der Haushaltsberatung. Das Bundesjustizministerium erfüllt, wie ich meine, zwei wichtige Funktionen, zum einen die Gesetzgebung und die Gesetzesanwendung im Bereich der Justiz und ihrer Behörden. Zum anderen erfüllt das Justizministerium eine wichtige Querschnittsaufgabe für alle Ministerien. Das Bundesjustizministerium ist nämlich dafür verantwortlich, die gesetzgeberischen Aktivitäten auf nationaler und immer mehr auch auf internationaler Ebene zu ordnen. In der Vergangenheit ist die Zahl nationaler Gesetze stetig gestiegen. Hinzu kamen die europäische Gesetzgebung und die internationalen Verträge, die wir in deutsches Recht umsetzen müssen. Gleichzeitig ist die Regelungskomplexität extrem gestiegen. Hier kommt das Justizministerium ins Spiel: Die Vielzahl der unterschiedlichen Bausteine muss zu einem stimmigen Gesamtbild zusammengefügt werden. Ein stimmiges Rechtssystem muss erhalten werden. Leider verhält es sich hier wie mit einem komplexen Puzzle: Je mehr Teile vorhanden sind und je komplexer die Form dieser Teile ist, desto schwieriger ist es, sie richtig zusammenzusetzen. Ohne im Einzelnen auf die Inhalte einzugehen: Das Antidiskriminierungsgesetz ist ein besonders gutes Beispiel für diese Problematik. Diesem Gesetz liegen bekanntermaßen viele Richtlinien zugrunde. ({5}) Ob die ehemalige Ministerin Künast genau wusste, was sie tat, als sie diesen Richtlinien auf europäischer Ebene zugestimmt hat, mag einmal dahingestellt bleiben. Wir müssen jedenfalls mit diesen Richtlinien leben ({6}) und sie in deutsches Recht umsetzen, ({7}) obwohl sie eher angloamerikanischen Rechtstandards entstammen. Das ist eine schwierige Aufgabe, nicht nur für das Bundesjustizministerium. Unser deutsches Rechtssystem befindet sich in einem internationalen Wettbewerb. Dadurch gewinnt die Aufgabe, einen in sich stimmigen Rechtsrahmen zu schaffen, zusätzlich an Bedeutung. Wie in jedem Wettbewerb ist auch hier Stillstand der erste Schritt dahin, die eigene gute Position zu verlieren. Also müssen wir uns immer wieder die Frage stellen, was noch verbessert werden kann. Hier hilft natürlich auch ein Blick über die Grenze, ein Blick in andere Rechtssysteme. Im Bereich des Unternehmensrechts konnte man den Handlungsbedarf leicht erkennen, da in der Vergangenheit immer mehr Unternehmen die englische Limited und nicht die deutsche GmbH als Rechtsform gewählt haben. Insofern ist es richtig, dass vonseiten des Bundesjustizministeriums auf diese Entwicklung mit einer GmbH-Reform reagiert wird. ({8}) Eine weitere wichtige Aufgabe, die das Bundesjustizministerium als Querschnittsfunktion innehat, ist die Förmlichkeitsprüfung aller Gesetze. Wir haben zwei wesentliche Probleme: zum einen die extreme Regelungsund Bürokratiedichte, die kaum noch überschaubar ist - der neu eingesetzte Normenkontrollrat wird hier ansetzen; die Koalition hat einen Anfang gemacht -, zum anderen die Unverständlichkeit von Gesetzen. Das ist ein oft unterschätztes Problem. Hier besteht großes Potenzial, unser Rechtssystem noch effizienter zu gestalten. Wenn Bürgerinnen und Bürger nicht mehr verstehen, was staatliche Stellen formulieren, dann wenden sie sich ab. Wenn Unternehmen Gesetze aufwendig interpretieren müssen, entstehen unnötige Kosten. Ich verzichte hier auf unnötige Stilblüten zur Belustigung aller. Wichtig ist, dass wir das Problem ernst nehmen und anpacken. Ich bin froh, dass wir in der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses die Weichen hierfür gestellt haben. ({9}) Das Bundesjustizministerium - da bin ich mir sicher wird Wächter über eine verständliche Sprache in den Gesetzen sein. Es freut mich, dass wir Signale von der Justizministerin empfangen haben, dass dieses Problem verstärkt angepackt wird. ({10}) Wesentliches Merkmal der beiden Einzelpläne, die wir heute beraten - Justiz und Bundesverfassungsgericht -, ist, dass in ihnen die Personalkosten dominieren. Das bedeutet nicht, dass wir bei den Beratungen nicht auch andere Positionen kritisch beleuchtet hätten. Insbesondere im Hinblick auf den Haushalt 2007 wird wieder kritisch zu fragen sein, ob es sinnvoll ist, dass der Bund eine kriminologische Zentralstelle mit Bundesmitteln fördert, oder ob das nicht beispielsweise die Universitäten machen können. ({11}) Wir werden kritisch hinterfragen, ob es sinnvoll ist, dass das Institut für Menschenrechte aus drei unterschiedlichen Haushalten finanziert wird und damit die Transparenz verloren geht. ({12}) Entscheidend bei den Einzelplänen sind die Personalkosten. Darüber sind wir uns im Klaren. Das Problem bei den Personalkosten ist, dass sie sich langfristig auswirken und stetig wiederkehrend anfallen. Deshalb müssen wir gerade bei den Personalkosten besonders aufpassen. Falsche Entscheidungen wirken sich langfristig negativ aus, nicht nur in dem jeweiligen Haushaltsjahr. Das beste Beispiel hierfür ist die Regelung der Altersteilzeit. In der Vergangenheit sind hervorragende Beamtinnen und Beamte in den Vorruhestand geschickt worden. Diese Politik, die ein Irrtum war, ist von uns in der Vergangenheit noch finanziell unterstützt worden. Wir haben das Problem erkannt und angepackt. Aber die Kosten treffen uns heute und sie werden uns weiterhin treffen. Der Schaden im Haushalt bleibt. Auf die weiteren Positionen der Einzelpläne will ich nicht weiter eingehen. Wir haben diese Einzelpläne mit großer Übereinstimmung beschlossen, mit Ausnahme einiger Anträge der FDP, die sich eher willkürlich über den Einzelplan Justiz verteilt haben. Das Volumen dieser Anträge ist selbst in Relation zu den kleinen Einzelplänen - sie machen wenig mehr als ein Tausendstel des Gesamthaushalts aus - geringfügig. Wichtig bei den Beratungen war das Deutsche Patent- und Markenamt. Hier werden bundesweit die Patente und Marken angemeldet. Während der Beratungen gab es einerseits den Antrag von der Fraktion der Linken, die Mittel wesentlich zu erhöhen, zum anderen den Antrag der Fraktion der FDP, die Mittel wesentlich zu kürzen. Ich denke, dass wir mit dem von uns gewählten Mittelweg richtig liegen. Die Entscheidung der letzten Jahre, zusätzliche Prüfer einzustellen, trägt langsam Früchte. Die Prüfer sind jetzt ausgebildet. Der Anmeldestau der letzten Jahre bei den Patentanmeldungen kann behoben werden. Aufgrund der Komplexität der Materie ist leider nur eine langfristige Steuerung möglich. Wir haben jetzt den Turnaround geschafft und sind auf einem guten Weg. Diese Tendenz ist aus zwei Gründen sehr erfreulich: Einerseits ist das Deutsche Patent- und Markenamt für den Innovationsstandort Deutschland von herausragender Bedeutung. In keinem anderen Patentamt in Europa gehen so viele Anträge ein wie in Deutschland. Andererseits - das ist für den Haushaltsausschuss erfreulich - erwirtschaftet das Deutsche Patent- und Markenamt sogar einen kleinen Überschuss. Ich möchte am Schluss meiner Ausführungen auf die Veränderungen eingehen, die wir im kommenden Haushaltsjahr zu beraten haben. Ich nenne etwa das neu zu schaffende Bundesamt für Justiz. Wichtig bei der Reorganisation wird sein, dass wirklich Kosten gesenkt und nicht nur Beamte mit ihrem Wunscheinsatzort Bonn versorgt werden. ({13}) Ich halte die Maßnahme organisatorisch für sinnvoll. In dieser Bundesbehörde werden die Aufgaben des Bundeszentralregisters und der nichtministeriellen Bereiche des Justizministeriums gebündelt und das Bundesjustizministerium kann sich dann auf die wesentlichen Aufgaben, die ich beschrieben habe, konzentrieren. Das ist vor allen Dingen im Hinblick auf das Jahr 2007 wichtig, in dem wir die Präsidentschaft im Europäischen Rat übernehmen. Da kommen eine Menge Aufgaben auf uns zu. Ich bedanke mich noch einmal für die guten Beratungen und hoffe, dass wir die Einzelpläne 19 und 07 für das nächste Haushaltsjahr genauso kritisch und konstruktiv beraten werden. Vielen Dank. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will in Erinnerung rufen, dass wir unter diesem Tagesordnungspunkt nicht nur über den Justizhaushalt, sondern auch über den Gruppenantrag gegen die Vorratsdatenspeicherung diskutieren. ({0}) Mit unserem Gruppenantrag fordern wir die Bundesregierung auf, gegen die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung Nichtigkeitsklage vor dem Europäischen Gerichtshof zu erheben und bis zu einer Entscheidung keine Umsetzung in deutsches Recht vorzunehmen. Ich will an dieser Stelle allen 130 Kolleginnen und Kollegen, die diesen Gruppenantrag unterstützen, ganz ausdrücklich danken. ({1}) Es zeugt nicht von großem Mut und parlamentarischem Selbstbewusstsein, dass sich trotz mannigfacher Zustimmung hinter vorgehaltener Hand bis heute keine Kollegin und kein Kollege der Koalition zur Unterstützung bereit gefunden hat. Der Deutsche Bundestag hat sich in der letzten Legislaturperiode eindeutig und einstimmig dagegen ausgesprochen, dass in der EU und in Deutschland von Privatfirmen Daten der Telekommunikation auf Vorrat gesammelt und den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung gestellt werden müssen. Grundlegende rechtstaatliche Bedenken, besonders hinsichtlich des Schutzes von persönlichen Daten von Abermillionen von Menschen, waren dafür ausschlaggebend. Auch wenn die jetzige große Koalition hierbei inzwischen eingeknickt ist, in einem Punkt herrscht in diesem Hause immer noch Einigkeit: Die Speicherung von Daten auf Vorrat und deren Zurverfügungstellung für Strafverfolgungsbehörden ist keine Frage, die mit der Regelung des Wettbewerbs im Binnenmarkt zu tun hat, sondern das gehört zum Strafrecht, zum Strafverfahrensrecht und in den Bereich der Gefahrenabwehr. Die Regelung von Normen im Bereich der Strafverfolgung gehört nicht zur originären Kompetenz europäischer Gesetzgebung. Nach Art. 5 des EG-Vertrages wird die Gemeinschaft nur im Rahmen der ihr zugewiesenen Befugnisse tätig. Sie kann und darf sich selbst keine Kompetenzen zuweisen. Nur mit Zustimmung aller Mitgliedstaaten im Rat kann die Kommission im Wege von Rahmenbeschlüssen auf eine Harmonisierung nationaler Vorschriften hinwirken, die damit jedoch nicht europäisches Recht werden, sondern nationales Recht bleiben. Im ersten Entwurf hinsichtlich der Speicherung von Telekommunikationsdaten - damals war es noch ein Rahmenbeschluss - hieß es, dass damit die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen geregelt werden soll. In der inzwischen verabschiedeten Richtlinie vom 15. März 2006 steht, dass damit sichergestellt werden soll, dass die Daten zum Zwecke der Ermittlung, Feststellung und Verfolgung schwerer Straftaten zur Verfügung stehen. Jedem wird klar, dass Kommission und Rat im laufenden Gesetzgebungsverfahren zwar die Pferde gewechselt haben, der zu ziehende Wagen aber der gleiche geblieben ist. Zur Regelung eines identischen Sachverhalts wurde erst ein Rahmenbeschluss angestrebt und dann mit Zustimmung des Europäischen Parlaments eine Richtlinie durchgesetzt. Nun gibt es Stimmen, die sagen, für eine einwandfreie Rechtsgrundlage auf europäischer Ebene sei es zweitrangig, was man als Grundlage nimmt, wenn nur das Europäische Parlament an dem Verfahren beteiligt ist. Ich meine, dass wir als Initiatoren des Gruppenantrages deswegen eine Antwort auf die Frage schuldig sind, warum wir trotz der Beteiligung des Europäischen Parlaments darauf bestehen, dass die Kompetenzregeln der Europäischen Gemeinschaft nicht beliebig austauschbar sind, sondern strikt eingehalten werden müssen. Zwei Argumente sprechen dafür: Bei den Kompetenzregeln handelt es sich um rechtsstaatliche Grundlagen der Europäischen Gemeinschaft. Es würde politischen Opportunitätserwägungen und in der Konsequenz jeder Willkür Tür und Tor geöffnet, wenn sich die Gesetzgebungsorgane der Europäischen Gemeinschaft nicht an die ihnen zugewiesenen Kompetenzen halten würden. Es geht um den Schutz der Bürger- und Grundrechte in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen; das ist zentral. Normen der Strafverfolgung - um die geht es - können nur da rechtsstaatlich eingehegt werden, wo ihnen verfassungsrechtlich garantierte Grundund Bürgerrechte gegenüberstehen, die auch von einem durchsetzungsstarken Verfassungsgericht geschützt werden. Deswegen sind wir nur bereit, die Gesetzgebungskompetenz auf diesem besonders sensiblen Feld auf Europa zu übertragen, wenn dies Hand in Hand mit der Konstituierung europäischer Grund- und Bürgerrechte und einer europäischen Gerichtsbarkeit geht. Deshalb beharren wir darauf, dass wir uns im konkreten Fall gegen eine europäische Richtlinie wenden, auch wenn ihr das Europäische Parlament mehrheitlich zugestimmt hat, weil die Europäische Gemeinschaft keine Kompetenz auf dem Gebiet der Strafverfolgung hat. Die Kommission und der Rat haben ihr Vorgehen damit begründet, dass sie damit einen europarechtlichen Besitzstand verteidigen würden. Die Grundlage hierfür sehen sie in Art. 95 des EG-Vertrages, der die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkes behandelt. Ich meine, mit Verlaub, dass einer solchen Argumentation der Unsinn auf der Stirn geschrieben steht, ({2}) und zwar auch dann, wenn jetzt zwei Gutachten auf europäischer Ebene dies angeblich rechtfertigen. Inzwischen liegen uns die Gutachten, die die ganze Zeit gesperrt waren, vor. Sie sind juristisch absolut jämmerlich und haben reinen Gefälligkeitscharakter. Es ist eine Absurdität, dass man mit der Datenschutzrichtlinie aus dem Jahre 2002, die die Mindestnormen zum Datenschutz festlegt, nun die Untergrabung und den Abbau des Datenschutzes begründen will. Es ist ebenfalls eine Absurdität, dass man jetzt deswegen, weil private Unternehmer gezwungen werden, Daten auf Vorrat zu speichern, sagt, dass dies zur Gewährleistung eines sauberen Wettbewerbs europarechtlich, über europäische Normen, zu regeln ist. ({3}) Wir sind der Überzeugung, dass der Europäische Gerichtshof, der bereits im Verfahren zu den Flugpassagierdaten ein analoges Problem zugunsten der Grundrechte der Menschen und zulasten einer willkürlichen Rechtsgrundlage der europäischen Rechtssetzung gelöst hat, auch in diesem Falle richtig entscheiden würde. Es kommt jetzt darauf an, dass Sie, meine Damen und Herren von der großen Koalition, uns helfen, die Bundesregierung zu bitten, Klage vor dem Europäischen Gerichtshof einzureichen. Dies würde konsequent zu unserer Haltung im letzten und in diesem Parlament passen, weil wir bisher immer einstimmig die fehlenden Grundlagen dieser Richtlinie gerügt haben. Deswegen bitte ich Sie: Gehen Sie noch einmal in sich, prüfen Sie, ob es nicht sinnvoller wäre, dass dieses Haus heute gemeinsam vor den Europäischen Gerichtshof zieht! Denn damit würden wir vermeiden, hinterher der Gelackmeierte zu sein, der von anderer Stelle gesagt bekommt, dass wir schon wieder auf eine falsche Rechtsgrundlage abgestellt haben. Danke schön. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Montag, die Flexibilität ist zwar groß, aber irgendwo hat sie Grenzen. Ich kann mich erinnern: Ich glaube, es war im Februar dieses Jahres, als der Deutsche Bundestag - ich meine, es war einstimmig - die Bundesregierung aufgefordert hat, dieser Richtlinie, gegen die nunmehr geklagt werden soll, im Ministerrat zuzustimmen. ({0}) - War das nicht richtig?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Montag? ({0})

