Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/11/2006

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich und wünsche Ihnen einen guten Tag und uns gute, konstruktive Beratungen. Ich habe einige wenige amtliche Mitteilungen zu machen: Der Kollege Johannes Pflug feierte am 8. April seinen 60. Geburtstag und der Kollege Winfried Nachtwei feierte am 15. April seinen 60. Geburtstag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich zu diesen runden Geburtstagen nachträglich herzlich und wünsche alles Gute. ({0}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung der Bundesregierung zur Umsetzung der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinie ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu den Antworten der Bundesregierung auf die Fragen Nr. 26 und 27 auf Drucksache 16/1374 ({1}) ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Dr. Max Stadler, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Schlanker Staat durch weniger Bürokratie und Regulierung - Drucksache 16/119 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ZP 4 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren ({3}) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 6. November 2003 über den Schutz von Tieren beim internationalen Transport ({4}) - Drucksache 16/1346 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({5}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Brigitte Pothmer, Volker Beck ({6}), Birgitt Bender, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Ich-AG - Drucksache 16/1405 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Hänsel, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Flugticketabgabe jetzt - Entwicklungsfinanzierung auf breitere Grundlagen stellen - Drucksache 16/1203 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({8}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Hoppe, Kerstin Andreae, Marieluise Beck ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Umsetzung des EU-Stufenplans zur Entwicklungsfinanzierung ({10}) durch Flugticketsteuer unterstützen - Drucksache 16/1404 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({11}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Investitionszulagengesetzes 2007 ({12}) - Drucksache 16/1409 Redetext

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Verbraucherinformation - Drucksache 16/1408 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende - Drucksache 16/1410 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss ZP 8 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben ({3}) - Drucksache 16/1364 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({4}) Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Die Tagesordnungspunkte 6, 9, 13 und 15 werden abgesetzt und in der Folge werden die Tagesordnungspunkte 16 und 17 sowie 18 und 19 jeweils getauscht. Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 32. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5}) zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neuregelung der Besteuerung von Energieerzeugnissen und zur Änderung des Stromsteuergesetzes - Drucksache 16/1172 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({6}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Der in der 32. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7}) zur Mitberatung überwiesen werden. Antrag der Fraktion der LINKEN Für Selbstbestimmung und soziale Sicherheit Strategie zur Überwindung von Hartz IV - Drucksache 16/997 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Schließlich möchte ich den neuen Direktor beim Deutschen Bundestag, Herrn Dr. Hans-Joachim Stelzl, der hinter mir Platz genommen hat, herzlich begrüßen. ({9}) Ich wünsche ihm auch im Namen aller Kolleginnen und Kollegen viel Erfolg bei seiner verantwortungsvollen Aufgabe und verbinde das mit dem ausdrücklichen Dank an Herrn Professor Zeh für seine jahrelange verdienstvolle Arbeit hier im Deutschen Bundestag. ({10}) Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich Sie bitten, sich von den Plätzen zu erheben. ({11}) Am 30. April dieses Jahres ist Paul Spiegel, Vorsit- zender des Zentralrats der Juden in Deutschland, verstor- ben. Mit Paul Spiegel verlieren wir einen großartigen Menschen und eine bedeutende Persönlichkeit, die sich um unser Land verdient gemacht hat. Paul Spiegel wurde am 31. Dezember 1937 in Waren- dorf/Westfalen geboren. Als Deutscher jüdischen Glau- bens musste er im Kindesalter die Schrecken der Nazibarbarei erfahren. Sein Vater überlebte die Konzen- trationslager Buchenwald, Auschwitz und Dachau, seine nach Bergen-Belsen verschleppte Schwester Rosa nicht. Nachdem er im Exil in Brüssel überlebt hatte, kehrte er nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Familie nach Warendorf zurück. Paul Spiegel gehörte zu denen, die das scheinbar Un- mögliche zu tun wagten und zurückkehrten, um jüdische Gemeinden wieder aufzubauen. Die Aussöhnung von Juden und Deutschland, von deutschen Juden mit ih- rem Land, stand im Mittelpunkt seines Wirkens. Das galt Präsident Dr. Norbert Lammert für sein Engagement in der Jüdischen Kultusgemeinde Düsseldorf ebenso wie für seine Arbeit als Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland seit Januar 2000. Bereits kurz nach seiner Amtseinführung warnte Paul Spiegel angesichts der Zunahme von rechtsextremen Ge- walttaten und fremdenfeindlichen Übergriffen in Deutschland in öffentlichen Stellungnahmen vor der Gleichgültigkeit und stummen Zustimmung. Er erklärte nicht nur anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Zen- tralrats im September des Jahres 2000, dieser werde sich nicht nur für Juden, sondern auch für Flüchtlinge, für Aussiedler und für andere benachteiligte Minderheiten einsetzen. Im Juli 2001 nahm Paul Spiegel als erster Repräsen- tant der Juden in Deutschland am öffentlichen Gelöbnis der Bundeswehr im Bendlerblock in Berlin-Tiergarten teil, dem Sitz des Oberkommandos des Heeres im Drit- ten Reich. Bei dieser Gelegenheit bezeichnete er die Bundeswehr als „Teil unserer rechtsstaatlichen Demo- kratie“. Zu den Höhepunkten seiner zweiten Amtszeit nach einstimmiger Wiederwahl als Präsident des Zentralrats der Juden gehört die Unterzeichnung des Staatsvertra- ges zwischen Deutschland und dem Zentralrat im Januar 2003 in Berlin. In diesem Staatsvertrag verpflich- tet sich die Bundesregierung, das deutsch-jüdische Kul- turerbe zu erhalten und zu pflegen, zum Aufbau einer jü- dischen Gemeinschaft in Deutschland beizutragen und ihre Integration in die deutsche Gesellschaft zu unter- stützen. Paul Spiegel hat nicht geschwiegen, wenn es Anlass zur Kritik oder zur Mahnung gab. Aber er hat sich nicht zu allem und jedem geäußert. Auch deshalb hatte sein Wort so großes Gewicht und fand sein Wirken so viel Respekt. Paul Spiegel war ein deutscher Patriot. Er wird uns fehlen. Unser Mitgefühl gilt seiner Frau und seinen bei- den Töchtern sowie der Gemeinschaft der Juden in Deutschland. Wir verneigen uns in Dankbarkeit vor ei- ner Lebensleistung, die uns nicht nur in Erinnerung blei- ben, sondern auch bleibende Verpflichtung sein wird. Ich danke Ihnen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf: a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzle- rin zur Europapolitik b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian Ahrendt, Markus Löning, Michael Link ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Den Kommunen an den Grenzen zu Polen und der Tschechischen Republik die Zusammenarbeit mit diesen Ländern erleichtern - Drucksache 16/456 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({13}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über ihre Bemühungen zur Stärkung der gesetzgeberischen Befugnisse des Europäischen Parlaments 2005 - Drucksache 16/528 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({14}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung anderthalb Stunden vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel. ({15})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gute Tradition dieses Deutschen Bundestages, regelmäßig über den Stand und die Perspektiven der europäischen Einigung zu debattieren. Eine solche Debatte in dieser Woche, der Europawoche, ist nicht nur wegen dieser Tradition wichtig, sondern sie ist angesichts der Sachlage und der Situation meines Erachtens notwendig. Deshalb bin ich den Fraktionen sehr dankbar, dass sie darum gebeten haben, genau in dieser Woche über die Fragen Europas zu diskutieren; denn angesichts vieler Einzelfragen, die wir debattieren, kann man den Eindruck gewinnen, dass der Blick auf das Ganze manchmal verloren geht. ({0}) Es war richtig, dass wir vor zwei Tagen, am Europatag, noch einmal des großen Europäers Robert Schuman, des ehemaligen französischen Außenministers, gedacht und uns an seine Initiative zur Gründung der Montanunion erinnert haben. Schuman schlug vor, die für die Rüstungsindustrie notwendigen Rohstoffe Kohle und Stahl einer gemeinsamen Behörde zu unterstellen. Das war nicht irgendeine Initiative, sondern diese Initiative hat das deutsch-französische Verhältnis als ein besonderes Verhältnis begründet. Aber mit dieser Initiative sollte auch verhindert werden, dass die europäischen Staaten, allen voran Deutschland und Frankreich, je wieder gegeneinander in den Krieg ziehen. Europa als Friedensgemeinschaft - das war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nach so viel Leid und so großen Verlusten an Menschenleben, eine bahnbrechende Idee. Europa als Friedensgemeinschaft - diese Utopie wurde in den folgenden Jahrzehnten wirklich mit Leben erfüllt. Aus der Vision wurde Realität: unsere Lebensrealität. Sie alle kennen die Stichworte, die das dokumentieren: die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft von 1957, die Einführung des Binnenmarktes und einer gemeinsamen Währung für zwölf Mitgliedsländer in dem Verständnis, dass Länder, die dieselbe Währung haben, nie wieder gegeneinander antreten werden, und die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft mit heute 25 und bald 27 Mitgliedstaaten. Im Rückblick kann man feststellen: Robert Schuman hat die Beziehungen der europäischen Länder zu anderen wahrhaft revolutioniert. Es ist eine völlige Neuordnung des europäischen Staatensystems entstanden. Diese Neuordnung ist nach meiner Auffassung die größte seit dem Westfälischen Frieden. ({1}) Nach dem Fall der Mauer, mit der Osterweiterung und dem Ende des Kalten Krieges hat die Friedens- und Werteidee schließlich unseren gesamten Kontinent erreicht. Gerade wir Deutschen mit unserer Geschichte können uns gar nicht oft genug bewusst machen, dass Frieden in Freiheit wahrlich keine Selbstverständlichkeit ist. ({2}) Das ist ein Glück und es ist ein Geschenk. Dieser Frieden in Freiheit ist, weil er nicht selbstverständlich ist, auch immer wieder neu zu erarbeiten und zu verteidigen. ({3}) Wir sollten uns schon bewusst machen, dass alle guten Wendepunkte in der deutschen Nachkriegsgeschichte untrennbar mit Europa verbunden sind. Ob es die Wiedereingliederung in die Europäische Union oder die deutsche Einheit ist: Wir verdanken der europäischen Integration eine beispiellose Zeit von Frieden, Freiheit und Wohlstand. Wir sehen daran auch, dass Europa von Anfang an mehr war als nur eine Zweck- oder Interessengemeinschaft. Europa hat sich immer auf gemeinsame Werte gegründet, ist sich immer seiner gemeinsamen Geschichte bewusst gewesen und hat einen gemeinsamen Willen, die Zukunft zum Wohle aller zu gestalten. Genau über diesen Willen werden wir mit dem Blick auf die Zukunft auch zu sprechen haben. Es ist ein einzigartiges Miteinander von größeren und kleineren Staaten entstanden. Im nächsten Jahr werden wir das Jubiläum der Unterzeichnung der Römischen Verträge vor 50 Jahren begehen. Das ist noch einmal ein guter Anlass, um an das Erreichte zu erinnern. Das alles bietet aber auch Anlass, selbstbewusst nach vorne zu schauen. Heute ist noch nicht der Tag, um im Detail über die deutsche Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 bzw. über die Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland gleichzeitig die G-8-Präsidentschaft innehaben wird, zu sprechen; aber wir sollten uns bewusst werden, worum es geht. Denn auch das ist unser gemeinsames Gefühl: Die Beschwörung der Werte und der Ursprungsidee des europäischen Einigungsprozesses reicht heute nicht mehr aus; damit ist es nicht getan. Deshalb ist dies auch nicht die Stunde einer historischen Reminiszenz, sondern es ist die Stunde einer Regierungserklärung. Die Wahrheit muss in den Blick genommen werden; denn sie ist zum Teil ernüchternd. Viele Bürgerinnen und Bürger erleben Europa in der Kritik an detailliertesten Regelungen, im Zweifel, ob Europa die Probleme der Zukunft - Arbeitslosigkeit und ein zu geringes Wirtschaftswachstum - bewältigen kann. Kurz gesagt muss man feststellen: Europa steht bei den Europäerinnen und Europäern nicht so hoch im Kurs, wie es der historische Rückblick vielleicht vermuten lässt. Dabei sind die beiden gescheiterten Volksabstimmungen in Frankreich und Holland sicherlich nur Indikatoren, die aber noch nicht alles aussagen. Das heißt, es reicht auch nicht aus, wenn wir darauf verweisen können, dass durchaus zukunftsweisende Lösungen gefunden wurden. Ja, es ist glücklicherweise ein Finanzrahmen für die kommenden Jahre beschlossen worden. Ich füge hinzu: Es ist übrigens gelungen, bei der Vergabe der Mittel und bei den Kriterien sicherzustellen, dass Strukturfondsmittel nicht mehr vergeben werden, wenn Arbeitsplätze von einem Land in ein anderes verlagert werden. Das ist ein sehr wichtiger Punkt, der viele Menschen beunruhigt. ({4}) Es ist des Weiteren eine Einigung betreffend die Chemieindustrie gelungen. Es ist eine grundsätzliche Einigung über die Dienstleistungsrichtlinie gelungen. Es ist dem Europäischen Parlament gelungen, eine sinnlose Richtlinie wie die zum Sonnenschutz abzuwehren und nicht zu verabschieden. All das sind Fakten, die erfreulich und positiv sind. Das alles reicht aber nicht aus, um den Bürgerinnen und Bürgern deutlich zu machen, was Europa für sie bedeutet und welche Verantwortung Europa hat. Wir müssen - davon bin ich zutiefst überzeugt - den Stand des Projekts Europa kritisch überprüfen. Wir müssen den Bürger in den Mittelpunkt stellen und seine Fragen beantworten: Was bedeutet das für meinen Arbeitsplatz, für meinen Wohlstand und für meine soziale Sicherheit bei Krankheit und im Alter? Macht Europa die Dinge einfacher, besser oder ist Europa ein Bremsklotz, eine Hürde? Ich glaube, wir dürfen uns vor diesen Fragen nicht drücken. Wir müssen sie sehr spezifisch und konkret beantworten. Ich denke, es geht um nicht mehr und nicht weniger, als dass wir der historischen Begründung der Europäischen Union eine Neubegründung hinzufügen. Ich will die Dinge nicht dramatisieren, aber ich glaube, eine Neubegründung ist notwendiger denn je. Denn wir sind in folgender Situation: In der Zeit des Kalten Krieges war es ein riesengroßer Fortschritt, dass die westeuropäischen Länder in der Europäischen Union zusammengearbeitet haben, sich entschlossen haben, nicht mehr gegeneinander zu handeln. Aber es war keine Frage, dass diese Europäische Union dem gesamten sozialistischen und kommunistischen System überlegen war. Es musste nicht aus sich heraus begründet werden, warum dieses Europa die richtige Antwort war. Es war die bessere Antwort als alles, was jenseits des Eisernen Vorhangs stattfand. Dann kam der große Siegeszug der Freiheit. Dann hat sich die Überlegenheit der freiheitlichen Idee durchgesetzt. Der Kalte Krieg war zu Ende. Der ganze Kontinent kann heute nach dieser europäischen Idee leben. Aber die Situation in Bezug auf andere Kontinente hat sich verändert. Europa muss sich aus sich selbst heraus begründen und zeigen, dass es in einer Welt größeren Wettbewerbs, in einer global transparenten Welt Politik nach seinen Wertvorstellungen gestalten kann. Das ist die große Aufgabe, vor der wir stehen. ({5}) Die Bürgerinnen und Bürger haben schlicht und ergreifend Zweifel, ob das Modell der sozialen Marktwirtschaft, ob unsere Vorstellungen von der Würde des Menschen so überlegen, so dominant, so durchschlagend sind, dass wir nicht nur in der Vergangenheit die Schlacht im Kalten Krieg gewinnen konnten, sondern dass wir auch jetzt in einer gemeinsam verantworteten Welt unsere Art, zu leben, weiterführen können und anderen als Vorbild zeigen können. Deshalb müssen wir darüber nachdenken, was Europa bedeutet und wie der Gestaltungsanspruch der Politik wieder durchgesetzt werden kann. Viele haben den Eindruck, dass es hier nur um den Fluss von Kapitalströmen geht, dass die Politik gar keine Kraft mehr hat. Wir müssen aber unsere Überlegenheit zeigen. Daher ist es, glaube ich, richtig und wichtig, dass wir sehen: Mit 450 Millionen Menschen in der Europäischen Union können wir natürlich die Regeln des Welthandels beeinflussen. Kein einziges Mitgliedsland könnte sich mit seinen Interessen so durchsetzen, wie wir uns gemeinsam durchsetzen können. Um ein Beispiel aus dem Umweltschutz zu nennen: Die einzelnen Mitgliedstaaten hätten niemals so erfolgreich über das Kiotoprotokoll verhandeln können. Wir haben eine gemeinsame Entwicklungshilfepolitik. Wir treten an vielen Stellen als Europäische Union auf und können so viel stärker gestalten. Das heißt, einer alleine würde Schiffbruch erleiden, wo wir gemeinsam unsere Interessen durchsetzen können. Das ist ein ganz handfester Vorteil Europas. ({6}) Um aber das Gesamtziel zu erreichen, müssen wir uns konzentrieren und sagen, welches die wesentlichen Bereiche sind, in denen Erfolge sichtbar werden müssen und in denen wir unseren Bürgerinnen und Bürgern beweisen müssen, dass wir mit Europa erfolgreicher sind als ohne Europa. Da stellt sich aus meiner Sicht zunächst die Frage der wirtschaftlichen Dynamik, der sozialen Verantwortung, die wir für die Menschen wahrnehmen, und der Arbeitsplätze. Jeder Mitgliedstaat - das wird auch für die Zukunft gelten - wird zunächst einmal seine eigenen Aufgaben lösen müssen. Das gilt für Deutschland allemal; denn Deutschland ist die größte Volkswirtschaft in Europa. Daraus dürfen wir keine falschen Schlussfolgerungen ableiten. Wir haben unsere Pflicht zu tun. Wir waren diejenigen, die im Rahmen der Europäischen Währungsunion den Stabilitätspakt eingeführt haben, um den Menschen Sicherheit zu geben. Deshalb ist es nicht in Ordnung, wenn wir zum dritten, vierten oder fünften Mal diesen Stabilitätspakt verletzen; denn damit genügen wir unseren eigenen Ansprüchen nicht. ({7}) Ich weiß, dass die Bundesregierung den Menschen in diesem Lande mit manchem Beschluss in diesen Tagen manches zumutet. Glaubwürdigkeit in Bezug auf die Maßstäbe, die wir bei anderen in Europa anlegen, ist aber ein hohes Gut. Deshalb hat sich diese Bundesregierung vorgenommen, die Verfassung und den Stabilitätspakt in Europa wieder einzuhalten. So einfach ist das. Das muss durchgesetzt werden. ({8}) Wir unterstützen aus vollem Herzen die Lissabonstrategie, nach der das A und O in einer Welt zunehmender Widersprüche wirtschaftlicher Erfolg, Erfolg bei Innovation, Wachstum und Arbeitsplätzen, ist. Wir werden unser Gewicht in vielen Bereichen in Europa nur einbringen können, wenn erst einmal wir zeigen, dass wir ein wirtschaftlich erfolgreiches Modell haben, das im Sinne der sozialen Marktwirtschaft gleichzeitig menschlich ist und soziale Verantwortung gewährleistet. Unsere Aufgabe ist es, aktiv an der Lissabonstrategie mitzuarbeiten. Es ist wichtig, zu überlegen, wo sich Europa Wachstumsfesseln angelegt hat. Unsere Aufgabe muss es immer sein, auf den Wettbewerb im Allgemeinen zu achten und vor allen Dingen auch kleinen und mittleren Unternehmen in der Europäischen Union eine Chance zu geben. Wir wissen: Wenn Europa erfolgreich sein soll, dann muss es bei Bildung, Forschung und Innovation vorne sein. Das sind unsere Stärken. Deshalb ist unsere nationale Maßnahme richtig, 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben. Es ist genauso richtig, dass wir darauf achten, dass die europäischen Forschungsstrukturen dem Anspruch genügen, Effizienz zu fördern. Sie dürfen nicht einem Regionalproporz entsprechen; Forschung muss vielmehr da gefördert werden, wo Leistungen erzielt werden, die innovativ sind und mit denen wir weltweit an der Spitze stehen. Wir sind sowohl innerstaatlich als auch auf europäischer Ebene einen Weg gegangen, der viele Regulierungen mit sich gebracht hat. Ich unterstütze ausdrücklich, dass die Kommission, insbesondere der Präsident der Kommission und der Vizepräsident Günter Verheugen, gemeinsam sagt, dass Bürokratieabbau das Gebot der Stunde ist. Wir können 25 Prozent des bürokratischen Aufwandes nicht nur bei uns zu Hause, sondern in ganz Europa einsparen. Es ist im Übrigen ein revolutionärer Schritt, dass wir uns nach fast 50 Jahren europäischer Einheit - Sie können zurzeit in Brüssel den mindestens 6 Meter hohen Berg aufeinander gestapelter Papiere besichtigen, die den gesamten Acquis communautaire beinhalten; all das ist in 50 Jahren entstanden - entschließen, angesichts einer sich dramatisch verändernden Welt einmal nachzuschauen, ob man etwas ändern oder wegnehmen kann. Auch das gehört zu Europa. ({9}) Die Frage, ob wir wirtschaftlich erfolgreich sein werden, ob wir den Menschen Arbeitsplätze geben können und ob die Menschen den Eindruck haben, dass sich die Wertvorstellungen einer sozialen Ordnung in der Europäischen Union besser als auf nationaler Ebene verwirklichen lassen, ist für mich die entscheidende Frage, an der sich die Akzeptanz Europas beweisen muss. Wir brauchen neben der wirtschaftlichen Dynamik eine Antwort auf das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit, nach innerer Sicherheit und nach Rechtssicherheit. Umfragen zufolge ist das übrigens eine ganz wichtige Anforderung, die die Bürgerinnen und Bürger an Europa stellen; sie wollen das. Aber wir tun uns gerade auf diesem Gebiet schwer, zuzulassen, dass nationalstaatliche Verantwortungen an Europa übertragen werden. Sie erinnern sich sicherlich alle an die Debatten über den Europäischen Haftbefehl. Wir nutzen heute ganz selbstverständlich das Schengener Abkommen. Gerade in der Innen- und Rechtspolitik wird es immer wieder Bereiche geben, in denen einzelne Länder sich zusammenschließen und vorangehen. Ich habe - um ein Beispiel zu geben - gestern mit dem litauischen Ministerpräsidenten gesprochen: Litauen arbeitet hart daran, auch in das Schengener Abkommen integriert zu werden, weil es als ein unglaublicher Vorzug gilt, Innengrenzen zu haben und die Außengrenzen dann gemeinsam zu schützen. Das ist ein Gedanke, den wir vor 30 oder 40 Jahren für völlig unmöglich gehalten haben. Wer heute einmal die Verhältnisse an deutsch-französischen Grenzübergängen mit denen an deutsch-polnischen vergleicht, der spürt im Grunde schon die Ungeduld. Man fragt: Wann wird es denn nun endlich ein bisschen einfacher? Die Fortschritte haben einen unglaublichen Mehrwert für die Menschen und sie sind fast selbstverständlich geworden. Wir haben inzwischen ein europäisches Strafregister und einen europäischen Informationsverbund, Stichwort Europol. Gerade in der Innen- und Rechtspolitik werden wir die Vereinheitlichung weiterführen müssen, auch wenn dazu viele Mitgliedstaaten ihre Vorbehalte aufgeben müssen. Ich denke, es wird auch weiterhin eine intensive Diskussion im Deutschen Bundestag darüber geben, wie viel Souveränität wir abgeben und wie viel wir behalten wollen. Diese Diskussion muss geführt werden. Ein weiterer zentraler Punkt - auch hierbei geht es um die Frage, wie Europa wahrgenommen wird und wie wir unsere Interessen durchsetzen können - ist der Bereich der äußeren Sicherheit, der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Nach dem Ende des Kalten Krieges haben sich völlig neue Bedrohungen ergeben: Terrorismus, Fundamentalismus. Die Erkenntnis ist, dass kein Staat, kein Land, keiner allein mit dieser Bedrohung fertig werden kann. Das können weder die Supermacht Vereinigte Staaten noch Russland, noch die Europäische Union, geschweige denn ein Mitgliedstaat. Wenn man ehrlich ist, dann muss man feststellen: Europa hat hier seit dem Ende des Kalten Krieges viel lernen müssen. Wir haben auf dem Balkan nicht rechtzeitig gehandelt. Wir haben aus diesem Versagen glücklicherweise die Lehren gezogen. Es ist dann durch unseren Einsatz, zum Beispiel in Mazedonien, gelungen - in meiner Fraktion hat es darüber heiße Debatten gegeben -, einen Bürgerkrieg zu verhindern. Es ist uns, der Europäischen Union, mittlerweile gelungen, die Verantwortung für Bosnien und Herzegowina zu übernehmen. Das ist ein ganz neuer Meilenstein. Was haben wir uns noch über die Frage gestritten, ob wir außerhalb unserer Landesgrenzen überhaupt auftreten dürfen! ({10}) Heute ist es für die überwiegende Mehrheit der Menschen selbstverständlich geworden, dass wir hier Verantwortung übernehmen. Wir überwachen die Friedensprozesse in der indonesischen Provinz Aceh. Wir haben als Europäische Union im Quartett eine ganz wichtige Rolle im palästinensischisraelischen Konflikt übernommen. Das Engagement im Kongo bei der Absicherung der Wahlen reiht sich in die Verantwortlichkeiten ein. Was heißt das? Das heißt, Europa hat gelernt: Es muss eingreifen, bevor es zu spät ist, bevor es zu dramatischen Konflikten kommt, bevor wieder Hungersnöte auftreten wie in der Region der Großen Seen in Afrika. Europa kann seinen Anspruch, ein Wertesystem zu haben, nicht mehr allein bei sich durchsetzen; wenn wir es mit diesem Wertesystem ernst meinen, dann müssen wir vielmehr da helfen, wo andere allein nicht klarkommen. Das ist die Konsequenz aus dem von uns erhobenen Anspruch. ({11}) Wir werden immer wieder merken: Wir sind als Partner gewünscht, gefragt. Angesichts dessen runzelt manch einer die Stirn und fragt: Können wir das alles leisten? Aber ich sage ganz bewusst: Wenn wir unsere Art, zu leben und zu wirtschaften, zu einer Art machen wollen, mit der wir uns auch in der Welt Anerkennung und Durchsetzung verschaffen, dann werden wir uns vor den Verantwortungen und Herausforderungen in der Welt nicht drücken können. Deshalb müssen wir auch wirtschaftlich stark sein. Wenn wir Politik gestalten wollen - die Angst der Menschen ist, dass Politik nicht mehr die gestaltende Kraft hat -, dann müssen wir das durchsetzen und dann dürfen wir uns nicht drücken. Wenn wir uns drücken, dann wird das so verstanden, als wenn wir vor den Herausforderungen kapitulieren, und das wäre genau das Falsche. ({12}) Um all diese Aufgaben bewältigen zu können, muss Europa handlungsfähig sein. Was die Handlungsfähigkeit betrifft, gibt es zwei Probleme, mit denen wir uns auseinander setzen müssen und die auch noch nicht vollständig gelöst sind. Handlungsfähig sind wir nur dann, wenn wir von unserer inneren Verfasstheit her die notwendigen Entscheidungen vernünftig treffen können. Handlungsfähig sind wir nur dann, wenn wir auch wissen, welches Gebilde diese Europäische Union ist. Erweiterung und Vertiefung - beides sind Fragestellungen, die sich jetzt in einer völlig neuen Dimension stellen, weil Europa attraktiv ist, weil viele Mitglied dieser Europäischen Union werden wollen, weil wir aber auch sagen müssen, wer das kann und wer das nicht kann und welches Angebot wir machen, um nicht als eine abgeschlossene Burg wahrgenommen zu werden. Was die Handlungsfähigkeit anbelangt, ist die Debatte über den Verfassungsvertrag sehr wichtig. Es ist ein Rückschlag, dass die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden negativ ausgegangen sind. ({13}) Aber damit ist mitnichten eine Aussage darüber getroffen, ob wir einen Verfassungsvertrag brauchen oder nicht. Ich sage: Wir brauchen den Verfassungsvertrag. ({14}) Wir brauchen ihn, weil er auf verschiedene Fragen Antworten gibt. Er sagt uns, was unsere Grundrechte sind und was das gemeinsame Verständnis ist. Zum allerersten Mal - damals noch unter der Führung von Roman Herzog - ist es gelungen, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union dazu zu bringen, das, was man allgemein als unsere Wertvorstellungen bezeichnet, in Form eines Grundrechtekatalogs niederzuschreiben. Wir haben heiße Debatten gehabt - die werden auch weitergehen -, zum Beispiel über die Frage, wie wir auf unsere christlichen Wurzeln Bezug nehmen, ob das überhaupt möglich ist. Wir haben damit noch einmal einen tiefen Einblick in die unterschiedliche Geschichte der einzelnen europäischen Länder bekommen. In der Auseinandersetzung mit anderen Religionen, mit anderen Kulturen wird es wichtig sein, dass wir als Europäer in der Lage sind, auch unsere Wurzeln ganz klar zu benennen. Das erwarten andere von uns. Wie wollen wir für unsere Werte fechten, wenn wir das nicht können? ({15}) Der Verfassungsvertrag hat zum ersten Mal den Versuch unternommen, klare Kompetenzordnungen festzuschreiben, etwas, was die Bürgerinnen und Bürger mit Recht verlangen, was im Übrigen in unserem Grundgesetz seit dem ersten Tage des Bestandes der Bundesrepublik Deutschland in klarer Form enthalten war. Es gehört zu den wunderbaren Merkmalen des Grundgesetzes, dass es die Kompetenzen klar auf die einzelnen Ebenen verteilt. Wir werden nächste Woche das Vergnügen haben, über die Neuordnung dieser Kompetenzen zu sprechen ({16}) ein nicht so einfaches Thema, ({17}) aber eines, dessen man sich annehmen muss. Verwischte Kompetenzen sind nämlich immer ein Demokratiedefizit. Die Leute wissen nicht mehr, wen sie für was verantwortlich machen können. Das muss in Europa wieder möglich sein. ({18}) Dieser Verfassungsvertrag schafft zum ersten Mal das Amt eines europäischen Außenministers. Da muss man genau überlegen, welche Kompetenzen wir ihm geben wollen. Ich schaue unseren Außenminister an und sage: Er wird durch den europäischen Außenminister nicht arbeitslos werden. Man wird aber natürlich wissen müssen, wer für Europa auftritt, zum Beispiel in den Verhandlungen des Quartetts. Dieser Verfassungsvertrag weist mittels der Subsidiaritätsklausel zum ersten Mal den nationalen Parlamenten eine Bedeutung zu. ({19}) Im Übrigen hat mir der Kommissionspräsident gerade erzählt, dass das gar nicht ohne Differenzen mit dem Europäischen Parlament geht; denn das Europäische Parlament wacht mit Argusaugen darüber, dass die nationalen Parlamente nicht wieder zu viele Möglichkeiten bekommen. An der Stelle will ich allerdings sagen: Das Europäische Parlament hat in den letzten Jahren in einem Maße an Bedeutung gewonnen, wie das vor 20, 30 Jahren überhaupt nicht vorstellbar war. Angesichts der Dienstleistungsrichtlinie und der Beratungen darüber hat es zum ersten Mal Demonstrationen in Straßburg gegeben. Einer unserer Europaparlamentarier hat gesagt, er fühle sich geehrt; das habe es überhaupt noch nicht gegeben, dass wegen einer europäischen Regelung demonstriert werde. ({20}) Das zeigt, dass dort etwas entschieden wird. Meine Damen und Herren, wir werden im Übrigen über Folgendes weiter diskutieren müssen; das ist im Verfassungsvertrag noch nicht geklärt. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Entscheidung richtig war, dass die politische Kraft, die bei den europäischen Wahlen die meisten Stimmen bekommt, auch das Recht erhält, den Präsidenten der Kommission zu benennen. Aber wir werden auch weitersehen müssen. Wenn wir in Europa einen Gesetzgebungsprozess mit einem so starken Euro2894 päischen Parlament haben, dann muss es auch - was für uns ganz selbstverständlich ist - das Prinzip der Diskontinuität geben. Es kann nicht sein, dass Richtlinien in Generaldirektionen erarbeitet werden, die Jahrzehnte überleben, egal wer gerade gewählt und an der Arbeit ist. Auch das gehört zu einer Fortentwicklung Europas. ({21}) Das heißt, wir haben eine Europäische Union, die durch den Verfassungsvertrag in die Lage versetzt wird, Entscheidungen zu treffen. Denn der institutionelle Teil - die Fragen bezüglich der Kommission, des europäischen Außenministers, des Rates - muss so geklärt werden, dass Europa arbeiten kann. Die heutigen Entscheidungsmechanismen in Europa sind so schwierig, dass man fast ein Fachhochschulstudium braucht, um zu erkennen, wer gerade die Mehrheit hatte oder wie man eine Sperrminorität erzeugt. Die Zusammensetzung der Kommission kann so nicht bleiben. Wir brauchen also unbedingt den Verfassungsvertrag, um ein handlungsfähiges Europa zu haben. Spätestens die deutsche Präsidentschaft wird sich damit befassen. ({22}) Weil das Thema aber so schwierig ist und weil die Interessen so unterschiedlich sind, bin ich gegen einen Schnellschuss, durch den wir in eine Lage versetzt werden, in der wir wieder nicht weiterkommen. Stattdessen sollten wir sehr gut überlegen, wie wir das Projekt des Verfassungsvertrages zu einem Erfolg führen. Ich möchte diesen Verfassungsvertrag, die Bundesregierung möchte ihn und auch, wie ich denke, die Mehrheit dieses Parlaments. ({23}) Meine Damen und Herren, der zweite große Punkt ist die Frage der Erweiterung. Hier will ich ausdrücklich sagen: Das, was versprochen ist, wird - da bewegen wir uns alle in einer Kontinuität - umgesetzt. Dabei sind allerdings auch die Kriterien klar, unter denen Beitritte erfolgen können. Wir werden in der nächsten Woche den Fortschrittsbericht zu Bulgarien und Rumänien erhalten. Ich denke, es ist klar, dass Bulgarien und Rumänien Mitglieder der Europäischen Union werden. ({24}) Aber ich erwarte von der Europäischen Kommission auch, dass sie in ihrem Fortschrittsbericht die Defizite klar benennt. ({25}) Wir helfen den Ländern nicht, wenn wir die Defizite einfach unter den Teppich kehren und davon ausgehen, dass die Europäische Union und die europäische Idee sie schon zudecken werden. ({26}) Ich gehe auch davon aus, dass die Europäische Kommission Vorschläge machen wird, wie diese Defizite zu beheben sind. Wichtig ist auch, dass Beitrittsverhandlungen keine Einbahnstraße sind. Die Kriterien müssen erfüllt werden. Das gilt für Kroatien genauso wie für die Türkei. Es gibt auch keine Koppelgeschäfte. Nur weil zwei Länder am gleichen Tag die Beitrittsverhandlungen begonnen haben, müssen sie sie nicht auch am gleichen Tag abschließen. Jedes Land hat ein Anrecht darauf, so behandelt zu werden, wie es sich selber darstellt. Es war richtig, meine Damen und Herren, dass die Europäische Union die Verhandlungen über ein Stabilitäts- und Assoziationsabkommen mit Serbien und Montenegro erst einmal unterbrochen hat, weil dort keine Kooperation mit dem Haager Gerichtshof für Kriegsverbrechen stattfindet. Auch solche Signale müssen ausgesandt werden: Beitritte gibt es nicht zu jedem Preis, sondern die Bedingungen, die für die Europäische Union gelten, müssen erfüllt werden. ({27}) Da wir nicht alle, die Mitglied werden wollen, aufnehmen können, werden wir die Nachbarschaftspolitik weiterentwickeln. Das ist überhaupt keine Frage. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir das nicht einfach mit Handelsassoziierungsabkommen machen können. Wir werden diesen Staaten eine verstärkte politische Kooperation anbieten müssen, die aber nicht in jedem Falle eine Vollmitgliedschaft bedeuten kann. Ich habe begründet, warum Europa handlungsfähig sein muss. Ein Gebilde, das keine Grenzen hat, kann nicht in sich schlüssig handeln und eine bestimmte Verfasstheit haben. Das müssen wir uns klar vor Augen führen und deshalb Grenzen ziehen. Meine Damen und Herren, ich glaube, wenn wir die anstehenden Fragen beantworten und als Bundesrepublik Deutschland unseren Beitrag dazu leisten, dass die Menschen in ganz Europa nachvollziehen können, dass diese Europäische Union für uns eine einzigartige Möglichkeit ist, unsere Interessen, unsere Werte, unsere Art zu leben, lebbar zu machen, dann werden die Menschen das auch verstehen. Es kann dann sein, dass einige Punkte wieder unter die nationale Kompetenz fallen und andere aus der nationalen in die europäische Kompetenz übergehen. Dies muss sich aber immer an folgenden Fragen orientieren: Hat es einen Mehrwert für die einzelnen Menschen, für ihre soziale Sicherheit, für ihren Arbeitsplatz und für unsere äußere und innere Sicherheit? Haben wir damit die Möglichkeit, einen Beitrag zu leisten, anderen bei der Lösung ihrer Probleme zu helfen? Wenn wir diese Fragen ehrlich beantworten, dann werden wir die Europäerinnen und Europäer erreichen, und zwar nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten. Unsere Politik muss die Kraft haben, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Wir müssen an die Kraft von Frieden in Freiheit, von Demokratie und von Menschenrechten glauben, die auf der ganzen Welt verwirkBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel licht werden sollten. Mit unserer Politik auf der Grundlage dieser unglaublich großen Erfolgsgeschichte müssen wir die Zukunft gestalten. Menschen wie Schuman, de Gaulle, Adenauer und viele andere standen damals vor unglaublich großen Trümmern; aber sie hatten Visionen. Wir haben ein starkes Fundament, auf dem wir aufbauen können. Wir haben eine jahrzehntelange Erfolgsgeschichte. Heute gibt es neue Bedrohungen, neue Herausforderungen und mehr Wettbewerb. Aber mit unserer Geschichte und unserem Selbstbewusstsein, das wir einbringen, können wir es schaffen, aus Europa auch im 21. Jahrhundert eine Erfolgsgeschichte zu machen. Ich jedenfalls bin entschlossen, gemeinsam mit der Bundesregierung und mit Ihnen das zu tun. Herzlichen Dank. ({28})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Dr. Werner Hoyer für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Zustand der Europäischen Union ist überaus besorgniserregend. Über Jahrzehnte hinweg haben wir uns darauf verlassen können, dass die Integrationsfortschritte nicht reversibel sind. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Einen Moment, Herr Kollege Hoyer. Ich möchte dem Fraktionsvorsitzenden der FDP gerne bei seinem verständlichen Bemühen behilflich sein, Ihrer Rede ungestört folgen zu können. Ich bitte all diejenigen, die an der Debatte nicht weiter teilnehmen können, möglichst schnell und geräuschlos den Saal zu verlassen. ({0})

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Zustand der Europäischen Union ist besorgniserregend. Wir müssen alles daran setzen, die aufkommenden Zweifel an der Irreversibilität des Integrationsprozesses schnellstens auszuräumen. Defizite an politischer Führung in Brüssel und in vielen Mitgliedstaaten, erschreckende, ja oft stumpfsinnige Renationalisierungstendenzen in einigen Mitgliedstaaten, abnehmendes Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, mangelndes Vertrauen in die Reformfähigkeit unserer Mitgliedstaaten - all das gibt Anlass zu größter Sorge. Wir Politiker dürfen die Skepsis gegenüber Europa nicht durch populistische Wettrennen bei der vermeintlichen Wahrnehmung nationaler Interessen oder durch Teilnahme an der immer weiter um sich greifenden Europanörgelei geradezu anfeuern. ({0}) Sicher, Europa hat Schwächen. Die Politik muss diesen Schwachstellen zu Leibe rücken. Aber wir haben auch die Pflicht, darzustellen, dass der Prozess der europäischen Integration ohne Alternative ist und wir uns an der Zukunft unserer Völker versündigen würden, wenn wir nicht entschlossen aufträten, wenn diesem Integrationsprozess Schaden droht. Die Staats- und Regierungschefs können dazu übrigens selber beitragen, indem sie nach Tagungen der Europäischen Räte nicht immer nur das national Herausgeholte in den Vordergrund stellen und dabei das Ganze aus dem Blick verlieren. Europa ist kein Nullsummenspiel; Europa ist mehr als die Summe seiner Teile. Natürlich ist das schwer zu kommunizieren, wenn die Menschen Angst um ihren Arbeitsplatz haben oder ihn bereits verloren haben. Man darf nicht übersehen, dass jeder verlorene Arbeitsplatz mit einem Gesicht, mit einem konkreten Schicksal verbunden ist, während jeder Arbeitsplatz, der durch die europäische Integration und die Globalisierung neu geschaffen wird, eher abstrakt bleibt. Dennoch müssen wir immer wieder darauf hinweisen, dass die Veränderungen, die die europäische Integration mit sich bringt, per saldo positiv sind. 50 000 zusätzliche Arbeitsplätze netto durch die Öffnung nach Osten - so rechnet es uns der Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels vor - ist eine Zahl, die man ernsthaft zur Kenntnis nehmen und kommunizieren muss. Die Gründergeneration der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die auch Kriegsgeneration war, ist heute im Deutschen Bundestag nicht mehr vertreten. Solange Helmut Schmidt, Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl die Szene geprägt haben, war es völlig undenkbar, dass die Qualität der Europäischen Union als größtes europäisches Friedensprojekt unserer Geschichte im Bewusstsein der Menschen weit nach hinten rückt. Für die heutige junge Generation ist dies alles - erfreulicherweise - selbstverständlich erlebte Realität und Normalität, die kaum jemand hinterfragt. Dennoch müssen wir - Frau Bundeskanzlerin, Sie haben das dankenswerterweise heute getan - immer wieder auf die großen Zusammenhänge und auch auf die damit verbundenen fundamentalen Wertefragen hinweisen, die wir mit der europäischen Integration verbinden. Wir werden die jungen Menschen aber nicht allein durch den Verweis auf die Gräber von Verdun für Europa begeistern können. Hinzukommen muss der Hinweis auf die Riesenchancen, die die europäische Integration für unsere Zukunftssicherung darstellt. Sie haben gesagt: Wir müssen der historischen Begründung eine Neubegründung hinzufügen. - Das teile ich ausdrücklich. Europa ist die Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung. Mit Europa organisieren wir die Selbstbehauptung der Europäer im globalen Wettbewerb, und zwar wirtschaftlich wie politisch. Ohne Europa werden weder Deutschland noch Dänemark, weder Ungarn noch Großbritannien ihre Interessen in der Welt wahren sowie Sicherheit und Wohlstand erhalten können. Dabei kann vieles besser gemacht werden. Man kann sich zum Beispiel auf das konzentrieren - Sie haben es gesagt -, was Europa besser kann als der Nationalstaat oder die Regionen. Wir sollten deshalb zum Beispiel dringend prüfen - um konkret zu werden -, ob das Subsidiaritätsprotokoll des Verfassungsvertrages, das einen wirklichen Fortschritt darstellt, nicht vorab in Kraft gesetzt werden kann. ({1}) Die Rolle der nationalen Parlamente kann, ja muss schnellstmöglich sichtbar gestärkt werden. Aber wir sollten nicht in Brüssel Kritik abladen, die nach Berlin oder in deutsche Landeshauptstädte gehört. Beim Antidiskriminierungsgesetz sehen wir, welchen Glaubwürdigkeitsverlust man sich sehr schnell einhandeln kann. ({2}) Sie von der Union haben im letzten Jahr Ihre Wahlkreise durchpflügt und mit dem Kampf gegen das rot-grüne Antidiskriminierungsgesetz richtig schön Punkte gemacht. ({3}) Was ist daraus geworden? Sie hatten ursprünglich gesagt, in Zukunft würden EU-Richtlinien nur noch eins zu eins umgesetzt. Dann haben Sie aber eine Kirchenklausel herausgehandelt und für die Landwirte noch etwas herausgeholt. Und schon ist das alte rot-grüne Antidiskriminierungsgesetz wieder auf dem Tisch. ({4}) Das schafft keine zusätzliche Glaubwürdigkeit; das schafft kein Vertrauen in die Politik. ({5}) Einen ähnlichen Fall unverantwortlichen Herumschlagens auf Europa bei gleichzeitigem nationalen Versagen sehen wir in vielen Fragen des Lissabonprozesses. Es ist doch geradezu rührend, wenn der Europäische Rat im Halbjahresrhythmus große Ziele bekräftigt, die nationalen Hausaufgaben aber gleichzeitig nicht erledigt werden. Deutschland wird umso mehr Einfluss entfalten können, je mutiger und konsequenter wir unsere Volkswirtschaft modernisieren, unsere Bildungsanstrengungen intensivieren, unsere Haushalte sanieren und unsere Arbeitsmärkte deregulieren. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben am Dienstag gefordert: Jobs schaffen, Bürokratie abbauen und Überregulierung zurücknehmen. Das ist völlig richtig. An genau dieser Stelle muss die Bundesregierung aber selbst noch liefern. Ansonsten werden in Europa viele Hoffnungen zerstört, die sich vor allem auf Deutschland und die deutsche Bundeskanzlerin richten. Wir Freien Demokraten wünschen Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie die in Sie gesetzten Hoffnungen erfüllen können. Der Anspruch auf Reformen in Europa und das Fehlen einer mutigen nationalen Reformpolitik passen allerdings nicht zusammen. ({6}) Am 25. März 2007, also etwa zur Halbzeit der deutschen Präsidentschaft, jährt sich die Unterzeichnung der Römischen Verträge zum 50. Mal. Es muss unsere Ambition sein, diesen Jahrestag für einen neuen Aufbruch, nicht nur zur Reflexion und Rückbesinnung zu nutzen. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gesagt, warten heiße nicht, den Verfassungsprozess einschlafen zu lassen, sondern den geeigneten Zeitpunkt zum Handeln zu finden, der aber noch nicht gekommen sei. Wir haben aber nicht mehr viel Zeit. Spätestens während der deutschen Präsidentschaft, möglicherweise in dem kleinen Zeitfenster zwischen den Wahlen in Frankreich und dem Ende der deutschen Präsidentschaft, muss Deutschland alles versuchen, den Zug wieder auf die Schiene zu setzen und die Weichen richtig zu stellen. Mit dem Vertrag von Nizza können wir uns auf Dauer nicht zufrieden geben. Wenn wir das täten, spielten wir denen in die Hände, die von vornherein nicht mehr wollten als eine gehobene Freihandelszone. ({7}) Wer mehr Demokratie, mehr Transparenz, mir Subsidiarität, mehr Dynamik und mehr Handlungsfähigkeit, auch in der Außen- und Sicherheitspolitik, will, muss den Verfassungsprozess neu beleben. Ich halte es für ernsthaft erwägenswert, bei Wahrung des Gehalts des Vertrages über eine Verfassung für Europa seine konstitutionellen Elemente zu einem echten, vergleichsweise schlanken und lesbaren Verfassungstext zu destillieren und die übrige Materie, insbesondere den Teil III, weitgehend sekundärrechtlich zu regeln. Europa braucht Mut: Mut zur Erneuerung, Mut zur Freizügigkeit, Mut zum Wettbewerb, Mut zur Vertiefung und Mut zur weiteren Öffnung, auch wenn zwischen den Entscheidungen in Zukunft vermutlich größere Abstände liegen. Wir brauchen mehr Kreativität bei der praktischen Ausgestaltung. Europa braucht Mut zur Freiheit, damit die Bürger und Staaten unseres Kontinents die intellektuellen, technologischen und ökonomischen Chancen nutzen und die Dynamik entfalten können, die wir für die Sicherung unserer Zukunft dringend brauchen. Wenn Sie, Frau Bundeskanzlerin, dem europäischen Integrationsprozess neuen Schwung geben wollen, werden Sie die Freien Demokraten an Ihrer Seite finden, insbesondere dann, wenn Sie Ihren europäischen Anspruch durch nationale Politik unterfüttern. Ich danke Ihnen. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Angelica Schwall-Düren das Wort. ({0})