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Ja.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin, es tut mir Leid, dass ich Sie korrigieren muss. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir in der 15. Legislaturperiode, als wir gemeinsam in der Regierungskoalition waren, sowohl die Vorratsdatenspeicherung abgelehnt als auch die Rechtsgrundlage gerügt haben? Mit dem neuen Beschluss des Deutschen Bundestages geben Sie in der 16. Legislaturperiode gegen die Stimmen der Opposition - ausschließlich mit den Stimmen der großen Koalition - grünes Licht für die Vorratsdatenspeicherung auf europäischer Ebene. Die Koalition selbst stellt aber in ihrem Antrag unter Nr. 13 fest, dass Bedenken im Hinblick auf die Rechtsgrundlage bestehen.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Ich bin gerne bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich richtig erinnere. ({0}) Ich weiß nur - insofern ist meine Erinnerung richtig -, dass wir vielfältig über die Rechtsgrundlage diskutiert und immer das Hohe Haus sorgfältig informiert haben. ({1}) Es gab immer einen Konsens darüber, dass es besser ist, wenn sich die deutsche Bundesregierung in Brüssel an den Diskussionen über die Richtlinie, die Verordnung bzw. den Rahmenbeschluss beteiligt und versucht, sie inhaltlich zu gestalten, als wenn sie sagt: Wenn ihr bestimmte Rechtsgrundlagen heranziehen wollt, dann machen wir nicht mehr mit und klinken uns aus der Diskussion aus. - Letzteres zu vermeiden, war unser Ansinnen. Auf Brüsseler Ebene haben wir all das, worüber wir immer materiell, inhaltlich diskutiert haben, umgesetzt: Wir haben die Speicherdauer auf das geringstmögliche Maß - sechs Monate - reduziert; wir haben den Umfang der Daten, die gespeichert werden sollen, auf das geringstmögliche Maß reduziert. All das, was seinerzeit auf EU-Ebene vorgesehen war - beispielsweise die Speicherung von Anrufversuchen -, haben wir in harten Verhandlungen abgewehrt. Ich habe nicht nur scherzhaft gesagt, Deutschland habe den Oscar für den größten Widerstand auf Brüsseler Ebene im letzten Jahr erhalten. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - sie haben wirklich einen exzellenten Job gemacht - haben es geschafft, vieles von dem, was intendiert war, abzuwehren. Es gab auf der Ebene des Rates unter der englischen Präsidentschaft mehrere Rechtsgutachten - nicht die, die Sie eben genannt haben -, in denen es hieß, dass die nunmehr gewählte Rechtsgrundlage besser sei als die andere. Wir haben notgedrungen dabei mitgemacht, um die materielle Position nicht zu untergraben. Sie brauchen aber keine Sorgen zu haben; denn der Europäische Gerichtshof wird sich mit der Rechtsgrundlage beschäftigen. Irland wird nämlich auf alle Fälle klagen. Insofern wird das, was Sie anstreben, gemacht, selbst wenn wir nicht dafür eintreten. Es wäre völlig unsinnig, einen Verhandlungserfolg, den wir so hart erkämpft haben, nunmehr zu beklagen. ({2}) Es ist auch in der Sache nicht nötig; denn das Ergebnis, das wir erzielt haben, beschneidet keine Bürgerrechte. Es ginge jetzt allenfalls um die Frage der reinen Rechtslehre: Was ist die richtige Rechtsgrundlage? Dass es sich darüber oft zu streiten lohnt, will ich Ihnen gerne zugestehen. Jetzt sollten wir die anderen Punkte, die - außer dem kommenden Fußballspiel - heute zur Diskussion stehen, ansprechen. Ein Thema ist die erste Lesung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung. Wir haben in der Aktuellen Stunde am 11. Mai darüber ausführlich diskutiert. Ich möchte auf zwei Punkte besonders hinweisen: Erstens. Der Kompromiss der Koalition steht. Zusammen mit der Stellungnahme des Bundesrates vom vergangenen Freitag stellt er die Grundlage für die weitere parlamentarische Beratung dar. Zweitens: Eine Bitte. Lassen Sie uns die parlamentarischen Beratungen zügig abschließen. Sie wissen, dass wir uns in erheblichem Zeitverzug befinden und uns massive Strafzahlungen von Brüssel drohen. Ich meine, dass wir die parlamentarischen Beratungen zügig abschließen können, denn wir haben bei diesem Thema kein Erkenntnisdefizit. Deshalb brauchen wir auch keine Anhörung zu diesem Gesetzentwurf. Sie wissen - ich habe es am 11. Mai ausführlich dargelegt -, was das Gesetz regeln soll. Wir setzen die Richtlinien im Wesentlichen eins zu eins um. Von der Erweiterung bei den Massengeschäften des täglichen Lebens um vier Gruppen ist keine exorbitante Klagewelle zu befürchten; so etwas zu behaupten, ist absolut übertrieben und geht an der Sache vorbei.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Seifert?

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Ja, aber kurz; ich höre dann auch früher auf.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Ministerin. Ich glaube, Fragen müssen immer kurz sein. Können Sie mir bitte erklären, warum in allen europäischen Ländern „Antidiskriminierungsgesetze“ verabschiedet werden, ({0}) nur in Deutschland ein „Gleichbehandlungsgesetz“? ({1}) Gibt es denn in Deutschland keine Diskriminierung? Oder fürchten Sie den Begriff? Oder was ist sonst der Grund?

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Materiell ist es derselbe Regelungsgehalt, es gibt keine Differenz: Es geht um die Umsetzung der europäischen Richtlinien, bei der wir, wie ich glaube, richtig gehandelt und zu der wir vernünftige Vorschläge gemacht haben. Die Frage ist nur, wie man das Ganze nennt. Noch einmal: Ich wäre sehr dankbar, wenn wir dieses Gesetz zügig verabschieden könnten; denn Sie wissen, dass uns Strafzahlungen drohen und dass wir handeln müssen. Ich will einen weiteren Gesichtspunkt ansprechen, der bei der ersten Lesung unseres Haushalts eine Rolle gespielt hat. Damals war es der Kollege Montag, der kritisiert hatte, dass die Gesamtausgaben für das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2006 um 1 Million Euro abgesenkt würden. Heute hat der Kollege Nešković dieses auch noch einmal behauptet. ({0}) - Das ist nur die folgerichtige Aufzählung derjenigen, die kritisieren und denen ich die Lektüre der Haushaltspläne ans Herz legen würde. Wenn Sie sie lesen, wird sich Ihnen nämlich erhellen, dass dieser Betrag auf die Absenkung eines Bautitels zurückgeht. Sie wissen vielleicht - wenigstens Herr Montag weiß es; er war ja kürzlich mit mir in Karlsruhe -, dass das Bundesverfassungsgericht einen Erweiterungsbau errichtet. Dafür gibt es einen speziellen Bautitel. Dieser Bautitel wird, wie das immer ist, mit dem Baufortschritt abgeschmolzen. Das Bauwerk wächst, der Bautitel schmilzt, ({1}) genauso ist es auch hier: Es gibt im Haushalt 1 Million Euro weniger, weil das Bauwerk Fortschritte macht. Ohne diesen Bautitel hat das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2006 sogar über rund 200 000 Euro mehr verfügt als im letzten Jahr. ({2}) Ich sage das auch deshalb, weil der Präsident des Bundesverfassungsgerichts kürzlich öffentlich darüber geklagt hat, dass die Anzahl der eingehenden Klagen in den ersten fünf Monaten des Jahres 2006 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 25 Prozent gestiegen sei. Das könnte den Schluss nahe legen, man habe erheblich mehr Klagen zu bearbeiten, bekomme aber zur Erledigung der Verfahren weniger Geld. Das ist nicht der Fall. Deswegen ist eine solche global geäußerte Rechtsstaatskritik, die darin gipfelt, dass selbst das höchste deutsche Gericht nicht mehr genug Geld habe, um die Verfahren zu behandeln, leider fehlerhaft und geht an der Sache vorbei. ({3}) Meine Damen und Herren, ich hatte an und für sich vor, einen größeren rechtspolitischen Exkurs über die Bedeutung der Rechtsordnung Deutschlands zu machen; den gebe ich jetzt aber zu Protokoll und wünsche Ihnen allen einen schönen Nachmittag.1) ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Montag. ({0})