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In seiner Dankesrede anlässlich der Entgegennahme des Bruno-Kreisky-Preises am 9. März 2006 sagte Jürgen Habermas: Was mich heute am meisten aufregt, die Zukunft Europas nämlich, finden andere abstrakt und langweilig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin überzeugt, die heutige Debatte im Deutschen Bundestag wird nicht nur zeigen, dass wir Europa ernst nehmen, sondern auch, dass wir mit Leidenschaft diskutieren. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben uns das eben bereits gezeigt. Die Europawoche gibt uns Gelegenheit, eine Standortbestimmung vorzunehmen. Jenseits von Gedenkritualen ist es aber wichtig, dass wir uns der Herausforderungen, aber auch der Gefahren eines Rückfalls hinter den Stand der erreichten Integration bewusst sind. Es ist in der Tat so, dass wir bis spätestens 2009 eine Entscheidung darüber herbeiführen müssen, wohin die Europäische Union will. Wir müssen uns fragen, ob die Friedenssicherung und die Wohlstandsentwicklung uns weiterhin, ebenso wie in der vergangenen Zeit, gelingen werden. Die Bürgerinnen und Bürger zweifeln zunehmend und immer wieder. Dennoch ist die Mehrheit für die Europäische Union. Das scheint ein Widerspruch zu sein. Aber angesichts der rasanten Veränderungen nach Beendigung des Ost-West-Gegensatzes ist es tatsächlich so, dass die Ängste der Bürger und Bürgerinnen zugenommen haben: Ängste um ihren Arbeitsplatz, um den Verlust ihrer Identität, aber auch die Sorge um die Zukunft ihrer Kinder. Das kennzeichnet auch die Herausforderungen für Europa, für die Europäische Union. Denn dass die Bürger die EU für notwendig halten, weist darauf hin, dass sie Erwartungen und Wünsche an die Europäische Union haben, dass sie Lösungen und Antworten auf die aufgeworfenen Fragen und auf die Herausforderungen erwarten. Damit sind natürlich der Rahmen der zukünftigen Arbeit und damit auch der Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft gekennzeichnet. Die Frau Bundeskanzlerin hat ein großes Tableau gezeichnet. Gemessen an der Tatsache, dass eine Ratspräsidentschaft lediglich ein halbes Jahr dauert, sind die Erwartungen natürlich sehr hoch und wir müssen vorsichtig sein, um nicht Erwartungen zu wecken, die dann nicht erfüllt werden können. Es ist richtig, dass Deutschland in der Vergangenheit immer wieder gezeigt hat, wie wir die Europäische Union zusammen mit unseren Partnern voranbringen können. Nicht zuletzt bei den Verhandlungen über die Finanzen haben Frau Bundeskanzlerin Merkel und Herr Außenminister Steinmeier bewiesen, dass wir die Europäische Union voranbringen können. ({0}) Aber wir haben keine finanzielle Wundertüte mehr, wie wir sie bis zum Ende der 80er-Jahre besaßen, und die Europäische Union ist vielfältiger und widersprüchlicher geworden. Man muss heute auch sagen: Im Augenblick haben wir keinen starken französischen Partner an unserer Seite, der uns helfen kann, die Gegensätze zu überbrücken. Wir werden die Projekte, die angefangen und noch nicht erledigt sind, fortsetzen müssen. Wir werden neue Akzente setzen und Impulse geben. Es ist ganz wichtig - ich bin froh, dass hierbei bis auf ganz wenige Ausnahmen große Einigkeit im Deutschen Bundestag besteht -, dass das Verfassungsprojekt vorangebracht wird. Ich stimme mit der Bundeskanzlerin völlig überein, dass wir die Verfassung für die Handlungsfähigkeit, für größere Transparenz und für mehr Bürgernähe brauchen. Mein Kollege Michael Roth wird anschließend genauere Ausführungen dazu machen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das französische und das niederländische Nein in den Referenden zur Verfassung waren neben anderen Gründen auch mit der Erwartung an die soziale Gestaltungskraft der Europäischen Union verbunden. Deswegen ist es wichtig, dass wir in diesem Feld aktiv bleiben und noch aktiver werden. ({1}) Sollte die europäische Dienstleistungsrichtlinie bis zu unserer Ratspräsidentschaft noch nicht verabschiedet sein - ich hoffe, dass sie es sein wird -, dann wird sich Deutschland selbstverständlich dafür einsetzen, dass dieses Projekt erfolgreich zu Ende gebracht wird. Für uns ist dabei klar, dass das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ zur Geltung kommen muss. ({2}) Die soziale Dimension der Europäischen Union kann im Jahr 2007 in hervorragender Weise angepackt werden, in einem Jahr, das auf europäischer Ebene als Jahr der Chancengleichheit für alle ausgerufen wird. Es kommt in der Tat darauf an, dass konkrete Politik gemacht wird, die für die Menschen erfahrbar ist. Dabei geht es beispielsweise - übrigens sind das auch Faktoren für Wachstum im wirtschaftlichen Bereich - um Themen wie Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz. Es geht um die Arbeitszeitrichtlinie, um die Arbeitsschutzrichtlinie, um Fragen der Leiharbeit und um das Aktionsprogramm „Lebenslanges Lernen“.Hier gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, die notwendige Flexibilität mit der sozialen Sicherheit für die Bürger und Bürgerinnen zu verbinden. Um die Voraussetzungen für Chancengleichheit schaffen zu können, braucht der Staat allerdings finan2898 zielle Ressourcen. Deswegen müssen wir uns auch dem Thema „unfairer Steuerwettbewerb“ widmen. Ich bin froh, dass wir das Projekt der Schaffung einer einheitlichen Bemessungsgrundlage für die Unternehmensbesteuerung weiterverfolgen werden. ({3}) Das historisch gewachsene Zusammenspiel der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Institutionen ist ein fundamentaler Bestandteil unseres kulturellen europäischen Erbes. Das ist es, was wir soziale Marktwirtschaft oder gelegentlich auch europäisches Sozialmodell nennen. Klar ist: Bei der Umsetzung der Wachstumsstrategie von Lissabon werden wir Sozialdemokraten darauf achten, dass es zu keinen marktradikalen Entwicklungen kommt, wie sie immer wieder von der FDP eingefordert werden, sondern dass eine Modernisierung der gewachsenen Strukturen verfolgt wird. Würde hier ein Abbau betrieben, könnten wir nicht mit einem ökonomischen Erfolg rechnen, sondern müssten eher negative Abwehrreaktionen befürchten. Wir werden das nationale Reformprogramm zur Umsetzung der Lissabonstrategie sorgfältig begleiten, damit seine positiven Ansätze auf dem Frühjahrsgipfel 2007 als Erfolg gewertet werden können. Zum Thema Bürokratieabbau ist heute bereits einiges gesagt worden. Dem möchte ich nur eines hinzufügen: Es ist sicherlich wichtig, insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen in diesem Bereich zu entlasten. Dabei darf aber keine blinde Deregulierung stattfinden. Vielmehr ist eine bessere Gesetzgebung erforderlich, um die Innovationsfähigkeit dieser Unternehmen zu stärken und ihnen die Chance zu geben, am Wissens- und Technologietransfer teilzunehmen, den wir auch im Rahmen der europäischen Forschungsprogramme unterstützen können. Frau Merkel hat in den letzten Tagen auf die europäische Energiestrategie hingewiesen. In der Tat ist eine nachhaltige Energieversorgung, die bezahlbar und sauber ist, eine sehr wichtige Bedingung für den Erfolg der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten. Deswegen brauchen wir eine kooperative Energiestrategie, die mehr bedeutet, als langfristige Lieferverträge abzuschließen. Dazu gehören auch Elemente wie Energieeffizienz und Energieeinsparung sowie die Unterstützung regenerativer Energien. Auch in diesem Bereich ist die Europäische Union tätig, um im Interesse einer ökologischen Nachhaltigkeit, aber auch im Interesse der Bewahrung und Schaffung von Arbeitsplätzen, beispielsweise im Handwerk und in der Landwirtschaft, Erfolge zu erzielen. Hier muss Deutschland Impulsgeber sein, aber auch Moderator zwischen den unterschiedlichen Interessen der großen und der kleinen Staaten, zwischen den Ländern, die in der Zukunft eher den nuklearen, den fossilen oder den regenerativen Energien eine Chance geben wollen. Deutschland muss auch Moderator zwischen Ländern mit unterschiedlichen historischen Erfahrungen sein. Das hat, wenn ich beispielsweise an unsere Nachbarn Polen und die baltischen Staaten denke, auch mit der Frage zu tun: Wie viele Kompetenzen sollen auf europäischer Ebene angesiedelt werden und wie viel kann und muss weiterhin auf nationaler Ebene geregelt werden? Hier besteht ein Zusammenhang mit dem wichtigen Feld der Energiesicherheitspolitik, mit der Nachbarschaftspolitik und mit der gemeinsamen Außenpolitik, der bereits skizziert worden ist. Ich möchte allerdings betonen, wie wichtig es ist, dass wir diese Politiken mit den östlichen Nachbarn der Europäischen Union partnerschaftlich weiterentwickeln und uns auf gleicher Augenhöhe begegnen, damit die Menschen in diesen Ländern die Chance bekommen, an der Entwicklung hin zu Demokratie, Wohlstand und sozialer Sicherheit teilzunehmen, ohne dass damit Souveränitätsabgabe verbunden ist. ({4}) Wir haben in den nächsten Jahren eine Fülle von Herausforderungen zu meistern: den Beitritt von Rumänien und Bulgarien, die Beitrittsverhandlungen mit weiteren Ländern, die Entwicklung einer europäischen Perspektive für den westlichen Balkan. Diese europäische Perspektive muss gesichert sein, aber dabei müssen wir Augenmaß wahren und die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union berücksichtigen. Deswegen wünschen wir uns, wünschen wir der Bundesregierung, wünschen wir Frau Merkel und Herrn Steinmeier im Vorfeld und bei der Ausübung der deutschen Präsidentschaft in der Europäischen Union weitsichtige und kompetente Partner. Ich bin sicher, dass wir dann gemeinsam erfolgreich für die Zukunft der Bürger und Bürgerinnen in der Europäischen Union arbeiten können. Diese Erfolge werden von den Menschen gewürdigt werden und die Europäische Union wird wieder mehr Akzeptanz bei ihnen finden; da bin ich ganz sicher. An diesen konkreten Politikfeldern wird sich das zeigen. Herzlichen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Gregor Gysi, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die große Leistung der Europäischen Union darin bestehen kann - und hoffentlich auch darin bestehen wird -, dass es einen europäischen Frieden gibt, dass die Jahrhunderte der europäischen Kriege endlich überwunden werden und dass zumindest auf diesem Kontinent die kriegerische Geschichte ein Ende findet. Dann - so die Hoffnung - wären die kriegerischen Auseinandersetzungen innerhalb Jugoslawiens, aber auch der völkerDr. Gregor Gysi rechtswidrige Krieg der NATO gegen Jugoslawien die hoffentlich letzten Kriege in Europa gewesen. Das wäre wichtig. ({0}) Sie wissen, dass es in der EU-Verfassung, die von zwei Völkern mehrheitlich abgelehnt worden ist - darauf komme ich noch zu sprechen -, auch einen großen militärischen Teil gibt. Ich hätte es noch verstanden, wenn man die nationalen Streitkräfte durch irgendetwas Europäisches ablösen wollte. Es soll aber alles oben draufgesetzt werden: Die NATO soll bleiben, die nationalen Streitkräfte sollen bleiben und Europa will auch noch Streitkräfte. Wozu eigentlich, wenn wir Europäer keine Kriege mehr führen wollen? Das ist die Frage, die die Bevölkerungen stellen. ({1}) Frau Bundeskanzlerin, ich hätte heute von Ihnen ein Wort zu dem Interview erwartet, in dem Verteidigungsminister Jung auf die Frage, ob für unser Militär, die Bundeswehr, wirtschaftliche Interessen, Versorgungsund Ressourcensicherung eine Rolle spielen, sagte: Ja, das müsse man offen sagen. - Das ist ein Denken wie in den früheren Jahrhunderten. Ich will nicht, dass wir noch Kriege wegen Erdgas, Erdöl und dergleichen führen! ({2}) Das wäre auch grundgesetzwidrig. Wenn Sie die Mütter und Väter des Grundgesetzes gefragt hätten, ob sie sich vorstellen könnten, die Bundeswehr zur Durchsetzung ökonomischer Interessen einzusetzen, hätten sie das völlig zu Recht strikt verneint. Wir sollten uns an das Grundgesetz halten. ({3}) Bis Maastricht war die Europäische Union darauf ausgerichtet, die Volkswirtschaften der Länder anzugleichen und sozusagen schrittweise eine ökonomische Gemeinschaft in Europa zu schaffen. Das war auch sehr sinnvoll. Aber wir müssen uns mit den Änderungen, die es seit Maastricht gegeben hat, auseinander setzen. Es war Helmut Kohl, der gesagt hat: Erst die politische Union, dann die Währungsunion. Als er die politische Union nicht durchsetzen konnte, hat er sich entschieden, doch erst die Währungsunion einzuführen. Dafür zahlen die europäischen Völker noch heute; denn das war der Beginn der Dumpingstrukturen, mit denen wir es heute zu tun haben. ({4}) Eigentlich hätten wir vor der Währungsunion die Verfassung gebraucht, über die jetzt diskutiert wird. Wir hatten aber keine. Immer, wenn man so etwas im Nachhinein einzuführen versucht, wird es kompliziert. Nun haben wir - zum Teil - einen Binnenmarkt und eine Binnenwährung - auch zum Teil -, aber keine wirkliche politische Verfasstheit. Das ist ein riesiges Problem. Schritt für Schritt versuchen wir jetzt, das eine oder andere zu regeln. Wie lautet denn das Argument, das immer vorgebracht wird, wenn es um die Senkung der Steuern für Konzerne, Best- und Besserverdienende geht? Das Argument lautet, das sei gerade in einem anderen europäischen Land so gemacht worden, danach müssten wir uns richten. Das ist organisiertes Steuerdumping, das dazu führt, dass die Staaten nicht mehr in der Lage sind, den sozialen und ökologischen Ausgleich zu bezahlen, der aber dringend nötig ist, und die notwendigen Investitionen vornehmen zu können. ({5}) Wann machen wir endlich Schluss damit? Wann einigen wir uns in der Europäischen Union endlich und legen Mindeststeuern fest, die jedes Land erheben muss, zum Beispiel bei der Körperschaftsteuer? Wir brauchen diesbezüglich eine Verständigung, sonst ist das keine Union. Wir haben einen Binnenmarkt mit einer Binnenwährung, die Steuern aber sind völlig unterschiedlich. Die Unterschiede sind viel größer als diesbezüglich zwischen den Nord- und den Südstaaten in den USA. Das ist nicht zu verkraften. ({6}) Dadurch haben wir ein Dumping bei Löhnen und bei sozialen und juristischen Standards. Weil meine Zeit dafür nicht reicht, will ich das nicht näher ausführen. Nur so viel: Bei der Zulassung der Beschwerde eines Nachbarn gegen einen Bau auf dessen Nachbargrundstück gibt es gewaltige Differenzen. Es macht aber einen Riesenunterschied, ob Sie einem Investor sagen: „Das kann acht Jahre dauern“ oder, in einem anderen Land, „Das dauert ein halbes Jahr“. Darüber muss man sich doch verständigen, wenn man eine Union sein will. ({7}) Als die Erweiterung der Union anstand, hat man gesagt, man wolle nicht mehr zahlen, man wolle für den Aufbau der Wirtschaften in Litauen, Slowenien und in anderen Ländern nicht mehr so viel Geld ausgeben. Das führte dazu, dass die Union umgerechnet für jeden Iren 122,1 Euro im Jahr zahlt, für jeden Slowenen aber nur 44,4 Euro. Irland ist inzwischen aber das zweitreichste Land in der Union. Was ist die Folge dessen? Die Folge ist, dass Dumpingstrukturen entstehen, weil man Slowenien und andere Länder zwingt, über möglichst niedrige Steuern Anziehungskraft auszuüben. Das wirkt sich negativ in den reicheren Ländern wie Frankreich und Deutschland aus und führt zu solch negativen Stimmungen, die Sie nicht verstehen und womit Sie sich hier auseinander setzen. ({8}) Sie haben gesagt, bei der Erarbeitung einer Verfassung bräuchten Sie eine Denkpause, Sie müssten in Ruhe darüber nachdenken. Nun sagen Sie, Sie wollen die Verfassung so, wie sie ist. Frau Bundeskanzlerin, Mehrheiten in Frankreich und in Holland haben die Verfassung abgelehnt. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. ({9}) Sie können doch nicht einfach sagen: „Wir machen eine Pause“ und dann die gleiche Verfassung wieder einbrin2900 gen. Man muss sich doch Gedanken darüber machen, was man ändern muss, um die Mehrheit der Bevölkerungen dafür zu gewinnen, gerade wenn man, wie auch wir, die Europäische Union will. Ich fordere Sie auf: Denken Sie neu über den militärischen Teil nach und darüber, wie der Neoliberalismus aus der Verfassung verdrängt wird. ({10}) - Sie machen hier doch nichts weiter als neoliberale Politik: ({11}) Sie wollen das Rentenalter heraufsetzen. Die Jungen sollen weniger Arbeitslosengeld II bekommen. Die von Arbeitslosengeld II Betroffenen wollen Sie auf unangenehmste Weise kontrollieren. Der Sparerfreibetrag soll heruntergesetzt werden. Dann machen Sie eine Reichensteuer, die nicht einmal ein Witz ist. - Das ist die Wahrheit. So wird gegenwärtig Politik organisiert. ({12}) Mit dieser Politik werden Sie den Haushalt nicht konsolidieren, aber die Gesellschaft weiter entsolidarisieren. Das ist das Problem. ({13}) Wir brauchen eine Europäische Union des Friedens und der Abrüstung und eine Europäische Union der Wohlfahrt, aber dies nicht für die 10 Prozent Reichsten in der Gesellschaft, sondern endlich für die Mehrheit der Bevölkerungen. Dann wird es auch ein Ja zu einer veränderten und brauchbaren Verfassung für Europa geben, die wir zweifellos dringend benötigen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Gysi, ich weiß, dass Sie jetzt erst die richtige Betriebstemperatur erreicht haben. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das stimmt, Herr Präsident. Ich komme langsam in Form. Das haben Sie gut erkannt. ({0}) Zum Schluss möchte ich aber noch einen Gedanken vorbringen: Dann, Frau Bundeskanzlerin, habe ich die Hoffnung, dass wir eine Jugend erleben, von der wir sagen können, sie habe ein erweitertes europäisches Selbstbewusstsein. Es wäre doch eine Chance, wenn solche Leute einer europäischen Mannschaft und nicht nur ihrer Nationalmannschaft die Daumen drücken würden. Davon sind wir leider noch meilenweit entfernt, aber wir werden es noch erleben. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Vorsitzende der CDU/CSUFraktion, Volker Kauder. ({0})

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit 60 Jahren leben wir Europäer in Frieden. Diese lange Phase des Friedens ist historisch einmalig. Schon deshalb ist die europäische Integration eine Erfolgsgeschichte ohne Beispiel. ({0}) Diese Erfolgsgeschichte ist eng verbunden mit den christlich-demokratischen Baumeistern Europas: Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Robert Schuman und Helmut Kohl. Allerdings ist diese Leistung für die Mehrheit der Menschen selbstverständlich geworden. Daher fragen sie nach dem Nutzen der Europäischen Union. Das Dilemma besteht darin, dass ausgerechnet die fundamentalen Errungenschaften der EU - Friede, Versöhnung, Sicherheit und Wohlstand - in der Wahrnehmung vieler Menschen nicht mehr ausreichen, um den Nutzen der europäischen Integration darzustellen. Wir alle erleben in unseren Wahlkreisen unmittelbar, wie deutlich der Unmut gewachsen ist. Nur noch jeder vierte Deutsche glaubt, dass die Mitgliedschaft in der EU für Deutschland unter dem Strich Vorteile hat. Nur jeder Vierte! Das liegt auch daran, dass die Menschen mit Sorge zur Kenntnis genommen haben, dass die EU in den letzten Jahren nach ihrer Auffassung zu schnell gewachsen ist. Das hat zu strukturellen Schwierigkeiten geführt. Damit die EU ihre Erfolgsgeschichte fortsetzen kann, brauchen wir jetzt dringend eine Phase der Konsolidierung. Zunächst müssen wir unsere Vorstellungen von Europa neu definieren und nüchtern fragen: Was ist die EU? Was soll die EU werden? Welche Aufgaben liegen vor uns? Ich sehe eine zentrale Aufgabe der EU in der inhaltlichen Vertiefung. Es ist deshalb richtig, wenn die Bundeskanzlerin sagt, dass die EU nicht unbegrenzt wachsen kann. Daraus folgt eine klare Erkenntnis: Der Wunsch eines Landes nach Aufnahme in die Europäische Union muss auch mit der Aufnahmefähigkeit der EU in Übereinstimmung gebracht werden. ({1}) Wichtiger als Konferenzen zur Seele und zur Identität Europas ist, dass wir uns kritisch den gegenwärtigen Zustand der Europäischen Union anschauen und fragen: Ist es gut so? Hier - da hat die Bundeskanzlerin völlig Recht - müssen wir die EU so beim Wort nehmen, wie es im Verfassungsvertragsentwurf steht. Nur die Aufgaben, die die Nationalstaaten allein nicht mehr regeln können, dürfen auf europäischer Ebene behandelt werden. Das ist der Kern von Subsidiarität und diesen Kern müssen wir europarechtlich verankern. Wir benötigen daher eine klare Abgrenzung von Verantwortungsbereichen, so wie sie durch die europäische Verfassung angestrebt wird. Wir können nicht zulassen, was gerade in diesen Tagen vom Präsidenten der EU-Kommission wieder formuliert worden ist, nämlich dass die Europäische Kommission immer wieder nach neuen Kompetenzen greift. Das untergräbt die politische Legitimität der EU. ({2}) Nur um zwei Beispiele zu nennen: Was hat die Europäische Kommission mit den deutschen Naturschutzgebieten zu schaffen ({3}) oder mit der Frage, ab welcher Außentemperatur Arbeitnehmer frei bekommen? Immerhin ist diese irrsinnige „Sonnenscheinrichtlinie“ inzwischen entschärft worden. Auf den Einwand, dass es ohne die EU diese Gebiete nicht gäbe, muss ich Ihnen sagen: Ich glaube, dass der Deutsche Bundestag und die deutschen Bundesländer sehr wohl in der Lage sind, in eigener Kompetenz die Naturschutzgebiete in unserem Land festzulegen. ({4}) Dazu brauchen wir keine europäische Richtlinie. ({5}) Die Europäische Kommission sollte sich eher darauf konzentrieren, Regulierungen auf den Prüfstand zu stellen und sie abzubauen, wenn sie nicht notwendig sind. Nicht Bürokratieaufbau, sondern Bürokratieabbau muss zum Markenzeichen der Europäischen Union werden. Deutschland hat eine besondere ordnungspolitische Verantwortung für Europa. Subsidiarität bedeutet für alle Ebenen mehr Freiheit. Diese Freiheit müssen wir ermöglichen, weil die sichtbare Zurechenbarkeit von politischer Verantwortung die EU transparenter, verständlicher und insgesamt handlungsfähiger macht. Mit diesem Mehr an Freiheit und dem Mehr an Transparenz bringen wir die Europapolitik wieder näher an die Menschen und das ist dringend notwendig. Nahe bei den Menschen ist auch der individuelle Nutzen der europäischen Integration. Wenn wir uns die Exportzahlen anschauen, stellen wir fest: Zehntausende Arbeitsplätze bestehen in Deutschland allein dadurch, dass die neuen Mitgliedstaaten viel mehr Waren aus Deutschland einführen, als sie hierher exportieren. Durch das integrierte Europa können also Arbeitsplätze entstehen. Ich bin außerordentlich dankbar, dass es jetzt in Europa gelungen ist, zu sagen: Arbeitsplätze sollen am jeweiligen Ort entstehen. Europäische Fördermittel sollen nicht dazu genutzt werden, von einem Land ins andere Land transportiert zu werden. ({6}) Auch dies ist heute in der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin deutlich geworden: Wir alle müssen der EU mehr Beachtung schenken. Die Themen und Entscheidungsprozesse in Brüssel verdienen mehr öffentliche Aufmerksamkeit; denn kritische Aufmerksamkeit zwingt zu Transparenz: Was wird entschieden? Welche Auswirkungen hat das? Welches sind die deutschen Interessen? - Was man erreichen kann, wenn man sich frühzeitig um die Themen und die Entwicklungsprozesse in der Europäischen Kommission - ich nenne nur die Entsenderichtlinie und die Dienstleistungsrichtlinie - kümmert und darauf Einfluss nimmt, haben wir in diesen Tagen auch durch den Einsatz der Bundesregierung erlebt. Genau so muss es gemacht werden. ({7}) Wenn die Dinge erst beschlossen sind und den nationalen Parlamenten vorgelegt werden, können wir sie nicht mehr richten. ({8}) Wir müssen schneller erfahren, welche Aufgaben aus Brüssel auf uns zukommen. Deshalb wird der Deutsche Bundestag ein Verbindungsbüro in Brüssel einrichten. Wir müssen einfach schneller und dichter am Ball sein und in Brüssel deutlich machen: Der Deutsche Bundestag ist nicht Vollstrecker der Brüsseler Bürokratie, sondern Mitgestalter europäischer Politik. Auch dafür sind wir in die nationalen Parlamente gewählt worden. ({9}) Frau Bundeskanzlerin, wir werden Sie und die Bundesregierung deshalb dabei unterstützen, europäische Fehlentwicklungen rechtzeitig zu verhindern und dafür zu sorgen, dass Richtlinienentwürfe dann nicht auf den Weg gebracht werden, wenn sie nicht notwendig sind und wenn sie unseren Interessen nicht entsprechen. Wir werden uns also früher und mehr um Brüssel kümmern, sehr viel mehr, als es in der Vergangenheit geschah. Nur so können wir mitgestalten. ({10}) Die Europäische Union hat Kompetenzen an sich gezogen, die besser bei den individuellen Mitgliedstaaten aufgehoben wären. Dort aber, wo die Handlungsfähigkeit der EU wirklich gefragt ist, sind die Fortschritte durchaus noch ausbaufähig. Die Bundeskanzlerin hat ein zentrales Thema angesprochen, die europäische Außenund Sicherheitspolitik. Sie hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass bezogen auf die Frage „Was ist auf dem Balkan geschehen und wie haben wir reagiert?“ nicht die Außenpolitik der EU versagt hat. Das Problem war vielmehr, dass sich die Nationalstaaten, die noch gar keine EU-Politik formuliert haben, nicht rechtzeitig und richtig haben einigen können. Deshalb ist die Frage, wie die Europäische Union Außenpolitik gestalten und mit einer Stimme sprechen kann - ich nenne beispielhaft nur das uns so berührende Thema: Wie gehen wir mit dem Iran um? -, von zentraler Bedeutung. Nicht die Sonnenscheinrichtlinie ist die Zukunft der EU, sondern die außenpolitische Handlungsfähigkeit - das ist die Zukunft. ({11}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die EU hat eine enorme Anziehungskraft nach außen. Diese Ausstrahlung verschafft Autorität und hat bisher erfolgreich Stabilität, Wohlstand, Demokratie und Sicherheit verbreitet. Dabei waren die Erweiterungen der EU notwendig und sinnvoll und nicht Ausfluss einer Gefälligkeitspolitik. Die Länder müssen fit für Europa sein; darauf hat die Bundeskanzlerin hingewiesen. Deswegen sage ich hier, Frau Bundeskanzlerin: Jawohl, Rumänien und Bulgarien gehören zu Europa. Ich sage Bulgarien und Rumänien aber auch: Im Schlussspurt gibt es noch etwas tun. - Wir werden den Fortschrittsbericht ganz genau anschauen. Bulgarien und Rumänien haben jetzt noch Zeit, einiges zu verändern. Die Voraussetzungen für Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit müssen auf dem Weg nach Europa gewährleistet sein. ({12}) Es ist auch richtig, dass wir angesichts der Größe der EU in Zukunft kreativ sein müssen, wenn es darum geht, neue Formen außenpolitischer Zusammenarbeit zu entwickeln. Eine vernünftige Nachbarschaftspolitik - das wurde bereits formuliert - ist eine wichtige Zukunftsaufgabe für die Union. Bei der weiteren Entwicklung der Union sind wir uns aber durchaus auch unserer gemeinsamen Werte der Aufklärung, des christlichen Menschenbildes und unserer Begabung zur Freiheit bewusst. Deshalb ist es auch richtig, dass diese Grundpositionen in einem EU-Verfassungsvertrag angesprochen werden. Das sind aus unserer Sicht konstituierende Elemente für eine Europäische Union. Wer glaubt, etwas zu sein, hat aufgehört, etwas zu werden. Diese Einsicht von Sokrates hat auch für die Europäische Union Bestand. ({13}) Ungeachtet der Denkpause für Europa - der Status quo ist keine Lösung. Die EU muss ihre Fähigkeit, Probleme zu lösen, auf einer neuen Stufe beweisen. Dann wird auch ihr Nutzen wieder deutlicher sichtbar werden und die Europäische Union wird eine größere Zustimmung durch die Menschen erfahren. Zum Schluss möchte ich uns allen eine kluge Mahnung des Verfassungsrichters Udo di Fabio mitgeben: Nicht nur der freiheitliche Nationalstaat, sondern auch die Europäische Union ist kein Selbstzweck, sondern um der Menschen willen und ihrer Würde und Freiheit wegen da. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Vorsitzende der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, Renate Künast.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Verlaub, Frau Bundeskanzlerin, mir war diese Regierungserklärung in Sachen Europa zu wenig. ({0}) Das war eine Art abstraktes Gemälde. Es war mir aber zu abstrakt. Wenn Sie entlang der Straße Unter den Linden zur Humboldt-Universität gehen, dann können Sie dort im Eingangsfoyer einen Satz von Marx lesen. Dort steht: Die Philosophen haben die Welt nur unterschiedlich interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern. Sie haben heute nur interpretiert und nicht konkret gesagt, was Sie verändern wollen. ({1}) Ich muss allerdings sagen, dass ich froh darüber bin, dass Sie sich mit dieser Verve positiv für Europa positionieren. Es fehlt nur noch, dass Sie auch Herrn Kauder an dieser Stelle überzeugen. Warum? Wir alle haben noch in Erinnerung, wie gerade die CDU/CSU in den letzten Jahren systematisch Emotionen gegen die Europäische Union geschürt hat. ({2}) - Sie können ruhig lachen. Sie haben sie systematisch geschürt. Das war im Prozess hin zu Europa zu keinem Zeitpunkt hilfreich. ({3}) Es geht nicht nur um Bürokratieabbau und Ähnliches. Die Leitfrage an dieser Stelle muss lauten: In welchem Europa wollen wir leben? Das ist die Frage, auf die die Menschen eine Antwort haben wollen. Was sollen sie im Herzen fühlen, wenn es darum geht, warum dieses Europa existiert und warum sie dafür Steuern zahlen? Es geht darum, dass wir in dieser kleinen politischen Krise der Europäischen Union - so kann man es nennen neue Ziele und Visionen setzen und eine nächste Zündungsstufe erreichen. Es muss den Menschen aber auch etwas bringen. Ich sage - frei nach von Jacques Delors -: Die Menschen verlieben sich eben nicht in einen gemeinsamen Markt, sondern nur in das Wissen darum, dass es ihnen persönlich im Alltag und für die Zukunft ihrer Kinder etwas bringt. ({4}) Es reicht nicht, zu sagen, wie - und warum - sich die Europäische Union entwickelt. Wir sind von den Rohstoffen Kohle und Stahl sowie von den besonderen Interessen einiger Länder an der Landwirtschaft ausgegangen. Wir müssen aber über den Rohstoff der Zukunft reden. Die wichtigsten Rohstoffe der Zukunft sind Energie, Bildung und Forschung. Darüber haben Sie zu wenig geredet. ({5}) - Das Soziale leitet sich daraus ab. Sie werden es merken, wenn Sie genau hinschauen. Die Rohstoffe heißen Energie, Bildung und Forschung. Das sind die Zukunftsfragen. Auf diese Fragen brauchen wir europaweit Antworten. Dabei kann und muss uns auch der Verfassungsvertrag helfen. Ich habe mit Freude gehört, Frau Merkel, dass Sie gesagt haben: Die Europäische Union braucht eine neue Begründung. - Sie müssen dann aber auch sagen, was das sein soll. Das ist mehr als Ihr Satz: Wir müssen die Globalisierung nach unseren Werten gestalten. - Sie müssen auch sagen, welche Werte Sie meinen. Dabei geht es nicht einfach um die Freiheit, weltweit Geld zu investieren. Es geht auch nicht einfach um die Freiheit großer Unternehmen, sich überall in der Welt niederzulassen und sich dies durch die WTO absichern zu lassen. Wir sagen: Die Europäische Union muss dafür stehen, dass das Leben und die Gesundheit eines jeden Menschen, die sozialen Aspekte und auch der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen in der EU und im internationalen Handel abgesichert werden. ({6}) Die EU hat in vielen Bereichen keine guten Beschlüsse gefasst und Entscheidungen getroffen. Frau Merkel hat zum Beispiel über die Dienstleistungsrichtlinie geredet. Ich meine, dass die Dienstleistungsrichtlinie kein Beispiel für einen guten Kompromiss ist. Das Schlimmste haben wir zwar verhindert, aber ein wirklich guter Kompromiss ist das immer noch nicht. ({7}) Beispielsweise sind die Kompromisse bei REACH das Ergebnis aggressiver Lobbyarbeit und der Falschaussagen der Chemielobby. Auch dies ist kein guter Kompromiss. ({8}) Wir können und dürfen in Europa nicht auf bessere Zeiten warten, sondern wir müssen jetzt etwas tun. Wir brauchen eine Kultur der Exzellenz im Bildungsbereich im Wettbewerb um die klügsten Köpfe. Aber in einer solchen Exzellenz müssen sich alle, nicht nur Eliten entwickeln können. ({9}) Wir wollen beim Bürokratieabbau gerne mitmachen. Aber, Frau Merkel, Bürokratieabbau darf nicht heißen, Standards abzubauen. Die europäischen Standards für die Umwelt und das Soziale sind keine Knebelung, vielmehr dienen sie den Zielen der Europäischen Union, damit die Menschen gesund leben können und auch nachfolgende Generationen eine gesunde Umwelt haben. ({10}) Das von Ihnen gezeichnete Gemälde der Europapolitik war viel zu abstrakt, weil Sie zum Beispiel über Wettbewerb reden, aber nicht sagen, wie es mit der Lissabonstrategie weitergeht. Die EU will weltweit zu einer der wettbewerbsfähigsten Regionen werden. Aber im Energiebereich sind wir davon meilenweit entfernt. Überall auf der Welt dreht sich alles um Energie. In Russland, China, Indien oder auch in Südamerika hat man entweder die entsprechenden Rohstoffe oder sichert sie sich mit Verträgen auf Jahrzehnte hinaus. Unsere Wirtschaft leidet unter den hohen Rohstoffpreisen. Die Verbraucher haben im wahrsten Sinne des Wortes die Schnauze voll, wenn sie regelmäßig steigende Rechnungen bezahlen müssen. Sie aber haben nicht gesagt, wie die Energiepolitik aussieht. Die Europäische Union braucht eine neue Energiekultur. Nur so kann diese Lücke geschlossen werden. ({11}) Das heißt für uns, bis 2020 brauchen wir eine neue Energiekultur, mit der Europa zur energieeffizientesten Region der Welt wird. Alle Maßnahmen, die wir in Europa treffen, und alle Ausgaben müssen sich an diesem Ziel messen lassen. Das können wir nicht aufschieben. ({12}) Wir brauchen - das sage ich, weil Frau Merkel die ganze Zeit über von der Verbindung von nationalen und europäischen Elementen geredet hat - nicht einfach nur immer mehr Gipfel, auf denen viel geredet wird, aber am Ende nichts Konkretes herauskommt. Lassen Sie mich dazu Goethe zitieren: „Über allen Gipfeln ist Ruh“. ({13}) - Da sehen Sie: Quer durch Deutschland können wir auf Zitate zurückgreifen, Herr Kollege. Das ist der Neid der Bildungsbürger, oder? Wir brauchen Gipfel, die zu einem Ergebnis führen. Die Menschen müssen merken: Die Gelder werden nicht mehr für veraltete Strukturen in der EU ausgegeben. Frau Merkel ist einmal hinter Tony Blair hergelaufen und hat mit Verve gerufen, dass zu viel Geld für die Agrarwirtschaft und zu wenig für Zukunftsaufgaben ausgegeben wird. - Was ist denn heute mit diesem Satz? Wo haben Sie denn gefordert, die Gelder anders auszugeben? Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen. Wenn wir über eine neue Bildungs- und Forschungspolitik reden, weil jedes Kind in Europa - egal wo und egal, wie viel Geld die Eltern in der Tasche haben - einen wichtigen Rohstoff darstellt, dann brauchen wir an dieser Stelle neuen Schwung; dann müssen Bildung und Forschung neu ausgerichtet werden. Wir müssen - sozusagen in einer Kultur der Exzellenz in Europa das Auto entwickeln, das ohne Öl angetrieben wird, und es weltweit vermarkten. Aber dann müssen im Siebten Forschungsrahmenprogramm auch endlich neue Prioritäten gesetzt werden. Man muss vorrangig moderne Technologien unterstützen, zur schnellen Reduktion von CO2-Emissionen beitragen, sich um den größten Einspareffekt durch mehr Effizienz bemühen und klar sagen, dass es nicht angeht, den obsoleten Eura2904 tomvertrag noch mit weiteren Forschungsgeldern zu bedenken. 4,8 Milliarden Euro in Euratom zu investieren, ist falsch; sie müssen stattdessen in erneuerbare Energien und in eine Effizienzstrategie investiert werden. ({14}) Eines ist klar: Der Atomausstieg in Deutschland ist richtig. Was aber in Deutschland richtig ist, darf nicht in der Europäischen Union konterkariert werden. Dabei sind Sie, Frau Merkel, und diese Bundesregierung gefordert, sich nicht darauf zurückzuziehen, dass in Deutschland bis 2009 der Koalitionsvertrag gilt, während in der europäischen Politik genau das Gegenteil gemacht wird. Die Zukunft auch der Lissabonstrategie liegt darin, dass wir uns in der Energiepolitik weiterentwickeln. Deshalb müssen die Investitionen verlagert werden. Sie haben über internationale Aufgaben geredet. Diese bestehen aber nicht nur in der allgemeinen Feststellung, wir würden unsere Werte Glück bringend weiterverbreiten. Im nächsten Jahr ziehen wir fünf Jahre nach dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg eine Zwischenbilanz. Dabei geht es auch um die Aufgaben, zum Beispiel um die klare Verpflichtung - auch dieser Bundesregierung -, Millionen von Menschen aus der Armut zu befreien, das heißt, mehr in Entwicklungshilfe zu investieren und die europäische Außen- und Sicherheitspolitik entsprechend auszurichten. Es geht um nachhaltige Entwicklung und Krisenprävention, auch bei der G-8-Präsidentschaft. Es geht vor allem darum, weitere Beiträge zu leisten, damit die Doharunde tatsächlich eine Runde für die Entwicklungsländer wird. Ich habe Ihrer Regierungserklärung genau zugehört und war froh, dass Sie nicht in alter CDU-Manier davon gesprochen haben, dass das Boot voll sei. ({15}) Diese Mentalität hat zwar Herr Kauder ein bisschen aufgegriffen, aber nicht die Bundeskanzlerin. Das war in ihrer Rede positiv. Es geht bei den neuen Aufgaben um die Weiterentwicklung der europäischen Nachbarschaftspolitik für all diejenigen, die wir zumindest heute nicht aufnehmen können. Aber dann sollten wir nicht so tun, Frau Merkel, als würden wir den anderen einen Gefallen tun. Vielmehr haben die Europäische Union und auch Deutschland ein vehementes und elementares Interesse an solch einer neuen Nachbarschaftspolitik: denn wir wollen, dass die Länder, die aus alten Systemen herausgefallen sind, eine Perspektive bekommen und sich orientieren können. Lassen Sie uns also ehrlich sagen: Die Europäische Union muss auch dann, wenn ihr nicht alle beitreten können, gegenüber den Nachbarn mit offenen Armen dastehen. ({16}) Wir müssen unsere internationale Politik ausbauen. Lassen Sie mich noch auf eines hinweisen: Die europäische Außen- und Sicherheitspolitik muss sich in diesen Tagen an zwei Bereichen messen lassen. Das eine ist das Thema „Kongo“, über das wir demnächst auch hier diskutieren werden. Ich halte es für richtig, dass die Europäische Union auf die Bitte der UN eingeht, im Kongo einen demokratischen Prozess zu organisieren und zu unterstützen. Es wird aber im Zusammenhang mit dem Kongo auch um die Frage gehen, was wir darüber hinaus tun. Wie helfen wir beim Ausbau der dortigen Sicherheitsstrukturen? Wie helfen wir bei der Bekämpfung der Korruption und wie helfen wir, dass der Nutzen der wertvollen Bodenschätze der Bevölkerung statt irgendwelchen Eliten oder anderen Staatsangehörigen zugute kommt? ({17}) Ich habe die Rede der Kanzlerin auch in einem anderen Zusammenhang - ich denke dabei an den Iran - genau verfolgt. Europa muss zeigen, dass es die internationale Politik gegenüber dem Iran bestimmen kann. Wir wollen keine militärische Lösung. Wir wollen das, was im Irak passiert ist, nicht noch einmal erleben. Wir wissen darum, dass wir immer für die Existenz Israels stehen und eintreten wollen. Wir müssen an der Stelle eine Leistung bringen: Wir müssen ein Anreizpaket schaffen. Europas Aufgabe besteht darin, dem Iran klar zu machen, dass wir ihm sozusagen die „Carrots and Sticks“ hinhalten und dass Europa immer dafür sorgen wird - nur dann wirkt diese Maßnahme -, dass alle Länder gemeinsam hinter diesem Anreizpaket stehen werden. Nur dann haben zivile Lösungen eine Chance und nur dann wird der Druck entsprechend stark. ({18}) Mein letzter Satz. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben viel von mehr Transparenz und Kontrolle in Europa gesprochen. Ich sage Ihnen an dieser Stelle eines: Es gibt einen Punkt, an dem Sie beginnen können. Es geht in Europa nicht nur um die Frage, wer verantwortlich ist - das Europäische Parlament oder die nationalen Parlamente -, sondern auch um die Frage, wer wie viel Geld erhält. Ich fordere Sie daher auf: Unterstützen Sie die Transparenzinitiativen der Kommission! Europa kommt nur weiter, wenn wir die finanziellen Mittel umschichten. Der erste Schritt dahin ist, für mehr Transparenz zu sorgen, sodass man weiß, wer in Europa etwas von den satten Geldern erhält. Ich weiß, dass das die Landwirte, zumindest die großen, treffen wird. Aber das wäre der erste Schritt. Dann wären Sie mit einem Verfassungsvertrag, mehr Transparenz und einer neuen international verantwortlichen Politik auf dem richtigen Weg. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Künast, ich bin immer ganz beeindruckt, wenn nach Überschreiten der Redezeit der letzte Satz angekündigt wird, und wäre noch mehr erleichtert, wenn er in der Nähe der Ankündigung tatsächlich erfolgte. Präsident Dr. Norbert Lammert ({0}) Das Wort hat nun der Kollege Michael Roth für die SPD-Fraktion. ({1})

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa, die Europäische Union braucht endlich wieder mehr Mut und weniger Verzagtheit und Kleingläubigkeit. Ich störe mich ein wenig daran, wie pessimistisch und verdrossen wir über das große Projekt Europa reden und wie wenig wir bereit sind, mit den Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch darüber zu kommen, ({0}) warum es sich lohnt, Europa stark, handlungsfähig, demokratisch und zukunftsfähig zu machen. Nur so kann ein Aufbruch entstehen, und zwar sowohl in Deutschland als auch in ganz Europa. Ich frage mich manchmal, wo in Europa, in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, diejenigen sind, die zu Erneuerung und Veränderung bereit sind? Wo sind die Politikerinnen und Politiker, die die Krise, in der wir uns befinden, als eine Chance verstehen? Der Kollege Kauder hat eben große Christdemokraten angesprochen. Ich möchte ein paar Sozialdemokraten erwähnen, und zwar nicht nur Willy Brandt und Helmut Schmidt, sondern auch Jacques Delors - ihn hat schon Frau Künast erwähnt -, François Mitterrand und Olof Palme. Sie alle sind Männer - leider ist noch keine Frau darunter -, die nach vorne geschaut haben, die Visionen hatten und die sich auch dem Mainstream entgegengestellt haben. Solche Politiker brauchen wir in der Europäischen Union wieder. ({1}) Ich hoffe, dass solche Männer und Frauen auch im Bundestag und auf der Regierungsbank sitzen. Nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden ist man nicht müde geworden, den Menschen einzureden, dass nun in Europa kleine Brötchen gebacken werden müssten. Welch ein Unsinn! Seit wann haben Kleinmut und Verzagtheit zu neuen Ufern geführt? Deutschland hat sich im Übrigen immer, auch und gerade in schwierigen Zeiten, als Motor eines demokratischen, handlungsfähigen und solidarischen Europas verstanden. Auch unsere Partner erwarten das von uns. Sie erwarten von uns neue Ideen. Wir pflastern im Moment die ganze Hauptstadt mit den etwas merkwürdig anmutenden Installationen zum Thema „Land der Ideen“. Nun zeigen wir doch einmal, dass wir wirklich ein Land der Ideen sind, dass wir bereit sind, Europa nach vorne zu bringen. Wir dürfen uns nicht nur zurückhalten und in Passivität üben. ({2}) - Es liegen schon zahlreiche Vorschläge vor. Auf ein paar werde ich noch zu sprechen kommen. Es stimmt zwar, dass die europäische Verfassung in zwei Staaten keine Zustimmung gefunden hat. Aber vergessen wir nicht: In 15 Staaten hat es eine ganz klare Mehrheit dafür gegeben. Diese 15 Staaten repräsentieren die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union. Erst vorgestern hat Estland ein ganz klares Zeichen gesetzt. Finnland erwägt, die europäische Verfassung zu ratifizieren, genauso wie Portugal. Das ist wahrer Mut und wahres Verantwortungsbewusstsein. So macht man die so genannte Reflexionsphase zu etwas Wertvollem und signalisiert: Die Verfassung ist nicht tot. Dieses Verfassungsprojekt hat eine Zukunft. ({3}) Ich weiß, dass auch bei uns im Bundestag die Verfassungsdebatte allzu oft missverstanden wurde. Viele hielten sie für eine kleinkarierte Debatte, für Glasperlenspiele von Juristen und Politologen. Sie fragten sich, was eigentlich die Botschaft sei, die hinter dieser Verfassung stehe. Es geht dabei nicht nur um Institutionen und um Strukturen. Darauf hat die Bundeskanzlerin hingewiesen. Es geht um die große Frage, wie wir Globalisierung demokratisch gestalten und wie wir uns in den Prozess der Globalisierung einbringen können. Das geht nicht, indem wir Ängste schüren wie die PDS, sondern indem wir deutlich machen, dass die Politik es schafft, den Menschen nach innen und nach außen Sicherheit zu geben und auch soziale Sicherheit zu schaffen. Das ist unser großes Projekt. Wir müssen endlich den Beweis erbringen, dass Vertiefung und Erweiterung zwei Seiten derselben Medaille sind. ({4}) Die EU hat sich aus guten Gründen erweitert. Wir haben die Teilung Europas überwunden. Jetzt müssen wir mit der Vertiefung voranschreiten. Eine immer größer werdende Europäische Union braucht mehr Demokratie, sie braucht handlungsfähige Strukturen und sie muss außenpolitisch - da hat Herr Kauder völlig Recht - mit einer Stimme sprechen und einheitlich handeln. Da haben wir noch verdammt viel zu tun. Die Verfassung gibt nicht in allen Bereichen ausreichende Antworten. Sie ist aber ein wichtiger Schritt nach vorne. Wenn man die Verfassung mit den Ergebnissen der Regierungskonferenzen von Amsterdam und Nizza vergleicht, dann stellt man fest, dass sie ein großer Schritt nach vorne gewesen ist, den die Parlamentarierinnen und Parlamentarier des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente ermöglicht haben. Ich bin durchaus bereit, darüber zu streiten, ob es zu diesem Verfassungsvertrag nicht möglicherweise Ergänzungen geben kann, um die Kernbotschaften der Verfassung, die anders lauten, als Sie, Herr Gysi, es dargestellt haben, zu schärfen. Kritik kann aufgenommen werden. Es kann durchaus eine Erklärung zur sozialen oder kulturellen Identität aufgenommen werden, die Präambel kann revidiert oder es können Teile aus der Verfassung herausgelöst werden, die nicht zwangsläufig in eine Verfassung gehören. Lassen Sie uns darüber reden! Lassen Michael Roth ({5}) Sie uns deutlich machen, dass wir den politischen Willen dazu haben! Danach können uns Juristinnen und Juristen erklären, ob das alles zu machen ist. Wir brauchen zunächst einmal einen Schritt nach vorne und die Botschaft, dass wir dieses Projekt wirklich realisieren wollen. ({6}) Acht Kolleginnen und Kollegen hatten in dieser Woche Gelegenheit, an der Konferenz des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente in Brüssel teilzunehmen. Ich war hocherfreut, zu sehen, dass es unter den Abgeordneten ganz viele Freundinnen und Freunde dieses Verfassungsprojekts gibt, gerade aus den Ländern, in denen es keine Mehrheit - noch keine Mehrheit - für das Verfassungsprojekt gegeben hat. Darauf sollten wir aufbauen. Die Grundsatzdebatte wird durch einen Beitrag der EU-Kommission ergänzt. Sie hat sich gestern dazu geäußert. Sie will Ergebnisse für Europa liefern. Ich hätte mir von der Europäischen Kommission mehr Selbstkritik gewünscht. Die ursprünglichen Vorschläge der Kommission zur Dienstleistungsrichtlinie - Stichwort Bolkestein haben zum Glaubwürdigkeitsverlust der EU beigetragen, weil nicht deutlich wurde, dass eine Vervollkommnung des Binnenmarktes auch Solidarität bedeutet. Wir dürfen den Binnenmarkt nicht in dem Sinne vervollkommnen, dass Lohndumping betrieben wird und soziale Standards in den Mitgliedstaaten gefährdet werden. Das ist die Botschaft. Ich hoffe, dass die Kommission diese Botschaft, die von den Menschen und den nationalen Parlamenten kam, verstanden hat. ({7}) Auch von einigen nationalen Regierungen hat es Zustimmung für die Vorschläge der Kommission gegeben. Auch ihnen gegenüber ist Kritik angebracht. Zu dieser Kritik gehört auch Selbstkritik. Wir tun oft so, als komme das Gute nur aus den nationalen Hauptstädten und das Schlechte immer aus Brüssel. Das ist falsch. Kein einziges Gesetz kommt in der EU zustande, ohne dass die nationalen Regierungen im Rat mitwirken. Wir sitzen bei der europäischen Gesetzgebung immer mit im Boot. Wir sollten den Leuten keinen Sand in die Augen streuen, sondern deutlich machen, dass wir ein ganz wichtiger Partner dieses Europas sind. Die nationalen Hauptstädte gehören unverzichtbar zu Brüssel. Wir kennen das Spiel: Früher hat man bei Ratlosigkeit einen Arbeitskreis gegründet, heute eröffnet man eine Denkpause. Das ist die so genannte Reflexionsphase. Diese soll verlängert werden. Ich bin skeptisch. Offensichtlich verstehen viele unter einer Denkpause nicht eine Pause zum Denken, sondern eine Pause vom Denken. Wir sollten jetzt deutlich machen, dass zu dieser Reflexionsphase Ideen und die Bereitschaft, sich zu streiten, gehören. Das fehlt mir. ({8}) Ich danke der Bundeskanzlerin und dem Außenminister dafür, dass sie sich für die Verfassung einsetzen. Auch die EU-Kommission sollte die Initiative ergreifen und in die Offensive gehen. Was sie momentan aber betreibt, ist „Rosinenpickerei durch die Hintertür“. Es ist zwar sachlich richtig, dass die Europäische Union perspektivisch mehr Kompetenzen im Bereich der sozialen Sicherheit und bei der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit braucht - sicherlich geht es auch um ein besseres Miteinander zwischen den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament -; aber jetzt zu fordern, der europäischen Ebene neue Kompetenzen zukommen zu lassen, ist verantwortungslos. Wir halten einen solchen Schritt nur dann für verantwortbar, wenn dieses Verfassungsprojekt als Ganzes durchgesetzt wird. Denn eine Verlagerung zusätzlicher Kompetenzen auf die europäische Ebene ist nur in Verbindung mit Ratsreformen akzeptabel, zum Beispiel dem Prinzip der doppelten Mehrheit, und einem gestärkten Europäischen Parlament. Nur wenn das gegeben ist, können wir der Abwanderung von weiteren Kompetenzen auf die europäische Ebene zustimmen. Wir sollten uns dagegen wehren, dass die Kommission durch die Hintertür die Aufweichung dieses Verfassungskompromisses betreibt. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Roth, schauen Sie bitte gelegentlich auf die Uhr.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Bundeskanzlerin, zum Schluss möchte ich gern noch eine Bitte äußern. Wie der Kollege Kauder eben schon angesprochen hat, stehen Bundestag und Bundesregierung in Verhandlungen darüber, wie wir die Mitwirkungs-, die Mitentscheidungs- und auch die Kontrollmöglichkeiten des Bundestages ausweiten können. Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn Sie, Frau Bundeskanzlerin, die Verhandlungsführer der Bundesregierung, nämlich Staatsminister Gloser und Staatssekretär Hintze, bei dieser Arbeit unterstützten. Wir brauchen eine parlamentsfreundliche Regelung. Mehr Rechte für das deutsche Parlament bedeuten nicht mehr Blockaden, sondern ein höheres Maß an Legitimation für europäische Entscheidungen, ein Stück mehr Verantwortung für den Bundestag und auch unsere Verpflichtung, Europapolitik endlich ernster zu nehmen, als wir es in den vergangenen Jahren getan haben. Ich wünsche mir mehr Mut, mehr Entschlossenheit. Vielleicht kann auch die heutige Debatte einen kleinen Beitrag dazu leisten. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Christian Ahrendt für die FDP-Fraktion. ({0})

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben jetzt viel zum Thema „europäische Verfassung“ gehört. Wir haben in dieser Woche lesen müssen - wir haben auch in der Regierungserklärung heute Morgen nichts dergleichen gehört -, dass die Bundesregierung keine Initiative plant, den EUVerfassungsprozess neu zu beleben. Ich halte dies für unverständlich. Es ist vielleicht aus Sicht der Bundesregierung verständlich, sich auf den Standpunkt zu stellen, dass dieser Verfassungsprozess derzeit nicht von Erfolg gekrönt ist und dass eine neue Initiative daher keinen Erfolg haben kann. Ich glaube, dass das ein Irrtum ist. Europa - weniger Deutschland - braucht vielmehr gerade das, was die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung im letzten Jahr hier vorgetragen hat: Es sind die berühmten kleinen Schritte, die uns in Europa weiterbringen. Diese Schritte müssen gewagt werden. Die EU-Verfassung ist in erster Linie daran gescheitert, dass sie eine Verfassung für Politiker, für Verwaltungen und weniger eine Verfassung für Menschen ist. Sie ist letztendlich auch dort gescheitert, wo sie den Bürgerinnen und Bürgern in Europa begegnet ist. Den Ernstfall haben wir in Frankreich und in den Niederlanden gesehen: Dort ist die Verfassung in einem Referendum abgelehnt worden. Wir können diesen Zustand nur ändern, wenn wir kleine Schritte gehen. Die FDP hat Ihnen hier einen solchen kleinen Schritt vorgeschlagen, indem sie beantragt hat, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Kommunen zu erleichtern. Wir alle wissen, dass die Grenzregionen in Europa ein wesentlicher Faktor sind, um den europäischen Integrationsprozess voranzubringen. Die Bürger in den Grenzregionen erleben, wie Europa etwas vor Ort regeln kann. Ich will das an einem kleinen Beispiel erläutern. Der Zweckverband auf der Insel Usedom kann sein Abwasser in Zukunft nicht mehr entsorgen, weil die Kapazitäten ausgeschöpft sind. In der Stadt Swinemünde gibt es ausreichende Klärwerkskapazitäten. Um eine Zusammenarbeit zwischen dem Zweckverband auf der einen Seite und der Stadt Swinemünde auf der anderen Seite zu ermöglichen, bedarf es zwischenstaatlicher Übereinkommen, die derzeit nicht geschlossen werden können. Ein solches Modell gibt es aber. Das ist das Karlsruher Übereinkommen von 1996, damals geschlossen zwischen der Schweiz, Frankreich, Luxemburg und Deutschland. Das hat Modellcharakter. Wir brauchen dieses Modell nur umzusetzen. Das ist ein kleiner Schritt, wenn es darum geht, die Integration in Europa gerade in den Grenzregionen nach vorn zu treiben und damit auch den Verfassungsprozess neu zu beleben, aus dem einfachen Grund: Wenn die Menschen anhand konkreter Beispiele endlich erleben, wie die europäische Integration auch bei ihnen vor Ort wirkt, dann kommen wir dem Ziel ein Stück näher, dass die Verfassung nicht nur in den Parlamenten Aussicht auf Erfolg hat, sondern dass sie auch in den Köpfen der Menschen verankert wird und wir am Ende einen erfolgreichen Verfassungsprozess erleben. ({0}) Wenn wir diesen Weg gehen und Sie den Antrag unterstützen, dann ist das einer der Schritte, die wir brauchen, um den Gesamtprozess wieder zu beleben. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Henning Otte für die CSU/CSU-Fraktion. ({0})

Henning Otte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003821, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der WDR hat in dieser Woche anlässlich des Europatages zu einem Forum in Berlin mit dem Thema „Europas ungewisse Zukunft“ eingeladen. Auch dieses Forum hat verdeutlicht, dass die Zukunft Europas nicht von sich aus sicher ist, sondern aktiv gestaltet werden muss. Europa braucht dazu mehr Vertrauen. Die Politik muss noch stärker für die Akzeptanz Europas werben. Sie muss Entscheidungen transparenter machen, damit der europäische Gedanke einen festen Platz im Bewusstsein der Bürger erlangt. Dafür brauchen wir ein europäisches Wir-Gefühl, das Bewusstsein für eine große gemeinsame Aufgabe. Herr Gysi, zu Ihrer Neiddiskussion kann ich nur sagen: Sie haben diese gemeinsame Aufgabe, dieses europäische Wir-Gefühl noch immer nicht verstanden. ({0}) Wir müssen die Menschen mitnehmen und ihnen die Vorzüge Europas gerade für unser Land, aber auch für Europa insgesamt deutlich machen. Die Menschen sind kritisch. Die Menschen wissen aber auch um die Notwendigkeit und Bedeutung Europas. Das zeigt sich insbesondere darin, dass nach einer jüngsten Forsa-Umfrage 50 Prozent der befragten Bürger der Meinung sind, Europa sei für sie im vergangenen Jahr wichtiger geworden. Über 60 Prozent halten eine EU-Verfassung für notwendig. Wir alle, meine sehr verehrten Damen und Herren, ob in den nationalen Parlamenten und Regierungen oder in den EU-Institutionen, sind aufgefordert, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen und sie mit einem vernünftigen Konzept zu überzeugen. ({1}) Wir müssen ihnen verdeutlichen, dass die EU-Bürger mit Europa in eine Win-win-Situation kommen. Lassen Sie mich das an drei Beispielen festmachen: an der Erweiterung, an der Energiepolitik und an der Strukturförderung. ({2}) Vor zwei Jahren hat die EU die größte Erweiterungsrunde ihrer Geschichte vollzogen. Heute können wir zu Recht sagen: Das war ein wichtiger, ein richtiger Schritt und ein Erfolg. Wir haben nicht nur die Vollendung der Vision Europas maßgeblich vorangebracht, sondern auch die Teilung Europas endgültig überwunden. ({3}) Nach einer Studie des Deutschen Industrie- und Handelskammertages sind in Deutschland durch die EU-Erweiterung 80 000 neue Stellen geschaffen worden. 5,5 Millionen deutsche Arbeitsplätze werden durch den Export in europäische Nachbarstaaten gesichert. Wir dürfen angesichts der anstehenden Erweiterung aber nicht vergessen: Nur eine funktionierende EU kann den neuen Beitrittskandidaten die Unterstützung geben, die sie erwarten. ({4}) Vorfestlegungen und einen Beitrittsautomatismus darf es nicht geben. ({5}) Wir werden insgesamt nicht darum herumkommen, uns auf Grenzen festzulegen und Wege zu entwickeln, die abgestufte Modelle beinhalten. Folglich müssen - hier denke ich an Bulgarien und Rumänien - die Aufnahmekriterien erfüllt werden. Nur wenn wir auf der Erfüllung der Beitrittsbedingungen bestehen und die Beitrittskandidaten auch wissen, dass wir diese Vorsätze ernst nehmen, kann Europa zu einem Markenzeichen nach innen wie nach außen gedeihen. ({6}) Ich erwarte, dass die Kommission ehrlich mit dem Fortschrittsbericht umgeht und entsprechend reagieren wird. Das gehört dazu, wenn eine Win-win-Situation entstehen soll, und nur das schafft Vertrauen in Europa. ({7}) Die Energiepolitik wird in den nächsten Jahren eines der zentralen und bestimmenden Themen sein. Die Versorgung eines Landes bestimmt die künftige Entwicklung, die Zukunftschancen, aber auch die Wettbewerbsfähigkeit. Die Energiepolitik in der Europäischen Union muss mittel- und langfristig zu einer Verringerung der Rohstoffimporte und zur Bekämpfung der globalen Klimaveränderung beitragen. Aber sie muss auch einen Beitrag zur Lissabonstrategie leisten. Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum können nur mit einer wettbewerbsfähigen Energie und wettbewerbsfähigen Energiepreisen geschaffen werden. Hier müssen wir auch die deutschen Interessen in der Energiepolitik verdeutlichen: Wir wollen die weitere Liberalisierung und Öffnung der Märkte für Strom und Erdgas und wir müssen unsere Versorgungssicherheit gewährleisten sowie Energieeinsparung und den Ausbau erneuerbarer Energien, aber auch Innovation und Forschung vorantreiben. Das hat die Frau Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung ganz deutlich gesagt. Frau Künast war anscheinend nicht im Bilde, als die Regierungserklärung dazu abgegeben worden ist. ({8}) Das war ein eindeutiger Schwerpunkt, den Frau Merkel hier gesetzt hat. ({9}) Insgesamt setzen wir in Deutschland auf eine Zieltrias aus Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Umweltverträglichkeit, und das im europäischen Kontext. Das ist die Win-win-Situation, die wir in Deutschland brauchen, die Vertrauen schafft und die die Menschen von Europa überzeugt. Die Strukturhilfe im Rahmen der Zielförderung sowie die Mittel für die Gemeinschaftsaufgaben stellen einen weiteren Bereich dar, an dem wir deutlich sehen, was Europa für uns leistet. Seit der Einigung des Ministerrates am vergangenen Freitag steht fest, dass die Ziel-1Förderung für die neuen Bundesländer, aber auch für den so genannten alten Regierungsbezirk Lüneburg und damit für meinen Wahlkreis Celle-Uelzen ab 2007 bereitstehen wird. ({10}) In einer beispielhaften Zusammenarbeit von Kommission, Europäischem Parlament, Bundesregierung, Bundestag sowie den Ländern und Kommunen konnte hier ein hervorragendes Ergebnis erzielt werden. Dazu gehört: Die private Kofinanzierung wird möglich sein. Die Anrechenbarkeit der nicht erstattungsfähigen Mehrwertsteuer ist gesichert. Die gewerblichen Investitionen können gefördert werden, ohne dass dies zu Abwanderungen führen wird. Das ist ein großer Erfolg für unsere Region. ({11}) Wir müssen nun gemeinsam am Ball bleiben, damit die Ausgestaltungen der Förderprogramme wirkliche Strukturverbesserungen vor Ort erzielen. Denn das, meine sehr verehrten Damen und Herren, wird ein Gewinn für die Menschen vor Ort sein. Sie werden diese europäische Strukturförderung nutzen und damit wird die Akzeptanz für Europa weiter steigen. Das ist Ausdruck der Win-win-Situation vor Ort. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam um Vertrauen für ein gemeinsames Europa werben. Wir wollen dieses gemeinsame Europa weiterbauen. Nicht mies machen, sondern anpacken, die Chancen für Deutschland und für Europa nutzen - das ist das, was die Menschen von uns erwarten. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Otte, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation und alles Gute für Ihre weitere Arbeit! ({0}) Ich erteile nun Kollegen Diether Dehm, Fraktion Die Linke, das Wort. ({1})

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Botschaft des französischen und holländischen Referendums ist doch klar: Die Leute - auch die Mehrheit der Deutschen, die Sie per Volksabstimmung zu Wort kommen zu lassen höchst vorsorglich nie gewagt haben wollen keine Verfassung, vor der sie in Deckung gehen müssen, und keinen ungehemmten Wettbewerbskannibalismus ({0}) - natürlich! - über die Sozialbindung des Eigentums in unserem Grundgesetz hinweg. Sie wollen keinen Verfassungsvertrag, der dem neoliberalen Sozialdumping, dem Lohndumping und dem Mittelstandsruin die Tore sperrangelweit öffnet. ({1}) Die Leute wollen auch keine verfassungsmäßig legitimierten EU-Eingreiftruppen rund um den Erdball. Die Mehrheit der Europäer und auch wir wollen nicht keinen, sondern einen anderen Verfassungsvertrag. Wir wollen einen - ich zitiere aus unserem Entschließungsantrag -, der „die Grundintention eines sozialen, friedfertigen und demokratischen Europas im Geiste seiner Gründer und Gründerinnen und im Einklang mit dem Willen der Bevölkerungsmehrheit in den EU-Mitgliedstaaten widerspiegelt“. Die Verfassung ist nicht das Problem. Die Politik dahinter ist der Kern der hausgemachten so genannten Verfassungskrise. ({2}) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben deswegen wohl auch vor einem Schnellschuss gewarnt, um den selbst mit aufgebauten Erwartungsdruck hinsichtlich der deutschen EU-Präsidentschaft 2007 jetzt etwas zu dämpfen. Hören Sie also auf, große Worte wie „neue Ostpolitik“ zu tönen und damit Willy Brandt wieder einmal zu verhunzen! In der Tat: Da fehlen für die deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Grenzregionen nach wie vor die Abkommen, die die grenzüberschreitende Bekämpfung der Geflügelpest oder ähnlicher Katastrophen ermöglichen. Wir finden den dazu vorliegenden Antrag der FDP sehr viel konkreter als Ihre großen Worte. ({3}) - Ich danke Ihnen, Herr Löning. ({4}) - Unsere Zustimmung ist doch selbstverständlich, wenn wir etwas vernünftig finden. Da sehen Sie einmal, wie undogmatisch die Linken sind. Laut „Spiegel online“ vom 9. Mai 2006 fordern Sie, Frau Merkel, dass sich - ich zitiere wörtlich - „EU-Staaten nicht gegenseitig die Rohstoffe wegnehmen“. Frau Merkel, warum eigentlich nur „EU-Staaten“? Was versteht die Bundesregierung laut „Die Welt“ vom 18. April unter „Offensive in Richtung Kaukasus“? Was meint Herr Jung mit einer Einbeziehung der Energieversorgung in eine „vernetzte Sicherheitspolitik“? Was ist von einem Verteidigungsminister zu halten, dessen Verteidigungsbegriff so ungefähr alles umfasst, was angeblich Deutschland und der EU nützt? Deutschland auf den Spuren des Terrorexperten im Weißen Haus und seiner Energiesicherung im Irak und im Iran? Frau Merkel, dass Sie sich den größten Brecher des Völkerrechts der letzten zwei Jahrzehnte am 14. Juli nach Stralsund in Ihren Wahlkampf holen, ist schon ein bemerkenswerter Schulterschluss. Helfen Sie Mecklenburg-Vorpommern lieber wirtschaftlich, statt solche zweifelhaften Showeffekte zu initiieren! ({5}) Heute und in den nächsten drei Tagen werden Tausende von überwiegend jungen Menschen nach Wien fahren. Sie werden dies nicht tun, um das Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur zu bejubeln, mit dem die großen Agrarunternehmen in Lateinamerika noch größer werden und die Kleinbauern um ihre Existenz gebracht werden können. In unserem Antrag zur EU-Lateinamerikapolitik haben wir ausführlich begründet, warum wir den Verzicht auf ein Freihandelsabkommen fordern. Wir sollten aus dem Verhandlungspaket jene Teile aus den Titeln „Dialog“ und „Kooperation“, die bereits ausverhandelt sind, herausnehmen und unabhängig von den anderen Teilen umgehend in Kraft setzen. Linke und andere Globalisierungskritiker werden in Wien sein, um den Aufbruch des jungen, des modernen Lateinamerikas - in Bolivien, in Venezuela und in anderen Ländern - gegen die undifferenzierten Vorverurteilungen und die Drohgebärden der EU-Kommission und der US-Regierung zu unterstützen und zu stärken. ({6}) Gerade jetzt, wo die bolivianische Regierung den Gasreichtum ihres Landes nicht mehr zum Nulltarif ausplündern lässt, sondern nationalisiert! Glaubt denn hier irgendjemand, der ökonomische Unsinn bei uns in Deutschland mit der Privatisierung der Bahn, der Post, der Wasserversorgung und der Krankenhäuser sei das Wesen, an dem die Welt genesen soll? ({7}) Dagegen stellen wir heute unseren Entschließungsantrag als klare zukunftsfähige Alternative zur Abstimmung. Nur ein soziales, solidarisches und friedfertiges Europa - nach dem Beispiel der Abwahl Berlusconis und dem Sieg der französischen Jugend über ihren Ministerpräsidenten - kann ein Partner der Völker sein. Der Gegengipfel in Wien morgen trägt den Titel „Alternativen verbinden“ „Eine andere Welt ist möglich!“. In Europa ist die andere Welt auf dem Weg. In Venezuela, Bolivien und bald in ganz Lateinamerika hat sie schon angefangen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Axel Schäfer, SPDFraktion.

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute Donnerstag; es ist Alltag. Also lassen Sie uns deshalb über die Alltagsfragen unserer Europaarbeit reden, auch wenn wir natürlich im Hinblick auf den Europatag am 9. Mai auch darüber sprechen müssen, was wir bisher erreicht haben. Der erste Punkt ist: Allen denjenigen, die Europaskepsis verbreiten, die immer genau wissen, was nicht geht, und als selbstverständlich annehmen, was gelungen ist, sei gesagt: Europa war bisher eine Erfolgsgeschichte. All das, was wir bisher voranzubringen versucht haben, ist, wenn auch über viele Schritte, gelungen. Das sollten wir deshalb in den Mittelpunkt unserer Arbeit stellen, wenn wir über die Probleme reden, die wir noch zu lösen haben. ({0}) Wir haben an einem ganz wichtigen Beispiel gesehen, wie Europa funktioniert und es zu funktionieren hat: über eine stärkere Parlamentarisierung. Viele wichtige Inhalte konnten durchgesetzt werden - es wurde schon von der Dienstleistungsrichtlinie gesprochen -, weil es im Europäischen Parlament im Rahmen einer großen Kooperation vor allem zwischen Christdemokratinnen und Christdemokraten sowie Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zu einem Sachkompromiss gekommen ist, Dinge vorangebracht wurden, die von der Kommission völlig anders gesehen wurden, und Probleme gelöst wurden, was die Regierungen allein nicht hinbekommen hätten. Uns als Parlamentarierinnen und Parlamentarier gerade hier im Bundestag sollte es ein Stück selbstbewusst machen, dass wir daran in außergewöhnlicher Weise mitwirken konnten. Denn wir haben uns rechtzeitig eingeklinkt. Wir haben das neue Verhältnis zwischen dem Europäischen Parlament und dem Deutschen Bundestag schon praktiziert. Genau darauf wird es in Zukunft verstärkt ankommen. ({1}) Wenn das aber gelingen soll, dann brauchen wir auch ein neues parlamentarisches Verständnis. ({2}) Wir brauchen - liebe zu unterstützende Regierung - ein neues Verständnis für die Zusammenarbeit von Parlament und Exekutive. ({3}) Das, was im Koalitionsvertrag zu Recht steht, nämlich dass zwischen Bundestag und Bundesregierung eine Vereinbarung getroffen wird, die auf Parlamentsfreundlichkeit basiert, werden wir auch umsetzen. Dafür werden wir uns alle miteinander anstrengen. ({4}) Das heißt auch, deutlich zu machen, dass manche ein Stückchen Abschied von der Vorstellung nehmen müssen, dass Europapolitik in besonderer Weise Außenpolitik ist; das ist Europapolitik immer auch. Aber Europapolitik ist heute in überwiegendem Maße Innenpolitik. Das ist unsere Domäne und muss auch so bleiben. Es ist eine Selbstverpflichtung, und zwar nicht nur sozusagen exklusiv für die Mitglieder im Europaausschuss, sondern auch inklusive aller anderen 23 Ausschüsse in diesem Parlament, die sich stärker europäisieren müssen. ({5}) Die Europäisierung beinhaltet auch die Frage, wie wir in dieser Gemeinschaft agieren. Wenn Europäerinnen und Europäer über europäische Fragen reden, dann ist das eine europäische Angelegenheit und keine Sache, die zwischenstaatlich abläuft oder eine Einmischung in innere Angelegenheiten bedeutet. Deshalb sage ich an dieser Stelle ganz deutlich: Ich freue mich, wenn eine Partei, die zum Verfassungsbogen gehört - also von Christdemokraten und Liberalen über die Grünen bis zu den Sozialdemokraten -, in einem europäischen Land gute Wahlergebnisse erzielt. Ich freue mich natürlich ganz besonders, wenn Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gewinnen. Es ist aber wichtig, dass wir uns in jedem Land, in dem über Europapolitik diskutiert wird, öffentlich gegen Rechtspopulisten und Europafeinde aussprechen. Das gehört zu einer solchen Debatte im Deutschen Bundestag. ({6}) Deswegen formuliere ich etwas deutlicher, als die Regierungsmitglieder es können: Den Vergleich, den der polnische Verteidigungsminister vorgebracht hat - Stichworte „Gaspipeline“ und „Molotow-Ribbentrop-Pakt“ -, ist in jeder Hinsicht unakzeptabel. Deshalb sollten wir das in diesem Haus gemeinsam zurückweisen. Das ist keine europäische Haltung, sondern widerspricht der historischen Wahrheit und ist das Gegenteil all dessen, was wir auf dem Gebiet der Europapolitik in diesem Haus bisher gemeinsam vorangebracht haben. ({7}) Auf der anderen Seite sage ich ganz klar: Ich freue mich, dass nach dem hochgeschätzten Christdemokraten Carlo Ciampi in Italien Giorgio Napolitano zum Präsidenten gewählt worden ist, ({8}) der zu unserer Parteifamilie gehört. ({9}) Axel Schäfer ({10}) Ich freue mich besonders darüber, weil er im Europäischen Parlament Vorsitzender des Verfassungsausschusses war und weil er in Italien ein Garant für Europapolitik ist. Er ist ein Gegenbild zu gewissen Separatisten, die es in der bisherigen italienischen Regierung auch gab. Das muss an dieser Stelle einmal von Parlamentarierinnen und Parlamentariern des Deutschen Bundestages gesagt werden. ({11}) Diese Bundesregierung ist natürlich verpflichtet, die Ratspräsidentschaft vorzubereiten. Das tut sie, genauso wie auch wir uns einbringen. Allein der Respekt vor denen, die zurzeit in der Verantwortung stehen, nämlich vor unseren finnischen Freunden, die sich jetzt an die Ratifizierung des Vertrages machen, und vor Österreich, das zurzeit die Ratspräsidentschaft inne hat, gebietet es aber, dass wir uns heute noch nicht festlegen. Wir wissen schließlich noch nicht, wie weit wir am Ende des Jahres gekommen sein werden. Uns muss aber bewusst sein, dass gegenüber Deutschland eine große Erwartungshaltung besteht, Europa voranzubringen und entscheidend zur Problemlösung beizutragen. Es ist gut, dass die Bundeskanzlerin auf die Kontinuität hingewiesen hat. Die letzte deutsche Ratspräsidentschaft, im ersten Halbjahr 1999, war, das sagen heute die Historiker, eine der erfolgreichsten. Es ist gut, dass wir daran anknüpfen wollen. Das ist gut für Angela Merkel und gut für Frank-Walter Steinmeier. ({12}) Ich erlaube mir aber, auf Nuancen hinzuweisen. Wir dürfen es uns nicht zu einfach machen und beispielsweise sagen: Wenn über schwierige Kommissionsvorlagen nach zwei Jahren noch nicht entschieden wurde, können sie verfallen. - Ich erinnere nur daran, dass die Vredeling-Richtlinie schon 1970 - Arbeitsminister war damals Walter Arendt, SPD - auf den Weg gebracht wurde. Erst 1994 haben sich der Rat und das Europäische Parlament über die Einrichtung europäischer Betriebsräte geeinigt - Arbeitsminister war Norbert Blüm, CDU. Dieser lange Weg war notwendig, um dieses Vorhaben im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer voranzubringen. Wir sollten darum nicht leichtfertig über bürokratisch festgelegte Verfallsdaten sprechen. ({13}) Subsidiarität darf nicht zu einem Wettlauf dergestalt ausarten, dass wir uns in dem überbieten, was wir alles nicht machen. Beim Thema Subsidiarität müssen wir darüber diskutieren, was wir machen, um Europa gemeinsam voranzubringen. Wir bringen es gemeinsam voran. Bertolt Brecht hat das einmal unübertrefflich formuliert - das entspricht dem deutschen Verständnis -: Und weil wir dies’ Land verbessern, lieben und beschirmen wir’s, und das Liebste mag’s uns scheinen, so wie anderen Völkern ihrs … An diesem gemeinsamen Europa, das Jean Monnet auf der Basis der „Solidarität der Tat“ aufgebaut hat, wollen wir in diesem Haus weiterbauen. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Thomas Silberhorn, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden hier über eine Akzeptanzkrise der Europäischen Union, vielleicht die tiefste, die sie in ihrer Entwicklung hat. Just in dem Moment, in dem die Europäische Union mit dem Verfassungsvertrag und der Erweiterung ihre ambitioniertesten Projekte auf den Weg gebracht hat, schwindet das Vertrauen der Bürger in die europäische Integration. Ich glaube, das gebietet uns, innezuhalten und nach den Gründen zu fragen, die sicher vielschichtig sind. Nach meiner Auffassung gehört dazu aber auch, dass die Anliegen der Bürger und die europapolitische Agenda nicht immer zusammenpassen. Die Europäische Union beantwortet Fragen, die sich für die Bürger nicht stellen, und umgekehrt ist die Europäische Union nicht in der Lage, auf die drängenden Zukunftsfragen der Bürger ausreichende Antworten zu geben. Das halte ich für eine der tieferen Ursachen der Akzeptanzkrise, in der wir stecken. Die Europäische Union beschäftigt sich zum Beispiel mit einer Richtlinie über optische Strahlung, bei der gottlob der Sonnenschein ausgenommen werden konnte. Ich bin der dritte Redner, der das heute ansprechen muss. Man kann nicht oft genug betonen, dass durch solche Dinge das Vertrauen der Bürger in die europäische Integration nachhaltig beschädigt wird, weil niemand einsehen kann, dass das Fragen sind, die man auf europäischer Ebene behandeln muss. ({0}) Die Europäische Union befasst sich mit der Daseinsvorsorge, bei der für jedermann einsichtig ist, dass sie in erster Linie auf kommunaler Ebene angesiedelt bleiben muss. Ganz aktuell befasst sich die Europäische Union mit der Einrichtung einer europäischen Grundrechteagentur, obwohl Europa seit Jahrzehnten den weltweit dichtesten Grundrechteschutz hat. Dafür möchte man mehr als hundert Beamte einstellen und weit mehr Geld zur Verfügung stellen, als der Europarat zur Verfügung hat, um Grundrechte zu schützen, und das für eine Behörde, die von dem gerichtlichen Grundrechtsschutz, den wir in Europa seit Jahrzehnten haben, weit entfernt ist. Das alles sind keine Beiträge zum Bürokratieabbau ({1}) oder dazu, dass Bürger wieder neues Vertrauen in die europäische Integration fassen können. ({2}) Wir müssen uns die großen Zukunftsfragen stellen und darauf Antworten finden: Was tun wir gegen die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland? Was tun wir, um wieder mehr Wachstum und Beschäftigung in Europa zu entfalten, und was tun wir, um unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit in Zeiten der Globalisierung zu erhalten? Das sind die Zukunftsfragen, auf die wir Antworten finden müssen. Es genügt bei der Beantwortung dieser Zukunftsfragen nicht, dass wir unsere Vision von der europäischen Integration an der Nachkriegsgeschichte orientieren. Denn wir können die Zukunft nicht mit alten Lösungen gewinnen. Wir müssen unsere Zukunftsvision von der europäischen Integration an den Problemen orientieren, vor denen wir stehen. Dazu gehört aus meiner Sicht, dass wir eine Vision der europäischen Integration entwickeln, durch die wir die wirtschaftliche Dynamik in der Europäischen Union wieder entfalten können, durch die wir internationale Wettbewerbsfähigkeit gewinnen, durch die wir innere Sicherheit angesichts der neuen Bedrohungen gewährleisten können und durch die wir eine Europäische Union schaffen, die einen Beitrag zur Sicherheit und zur Stabilität in der Welt leistet. Das ist meine Vision der europäischen Integration. Dazu gehört auch, dass wir ganz pragmatische Antworten finden: Was tun wir denn konkret, um den Binnenmarkt, der immer noch nicht vollendet ist, endlich zu vollenden? Was tun wir konkret, um Bürokratie abzubauen? Was tun wir konkret, um Bildung und Forschung zu stärken? Ich glaube, wir müssen die Balance zwischen unserer Vision von der europäischen Integration und den pragmatischen Antworten auf die Fragen, die sich den Arbeitnehmern, den Unternehmern, den Menschen in Europa heute stellen, neu austarieren. ({3}) Wir müssen uns zum Ziel setzen, dass wir im Inneren der Europäischen Union die Attraktivität wiedergewinnen, die die Europäische Union nach außen, insbesondere für die Beitrittskandidaten, hat. Wenn es uns gelingt, dass wir im Inneren so attraktiv bleiben und werden, wie wir es nach außen sind, dann können wir mit gutem Grund den Anspruch vertreten, dass wir den Prozess der Globalisierung mitgestalten können, und zwar nach unseren europäischen Wertvorstellungen. Das muss die Zielsetzung sein. Es ist heute schon mehrfach angemahnt worden - auch von der Bundeskanzlerin -, dass die Politik ihre Gestaltungskraft zurückgewinnen muss. Ich glaube, dass wir selbst eine ganze Menge dafür tun können, und möchte zwei Punkte herausgreifen. Zum einen geht es mir um die aus meiner Sicht zwar historisch verständliche, aber heute anachronistische Situation, dass neue Initiativen in der Europäischen Union fast nur von der Europäischen Kommission auf den Tisch gelegt werden können. Damit haben wir uns fast vollständig in die Hände von Beamten begeben. Kein gewählter Politiker kann auf europäischer Ebene eine Initiative ergreifen, selbst dann nicht, wenn er Handlungsbedarf sieht. Die Menschen fragen uns, was wir konkret tun. Wir können aber gar nicht selbstständig handeln, sondern wir sind darauf angewiesen, dass die Beamten der Europäischen Kommission Vorschläge auf den Tisch legen. ({4}) Dieser Anachronismus ist schlichtweg unhaltbar. Wenn wir die Gestaltungskraft der Politik zurückgewinnen wollen, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass Vorschläge für neue Initiativen auf europäischer Ebene von den gewählten Politikern eingebracht werden können. ({5}) Deswegen fordere ich, dass wir hier tätig werden. Natürlich weiß ich, dass so etwas in einen Vertrag gegossen und ratifiziert werden muss; aber wir müssen einen solchen Prozess doch einmal anstoßen, damit die gewählten Politiker - ich meine unsere Kollegen im Europäischen Parlament - in die Lage versetzt werden, aus parlamentarischem Interesse heraus Initiativen für die konkrete Europapolitik zu ergreifen. ({6}) Ich begrüße die Forderung, den Grundsatz der Diskontinuität, der im Bundestag gilt, auch auf europäischer Ebene einzuführen, damit wir Vorschläge, die die Kommission eingereicht hat, die aber keine Zustimmung finden, auch wieder loswerden können. Allerdings müssen Vorschläge auch von den demokratisch gewählten Politikern formell eingebracht werden können. Nur so gelingt es, politische Handlungsmacht und politische Verantwortung miteinander zu verknüpfen. Es ist einfach untragbar, dass die Abgeordneten, die die politische Verantwortung tragen und von den Bürgern politisch verantwortlich gemacht werden, keine Handlungsmöglichkeiten haben, da diese bei den Beamten liegen, die wiederum sich den Wählern nicht stellen müssen und nicht politisch verantwortlich gemacht werden. Das passt nicht zusammen. ({7}) Zur Frage, wie die Politik ihre Gestaltungskraft zurückgewinnen kann, möchte ich noch einen zweiten Punkt ansprechen: Auch wir als Deutscher Bundestag müssen darüber nachdenken, wie wir unsere Gestaltungskraft in Fragen der Europapolitik stärken können. Wenn man sich die Präsenz in diesem Saal anschaut - bitte gestatten Sie mir diese Bemerkung -, dann könnte man durchaus den Eindruck gewinnen, dass die AkzepThomas Silberhorn tanzkrise der Europäischen Union auch die Abgeordneten des Deutschen Bundestages erfasst hat; ({8}) dafür habe ich sogar Verständnis. Wir müssen in diesem Hause für Fragen der Europapolitik mehr öffentliche Aufmerksamkeit erzeugen. ({9}) Das beginnt damit, dass wir diesbezüglich besser von der Bundesregierung unterrichtet werden müssen, als es bisher der Fall ist. Es ist doch Unfug, dass der Bundesrat viel umfangreicher von der Bundesregierung unterrichtet wird als die gewählten Mitglieder dieses Hauses. ({10}) Wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages werden auf informellem Wege von den Beobachtern und Vertretern der Bundesländer in Brüssel - das sage ich aus voller Überzeugung und kann es bei Bedarf auch gerne beweisen - besser über die deutsche Europapolitik informiert als von der Bundesregierung. Dieser Zustand ist unhaltbar. Wir müssen uns, was das Ausmaß der Unterrichtung durch die Bundesregierung angeht, mindestens auf Augenhöhe mit dem Bundesrat bewegen. ({11}) Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass ihre Europapolitik nicht nur hinter verschlossenen Türen von den Beamten in den Ministerien gemacht wird, sondern dass sie auch von den Abgeordneten mitgetragen werden kann. Das ist die erste Voraussetzung, um auch in der Öffentlichkeit wieder Vertrauen in die europäische Politik zu gewinnen. ({12}) Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung: Die Bürokratie in Brüssel, die wir oft beklagen, wird nicht nur von den Brüsseler Beamten, sondern auch von den Regierungen der Mitgliedstaaten verursacht. Es ist einfach unbefriedigend, dass die Positionen, die der Bundestag vertritt, für die Bundesregierung völlig unverbindlich sind. Es gibt sogar die Praxis, dass Beamte der Bundesregierung in den Verhandlungen in Brüssel Parlamentsvorbehalte einlegen. Damit machen sie von einem Mittel Gebrauch, das uns Abgeordneten de jure gar nicht zur Verfügung steht. Wir werden lediglich im Nachhinein davon in Kenntnis gesetzt. Das bedeutet, dass der Bundestag von den Beamten der Bundesregierung instrumentalisiert wird. Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang. ({13}) Ich bitte um Nachsicht dafür, dass ich das hier so offen ansprechen muss: Dies betrifft nicht diese Bundesregierung allein; es betrifft vielmehr jede Bundesregierung. Es ist eine Frage, die das Parlament als Ganzes angeht. Wir müssen dafür sorgen, dass der Deutsche Bundestag, wenn er in europäischen Fragen Position bezieht, bei der Bundesregierung Gehör findet. Das bedeutet: Stellungnahmen des Bundestages müssen einen höheren Grad an Verbindlichkeit erhalten, als das bisher der Fall ist. ({14}) Ich formuliere diesen Anspruch als Einladung an die Bundesregierung, das Parlament einzubinden und es mit dafür zu nutzen, in europäischen Fragen Transparenz und die nötige öffentliche Aufmerksamkeit zu schaffen. Diesen Beitrag können und wollen wir leisten, und ich glaube, dass uns das gelingen kann. Wenn wir die Akzeptanz für die europäische Politik verstärken wollen und neues Vertrauen gewinnen wollen, müssen an erster Stelle die Abgeordneten dieses Hauses mitgenommen werden. Vielen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs- antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1413. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs- antrag ist mit den Stimmen des Hauses mit Ausnahme der Fraktion Die Linke abgelehnt. Tagesordnungspunkte 3 b und 3 c. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/456 und 16/528 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- schlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c so- wie Zusatzpunkt 3 auf: 4a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Norbert Röttgen, Dr. Michael Meister, Laurenz Meyer ({0}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Olaf Scholz, Ludwig Stiegler, Dr. Rainer Wend, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates - Drucksache 16/1406 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Vizepräsident Wolfgang Thierse b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Laurenz Meyer ({2}), Veronika Bellmann, Klaus Brähmig, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Rainer Wend, Doris Barnett, Klaus Barthel, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zum Abbau bürokratischer Hemmnisse insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft - Drucksache 16/1407 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin Zeil, Rainer Brüderle, Paul K. Friedhoff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Statistikpflichten zurückführen - Bürokratiekosten senken - Drucksache 16/1167 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4}) Innenausschuss ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Dr. Max Stadler, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Schlanker Staat durch weniger Bürokratie und Regulierung - Drucksache 16/119 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({5}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Norbert Röttgen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({6})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Jahre 1969 hat der damalige Bundeskanzler Willy Brandt zum ersten Mal für eine Regierung das Ziel proklamiert, Bürokratie abzubauen. ({0}) Dies hat seither jede Bundesregierung wiederholt. Von jeder politischen Konstellation, die es seither gegeben hat, ist angekündigt worden, Bürokratie abzubauen. ({1}) - Nichts ist geschehen! ({2}) In den letzten 30 Jahren hat es am Ende jeder Legislaturperiode nicht nur nicht weniger, sondern sogar mehr Bürokratie gegeben als zuvor. Die Geschichte des Abbaus von Bürokratie - dem wichtigen Ziel, Bürger und Unternehmen von Kosten und Freiheitsbeschränkungen zu befreien - ist eine Geschichte des politischen Scheiterns ({3}) Wir wollen und werden dies ändern. Wir trauen uns zu, dieser Geschichte des Scheiterns mit einem neuen Ansatz ein Ende zu bereiten. Weil die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte so negativ sind, ist Skepsis sicherlich angebracht. Deshalb will ich begründen, wie wir das Ziel, das uns alle in diesem Hause verbindet, erreichen wollen: Der neue Ansatz der Koalitionsfraktionen ist nicht theoriegeboren, sondern er besteht darin, etwas auf unser Land zu übertragen, das in anderen Ländern mit Erfolg praktiziert wird. Das heißt, wir wollen die positiven Erfahrungen, die andere Länder gemacht haben, nutzen. Diese anderen Länder sind insbesondere die Niederlande, Großbritannien - Tony Blair -, Dänemark und weitere europäische Länder. Ich möchte die Methode schildern, die Inhalt unseres Gesetzentwurfes ist. Drei Elemente machen den neuen Ansatz aus. Das erste Element ist die Einführung und Anwendung einer Methode, um durch Bürokratie entstehende Kosten zu messen. ({4}) Es ist möglich, die durch Gesetze verursachten Bürokratiekosten zu erfassen, zu messen. Dazu gibt es eine objektive Methode, bezogen auf einen bestimmten Bürokratiebegriff, die schon angewendet wird und akzeptiert ist. Diese Methode werden wir anwenden, so wie das schon in anderen Ländern gemacht wird, und zwar flächendeckend auf alle Gesetze, alle Rechtsverordnungen und alle Verwaltungsvorschriften. So werden wir erfassen können, wie hoch die Kosten sind, die durch Gesetze verursacht werden. Wir werden sehen, wie viel Bürokratie, die durch Gesetze veranlasst wird, kostet. In den Niederlanden lag der Wert bei 3,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Die niederländische Regierung konnte, nachdem sie gesehen hat, welche Kosten Bürokratie verursacht, Abbauziele vereinbaren und hat festgelegt, diesen Stand in einer Legislaturperiode um 25 Prozent senken zu wollen; das hat die Bundeskanzlerin heute Morgen aufgenommen. Das haben die Niederländer dann gemacht. Die Vierjahresfrist ist noch nicht abgelaufen, aber sie haben schon 18 Prozent erreicht. Für die Niederlande bedeuten Bürokratiekosten in Höhe von 3,6 Prozent des BIP ein Einsparvolumen von 4 Milliarden Euro. Davon haben sie schon drei Viertel erreicht. Das ist die Wirklichkeit. Eine solche Kostenentlastung gab es für die Adressaten von Bürokratie. Wenn wir das auf das deutsche Bruttoinlandsprodukt beziehen und genauso erfolgreich sind wie die Niederländer - dort ist es nicht Fiktion, sondern Realität -, dann wäre das in Deutschland eine Entlastung der Unternehmen bei Bürokratiekosten von 20 Milliarden Euro. ({5}) Ich komme auf 20 Milliarden Euro, indem ich die Erfahrungen der Niederlande auf Deutschland übertragen habe. Wir kündigen nicht an, dass es diese Entlastung in Höhe von 20 Milliarden Euro auch tatsächlich geben wird. Fest steht: Durch die Umsetzung dieser Methode können die Unternehmen bei ihren Kosten so stark entlastet werden, wie es mit kaum einem anderen Projekt möglich wäre. Denn es kostet uns nichts. Der Staat hat keine Einnahmeausfälle zu verkraften, wenn er auf Bürokratie verzichtet. Es gibt also erneut nur Gewinner. Eine solch enorme Kostenentlastung der Unternehmen könnten wir auf absehbare Zeit mit keinem anderen Instrument der Politik und der Gesetzgebung realisieren. ({6}) Zum zweiten Element, das die Niederlande anwenden und das wir übertragen wollen: In den Prozess der Entstehung von Recht, von Gesetzen muss mit Blick auf den Abbau und die Vermeidung von Bürokratie eine unabhängige Kontrolle eingebaut werden. Denn Bürokratie fällt nicht vom Himmel, sondern wird durch Gesetze, Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften staatlich erzeugt. Das hängt mit der bestimmten Art der expertenhaften Organisation von Gesetzgebung zusammen. Die Experten haben ihr kleines Planquadrat vor sich, das sie beherrschen und zusammen mit Interessengruppen gestalten. Sie erklären der Politik, dass es an dieser Stelle unbedingt notwendig ist, diese Regulierung vorzunehmen. Das kennen alle, die sich schon einmal intensiv mit der Entstehung von Rechtsvorschriften befasst haben. Darum brauchen wir in dieser Phase, implementiert in der Exekutive, eine Kontrollinstanz, eine unabhängige Instanz, die weisungsunabhängig ist und die nicht mit Politikern oder weisungsabhängigen Beamten besetzt wird, sondern mit unabhängigen Sachverständigen, die intervenieren können. Diese Institution heißt Normenkontrollrat. Der Normenkontrollrat ist kein politischer Zensor. Er sagt dem Parlament nicht, was der politische Wille eines Gesetzes sein soll, sondern er stellt fest, ob für das durch die Politik festgelegte Ziel dieses Maß an Bürokratie erforderlich ist. Er kann das in seiner Stellungnahme kritisieren. Die Erfahrungen aus den anderen Ländern zeigen, dass die Regierungen ihre Gesetzesvorschläge verändern. Das müssen sie von Rechts wegen nicht. Aber wenn eine solche Stellungnahme des Normenkontrollrates erfolgt, gerät die Regierung, die mit dieser Rechtsvorschrift Bürokratie verursachen will, in Rechtfertigungsdruck. Das ist der Mechanismus. Sie muss sich für die Verursachung von Bürokratie rechtfertigen - und das ist richtig. ({7}) Wir wollen, dass Bürokratieverursachung in unserem Land zu einem rechtfertigungsbedürftigen Verhalten wird. Denn das kann Bürokratie reduzieren. Drittes Element. Wir schaffen für dieses Ziel des Bürokratieabbaus eine parlamentarisch-gesetzliche Grundlage. Bislang wurde immer gesagt: Das macht die Exekutive allein. - Wir brauchen, wenn wir das Ziel Bürokratieabbau erreichen wollen, die Exekutive. Aber wir werden das Ziel nur gemeinsam erreichen; die Exekutive allein schafft das nicht. Vielmehr müssen das Parlament, der Gesetzgeber, und die Exekutive zusammenwirken. Dazu gibt es ein Gesetz; es entstammt der Mitte des Bundestages und wurde von den Koalitionsfraktionen formuliert. Das gibt dem gesamten Vorhaben eine parlamentarische Grundlage. Wir als Gesetzgeber involvieren und engagieren uns bei diesem Thema und machen es zum Maßstab auch unseres Verhaltens. Wir wollen beteiligt werden und wollen uns an der Bearbeitung dieses Themas beteiligen. ({8}) Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. Nach allen Erklärungen verbindet uns das Ziel des Bürokratieabbaus bzw. des Bürokratiekostenabbaus. Ich habe die Dimensionen geschildert, um die es geht. Es ist ein Thema, das mit Kosten, aber auch mit Freiheit zu tun hat. Es verbindet uns alle. Ich möchte eine letzte Erfahrung aus den Niederlanden schildern und das mit einer Bitte und einem Appell verbinden. Im niederländischen Parlament ist dieses Thema, von ganz links bis zum anderen Ende des politischen Spektrums, nicht streitig. Man geht das Thema gemeinsam an. Ich möchte alle Fraktionen dazu einladen, mitzuwirken und sich konstruktiv zu beteiligen, damit wir zusammenwirken bei der Verfolgung eines gemeinsamen Zieles und so als Gesetzgeber in der Sache gemeinsam etwas erreichen. Diesen Schlussappell möchte ich an alle richten und verbinde ihn mit der Bemerkung: Wir sind selbstverständlich bereit, Korrekturen und Verbesserungen anzunehmen; wir wollen einen Diskussionsprozess. Was wir anstreben, ist, dass dieses Ziel gemeinsam, auf breiter Grundlage, getragen wird. Denn so kann es umso erfolgreicher realisiert werden. Danke. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Martin Zeil, FDP-Fraktion.