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir sehen uns nachher beim Fußball wieder, aber noch ist es nicht so weit. Frau Bundesministerin, Sie haben in Ihrer Rede ge- rade gesagt, dass die Richtlinie zur Vorratsdatenspei- cherung, die Sie ausverhandelt haben und die letztend- lich ins europäische Gesetzblatt hineingeschrieben worden ist, die Rechte der Bürger nicht mehr beschnei- den würde. Diese Aussage von Ihnen ist, um es milde zu formulieren, kühn: Immerhin führt diese Richtlinie dazu, dass von Millionen von Menschen, gegen die keinerlei 1) Anlage 2 Tatverdacht besteht, für die Dauer von sechs Monaten - in Deutschland; in anderen Staaten vielleicht länger viele persönliche und sensible Daten gespeichert werden. Ich meine, dass eine solche Speicherung nach dem Datenschutzrecht und nach allgemeinem Rechtsverständnis für sich bereits ein erheblicher, grundrechtsrelevanter Eingriff in die Rechte der Bürger ist. Zum Zweiten haben Sie gesagt, dass die von mir angesprochenen beiden Gutachten auf der europäischen Ebene nicht die einzigen seien, die es gebe und durch die die These bestätigt würde, dass die gewählte Rechtsgrundlage für Europa die richtige sei. Dazu will ich Ihnen sagen, dass wir uns über Monate hinweg um alle möglichen Gutachten in dieser Frage bemüht haben. Nachdem wir lernen mussten, dass auf europäischer Ebene Rechtsgutachten Geheimsachen sind, und es uns gelungen ist, zwei von ihnen entpflichtet zu bekommen, damit wir sie lesen können, wären wir Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns auch alle anderen Schriftstücke und Rechtsgutachten benennen, damit wir diese studieren und dann vielleicht zu einer Einschätzung kommen können. Zum Schluss will ich Sie selbst zitieren und Ihnen sagen, dass ich mich über das gefreut habe, was Sie nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Übermittlung der Flugpassagierdaten gesagt haben. Ich darf Sie zitieren: Für die Vorratsdatenspeicherung steht nun das Klageverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof offen. - Um nichts anderes bitten wir Sie. Wir erwarten von Ihnen als Bundesregierung, dass Sie jetzt vor dem Europäischen Gerichtshof klagen; denn nur Sie sind klageberechtigt. ({0})

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Herr Montag, es geht nicht um die Speicherung einer Vielzahl sensibler Daten, sondern es geht um die Frage, wer mit wem eine Verbindung gehabt hat. Um das noch einmal ganz klar zu sagen: Es geht überhaupt nicht um Inhalte. Diese werden nicht gespeichert. Sie wissen, dass 90 Prozent dieser Daten auch heute schon gespeichert werden. ({0}) In Deutschland ist das so. In Deutschland ist die Telekom der größte Anbieter und bei der Telekom werden alle diese Daten, über die wir jetzt reden, längst zu Abrechnungszwecken gespeichert. ({1}) Man kann doch nicht so tun, als sei das alles nicht die Wirklichkeit in diesem Land. ({2}) Das ist doch irgendwann auch naiv und völlig übertrieben. Lassen Sie uns gerne darüber diskutieren, was Eingriffe sind! Aber nehmen Sie auch zur Kenntnis, was hier im Einverständnis aller Telefonbenutzer geschieht! Die Menschen wissen, dass ihre Daten zu Abrechnungszwecken gespeichert werden. Das müssen sie nämlich erfahren, wenn sie diese Verträge unterschreiben. Die Strafvollzugsbehörden können auch heute schon auf diese Daten zugreifen. Das ist in der Strafprozessordnung so vorgesehen. Das nur zu der Frage der Vielzahl sensibler Daten. ({3}) Bezüglich der Gutachten will ich mich im Hause gerne kundig machen, damit wir abgleichen können, welche Gutachten gemeint sind. Ich hatte Sie vorhin inhaltlich anders verstanden. Vielleicht habe ich Sie da aber auch missverstanden. Es bleibt dabei: Ich meine, dass wir für Deutschland und für die Sache extrem gute Ergebnisse in Brüssel erzielt haben. Deshalb werden wir dieses Ergebnis jetzt nicht beklagen, weil es in der Sache nicht besser werden wird. Wir haben keinen Grund, diese Klage jetzt anzustrengen. Wir müssen sehen, dass aufgrund der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs objektiv zur Kenntnis zu nehmen ist, dass sich offenbar, vielleicht oder wie auch immer eine Meinungsänderung beim EuGH vollzieht. Ich bin Juristin und kann die Entscheidungen lesen. Dass Ergebnisse offener sind, als sie es vorher waren, ist dann halt so. Das kann ich nicht inkriminierend finden. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Mechthild Dyckmans für die FDP-Fraktion. ({0})

Mechthild Dyckmans (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003752, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben von der Frau Justizministerin schon einiges zum Entwurf des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes gehört. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie werden mir und Ihren Wählerinnen und Wählern, die zum Teil heute hier auch zuhören, aber erst einmal schlüssig erklären müssen, warum Sie dieses Gesetz, das Sie noch vor einem Jahr heftigst bekämpft haben, jetzt gemeinsam mit der SPD, dem Bündnis 90/Die Grünen und eventuell vielleicht sogar mit der Linkspartei verabschieden wollen. ({0}) In der Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin am 30. November 2005 noch erklärt - ich zitiere -: Wir haben uns vorgenommen, die EU-Richtlinien im Grundsatz nur noch eins zu eins umzusetzen … Wenn wir uns zusätzlich zu dem, was wir in Europa vereinbaren - das ist oft schon bürokratisch genug; das muss ich leider sagen -, Lasten aufbürden, dann haben wir gegenüber unseren europäischen Mitbewerbern keine fairen Chancen. Das, was die Bundeskanzlerin damals gesagt hat, ist auch heute noch richtig. Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/ CSU-Fraktion, Herr Röttgen, hat noch im Januar 2006 erklärt: Den alten Gesetzentwurf wird es mit der neuen Regierung nicht mehr geben. Der Gesetzentwurf hat jetzt zwar einen neuen Titel, den sich viele von Ihnen noch nicht merken können, aber inhaltlich ist er derselbe geblieben. Ich habe hier eine Synopse vorliegen. Das, was farbig markiert ist, hat sich geändert. Wie Sie sehen, ist das sehr wenig. Inhaltlich hat sich gar nichts geändert; das wissen Sie auch, meine Damen und Herren von der CDU/CSU. ({1}) Nun sagen Sie natürlich immer wieder: In einer Koalition muss man Kompromisse machen. - Wer weiß das besser als wir von der FDP? ({2}) Aber selbst die Frau Justizministerin muss von Ihrem plötzlichen Einlenken sehr überrascht gewesen sein. Sie hat noch im Dezember 2005 im Hinblick auf das Antidiskriminierungsgesetz bekräftigt, dass man sich im Koalitionsvertrag geeinigt habe, Richtlinien nur noch eins zu eins umzusetzen. ({3}) Dass diese plötzliche politische Kehrtwendung nicht zu erklären ist, zeigt auch die Reaktion der unionsgeführten Länder im Bundesrat. In ihrer Stellungnahme zum Entwurf eines Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes haben die Länder am vergangenen Freitag nur zu deutlich gemacht, was sie von dieser Kehrtwendung halten. Sie fordern eindeutig eine Änderung des Gesetzes und eine Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinien. Frau Ministerin, ich habe gehört, dass diese Stellungnahme des Bundesrates Grundlage der Beratungen sein wird. Ich bin gespannt, wie Sie, meine Damen und Herren von CDU und CSU, dieser Aufforderung der Ministerpräsidenten nachkommen. Bei einer namentlichen Abstimmung, die wir von der FDP fordern werden, müssen Sie dann Farbe bekennen. ({4}) Sie wollen diesen Gesetzentwurf jetzt im Schnellverfahren ohne eine zusätzliche Sachverständigenanhörung durch den Bundestag jagen. Der Hinweis auf die Strafzahlungen greift nicht. Noch nie hat der EuGH Strafzahlungen festgesetzt, wenn sich ein Mitgliedstaat unmittelbar im Umsetzungsverfahren befunden hat. ({5}) Das ist also kein Grund. Sie können es nicht auf die EU schieben. ({6}) Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie handeln nach dem Motto: Augen zu und durch! Der Gesetzentwurf soll schnell vom Tisch, damit Sie sich nicht mehr damit beschäftigen und Rede und Antwort stehen müssen, warum Sie jetzt genau das Gegenteil von dem machen, was Sie noch bis Januar dieses Jahres gesagt haben und was Sie überwiegend auch heute noch hinter vorgehaltener Hand für richtig halten. So kann man sich nicht aus der Verantwortung stehlen. ({7}) Ich komme jetzt zu einigen Einzelheiten des Gesetzentwurfs. Wenn ich im Bundestagswahlkampf meinem Kollegen Dr. Gehb vorhergesagt hätte, er werde einmal dem von der SPD vorgeschlagenen Klagerecht der Gewerkschaften zustimmen, hätte er mich für verrückt erklärt. ({8}) - Du hättest es wahrscheinlich noch drastischer ausgedrückt. - Aber der Gesetzentwurf enthält dieses Klagerecht sogar gegen den Willen der Betroffenen. Mich haben Frauen und Schwule angesprochen, die sich über die Bevormundung, die in diesem Gesetzentwurf steht, ausdrücklich beschwert haben. ({9}) Die weit gehenden Dokumentationspflichten der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, der hohe bürokratische Aufwand, der bei der Umsetzung des Gesetzes gefordert wird, die Verkomplizierung des Kündigungsrechts - all dies ist in den letzten Tagen immer wieder kritisiert worden. Dies haben wir in unserem Antrag im Einzelnen ausgeführt. Im zivilrechtlichen Bereich geht der Gesetzentwurf weit über das von der EU Geforderte hinaus. Im Zivilrecht gilt grundsätzlich Vertragsfreiheit und damit das Recht, keine Gründe dafür benennen zu müssen, einen Vertrag abzuschließen oder zu verweigern. Bundesjustizministerin Frau Zypries hat dazu in einer Rede am 24. Juni 2004 ausdrücklich erklärt - ich zitiere -: Die Freiheit für Bürgerinnen und Bürger in einem liberalen Staat besteht auch und gerade darin, Unterschiede zu machen und ungleich behandeln zu dürfen. ({10}) Dennoch haben wir in dem Gesetzentwurf Regelungen vorgesehen, die es einem Gastwirt, der regelmäßig seine Räumlichkeiten für Familienfeiern oder politische Veranstaltungen zur Verfügung stellt, nicht mehr erlauben werden, diese Räumlichkeiten wegen seiner eigenen politischen Überzeugung einer rechtsextremen oder linksextremen Gruppierung zu verweigern. Können wir dies wirklich wollen? Frau Zypries hat in der eben zitierten Rede zu Recht die Meinung vertreten, ein umfassendes zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz ließe sich gar nicht vernünftig regeln, jedenfalls nicht so - ich zitiere weiter -, „dass es rechtlich einen fassbaren Mehrwert bringt“. Darin kann ich Frau Zypries nur zustimmen. Dieses Gesetz bringt keinen Mehrwert. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, lassen Sie uns den Gesetzentwurf im Rechtsausschuss ordentlich beraten ({11}) und lassen Sie uns nur solche Regelungen treffen, die notwendig sind, um die EU-Richtlinien eins zu eins umzusetzen. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Gehb für die Unionsfraktion. ({0})

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte zu Beginn meiner Rede die heute schon öfter zum Ausdruck gekommene Tradition pflegen und erst einmal als Fachpolitiker allen Haushältern für ihre zeitintensive und ordentliche Arbeit danken. ({0}) Aber nicht nur für die Haushälter, sondern auch für die Mitglieder des Rechtsausschusses stellten die vergangenen Wochen und Monate eine Zeit besonderer Arbeitsbelastung dar. Schließlich fiel in diese Zeit eine besondere Premiere in unserer Parlamentsgeschichte. Ich spreche von den gemeinsamen Anhörungen des Bundesrates und Bundestages zur Föderalismusreform, die aufseiten dieses Hauses federführend vom Rechtsausschuss durchgeführt wurden. ({1}) Wie es bei Premieren üblich ist, haben alle Beteiligten auch ein bisschen Lampenfieber. Anschließend ist man glücklich und zufrieden, wenn die Premiere gut über die Bühne gegangen ist. Nach meinem Eindruck sind die Anhörungen zur Föderalismusreform gut über die Bühne gegangen. ({2}) Das Pro und Kontra zu Dutzenden von Einzelaspekten ist ausführlich beleuchtet und dargestellt worden. Ich glaube, nicht nur im Namen meiner Fraktion zu sprechen, wenn ich unserem Kollegen Andreas Schmidt als Vorsitzendem des Rechtsausschusses für seine umsichtige und kompetente Leitung über sehr viele Stunden hier und heute ausdrücklich Dank sage. ({3}) In diesen Dank sind selbstverständlich auch der Kovorsitzende Minister Stegner sowie alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Rechtsausschusses, dieses Hauses, der Fraktionen und unserer Büros eingeschlossen, die neben ihren Alltagsgeschäften zusätzlich eine Anhörung vorbereitet haben und sie auch nachbereiten werden. ({4}) Damit bin ich beim Thema. Die Nachbereitung steht nun ins Haus. Ich will ihr heute nicht im Detail vorgreifen. ({5}) Wir alle sollten allerdings bei unserer Nachbereitung nicht den Erfolg des Gesamtprojektes aus dem Blick verlieren. Schließlich geht es bei dem Reformvorhaben letztlich auch um die Reformfähigkeit Deutschlands selbst, ({6}) wie unser Altbundespräsident Roman Herzog uns allen vor wenigen Wochen noch einmal ins Stammbuch geschrieben hat. Roman Herzog erinnert in seinem Namensartikel in der „Süddeutschen Zeitung“ auch völlig zu Recht an die Konsequenzen, die bei einem Großprojekt wie der Föderalismusreform quasi unvermeidlich eintreten. Zum einen bleibt so ein Kompromiss - um einen solchen handelt es sich bei diesem Großprojekt schließlich - immer hinter einer abstrakten Ideallösung zurück. Zum anderen ist ein in so mühsamen Verhandlungen ausgehandelter Kompromiss etwas sehr Fragiles, weil die Konzessionen und Gegenkonzessionen aller Seiten so fein austariert und ausbalanciert sind, dass schon kleine Veränderungen ihn wieder aus dem Gleichgewicht kippen könnten. Ein solch umfassender und damit zwangläufig auch recht unvollkommener Kompromiss - das will ich gerne einräumen - lädt nachvollziehbar auch zu Änderungen ein. ({7}) Auch im Bereich der Justiz werden wir als Folge der Anhörung darüber reden müssen, ob beispielsweise die Regelungen zum Notariat nicht besser in der Bundeskompetenz bleiben. ({8}) Wir haben doch hier kein Schaulaufen veranstaltet! Auch bei allen denkbaren Änderungen müssen wir allerdings immer wieder darauf achten, dass wir die Feinbalance nicht gefährden. Wenn wir dies nicht tun, kann daran das Gesamtprojekt noch scheitern. Daran haben wir Christdemokraten jedenfalls gar kein Interesse. Wir wollen endlich einen besseren Zustand als den jetzigen erreichen. Wir wollen eine stärkere Entflechtung der Kompetenzen von Bund und Länder. Wenn dies mit dem vorliegenden Entwurf und den noch zu erfolgenden Änderungen machbar ist, dann sollten wir diesen Weg auch mutig und zügig beschreiten. Überrascht war nicht nur ich während der Anhörung allerdings über den Widerwillen mancher Experten, wenn es generell darum ging, Kompetenzen an die Länderebene abzutreten. Es scheint bei dem einen oder anderen schlicht in Vergessenheit geraten zu sein, dass der Leitwert in einem demokratischen Gemeinwesen Vielfalt heißt. Vielfalt ist nicht nur produktiv, sondern kann paradoxerweise auch zu einer Einheitlichkeit führen, die einer verordneten Einheitslösung haushoch überlegen ist. Dieser Fall tritt dann ein, wenn sich ein Lösungsansatz findet, der so gut und überzeugend ist, dass die anderen ihn nachahmen. Wir Christdemokraten jedenfalls stehen zur Vielfalt in einem freiheitlichen Gemeinwesen wie dem unseren. ({9}) Wer dies im Grundsatz infrage stellt oder - anders formuliert - die Einheitlichkeit über alles stellt, der sollte dann auch so konsequent sein, auf das Hohelied des Föderalismus in seinen Sonntagsreden zu verzichten, und stattdessen für das Modell eines Zentralstaats einstehen. An seiner Seite wird man uns Christdemokraten allerdings nicht finden. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass manche Leute den Föderalismus - quasi als Synonym - mit Kleinstaaterei verwechseln. Wir sollten in diesem Zusammenhang auch nicht aus den Augen verlieren, dass wir im Verhältnis zu Europa genau diese Vielfalt immer wieder für uns einfordern und uns gegenüber überzogenen oder sogar absprachewidrigen Zentralisierungstendenzen der europäischen Ebene wehren und auch weiterhin wehren wollen. An dieser Stelle möchte ich nur ein Beispiel aus diesem Monat nennen. Das Europäische Parlament debattierte über eine Beschleunigung der gegenseitigen Anerkennung und der Vollstreckung von freiheitsentziehenden Maßnahmen innerhalb der EU, ein im Kern berechtigtes und nachvollziehbares Anliegen. Mein Verständnis für die Kollegen aus dem Europäischen Parlament endet allerdings dort, wo es nach all den richtigen und wichtigen Sätzen zur besseren Harmonisierung und gegenseitigen Anerkennung in einer Mitteilung des Europäischen Parlaments lapidar heißt: Darüber hinaus soll nach Ansicht der Abgeordneten ein europäisches Strafrecht geschaffen werden. - Ohne Ihnen auf den Leim zu gehen, Herr Montag: Das Strafrecht gehört eindeutig nicht zur Kompetenz der europäischen Ebene. Es steigert auch nicht die Sympathie für Europa, wenn man den Eindruck hat, dass über Umwege doch noch der Versuch gestartet wird, diese Kompetenz an sich zu ziehen. An dieser Stelle sollten wir als nationales Parlament einmal lauthals und vernehmlich Nein sagen, auch gegenüber unseren Kollegen im Europäischen Parlament. Nun weiß man allerdings, dass über die Bande Europas noch ganz anders gespielt wird, und zwar schon zu Zeiten von Gerhard Schröder und Joschka Fischer. Jetzt komme ich auf die Antidiskriminierungsrichtlinien zu sprechen. Unser Land hat schlicht und einfach die Pflicht, die vier allseits bekannten Antidiskriminierungsrichtlinien umzusetzen. Frau Dyckmans, liebe Mechthild, ({10}) ich nehme gerne deinen Ball auf, ohne dass ich dich jemals in deinem Wahlkreis für verrückt erklärt hätte. ({11}) Ich habe bei keiner Gelegenheit einen Hehl daraus gemacht, dass ich bereits in den Antidiskriminierungsrichtlinien - ohne Ansehen ihrer Umsetzung - einen fundamentalen Angriff auf unser kontinentaleuropäisches Rechtssystem sehe; dazu stehe ich auch in Zukunft. ({12}) Aber das ändert nichts daran - das zeigt die Perfidie; die Richtlinien sind ja nicht vom Himmel gefallen -, dass uns die Exekutive häufig - weil sie weiß, dass sie im eigenen Parlament keine Mehrheit bekommt - geschickt über den Tauchsieder Europa Richtlinien zuspielt und dass wir dann sagen müssen: Hier stehe ich und kann nicht anders. So wird es auch beim Gleichbehandlungsgesetz sein. Es gibt noch anderes Recht, das uns von Europa oktroyiert wird und unter dem wir sehr leiden. Unser nationales Planungsrecht, sowohl das materielle als auch das verfahrensrechtliche, ist nicht beim Justizministerium angesiedelt; vielleicht wird sich Frau Zypries dieses Problems noch einmal annehmen. Das führt dazu, dass bei uns keine Landesstraße innerhalb von 15 Jahren gebaut wird. Meistens dauert es über 30 Jahre. Ich wohne in Kassel an der A 44 und der A 49. Die A 49 dümpelt jetzt schon seit 21 Jahren im Nirwana vor sich hin. Sie endet in einer So-da-Brücke. Wenn ich gefragt werde: „Was ist eigentlich eine So-da-Brücke?“, antworte ich: Das ist eine Brücke, die steht nur so da. Die A 44 ist im 17. Jahr nach der Wiedervereinigung gerade mal auf einem Streckenabschnitt von drei Kilometer Länge fertig gestellt, was mit großem Tamtam begangen wurde. Während in anderen europäischen Ländern bei entsprechenden Projekten schon zum zehnten Mal der Straßenbelag gewechselt wird, fahren wir immer noch mit dem Finger auf der Landkarte herum und überlegen, wie wir die Kammmolche und den Ameisenbläuling schützen können. So fahren die 30-Tonner weiter an den Gartenzäunen vorbei, dass den Menschen die Tassen aus dem Schrank fallen. ({13}) Damit lösen wir uns von unserem europäischen und deutschen anthropozentrischen Weltbild. Das darf nicht sein. Deswegen appelliere ich an die Justizministerin, das Planungsrecht endlich so zu entschlacken, dass der Standortvorteil Deutschlands nicht so verspielt wird, wie der Erfolg verspielt werden würde, wenn dem Ballack als Mitglied der Fußballnationalmannschaft heute Nachmittag auch noch eine Eisenkugel an den Fuß gebunden würde. ({14}) Ich werbe insgesamt - ganz bewusst nicht nur an diesem Punkt - für etwas mehr Mut. Das gilt auch für das Gesellschaftsrecht, das schon angesprochen worden ist. Auch hier befinden wir uns im internationalen Wettbewerb mit anderen Rechtsordnungen. Da muss man überlegen, ob die ach so löbliche GmbH-Novelle, wie sie jetzt im Referentenentwurf vorliegt - ich finde sie auch in Ordnung -, dem bereits Genüge tun wird oder ob es vielleicht noch das eine oder andere daneben geben kann. Ich werbe also insgesamt für etwas mehr Mut. Alle reden in Sonntagsreden immer davon, dass man die Dinge mutig anpacken soll, und im Alltag verlieren alle dann den Mut. Wenn sich unsere Welt ändert - sie ändert sich rasant -, müssen wir hierauf zukunftstaugliche Antworten geben. Ich weiß, dass zukunftstaugliche Antworten nicht immer sofort den Beifall aller finden, manchmal deshalb nicht, weil sie einfach neu sind oder im Augenblick nicht ganz angenehm sind. Aber vergessen wir nicht, dass sie die notwendigen Weichenstellungen für eine gute Zukunft sind! Für diese gute Zukunft arbeiten wir in der großen Koalition unter Leitung unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel und auf dem Feld der Rechtspolitik in gutem Zusammenwirken mit der Justizministerin Brigitte Zypries. Herzlichen Dank. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat der Kollege Volker Beck das Wort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zur ersten Lesung des Antidiskriminierungsgesetzes oder des Gleichbehandlungsgesetzes - so heißt es ja unter neuer Verpackung - reden und Ihnen massiv widersprechen, Herr Kollege Gehb. Einen Angriff auf kontinentaleuropäische Rechtsgrundsätze kann ich in den vier Richtlinien der Europäischen Union nicht erkennen. ({0}) Gehören Frankreich und die Niederlande jetzt nicht mehr zu Kontinentaleuropa? Haben Sie die Länder zu Inselstaaten erklärt? Warum hatten diese Länder in Bezug auf die Richtlinien überhaupt keinen Umsetzungsbedarf? Weil in den Niederlanden seit den 80er-Jahren ein zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz gilt, so wie wir es jetzt auf dem Tisch liegen haben, und in Frankreich diese Normen, was ich für falsch halte, sogar von strafrechtlicher Relevanz sind. Es gehört zum selbstverständlichen Grundbestand der Republik, dass die Freiheit da aufhört, wo sie nur noch Freiheit ist, willkürlich zu diskriminieren und Menschen vom Arbeitsmarkt oder Zugang zu Gütern und Dienstleistungen auszuschließen. Es muss doch klar sein, dass jeder Mensch in dieser Gesellschaft die gleichen Chancen haben muss. Dem dient der Entwurf des Gleichbehandlungs- oder Antidiskriminierungsgesetzes. ({1}) Lieber Kollege, ich gestehe allerdings, dass wir die europäische Ebene tatsächlich genutzt haben. ({2}) 1990 hat unsere Fraktion eine erste Fassung für ein Antidiskriminierungsgesetz entworfen. 