Martin Zeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003868, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man gewinnt manchmal den Eindruck, als wäre Bürokratie etwas, das unser Land gewissermaßen ohne unser Zutun befallen hätte, und als bräuchten wir möglichst viele externe Gremien, um ihr abzuhelfen. Es ist aber wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen - Herr Röttgen hat es ebenfalls erwähnt -, dass wir selbst als Gesetzgeber, die Regierungen und Verwaltungen in der EU, im Bund und in den Ländern die Quelle der Bürokratie sind, niemand sonst. Den Bürgern müssen wir sagen: Wer für jedes neue Problem eine Regelung fordert, der fordert auch mehr Bürokratie. Es geht also letztlich auch um unser Staatsverständnis. Dass wir als Liberale uns dabei etwas leichter tun als andere, liegt auf der Hand: Für uns ist das Loslassen seitens des Staates kein schmerzhafter Prozess wider Willen, sondern ein Freiheitsthema schlechthin. ({0}) Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die zahlreichen Entbürokratisierungsinitiativen unserer Fraktion, die unter Federführung der Kollegin Homburger in den letzten Jahren gestartet wurden. Es ist gut, wenn die schwarz-rote Regierung nun endlich erste, zaghafte Schritte in die von uns seit langem vorgezeichnete Richtung unternimmt. ({1}) Nach langem Hin und Her haben Sie jetzt das Gesetz über den Normenkontrollrat vorgelegt. Über die Namensgebung lässt sich streiten; wir hätten uns den umfassenderen „Bürokratiekosten-TÜV“ gewünscht. Es ist auch kein gutes Omen, dass im Namen des Bürokratieabbaus erst einmal Stellenmehrungen vorgenommen wurden. ({2}) Der Entwurf weist auch inhaltliche Mängel auf: Der Begriff der Bürokratiekosten wird auf die „Informationspflichten“ reduziert. ({3}) Dabei wissen auch Sie es besser, nämlich dass der weitaus größere Teil der Kosten den Unternehmen durch die Umsetzung anderer Rechtsvorschriften und vor allen Dingen durch die hierfür erforderlichen Investitionen entsteht. ({4}) Ferner möchte ich erwähnen: Die Kontrollaufgabe des Rats darf sich nicht nur auf Initiativen der Regierung beziehen. Das Modell der Messung der Bürokratiekosten entspricht unseren Vorschlägen. Aber eines dürfen wir nicht vergessen: Auch das modernste Fieberthermometer ist noch keine Therapie gegen die Krankheit selbst. ({5}) Die spannendste Frage aber ist - auch dazu haben Sie nichts gesagt -: Wer wird nun Mitglied dieses Rats? Die Zusammensetzung ist noch geheimer als die endgültige Nominierung unserer WM-Mannschaft. Der Bundestrainer wird sein Geheimnis am 15. Mai lüften. Wir dürfen als Parlament gespannt sein, wann nun endlich konkrete Vorschläge seitens der Regierung kommen werden. ({6}) Entscheidend ist, dass dort unabhängiger Sachverstand und Praxiserfahrung einziehen und keine Frösche zur Trockenlegung des Sumpfes nominiert werden. ({7}) Wir bedauern, dass die Besetzung allein Sache der Exekutive ist und das Parlament außen vor bleibt. Beim Mittelstandsentlastungsgesetz haben Sie von einer Entfesselungsoffensive gesprochen. Ja, es enthält einige verdienstvolle Ansätze. Es ist auch gut, dass man sich dem herausragenden Problem der Deklaration von Altholz widmet. Sie wissen im Grunde aber selbst, dass Sie mit diesem Entwurf viel zu kurz springen. Es hat auch schon aus den eigenen Reihen Kritik gegeben. ({8}) Wir werden Ihnen im Gesetzgebungsverfahren gerne helfen, vielleicht doch noch zu einer echten Entfesselung zu kommen. ({9}) Meine Damen und Herren von der Koalition, viel schlimmer als diese Trippelschritte ist aber etwas ganz anderes: Während Sie hier vollmundig von Mittelstandsentlastung reden, haben Sie in Ihrer kurzen Amtszeit schon selbst neue bürokratische Belastungen zu verantworten. Ich nenne nur das Vorziehen der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge, ({10}) die neue Zwangsversicherung für Kleinbetriebe bei der Lohnfortzahlung, die Fahrtenbuchführung bei Geschäftswagen für Selbstständige und - als neuesten Sündenfall - das neue Antidiskriminierungsgesetz, dessen Bestimmungen von jedem Normenkontrollrat, der seine Aufgabe ernst nimmt, sofort beanstandet werden müssten. ({11}) Es ist dieses völlig widersprüchliche Verhalten, das Ihrer Politik die Glaubwürdigkeit nimmt. Die „Wirtschaftswoche“ hat es so beschrieben: … die Augen vor der Realität verschließen, konsequent am Sachverstand der Wissenschaft vorbeihören und schamlos die Bedenken gegen das eigene Tun verschweigen. Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Solange Sie so weitermachen, lösen Sie keine Probleme, sondern sind selbst Teil des Problems. Dabei kann es so einfach sein: Bürokratieabbau kostet nichts, steigert das Bruttoinlandsprodukt und macht populär, so der Vorsitzende des niederländischen Normenkontrollrats. Wenn Sie auf diese Weise Popularität suchen, wenn Sie den großen Worten endlich Taten folgen lassen, haben Sie die FDP-Fraktion an Ihrer Seite. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Wend, SPDFraktion. ({0})

Dr. Rainer Wend (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kein Staat kann ohne Recht, kein Recht ohne Staat bestehen. Max Weber hat gesagt: „Eine Verwaltung“, die dieses Recht durchsetzen will, „ist entweder bürokratisch oder dilettantisch“. Was ich damit sagen will, ist: Bürokratie ist auch Bestandteil eines Rechtsstaates. Ohne Bürokratie kann Willkür herrschen. Deswegen geht es bei unserem Vorhaben heute in Wahrheit nicht um einfache und pauschale Deregulierung, sondern um eine richtige und effektive Regulierung. In unserer Republik haben sich aber über Jahrzehnte bürokratische Regeln verselbstständigt und führen für Bürgerinnen und Bürger, aber auch für Unternehmer zu Belastungen. Ich möchte ein Zitat von Ralf Dahrendorf anführen, der gesagt hat: Wir brauchen Bürokratien, um unsere Probleme zu lösen. Aber wenn wir sie erst haben, hindern sie uns, das zu tun, wofür wir sie brauchen. Wenn es so ist, wie der Kollege Röttgen gesagt hat, ({0}) dass die Belastungen der Bürokratie so groß sind, und auch die Erkenntnis von Dahrendorf und anderen die ist, dass diese Belastungen riesig sind, stellt sich natürlich die Frage: Warum haben wir es alle nicht geschafft - Herr Röttgen hat Recht damit -, diese Dinge zu regeln? Sie, Herr Kollege von der FDP, sagen: Es ist alles ganz einfach. Wenn alles ganz einfach ist, stellt sich die Frage, warum die Partei, die in unserer Republik am längsten mit in der Regierung saß, das nicht schon längst geregelt hat, was dort zu regeln ist. ({1}) Von daher scheint es vielleicht nicht ganz so leicht zu sein. Ich darf ein etwas ironisches Zitat bringen. Wernher von Braun hat gesagt: Bei der Eroberung des Weltraums sind zwei Probleme zu lösen: die Schwerkraft und der Papierkrieg. Mit der Schwerkraft wären wir fertig geworden. ({2}) Ich glaube, daran sieht man: So pessimistisch muss man nicht sein, wenn man die Ursachen dafür erkennt, warum wir Bürokratieabbau bisher nicht erreicht haben. Es gibt mehrere Ursachen. Ich will zwei benennen, weil sie mir wichtig sind. Mit unserem Gesetzgebungsvorhaben versuchen wir, genau diese Dinge zu umschiffen und zu vermeiden. ({3}) Die erste Ursache ist: Die FDP - wenn ich jetzt bösartig wäre, würde ich vielleicht auch einige unserer neuen Freundinnen und Freunde von der CDU/CSU mit einbeziehen, ({4}) aber das tue ich nicht - sagt „Bürokratieabbau“ und spricht anschließend über den Kündigungsschutz, die Tarifautonomie, das Betriebsverfassungsrecht, die Umweltstandards und das Antidiskriminierungs- oder, so heißt es jetzt, das Gleichstellungsgesetz. ({5}) Wohlgemerkt: Selbstverständlich kann man über jeden dieser Punkte inhaltlich diskutieren. Man tut dem Thema Bürokratieabbau aber einen Tort an, wenn man diese inhaltlichen Themen unter der Überschrift „Bürokratieabbau“ subsumiert. Damit erreichen Sie nämlich, dass bei uns eine Art Reflex entsteht, nachdem immer dann, wenn Bürokratieabbau gesagt wird, der Verdacht entsteht, dass Kündigungsschutzabbau gemeint ist. ({6}) Deswegen sage ich Ihnen an dieser Stelle: Wenn Sie wirklich Bürokratieabbau wollen, dann ist es ein Fehler, dies mit materiellen Dingen, über die man diskutieren kann, zu verknüpfen. ({7}) Die zweite Ursache, die ich für diese Problematik sehe, ist auch schon angesprochen worden. Ich meine das nicht bösartig, aber es ist natürlich wahr, dass sich der Beamtenapparat und die Behörden verselbstständigen. Ich glaube, dass ihrem Verhalten im Regelfall hehre Motive zugrunde liegen. Natürlich sitzen der Abteilungsleiter X und der Referatsleiter Y seit vielen Jahren an einer Thematik. Sie sind zutiefst überzeugt davon, dass der Zweck, dem sie seit Jahren oder Jahrzehnten dienen, nicht mehr in der bisherigen Perfektion erreichbar ist, wenn man die Vorschrift X oder Y auch nur modifiziert. ({8}) Das muss man respektieren. Ich wiederhole es: Es ist noch nicht einmal Bösartigkeit, als wollten sie dabei nur für ihre Pfründe sorgen. Darum geht es nicht. Es geht darum, dass sie in ihrer jahrelangen Arbeit und Tätigkeit gefangen sind und deswegen um Normen kämpfen und sie nicht hinterfragen, die in Wirklichkeit veränderungswürdig sind. Das ist der zweite Grund, warum wir uns beim Thema Bürokratieabbau so schwer tun. Jetzt möchte ich Ihnen gerne sagen, warum ich glaube, dass wir diese beiden Dinge mit unserem Gesetzentwurf, der heute hier vorliegt, umschiffen und in den Griff bekommen: Bei der Einrichtung des Normenkontrollrates und bei diesem Gesetz geht es eben nicht darum, den gesetzgeberischen Zweck im Kündigungsrecht oder wo auch immer zu hinterfragen, sondern es geht ausschließlich - von mir aus können Sie in Klammern „nur“ dahinter schreiben - darum, Dokumentations- und Berichtspflichten zu messen. Ich möchte das an einem praktischen Beispiel der Bauindustrie verdeutlichen, damit wir uns einmal vor Augen führen, was das eigentlich heißt. Es gibt eine Vorschrift, wonach die Unternehmen der Bauwirtschaft ihre Hochbauleistungen monatlich in Form einer Statistik dokumentieren und staatlichen Stellen übermitteln müssen. Unterstellen wir einmal, dass in einem Unternehmen ein Mitarbeiter vier Stunden im Monat damit beschäftigt ist, der über den Daumen gepeilt 30 Euro für jede dieser Stunden verdient. Wenn wir das einmal ausrechnen - 30 Euro pro Stunde mal vier Stunden mal zwölf, weil es ja zwölf Monate sind -, dann kommen wir zu dem Ergebnis, dass dieses Unternehmen aufgrund dieser Statistik eine Kostenbelastung von 1 440 Euro im Jahr hat. Das hört sich wie Peanuts an. Rechnen wir jetzt aber einmal weiter: In der Bauwirtschaft gibt es gut 300 000 Unternehmen. Wenn wir diese 1 440 Euro mit 300 000 multiplizieren, dann kommen wir auf eine Größenordnung von 432 Millionen Euro, die die gesamte Bauwirtschaft nur diese eine Pflicht zur Erstellung einer Statistik im Jahr kostet. Damit sind wir nicht mehr bei Peanuts. Warum ist es unter Aufrechterhaltung des gesetzgeberischen Zwecks denn nicht möglich, zu sagen, dass diese Verpflichtung nicht zwölfmal im Jahr, sondern beispielsweise nur noch viermal im Jahr, also alle drei Monate, besteht? Ich habe ausgerechnet, dass das eine erhebliche Ersparnis von 288 Millionen Euro im Jahr bedeuten würde. An dieser Stelle erkennen wir: Nur durch eine Reduzierung von Dokumentations- und Berichtspflichten, ohne materiell in Recht, Gesetze und Ansprüche eingreifen zu müssen, entlasten wir die Wirtschaft in unserer Republik erheblich. Das ist eine gute Sache. ({9}) Ich möchte die gesamtvolkswirtschaftlichen Zahlen aus den Niederlanden nennen. Dort wurde errechnet, dass die Dokumentationspflichten die Wirtschaft mit etwa 19 Milliarden Euro belasten. Davon sollen 25 Prozent, fast 5 Milliarden Euro, eingespart werden. Wenn wir diese Zahlen auf das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland übertragen, würden Kosten von etwa 80 Milliarden Euro entstehen. Wenn wir diese wie in den Niederlanden um 25 Prozent reduzieren würden, ergäbe das nach Adam Riese 20 Milliarden Euro, um die die Wirtschaft in unserer Republik entlastet würde. Viele sagen - sie haben Recht -: Wir sind aber nicht die Niederlande; denn wir sind ein föderaler Staat. Viele dieser Dokumentationsverpflichtungen gehen nicht vom Bund, sondern von den Bundesländern aus; das ist wahr. Aber das ist kein Grund zur Resignation, sondern dies ist eher ein Grund, die Länder zu motivieren. Wir müssen ihnen sagen: Steigt in den Wettbewerb ein! Zeigt, wer beim Bürokratieabbau, beim Messen von Dokumentations- und Berichtspflichten und der anschließenden Reduzierung dieser Pflichten am besten ist. Ein Wettbewerb zwischen den Ländern sowie dem Bund und den Ländern, der in diese Sache Bewegung bringt, ist richtig und gut. Deswegen stellt der föderale Staat zwar auf den ersten Blick ein Problem dar, aber auf den zweiten Blick könnte er eine Chance dafür sein, eine Dynamik zu entfalten. Denn kein Bundesland will - das hoffe ich jedenfalls - bei diesem Wettbewerb das Schlusslicht sein und beim Bürokratieabbau am schlechtesten abschneiden. Auch da ist Wettbewerb gut. ({10}) Von Herrn Röttgen ist - das finde ich völlig richtig die Frage aufgeworfen worden: Wer macht eigentlich mit? Herr Kollege Zeil, Sie haben mich ein bisschen enttäuscht. Sie haben uns vorgeworfen, auf diesem Gebiet nicht genug getan zu haben. - Erstens. Die Opposition muss so etwas tun, sonst wäre sie keine Opposition. ({11}) Zweitens. Sie könnten in Teilen sogar Recht haben; dazu sage ich gleich noch etwas. Wir befinden uns in einem Gesetzgebungsverfahren, in dem wir vieles noch besser machen können. Aber dann habe ich die Bitte, dass Sie nicht nur erklären, die Regelungen gingen offensichtlich in die richtige Richtung, und uns ansonsten Versagen vorwerfen. Vielmehr müssen Sie sich Ihrerseits Mühe geben, konkrete Vorschläge zu unterbreiten, ({12}) die dann aber nicht wie beim Antidiskriminierungsgesetz irgendwo stehen bleiben. Beim Thema Bürokratieabbau müssen diese Vorschläge konkret werden und sie dürfen keine materiellen Ansprüche in unserer Gesellschaft betreffen. Wir haben ein weiteres Gesetz zum Thema „Entlastung des Mittelstandes“ eingebracht. Mit diesem Artikelgesetz werden wir 16 Gesetze und Verordnungen ändern: das Bundesdatenschutzgesetz, das Gesetz über die Lohnstatistik, die Abgabenordnung, das Umsatzsteuergesetz, die Gewerbeordnung und das Chemikaliengesetz. Viele meinen, das seien nur Kleinigkeiten. - Das ist wahr. Aber diese Kleinigkeiten summieren sich zu eiDr. Rainer Wend nem großen Vorschlag, der unter dem Strich Substanz hat. Ich sage aber gleich dazu: Das muss in diesem Gesetzgebungsverfahren noch nicht das Ende der Fahnenstange sein. ({13}) Vielleicht fallen uns weitere Dinge ein, die wir einarbeiten, sodass wir am Ende sagen können: Dieses Gesetz ist im Laufe des Verfahrens noch besser geworden, als es zum Zeitpunkt der Einbringung gewesen ist. Eine abschließende Bitte. Nicht nur wir müssen sagen: Wir müssen versuchen, diese Regelungen einmütig zu beschließen. Vielmehr ist dies auch ein Appell an die Ministerien und die Beamten. Wir brauchen sie. Die Bürokratiemessung und der Abbau der Bürokratie sind ohne die Bürokratie selbst schlichtweg nicht möglich. Sie darf den Normenkontrollrat nicht als eine Instanz auffassen, die ihr etwas Böses will. Der Rat ist vielmehr eine Instanz, die ihre Aktivitäten begleitet, Anregungen gibt und gegenüber dem Parlament deutlich macht, wie der Prozess der Entbürokratisierung vorangehen soll. Der Normenkontrollrat soll keine Konkurrenz sein und auch niemanden überwachen. ({14}) Er soll ihre Arbeit begleiten sowie für die Ministerien und für das Parlament eine Hilfe von unabhängigen Fachleuten sein, die sich in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft auskennen. Wenn wir das auf den Weg bringen, dann ist das in der Tat ein neuer Ansatz. Dann ist es der Versuch, aus der Erstarrung der Bürokratiediskussion der letzten Jahre herauszukommen. Lassen Sie uns alle gemeinsam diesen Versuch unternehmen. Er kann sich für unser Land lohnen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Sabine Zimmermann, Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Röttgen, Sie werden mir immer sympathischer. ({0}) Ich habe mit Freude gehört, dass Sie alle Gesetze beleuchten wollen. Damit meinen Sie sicherlich auch das Monster Hartz IV. Das sollten wir tatsächlich als gemeinsames Ziel sehen; darin bin ich mit Ihnen einer Meinung. In Ihrem Plan zum Bürokratieabbau gibt es Punkte, die wir im Großen und Ganzen mittragen können. ({1}) Das betrifft beispielsweise die Änderungen beim Chemikaliengesetz, beim Fahrlehrergesetz oder bei Teilen des Umsatzsteuergesetzes. Es betrifft aber nicht die Änderungen beim Datenschutz. Hierüber hätten Sie sich mehr Gedanken machen können. Kleine Betriebe zu entlasten, indem der Datenschutz ausgehöhlt wird, ist keine verantwortungsvolle Politik. Eine solche Politik bedenkt auch die gesellschaftlichen Folgen von Demokratie-, von Bürokratieabbau. Dafür stehen wir als Linksfraktion. ({2}) - Man kann sich versprechen. Ich denke, Sie haben dafür Verständnis. Das eigentlich Problematische an den Vorschlägen der großen Koalition ist, dass Sie an den wirklichen Problemen der kleinen und mittleren Unternehmen völlig vorbei gehen. Erst letzte Woche sprach ich mit einer Unternehmerin aus Sachsen, die eine Initiative gegründet hat. Die Vorschläge der Bundesregierung zum Bürokratieabbau ernten vor Ort nur Hohn und Gelächter. Der Frust beim Mittelstand ist enorm. Wir fragen uns, ob Sie eigentlich mit den Unternehmen vor Ort - vor allen Dingen mit den kleineren Unternehmen - reden. Ich zitiere aus dem Brief der Geschäftsführerin eines Unternehmens an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Sie sollten mit dem Wort „Bürokratieabbau“ sehr vorsichtig umgehen, da in den letzten Jahren die Bürokratiebelastung für die kleineren Unternehmen geradezu explodiert ist und sich auch nicht durch schöne neue Namen verschleiern lässt. Ich denke, mit diesem Satz hat sie den Nagel auf dem Kopf getroffen. Sie bat mich, folgenden Punkt anzusprechen: die vorgezogene Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge. Wir haben das Thema bereits im Ausschuss behandelt. Eine verfehlte Wirtschafts- und Sozialpolitik hat die Sozialversicherungssysteme in die Krise geführt. Mit einer vorzeitigen Fälligkeit der Sozialabgaben ist dieser Krise nicht zu begegnen. Die bürokratischen Belastungen sind jedoch - vor allem für die kleineren und mittleren Unternehmen - enorm hoch. Der Steuerberaterverband und die betroffenen Unternehmen haben angeboten, die Fälligkeit auf den dritten bis fünften Tag des Folgemonats zu legen. Die Regierung hat dies ignoriert. Nun hat die Unternehmerin an den Petitionsausschuss geschrieben und von einem Abgeordneten einer Koalitionsfraktion, nämlich dem Abgeordneten Günter Baumann von der CDU/CSU-Fraktion, am 15. Februar 2006 folgende Antwort bekommen: Ich bin mit Ihnen einer Meinung, dass es sich bei der vorgezogenen Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge um einen hohen bürokratischen Aufwand handelt … Soll ich mehr dazu sagen oder spricht diese Aussage für sich? Sieht so Ihr Bürokratieabbau aus? Ich fasse zusammen: Ihre Vorschläge zum Bürokratieabbau bringen in der Praxis wenig und laufen in die falsche Richtung. Ihre Flickschusterei an den Sozialversicherungssystemen führt gerade für die kleineren Unternehmen zu neuer Bürokratie. Das eigentliche Problem des Mittelstands ist die schwache Binnenwirtschaft. Das bestätigen alle Experten landauf, landab. Sie aber legen mit der angekündigten Erhöhung der Mehrwertsteuer ein Antiwachstumsprogramm auf, das vor allem die sozial Schwachen, die kleinen Unternehmen, den Mittelstand und die Selbstständigen belasten wird. Denn diese profitieren nicht von der Senkung der Sozialversicherungsbeiträge. Die Regierung will zur Verringerung der Bürokratiekosten einen Normenkontrollrat einrichten. Wie der Kollege Röttgen von der Union sagt - das Zitat ist sehr interessant; Herr Röttgen, wir beide werden vielleicht doch noch Freunde -, ({3}) soll dieser ein „Wachhund sein, der laut bellt, wenn das Bürokratieabbauziel nicht erreicht wird“. ({4}) Die Linke hat erhebliche Zweifel, ob der Hund immer an der richtigen Stelle bellen wird. In den Niederlanden gibt es dieses Verfahren bereits. Dort zählten die jährlichen Umweltberichte der Unternehmen bislang zu den unnützen bürokratischen Belastungen. Wie wird es denn bei uns sein? Weitere Fragen sind offen. Warum soll der Normenkontrollrat seine Stellungnahme nicht öffentlich abgeben dürfen? Warum sollen Verbraucher, Gewerkschafter und Sozialverbände nicht Mitglieder dieses Rates stellen dürfen? Zumindest diese Fragen sind zu beantworten. Die Regierung hat noch weitere Maßnahmen zum Bürokratieabbau angekündigt. Die Linke ist aber misstrauisch, wenn die Bundesregierung von Bürokratieabbau redet. Herr Bundesminister Glos hat in seiner ersten Amtshandlung unser Misstrauen bestätigt. Gegen seinen Plan, das Gaststättengesetz abzuschaffen, haben Gemeinden, Gaststättenverbände und Verbraucherschützer zu Recht protestiert. Ginge es nach dem Minister, hätte jeder ohne Erlaubnis eine Kneipe an jeder Ecke aufmachen können. Der Schlamperei wären Tür und Tor geöffnet worden. Die Überprüfung der Einhaltung der Vorschriften betreffend den Brandschutz und die Fluchtwege sowie des Lebensmittelrechts und der Hygienevorschriften wäre unter den Tisch gefallen. Der Plan ist zum Glück in der Schublade verschwunden. Ich hoffe, dass er dort bleibt. Ein anderes Beispiel: Die große Koalition will dafür sorgen, dass Bauvorhaben schneller umgesetzt werden. Der Politik muss es aber um die Menschen in diesem Land gehen. Der Bund für Umwelt und Naturschutz kritisiert, dass bei den Vorhaben von Union und SPD die Investoren bevorzugt, die betroffenen Anwohner jedoch benachteiligt werden. Die Linke hat zum Thema Bürokratieabbau eine einfache Haltung. Wir sind gegen Gesetze und Vorschriften, die die Menschen belasten. Demzufolge müsste die Bundesregierung als Erstes - das sprach ich eingangs an das bürokratische Monster Hartz IV abschaffen. Sie wollen aber zu Hartz IV noch ein Fortentwicklungsgesetz beschließen. Den Betroffenen muss dieser Name eigentlich Angst machen. Kleinste Auskünfte bis ins Detail! Diese Bürokratie gehört bekämpft. ({5}) Die Bundesregierung spricht zwar von Bürokratieabbau zugunsten von Wirtschaft und Bürgern. Aber Letztere kommen bei Ihnen leider kaum vor. Das Streichen von noch so vielen Vorschriften wird nichts an der Auftragslage der kleinen Handwerker und Dienstleister ändern, wohl aber zu einem weiteren Verfall sozialer und ökologischer Standards führen. Wir hingegen setzen hier auf ein öffentliches Investitionsprogramm, das vor allem die Binnennachfrage nachhaltig stärken soll. Gesetzliche Auflagen belasten große Unternehmen in der Tat weniger als kleine. Aber der Marktmacht der Großunternehmen tritt man nicht gegenüber, indem man dereguliert, sondern indem man dafür sorgt, dass Steuern gezahlt werden. Dafür brauchen wir ein Mehr an staatlicher Kontrolle; denn Steuerhinterziehung ist zu einem Hobby der Konzerne geworden. Fast 11 Milliarden Euro haben die Betriebsprüfer im letzten Jahr bei Großunternehmen eingetrieben. 11 Milliarden Euro! Mit diesen Steuereinnahmen könnte der Staat endlich wieder Investitionen tätigen. Die öffentlichen Aufträge würden dem Mittelstand mehr helfen als eine gestrichene Vorschrift. Wenn Sie bei der Steuerfahndung so viel Kraft und Energie einsetzten wie bei Hartz IV, dann könnten Sie sich wesentlich mehr Geld holen als bei den Langzeitarbeitslosen in diesem Land. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Matthias Berninger, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin dem Vorredner Rainer Wend dankbar, dass er beim Thema Bürokratieabbau darauf hingewiesen hat, dass es in diesem Land sehr viele Regelungen gibt, die aus einer Verwaltung ein effizientes Instrument machen, das dafür sorgt, dass die Bürgerinnen und Bürger in etwa wissen, woran sie sind, und dass die Alternative häufig Willkür ist. Dazu hat Max Weber eine Menge geschrieben, wiewohl er den Übergang von einer eher monarchisch geprägten Verwaltung, über die sich schon Bismarck aufgeregt hat, in die Weimarer Republik beobachtet hat. Selbst wenn wir uns alle darauf verständigen, dass es nicht darum geht, die Bürokratie abzuschaffen, sondern dass es darum geht, sie effizienter zu machen und zu schauen, wo Unsinn geschieht, sollte man immer im Auge haben, dass sie notwendig ist, sie für Bürgerinnen und Bürger, aber auch für Unternehmen wichtig ist, weil sie ihnen Sicherheit gibt, dass es ein Korsett von Regelungen in diesem Lande gibt, und dass sie ein Teil des demokratischen Rechtsstaates ist. Das geht manchmal in der Debatte unter. Ich war ganz froh, dass Sie das angesprochen haben. Die Koalitionsfraktionen haben einen Gesetzentwurf zur Einführung eines Normenkontrollrates ausgearbeitet. Darüber ist zum Teil belustigt nach dem Motto geschrieben worden: Neue Bürokratie zum Bürokratieabbau. Der Normenkontrollrat knüpft an Erfahrungen an, die in Großbritannien und Holland gemacht wurden, und an die Feststellung, dass die Entscheidung, in eine solche Richtung zu gehen, tatsächlich Belastungen abgebaut hat. Deswegen halte ich es für falsch, zu glauben, das werde es nicht bringen. Der Kollege Röttgen hat darüber hinaus den Oppositionsfraktionen das Angebot gemacht, bei dem Normenkontrollrat mitzuarbeiten, das heißt, diesen Gesetzentwurf der großen Koalition mitzutragen. Ich kann Ihnen für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sagen, dass unsere Mitarbeit davon abhängt, ob er an zwei Stellen, die mir sehr wichtig erscheinen, substanziell verändert wird. Zunächst zur ersten Stelle. Ich halte nichts davon, dass sich der Normenkontrollrat auf Vorschläge aus der Regierung beschränkt. Wir sind das Parlament. Die Bürgerinnen und Bürger, die uns hier zuschauen, besuchen den Gesetzgeber. Wir sind nicht der Gesetzentgegennehmer. Ich denke, dass es richtig wäre, den Zuständigkeitsbereich des Normenkontrollrats auf Gesetze aus dem Parlament zu erweitern. ({0}) Das sage ich auch deshalb, weil der Normenkontrollrat die Freiheit hat, zu entscheiden, ob er ein Gesetz für so relevant hält, dass er sich mit ihm befasst. Ich denke, dass eine solche Regelung das Selbstbewusstsein des Parlaments zum Ausdruck bringen würde. ({1}) Das ist für uns eine wichtige Voraussetzung, um diesem Vorhaben zuzustimmen. ({2}) Der zweite Punkt bezieht sich auf die Zuständigkeit, das heißt auf die engere Definition, was Bürokratie ist. Da wird die große Weide der Bürokratie durch einen hohen Zaun umgrenzt. Der Normenkontrollrat soll sich nämlich nur auf solche Themen beschränken, die mit Berichtspflichten zu tun haben. Ich bin ein sehr pragmatischer Mensch. Es ist richtig, dass man anhand von Berichten genaue Berechnungen anstellen kann. Eine Rechnung, wie Bürokratiekosten entstehen und wie sie letzten Endes darstellbar sind, hat der Kollege Wend aufgemacht. Insofern kann man hier anhand konkreter Zahlen Risiken und Nebenwirkungen eines Gesetzes abschätzen. Ich denke, dass der Normenkontrollrat die Freiheit haben sollte, auch andere bürokratische Belastungen, wenn er sie für relevant hält, in den Blick zu nehmen. Ich will ein Beispiel nennen. Es ist immer noch nicht möglich, Sozialversicherungsbeiträge online zu zahlen. Das Verfahren ist eine monatliche Routine für große und kleine Unternehmen und es ist mit enormem Aufwand verbunden. Warum soll der Normenkontrollrat nicht bei einer Änderung im Sozialbereich darauf hinweisen, dass eine kleine Modifikation am Gesetz den Unternehmen in Deutschland erhebliche Kosten sparen könnte? Der Normenkontrollrat soll ja gleich einem Fieberthermometer in der Lage sein, solche Kosten zu messen. ({3}) Deswegen lautet mein Vorschlag: Lassen Sie uns diesen Zaun in dem Gesetz abbauen! Lassen Sie uns dem Normenkontrollrat das Vertrauen entgegenbringen, dass die Experten, die in ihn berufen werden, schon wissen, welche Gesetze ihnen besonders wichtig sind. Lassen Sie uns in der Begründung darauf hinweisen, dass in anderen Ländern mit den Informationspflichten ein besonderer Erfolg erzielt wurde! Wenn wir uns bei diesen beiden Punkten entgegenkommen können, dann hat jedenfalls meine Fraktion keine Bedenken, einem solchen Vorhaben zuzustimmen. Das Ziel, Bürokratie abzubauen, ist ohnehin das Ziel der meisten Regierungen. Ich habe mir das in den Ländern angesehen, egal wer dort regiert hat, ob das eine Alleinregierung wie in Bayern war oder - man möchte es kaum glauben - eine Regierung wie Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen. Landauf, landab haben Landesregierungen das Ziel, Bürokratie abzubauen. Das ist in den letzten Jahren Gegenstand jeder Regierungserklärung von neu gewählten Kanzlern und der Kanzlerin gewesen. Es gibt also einen großen Konsens im Parlament. Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass wir es beim Bürokratieabbau mit der Ministerialbürokratie zu tun haben, einem relativ mächtigen Partner, der häufig zu jeder Lösung ein Problem findet ({4}) und uns genau sagt, dass es nur eine ganz bestimmte Lösung für ein Problem gibt, die häufig mit Bürokratie verbunden ist, also Sachzwänge erzeugt. Ich denke, dass das richtig ist. Die meisten Kolleginnen und Kollegen haben Erfahrungen sammeln können. Ich selbst habe Erfahrungen auf beiden Seiten des „Bauzauns“ machen können; schließlich war ich früher Staatssekretär. Zur Debatte gehört schon, festzustellen, dass wir Parlamentarier auch nicht ganz ohne sind. Nach einem Skandal, beispielsweise nach einem Brand in einem Flughafengebäude, sind wir Parlamentarier die Ersten, die sagen: Die Brandschutzvorschriften müssen enorm verbessert werden. So ist es nach dem Brand auf dem Düsseldorfer Flughafen geschehen. Wenn infolge hoher Schneebelastungen Turnhallendächer einstürzen, dann wird zuerst darüber geredet, ob man nicht die Vorschrif2922 ten verändern muss. Nach einem Lebensmittelskandal - zuletzt hatten wir einen Gammelfleischskandal; es wurde so manche Sau durchs Dorf getrieben - schienen geradezu bergeweise neue Vorschriften die einzige Lösung der Probleme zu sein. Man wird mit diesem Gesetz nur dann Erfolge erzielen, wenn das Parlament an bestimmten Stellen den Mut hat, auf Regelungsdichte zu verzichten. ({5}) Dazu bedarf es in der Tat der Mitwirkung von Opposition und Regierung. Die Regierung allein kann das nicht schaffen. Die Kollegin Zimmermann hat den Datenschutz, das Umweltrecht und verschiedene andere Standards genannt, die ihr wichtig sind. In diesem Sinne hat sich auch der Kollege Wend geäußert. Auch ich stehe auf diesem Standpunkt. Für mich ist das heutige Datenschutzrecht allerdings nicht sakrosankt. Das Datenschutzrecht dient dazu, die Bürgerinnen und Bürger und auch Unternehmen elementar zu schützen. Das enthebt uns aber nicht davon, dafür zu sorgen, dass dieses Recht effizient ist. Es nutzt dem Datenschutz überhaupt nichts, das Datenschutzrecht von Veränderungen auszuklammern, indem wir sagen: Das ist ein Heiligtum; wir reden nicht darüber, ob auf diesem Gebiet etwas besser werden kann. Der Datenschutz ist unser gemeinsames Anliegen; da sind wir uns einig. Wir wollen durch Bürokratieabbau keine Bürgerrechte beseitigen. Daher sollten wir selbstverständlich auch Themen wie Datenschutz, Umweltrecht bearbeiten. Ich glaube im Übrigen nicht, dass sich die Qualität von Umweltschutz an der Anzahl der Seiten von Vorschriften messen lässt. Ich bin daher sehr froh, dass es ein Umweltgesetzbuch geben soll, in dem die Umweltschutzvorschriften neu zusammengefasst werden. An dieser Stelle möchte ich eine kleine Nebenbemerkung machen. Wenn wir mit der in den nächsten Wochen anstehenden Föderalismusreform dafür Sorge tragen, dass jedes einzelne Bundesland dieses Umweltgesetzbuch mit Einzelvorschriften umgehen kann, dann laufen Investoren Amok, weil sie glauben, dass sie bestimmte Investitionen nach Prüfung von deren Rechtmäßigkeit in einem Bundesland auch in einem anderen tätigen können, und anschließend feststellen müssen, dass es erhebliche rechtliche Unterschiede gibt. Ich halte es für wichtig, an dieser Stelle nicht den Fehler zu machen, Föderalismusreform mit der bürokratischen Verkomplizierung unseres Rechtssystems zu verwechseln. Mir ist zum Beispiel auch nicht ersichtlich, warum wir 16 verschiedene Bauordnungen haben, nachdem man sich zunächst einmal auf eine Bundesbauordnung verständigt hat. So etwas ist keine Stärkung der Länder, sondern greift das Nervenkostüm vieler Beteiligter an. ({6}) Zwei Beispiele zum Abschluss. Erstens. Heute steht ein zweites Gesetz auf der Tagesordnung. Durch eine ganze Reihe von Regelungen sollen kleine und mittlere Unternehmen von Bürokratie entlastet werden. Was kleine Unternehmen angeht, soll die Bagatellgrenze von 350 000 Euro Umsatz im Jahr auf 500 000 Euro angehoben werden, damit sie es mit einer geringeren Regelungsdichte zu tun haben. Man setzt etwas fort, was Rot-Grün in der letzten Legislaturperiode begonnen hat. Das freut mich sehr. Ich habe mir seitens einer Finanzverwaltung Informationen darüber besorgt, was es für diese Betriebe bedeutet, wenn wir ihnen auf diese Art und Weise mehr Freiheiten einräumen wollen: Entsprechende Vordrucke werden entwickelt, aus denen die neue Definition der Einnahme-Überschuss-Regelung für die Betriebe hervorgeht. In der Praxis wird es dadurch komplizierter als zuvor. Dazu sage ich Ihnen: So kann es nicht funktionieren. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die von uns vorgenommenen Änderungen wirkliche Entlastungen für die Betriebe sind. Es geht nicht an, dass etwa die Steuerverwaltung eines Landes dem mit irgendwelchen Vordrucken entgegenwirkt, sodass am Ende womöglich das Gegenteil von dem herauskommt, was das Parlament erreichen wollte. Es reicht also nicht, Gesetze abzuschaffen; vielmehr müssen wir berücksichtigen, wie sich etwas in der Realität auswirkt. Bei dem von mir genannten Beispiel ist es nicht so gut gelaufen. Zweitens - Stichwort „Gaststättenrecht“ -: das so genannte Bulettenabitur. Frau Zimmermann, ich war für Verbraucherschutz zuständig. Ich kann Ihnen eines sagen: Wenn man eine Gaststätte eröffnen will, dann hat man es mit Regelungen zu tun, die nicht für Verbraucherschutz sorgen, sondern dafür, dass man verzweifelt. ({7}) Ich bin für einen modernen Verbraucherschutz und eine gute Kontrolle. Regelungen wie die bisherigen müssen beseitigt werden. Der Bundeswirtschaftsminister hat zunächst die Abschaffung dieser Regelungen angekündigt. Dann hat er gesagt, er trete doch nicht für deren Abschaffung ein, weil das Ganze im Zusammenhang mit der Föderalismusreform in die Zuständigkeit der Länder falle. Wir sollten ein Signal setzen, finde ich, und das dennoch abschaffen. Wenn einzelne Länder nach der Föderalismusreform der Meinung sind, dass sie das Bulettenabitur doch brauchen, dann sollen sie es meinetwegen wieder einführen. Die Abschaffung wäre ein richtiger Schritt. Das ist eine von den Maßnahmen, Herr Kollege Wend, über die wir vorhin gesprochen haben, die wieder in diese Vorlage hineinkommen sollten. Ich habe die Zeit ein bisschen überzogen, danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe, dass wir gemeinsam vorankommen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Hartmut Koschyk, CDU/CSU-Fraktion.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Berninger, Sie haben durch Ihren konstruktiven Redebeitrag deutlich gemacht, dass sich die große Koalition bei ihrem Ziel, mit messbarem Bürokratieabbau und wirksamer Mittelstandsentlastung in Deutschland ernst zu machen, in diesem Hause auf eine breite Mehrheit weit über die Koalitionsfraktionen hinaus abstützen kann. Wir alle sind uns einig, dass vor allem Wirtschaft und Mittelstand seit Jahrzehnten unter der Last unsinniger Vorschriften und Regelungen leiden. Wir alle, auch die Kollegen der Freien Demokraten, sollten die Kraft zur Selbstkritik haben und einräumen, dass die Bundesregierungen aller Farbschattierungen, auch Wirtschaftsminister - über lange Zeit sind sie von den Freien Demokraten gestellt worden -, ihren Beitrag dazu geleistet haben. 80 Prozent der Bürokratiekosten tragen Handwerk und Mittelstand in unserem Land und die entsprechenden Mittel fehlen bei den Investitionen und bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Ich bin dankbar dafür, dass das Bundeswirtschaftsministerium durch das Institut für Mittelstandsforschung einmal hat errechnen lassen, wie hoch die jährlichen Bürokratiekosten sind. Man schätzt diese Kosten auf 45 Milliarden Euro. Wenn es uns gelingt, davon auch nur ein Viertel abzubauen, dann entlasten wir die Unternehmen in unserem Land um rund 10 Milliarden Euro. Das ist ein Betrag, der jede Mühe wert ist. Das Beste daran ist: Der Abbau überflüssiger Bürokratie kostet den Finanzminister keinen Cent. ({0}) Wir haben uns für eine Doppelstrategie bei diesen Maßnahmen entschieden. Wir richten einen Normenkontrollrat ein, der Regierung und Parlament berät und bei der Aufgabe unterstützt, den Wildwuchs in Gesetzen und Verordnungen dauerhaft zu bändigen. Herr Kollege Berninger, wir sind sehr offen dafür, dies nicht auf Gesetzesinitiativen der Bundesregierung zu beschränken, sondern dies im parlamentarischen Beratungsverfahren auf Gesetzentwürfe aus dem Parlament auszudehnen. Auch darüber, ob wir die Kompetenzen des Normenkontrollrats noch um das eine oder andere erweitern können, wollen wir im Verfahren offen sprechen. Ich sage sehr deutlich: Es ist gut und richtig, dass die Einrichtung eines Normenkontrollrats kein bürokratischer Akt ist, den eine Bundesregierung auf dem Verordnungswege erledigt, sondern dass das eine Initiative aus dem Parlament heraus ist ({1}) und dass dieser Epoche machende Schritt bei der Bekämpfung überflüssiger Bürokratie in unserem Land vom Parlament getan wird. Wir beraten und verabschieden mit diesem Entwurf eines Gesetzes zur Einsetzung eines Normenkontrollrats auch den Entwurf eines Mittelstandsentlastungsgesetzes, das den Bürokratiekostendschungel mit ersten konkreten Maßnahmen lichtet. Wir sollten uns als Deutsche immer anschauen - davon ist hier mehrfach gesprochen worden -, was unsere Nachbarn in dieser Frage besser machen. Wir haben uns das genau angeschaut. Ich bin unserem Kollegen Röttgen sehr dankbar, der über lange Zeit mit Fachleuten gesprochen hat, die in die Niederlande gereist sind und sich das dort genau angeschaut haben. Wir haben uns das auch in Dänemark und in Großbritannien angeschaut. Was sich bei unseren Nachbarn beim Abbau überflüssiger Bürokratie bewährt hat, das wollen wir jetzt auch in Deutschland wagen. ({2}) Ich habe von der Doppelstrategie gesprochen. Es kommt der Normenkontrollrat, aber es kommt auch ein Mittelstandsentlastungsgesetz. Ich will einige Beispiele dafür nennen, wo das Mittelstandsentlastungsgesetz greifen wird. Jährlich fallen in Deutschland 8 Millionen Tonnen Altholz an. Wenn jemand zurzeit eine Lieferung von nur 100 Kilogramm erhält, muss er einen zweiseitigen amtlichen Vordruck ausfüllen. Das wird der Vergangenheit angehören. Im produzierenden Gewerbe werden wir bei der Statistikerhebung die Grenze, von der an Unternehmen einbezogen werden, von 20 auf 50 Beschäftigte anheben. Damit werden wir 25 000 Kleinbetriebe sozusagen von der Stichprobe und damit auch von der Meldepflicht befreien. Für Betriebe mit insgesamt 600 000 Beschäftigten wird in dem Jahr 2007 die Lohnstrukturerhebung ganz entfallen. Wir wissen, das alles reicht noch nicht. Deshalb werden wir im laufenden Gesetzgebungsverfahren prüfen, wo wir noch weitere Entlastungsmomente einbringen können. So wollen wir, dass Existenzgründer in den ersten drei Jahren von allen Pflichten bezüglich statistischer Auskünfte freigestellt werden. Das wollen wir ins laufende Gesetzgebungsverfahren einbringen. Ein anderer Punkt betrifft die vielen technischen Möglichkeiten - Herr Kollege Berninger hat davon gesprochen -, die uns die moderne Informationstechnik auch bei der Bürokratieentlastung bei Handwerk und Mittelstand bietet. Wir werden auch in das laufende Verfahren zum ersten Mittelstandsentlastungsgesetz schnell realisierbare weitere Vorschläge einfügen. Gleichzeitig beginnen wir mit den Vorbereitungen für ein zweites Mittelstandsentlastungsgesetz, das bereits im Herbst konkrete Gestalt annehmen soll. Unsere Fraktion hat über 60 konkret umsetzbare Punkte genannt, die wir uns für diese Legislaturperiode vorgenommen haben. Ein Drittel wird umgesetzt; bei einem weiteren Drittel sind wir auf einem guten Weg. Wir lassen nicht locker, wenn es darum geht, in unserem Land etwas für mehr Wachstum und Beschäftigung zu tun. ({3}) Denn wenn ein Unternehmer sich nicht mehr mit der Meldung für die vierteljährliche Produktionserhebung im Fertigteilbau beschäftigen muss, dann hat er mehr Zeit für sein Unternehmen. ({4}) Somit sichert Entbürokratisierung Arbeitsplätze und schafft neue. Mehr Arbeitsplätze garantieren durch höhere Steuereinnahmen auch die Entlastung, die wir brauchen, um wieder zukunftsnotwendige Investitionen für unser Land tätigen zu können. Deshalb freuen wir uns, dass wir schon bei dieser Debatte gespürt haben, dass auch die Freien Demokraten und Bündnis 90/Die Grünen sich an diesem Gesetzgebungsverfahren und diesen Beratungen in Bezug auf echten Bürokratieabbau in Deutschland und echte Mittelstandsentlastung konstruktiv beteiligen wollen. Wenn es uns insgesamt gelingt, mit breiter parlamentarischer Mehrheit endlich Konkretes auf den Weg zu bringen, dann werden die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land spüren, dass die Politik aus dem Parlament heraus Ernst macht, den Dschungel überflüssiger Bürokratie in Deutschland nachhaltig zu lichten. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Birgit Homburger, FDPFraktion. ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte ist über die Gesetzentwürfe zum Bürokratieabbau schon einiges gesagt worden. Herr Kollege Röttgen, Sie haben beispielsweise einleitend erklärt, dass es seit 30 Jahren im Prinzip Ziel jeder Regierung gewesen sei, Bürokratie abzubauen. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Diese Meinung teile ich nicht. In den 80er-Jahren, als es Deutschland wirtschaftlich gut ging, sind in diesem Land einige Bestimmungen beschlossen worden, die für mehr Bürokratie gesorgt haben und die den Deutschen Bundestag heute nicht mehr passieren würden. Es ist nicht so, dass das Ziel seit 30 Jahren dasselbe ist. ({0}) Aber es ist in der Tat richtig - da wende ich mich an Sie, Herr Dr. Wend, denn Sie haben das gesagt -, dass die FDP in der Vergangenheit an den Bundesregierungen beteiligt war. ({1}) Ich sage Ihnen klipp und klar: Wir haben schon Anfang der 90er-Jahre deutlich gemacht, dass wir in Zeiten, als wir Verantwortung getragen haben, Dingen zugestimmt haben, denen wir heute nicht mehr zustimmen würden, die man damals als richtig empfunden hat und die zu mehr Bürokratie geführt haben. Wir stehen zu der Verantwortung; aber weil wir das erkannt haben, fordern wir schon seit Beginn der 90er-Jahre konsequent immer wieder die Reduzierung von überflüssigen Vorschriften in Deutschland. ({2}) Da sind wir bei den anderen Fraktionen bisher gegen eine Wand gelaufen. Ich freue mich, dass es jetzt eine gemeinsame Erkenntnis des ganzen Hauses gibt. ({3}) Ich möchte auch deutlich machen, dass die Landesregierungen, in denen wir vertreten waren bzw. sind, immer wieder Anstrengungen unternommen haben. Ich nenne beispielsweise entsprechende Zahlen für BadenWürttemberg. Dort wurde im Jahr 2000 eine Initiative zum Abbau überflüssiger Bürokratie gestartet. Wir haben es geschafft, innerhalb von vier Jahren die Verwaltungsvorschriften in Baden-Württemberg um über 2 000 auf die Hälfte zu reduzieren. Das ist immer noch nicht genug. Deswegen werden wir die Anstrengungen fortsetzen. Anstrengungen erwarten wir aber auch von der Bundesregierung. ({4}) Von der Bundesregierung gab es nach der Wahl bisher nur zahllose Ankündigungen. Es hieß, Bürokratieabbau werde Chefsache. Auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos wurde dies angekündigt. Man muss allerdings deutlich sagen, dass wir davon bisher nichts gesehen haben. Jetzt haben wir die erste Lesung eines entsprechenden Gesetzentwurfs. Was bisher gelaufen ist, ist also wirklich kein Ruhmesblatt für die Koalition. Ich sage sehr deutlich: Wir begrüßen beide Gesetzentwürfe. Aber ich sage Ihnen auch sehr deutlich: Sie gehen nicht weit genug. Ich bin der Auffassung, dass wir endlich dazu kommen müssen, in Deutschland über die Befristung von Gesetzen nachzudenken und Verordnungen grundsätzlich mit einem Verfallsdatum zu versehen. Es soll nicht derjenige sozusagen die Beweislast haben, der sie abschaffen will, sondern derjenige, der sie weiter behalten will. Auch das wäre eine strukturelle Maßnahme. ({5}) Wir fordern von Ihnen klipp und klar - ich komme darauf noch zu sprechen - eine Eins-zu-eins-Umsetzung der europäischen Richtlinien. Diese haben Sie vollmundig angekündigt. Sie tun es allerdings nicht. Ich nenne in diesem Zusammenhang beispielsweise das Antidiskriminierungsgesetz. Vor diesem Hintergrund sind natürlich alle möglichen Bekenntnisse zum Bürokratieabbau nicht allzu viel wert. Ähnliches gilt für das Mittelstandsentlastungsgesetz. Es geht zwar in die richtige Richtung; Herr Röttgen, Sie haben das Gesetz überschwänglich gelobt. Ihr Kollege, Herr Fuchs, hat als mittelstandspolitischer Sprecher Ihrer Fraktion aber öffentlich geäußert, dieses Gesetz sei bei weitem nicht ausreichend und müsse an entscheidender Stelle überarbeitet werden. ({6}) Wo Herr Fuchs Recht hat, hat er Recht. ({7}) Wir können ihm nur zustimmen. ({8}) Ich möchte Ihnen sehr deutlich sagen: Wenn durch das Mittelstandsentlastungsgesetz für kleine und Kleinstbetriebe ein paar Regelungen verändert werden - beispielsweise durch eine vereinfachte Statistik -, dann ist das lobenswert. ({9}) Aber wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie endlich an die Hauptkostenblöcke geht. Es wurde schon das Institut für Mittelstandsforschung zitiert, das jährliche Kosten in Höhe von 46 Milliarden Euro allein aufgrund bürokratischen Aufwands für die Betriebe festgestellt hat. Was sind die großen Kostenblöcke? Ein zu kompliziertes Steuerrecht, ein zu kompliziertes Sozialversicherungsrecht, ein zu kompliziertes Arbeitsrecht, ein zu kompliziertes Umweltrecht und viel zu viel Statistiken. Das ist das Ergebnis der Studie, die im Auftrag des Wirtschaftsministeriums durch das Institut für Mittelstandsforschung durchgeführt wurde. Was aber machen Sie? Fehlanzeige! Wenn Sie nicht bereit sind, auch an die großen Kostenblöcke heranzugehen, dann werden Sie in der Zukunft keine Entlastung im Bereich der Bürokratiekosten erreichen. ({10}) Das zeigt sich beispielsweise auch an dem Vorziehen der Fälligkeit für die Abgabe der Sozialversicherungsbeiträge; die entsprechende Regelung gilt seit Januar. Das bedeutet Zusatzbelastungen in Höhe von 3 Milliarden Euro. Herr Röttgen, wenn Sie sagen, zusätzliche Kosten müssten zukünftig gerechtfertigt werden, dann sind Sie schlicht und ergreifend unglaubwürdig. Sie hätten im Januar die Chance gehabt, dieses unsinnige Gesetz rückgängig zu machen. Sie haben dies nicht gewollt und haben sehenden Auges 3 Milliarden Euro zusätzliche Kosten für die Betriebe und für die Krankenkassen, die jetzt zweimal eine Abrechnung machen müssen, in Kauf genommen. Trotzdem erklären Sie heute, dass Sie zukünftig die Bürokratiekosten gerne reduzieren wollen. ({11}) Das ist nicht akzeptabel. Unser Vorschlag zum Antidiskriminierungsgesetz - Herr Dr. Wend, Sie haben dies angesprochen - ist ganz einfach: Gehen Sie über eine Eins-zu-eins-Umsetzung der Europäischen Richtlinien nicht hinaus. ({12}) Wenn Sie jedes Mal bei der Umsetzung einer solchen Richtlinie weitere Kriterien draufsatteln, dann wird das nur dazu führen, dass Sie mehr Bürokratie und mehr Kosten in diesem Land provozieren. Das lassen wir Ihnen als Opposition nicht durchgehen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin Homburger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wend?