1991 habe ich für eine NGO einen ersten Entwurf für eine Antidiskriminierungsrichtlinie geschrieben, deren wesentliche Elemente heute europäische Gesetzgebung sind. In der Tat, wir haben auf allen Ebenen versucht, Gleichbehandlung durchzusetzen, weil das in Deutschland so schwierig ist. Es gibt kein Land in der Europäischen Union, in dem es so ein ideologisches Buhei um die selbstverständliche Umsetzung dieser Grundsätze gibt wie in unserem Land. Mittlerweile haben Sie realisiert - das haben Sie in Ihrer Rede zu erkennen gegeben; kürzlich hat es auch Ihr Parlamentarischer Geschäftsführer zugestanden -: 90 Prozent dessen, was hier auf dem Tisch liegt, ist Recht europäischer Richtlinien. Dagegen haben Sie im Wahlkampf eine Kampagne geführt und jetzt - Regieren macht immer klüger - müssen Sie gestehen, dass Sie gar nicht die Freiheit haben, davon abzuweichen. Die einzige Abweichung, die der nationale Gesetzgeber vornehmen kann, liegt in der Entscheidung, ob er für alle Kriterien des Art. 13 des Amsterdamer Vertrages oder nur für Geschlecht, ethnische Herkunft und Rasse den zivilrechtlichen Diskriminierungsschutz formuliert. Dass Sie von der FDP wie auch der Bundesrat auf der Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie herumreiten, verstehe ich nicht. Sie können doch nicht allen Ernstes sagen, die Freiheit unserer Marktwirtschaft und unser Wirtschaftswachstum hänge daran, dass man Schwule oder Lesben, dass man Juden, Muslime oder Christen, dass man Behinderte, Alte oder Junge beim Abschluss von Versicherungs-, Miet- und Hotelverträgen diskriminieren darf. Sie wollen doch nicht den Leuten draußen ernsthaft sagen, dass das Wirtschaftswachstum davon Volker Beck ({3}) abhänge, ob man solche Menschen diskriminieren darf oder nicht. ({4}) Sie haben ja gerade über Gaststätten geredet; lassen Sie mich dazu sagen: Ich habe mich damals tierisch aufgeregt, als in München den Verwandten eines Rabbi am Vortag ihrer Familienfeier von einem Gaststättenbesitzer unter Hinweis auf ihre jüdische Religionszugehörigkeit die Räume gekündigt wurden und die Familienfeier nicht in der Gaststätte stattfinden konnte - das nach unserer Geschichte! Ich will nicht, dass so etwas in Deutschland rechtens ist. Deshalb ist es richtig, dass wir den entsprechenden gesetzgeberischen Schritt unternehmen. ({5}) Die Koalition hat ja nicht nur den Namen unseres Antidiskriminierungsgesetzes geändert - ich weiß ja, wie es manchmal zwischen Koalitionspartnern zugeht -, sondern auch in einigen Punkten etwas gerupft. Hier möchte ich Sie warnen: Wenn mit der Beschneidung der zivilrechtlichen Rechte der Verbände bzw. dem Herausstreichen des Abtretens von Rechten an Verbände und mit der Streichung des Kontrahierungszwanges bei Versicherungsverträgen ({6}) tatsächlich eine rechtliche Änderung bewirkt werden soll, werden Sie, wie ich glaube, ein Problem bekommen; denn zivilrechtliche Vorgaben werden dann nicht mehr vollinhaltlich durch dieses Gesetz umgesetzt. Ich denke, das sollten wir noch intensiv diskutieren. Trotzdem möchte ich der Bitte der Justizministerin gerne nachkommen. Auch ich denke, wir sollten das Gesetz nicht länger aufhalten, sondern jetzt schnell durch den Bundestag bringen. Es muss dazu vorher keine langatmige Anhörung stattfinden, da zwischen uns rein politische Divergenzen bestehen. Sobald aber das Gesetz im Gesetzblatt steht, möchte ich Sie bitten, auf der Basis von Anträgen unserer Fraktion noch einmal mit uns darüber zu reden, ob nicht an einigen Punkten im Sinne einer vollständigen Umsetzung der Richtlinie nachgearbeitet werden sollte. Dazu könnte man noch einmal eine Anhörung durchführen. Hierdurch sollte aber der Fortgang der Gesetzgebung nicht behindert werden. Zum Schluss noch ein Wort zum weiteren Verfahren: Die Bundesländer haben ja angekündigt, dass sie gerne im Vermittlungsausschuss nachverhandeln möchten. Ich ermutige die Sozialdemokraten und die von Angela Merkel angeführte Bundesregierung: Lassen Sie sich nicht auf diese zweite Runde ein. Die grüne Fraktion hilft Ihnen notfalls aus, wenn Ihnen die Leute aus der CDU/CSU-Fraktion weglaufen. Das machen wir ja sonst nicht. ({7}) Bei der Zurückweisung eines entsprechenden Einspruchs des Bundesrates sind wir aber jederzeit gerne bereit, dieser Bundesregierung zu helfen, damit Frau Merkel ihr Gleichbehandlungsgesetz ungerupft durch Bundestag und Bundesrat bekommt. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege Norbert Geis das Wort. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich komme vielleicht ganz zum Schluss, wenn die Zeit noch reicht, zum Antidiskriminierungsgesetz; ich will es nicht anders bezeichnen. Lassen Sie mich aber erst ein paar andere Gedanken dieser sicherlich sehr interessanten Debatte hinzufügen. Zunächst ein Blick ins Strafrecht: Wenn man die Zeitungen aufschlägt, hat man manchmal den Eindruck, als würden wir in Deutschland in einem furchtbar unsicheren Land leben. Dabei - das sei auch einmal festgestellt ist die Kriminalitätsrate bei uns zurückgegangen. ({0}) Vom Jahre 2004 auf das Jahr 2005 ging allein in Bayern - für die anderen Länder kenne ich die Zahlen nicht die Kriminalitätsrate um 5,1 Prozent zurück. Auch das sollte man vielleicht bei einer solchen Debatte erwähnen. Sorgen macht uns nach wie vor die Jugendkriminalität. Unsere jugendlichen Täter sind nicht sehr kriminell, sondern sehr jung. Aus jugendlichem Übermut geschehen eben oft entsprechende Straftaten, auf die natürlich der Staat reagieren muss, aber zugleich auch mit Maß reagieren sollte. ({1}) - Gut, applaudieren Sie ruhig. Da stimme ich ja mit Ihnen überein. ({2}) Ich bin der Auffassung, dass unser Jugendstrafrecht genug Reaktionsmöglichkeiten hat, um solchen Straftaten begegnen zu können. ({3}) Allerdings - darin können Sie mir wahrscheinlich nicht folgen - muss man differenzieren. Es gibt jugendliche Gewalttäter, die nicht unter das Jugendstrafrecht fallen können, weil sie die Jugendlichkeit nicht mehr haben und die Straftat nicht mehr aus jugendlichem Übermut heraus geschieht. Wenn ein 18-Jähriger einen Jungen vergewaltigt, sexuell missbraucht und dann umbringt, dann ist das eine kriminelle Tat schwersten Ausmaßes, die entsprechend geahndet werden muss. ({4}) Deshalb sind wir dafür, bei Heranwachsenden zwischen 18 und 21 Jahren bei solch schweren Straftaten nicht die Jugendstrafe von zehn Jahren anzuwenden. In einem solchen Fall muss für den Heranwachsenden - wenn er überhaupt nach dem Jugendstrafrecht verurteilt werden kann und nicht das Erwachsenenstrafrecht anzuwenden ist, was wir für Täter ab 18 Jahren ja grundsätzlich wollen, weil man ab diesem Zeitpunkt als erwachsen gilt mindestens eine 15-jährige Höchststrafe angesetzt werden. Das sollten wir uns, glaube ich, noch in dieser Legislaturperiode vornehmen. Wir sollten uns, gerade in diesen Fällen, ebenso die Sicherungsverwahrung für Heranwachsende vornehmen. Wenn in dem Fall eines Straftäters, der mit 18 Jahren wegen einer schwersten Straftat verurteilt wurde und diese mit 28 Jahren, wenn es bei den