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Dr. Rainer Wend (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003258, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Homburger, könnten Sie mir freundlicherweise erklären, was die Frage, ob in Zukunft auch Behinderte in den Schutzbereich des Antidiskriminierungsgesetzes genommen werden sollen, mit dem Thema Bürokratie zu tun hat?

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das will ich Ihnen gerne erklären. Wir haben in Deutschland eine ganze Reihe von Regelungen, die eine Diskriminierung verhindern. Wir alle - ich glaube, da sind wir uns in diesem Hause völlig einig - sind gegen eine Diskriminierung sowohl von Behinderten als auch von alten Menschen wie auch gegen eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung. Wir haben aber klare Regelungen in Deutschland, die das schon jetzt verhindern. ({0}) Wenn es jetzt auf europäischer Ebene zusätzliche Richtlinien gibt, die in Deutschland umgesetzt werden müssen, dann werden sie - das sagen wir als Rechtsstaatspartei FDP - auch umgesetzt. ({1}) Aber wir sagen Ihnen sehr deutlich: Dass Sie jetzt anfangen, im Zivilrecht Kriterien einzuführen, wonach es sanktioniert werden kann, wenn zwei Menschen sich dazu entscheiden, keinen Vertrag miteinander zu schließen, ist schlicht und ergreifend falsch. ({2}) - Moment, ich bin gerade dabei, das zu erklären. - Das Wesen des Zivilrechts besteht darin, Herr Kollege Dr. Wend, dass zwei Menschen selber entscheiden können, ob sie einen Vertrag schließen oder nicht. ({3}) Wenn dem einen die Nase des anderen nicht gefällt, dann braucht er keinen Vertrag abzuschließen, auch wenn Ihnen das nicht passt. Das ist das Wesen des Zivilrechts. Wenn Sie jetzt hier Kriterien einführen und anfangen, dies zu ändern, dann führt das nur zu einem: dass zukünftig in diesem Zusammenhang auch im Bereich des Zivilrechts Klage eingereicht wird und dadurch zusätzliche Bürokratie und höhere Kosten entstehen. Das ist kontraproduktiv für Deutschland. Wir brauchen dies nicht, um Diskriminierung zu verhindern. Was Sie jetzt vorhaben, ist eine überflüssige Vorschrift und überflüssige Bürokratie. ({4}) Deswegen lehnen wir Ihren Vorschlag ab. Ich kann nur darauf verweisen, dass Frau Dr. Merkel, die heute Bundeskanzlerin ist, das noch vor wenigen Monaten, vor der Bundestagswahl, genauso gesehen hat wie wir. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Unter Schwarz-Rot ist Bürokratie wie eine Hydra. Schon für jede Ankündigung der Abschaffung einer Vorschrift kommen zwei neue hinzu. Deswegen werden wir als FDP-Bundestagsfraktion alles daransetzen, Sie auch zukünftig beim Thema Bürokratieabbau zu treiben, damit es wirklich zu Bürokratieabbau kommt und Kosten reduziert werden. Die Republik ächzt in diesem Zusammenhang unter Kosten von jährlich 46 Milliarden Euro und Sie kommen nicht vorwärts. Das muss ein Ende haben, und zwar so, dass wir in diesem Lande mehr Freiheit und damit mehr Chancen insbesondere für mehr Arbeitsplätze haben. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Michael Bürsch, SPDFraktion. ({0})

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle reden von Bürokratieabbau. Der Beitrag der Kollegin Homburger hat aber gezeigt, dass es sehr unterschiedliche Vorstellungen zu diesem Thema gibt. Das gibt mir Anlass zu ein paar Klarstellungen. Erste Klarstellung. In diesen Tagen wird heftig über den Staat diskutiert: Brauchen wir einen starken Staat? Brauchen wir - das ist das FDP-Modell - einen schlanken Staat? Um es gleich sehr deutlich zu sagen: Das ist nicht unser Thema, wenn wir über Bürokratieabbau reden. ({0}) Den Ruf nach Bürokratieabbau mit der Forderung nach einem schlanken Staat gleichzusetzen, bringt uns auf den Holzweg. Den schlanken Staat bzw. einen Staat zu wollen, der sich möglichst weit zurückzieht und vielleicht nur noch hoheitliche Aufgaben wahrnimmt, bedeutet nicht, Bürokratie abzubauen, liebe FDPler. Das ist ein Abbau von Staatsaufgaben. Das mag zwar das neoliberale Verständnis von Bürokratieabbau sein. Aber das ist nicht unser Verständnis und steht auch nicht zur Debatte. ({1}) Wenn wir von Bürokratieabbau reden, dann meinen wir gerade nicht den schlanken Staat. Wir meinen damit nicht den Rückzug aus den staatlichen Aufgaben. Denn die Auffassung der Sozialdemokraten ist: Wir brauchen einen starken Staat. Wir brauchen einen Sozialstaat, der seine Fürsorgepflichten gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern wahrnimmt. Der Ruf nach einem schlanken Staat ist sehr populär. Denn es wird vielfach unterstellt, dass nur der schlanke Staat zu einer starken Wirtschaft führen kann, dass ein starker Staat und eine starke Wirtschaft einander ausschließen. Diese Rechnung geht nicht auf. Wenn Sie eines Beweises dafür bedürfen, sollten Sie nach England schauen und sehen, was Maggie Thatcher dort angestellt hat. Das ist die Widerlegung des Staatsmodells „schlanker Staat“. Die Diskussion um Bürokratieabbau setzt dort an, wo es darum geht, wie der Staat seine Aufgaben wahrnimmt. Genau an dieser Stelle müssen wir natürlich immer wieder prüfen, wie die öffentliche Hand möglichst effizient arbeiten kann. Das heißt, wir müssen prüfen, wie sie Ressourcen schonen und mit möglichst geringer bürokratischer Belastung der Wirtschaft und der Bürgerinnen und Bürger arbeiten kann. Zweite Klarstellung. Wenn wir über Bürokratieabbau reden, dann sollten wir dies bitte schön unter dem Gesichtspunkt tun, es handele sich um ein Gesamtkunstwerk von Staat, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Ich nenne Ihnen dazu Beispiele: Die Kritik an bürokratischen Regelungen und Verfahren sollte nicht unterschlagen, dass viele Exzesse nicht staatlichen Ursprungs sind, zum Beispiel die Vorgaben der Berufsgenossenschaften, das im Gesundheitswesen bzw. zwischen Krankenkassen und kassenärztlichen Vereinigungen bestehende Regelwerk oder die verschiedenen nationalen und internationalen Normgremien. Die allgegenwärtigen DIN reichen von der einheitlichen Kennzeichnung von Lineaturen in Schulheften über Prüfnormen für den Knieschutz bis zum IT-Management. Das Europäische Komitee für Normung, CEN, hat im März 2006 stolz verkündet, den zehntausendsten europäischen Standard verabschiedet zu haben. Hinzu kommen immer mehr EU-Normen, die kompliziert und unübersichtlich erscheinen. Die Wirtschaft sollte sich an ihre eigene Nase fassen. Es gibt wunderbare Beispiele dafür, wie bürokratisch die Wirtschaft - das ist die Domäne der FDP - selber verfährt und jede Menge interne Regeln aufstellt. In der „Zeit“ wurde darüber vor kurzem ein Artikel veröffentlicht. Ein Beispiel: Die Mitarbeiterin eines Chemiekonzerns wollte etwas Gutes tun. Sie schlug vor, zehn veraltete Computer nicht einfach wegzuwerfen, sondern an eine Schule abzugeben. Was ist passiert? In allen Abteilungen wurde geprüft, ob das möglich ist. Die Buchhalterin sagte schließlich, das geht nicht, ich kann das nicht verbuchen. Im Ergebnis landeten die Computer auf dem Sondermüll. So sieht die Bürokratie aus, die uns die Wirtschaft vorlebt. Wenn die Wirtschaft mit dem Finger auf die Politik zeigt, zeigen drei Finger auf sie zurück. Dritte Klarstellung zu den Möglichkeiten des Gesetzgebers unter dem Gesichtspunkt, dass es nicht um das Staatsmodell geht, sondern darum, wie wir ressourcenschonend vorgehen und Gesetze besser machen können. Es geht um eine kosten- und zeitsparende Gesetzesanwendung. Ein Beispiel für eine bessere Gesetzgebung ist die Vereinfachung und Zusammenführung von Vorschriften. Eine große Hilfe wäre beispielsweise die Zusammenführung der Normen, die das Arbeitsrecht regeln - sie sind bisher auf viele Einzelgesetze verstreut -, in einem Gesetz. Ein weiteres Beispiel ist die Vermeidung von Doppelzuständigkeiten, die wir immer noch zuhauf haben. In Deutschland gibt es - das wissen viele nicht - zwei Meldewesen, nämlich über das Standesamt und über das Einwohnermeldeamt. Muss das denn sein? Viele Länder haben überhaupt kein Meldewesen. Die USA sind vielleicht nicht das beste Beispiel. Ob wir aber zwei Meldewesen brauchen, stelle ich infrage. Solche Beispiele können sie rauf- und runterdeklinieren. An dieser Stelle können wir ansetzen. Zu dem heute vorliegenden Gesetzentwurf sage ich: Das Standardkostenmodell ist der richtige Weg, weil zum ersten Mal auf der Basis von Zahlen und Fakten mit den vier Grundrechenarten belegt werden kann, wo man ansetzen kann. Man darf allerdings nicht zu viel erwarten. Die Informations- und Berichtspflichten, die hiermit ins Visier genommen werden, machen in der Tat gerade einmal 5 bis 10 Prozent des bürokratischen Aufwands aus. Es ist aber immerhin ein richtiger Schritt auf dem Weg, bei den Kosten Transparenz herzustellen und - das ist neu - bei den Beteiligten ein Kostenbewusstsein zu schaffen. Man muss in der Tat bei der Verwaltung anfangen. Vierte Klarstellung. Das, worüber wir reden, ist eine Domäne der Bürgerinnen und Bürger. Fassen wir uns doch einmal an unsere eigene Nase! In Deutschland leisten auch wir, die Bürgerinnen und Bürger, einen erheblichen Beitrag zum Bürokratieaufwand, weil wir bei allen Entscheidungen der Verwaltung auf Einzelfallgerechtigkeit pochen. Bei finanziellen Ansprüchen ist es sehr beliebt, für den eigenen Fall bis auf zwei Stellen nach dem Komma Gerechtigkeit zu verlangen, sie notfalls vor Gericht einzuklagen. Das ist eine Aufforderung an uns alle und an die Organisationen, die im gesellschaftlichen Sektor tätig sind. Ich weise darauf hin, dass sich der Deutsche Beamtenbund dieses Themas dankenswerterweise annimmt. ({2}) Er will dafür sorgen, dass in der Verwaltung ein anderes Bewusstsein, eine andere Mentalität Einzug hält. Die Verwalter müssen allerdings bereit sein, Ermessen auszuüben. Wir brauchen einen Kulturwandel. Wir brauchen einen Verwalter, der nicht die buchstabengetreue Verwaltung der Vorschriften anstrebt, sondern bereit ist, zu gestalten und Verantwortung zu übernehmen. Wenn der Beamtenbund und andere Organisationen bei diesem Kulturwandel mitmachen, sind sie herzlich willkommen. Also: Wir gehen an die Arbeit. Das Werk wird uns mindestens noch 25 Jahre lang beschäftigen. Viel Vergnügen! ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Staatsministerin Hildegard Müller das Wort. ({0})

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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In Deutschland haben wir - das ist bereits gesagt worden - ein zu enges Geflecht von Gesetzen und Verordnungen. Viele Vorschriften, Auflagen und Meldepflichten schränken die Spielräume der Menschen, Unternehmen ein und lähmen ihre Initiativen. Deshalb ist es notwendig, zu überlegen, ob wir unsere Kräfte nicht viel besser für die Freisetzung innovativer Kräfte nutzen sollten. ({0}) Wir beschneiden die Freiheit und damit die Kreativität der Menschen und Unternehmen in unserem Land. Wir alle haben dazu beigetragen. Es wurden bereits gute Beispiele genannt. Kollege Berninger hat auf das große Sicherheitsbedürfnis hingewiesen. Wann immer irgendetwas passiert, wird sofort gefragt: Warum hat die Politik das nicht geregelt? Warum gibt es Regelungslücken? Warum wurde etwas abschließend nicht so geregelt, dass alles hundertprozentig abgedeckt ist? Es hat auch viel versteckten Protektionismus aus der Wirtschaft heraus gegeben. Die Wirtschaft hat ihre Verantwortung mitzutragen und kann sich daraus nicht zurückziehen. Oftmals geht es um den Schutz von Produkten, die Sicherung von Nischen oder vieles andere. Natürlich hat auch die Verwaltung selber ein Bestreben, alles perfekt zu machen, und damit hat sie zu den Problemen beigetragen. Das heißt, einfache Schuldzuweisungen nützen uns nichts. Die Ursache liegt vielleicht darin, dass in den letzten 30 Jahren immer wieder über dieses Thema gesprochen wurde, aber am Ende nichts passiert ist. ({1}) Wir müssen Kräfte freisetzen - nicht vorrangig für neue Gesetze, sondern für neue Ideen, die zugleich neue Freiheiten und damit neuen Wohlstand sichern. Unsere Unternehmen müssen wieder investieren, produzieren und neue Arbeitsplätze schaffen, statt mit neuen Statistiken beschäftigt zu werden. ({2}) Mit den heutigen Initiativen und dem Programm der Bundesregierung für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung tragen wir diesen Anforderungen an einen modernen Bürokratieabbau Rechnung. Ziel ist es dabei, einen wirkungsvollen und zugleich möglichst schlanken und kostengünstigen Ansatz zum Abbau von Bürokratie zu wählen. Hierbei sollten wir - das ist gesagt worden durchaus von guten Beispielen aus dem Ausland lernen. Wir müssen mehr von anderen Ländern - im Übrigen auch von unseren eigenen Bundesländern - lernen, in denen es bereits gute Initiativen zum Bürokratieabbau gibt. Die Bundesregierung selber hat vor zwei Wochen einen ersten - ich betone: ersten - entscheidenden Schritt unternommen. Am 25. April dieses Jahres hat das Kabinett das Programm „Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung“ beschlossen. Dabei handelt es sich um eine Gesamtstrategie, die den Anforderungen an einen modernen Bürokratieabbau Rechnung tragen wird. Ziel dieser Strategie ist es, nicht nur die Reduzierung bestehender Belastungen zu intensivieren, sondern vor allem auch bei der frühzeitigen Verhinderung neuer Bürokratie effektiv anzusetzen. Wir brauchen eine bessere Rechtsetzung. Wir vergrößern damit den Freiraum für Wirtschaft und Gesellschaft. ({3}) Lassen Sie mich kurz nur einige Maßnahmen dieses Programms vorstellen. Neu ist, dass sich wirklich die gesamte Bundesregierung, alle Kabinettsmitglieder diesem Ziel verpflichtet haben. Damit sind sich Kabinett, Ministerien und Verwaltung bei diesem Thema einig und werden gemeinsam vorangehen. Auch wir sind für die Einführung des Standardkostenmodells. Das ist ein innovativer und für Deutschland neuer Ansatz. Denn bislang hat es keine Methode gegeben, bestehende Bürokratiekosten zuverlässig zu erfassen. Liebe Kollegen von der FDP, Sie haben bemängelt, dass sich das nur auf Berichts- und Informationspflichten bezieht. Ihr eigener Antrag vom Januar dieses Jahres beinhaltete genau diesen Ansatz, die Messung von Berichts- und Informationspflichten. ({4}) Darauf sollten Sie hier ehrlicherweise hinweisen. Das Standardkostenmodell ist eine wichtige Voraussetzung für die Quantifizierung und damit letztlich die Rückführung von Bürokratiekosten in Deutschland. Der einheitliche methodische Ansatz erlaubt es, hier schnellstmöglich vorzugehen und systematisch zu messen. Wir werden die Belastungen, die auf Berichten, Formularen und Anträgen beruhen, sehr konkret messen. Es gibt zum Beispiel 62 so genannte Primärstatistikerhebungen, 62 Auskunftspflichten, die teilweise mehrfach pro Jahr erhoben werden. Dies muss sich ändern. Auf der Grundlage dieser Messung wird die Bundesregierung ein verbindliches Abbauziel für bestehende, auf Informationspflichten beruhende Bürokratiekosten festlegen. So wird Bürokratiekostenabbau transparent, nachvollziehbar und messbar. Wir werden hier darüber berichten. Wir wollen uns aber nicht nur auf das Standardkostenmodell beschränken. Auch weitergehende Instrumente und Verfahren sollen geprüft und durchgeführt werden. Wir müssen noch neue Techniken entwickeln, um eine umfassende Bewertung aller Lasten durchführen zu können. Wir haben diese Techniken heute noch nicht. Die Bundesregierung wird in diesem Bereich eigeninitiativ weiterdenken. Der Normenkontrollrat ist bereits erwähnt worden. Die Bundesregierung hat sich in ihrem Programm zum Bürokratieabbau bereits jetzt verpflichtet, den künftigen Normenkontrollrat regelmäßig in Anspruch zu nehmen. Es ist gut, dass wir heute die Einrichtung dieses Bürokratie-TÜV auf den Weg bringen. Ich freue mich schon jetzt auf eine konstruktive und intensive Zusammenarbeit mit den Experten, die in diesem Gremium sitzen werden. Er soll eine starke Stimme bekommen. Seine Macht wird die Öffentlichkeit sein. Aber ich sage auch: Politische Verantwortung ist nicht übertragbar. Auch wir müssen zu den Dingen stehen, die wir politisch regeln. Aber das, was für notwendig erachtet wird, sollte so schlank wie möglich in Kraft treten. ({5}) Ich habe nicht nur die Überprüfung bestehender Normen im Auge, sondern wir müssen auch grundlegende Ansätze zu besserer Rechtsetzung mit dem Normenkontrollrat besprechen und praktische Umsetzungsmöglichkeiten finden. Ich bin mir sicher, dass der Normenkontrollrat für uns alle eine Bereicherung sein wird. ({6}) Vor diesem Hintergrund und weil das Initiativrecht für die Gesetzgebung - das ist bereits gesagt worden nicht allein bei der Bundesregierung liegt, würde auch ich mich freuen, wenn der Sachverstand der Experten nicht nur von den Bundesministerien genutzt würde. ({7}) Im Laufe des Verfahrens lassen sich ja vielleicht noch Änderungen vornehmen. Insbesondere in der Woche des Europatages muss darauf hingewiesen werden - auch die Bundeskanzlerin hat das eben ausdrücklich gesagt -, dass auch die Europäische Union erheblich zur Bürokratie beiträgt. Viele Rechtsetzungsakte gehen mittlerweile auf europäische Vorgaben zurück. Daher ist es entscheidend, dass wir die Bürokratie nicht nur beim Bund, sondern auch auf europäischer Ebene begrenzen und, wo möglich, abbauen. Wir bieten den anderen europäischen Ländern hier unsere Partnerschaft an. Wir sollten nicht nur die Möglichkeiten nutzen, voneinander zu lernen, sondern uns auch dem gemeinsamen Ziel des Bürokratieabbaus verpflichten. Dieser Prozess muss auch auf der Ebene der EU in einem möglichst frühen Stadium der Gesetzgebung besser als bisher berücksichtigt werden. Ich begrüße, dass Kommissionspräsident Barroso vorgestern angekündigt hat, die nationale Ebene bereits bei der Formulierung von Gesetzentwürfen stärker an der Rechtsetzung mitwirken zu lassen. Auch das ambitionierte Programm von Vizepräsident Verheugen, das Maßnahmen zur Rechtsbereinigung und Folgenabschätzung von EU-Recht enthält, zielt in die richtige Richtung. Mittlerweile hat auch die Kommission das Standardkostenmodell für sich entdeckt, für das wir ebenfalls werben. Ich kündige schon jetzt an, dass dieses Thema im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft im nächsten Jahr einen unserer Schwerpunkte bilden wird. Wir wollen innerhalb der Europäischen Union eine bessere Rechtsetzung erreichen. ({8}) Heute beraten wir aber nicht nur die Einführung des Standardkostenmodells, sondern auch das erste Mittelstandsentlastungsgesetz. Weitere konkrete Maßnahmen werden folgen. Seien Sie versichert, dass nicht nur die Bundesregierung viele weitere Ideen hat. Auch aus der Mitte des Parlaments, zum Beispiel im Parlamentskreis Mittelstand der Union - er ist bereits erwähnt worden -, werden eine Reihe von Maßnahmen entwickelt, wie wir die Unternehmen ganz konkret entlasten können. Durch die Anhebung der Buchführungspflichtgrenze auf 500 000 Euro werden zum Beispiel 150 000 Unternehmen entlastet. Der Bürokratieabbau in unserem Land ist eine dringend notwendige Aufgabe. Er ist überfällig und er wird sich nur als gemeinsame Kraftanstrengung meistern lassen. Ich setze großes Vertrauen in die große Koalition und bedanke mich schon jetzt für die Unterstützung der verschiedenen Ressorts der Bundesregierung. Sie macht mich zuversichtlich, dass wir bei dieser Aufgabe vorankommen werden. Ich würde mich freuen, wenn wir bei diesem Vorhaben über die Parteigrenzen hinweg zusammenarbeiten könnten. Dazu liegen Angebote der verschiedenen Fraktionen vor. Ich werde in dieser Frage auf die Fraktionen zugehen und ihre Expertise einbeziehen. Aber wir sollten ehrlich sein: In keiner Fraktion ist ein Platz für Heiligenscheine angebracht. Wir sollten uns dazu bekennen, dass wir alle in den vergangenen Jahren Fehler gemacht haben. Ich denke nur an eine Fragestunde, in der von der FDP-Fraktion kritisiert wurde, dass sich die Bundesregierung nicht mehr für die Rückhaltebügel in Omnibussen einsetze. ({9}) Dazu sage ich nur: Auch in der FDP mag es in dieser Frage den einen oder anderen Hänger gegeben haben. ({10}) Wie gesagt: Das Ziel des Bürokratiekostenabbaus ist unser gemeinsames Ziel. ({11}) Ich bedanke mich für die Diskussion. Als Koordinatorin der Bundesregierung für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung werde ich als Ansprechpartnerin fungieren. Ich lade Sie zur Mitarbeit ein. Ich bin mir sicher, dass wir mit diesem zukunftsweisenden Konzept gemeinsam einen Erfolg haben werden. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Carl-Christian Dressel, SPD-Fraktion.

Dr. Carl Christian Dressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003750, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Max Weber hat Bürokratie als die rationale Form legitimer Herrschaft definiert. Demnach vollzieht sich bürokratische Herrschaft im Unterschied zu traditionaler oder charismatischer Herrschaft nach überprüfbaren Regeln. Der Vorteil einer funktionierenden Verwaltung ist, dass sie für Legitimität und Transparenz im demokratischen Staatswesen sorgt. Alles Verwaltungshandeln im demokratischen Rechtsstaat muss sich auf Gesetze zurückführen lassen. Ich bin froh, dass wir in Deutschland über eine, wie ich glaube, effiziente Verwaltung verfügen. Wir müssen durch unsere Gesetze dafür sorgen, dass die Verwaltung auch effizient sein kann. Nicht nur im öffentlichen Dienst gibt es Bürokratie - wie Kollege Bürsch schon ausgeführt hat -; aber der öffentliche Dienst in Deutschland, meine Damen und Herren von der FDP, ist leider seit Jahren dazu verurteilt, in regelmäßigen Abständen Ihre Anträge zur Entbürokratisierung, die sich nicht nur sinngemäß, sondern auch im Wortlaut häufig wiederholen, auf Papier zu drucken, zu verteilen, zu verwalten und vor allem zu ertragen. Da tun mir nicht nur die Beamten Leid, da tun mir auch die Bäume Leid, die für das Papier der Drucksachen sterben müssen. ({0}) Das meine ich nicht im Spaß. Ihre redundante Antragsflut der letzten Jahre hat dazu beigetragen, dass der Begriff des Bürokratieabbaus häufig zu einer Leerformel verkommt. Ich möchte bei dieser Gelegenheit einen sachlichen Beitrag beisteuern. Vonseiten der FDP höre ich immer wieder, Gesetze bräuchten ein Verfallsdatum. So schreiben Sie unter Punkt I. 3 des vorliegenden Antrags: Wenn ein Gesetz ein Verfallsdatum hat und von ganz allein aufgehoben wird, wird der Aufwand schon sehr viel größer sein, es dann doch noch zu verlängern. Das halte ich für eine gewagte These. Glauben Sie denn allen Ernstes, dass sich nach Ablauf der Frist bei der Überprüfung eines Gesetzes die Normierungsgegner durchsetzen werden? Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Das ist nicht so. In Bayern laufen kommunale Verordnungen nach 20 Jahren aus. Doch nichts ist einfacher, die identische Rechtsnorm als gut und bewährt erneut zu verabschieden. Das Gleiche geht im Übrigen aus einer Studie der Bertelsmann-Stiftung zum Thema Sunset-Legislation hervor: keine Reduzierung der mit Regulierung verbundenen administrativen Lasten. Zweitens möchte ich von Ihnen gerne wissen, wie Sie festlegen wollen, welche Gesetze befristet sein sollen. Anders als in Ihrem Antrag haben Sie, Frau Homburger, selbst gesagt, dass es Grenzen bei der Anwendung der von Ihnen vorgeschlagenen Befristung geben muss; Quelle „Financial Times Deutschland“, 10. April 2006. Wo liegen diese Grenzen? Wie wollen Sie eingrenzen, welche Gesetze ein solches Verfallsdatum haben sollen? Es ist so wie immer - Rainer Wend hat das auch schon festgestellt -: Ihre Vorschläge klingen markig und dynamisch, aber sie sind wenig konkret. ({1}) Das Gleiche gilt für den Bürokratiekosten-TÜV. Mit Normenkontrollrat und Standardkostenmodell setzen wir unsere Koalitionsvereinbarung zum Bürokratieabbau jetzt in die Tat um. Wenn Gesetzesvorlagen auf Effizienz und Wirtschaftlichkeit hin überprüft werden, werden wir ordentlich Bürokratie einsparen. Auch wenn für diese Vorlage das strucksche Gesetz gilt, muss man eines klar machen: Der Nutzen dieser Form des Bürokratieabbaus liegt in der kritischen Analyse der bürokratischen Auswirkungen einer Gesetzesvorlage, nicht aber ihrer inhaltlichen Zielsetzung. ({2}) Es wird Ihnen wieder nicht gelingen, damit ein Gesetz zum Kündigungsschutz zum Scheitern zu bringen, meine Damen und Herren von der FDP. In der Rechtsbereinigung, die Sie auch ansprechen, haben wir in der vergangenen Legislaturperiode im Rahmen der Initiative schon Zahlreiches bewegt; gekrönt wurde es durch die Einsparung von 217 Gesetzen und Rechtsverordnungen im Bereich des damaligen Ministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung - der größte Beitrag zur Rechtsbereinigung in 40 Jahren. Sie ignorieren dies schlichtweg. ({3}) Meine Damen und Herren von der FDP, Sie könnten einen wichtigen Beitrag zum Bürokratieabbau leisten, wenn Sie die Ministerien und auch den Deutschen Bundestag nicht mehr mit der Forderung, jährlich ein Bereinigungsgesetz vorzulegen, von der Arbeit abhalten. ({4}) Für interessant halte ich es, dass Sie im gleichen Atemzug fordern, neue Maßnahmen zu ergreifen wie eine Pflicht, die Gesetzesfolgenabschätzung zu dokumentieren. Das führt zum Aufbau von mehr Bürokratie. Wenn wir im Rahmen der ZPO-Reform über Dokumentierungspflichten sprechen, sind es doch gerade Ihre Rechtspolitiker, die sagen: Das ist überflüssiger Bürokratismus. Ich kann Ihnen nur auf den Weg mitgeben: Es reicht, was in §§ 43 und 44 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien steht; es muss nur umgesetzt werden. Herr Zeil, Sie haben vorhin das Stichwort Staatsverständnis genannt. Anhand der Äußerungen von Ihnen und Ihren Fraktionskollegen kann man klar und deutlich erkennen: Es geht Ihnen nicht um Bürokratieabbau, es geht um das Staatsverständnis. Wenn Sie von Bürokratieabbau sprechen, dann meinen Sie neben dem Aufbau von Entbürokratisierungsbürokratien doch nur den Abbau von Schutz- und Beteiligungsrechten der Bürger bis hin zum Abbau des Sozialstaats. ({5}) Die SPD-Fraktion hat Ihrem Antrag in der 15. Legislaturperiode nicht zugestimmt; sie wird ihm auch in der 16. Legislaturperiode nicht zustimmen. ({6}) Sollten Sie in der 17. Legislaturperiode diesem Hause noch angehören, dann wird auch bei der dann sicherlich erscheinenden Neuauflage eine Ablehnung des Wiedergängers seitens unserer Fraktion erfolgen. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Dressel, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation und alles Gute für Ihre weitere Arbeit! ({0}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/1406, 16/1407, 16/1167 und 16/119 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- schlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 n sowie Zusatzpunkte 4 a bis 4 d auf: 22 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Per- sonenbeförderungsgesetzes und des Allgemei- nen Eisenbahngesetzes - Drucksache 16/1039 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt - Drucksache 16/1110 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit Vizepräsident Wolfgang Thierse c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldenwesens des Bundes ({2}) - Drucksache 16/1336 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({3}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und des Bundesministeriums für Gesundheit - Drucksache 16/1293 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes über die Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung - Drucksache 16/1290 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5}) Innenausschuss f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und Beschleunigung von Zulassungsverfahren für Verkehrsprojekte - Drucksache 16/1338 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6}) Innenausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Personenbeförderungsgesetzes - Drucksache 16/1341 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Tourismus h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Grundqualifikation und Weiterbildung der Fahrer im Güterkraft- oder Personenverkehr - Drucksache 16/1365 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({8}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus i) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Besteuerung des Spieleinsatzes ({9}) - Drucksache 16/1032 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({10}) Sportausschuss j) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung der Bundesnotarordnung - Drucksache 16/1340 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss k) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt - Drucksache 16/1344 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({11}) Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({12}), Patrick Döring, Joachim Günther ({13}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes - Wettbewerb im öffentlichen Personenfernverkehr zulassen - Drucksache 16/384 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({14}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus m) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2005 - Vorlage der Haushaltsund Vermögensrechnung des Bundes ({15}) - - Drucksache 16/1122 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, Hellmut Königshaus, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die Entwicklungszusammenarbeit mit Kenia auf den Prüfstand stellen - Drucksache 16/965 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({16}) Auswärtiger Ausschuss Vizepräsident Wolfgang Thierse ZP 4 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 6. November 2003 über den Schutz von Tieren beim internationalen Transport ({17}) - Drucksache 16/1346 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({18}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Brigitte Pothmer, Volker Beck ({19}), Birgitt Bender, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Ich-AG - Drucksache 16/1405 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({20}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Hänsel, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Flugticketabgabe jetzt - Entwicklungsfinanzierung auf breitere Grundlagen stellen - Drucksache 16/1203 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({21}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Hoppe, Kerstin Andreae, Marieluise Beck ({22}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Umsetzung des EU-Stufenplans zur Entwicklungsfinanzierung ({23}) durch Flugticketsteuer unterstützen - Drucksache 16/1404 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({24}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Zunächst Tagesordnungspunkt 23 a: 23 a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen über das Recht der nichtschifffahrtlichen Nutzung internationaler Wasserläufe - Drucksache 16/738 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({25}) - Drucksache 16/1419 - Berichterstattung: Abgeordnete Ulrich Petzold Dirk Becker Horst Meierhofer Lutz Heilmann Sylvia Kotting-Uhl Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/1419, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen oder Enthal- tungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist damit einstim- mig angenommen. Tagesordnungspunkt 23 b: b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 17. Juni 1999 über Wasser und Gesundheit zu dem Übereinkommen von 1992 zum Schutz und zur Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen - Drucksache 16/739 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({26}) - Drucksache 16/1420 Berichterstattung: Abgeordnete Ulrich Petzold Dirk Becker Horst Meierhofer Lutz Heilmann Sylvia Kotting-Uhl Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/1420, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Auch dieser Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen. Vizepräsident Wolfgang Thierse Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP Haltung der Bundesregierung zur Umsetzung der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinie Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Guido Westerwelle, FDP-Fraktion, das Wort. ({27})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben heute Morgen eine Debatte zur Europapolitik geführt. Die Bundeskanzlerin hat sich in ihrer Rede dafür eingesetzt - wir finden, das ist anerkennenswert -, dass wir aus Brüssel nicht noch mehr Bürokratie bekommen. Aber wenn man die Bürokratie aus Brüssel ablehnt, dann darf man in Deutschland aus dem, was aus Brüssel kommt, nicht noch mehr Bürokratie machen. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Unionsfraktion, an dieser Stelle fehlt Ihr Beifall. Denn mit Verlaub gesagt: Sie waren diejenigen, die in der letzten Legislaturperiode gemeinsam mit uns dafür gekämpft haben, dass das, was aus Brüssel kommt, eins zu eins umgesetzt wird. ({1}) Davon ist nicht mehr die Rede. ({2}) Sie setzen nicht eins zu eins um, was aus Brüssel kommt, sondern setzen den Unfug eins zu eins um, den Rot-Grün begonnen hat. Das ist das Entscheidende. ({3}) Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von der Union, man sieht Ihnen die Freude über dieses Gesetz an. Sie haben vor ungefähr einem Jahr eine Bundestagsdrucksache eingebracht, über die wir hier gesprochen haben. Sie trägt den Titel: „Kein weiterer Arbeitsplatzabbau - Antidiskriminierungsgesetz zurückziehen“. Ihre Haltung gegen das Antidiskriminierungsgesetz, wie sie in diesem Antrag zum Ausdruck kam, war damals richtig und wäre heute auch noch richtig. Dann müssten Sie gemeinsam mit uns gegen das, was jetzt Gleichbehandlungsgesetz genannt wird, kämpfen. Rot-Grün hat das „Antidiskriminierungsgesetz“ genannt; Sie nennen es jetzt „Gleichbehandlungsgesetz“. Das ist derselbe Unfug in anderer Färbung und dagegen wenden wir uns mit aller Entschiedenheit. ({4}) Es ist übrigens auch ein Irrtum, zu glauben, dass irgendeiner Minderheit, irgendeiner zu schützenden Gruppe damit geholfen werden könnte. ({5}) Wir Freie Demokraten -

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Dr. Westerwelle, ich muss Sie bitten, Ihre Rede kurz zu unterbrechen, damit ich den Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion deutlich machen kann, dass dies hier kein Ort für Demonstrationen irgendwelcher Art ist. ({0}) Das können Sie draußen machen. ({1}) Was wir dagegen hier tun, ist, uns mit Worten auseinander zu setzen und nicht mit Transparenten. ({2}) Deswegen würde ich Sie bitten, die Transparente und die T-Shirts, die die Funktion von Transparenten haben, draußen zu zeigen, aber nicht hier drinnen. ({3})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn Sie mir noch die Bemerkung erlauben: Einige von Ihnen sollten diese T-Shirts nicht tragen. Die sind bei Ihrer Figur wirklich nicht mehr kleidsam. ({0}) Ich meinte die Herren, damit das gleich klar ist. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Dr. Westerwelle, ich muss die Sitzung unterbrechen, bis die Kollegen sowohl die Transparente als auch die T-Shirts nach draußen geschafft haben. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, bei allem Respekt: Ich bin der Überzeugung, dass Sie das richtig machen und auch für Ordnung sorgen. Aber wozu ich nicht bereit bin, ist: Wenn vom Präsidium aus eine solche Demo gemacht wird, tue ich hier nicht so, als ginge das einfach so weiter. Das mache ich nicht mit. ({0}) Dann unterbrechen wir jetzt hier. Ich würde dann jetzt beantragen, dass die Sitzung unterbrochen wird.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Dr. Westerwelle, die Sitzung ist im Moment unterbrochen. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Na, fabelhaft. ({0}) - Ich habe mich selten so gefreut, einen Grünen da oben zu sehen. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich würde die Sitzung jetzt gern wieder aufnehmen. Nachher haben wir eine Ältestenratssitzung. Da gibt es möglicherweise Leute, die das dort thematisieren wollen. Ich erteile Herrn Dr. Westerwelle also erneut das Wort.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Wir kommen jetzt wieder zur Sache zurück. Ich will zu dem Gleichbehandlungsgesetz, das dem ehemaligen Antidiskriminierungsgesetz eins zu eins entspricht und das Sie dem Deutschen Bundestag vorlegen, noch eine Bemerkung dazu machen, welcher Schutz damit eigentlich erreicht wird. Aus unserer Sicht ist es eben Unfug, zu glauben, man könne irgendeiner der zu schützenden Minderheiten hiermit irgendwie helfen. Das Ergebnis dieses Antidiskriminierungsgesetzes wird nicht sein, dass den zu Schützenden geholfen wird. Die werden zu den Vorstellungsgesprächen gar nicht mehr eingeladen, weil die Firmen befürchten müssen, mit irgendwelchen Verbandsklagen überzogen zu werden. ({0}) Deswegen bedeutet dieses Gesetz eine Ausweitung von Bürokratie. Es ist minderheitenfeindlich. Hier wird keinem Behinderten geholfen; hier wird keinem Schwulen geholfen; hier wird keiner Lesbe geholfen; hier wird niemandem geholfen, der zu Recht geschützt werden muss. In Wahrheit ist es ein Gesetz, das den zu Schützenden schadet. Auch das muss klar gesagt werden. ({1}) Wir wollen an dieser Stelle festhalten: Diese Debatte findet in diesem Hause ja nicht zum ersten Mal statt. Wir haben das, was jetzt vorgelegt wird, schon einmal gemeinsam verhindert. ({2}) Union und FDP haben im Bundesrat diesen Unfug von Rot-Grün angehalten. Jetzt kommt er wieder. Wir wissen, dass Ihre eigenen Leute darüber entsetzt sind. Jeden Tag lese ich von einem Kollegen aus der Unions-Bundestagsfraktion, was das für ein Schrott von Rot-Grün ist, den sie hier heute durchbringen sollen. ({3}) Ich sage Ihnen dazu: Denken Sie an Ihr freies Mandat. Mannesmut vor Königinnentreue, das ist hier jetzt angesagt. ({4}) Damit das Ganze korrekt bleibt: Frauenpower selbstverständlich auch. Wir Freien Demokraten sind der Überzeugung, dass den Minderheiten hier geschadet wird, weil sie in Wahrheit um Chancen gebracht werden, dass der Mittelstand mit noch mehr Bürokratie belastet wird, dass deutschen Interessen durch dieses Gesetz nicht entsprochen wird, dass sie vielmehr in Europa benachteiligt werden. Wir können auch auf die Regierungserklärung, die schließlich von Ihrer eigenen Bundeskanzlerin hier abgegeben worden ist, verweisen. Die Bundeskanzlerin hat hier in ihrer Regierungserklärung gesagt: Wir haben uns vorgenommen, die EU-Richtlinien im Grundsatz nur noch eins zu eins umzusetzen. Wenn wir uns zusätzlich zu dem, was wir in Europa vereinbaren, Lasten aufbürden, haben wir gegenüber unseren europäischen Mitbewerbern keine fairen Chancen. - Das war richtig, das bleibt richtig und es ist gut, dass es noch eine Kraft in diesem Hause gibt, die sich an das erinnert, was Sie früher mit vertreten haben, nämlich mehr Freiheit und weniger Bürokratie. ({5}) „Mehr Freiheit wagen“ war doch eigentlich die Überschrift Ihres Amtsantritts. Man ist einigermaßen atemlos darüber, mit welch rasantem Agendawechsel wir es in diesem Hause zu tun haben. Wir werden darüber mit Sicherheit noch manches Mal reden. Ich appelliere an die Ministerpräsidenten der Bundesländer, die diesen Unfug schon einmal mit uns gestoppt haben, es auch diesmal wieder im Bundesrat zu tun. Wir werden jedenfalls dann an deren Seite stehen. Es darf nicht dazu kommen, dass Herr Müntefering mit seinem berühmten Satz nach der Regierungsbildung „Schwarz ist auch nur ein ganz dunkles Rot“ Recht bekommt. Das wäre wirklich bedauerlich. Wir brauchen mehr Freiheit. Wir müssen mehr Freiheit wagen. Das schafft Arbeitsplätze in Deutschland und nicht diese Bürokratie. Ob sie von Schwarz-Rot oder von Rot-Grün kommt - sie ist in beiden Fällen Unfug. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Jürgen Gehb, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Europäische Kommission hat am 23. Februar dieses Jahres vor dem Europäischen Gerichtshof ein unter dem Aktenzeichen C-43/05 geführtes Feststellungsurteil erwirkt, das in etwa folgenden Tenor hat: Die Bundesrepublik Deutschland hat ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beruf und Beschäftigung verletzt, indem sie nicht alle Verwaltungs- und Rechtsvorschriften erlassen hat, die notwendig sind, um dieser Richtlinie in Bezug auf bestimmte Diskriminierungsmerkmale nachzukommen. Warum erwähne ich dieses Urteil? Die Zeit drängt. Nach diesem Erkenntnisverfahren folgt sozusagen das Vollstreckungsverfahren, ({0}) mit der Konsequenz, dass eine Strafe in Höhe von 900 000 Euro fällig wird für jeden Tag, den diese Richtlinie nicht umgesetzt ist. Diese Koalition hat diese Richtlinie nun umgesetzt. Gestern hat die Bundesregierung einen entsprechenden Gesetzentwurf im Kabinett verabschiedet. ({1}) Die heutige Aktuelle Stunde gibt mir keinen Anlass und lässt mir auch nicht Zeit genug, jedes Detail dieses Gesetzesvorhabens hier darzulegen. Ich möchte damit auch nicht den einzelnen Lesungen vorgreifen. Deshalb will ich mich auf zwei oder drei allgemeine Erwägungen beschränken. Herr Westerwelle, jede europäische Richtlinie ist in nationales Recht umzusetzen, ob sie einem nun gefällt oder nicht. ({2}) Diese europäische Antidiskriminierungsrichtlinie gefällt mir eher nicht. Dies gilt übrigens auch für viele andere Richtlinien, zum Beispiel die FFH-Richtlinie, die Vogelschutzrichtlinie, die uns bis aufs Blut drangsaliert. Lassen Sie mich eine Metapher wählen, damit das auch diejenigen im Publikum verstehen, die sich nicht von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang mit dem Wechselspiel von europäischem und nationalem Recht beschäftigen: ({3}) Wenn Sie einen lange in der Sonne liegenden und inzwischen übel riechenden Handkäse verpacken müssen, dann macht es keinen Unterschied, ob Sie diesen in eine alte Pappschachtel legen oder in einen Parfümflakon versenken wollen. Das olfaktorische Unbehagen bleibt mit nur graduellen Unterschieden bestehen. ({4}) Ich mache hier und heute keinen Hehl aus meiner bei jeder Gelegenheit artikulierten Auffassung: Diese Antidiskriminierungsrichtlinien - ich betone: bereits die Richtlinien - stellen einen fundamentalen Angriff auf unsere kontinentaleuropäische und vom Grundsatz der Privatautonomie geprägte Rechtsordnung dar. Dazu stehe ich und dabei bleibe ich auch. Dennoch müssen wir sie umsetzen. ({5}) Deswegen hatte der „Tagesspiegel“ auch vollkommen Recht, als er vor zwei Tagen geschrieben hat: Wer dieses Projekt hätte stoppen wollen, der hätte das vor langer, langer Zeit in Brüssel tun müssen. ({6}) Deshalb liegt das Kind nicht nur nicht erst seit gestern im Brunnen, sondern dieser Brunnen steht auch nicht an der Spree. ({7}) Einem weiteren Leitsatz möchte ich frönen: Das Wünschbare darf nicht zum Feind des Machbaren und, wie in diesem Fall, auch Erforderlichen werden. Wünschbar wäre sicherlich - nicht jeder teilt diese Auffassung - eine Alleinregierung der CDU/CSU. Dann sähe nicht nur dieses Gesetzeswerk anders aus, dann würden wir uns vielleicht auch eher dem Parfümflakon nähern. ({8}) Auch wenn unser jetziger Koalitionspartner oder irgendeine andere Fraktion alleine regieren würde, sähe das Gesetzeswerk anders aus. Freilich würde man sich dann vielleicht eher in der Nähe zur Pappschachtel befinden. In diesem Hause gibt es seit geraumer Zeit aber keine Alleinregierung. ({9}) Weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün, noch Schwarz-Rot sind von der Not entbunden, Kompromisse finden zu müssen. ({10}) Dieser Kompromiss - nicht mehr und nicht weniger - ist gefunden worden. Wenn es zur Lesung des Gesetzes kommt, können wir uns um die arithmetische Umsetzung kümmern. Darüber, ob sie im Grundsatz eins zu eins, eins zu 1,1 oder eins zu 0,9 beträgt, können wir uns trefflich streiten. Für heute soll es damit sein Bewenden haben. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Dr. Ilja Seifert das Wort. ({0})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Gehb, wenn es in diesem Lande und auf diesem Kontinent Dinge gibt, die fundamental gegen unser Verständnis von Gerechtigkeit verstoßen, dann ist es die Diskriminierung von Minderheiten und nicht die Umsetzung einer Richtlinie. Ich finde, Sie haben das Pferd völlig von hinten aufgezäumt. ({0}) Auf Wunsch der FDP reden wir hier darüber, wie sich die Bundesregierung zur Antidiskriminierungsrichtlinie verhält. Sie, die FDP, möchten sie am liebsten ganz und gar verhindern. Herr Westerwelle, Sie versteigen sich dazu, zu sagen, dass Minderheiten durch diese Richtlinie eher Schaden als Nutzen haben. ({1}) - Es ist wirklich unglaublich, was Sie hier sagen. ({2}) Wenn es wenigstens so wäre, dass die Regierung die Richtlinie eins zu eins umsetzte, dann wäre ich ja schon heilfroh. Schauen wir aber doch bitte einmal nach, worum es überhaupt geht. An einem einzigen Punkt geht die Regierung ein kleines bisschen darüber hinaus, nämlich bei der Aufzählung der betroffenen Gruppen. Bei der Aufzählung der betroffenen Gruppen würde noch zusätzlich dadurch diskriminiert, wenn die einen die Guten und die anderen die Schlechten bzw. die Bösen genannt würden. Ein anderer Punkt ist die Überschrift. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob Diskriminierung verboten oder nur so getan wird, als ob ein allgemeines Gleichbehandlungsgebot eingeführt wird. Wenn man Diskriminierung wirklich verhindern will, dann muss man gerade ungleich behandeln. ({3}) Weil die diskriminierten Gruppen benachteiligt sind, muss ihnen eine Chance gegeben werden, diesen Nachteil auszugleichen. Wenn bei ungleichen Verhältnissen alle gleich behandelt werden, dann wird dadurch nur die Ungleichheit reproduziert. Das soll aber gerade überwunden werden. Weil die Regierung der Meinung ist, dass es in diesem Lande keine Diskriminierung gibt, weil es sie nicht geben darf, wird das Gesetz auch nicht Diskriminierungsverbot, sondern Gleichbehandlungsgebot genannt. Schon da fällt sie weit hinter die Richtlinie zurück. Es wird also nicht im Verhältnis eins zu eins oder eins zu 1,1, sondern im Verhältnis eins zu 0,5 umgesetzt. Es geht aber noch weiter. Die Antidiskriminierungsrichtlinie der EU besagt nichts anderes als das, was in Art. 13 des Amsterdamer Vertrages steht, dass nämlich Diskriminierung verboten ist. Was steht in dem von der Regierung vorgelegten Gesetz? Diskriminierung ist mit Ausnahme folgender Punkte verboten. Es folgt unter anderem die Ausnahme, dass es ausreicht, einen so genannten „sachlichen Grund“ geltend zu machen, der dann wieder zu einer Diskriminierung berechtigt. Ein sachlicher Grund ist nach allgemeiner Rechtsprechung in diesem Lande - Herr Westerwelle, Sie sind Jurist genug, um das zu bestätigen - die Angabe, dass die Beseitigung der Diskriminierung zu teuer sei. Die EU-Richtlinie sieht aber nicht vor, dass Diskriminierung erlaubt ist, wenn ihre Beseitigung nur teuer genug ist. Ich nenne ein Beispiel. Wenn vor dem Eingang zum Rathaus drei Treppenstufen sind, dann können die Behindertenorganisationen verlangen, eine Rampe zu bauen; das ist gerade noch möglich. Wenn aber verhindert werden soll, dass Behinderte ins Rathaus kommen, dann werden vor dem Eingang zum Rathaus neun Stufen gebaut; denn dort eine Rampe hinzubauen, wäre viel zu teuer. Also ist es keine Diskriminierung. Diese Denkweise ist doch absurd. ({4}) Demzufolge ist dieser Finanzierungsvorbehalt, der sich hinter dem „sachlichen Grund“ versteckt, abzuschaffen. Dieses Gesetz setzt die Richtlinie nicht um, sondern fällt weit dahinter zurück. Sie aber, Herr Westerwelle, tun ebenso wie Ihre ganze Fraktion so - das ist bedauerlich -, als sei das Ganze ein furchtbares und schlimmes bürokratisches Hindernis auf dem Weg zur realen Gleichbehandlung von Menschen mit unterschiedlichen Handicaps. Das Handicap kann beispielsweise auch aus einem Migrationshintergrund bestehen. ({5}) - Nein, ich will keine Gleichbehandlung, sondern ich will Ungleichbehandlung, um am Ende eine Gleichstellung zu erreichen. Das Ziel ist die Gleichstellung, nicht die Gleichbehandlung. ({6}) Genau darüber reden wir; das dürfen wir nicht verwechseln. Ich finde diese Aktuelle Stunde sehr wichtig. Der Impetus darf aber nicht sein, dieses Antidiskriminierungsgesetz zu verhindern, sondern der Impetus muss dahin gehen, dieses Gesetz auszuweiten, sodass Sanktionen wirklich greifen. Momentan enthält dieses Gesetz keinerlei wirksame Sanktionsmöglichkeiten. Es passiert doch gar nichts, wenn nichts passiert. Das ist das Schlimme. Wenn wir wenigstens erreichen würden, dass in der Bevölkerung das Bewusstsein entsteht, es sei unanständig, Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung, ({7}) wegen ihrer Behinderung oder wegen ihrer Herkunft zu diskriminieren, dann hätten wir schon etwas erreicht. Aber wenn nichts passiert und Menschen trotzdem diskriminiert werden, dann haben wir wenig erreicht. Deshalb muss dieses Gesetz Möglichkeiten zu Sanktionen enthalten, die bei Verstößen gegen dieses Gesetz zum Einsatz kommen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8}) Ich danke Ihnen für die Möglichkeit, hier vor diesem Haus zu reden. Aber ich danke Ihnen überhaupt nicht für den Impetus, den Sie damit verbinden. ({9}) ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Bundesregierung hat das Wort jetzt die Bundesministerin Brigitte Zypries. ({0})

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

- Das wissen Sie in zehn Minuten. Gedulden Sie sich noch so lange und hören Sie schön zu! ({0}) Ich muss erst einmal anfangen. Wenn das so weitergeht, dann sind zehn Minuten schon richtig. Das ist wie mit der Frage der Umsetzung.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wird das alles im Protokoll festgehalten? ({0})

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt in der Tat Themen in der Politik, bei denen es schwierig ist, eine sachliche Debatte zu führen, weil die Vorurteile der verschiedenen Seiten so manifest sind, dass die Menschen das, worum es im Gesetzentwurf geht, in der Regel nicht mehr wahrnehmen. Ich erlebe das in meinem Ressort leider nicht nur bei diesem Gesetz. Im Urheberrecht gibt es ein ähnliches Problem. Da hat man sich auf eine bestimmte Weise festgelegt und meint, es seien Vorschläge im Gesetzentwurf enthalten, die aber gar nicht drinstehen. Es gibt Interessengruppen, die immer wieder mit der Behauptung, im Gesetzentwurf seien bestimmte Vorschläge enthalten, öffentlich zu Felde ziehen. Damit erreichen sie aber das Gegenteil. Dasselbe Problem stellt sich beim Antidiskriminierungsgesetz, besser gesagt beim Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. In Heft 18/2006 des „Focus“ wird Herr Wendt, der Chef der gleichnamigen Maschinenbau GmbH aus Georgsmarienhütte, dem ein zweiseitiger Bericht gewidmet ist, wie folgt zitiert: Seit das Antidiskriminierungsgesetz gilt, betreiben wir bei Stellenausschreibungen und Bewerberauswahl einen Riesenaufwand, ({0}) um uns gegen Klagen abzusichern. Denn wir müssen im Zweifelsfall nachweisen, dass wir einen Bewerber nicht diskriminiert haben. Bei Bewerbungsgesprächen sind wir jetzt immer zu dritt. ({1}) Es ist immer wieder dasselbe Phänomen: Es wird eine Behauptung in den Raum gestellt und die Menschen denken, dass dies auch zutrifft. Dabei gilt die betreffende Regelung noch gar nicht. Sie wissen überhaupt nicht, wovon sie reden. Insofern danke ich sehr für diese erste Gelegenheit - es wird noch mehrere geben -, deutlich zu machen, worum es beim Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz geht. Das erste, was wir lernen müssen, ist, dass es zwei verschiedene Regelungsbereiche gibt. Genauer gesagt gibt es sogar drei. Es gibt erstens eine Antirassismusrichtlinie, die sich auf das Verbot der Diskriminierung wegen Rasse und ethnischer Herkunft bezieht und die einen sehr tiefen Regelungsbereich hat. Sie gilt sowohl im Arbeitsrecht als auch im Zivilrecht. Im Zivilrecht greift sie sogar relativ tief in die Rechtsverhältnisse ein und bewirkt damit das, von dem Herr Gehb gesagt hat, dass wir es in Deutschland nicht kennen. Wir haben nämlich im Grundsatz keine Vorschriften, an wen man sich wenden darf; wir halten die Vertragsfreiheit sehr hoch. Die Antirassismusrichtglinie regelt außerdem den Zugang zu Bildung, Gesundheit und Sozialleistungen. Das heißt, der zweite Schwerpunkt liegt im öffentlichen Recht. Daneben gibt es zwei Richtlinien, die sich auf das Arbeitsrecht erstrecken und auf die sich das Urteil des EuGH bezieht. Diese enthalten die Merkmale Religion und Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexuelle Identität und Geschlecht, Rasse und ethnische Herkunft sind nicht enthalten; sie sind an anderer Stelle geregelt. Aber alle anderen Merkmale nach Art. 13 des EG-Vertrages werden berücksichtigt. Eine Diskriminierung wegen der in diesem Artikel genannten Merkmale darf in Europa nicht erfolgen. Damit wird übrigens auch durch den europäischen Vertrag dokumentiert, dass es sich bei der EU - Herr Westerwelle, Sie haben mit dem Zitat von Frau Merkel zu Recht darauf hingewiesen - nicht nur um eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch um eine Wertegemeinschaft handelt. ({2}) Es ist völlig klar, dass die EU nicht nur die Wirtschaft schützen will, sondern auch die Werte. Was anderes als gelebte Menschenrechtspolitik ist denn die Wertepolitik der EU? ({3}) Wir haben also im Arbeitsrecht eine andere Regelungstiefe als im Zivilrecht. Im Zivilrecht gibt es nur eine Regelung in Bezug auf das Geschlecht, nämlich die Vierte Gleichstellungsrichtlinie, sowie eine Richtlinie, die die Merkmale Rasse und ethnische Herkunft schützt und deren Regelungstiefe sehr viel weiter geht. Das heißt, es gibt ein buntes Durcheinander von verschiedenen Regelungsbereichen. Eines ist aber gegeben, Herr Westerwelle: Im Arbeitsrecht gilt die Gleichbehandlung aller Merkmale. Insofern setzen wir im Arbeitsrecht - das ist unstreitig, wie Ihnen Ihre Mitarbeiter sicherlich bestätigen werden - die Richtlinie eins zu eins um. ({4}) Wir machen im Arbeitsrecht nichts anderes als das, was bezüglich des Geschlechts seit 25 Jahren - beispielsweise in § 611 a BGB - geltendes Recht in Deutschland ist. Mehr machen wir nicht. ({5}) Die Grünen behaupten nun, wir machten sogar weniger. Wir sagen aber, dass es genauso viel ist. Das klären wir vielleicht in der ersten Lesung. Erst einmal gilt: Aus der Umsetzung ergibt sich nicht mehr Bürokratie für die Arbeitgeber als das, was sie durch den § 611 a seit 25 Jahren kennen. Der einzige Unterschied ist, dass sich die Regelung nicht nur auf das Geschlecht, sondern auch auf alle anderen Diskriminierungsmerkmale in Art. 13 des EU-Vertrages bezieht. Meiner Meinung nach ist das nicht kritikwürdig. ({6}) Beim Zivilrecht gibt es nun unterschiedliche Regelungstiefen und Diskriminierungsmerkmale wie Rasse, ethnische Herkunft und Geschlecht. Deshalb vertreten wir die Meinung: Bei Massengeschäften des täglichen Lebens - das sind solche Geschäfte, bei denen jemand einer unbestimmten Vielzahl von Menschen eine Vielzahl von Angeboten macht, beispielsweise wenn man im Kaufhof ein Haarshampoo, bei Karstadt ein paar Unterhosen oder bei Ebay ein Fahrrad im Angebot kaufen will; also überall dort, wo es dem Verkäufer egal ist, mit wem er den Vertrag schließt, handelt es sich um ein Massengeschäft - kann es keinen Grund für Diskriminierung geben, weil wir hier die Wertentscheidung aus Art. 13 des EU-Vertrages anwenden. Mit anderen Worten: Wir haben hier alle Merkmale aufgenommen. Ich glaube, dass das Sinn macht. Natürlich kann man fragen: Warum regelt ihr das denn? Solche Fälle sind doch in der Vergangenheit in Deutschland über die Generalklauseln des bürgerlichen Rechts abgehandelt worden. In §§ 138 und 242 BGB sind solche Fälle gerichtsfest gelöst. - Das waren für die Richterinnen und Richter aber immer nur Krücken, Hilfsmittel. Nun gibt es eine Regelung, die besagt: Wenn jemand keine Arme hat, weil er als Contergan-Geschädigter geboren wurde, darf er nicht eines Lokals verwiesen werden, weil er nur mit den Füßen essen kann. Warum will man so jemandem verbieten, in einem öffentlichen Lokal zu essen? ({7}) Warum will man Menschen, die eine Behinderung oder ein bestimmtes Alter haben, bestimmte Massengeschäfte versagen? Wodurch ist legitimiert, dass beispielsweise 70-Jährigen, die die notwendigen Sicherheiten bieten, pauschal kein Kredit gewährt wird? ({8}) Warum sollten wir den Banken in Deutschland eine solch pauschale Vorgehensweise nicht verbieten, wenn die individuellen Voraussetzungen - diese dürfen natürlich überprüft werden; das steht ausdrücklich in unserem Gesetzentwurf - gegeben sind? Verehrte Frau Kollegin, das ist der Unterschied zwischen öffentlichem Recht und Zivilrecht: Die Verfassung besagt, dass der Staat nicht diskriminieren darf. Wir reden hier aber über das Zivilrecht. ({9}) Wir legen fest, dass man in solchen herausgehobenen Situationen im Zivilrechtsverkehr nicht diskriminieren darf. ({10}) Da dies noch nicht geregelt ist, muss es im Rahmen der Umsetzung der EU-Richtlinien einfachgesetzlich geregelt werden; das ist nun einmal so. Da meine neun Minuten Redezeit gleich vorbei sind, möchte ich zusammenfassend feststellen, dass wir die EU-Richtlinien sachgerecht umsetzen. Nur bei den Massengeschäften des täglichen Lebens haben wir zusätzliche Diskriminierungsmerkmale eingeführt, ansonsten werden die EU-Richtlinien eins zu eins umgesetzt. Darüber hat schon Rot-Grün lange gestritten. Herr Bosbach und Herr Gehb haben den letzten Feinschliff vorgenommen und noch weitere Verhandlungsergebnisse in diesem Sinne erzielt. Ich kann jedenfalls nicht erkennen, wo die EU-Richtlinien im Arbeitsrecht nicht eins zu eins umgesetzt werden und wo die Umsetzung über das hinausgeht, was bereits im Betriebsverfassungsgesetz geregelt ist. ({11}) - Das ist ein anderer Punkt. Es ist jedenfalls geltendes deutsches Recht. Ich schließe mich den Worten meines Vorredners an und sage vielen Dank für die Gelegenheit, einmal im Zusammenhang darzustellen, was wir eigentlich regeln. Ich fände es schön, wenn ein bisschen Sachlichkeit in die Diskussion einkehrte ({12}) und wenn man zur Kenntnis nähme, dass es nicht darum geht, Bürokratiemonster aufzubauen, sondern darum, die EU-Richtlinien umzusetzen, und zwar möglichst schnell - denn aufgrund des politischen Streits sind wir schon spät dran -, und dass unsere Regelungen sachgerecht sind. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland bekommt ein Gleichbehandlungsgesetz und - um mit den Worten des Berliner Bürgermeisters zu sprechen - das ist auch gut so. Nach einigem Gezerre hat sich die Koalition offensichtlich geeinigt und siehe da: Der Ansatz von uns Grünen hat sich weitgehend durchgesetzt. Das ist ein Sieg der Vernunft, ein Erfolg der besseren Argumente. Das zeigt deutlich: Grüne Politik wirkt nachhaltig. ({0}) Im Detail werden wir uns noch streiten. Die Koalition will einige Abstriche machen. Das gefällt uns nicht. Deshalb werden wir den Gesetzentwurf der Regierung auf Herz und Nieren prüfen. Verwässerungen werden wir entgegentreten; denn das Gleichbehandlungsgesetz darf kein Papiertiger werden, es muss einen wirksamen Schutz vor Ausgrenzung gewährleisten. Herr Bosbach, Sie haben nach dem Lob gefragt. Ich will mit Lob nicht geizen, ({1}) obwohl gestern eine große Zeitung schrieb, der größte Fehler des Gesetzes sei, dass die Grünen es lobten. ({2}) Die Richtung stimmt. Unsere zentrale Forderung war immer: Das Gleichbehandlungsgesetz darf niemanden ausgrenzen und ({3}) es muss klarstellen, ({4}) dass niemand wegen seiner ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität benachteiligt werden darf. Ich freue mich über den Zuspruch. ({5}) Dieses Ziel ist offenbar erreicht. Behinderte, ältere Menschen, Lesben und Schwule sowie religiöse Minderheiten sind nun auch im Zivilrecht geschützt. Das ist ein wichtiger gesellschaftspolitischer Fortschritt. Das ist, wie die Ministerin sagte, die eigentliche Erweiterung über die Richtlinie hinaus. Halten wir doch fest: In diesem Hause gibt es nur noch eine Fraktion, die geschlossen dagegen schäumt, dass Lesben und Schwule in das Gesetz voll einbezogen werden. Es gibt nur noch eine Partei, die unbedingt erreichen will, dass behinderte Menschen im Zivilrecht ausgeschlossen bleiben, und diese sitzt hier auf der ganz rechten Seite. ({6}) Es ist die FDP, ({7}) die weiter Amok gegen dieses Gesetz läuft. Meine Damen und Herren von der FDP, für eine Partei, die sich angeblich um Bürgerrechte kümmern will - ich kenne die Aussage noch -, ist Ihre heutige Aufführung wirklich eine Schande. ({8}) Sie haben einen einseitigen Freiheitsbegriff. Für Sie zählt nur die Freiheit derjenigen, die etwas besitzen. Sie stehen für die nackte Ellenbogenfreiheit. ({9}) Wir verstehen Freiheit umfassend. Vertragsfreiheit gilt immer für beide Seiten, für die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer, für die Anbieter und für die Verbraucher. Vertragsfreiheit heißt eben auch: Alle Menschen müssen am Markt teilnehmen können. Keine Person darf ausgegrenzt werden, weil sie eine dunkle Haut hat, weil sie eine Frau ist oder weil sie angeblich zu alt ist. Wir wollen Freiheit und gesellschaftliche Verantwortung, Freiheit und Gerechtigkeit. Deshalb bedeutet Diskriminierungsschutz mehr Freiheit für die Bürgerinnen und Bürger. Auch als Wirtschaftspartei, meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP, sind Sie nicht auf der Höhe der Zeit. Das Wohl der Wirtschaft hängt doch nicht davon ab, dass sie Schwule, Lesben und Menschen mit Behinderung diskriminiert. ({10}) Erfolgreiche Unternehmen wissen schon längst, dass Diversity das Erfolgsmodell der Zukunft ist. ({11}) Zurück zum Koalitionsvertrag. Es war sehr merkwürdig, wie die Einigung zustande kam. Ministerpräsident Stoiber hat eine höhere Vorsteuerpauschale für Landwirte herausgeschachert. Im Gegenzug hat er seinen Widerstand gegen die Aufnahme von Lesben und Schwulen in das Gesetz aufgegeben. Das war für Stoiber wohl ein Bauernopfer, diesmal anders herum gesehen. Es wirft kein gutes Licht auf diese Koalition, dass sie ernsthafte Bürgerrechtsfragen so verhandelt, als sei man auf dem Viehmarkt in Vilshofen. Die Bundeskanzlerin erlebt in den letzten Tagen einen mittleren Aufstand in den eigenen Reihen. Das ist kein Wunder. Wer jahrelang die Eins-zu-eins-Umsetzung von EU-Richtlinien als höchstes Glaubensdogma gepredigt hat, darf sich nicht wundern, wenn jetzt die aufgehetzten Fußtruppen irritiert sind. Das Einlenken der Koalitionsspitze im Ausschuss zeigt deutlich: Das jahrelange Gezeter von Frau Merkel und Herrn Stoiber gegen das Antidiskriminierungsgesetz war absolut unehrlich und das rächt sich jetzt einfach. Was haben Sie alles für Schauergeschichten über den Untergang des Abendlandes erzählt! Dabei schafft die deutsche Bundesregierung lediglich ein Gesetz, wie es viele andere Länder in Europa längst haben. Ich muss sagen: Die Wirtschaftlichkeit in diesen Ländern ist höher als in Deutschland. Mein Appell an die Koalition: Bringen Sie Ihren Gesetzentwurf nun endlich ein! Wir werden darüber sachlich diskutieren und für jeden vernünftigen Ansatz haben Sie unsere Unterstützung. Eines möchte ich aber noch festhalten, Herr Westerwelle: Vor Wahlen versuchen Sie immer den Eindruck zu erwecken, Sie seien für die gleichen Rechte von Homosexuellen. ({12}) Heute stelle ich fest, dass die CDU schwulen- und lesbenfreundlicher ist als die FDP. ({13}) Ich nehme das so zur Kenntnis und ich freue mich auf die Debatten, die wir demnächst führen werden. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine parlamentarische Rede anzulegen. ({0}) Ich versuche es einmal mit einer eher seltenen Variante: Ich schildere die Dinge einmal so, wie sie sind. ({1}) Dass die FDP diese Aktuelle Stunde beantragt hat, kann ich verstehen. Das hätte ich an Ihrer Stelle genauso gemacht. Wenn Sie es nicht gemacht hätten, wären Sie Ihr Geld nicht wert. ({2}) Herr Westerwelle hat eine feurige Rede gehalten, und zwar unter vollständigem Verzicht auf eine sachliche Argumentation; deswegen war diese Rede so feurig. Die Grünen loben die Union und überschreiten damit die Grenzen des parlamentarischen Anstands. ({3}) Das ist jetzt fast unangenehm.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie haben aber nicht erwartet, dass ich deswegen einen Ordnungsruf erteile? ({0})

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Dennoch wäre es gut gewesen. In der Sache liegen die Grünen nicht ganz richtig; denn es ist keine Eins-zu-eins-Umsetzung ({0}) - Moment! - dessen, was Rot-Grün wollte, wie gerade behauptet worden ist, ({1}) es ist keine Eins-zu-eins-Umsetzung des europäischen Rechts, sondern es liegt dazwischen. ({2}) Ich stelle mich hier nicht hin und sage: Genau so wollte ich immer die Umsetzung des europäischen Rechts in nationales Recht. Ich stelle mich auch nicht hin und sage: Genau so ist der Inhalt vernünftig. Ich stelle mich aber hier hin und sage: Wir haben einen Kompromiss gefunden; das ist kein fauler Kompromiss, sondern ein Kompromiss, den man mit Argumenten gut begründen kann. ({3}) Ich weiß nicht, ob die Grünen oder die FDP mehr Enttäuschung darüber empfinden, dass die Pläne von RotGrün oder dass die Vorgaben von der europäischen Ebene nicht eins zu eins umgesetzt worden sind, oder darüber, dass sich die Koalition in einer schwierigen Frage tatsächlich geeinigt hat. Ich glaube, dass es zu dieser Einigung gekommen ist, ist Ihre eigentliche Enttäuschung. ({4}) Was beschlossen worden ist, ist nicht die Urfassung von Rot-Grün; denn Rot-Grün selber hat die Urfassung aufgegeben. Es gab im Grunde drei verschiedene Gesetzespakete. Es gab das Urvorhaben von Rot-Grün, ({5}) wenn man so will: den besonders streng duftenden Käse. Diesen Käse hat Rot-Grün selber parfümiert. Rot-Grün hat sich im Laufe der Debatte selber geändert. Zum Teil werden heute, im Mai 2006, Dinge angegriffen, die RotGrün schon selber eliminiert hat: keine Arbeitgeberhaftung für Dritte; keine Probleme bei der Auswahl bei der Erstellung von Sozialplänen wegen des Kriteriums Alter; Vermietung von Wohnraum; es soll möglich bleiben, sozial ausgewogene Vermietungsstrukturen zu erhalten. Das alles hatte Rot-Grün schon selber geändert. Auch die letzte Fassung ist keine Eins-zu-eins-Umsetzung dessen, was Rot-Grün wollte. Wir haben das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen sichergestellt. Wir haben eine Ausschlussfrist für die Geltendmachung von Ansprüchen im arbeitsrechtlichen Teil auf drei Monate vereinbart. ({6}) Inwiefern ist das eine Eins-zu-eins-Umsetzung? Wenn man das europäische Recht in Bezug auf die Verjährung nach drei Jahren eins zu eins umsetzt, dann muss ein Arbeitgeber 36 Monate lang Dokumentationspflichten erfüllen. Wer hier laut applaudiert, wenn gefordert wird, das europäische Recht eins zu eins umzusetzen, der will die Wirtschaft mit einem erheblichen Aufwand belasten. ({7}) Das ist die Wahrheit. Wir ändern die Frist von 36 Monaten auf drei Monate ab. Wir entlasten die Wirtschaft zu einem wesentlichen Teil und Sie sagen: Wir hätten aber lieber eine Umsetzung eins zu eins gehabt. Kommen wir zum zivilrechtlichen Teil. Da geht es um eine politische Bewertung; die muss jedermann für sich selber vornehmen. Ich gestehe Ihnen sofort zu, dass wir da über europäisches Recht hinausgehen. Ich sage Ihnen aber auch, dass mir das Hinausgehen über das europäische Recht jedenfalls an dieser Stelle nicht schwer fällt. Im zivilrechtlichen Teil, bei den Massengeschäften des täglichen Lebens, besteht der europäische Schutz vor Diskriminierung wegen des Geschlechts, der Rasse und der Ethnie. Nehmen wir das Restaurantbeispiel, das die Bundesministerin gerade erwähnt hat. Der Restaurantbesitzer könnte einen Farbigen unter Hinweis auf dessen Hautfarbe nicht abweisen - richtig so! -, ({8}) aber einen Behinderten. Ein Freier Demokrat kann das mitmachen; ({9}) ich nicht. ({10}) Ich könnte draußen nicht mit guten Argumenten erklären, warum wir jemanden vor Diskriminierung wegen seiner Hautfarbe schützen, aber wegen seiner Behinderung nicht. ({11}) Wer eine Umsetzung eins zu eins will, nimmt die Diskriminierung des Behinderten in Kauf. ({12}) Deswegen fällt es mir an dieser Stelle nicht schwer, darüber hinauszugehen. ({13}) Zum Verbandsklagerecht. Nun wird die Ausweitung des Verbandsklagerechts beklagt. Das Verbandsklagerecht wird nicht ausgeweitet; das Verbandsklagerecht wird abgeschafft. Wie viele Gespräche und Telefonate habe ich in den letzten Tagen immer nach demselben Muster geführt?! Zunächst kam harte Kritik an dem, was vereinbart worden ist, und drei Minuten später kam die Bitte, doch einmal den Text zu übersenden, damit man wisse, was vom Gesetzgeber jetzt tatsächlich geplant sei. ({14}) Ich gebe sofort zu, dass die Unkenntnis eines Sachverhalts die Bewertung des Sachverhalts wesentlich erleichtert. ({15}) Aber spätestens dann, wenn diese Aktuelle Stunde vorbei ist, wenn sich der Pulverdampf verzogen hat, wenn wir uns in einer sachlichen Debatte mit dem Gleichbehandlungsgesetzentwurf beschäftigen, werden sich viele Bedenken - nicht alle, aber viele - als gegenstandslos erweisen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir in zwei, drei Jahren viel ruhiger und sachlicher über den Gegenstand debattieren werden als heute in dieser Aktuellen Stunde. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb, FDP-Fraktion.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich halte aus dem bisherigen Verlauf der Debatte zunächst einmal fest: Der Entwurf des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes geht unzweifelhaft über das hinaus, was europarechtlich geboten ist; dafür habe ich die Kronzeugin Schewe-Gerigk und den Kronzeugen Bosbach. ({0}) Es ist keine Eins-zu-eins-Umsetzung, und eine zwingende Begründung dafür, warum dieses Mehr erforderlich sein soll, sind Sie, Herr Kollege Bosbach, schuldig geblieben. ({1}) - Nein! Das war keine zwingende Begründung. Er hat gesagt, dass er damit leben kann. Damit stellt sich für mich die Frage, was das Wort der deutschen Bundeskanzlerin wert ist. Mein Fraktionsvorsitzender hat schon aus der Regierungserklärung zitiert. Für mich ist auch entscheidend, was Frau Merkel vor der Wahl gesagt hat. Sie hat direkt nach ihrer Nominierung als Kanzlerkandidatin in einem Interview mit der „Bild“Zeitung gesagt: „Wir werden als Erstes die Dinge anpacken, die unsere Wirtschaft behindern, an erster Stelle Bürokratie und Überreglementierung. Beides können wir sehr schnell umsetzen, weil es nichts kostet. Wir werden zum Beispiel jede europäische Richtlinie nur noch eins zu eins umsetzen und nicht wie Rot-Grün noch draufsatteln“. - Jetzt hören wir von Frau ScheweGerigk: Das AGG ist im Wesentlichen rot-grün. - Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren! ({2}) Weil Frau Merkel damals Recht hatte, verstehen wir nicht, warum man jetzt im zivilrechtlichen Teil weit über die EU-Vorgaben hinausgeht ({3}) und die Liste der Merkmale - nach der Richtlinie müssten das eigentlich nur die Merkmale Rasse, ethnische Herkunft und Geschlecht sein - um die Merkmale Behinderung, Alter, sexuelle Identität und Weltanschauung erweitert. ({4}) - Nein! Das ist eben nicht so. Das wird nicht ohne Wirkung bleiben - das ist auch angesprochen worden -, etwa im Einzelhandel, in der Gastronomie und in der Versicherungswirtschaft. ({5}) Deswegen ist schon richtig - das muss man Frau Merkel auch einmal sagen -: versprochen - gebrochen. Sie hat sich vor der Wahl anders geäußert, als sich das jetzt nach der Wahl in ihrer aktuellen Politik niederschlägt. Das kann nicht sein. ({6}) Wenn weiter gilt, was unser Bundespräsident Horst Köhler in seiner Rede am 15. März 2005 gesagt hat, nämlich: „Angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt brauchen wir … eine politische Vorfahrtsregel für Arbeit“, dann kann dieses Gesetz, wie es vorgelegt worden ist, keine Gesetzeskraft erlangen. Ich will auf einige Punkte eingehen, die Sie angesprochen haben, Herr Bosbach. Zunächst zu dieser tollen Verbesserung, dass man die Unterlagen nur noch drei Monate und nicht mehr 36 Monate aufbewahren muss. Das Problem ist doch nicht - verstehen Sie das nicht? -, dass man die Unterlagen irgendwo hinlegt und sie da liegen lässt. Das Problem ist, dass der Arbeitgeber, der eine Stellenanzeige aufgegeben hat, sich für den Fall einer möglichen Klage rüsten muss, die er im Voraus überhaupt nicht absehen kann. ({7}) Das ist doch der bürokratische Aufwand, der an dieser Stelle entsteht. ({8}) Ich sehe auch ein Problem in dem Zusammenspiel des von Ihnen potenziell zu ändernden Kündigungsschutzgesetzes mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Wenn nämlich zum Beispiel in einem Vertrag eine Verlängerung der Wartezeit enthalten ist, in einem anderen, beispielsweise dem eines älteren Arbeitnehmers, aber nicht, ist sehr leicht glaubhaft zu machen, dass hier eine Diskriminierung vorliegen könnte. Dann hat der Arbeitgeber die Beweislast, dass das nicht der Fall ist. Deswegen müssen Unternehmen sich an der Stelle warm anziehen. Wir haben auch ein Problem mit - das geht eindeutig über die Eins-zu-eins-Umsetzung hinaus - dem eigenständigen Klagerecht für Gewerkschaften und Betriebsräte. Hier wird Tür und Tor für neuen Kuhhandel zwischen Betriebsrat und Unternehmensleitung geöffnet, wie wir ihn aus dem Bereich des Betriebsverfassungsgesetzes leider schon kennen. Dass ich noch einmal erleben muss, dass sich die Union in diesem Haus aktiv für ein Klagerecht der Gewerkschaften einsetzt, hätte ich, ehrlich gesagt, nicht gedacht. ({9}) Sie haben, um das vor Ihrer Fraktion zu verbrämen, einen 16-Punkte-Katalog vorgelegt. Er heißt jedenfalls offiziell so; wenn man genau hinschaut, sind es nur acht Punkte. Ein Punkt ist die Verkürzung der Dokumentationszeit; ein zweiter ist, dass die Antidiskriminierungsstelle jetzt in einem unionsgeführten Ministerium angesiedelt ist und nicht mehr, wie vorher, in einem SPDgeführten. Wenn das die Verbesserungen sind, die Sie erreicht haben, dann gute Nacht! Dass gleichzeitig ein 16-köpfiger Beirat mit 16 Stellvertretern eingeführt worden ist, der Millionen Steuergelder zusätzlich kostet, ({10}) zeigt doch, dass es sich nicht wirklich um einen Fortschritt handelt, sondern um eine Verschlechterung der ursprünglichen Vorlage. ({11}) Diejenigen in der Union, die noch ein Gespür dafür haben, was den Mittelstand drückt, haben hier versucht, etwas zu verändern: der Kollege Hinsken, der Kollege Fuchs, sicherlich auch der Kollege Rauen, obwohl ich seinen Namen nicht in der Zeitung gelesen habe. Aber die Vernünftigen in der Union waren offensichtlich in der Minderheit. Deswegen muss man sagen: Die Union vertritt mit ihrer aktuellen Politik nicht länger die Interessen der großen Zahl kleiner und mittlerer Unternehmen in diesem Land. ({12}) Sie ist zum Wahlverein für eine Kanzlerin mutiert und nickt eine sozialdemokratisch dahergekommene, ungeschminkte Gesetzesvorlage ohne größeres Murren ab. Die Ministerin - eine weitere Kronzeugin - hat öffentlich erklärt, es sei im Wesentlichen das, was ursprünglich vorgesehen gewesen sei. Im Ergebnis steht für mich fest: Das Gesetz ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Schwarz-Rot rücksichtslos wie eine Dampfwalze über das zarte Konjunkturpflänzchen hinwegrollt. ({13}) Sie haben die Wirtschaft am Anfang des Jahres durch das Vorziehen der Fälligkeit der Sozialbeiträge mit Bürokratie und Liquiditätsentzug belastet. Sie erhöhen die Mehrwertsteuer um 3 Prozent. Sie verschlechtern durch die angestrebte Änderung das Kündigungsschutzgesetz. Sie haben eine ideologisch motivierte Reichensteuer im Visier, bei der das Aufkommen und der Schaden für unser Land in keinem Verhältnis stehen werden. Das AGG ist ein weiterer Beweis dafür, dass die deutsche Bundesregierung unter Führung von Angela Merkel offensichtlich die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt einem Härtetest unterziehen will. Anstatt den aufkeimenden Aufschwung zu hegen, gibt die Bundeskanzlerin ein ums andere Mal dem sozialdemokratischen Koalitionspartner klein bei, und zwar auch da, wo Härte in der Sache gefragt wäre.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wenn Sie bitte zum Schluss kommen.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich fordere die Bundeskanzlerin auf, ihren Amtseid nachzulesen, den sie vor diesem Haus geleistet hat. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Christel Humme.