zehn Jahren Haft bleibt, abgebüßt hat, alle Sachverständigen sagen, dass dieser Täter nach der Entlassung erneut Straftaten schwersten Ausmaßes begehen wird, dann muss es möglich sein, diesen Straftäter, auch wenn er zunächst nach Jugendstrafrecht verurteilt worden ist, später noch in die Sicherungsverwahrung zu nehmen. Das scheint mir vor allen Dingen im Interesse der Sicherheit unserer Bevölkerung wichtig zu sein. ({5}) Lassen Sie mich einen weiteren Punkt anführen. Wir hatten vor der Weltmeisterschaft die Diskussion über das Thema Zwangsprostitution, die bei uns in diesen Tagen vielleicht Platz greifen könnte. Es gibt - die UN hat diese Zahl ermittelt, aber auch das Europäische Parlament - jährlich weltweit etwa 600 000 bis 800 000 Fälle von Zwangsprostitution. Das heißt, in 600 000 bis 800 000 Fällen werden Frauen gezwungen, sich zu prostituieren; sie werden ausgenutzt wie Sklaven. Das ist bei uns strafbar; das ist wahr. Aber die Frage ist, ob wir nicht auch die Freier, die diese Situation wissentlich ausnutzen, wie beispielsweise in Schweden bestrafen. Auch darüber sollten wir einmal ernsthaft diskutieren. Lassen Sie mich noch ein Wort zum Standort Deutschland sagen. Ich glaube, dass die Rechtspolitik auch einiges für einen guten Standort Deutschland leisten kann. Wir bemühen uns darum. Es gibt die Novellierung des Urheberrechtsgesetzes, den Korb II. Ich glaube, dass das ein guter Weg ist, jedenfalls die Voraussetzungen dafür zu schaffen, das Potenzial, das wir in Deutschland haben, zu nutzen. Wir haben keine großen Ressourcen, aber von den Anmeldungen beim Europäischen Patentamt kommen 42 Prozent aus Deutschland; das heißt, wir haben ein großes Potenzial an geistigem Eigentum. Dieses geistige Eigentum muss geschützt werden; da darf es keine strafrechtliche Aufweichung geben. Es muss ein Ausgleich gefunden werden zwischen Künstler und Hersteller, zwischen Produzent und Schauspieler. Ich glaube, dass in diesem Gesetz ein guter Ansatz dafür zu finden ist. Ein weiterer Gedanke. Nach dem Karikaturenstreit wurde die Überlegung laut, ob nicht § 166 StGB erneut in die Diskussion gebracht werden sollte, weil diese Rechtsnorm offenbar nicht in der Lage ist, die Verletzung religiöser Gefühle zu bändigen. § 166 StGB ist keine leichte Norm und in der Praxis wahrscheinlich schwer umzusetzen; das sehe auch ich. Deswegen müssen wir uns überlegen, ob wir nicht eine bessere Formulierung finden. Es geht dabei nicht nur um die christlichen Kirchen, sondern auch um den jüdischen und den muslimischen Glauben. Wir können es nicht erlauben, dass Menschen bei uns einfach um sich schlagen, wenn es beispielsweise um den muslimischen Glauben geht. Was glauben Sie, was dann in Deutschland los ist? Davon wäre der Tatbestand der Verletzung des öffentlichen Friedens betroffen. Deswegen müssen wir über eine bessere Formulierung nachdenken. Das Nachdenken müsste insbesondere den Begriff „Beschimpfen“ umfassen, weil wir unter diesem weit gefassten Begriff alles fassen können. Ein weiterer Gedanke. Wir werden in dieser Legislaturperiode ganz sicher auch eine Diskussion über den Schutz des Lebens am Ende und ganz am Anfang bekommen. Wir sind noch nicht weit genug mit der Patientenverfügung. Auch zur Sterbehilfe werden wir eine Diskussion bekommen. Beim Embryonenschutz wird uns eine Diskussion wahrscheinlich von der Forschung aufgezwungen. Was ich als einen besonders großen Nachteil empfinde und was mich auch schmerzlich berührt, ist die Tatsache, dass wir bei der Problematik der Spätabtreibung immer noch nicht zu einem Ergebnis gekommen sind. Es kommt noch hinzu: Das Bundesverfassungsgericht hat uns 1993, als die Beratungsregelung eingeführt worden ist, aufgegeben, nach einer gewissen Zeit nachzuprüfen, ob diese Regelung wirklich zu einer Verbesserung des Lebensschutzes geführt hat. Diese Überprüfung fand bis heute, 13 Jahre nach dem Urteil, nicht statt. Der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts muss nun endlich ernst genommen werden. ({6}) Denn es könnte sein, dass die heutige Praxis nicht den in dem Urteil von 1993 niedergelegten Vorstellungen des Bundesverfassungsgerichtes entspricht. Es würde sich also um eine verfassungswidrige Praxis handeln. Das kann eigentlich keiner wollen. Deswegen muss zumindest eine Überprüfung vorgenommen werden. Lassen Sie mich noch ein Wort zum Antidiskriminierungsgesetz sagen. Ich bin der Auffassung, dass schon die vier Richtlinien eine Katastrophe gewesen sind. ({7}) Ich habe die Dame, die diese Richtlinien in Brüssel vorbereitet hat - es handelt sich um Frau Dr. Helfferich; sie wurde gestern in der „FAZ“ in einem hervorragend recherchierten Artikel von Zastrow erwähnt -, vor vier Wochen angeschrieben. Sie hat bis heute nicht geantwortet. Keine Antwort ist auch eine Antwort. Ich halte schon die vorliegenden Richtlinien, die wir nicht mehr ändern können, für einen großen Fehler. Aber da sie vorliegen, müssen wir sie umsetzen. Wir sollten sie aber nicht im Schnellverfahren umsetzen, Herr Beck. Ich bin dagegen, ein solch schwieriges Gesetz auf diese Weise zu behandeln. Sie verlangen viel von uns. Sie verlangen nämlich, dass wir einem Gesetz zustimmen sollen, das Sie, Herr Beck - dessen rühmen Sie sich -, formuliert haben. Sie sollten uns daher wenigstens darin zustimmen, dieses Gesetz in aller Ruhe im Rechtsausschuss zu beraten. Ich glaube nicht daran, dass uns die Brüsseler Behörde mit einer Strafregelung belegen wird. ({8}) Ich komme zum Schluss. Ich bitte Sie darum: Lassen Sie uns dieses Gesetz nicht mit der Brechstange verabschieden! Es wird sonst nur Widerspruch geben. Es wird dann vielleicht viele geben, die nicht zustimmen, ansonsten aber vielleicht zugestimmt hätten. Ich bitte um eine ruhige und sachliche parlamentarische Beratung dieses Gesetzes. Danke schön. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen. Zum Einzelplan 07 in der Ausschussfassung, Bundesministerium der Justiz, liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/1860? - Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen? Dann ist dieser Antrag gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzelplan 07. Wer stimmt für den Einzelplan 07 in der Ausschussfassung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Dann ist der Einzelplan 07 mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 19, Bundesverfassungsgericht, ebenfalls in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Dann ist der Einzelplan 19 einstimmig beschlossen. Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten I.5 c und d sowie zu Zusatzpunkt 1. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/ 1780, 16/1736 und 16/1861 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 16/1780 zu Tagesordnungspunkt I.5 c soll zusätzlich an den Ausschuss für Tourismus überwiesen werden. Die Vorlage auf Drucksache 16/1861 zu Zusatzpunkt 1 soll zusätzlich an den Ausschuss für Tourismus, jedoch nicht an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt I.5 e, zur Abstimmung über den Antrag der Abgeordneten Jerzy Montag, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Jan Korte und weiterer Abgeordneter auf Drucksache 16/1622 mit dem Titel „Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung durch den Europäischen Gerichtshof prüfen lassen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei einer Enthaltung aus der Unionsfraktion mit den Stimmen der SPD- und der Unionsfraktion abgelehnt. Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Mittwoch, den 21. Juni 2006, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.