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Nach der heutigen Debatte hätte ich schon ganz gerne gewusst, was denn die eigentliche Position der FDP ist. ({0}) Nach den beiden Wortmeldungen, Herr Westerwelle und Herr Kolb, ist mir das bei weitem nicht klar geworden. Denn ich habe erst letzte Woche einer Pressemitteilung von Ihrem sozialpolitischen Sprecher ({1}) Folgendes entnommen - ich zitiere -: Menschen mit Behinderungen müssen Chancengleichheit und eine bessere Integration und Teilhabe an der Gesellschaft erfahren. ({2}) Benachteiligungen sind zu beseitigen, ({3}) die Rechte von Minderheiten müssen gestärkt werden. ({4}) So weit kann ich der FDP vollkommen zustimmen. (Dr. Heinrich L. Kolb ({5}): Ist zwar nicht von mir, aber trotzdem richtig! Ein Gesetz alleine schafft natürlich noch keine Toleranz und keinen Respekt. Aber wenn es Ihnen ernst damit ist, die Rechte von Minderheiten zu stärken, dann müssen Sie diesen Minderheiten natürlich ein Instrument an die Hand geben, mit dem sie ihre Rechte durchsetzen können. Nichts anderes machen wir, wenn wir die europäischen Richtlinien in nationales Recht umsetzen. Ich sage Ihnen auch - das hat die Frau Ministerin dankenswerterweise schon erwähnt -: Wir gehen dabei ganz bewusst über eine Eins-zu-eins-Umsetzung hinaus. Würden wir Ihren Vorstellungen folgen, wären bestimmte Gruppen nämlich nicht so geschützt, wie es Ihr sozialpolitischer Sprecher zu Recht fordert. Nicht geschützt wären Menschen mit Behinderung, ältere Menschen, Schwule und Lesben. An dieser Stelle sage ich Ihnen auch: Das Gesetz ist längst überfällig. Es ist der Bevölkerung und den betroffenen Gruppen längst nicht mehr vermittelbar, warum gerade in Deutschland diese Richtlinien noch nicht umgesetzt worden sind, während alle anderen europäischen Staaten ausnahmslos gehandelt haben. ({6}) Ich bin über die Reden, die vorhin gehalten worden sind, sehr froh. Denn sie zeigen: Die große Koalition bewegt etwas im Interesse der betroffenen Menschen. Ich bin dankbar, dass der gestrige Kabinettsbeschluss möglich war und dass wir ab der nächsten Woche die parlamentarische Beratung erneut aufnehmen und zum Abschluss bringen können. Ich hoffe, dass dies - wie es die Frau Ministerin gesagt hat - in sachlicher und nicht in polemischer Form geschieht. Denn es ist ein guter Kompromiss, den wir gemeinsam erzielt haben. ({7}) Aber Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, fahren immer noch auf die aktuelle Diskussion ab, in der immer wieder reflexartig Pauschalvorwürfe erhoben und Horrorszenarien beschrieben werden. Ich verfolge die Debatte genau und stelle genauso wie Frau Schewe-Gerigk fest: Die FDP stellt mit ihrer Argumentation eine Minderheit im Bundestag dar. ({8}) Ich sage Ihnen aber zu, dass wir Sie deswegen nicht diskriminieren werden. Wir werden uns mit Ihren Argumenten ernsthaft auseinander setzen. ({9}) Sie von der FDP haben heute Morgen behauptet, dass das Hinausgehen über eine Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinien zu einem nicht akzeptablen Bürokratieaufbau und damit zu Wettbewerbsnachteilen der deutschen Wirtschaft führe. Das ist ein Standardargument und für mich überhaupt nicht belegbar. Ganz im Gegenteil: Wirtschaftwachstum und Schutz vor Diskriminierung sind meiner Ansicht nach keine Gegensätze. Die befürchtete Lähmung der Wirtschaft hat weder in Großbritannien noch in Schweden, in Frankreich oder in den Niederlanden stattgefunden. Dort gibt es schon lange eine Antidiskriminierungskultur und entsprechende gesetzliche Regelungen. ({10}) Für mich ist sehr wichtig: Das Gleichbehandlungsgesetz wird auch einen Beitrag zu mehr Gleichstellung von Männern und Frauen leisten. Davon bin ich überzeugt. Frauen wird ein Mittel an die Hand gegeben, mit mehr Nachdruck für gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit und für gerechte Aufstiegs- und Karrierechancen im Beruf zu kämpfen. Helfen wird ihnen unter anderem die nationale Gleichstellungsstelle. Ich freue mich, dass diese Stelle im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend angesiedelt sein wird. Ich wünsche dieser Stelle wie auch dem Gesetz den größtmöglichen Erfolg. Vielen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Markus Grübel, CDU/CSUFraktion.

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit rund sechs Jahren stehen die ersten zwei von vier europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien im Raum. Die rot-grüne Koalition hat fünf Jahre gebraucht, um sich auf einen Kompromiss zu einigen. Wir, die Koalition aus CDU/CSU und SPD, haben diesen Kompromiss in fünf Monaten hinbekommen. ({0}) - Das sage ich besonders in Richtung derjenigen, die gelegentlich behaupten, wir hätten zu lange gebraucht; ich erinnere an die Debatte in der letzten Sitzungswoche. Dieser Vorwurf fällt auf Sie selber zurück. Wir haben einen Kompromiss, der - wie das bei Kompromissen meistens der Fall ist - nicht alle voll befriedigen kann. Das hat die Debatte zweifellos gezeigt. Ein Hauptproblem besteht darin, dass die EU-Richtlinien viel zu eng gefasst sind und viel zu wenig auf deutsche Rechtstraditionen Rücksicht nehmen. Neben dem schon bestehenden Regelungsgeflecht - es besteht in Deutschland beispielsweise ein sehr enges Regelungsgeflecht im Arbeitsrecht und im Mietrecht - legen wir ein weiteres Regelungsgeflecht in Form des Antidiskriminierungsgesetzes vor. Nutzen und Schaden einer Richtlinie müssen künftig viel stärker abgewogen werden. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, von Anfang an aufzupassen, dass es solche Richtlinien, die dann umgesetzt werden müssen, nicht mehr gibt. ({1}) Es handelt sich hier um ein Erbe der rot-grünen Regierung. Man könnte auch sagen: Es ist vergossene Milch. Tatsache ist aber - das sage ich in Richtung FDP -: Wir müssen die EU-Richtlinien umsetzen, ob wir wollen oder nicht. ({2}) Im Rahmen der Verhandlungen in der Koalition wurden Kompromisse erzielt. Bekannt ist, dass zusätzliche Gruppen in den zivilrechtlichen Diskriminierungsschutz aufgenommen wurden. Aber eines ist und war immer klar: Der Schutz von Behinderten ist in der Union unumstritten. ({3}) Schwerer fällt mir in der Tat zum Beispiel der Schutz beim Merkmal Weltanschauung. Die Behinderten sind eine eng umschriebene Gruppe. Beim Merkmal Weltanschauung ist es schon schwieriger, zu definieren, wer darunterfällt und wer nicht. ({4}) Es besteht eine Grauzone bei Gruppen, die zum Beispiel verfassungsrechtlich bedenklich sind und jetzt möglicherweise in den zivilrechtlichen Schutzbereich fallen. Aber die Union hat keine absolute Mehrheit. Von daher mussten wir uns mit unserem Koalitionspartner einigen. Wir haben durchaus Verbesserungen erreicht, die für die Anwendung eines Gleichbehandlungsgesetzes wichtig sind. Diese Verbesserungen sind auch von Bedeutung, damit dieses Gleichbehandlungsgesetz künftig eine hohe Akzeptanz in der Gesellschaft findet; denn das brauchen wir. Ein Gesetz, das gegen den Willen der Gesellschaft angewendet wird, ist kein gutes Gesetz. Ich möchte ein paar Beispiele nennen, Herr Kolb, wo wir Verbesserungen erreicht haben. ({5}) Denn Sie haben offensichtlich nicht alle Beispiele des Kollegen Bosbach verstanden. ({6}) Denken Sie an das Thema Kontrahierungszwang, an den Zwang, zivilrechtliche Verträge abzuschließen, zum Beispiel an den Zwang eines Vermieters, mit einem bestimmten Mieter einen Vertrag abzuschließen. Dieser Kontrahierungszwang soll nicht im Gesetz stehen. Denken Sie an den Bereich der Kirchen. Kirchen sollen das Personal einstellen können, das sie wollen: die katholische Kirche Mesner und Hausmeister, die katholisch sind, und die evangelische Kirche eine Sekretärin oder einen Sekretär im Kirchenbüro, der aus der Kirchengemeinde kommt. Auch da haben wir Verbesserungen erreicht. Denken Sie an das wichtige Thema „Abtretbarkeit von Schadenersatz und Entschädigungen“. Diese Forderungen sollen nicht, wie im früheren Entwurf vorgesehen, an Verbände abgetreten werden können. Die Verbände hätten ansonsten ein viel zu großes wirtschaftliches Interesse daran gehabt, solche Forderungen geltend zu machen. ({7}) Es macht auch einen Unterschied, ob jemand selber als Kläger auftreten muss oder seine Klage sozusagen an einen Verband abtreten kann und dieser Verband quasi anonym bzw. abstrakt die Klage führen kann. Die jetzt vorgesehene Regelung wird eine dämpfende Wirkung haben. Es wäre ein Problem, wenn das Gleichbehandlungsgesetz eine Prozessflut auslösen würde und manche dieses Gesetz als Trittbrettfahrer nutzten. Die Fristen für die Geltendmachung von Ansprüchen - Kollege Bosbach hat es angesprochen - wurden auf drei Monate verkürzt. ({8}) - Das ist nicht Pipifax. Denn bei einer Eins-zu-eins-Umsetzung wären es 36 Monate gewesen. Aber eines bleibt: Auch wenn die FDP die absolute Mehrheit in diesem Hause hätte, müsste sie die Richtlinien umsetzen und alle Kröten, die Sie angesprochen haben, schlucken. Daran kann kein Zweifel bestehen. ({9}) Jetzt gilt es für uns, die Richtlinien zügig umzusetzen. Denn in Deutschland hat kein Mensch Verständnis dafür, wenn wir Tag für Tag Strafzahlungen in Höhe von 900 000 Euro an die EU leisten müssen. Darum ans Werk! Ich komme zum Schluss. Bei aller Kritik an dem jetzigen Kompromiss sollten alle zur Kenntnis nehmen, dass wir deutliche Schritte zum Bürokratieabbau und zu einem schlanken Umgang mit den Richtlinien erreicht haben. Ich danke Ihnen. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Christine Lambrecht.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ohne jetzt eine Krise in der Koalition herbeibeschwören zu wollen, möchte ich an dieser Stelle dem Kollegen Bosbach ausdrücklich widersprechen. ({0}) Er hat nämlich gesagt, Sie von der FDP seien Ihr Geld wert. Angesichts der Beiträge aber, die Sie heute abgeliefert haben, ist dies beim besten Willen nicht der Fall. ({1}) Ich höre seit einer Dreiviertelstunde nur, es werde nicht eins zu eins, sondern über die EU-Richtlinien hinausgehend umgesetzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es geht nicht nur darum, ob man eins zu eins oder ein Stückchen mehr oder weniger umsetzt, als in den Richtlinien vorgesehen. ({2}) Inhaltlich geht es hier vielmehr um Menschen, deren Würde verletzt wurde und die aufgrund bestimmter Merkmale diskriminiert wurden. Wir wollen diesen Menschen ein Instrument an die Hand geben, damit mit dieser Diskriminierung Schluss ist. Darum geht es, nicht um die Eins-zu-eins-Umsetzung. ({3}) Es mag ja sein, dass Frau Merkel das irgendwann einmal anders gesehen hat. Ich habe zu dieser Frage eine ziemlich eindeutige Haltung. ({4}) Herr Bosbach, ich bin froh darüber, dass wir mittlerweile auf einer sehr sachlichen Ebene arbeiten. Wir unterhalten uns endlich über die Ziele, die mit dem Antidiskriminierungsgesetz bzw. dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz verfolgt werden: Es geht um Menschen und um Werte. Ansonsten führen Sie doch immer gerne eine Wertediskussion. Die Würde des Menschen ist ein Wert. ({5}) Herr Montag, Sie haben vorhin dazwischen gerufen, das sei schon durch das Grundgesetz geregelt. Das ist es aber eben nicht. Das Grundgesetz entfaltet keine Drittwirkung. Das heißt, im Grundgesetz kann zwar sehr viel stehen, trotzdem wirkt es beispielsweise nicht im Verhältnis zwischen dem Gastwirt und einem Gast, der abgewiesen wird, weil er aufgrund seiner Behinderung - das wurde schon dargestellt - mit den Füßen essen muss. Diesem Gast bringt es nichts, sich auf das Grundgesetz zu berufen. Deswegen muss Schluss sein mit diesen Sonntagsreden, wenn Sie wirklich etwas gegen Diskriminierung tun wollen. ({6}) Meine Damen und Herren von der Linkspartei, Herr Seifert, wir haben nicht eins zu eins umgesetzt, sondern gerade im zivilrechtlichen Bereich draufgesattelt. ({7}) Das finde ich sehr gut und richtig. Davon bin ich voll und ganz überzeugt. ({8}) Es ist eben nicht ausreichend - Herr Bosbach hat das ganz interessant dargestellt -, dass jemand wegen seiner Hautfarbe nicht diskriminiert werden kann, wegen seiner Behinderung aber schon. ({9}) Herr Seifert, Sie haben vorhin gesagt, es sei nur ein bisschen verändert worden. Wir haben aufgenommen, dass Menschen wegen ihrer Behinderung, wegen ihrer geschlechtlichen Identität oder wegen ihres Alters nicht diskriminiert werden dürfen. Sie können doch nicht sagen, das sei bloß ein bisschen. Es geht konkret um eine ganze Menge Menschen, die mit diesem Instrument die Chance bekommen, sich zu wehren, die das Recht haben, die Achtung ihrer Würde durchzusetzen. ({10}) Ich bin darüber verwundert, dass gerade Sie so etwas sagen und diesen Tagesordnungspunkt zu einer Kundgebung missbrauchen, die mit dem Thema überhaupt nichts zu tun hat. Ich hoffe, dass wir in den anstehenden Beratungen ein hohes Niveau an Sachlichkeit erreichen. Wir müssen uns darüber unterhalten, worum es eigentlich geht. Es geht nicht darum, wer von vornherein Recht hatte und wer sich um wie viele Millimeter bewegt hat, sondern darum, dass Menschen den Schutz bekommen, den sie verdienen. Vielen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Stephan Mayer.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen! Sehr geehrten Kollegen! Zunächst möchte ich positiv herausstellen, dass es in diesem Haus einen Konsens darüber gibt, dass jegliche Diskriminierung von Menschen wegen äußerlicher Merkmale oder Veranlagungen unanständig und unangemessen ist. ({0}) Dieser Konsens entspringt nicht zuletzt dem christlichen Menschenbild und der christlichen Soziallehre, nach der die Unverletzbarkeit der Würde des Menschen das höchste Gut ist, das es zu schützen gilt. Aus diesem Grund ist es meines Erachtens vollkommen richtig, dass sich eine Gesellschaft Regeln gibt, um Diskriminierungen zu ahnden. ({1}) An dieser Stelle ist es mit der Gemeinsamkeit aber auch schon vorbei. Diese Regelungen gibt es in Deutschland bereits. Wir haben eine sehr ausdifferenzierte Rechtsprechung. Ich verweise beispielsweise auf § 611 a des Bürgerlichen Gesetzbuches. ({2}) Hier liegt der grundlegende Fehler - das ist der Sündenfall -: Diese vier EU-Richtlinien, die es jetzt in nationales Recht umzusetzen gilt, hätten in dieser Form nie verabschiedet werden dürfen. Der Sündenfall ist nicht in Berlin, sondern vor langer Zeit in Brüssel passiert. ({3}) Ich möchte das etwas differenzierter ausführen: Diese vier EU-Richtlinien, die es jetzt in deutsches Recht umzusetzen gilt, entspringen einer Rechtsposition, die der deutschen Rechtssystematik und Rechtsgeschichte diametral entgegensteht. Skandinavische und angelsächsische Länder haben keine Probleme, diese vier EU-Richtlinien umzusetzen, weil ihr Antidiskriminierungsgesetz diesen Richtlinien von Hause aus sehr stark ähnelt. Bei uns in Deutschland ist das anders. An dieser Stelle muss man, so glaube ich, mit berühmten Worten sprechen: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Wir sind verpflichtet, diese vier EU-Richtlinien umzusetzen. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der FDPFraktion, ich bin mir sicher, Sie wären die ersten, die uns als Regierung brandmarken und triezen würden, wenn wir tägliche Strafzahlungen in Höhe von 900 000 Euro leisten müssten, ({4}) weil wir diese Richtlinien nicht fristgemäß umgesetzt haben. ({5}) Der Kompromiss, der jetzt gefunden wurde, ({6}) ist zwar nicht das Ei des Kolumbus, aber es ist auch kein übler Kompromiss. Viele der Punkte, die jetzt kritisiert und vor allem von der Wirtschaft vollkommen zu Recht angeprangert werden, sind - das wurde schon ausgeführt in diesen vier EU-Richtlinien originär enthalten. Ich denke zum Beispiel an die verschuldensunabhängige Haftung bei Nichtvermögensschäden oder an die Beweislastumkehr gemäß § 22 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Es ist gelungen, viele Dinge, die ursprünglich im Antidiskriminierungsgesetz angelegt waren, herauszuverhandeln. Ich glaube, deswegen kann man mit Fug und Recht behaupten: Das jetzt vorliegende Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ist kein rot-grünes Urprodukt. Es hat nichts mit dem ursprünglichen Entwurf zu tun; es ist ein neues Gesetz. Es ist mit Sicherheit nicht das beste Gesetz, das man sich wünschen würde, aber es ist meines Erachtens ein tragfähiger Kompromiss. Gleichwohl gibt es mit Sicherheit in vielen Punkten noch Konkretisierungsbedarf; ich möchte dies in keiner Weise verhehlen. Es ist einem privaten Vermieter, der über ein Haus mit drei oder vier Wohneinheiten verfügt, nicht klar zu machen, dass er mit seinen Vermietungen ein Massengeschäft betreibt ({7}) und daher behandelt wird wie eine Wohnungsbaugesellschaft oder eine Ferienanlage, die per Internet Wohnungen vermietet. Hier besteht noch Bedarf, die Definitionen zu konkretisieren. Als positiv möchte ich darstellen, dass der Kontrahierungszwang keinen Eingang in den zivilrechtlichen Teil des Gesetzes gefunden hat. Der vermeintlich Diskriminierte hat also keine Sanktionsmöglichkeit und keinen Anspruch darauf, dass der Vertrag zustande kommt. ({8}) Stephan Mayer ({9}) Ebenso möchte ich in aller Deutlichkeit auf Folgendes hinweisen: Entgegen vielerlei Bekundungen gibt es kein Verbandsklagerecht im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. ({10}) Es wird keine Branche für vermeintliche Gutmenschen oder für Berufsquerulanten entstehen, die Deutschland massenhaft mit Klagen überziehen können. Genauso ist es gerade für die Arbeitgeber ein erheblicher Fortschritt, dass vermeintlich diskriminierte Arbeitnehmer oder Bewerber nur noch drei Monate Zeit haben, sich mit einer Klage gegen den Arbeitgeber bzw. möglichen Arbeitgeber zu wenden, und nicht, wie ursprünglich vorgesehen, drei Jahre. Ich halte es ebenso für positiv, dass die Antidiskriminierungsstelle, die in den EU-Richtlinien ebenfalls als verpflichtend vorgesehen ist, ({11}) bei dem qualitativ hervorragend dafür geeigneten Bundesfamilienministerium angesiedelt wird. Es wird mit Sicherheit erforderlich sein, bestimmte Bereiche noch einmal auf den Prüfstand zu stellen und ganz leidenschaftslos und ergebnisoffen zu diskutieren, wie den vorgesehenen Beirat nach § 30 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Aber darüber kann man im weiteren Gesetzgebungsverfahren beraten. Das Gesetz ist nicht so schlecht, wie es dargestellt wird. Man sollte jetzt die Wogen glätten und getrost ins Gesetzgebungsverfahren übergehen. Herzlichen Dank. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächstes spricht die Kollegin Renate Gradistanac, SPD-Fraktion.

Renate Gradistanac (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003134, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die EU-Gleichbehandlungsrichtlinien werden in deutsches Recht umgesetzt. So steht es in unserem Koalitionsvertrag. Mit dem Entwurf für ein Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz wird dieser Auftrag erfüllt und werden die vier EU-Richtlinien, wie wir meinen, nahezu eins zu eins in nationales Recht umgesetzt. Als Frauenpolitikerin begrüße ich ausdrücklich, dass die Antidiskriminierungsstelle beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend angesiedelt ist. Es geht hier nicht um die Frage, ob sie zum Verantwortungsbereich der SPD oder der CDU/CSU gehört. Es ist vielmehr das dafür geeignete Ministerium, Herr Kolb. Für die Menschen, die sich benachteiligt fühlen, wird eine unabhängig arbeitende bundesweite Anlaufstelle geschaffen, die sie unterstützt und berät. Zu den Aufgaben dieser Stelle gehören die Öffentlichkeitsarbeit, die Durchführung von wissenschaftlichen Untersuchungen und die Vorlage von Berichten und Handlungsempfehlungen. Ich freue mich sehr, sogar leidenschaftlich - ich weiß nicht, warum dieses Wort verpönt ist -, dass sich der Koalitionsausschuss auf einen Gesetzentwurf geeinigt hat, in dem sämtliche Merkmale, um die es in dieser Diskussion geht, unter Diskriminierungsschutz gestellt werden. Im Zivilrecht geht er sachgerecht und mit Augenmaß über die EU-Vorgaben hinaus. Das ist, so meine ich, ein großer Erfolg für uns alle, vor allem aber für die Menschen, die wir vor Diskriminierung schützen wollen. ({0}) Die Bürgerinnen und Bürger können sich zukünftig besser gegen Benachteiligungen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, der so genannten Rasse, ihres Geschlechts, ihrer Religion bzw. Weltanschauung, ihres Alters, aufgrund von Behinderungen oder ihrer sexuellen Identität wehren. Eine Beschränkung auf einzelne Diskriminierungsmerkmale wäre wirklichkeitsfremd. Wie soll es zu rechtfertigen sein, dass derselbe Mensch - das wurde bereits von Herrn Bosbach erwähnt - beispielsweise aufgrund seiner ethnischen Herkunft nicht diskriminiert und benachteiligt werden darf, aufgrund seiner Behinderung aber sehr wohl? Versicherungen werden Menschen mit Behinderungen in Zukunft nicht mehr ohne Angabe nachprüfbarer Gründe abweisen können. Lesben und Schwulen kann künftig nicht mehr der Zutritt zu Hotels und Gaststätten verwehrt werden; das freut mich als Tourismuspolitikerin. Die Europäische Union versteht sich - auch das ist heute schon gesagt worden - nicht nur als Währungsund Wirtschaftsunion. Sie ist auch eine Werteunion. Zu ihren Werten zählt auch die Nichtdiskriminierung. ({1}) Ein Gesetz kann zwar nicht immer vor Diskriminierung schützen. Es zeigt aber auf, welche Werte für eine Gesellschaft wichtig sind. ({2}) Das Gleichbehandlungsgesetz ermutigt Benachteiligte, sich zu wehren. Es gibt gute Instrumente an die Hand, gegen Benachteiligungen vorzugehen und sie zu unterbinden. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz schützt nicht nur die Rechte der benachteiligten Bürgerinnen und Bürger, sondern auch die Menschenwürde von uns allen; das gefällt mir. ({3}) Es ist höchste Zeit, dass die EU-Vorgaben umgesetzt werden. Ich wünsche mir eine schnelle Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs. Schließlich haben wir lange Zeit auf ihn gewartet. ({4}) Aber jetzt können wir stolz auf den Gesetzentwurf sein. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Letzter in dieser Debatte spricht der Kollege Christoph Strässer, SPD-Fraktion.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gleich zu Beginn eine Klarstellung und ein Bekenntnis: In der letzten Stunde ist häufig erwähnt worden - in formaler Hinsicht völlig zu Recht -, dass es EURichtlinien gibt, die wir umsetzen müssen. Das klingt nach dem Prinzip: Halb trug man ihn, halb zog es ihn. ({0}) Ich sage Ihnen - ich denke, das gilt für meine gesamte Fraktion -: Wir müssen diese EU-Richtlinien nicht umsetzen, sondern wir wollen sie umsetzen, weil wir der Auffassung sind, dass das ein ganz wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist. ({1}) - Darüber bin ich auch froh; denn sonst wären wir uns so einig, dass wir gemeinsame Veranstaltungen durchführen könnten. ({2}) - So ist es. Deshalb freut es mich, dass deutlich geworden ist, an welchen Stellen wir unsere Schwerpunkte setzen. Aus meiner Sicht ist es kein Widerspruch, Fragen der Antidiskriminierung und der Gleichbehandlung in einem deutschen Gesetz zu regeln. Denn auch an anderen Stellen - § 611 a BGB ist bereits genannt worden - haben wir bereits klargestellt, was wir tun wollen und wie wir vorgehen wollen. Die Themen Antidiskriminierung und Gleichbehandlung gehören im deutschen Arbeitsrecht zur alltäglichen Praxis. Ich habe noch niemanden getroffen, der mir erklären kann, warum solche Bestimmungen nicht auch im Zivilrecht - in den Bereichen, die wir in diesem Gesetzentwurf aufführen - sinnvoll sein sollten. Das brächte uns einen guten Schritt nach vorne. Dadurch entsteht keine neue Bürokratie. Im Gegenteil, dadurch wird die Würde des Menschen gestärkt, insbesondere derjenigen, die in dieser Gesellschaft benachteiligt sind. ({3}) Ich möchte noch etwas im Hinblick auf die Gewerkschaften sagen. § 611 a BGB - er hat vor einiger Zeit sein 25-jähriges Jubiläum gefeiert ({4}) spricht hier eine ganz deutliche Sprache; denn in diesen 25 Jahren sind weniger als 200 Fälle vor Gericht gelandet, weniger als 200 Fälle mit einem klaren Hintergrund und mit der Umkehr der Beweislast zugunsten derjenigen, denen wegen ihres Geschlechts der Zugang zu einer Arbeitsstelle verweigert wird. Da können Sie nicht behaupten, hier werde Bürokratie aufgebaut. Sie bauen einen Popanz auf. ({5}) - Wir werden das in der Praxis sehen, wie wir es auch im Hinblick auf § 611 a BGB gesehen haben. Ihre Auffassung wird auch deutlich an dem, was Sie in Bezug auf die Gewerkschaften gesagt haben. ({6}) Ich persönlich als einer, der über 20 Jahre als Anwalt tätig war, sage Ihnen: § 611 a BGB wäre in einem viel größeren Umfang angewendet worden, wenn die Gewerkschaften nicht nur bei Aussicht auf Erfolg geklagt hätten. Wir sollten froh darüber sein, dass die Gewerkschaften die Möglichkeit zur Klage haben - sie sollen sie auch behalten -; denn sie gehen, anders als Sie glauben, verantwortlich damit um. Sie machen in der Praxis so davon Gebrauch, dass alle etwas davon haben und dass es an dieser Stelle vorangeht. ({7}) Ich möchte auch in meiner Funktion als menschenrechtspolitischer Sprecher unserer Fraktion etwas zu diesem Thema sagen. Ich bin schon erstaunt, wie wenig die Menschenrechte in unserer Diskussion eine Rolle spielen. Deshalb bin ich froh, dass wir mit diesem Gesetzentwurf endlich die Erklärung zur Würde des Menschen der Wiener Menschenrechtskonferenz vom Jahre 1993 umsetzen. Darin stehen die Maßgaben, nach denen wir zu handeln haben: Wir haben die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu berücksichtigen und die Freiheitsrechte; an allererster Stelle aber steht das Gleichbehandlungsgebot. Ich finde, es stünde uns gut an, dies, wenn auch als letztes Land, endlich umzusetzen; denn Menschenrechtspolitik - das haben wir in diesem Hohen Haus oft genug gesagt - ist nicht teilbar und nicht trennbar und gilt auch nach innen. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass Menschen, die behindert, homosexuell oder älter sind, entsprechende Instrumente in die Hand bekommen, um ihre Rechte einzufordern, wie alle anderen. ({8}) Sie sollten sich auch einmal die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg anschauen, die in den letzten Wochen und Monaten eine Rolle gespielt haben. In vielen dieser Entscheidungen - ich bringe sie Ihnen einmal mit, sodass Sie sie durchsehen können - hat der Europäische Gerichtshof sehr deutlich gesagt, dass Diskriminierung, auch im Privatrecht, mit der Würde des Menschen und mit der Werteordnung der Europäischen Union nicht vereinbar ist. Art. 6 und Art. 13 des EU-Vertrages besagen dies ganz deutlich. ({9}) Deshalb wollen wir auch den Menschen in Deutschland endlich Instrumentarien in die Hand geben, die ihnen helfen, ihre Rechte einzufordern. ({10}) Eine kleine Polemik zum Schluss kann ich mir auch als ehemaliges FDP-Mitglied nicht verkneifen. ({11}) - Das wissen Sie also. - Ich will ein Wort des bei Ihnen früher ja sehr geschätzten Fraktionskollegen Joseph Fischer anführen - ich weiß nicht, wie das heute ist -, ({12}) der einmal im Zusammenhang mit Außenpolitik gesagt hat: Wenn man einen Muffin aufpustet, ihn in den Backofen stellt und reinsticht, dann kommt nur heiße Luft raus. ({13}) So ist es, wie diese Debatte entlarvt, mit Ihrer Bürgerrechtspolitik. Schon deshalb hat sie sich gelohnt. Herzlichen Dank. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Gisela Piltz, Jens Ackermann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz - Drucksache 16/474 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Wieland, Hans-Christian Ströbele, Irmingard Schewe-Gerigk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({1}) - Drucksache 16/680 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Petra Pau, Dr. Gregor Gysi, Dr. Lothar Bisky, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung der dreistufigen Volksgesetzgebung in das Grundgesetz - Drucksache 16/1411 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Zwischen den Fraktionen ist verabredet, eine Dreiviertelstunde darüber zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher, FDP-Fraktion. ({4})

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den Verfassungen aller Bundesländer gibt es inzwischen Elemente, die die direkte Mitentscheidung der Bevölkerung zulassen. Damit hat man in aller Regel gute Erfahrungen gemacht. In den Kommunen kennt man diese Elemente sowieso. Der Stand des Grundgesetzes hierzu ist faktisch aber nach wie vor der von 1949. Die direkte Beteiligung des Volkes ist nur bei der Länderneugliederung vorgesehen. Über dieses Thema wurde schon viel diskutiert. Auch in diesem Hohen Hause gab es immer wieder Ansätze, das zu ändern. Ich erinnere mich an einen Gesetzentwurf von Rot-Grün aus der 14. Legislaturperiode, der allerdings so spät vorgelegt wurde, nämlich erst kurz vor deren Ende, dass darüber nicht mehr vernünftig diskutiert werden konnte. Wir als FDP hatten damals den Versuch unternommen, einen Kompromiss herbeizuführen. Er wurde leider abgelehnt. Ich sage offen: Damals habe ich eher zu den Skeptikern gehört; ({0}) dazu bekenne ich mich. Ich will das gleich begründen. In der letzten Legislaturperiode hatten wir uns mit einem neuen Thema zu beschäftigen, nämlich mit dem EU-Verfassungsvertrag. Wir von der FDP haben damals einen Gesetzentwurf vorgelegt mit dem Ziel, einen Volksentscheid über die EU-Verfassung durchzuführen. Ich sage heute: Es wäre wichtig gewesen, das zu tun. Es liegt leider an Ihnen, dass es nicht dazu kam. ({1}) Wir haben das damals vorgeschlagen, weil alles andere nicht durchsetzbar war. Wir müssen in diesem Haus ein Stück weit praxisorientierte Politik machen. ({2}) Einiges wurde inzwischen weiterentwickelt. Wir haben Erfahrungen in den Ländern und in den Kommunen, die wertvoll sind. Gespräche mit Organisationen wie „Mehr Demokratie“ und anderen haben uns neue Argumente geliefert, die wir natürlich berücksichtigen. Meine Erfahrung mit der Föderalismusreform, die am Schluss an zwei oder drei Leuten gescheitert ist, hat mir gezeigt, dass es in manchen Fällen die Möglichkeit geben muss, dass das Volk den Parlamentariern, vor allem den Regierungen Beine macht. Deshalb habe ich meine Meinung geändert. Wenn man zu einer Meinungsänderung kommt, sollte man das auch umsetzen. ({3}) Wie schon gesagt, hat man in der 14. Legislaturperiode den Fehler gemacht, dass man den Gesetzentwurf am Ende der Legislaturperiode vorgelegt hat. Deswegen haben wir unseren Gesetzentwurf zu Anfang der Legislaturperiode eingebracht. Damit haben wir den Stein ins Wasser geworfen. Es freut mich, dass die Grünen und die Linke nachgezogen haben. Auf Initiative der FDP liegen jetzt drei Gesetzentwürfe vor. Damit können wir nun arbeiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns für ein dreistufiges Verfahren entschieden - darin stimmen wir alle eigentlich überein -: Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid. Dabei sehen wir ganz unterschiedliche Quoren vor, auf die ich nicht im Einzelnen eingehen will. Es stellt sich natürlich die Frage, wie hoch man die Hürden setzt. Die Hürden sollten schon so hoch sein, dass es nicht jeden Tag eine Initiative gibt. Aber sie dürfen nicht so hoch sein, dass sie nicht übersprungen werden können. Deshalb haben wir Quoren gewählt, die sich aufgrund unserer Erfahrungen als sinnvoll erwiesen haben, was uns Experten bestätigen. Eine weitere Frage ist, ob wir Volksentscheide zu bestimmten Themen ausschließen oder ob wir Volksentscheide zu allen Themen zulassen. Wir waren beim Ausschluss von Themen sehr restriktiv. Wenn es aber um Ausgaben geht, dann soll auch ein Deckungsvorschlag gemacht werden. Ansonsten - darüber sind wir uns in diesem Hause weitgehend einig - sind Abgabengesetze und Haushaltsgesetze ausgenommen. Ich bitte Sie, auch über folgenden Punkt nachzudenken: Wir haben in unserem Gesetzentwurf vorgesehen, dass drei Monate vor einer Bundestageswahl kein Volksentscheid eingeleitet werden darf; denn wir wollen nicht, dass direkte Demokratie dazu missbraucht wird, den Wahlkampf in eine bestimmte Richtung zu lenken. Das wäre falsch. Wenn wir darüber reden, dann bitte praxisgerecht und so, dass es nicht durch andere Dinge in ein falsches Licht gerückt wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben den Stein ins Wasser geworfen. Jetzt geht es darum, dass wir das sehr ernsthaft betreiben. Ich bitte Sie herzlich: Wir haben über verschiedene Dinge zu diskutieren, über die Quoren, die Ausnahmetatbestände und anderes. Wir alle sollten - das sage ich für die FDP-Fraktion ausdrücklich zu - offen in die Beratungen gehen. Wir sollten in der Debatte auch keine Hürden aufbauen, die man hinterher nicht mehr überspringen kann. Denn wir wissen: Das Grundgesetz lässt direktdemokratische Elemente zu, aber dazu müssen wir das Grundgesetz ändern. Dafür brauchen wir in diesem Haus eine Zweidrittelmehrheit. Ich schaue jetzt zu den Kolleginnen und Kollegen von der Union. Manche von Ihnen haben mit uns gestimmt, als es darum ging, einen Volksentscheid über die EUVerfassung möglich zu machen. Ich weiß: Auch bei Ihnen gibt es Diskussionen. Wir sollten die Debatte so führen, dass wir nicht von vornherein das Tor zumachen; vielmehr sollten wir das Tor ein Stück weit öffnen, sodass wir auch aus dem Lager der Union mehr Zustimmung bekommen. Es geht nicht darum, die Gesetzgebung durch das Parlament zu ersetzen, sondern darum, diese Gesetzgebung zu ergänzen. Es geht ferner darum, verkrustete Strukturen ein Stück aufzubrechen. Es geht darum, Bürgern mehr Möglichkeiten zu geben, sich direkt am politischen Geschehen zu beteiligen. Ich bin ein Anhänger der repräsentativen Demokratie; ich will sie nicht grundsätzlich ändern. Aber ich will sie um das Instrument der Volksgesetzgebung, der Volksinitiative, des Volksbegehrens und des Volksentscheids, ergänzen. Nach meiner festen Überzeugung können wir damit unsere Demokratie stärken; nach meiner festen Überzeugung und der Überzeugung meiner Fraktion können wir damit unsere Demokratie ein Stück weit aktiver, erlebbarer machen und bürgerschaftliches Engagement stärken. Deshalb bitte ich Sie herzlich, mit uns eine offene und unvoreingenommene Diskussion zu führen, damit wir zu einer gemeinsamen Lösung kommen. Nur darum kann es gehen. Herzlichen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort erhält der Kollege Ingo Wellenreuther, CDU/CSU-Fraktion.

Ingo Wellenreuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003658, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Burgbacher, schon vielfach - das haben Sie zu Recht ausgeführt - hat sich der Deutsche Bundestag mit dem Thema einer stärkeren Beteiligung des Volkes an der Gesetzgebung beschäftigt. Die aktuelle Debatte um Plebiszite ist deswegen zunächst zu begrüßen, weil diese Frage diesmal weder aus wahltaktischen Gründen und unter Zeitnot noch anlässlich eines Einzelfalls diskutiert und debattiert wird. Die Einführung von Plebisziten auf Bundesebene ist sowohl eine verfassungsrechtliche als auch eine politische Grundsatzfrage, die nicht für Wahltaktik missbraucht werden darf, sondern in Ruhe und vor allem sachlich diskutiert werden muss. Auch da gebe ich Ihnen Recht. Aber an der Diskussion, Herr Burgbacher, stört mich, dass den Gegnern von Plebisziten immer wieder populistisch unterstellt wird, sie hielten die Bevölkerung für nicht in der Lage, ihre Meinung sachgerecht zu äußern. ({0}) - Das haben Sie nicht getan, aber dieses Argument hört man öfter. Außerdem stört mich, dass von den Befürwortern von Plebisziten der Eindruck erweckt wird, als sei nur die unmittelbare Demokratie die wahre Demokratie, ein Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit und das jetzige System der repräsentativen Demokratie sei im Gegensatz dazu eine minderwertige Form der Demokratie, ein geschichtliches Versehen, das endlich korrigiert werden müsse. Wer so argumentiert, verkennt, dass uns das mit guten Gründen gewählte System der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie über 50 Jahre hinweg eine nicht zu unterschätzende politische Stabilität in Deutschland beschert hat. Lassen Sie mich deshalb sechs Gründe nennen, die gegen Plebiszite und für unsere repräsentative Demokratie sprechen. Erstens. Plebiszite bergen die Gefahr des Missbrauchs und der politischen Destabilisierung. Für diese Bedenken und Vorbehalte gibt es Beispiele aus unserer deutschen Geschichte. In der Weimarer Republik haben Volksabstimmungen das Land politisch aufgewühlt und gespalten ({1}) und letztlich mit zu deren Scheitern beigetragen, Herr Wieland. ({2}) - Lesen Sie es nach! ({3}) Im Dritten Reich wurden Volksbefragungen dazu missbraucht, die diktatorischen Entscheidungen des Naziregimes nach außen demokratisch legitimiert erscheinen zu lassen, wie etwa 1933 der Austritt aus dem Völkerbund oder 1938 der Anschluss Österreichs. Der Parlamentarische Rat hat sich daher ganz bewusst und strikt zur parlamentarisch-repräsentativen Demokratie und gegen Plebiszite bekannt, als er 1948/49 das Grundgesetz ausgearbeitet hat. Der zweite Grund gegen Plebiszite sind die immer komplexer werdenden Fragestellungen unserer pluralistischen Gesellschaft. Um diesen gerecht zu werden, ist ein ausgewogenes, auf Kompromissbereitschaft basierendes Entscheidungs- und Gesetzgebungsverfahren erforderlich. Im Gegensatz zu Plebisziten können im parlamentarischen Verfahren verschiedene Interessen, insbesondere auch die von Minderheiten, berücksichtigt und gewichtet werden: durch Beratungen im Plenum und in Ausschüssen, Berichterstattergespräche und Sachverständigenanhörungen. Bei Volksentscheidungen ist dieses ausgewogene Verfahren nicht möglich, denn dabei geht es letztlich nur um die Frage „Ja oder nein?“. Der dritte Grund liegt darin, dass Plebiszite die verfassungsrechtlich garantierte föderale Grundstruktur unseres Staates beeinträchtigen. Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes garantiert die grundsätzliche Beteiligung der Länder an der Gesetzgebung. Bei der Volksgesetzgebung bliebe die Beteiligung dieser Länderinteressen außen vor. Die vorliegenden Gesetzentwürfe sehen zwar die Möglichkeit der Konkurrenzvorlage durch den Bundestag vor, nicht aber durch den Bundesrat. Sie enthalten zwar eine Länderklausel, aber das ist keine inhaltliche Mitgestaltung der Länder im Sinne des Grundgesetzes, sondern eine reine Formalie. ({4}) - Machen wir. Viertens. Plebiszite bergen die Gefahr der weiteren Abwertung des Parlaments. Seien wir einmal ehrlich: Der Deutsche Bundestag hat schon heute kräftig gegen Bedeutungsverlust zu kämpfen. Dies hängt mit Europa zusammen, mit der Normenflut der europäischen Institutionen, mit einer Föderalismusreform, bei der der Bund den Ländern zu Recht weitere Zuständigkeiten überträgt, und schließlich mit der gestiegenen Neigung, politische Debatten in Talkshows anstatt im Plenum auszutragen. Kämen jetzt noch Plebiszite hinzu, sei die Frage erlaubt, über welche wichtigen Fragen das Parlament überhaupt noch eigeninitiativ zu entscheiden hätte. Die großen Stunden des Parlamentes wären Vergangenheit, über die Schicksalsfragen der Nation würde woanders entschieden, Herr Wieland. ({5}) Fünftens. Durch Plebiszite besteht die Gefahr, dass sich Parlamentarier ihrer Verantwortung entziehen und insbesondere unpopuläre und sensible Fragestellungen einer Entscheidung des Volkes überließen. Sechstens bergen Plebiszite die Gefahr, dass Sachfragen nicht nach sachbezogenen Gesichtspunkten entschieden werden. Es ist auch zu befürchten, dass sich das Volk und der Einzelne von Stimmungen und subjektiver Betroffenheit leiten lassen, ({6}) vor allem deswegen, weil organisierte und öffentlichkeitswirksame Lobbyarbeit noch mehr Einfluss erhalten könnte als heute schon. Populismus, Stimmungsmache, schlagwortartige Parolen können die Entscheidung über Sachfragen zum unsachlichen Abstimmungskampf degradieren. ({7}) Herr Wieland, was Sie gerade dokumentieren, entspricht genau dem, was ich vorhin gesagt habe und was mich sehr stört: Sie versuchen, mit Totschlagargumenten Stimmung zu machen. ({8}) Außerdem können und wollen nur wenige Bürger sich schon allein aus Zeitgründen mit einer oftmals umfangreichen und fachlich schwierigen Materie intensiv auseinander setzen. In der Gesamtschau sind das alles Gründe gegen eine Ausweitung der unmittelbaren Demokratie und zugleich ein Plädoyer für unser bewährtes parlamentarisch-repräsentatives System. Ich will noch zwei der gängigsten Argumente ansprechen und entkräften, die von Anhängern von Plebisziten immer wieder erhoben, deshalb aber trotzdem nicht stichhaltiger werden: Erstens. Angeblich werden mit direktdemokratischen Verfahren sowohl in anderen Staaten als auch auf Landesebene und kommunaler Ebene positive Erfahrungen gemacht. ({9}) - Herr Burgbacher, Sie haben es angesprochen. Was andere Staaten anbelangt, ist ein Vergleich wegen gravierender Unterschiede meines Erachtens nahezu unmöglich. Das betrifft sowohl die Größe der Bevölkerung als auch die jeweilige Tradition von Plebisziten als auch den Staatsaufbau. ({10}) Was den Vergleich der Bundesebene mit der Landesebene und der kommunalen Ebene angeht - ich kann es beurteilen; ich sitze auch im Gemeinderat -, ist zu sagen: Man darf nicht verkennen, dass die politischen Fragen in den Kommunen und in den Ländern regional und sachlich viel besser überschaubar sowie weniger komplex sind. Insgesamt hinken diese Vergleiche gewaltig. Zweitens wird mit Plebisziten angeblich der Politikverdrossenheit und dem Vertrauensverlust der Politiker entgegengewirkt. Ich warne davor, die Wirkung von Plebisziten insoweit zu überschätzen. Vor allem erscheint mir dieses Argument geradezu unlogisch. Warum soll das Vertrauen in Politik und das Parlament eigentlich genau dann gesteigert werden, wenn das Parlament über wichtige gesetzliche Regelungen nicht mehr selbst entscheiden soll, sondern die Verantwortung abgibt? Das hat mir bis jetzt noch niemand erklären können. ({11}) Auch eine Steigerung der Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen tritt dadurch nicht ein. Ich weiß, dass Vergleiche nur schwer möglich sind, aber hier lohnt sich einmal ein Blick in die Schweiz. Dort liegt die Wahlbeteiligung meist unter 50 Prozent. Sie ist also niedriger als in jedem anderen demokratischen Land. Das zeigt: Direktdemokratische Elemente können kontraproduktiv wirken und die Gefahr der Wahlmüdigkeit nimmt sogar zu. Insgesamt glaube ich, dass es ein Trugschluss ist, dass die Politikverdrossenheit mit der Einführung von mehr direkter Demokratie überwunden werden könnte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, oft zeichnen die Befürworter der direkten Demokratie ein unrealistisches Bild nach dem Motto: In der Mitte des Volkes entsteht ein Gesetzentwurf, es folgt eine breite gesellschaftliche sachliche Diskussion, jeder stimmberechtigte Bürger beteiligt sich, wägt alle Argumente intensiv ab und entscheidet auf dieser Grundlage nach objektiven Kriterien, wobei er das Allgemeinwohl und die Minderheiten ganz fest im Blick hat. - Ich glaube, mit der politischen Wirklichkeit von direktdemokratischen Entscheidungen hat dieses Bild nur sehr wenig zu tun. Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Ergänzung unserer repräsentativen Demokratie um plebiszitäre Elemente auf Bundesebene, die Sie angesprochen haben, Herr Burgbacher, würde die Wesenszüge unserer Demokratie meines Erachtens verändern. Ich kann nur raten: Unterschätzen wir nicht die Gefahr des Populismus, der in Plebisziten steckt, schätzen wir unsere geschichtlichen Erfahrungen nicht gering und überschätzen wir nicht deren Bedeutung im Kampf gegen die Politikverdrossenheit. Deshalb plädiere ich dafür, unser ausgewogenes parlamentarisches Verfahren und unseren starken Föderalismus wertzuschätzen. Ich danke Ihnen - auch Ihnen, Herr Wieland. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächster hat der Kollege Dr. Lothar Bisky für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Dr. Lothar Bisky (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003739, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mehr direkte Demokratie steht zur Debatte. Herr Burgbacher, ich bin froh, dass wir in Brandenburg gemeinsam mit der FDP bereits die direkte, die dreistufige Volksgesetzgebung durchgesetzt haben. Im Übrigen geschah das auch gemeinsam mit dem damaligen Bündnis 90. Es funktioniert. Herr Wellenreuther, auch damals hörte ich Reden von der CDU, in denen die Gefahren beschworen wurden. Diese sind aber nicht eingetreten. Sie können Ihre Kollegen in der CDU fragen. Natürlich ist das die Landesebene und wir sprechen hier über die Bundesebene. Alle Gefahren und auch manche Wunder, die sich einige erhofft hatten, sind aber eben nicht eingetreten, sondern es ist zu einem vernünftigen Umgang der Bürgerinnen und Bürger und, wie ich denke, auch der Politiker mit diesem Instrument gekommen. Ich bin froh, dass jetzt drei Fraktionen mehr direkte Demokratie fordern. Wir können in diesem Parlament gar nicht genug sein. Ich hoffe, dass uns eine sachliche Diskussion zu einer vernünftigen Lösung bringen wird. ({0}) Wir wollen den Bürgern auf Bundesebene mehr direkte Einflussmöglichkeiten verschaffen. Das richtet sich eben nicht gegen die parlamentarische Demokratie. ({1}) Ich sehe das als eine untrennbare Einheit und ich möchte mich nicht weiter auf die Gegensatzdiskussion einlassen. Ich komme aus einem Land, in dem es eine Zivilgesellschaft, wenn überhaupt, nur marginal gegeben hat, und ich möchte in einem Land leben, in dem zivilgesellschaftliches Engagement nicht nur geduldet, sondern auch bewusst gefördert wird. ({2}) Meine Damen und Herren von der FDP und den Grünen, gerade deshalb wollen wir im Unterschied zu Ihnen nicht nur Gesetzesvorlagen zum Gegenstand der dreistufigen Volksgesetzgebung machen, sondern auch politische Entscheidungen zur Debatte stellen. Es geht zum Beispiel um Fragen der Privatisierung. Die Bürgerinnen und Bürger müssen nach unserer Auffassung die Möglichkeit haben, bei wichtigen politischen Fragen mitzureden. Ich wünsche mir, dass sie in die Lage versetzt werden, deutlicher zu erklären, was sie bei bestimmten Themen politisch wollen. Natürlich schwächt das nicht die parlamentarische Demokratie; denn die Antworten, die dort auf bestimmte Fragen gegeben werden, werden dann ja im Parlament umgesetzt .Ich will jetzt nicht der Versuchung unterliegen, konkrete Fragen zu nennen; denn dann stellt sich die Frage, ob man sie positiv oder negativ formulieren soll. Das ist nach meinem Dafürhalten Aufgabe für Experten. Dafür gibt es Psychologen und Soziologen, die genau wissen, wie man eine Frage formuliert, damit man eine gültige und zuverlässige Antwort bekommt. Dennoch sage ich: Ich bin dafür, den Bürgerinnen und Bürgern solche Fragen zu stellen, also direkt über eine politische Sachfrage abstimmen zu lassen. Jede Fraktion hätte nach unserem Vorschlag die Möglichkeit, den Bürgerinnen und Bürgern eine Sachfrage zur Entscheidung vorzulegen. Das würde den Wahlkampf revolutionieren. Nicht mehr Versprechungen, an die sowieso immer weniger glauben, stünden im Vordergrund, sondern die von den Fraktionen gesetzten Themen würden eine größere Rolle spielen. Sie und uns wird nicht jedes Ergebnis einer Volksinitiative, eines Volksbegehrens oder eines Volksentscheids erfreuen. Die Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus kann davon ein Lied singen. Dennoch hat kürzlich Die Linke gemeinsam mit anderen Fraktionen einen Gesetzentwurf in das Abgeordnetenhaus eingebracht, der die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten der Berlinerinnen und Berliner erweitert; und das ist gut so. ({3}) Wir haben nicht nur in Berlin erfahren und verinnerlicht, dass jeder Zuwachs an demokratischen Verfahren die Kluft zwischen politisch Verantwortlichen und dem eigentlichen Souverän verkleinert. Die Ablehnung der europäischen Verfassung in Frankreich und den Niederlanden - das ist heute schon mehrfach erwähnt worden und die katastrophal niedrige Wahlbeteiligung in den vergangenen Wochen - die Wahlbeteiligung in Thüringen am vergangenen Sonntag lag bei nur rund 42 Prozent - zeigen: Wir müssen schleunigst und umfassend handeln. Dazu wurde von drei Fraktionen dieses Hauses ein Vorschlag auf den Tisch gelegt. Vor gut 16 Jahren stand ich auf dem Alexanderplatz und hörte, wie ein späterer Alterspräsident des Deutschen Bundestages erklärte - ich zitiere -: Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen … Die Worte waren von Stefan Heym. Er wollte am 4. November 1989 unter anderem den Wunsch ausdrücken, dass Bürgerinnen und Bürger endlich ernst genommen werden, dass vielfältige, auch direkte Mitentscheidungsmöglichkeiten, dass mehr direkte und indirekte Demokratie in der Gesellschaft Einzug halten. ({4}) - Bei Stefan Heym kenne ich mich ganz gut aus. Lassen Sie uns heute gemeinsam die Fenster ein Stück weiter aufstoßen. Ich bedanke mich. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächster spricht der Kollege Maik Reichel, SPDFraktion.

Maik Reichel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute liegen uns drei Anträge vor, die wir in erster Lesung beraten und die zum Inhalt die Einführung einer dreistufigen Volksgesetzgebung auf Bundesebene haben, nämlich Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es seit Beginn der Existenz unseres Landes Bestrebungen, eine solche Volksgesetzgebung einzuführen. 1948 - das ist gerade genannt worden - hat der Parlamentarische Rat auf diese Möglichkeit zur direkten Beteiligung im Hinblick auf die deutsche Geschichte bewusst verzichtet. Stattdessen wurde die repräsentative parlamentarische Demokratie eingeführt. Ein zweites Mal, 1976, scheiMaik Reichel terte die Einführung einer größeren Bürgerbeteiligung, als die dafür eingesetzte Enquete-Kommission dieses Ansinnen ablehnte. Auch nach der Einheit Deutschlands zu Beginn der 90er-Jahre war der Versuch, Volksabstimmungen zu ermöglichen, nicht von Erfolg gekrönt. Viele von Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, haben diesen Prozess begleitet. Unser Grundgesetz bietet dafür - das haben wir bereits festgestellt und das wird auch in den Anträgen erwähnt - die verfassungsrechtliche Grundlage. In Art. 20 des Grundgesetzes steht der deutliche Satz: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Ergänzend heißt es: Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt. Seit nunmehr fast sechs Jahrzehnten hat sich die auf dem Grundgesetz aufbauende parlamentarisch-repräsentative Demokratie bewährt. Zumindest auf Bundesebene ist die direkte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger noch nicht eingeführt, auf kommunaler und Landesebene aber schon. Wir beklagen gerade in dieser Zeit zu Recht die allmähliche Politikverdrossenheit unserer Bürger, die sich sehr unterschiedlich darstellt: Teilnahmslosigkeit bei politischen Sachthemen, Desinteresse und - das ist gerade angesprochen worden; es bedrückt uns alle - die sinkende Wahlbeteiligung. Letztere zeichnet sich seit einigen Jahren deutlich ab. Das zeigen die Bundestagswahlen wie auch die Wahlen auf Landesebene. In meinem Heimatland Sachsen-Anhalt sank die Wahlbeteiligung von 71,5 Prozent im Jahr 1998 auf 56,5 Prozent im Jahr 2002 und auf 44,4 Prozent am 26. März dieses Jahres. Wie wir eben gehört haben, lag die Beteiligung an der Kommunalwahl in Thüringen noch etwas niedriger; sie ist auf 42 Prozent gesunken. Demokratie ist nun einmal auf eine aktive, verantwortungsbewusste und vor allem interessierte Mitarbeit von Bürgerinnen und Bürgern angewiesen. Das Verantwortungsbewusstsein sollte sich nicht nur auf einen Urnengang alle vier Jahre beschränken. Wenn wir jetzt über eine durchaus sinnvolle Verlängerung der Wahlperiode des Deutschen Bundestages von vier auf fünf Jahre diskutieren, dann müssten damit auch stärkere Einflussmöglichkeiten der Bevölkerung einhergehen. ({0}) Ein europaweiter Vergleich zeigt, dass in den meisten Ländern Volksentscheide mit Volksinitiativen und Volksbegehren eingeleitet werden. Das bekannteste System hat die Schweiz. Volksabstimmungen gibt es unter anderem auch in Österreich und Italien. Dabei finden wir die unterschiedlichsten Regelungen hinsichtlich der Mindestbeteiligung, der Quoren. Diese dienen dazu - das halte ich für besonders wichtig -, dem Missbrauch von Volksabstimmungen vorzubeugen. Betrachten wir eine Ebene darunter: Ein Blick auf die 16 deutschen Bundesländer zeigt, dass dort - wenn auch in unterschiedlicher Ausgestaltung - Volksabstimmungen möglich sind. In den Länderverfassungen zu verschiedenen Zeiten verankert, stellt diese Form der direkten Demokratie einen wesentlichen Bestandteil demokratischen Umgangs mit den Bürgerinnen und Bürgern dar. ({1}) - Das muss man sagen. - Von dieser Möglichkeit wurde und wird unterschiedlich rege Gebrauch gemacht, bei unterschiedlichem Erfolg für die jeweiligen Initiatoren. Bis zum Jahr 2002 gab es allein in Bayern 40 solcher Abstimmungen, in Brandenburg 21, in MecklenburgVorpommern 15, in Hessen 14, in Nordrhein-Westfalen zehn und in Baden-Württemberg nur vier. Diese Aufzählung ließe sich weiter fortsetzen. Es gibt viele Bürgerbewegungen oder -initiativen auf kommunaler wie auch auf Landes- und Bundesebene, die deutlich den Willen der Bevölkerung zeigen, sich aktiv für die Gesellschaft einzusetzen und sie mitzugestalten. Sie alle, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, haben vor wenigen Tagen Post von der Aktion Volksabstimmung erhalten, die sich für die Einführung von Volksabstimmungen stark macht. Die heutige Debatte wird längst nicht mehr nur auf innerparlamentarischer Ebene geführt. Ganz allein stehen die außerparlamentarischen Bestrebungen nicht, hat doch bereits die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ des 14. Deutschen Bundestages festgestellt - ich zitiere -: Bürgerschaftliches Engagement steht in enger Verbindung mit Teilhabe- und Mitgestaltungsmöglichkeiten. Die Empfehlung der Enquete-Kommission lautete, die Beteiligungsrechte zu stärken und neue Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen. In den vergangenen 58 Jahren sind die guten Gründe, die für eine stärkere Bürgerbeteiligung sprechen, auf unterschiedlicher Ebene in allen Bereichen der Gesellschaft thematisiert und erörtert worden. Ich glaube, dass eine solche Beteiligung, wenn sie in einem entsprechenden gesetzlichen Rahmen erfolgt, einer sich breit machenden Ohnmacht gegenüber der Politik entgegenwirken kann. Es sei ein Blick auf die Jüngeren in unserem Land gestattet. Das Desinteresse an Politik und politischem Handeln scheint mir bei ihnen sehr stark ausgeprägt. Andererseits erleben wir aber bei bestimmten aktuellen Anlässen ein starkes, spontanes Engagement. Gerade diese jungen Menschen sind es, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten unsere Gesellschaft gestalten werden. Die frühe Einbindung - auch in demokratische Strukturen - ist dabei ein nicht zu unterschätzender Faktor. ({2}) Der Wunsch der jungen Leute danach ist spürbar. Dafür müssen entsprechende Formen gefunden werden. ({3}) Ich weiß, dass es in der Frage der Einführung von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden viele Argumente Pro und Kontra gibt. Einige sind bereits angesprochen worden. Auch ich kann mich mancher Befürchtung nicht entziehen, habe ich selbst doch bereits zwei solcher Volksentscheide auf unterschiedlichen Ebenen erlebt. Der eine liegt noch nicht lange zurück; es war vor einem Jahr auf Landesebene - in Sachsen-Anhalt -, der letzten Endes gescheitert ist. Wesentlich intensiver und nachhaltiger für mich war ein Bürgerentscheid auf kommunaler Ebene in meiner Heimatstadt Lützen, wo ich die Ehre habe, Bürgermeister sein zu dürfen. Im Laufe der Wochen und Monate, in denen ich diesen Bürgerentscheid mit vorausgegangenem Bürgerbegehren begleitet habe - sozusagen von der anderen Seite, also von der Seite, die wir alle hier wahrscheinlich einmal kennen lernen werden -, konnte ich das Für und Wider eines solchen Entscheides erleben. Ich erkenne mitunter die Bedenken an, die von Kritikern geäußert werden. Angeführt wird immer - nicht so sehr hier im Haus, wohl aber außerhalb - die fehlende Kompetenz der Menschen, die sich beteiligen sollen; denn alle müssen in die Lage versetzt werden, den Hintergrund einer Entscheidung zu verstehen. Überblicken denn alle Beteiligten das Thema und die Folgen? Wird der Bürger also richtig und sachlich informiert? Was ist, wenn sich das Parlament - in diesem Fall der Stadtrat bei einem unliebsamen Thema vor der eigenen Verantwortung drückt? Was geschieht bei fehlenden aufgezeigten Alternativen durch die Initiativen? Ein weiterer Kritikpunkt ist die mitunter mangelhafte Beteiligung der Wahlberechtigten. ({4}) Dann drängt sich mir der Gedanke auf, dass die bloße Auswahl zwischen Ja und Nein zu einfach gedacht ist. Tendenziell wird eine Frage zumeist so gestellt, dass man sie logischerweise sofort mit Ja beantworten muss. Ist das immer zielführend? Das alles sind Dinge, die mir durch den Kopf gegangen sind. ({5}) - Darauf komme ich noch zu sprechen. Die angeführten Argumente - es gibt sicherlich noch wesentlich mehr - sprechen für mich jedenfalls nicht gegen die Einführung eines Volksentscheids. ({6}) Es handelt sich vielmehr um Dinge, die es in der Auseinandersetzung mit den Menschen vor Ort zu klären gilt. Daran sollte meiner Meinung nach - ich spreche hier ganz sicher auch für meine Fraktion - die Einführung einer Volksabstimmung nicht scheitern. Ich persönlich habe in meiner Stadt erlebt, dass ein solches Verfahren das Interesse an der Mitgestaltung des Gemeinwohls steigen lässt. Die Menschen gehen bewusster mit manchen Entscheidungen um und versuchen, sich einzubringen. Darin liegt eine sehr große Chance, eine höhere Akzeptanz der politischen Entscheidungen zu erreichen und Politikverdrossenheit, die wir alle täglich erleben, abzubauen. Aber wir müssen auch bereit sein, die Bürgerinnen und Bürger teilhaben zu lassen. Ich habe auf unterer Ebene Menschen erlebt, die sich für eine Sache einsetzen, die sich über das normale Maß hinaus engagieren. Jeder von Ihnen kennt sicherlich genügend Beispiele. Einige der Initiatoren des Bürgerentscheids in meiner Stadt sitzen heute im Stadtrat, einer davon sogar als mein zweiter stellvertretender Bürgermeister. Er und andere tun mit, und das auf konstruktive Art und Weise. Ich weiß natürlich, dass man so etwas nicht einfach auf Bundesebene umsetzen kann. Aber ich glaube, dass dieses Beispiel Möglichkeiten und Chancen einer Volksabstimmung aufzeigt. Uns liegen nun drei Gesetzentwürfe vor. Alle gehen von einer dreistufigen Volksbeteiligung - Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid - aus. Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hält sich in ihrem Gesetzentwurf im Wesentlichen an den rot-grünen Gesetzentwurf aus der 14. Legislaturperiode. Das will ich nicht verhehlen. ({7}) Die Volksinitiative soll den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, eine Gesetzesvorlage einzubringen, über die dann im Bundestag mit Anhörungsrecht debattiert wird. Die Zahl der Mindestbeteiligung liegt bei den Grünen und der FDP bei 400 000 und bei der Linksfraktion bei 100 000 Wahlberechtigten. Hinsichtlich der möglichen Inhalte solcher Initiativen - einige sind schon genannt worden - liegen ähnliche Ansätze vor, ohne dass man genauer darauf eingeht. Ich glaube, gerade hier gibt es noch gehörigen Klärungsbedarf, was alles im Rahmen einer Volksabstimmung möglich sein darf. Wenn ich mir alle drei Gesetzentwürfe anschaue, dann stelle ich fest: Die vorgeschlagenen Beschlussfristen des Bundestages bei einer Volksinitiative reichen von sechs bis acht Monaten. Auch die vorgeschlagenen Prozentklauseln einer erfolgreichen Beteiligung bei einem Volksbegehren liegen mit knapp 1,7 Prozent - das ist der Vorschlag der Linksfraktion - und 10 Prozent deutlich auseinander. Hier besteht ebenfalls großer Klärungsbedarf. Die vorgeschlagenen Fristen für die Entscheidung des Bundestages über ein erfolgreiches Volksbegehren liegen bei drei bzw. sechs Monaten. Auch bei den Quoren für den Volksentscheid gibt es natürlich Unterschiede zwischen den drei Gesetzentwürfen. Bei der Linksfraktion reicht die Mehrheit der abgegebenen Stimmen ohne Mindestbeteiligung. Bei der FDP und den Grünen müssen es mindestens 15 Prozent sein. Das ist die Bandbreite, über die wir noch diskutieren müssen. Einen Zusatzpunkt enthält der Gesetzentwurf der Linksfraktion. Dort heißt es in Art. 82 c Abs. 4: Drei Wochen nach Festlegung des Wahltermins zum Deutschen Bundestag hat jede Fraktion des Bundestages das Recht, eine Sachfrage zur Abstimmung am Wahltermin vorzuschlagen. … Der gewählte Bundestag ist für seine Wahlperiode an die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger in diesen Fragen gebunden. Herr Kollege Bisky, Sie haben darauf hingewiesen, dass der Wahlkampf dadurch interessanter werde. Ich stelle mir das auch interessant vor, halte es aber für wenig durchdacht, das miteinander zu verquicken. ({8}) - Ich habe damit keine Probleme. Das gebe ich doch zu. Es wird noch einige Diskussionen geben. Ich stelle es mir sehr schön vor, an einem Wahlsonntag dort zu sitzen, wenn wir neben der Bundestagswahl - manchmal kommen sogar noch Landtagswahlen oder Kommunalwahlen hinzu - fünf Abstimmungen über die Vorschläge von fünf Fraktionen haben. Dann greift die Linksfraktion mit Art. 82 b in ein fast abgeschlossenes Verfahren ein, indem sie die Möglichkeit eröffnen will, ein bereits beschlossenes, aber noch nicht ausgefertigtes Gesetz durch die sehr geringe Beteiligung von nur 500 000 Wahlberechtigten wieder zu kippen. Das ist ein unpraktikables Mittel und führt nicht zum Ziel. Auch wenn nicht alles, was hier vorgeschlagen wurde, nutzbringend ist, so wurde doch mit den jetzt eingebrachten Gesetzentwürfen eine neue Grundlage für weitere Gespräche gelegt. Es wird Diskussionen geben. Die SPD - das kann ich sagen - ist dazu bereit. Auch die Kolleginnen und Kollegen unseres Koalitionspartners werden sich diesen Diskussionen sicherlich nicht verschließen. ({9}) Wenn wir in die jüngere Geschichte zurückblicken, dann stellen wir fest, dass es bereits verschiedene Anträge aus allen Fraktionen gab, auch einen, der vor Jahren von der PDS gestellt worden ist. Heute liegen drei auf dem Tisch. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD haben wir uns darauf verständigt, die - ich zitiere „Einführung von Elementen der direkten Demokratie“ zu prüfen. Damit liegen die besten Voraussetzungen vor, einen gemeinsamen Weg zu gehen. Die Koalition wird sich auch in dieser Frage ihrer Verantwortung stellen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Reichel, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Ich beglückwünsche Sie dazu sehr herzlich und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit alles Gute. ({0}) Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Wieland für die Fraktion der Grünen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dies ist - es wurde hier mehrfach gesagt - wahrlich nicht die erste Debatte über dieses Thema in diesem Hause und es sind wahrlich nicht nur ganz unbekannte Argumente gewesen, die wir hier gehört haben. Aber, Herr Kollege Burgbacher, ohne jede Häme: Über Spätbekehrte freut man sich immer am meisten. Wir freuen uns darüber, dass die FDP nunmehr fest an der Seite der Befürworter der direkten Demokratie und der Volksgesetzgebung steht. ({0}) Wir hätten es sogar noch besser gefunden, wenn die Opposition vorher darüber geredet und eventuell eine gemeinsame Initiative gestartet hätte. Sie haben am Wochenende Ihren Parteitag. Man las, dass Sie dort über direkte Demokratie reden wollen. Das finden wir gut. Wir finden, dass es immer nötig ist, Demokratie auf eine breitere Basis zu stellen. Das alles jedoch ist für uns nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass es in dieser Legislaturperiode endlich zu dem überfälligen Schritt hin zur direkten Demokratie kommt. Dazu liegt einiges auf dem Tisch. Wir werden eine Vertrauensfrage der besonderen Art zu behandeln haben. Das letzte Jahr stand im Zeichen einer anderen Vertrauensfrage. Ein Teil von Ihnen wird sich schmerzlich daran erinnern. Jetzt stellt sich die Frage, welches Vertrauen wir eigentlich in den Souverän, in das Volk haben. Ihre Antwort darauf, Herr Wellenreuther, war sehr negativ: Sie haben so gut wie gar kein Vertrauen. Das Volk kann das nicht, es versteht das nicht, es ist Opfer von Demagogen und von Populisten. Politik ist viel zu komplex geworden, als dass wir sie in Form der Frage „Ja oder nein“ zur Abstimmung stellen könnten. Das ist nicht unser Bild. Das ist wahrlich auch nicht die Erfahrung, die in den Ländern - das wurde zu Recht von den Kollegen der SPD erwähnt - gemacht wurde. Das ist vor allem nicht die Erfahrung, die in den Kommunen gemacht wurde. Inzwischen kennen alle Landesverfassungen die Volksgesetzgebung. Inzwischen wird sie bundesweit mit sehr guten Erfolgen kommunal durchgeführt. Dennoch stellen Sie sich als - ich darf das sagen - noch recht junger Mensch hierhin und beschwören wieder einmal die Geister von Weimar. Weimar ist nicht an der direkten Demokratie gescheitert; Weimar ist leider an ganz anderem gescheitert. ({1}) Die Volksbegehren, die es dort geben sollte, kamen wegen zu hoher Quoren nicht zustande; auch das muss man im Gedächtnis behalten. Es sollte um Fragen wie Fürstenenteignungen und Militärausgaben - Stichwort „Panzerkreuzerbau“ - gehen; doch das ist an den Zustimmungsquoren gescheitert. Ich ziehe daraus einen ganz anderen Schluss: Funktionierbar gemachte direkte Demokratie gibt dem Volk die Möglichkeit, zu gestalten, und zwar nicht anstelle oder als Ersatz des Bundestages, sondern ergänzend. Sie gibt dem Volk das Bewusstsein, etwas in diesem Land bewirken zu können. Die schlechten Wahlbeteiligungen, von denen Sie gesprochen haben, haben wir doch, obwohl wir keine Volksgesetzgebung auf Bundesebene haben. Das sind doch alles Erscheinungen, die schon da sind. Daher muss klar sein: Wir vertrauen auf den Souverän; wir geben ihm mehr Möglichkeit, mitzugestalten und mitzureden. ({2}) Wie Sie richtig gesagt haben, Herr Kollege, haben wir hier den unter Rot-Grün erarbeiteten Gesetzentwurf eingebracht. Obwohl es mit Otto Schily, Herr Kollege Benneter, nicht immer ganz einfach war, stehen wir zu jeder Zeit zu unserer rot-grünen Vergangenheit in diesem Haus. Wir wollen Ihnen auch die Zustimmung zu dem, was wir vorgelegt haben, erleichtern. Um den etwas dubiosen Satz „Was gestern richtig war, kann heute nicht falsch sein“ einmal zu variieren: Das, was gestern Ihre Billigung hatte, kann heute nicht nur deswegen falsch sein, weil Sie einen noch zu überzeugenden - nach dem, was wir hier gehört haben, scheint das ein weiter Weg zu sein; aber wir stehen ja am Anfang dieser Legislaturperiode und haben noch Zeit - Koalitionspartner haben. Ich gestehe der CDU/CSU-Fraktion auch zu - die „Bild“-Zeitung schrieb gestern „Schauder-Kauder“ ({3}) - ja, gemeint war der große Bruder von Siegfried Kauder; die „Bild“-Zeitung differenziert da nicht -, dass sie diese Woche einige Dinge schaudernd schlucken musste: das Antidiskriminierungsgesetz - Nachbeben waren eben noch zu spüren -, die Reichensteuer und Weiteres. Jetzt werden Sie denken: Und nun sollen wir auch noch „direkte Demokratie“ schlucken. Ich mache Ihnen zum Schluss Hoffnung: Da, wo es in den Kommunen Elemente der direkten Demokratie gibt, sind die Konservativen, die CDU/CSU oft vorn. Sie haben hier in Berlin gegen die Einführung des Bürgerentscheides auf kommunaler Ebene erbittert gestritten. Kaum war er gegen Ihren Willen da, waren die CDUler die Ersten, die Bürgerbegehren gestartet haben.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nur noch ein Wort zu Friedbert Pflüger:

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Sie sind am Ende Ihrer Redezeit.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bringe wirklich nur diesen Satz zu Ende. - Er unterschrieb gegen die Umbenennung einer Straße in „Rudi-Dutschke-Straße“, obwohl er nicht unterschriftsberechtigt war. Das Tröstliche ist: Direkte Demokratie ist lernbar. Diese Anträge sind eine gute Chance, sich damit vertraut zu machen. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Gert Winkelmeier.

Gert Winkelmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003864, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beraten heute über die Bedeutung von Volksabstimmungen in unserer Demokratie. Nach dem Willen der Oppositionsfraktionen soll das Grundgesetz dahin gehend geändert werden, dass künftig auch auf Bundesebene Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide gesetzgeberischen Einfluss ausüben können. Knapp 57 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes wird es Zeit, unsere parlamentarisch-repräsentative Demokratie weiterzuentwickeln. Den Bedürfnissen der Bevölkerung nach mehr direkter Demokratie im 21. Jahrhundert ist Rechnung zu tragen. Diese Weiterentwicklung muss durch neue Beteiligungsrechte geschehen. In Meinungsumfragen befürworten über 80 Prozent der Menschen in Deutschland die Einführung der bundesweiten Volksabstimmung. Mit dieser Einführung verwirklichen wir auch ein Stück des real verwirklichten Freiheitsbegriffes. Unter den Abgeordneten sind auch Mitglieder des Vereins „Mehr Demokratie e. V.“. Einige gehören der Regierungspartei SPD an. Rot-Grün hat bereits in der 14. Wahlperiode einen Gesetzesentwurf zur Volksgesetzgebung eingereicht. Die Hürden waren aus meiner Sicht zwar viel zu hoch, doch es war damals ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn die Kolleginnen und Kollegen der SPD es wirklich ernst meinten, dann wäre jetzt die richtige Zeit, Einfluss auf ihren Regierungspartner zu nehmen, damit die CDU/CSU die Volksgesetzgebung nicht länger blockiert. Es wird allerhöchste Zeit, dass der Bundestag zu der Einsicht findet, dass Volksabstimmungen ein wichtiges Instrument sind, weil Menschen ganz direkt Verantwortung für Politik in unserem Land übernehmen wollen. Damit treten wir auch einer Volksverdrossenheit entgegen. Die Beteiligung an Bundestagswahlen nimmt immer mehr ab. Am 18. September 2005 war sie mit 77,7 Prozent so niedrig wie nie. Eine kürzlich in Rheinland-Pfalz erstellte Jugendstudie ergab, dass die 14- bis 18-jährigen Jugendlichen eine große Distanz zu den Parteien haben. Sie favorisieren lösungsorientiertes Handeln. Drei Viertel der Jugendlichen sind frustriert, weil sie glauben, dass sie keine Chance haben, Politik real zu beeinflussen. Dieses Bewusstsein können wir durch mehr direkte Demokratie verändern. Deshalb dürfen die Hürden nicht so hoch sein. Das Erfordernis von 100 000 Unterschriften für Volksinitiativen und von 1 Million Unterschriften unter ein Volksbegehren muss auch ein Signal sein, dass es möglich ist, eine Volksinitiative bzw. ein Volksbegehren durchzuführen. Ein Volksbegehren, das eine Verfassungsänderung anstrebt, benötigt sogar 2 Millionen Unterschriften. Beim Volksentscheid bedarf es einer Mindestzustimmung von einem Viertel der Stimmberechtigten. Wir sollten den Mut zur Volksgesetzgebung und Vertrauen in die Bevölkerung haben. Das ist grundsätzlich ein guter Politikansatz. Er stärkt zivilgesellschaftliches Engagement. Das ist unser Interesse. Vielen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Stephan Mayer.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine werten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir Deutsche können auf die parlamentarisch-repräsentative Demokratie mit Fug und Recht stolz sein. Die parlamentarisch-repräsentative Demokratie hat uns mittlerweile über 55 Jahre eine Periode der Stabilität in Deutschland beschert. Gleichwohl muss uns klar sein, dass Demokratie nicht gottgegeben ist und dass Demokratie und demokratische Strukturen auch immer wieder erkämpft werden müssen. Eines muss uns ebenso klar sein: Demokratie lebt von der Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger. Es darf uns alle hier im Hause nicht ruhig lassen, dass die Politikverdrossenheit - vielleicht auch die Politikerverdrossenheit - in Deutschland immer größer wird. ({0}) Vor allem mich als jungen Abgeordneten beschäftigt es durchaus, wenn ich in einer Umfrage des Emnid-Instituts lese, dass nur noch 3 Prozent der deutschen Bevölkerung Vertrauen in die deutschen Politiker haben. Die Frage ist nur, welcher Weg der richtige ist, um die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland wieder stärker an die Demokratie und an die Politik heranzuführen. Ich habe viele Gespräche mit Bürgerinnen und Bürgern in meinem Wahlkreis und auch bei Veranstaltungen hier in Berlin. Nie wird mir der Eindruck vermittelt, dass die Bürger ein Gesetzesinitiativrecht haben wollen, dass sie sich mit Gesetzentwürfen unmittelbar an den Bundestag wenden wollen. Was die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland wollen und ganz vehement einfordern, ist, dass wir hier im Hause, aber auch alle anderen politischen Ebenen in Deutschland eine authentische, eine ehrliche Politik betreiben. ({1}) Wir sind gefordert, meine sehr verehrten Damen und Herren, uns wieder zum Bürger zu bewegen, und nicht gefordert, dem Bürger das vermeintliche Angebot zu machen, sich mit Gesetzesinitiativen an uns zu wenden. ({2}) - Herr Kollege Wieland, es ist eben kein tatsächliches Angebot; es ist ein Feigenblatt. Wenn ich mir die Entwürfe der drei Oppositionsfraktionen ansehe, komme ich zu dem Ergebnis, dass dies Etikettenschwindel ist, weil damit nicht mehr Volksdemokratie ausgelöst wird. Das Einzige, was Sie erreichen würden, meine sehr verehrten Damen und Herren, wäre letztlich eine Minderheitendemokratie in Deutschland. ({3}) Es würden sich aktive, engagierte Interessenverbände zu Wort melden. Glauben Sie denn ernsthaft, dass sich in Deutschland plötzlich Freundeskreise zusammenfinden würden, um Gesetzesinitiativen zu starten? ({4}) Nein, die Situation wäre doch die: Verbände, Lobbyisten, Interessenverbände würden versuchen, Partikularinteressen mit einer Volksinitiative zu erreichen. ({5}) Der Antrag der Linken hat, wie ich finde, mit demokratischen Strukturen überhaupt nichts mehr zu tun. Er beinhaltet, dass schon 100 000 Unterschriften von Wahlberechtigten ausreichen, um eine Volksinitiative zu starten, um einen Gesetzesantrag an den Bundestag zu richten. 100 000 Wahlberechtigte entsprechen gerade einmal 2 Promille der deutschen Wahlberechtigten insgesamt. ({6}) Da kann man wirklich mit Fug und Recht von einem Feigenblatt sprechen. Nein, wir als Politiker sind gefordert, unserem Auftrag wieder gerecht zu werden. Sehen Sie ins Grundgesetz. Art. 21 des Grundgesetzes fordert uns als Parteien auf, an der politischen Willensbildung des Volkes teilzunehmen. ({7}) Wir müssen wieder stärker Bodenhaftung bekommen. Wir müssen auf die Bevölkerung zugehen und das aufnehmen, was sie uns an die Hand gibt. Eine Erweiterung von plebiszitären Elementen im deutschen Grundgesetz wäre mit Sicherheit eine Steilvorlage für eine zusätzliche Stimmungs- und Meinungsmache. Populisten und Demagogen würden sich auf den Plan gerufen fühlen. Herr Kollege Wieland, ich frage Sie: Wenn es so ist, dass man durch eine verstärkte Aufnahme plebiszitärer Elemente in Landesverfassungen oder kommunalen Satzungen das Interesse der Stephan Mayer ({8}) Bevölkerung an der Politik erhöht, warum ist dann die Wahlbeteiligung bei vielen Landtagswahlen und Kommunalwahlen - bei den Bundestagswahlen nicht so sehr in den letzten Jahren desaströs eingebrochen? Es ist also nicht so, dass man durch die Aufnahme plebiszitärer Elemente in Verfassungen automatisch eine Steigerung des Interesses der Bevölkerung an der Politik erreicht. Meines Erachtens ist sogar das Gegenteil der Fall. ({9}) Was Sie vorschlagen, ist ein Feigenblatt. Es besteht die eklatante Gefahr der Manipulation. Ich bin sehr wohl der Meinung, dass wir eine aktive Bürgergesellschaft brauchen, dass wir eine moderne Zivilgesellschaft in Deutschland erreichen müssen, dass wir die Bevölkerung wieder stärker dazu aufrufen müssen, sich in die Verantwortung zu begeben.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Winkler?

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Mayer, ich habe eine Frage, da ich weiß, dass Sie aus Bayern stammen. Was Sie eben alles aufgezählt haben - Bühne für Demagogen, Populisten usw. -, würde ja eine Gefahr auch auf Landesebene bedeuten. Aber Sie haben in Bayern doch selber die Erfahrung gemacht, dass die Möglichkeiten überhaupt nicht in dieser Art und Weise missbraucht werden, sondern im Gegenteil die Bevölkerung sehr verantwortlich mit diesem Instrument umgegangen ist. Wie stehen Sie denn dazu? Das ist ja nicht in einen Sachzusammenhang mit dem zu bringen, was Sie gerade gesagt haben. Oder wollen Sie vielleicht in Bayern jetzt die Verfassung ändern, damit dieses Instrument dort herausgenommen wird?

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Winkler, ich habe es ja schon ausgeführt: Die Bürgerinnen und Bürger interessieren sich an sich nicht für die Möglichkeit, Bürgerbegehren, Volksbegehren zu starten. Wer sich tatsächlich aus reinen Partikularinteressen dafür interessiert, sind nun einmal spezielle Interessenverbände, Aktivistengruppen, ({0}) die dieses Instrumentarium ganz bewusst ausnutzen. Ich sehe die große Gefahr, dass wir als politische Parteien und als Parlamentarier insgesamt den Anschein erwecken, dass wir uns aufgrund der Möglichkeit der Volksinitiative, die wir geschaffen haben, nicht mehr selbst um Gesetzesinitiativen oder das, was das Volk wirklich bewegt und wirklich interessiert, so stark kümmern; denn rein formal hätte die Bevölkerung dann von sich aus die Möglichkeit, Gesetzesinitiativen in den Deutschen Bundestag einzubringen. Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir als Parteien sind in der Verantwortung, zu absorbieren, was die Bevölkerung, was die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland denken und wollen, und das entsprechend in den Deutschen Bundestag einzubringen. Deswegen halte ich, gelinde gesagt, nichts von solchen Gesetzesinitiativen, wie sie von den drei Oppositionsfraktionen hier eingebracht werden. Wir werden sie trotzdem in aller Sachlichkeit und Nüchternheit behandeln. ({1}) Wir alle - das möchte ich abschließend noch einmal festhalten - sind gefordert, uns damit auseinander zu setzen, wie wir die Bevölkerung, die Bürger wieder stärker an die Politik heranführen können, wie wir sie wieder stärker zu nachhaltiger und stetiger Verantwortung in Deutschland bewegen können. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache zu diesem Punkt. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/474, 16/680 und 16/1411 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Investitionszulagengesetzes 2007 ({0}) - Drucksache 16/1409 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Simone Violka, SPD-Fraktion. ({2})

Simone Violka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003250, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wie Sie alle wissen, läuft das Investitionszulagengesetz 2005 zum Ende des Jahres 2006 aus. Trotz der nach wie vor nicht zufrieden stellenden Lage in den neuen Ländern im Hinblick auf Arbeitsplätze und Produktivität sollten wir den Blick auf die sichtbaren Erfolge aber nicht verlieren. Nicht zuletzt durch die so genannte I-Zulage konnten sich in den vergangenen Jahren konkurrenzfähige und innovative Unternehmen ansiedeln und entwickeln. Mein Dank gilt den vielen, die bereit waren und auch weiterhin bereit sind, sich in diesen Regionen so stark zu engagieren. Dabei wurden viele Arbeitsplätze geschaffen, die auch zukünftig den Menschen dort eine Perspektive bieten. Doch der unglaubliche wirtschaftliche Umwälzungsprozess seit 1989 hat mehr Arbeitsplätze gekostet, als bisher aufgefangen werden konnten. Deshalb ist eine Fortführung dieses so erfolgreichen Instrumentes unabdingbar und wurde im Koalitionsvertrag bereits festgeschrieben. ({0}) Der heute einzubringende Gesetzentwurf dient der Schaffung einer Nachfolgeregelung für das auslaufende Gesetz. Er soll die Investitionszulage auf hohem Niveau über 2006 hinaus bis Ende 2009 festschreiben. Dabei können wir nicht unbeachtet lassen, dass die Anforderungen der Europäischen Kommission an die Beihilferegelungen gestiegen sind. Das ist auch gut so; denn es ist wichtig, die Rentabilität verschiedener Instrumente von Zeit zu Zeit zu überprüfen. Nur so kann verhindert werden, dass ein einst durchaus notwendiger Einsatz verschiedener Mittel und Wege im Laufe der Zeit nicht nur nutzlos, sondern im Extremfall sogar kontraproduktiv wird. Im Fall der Investitionszulage ist das derzeit aber nicht der Fall. Unsere reale wirtschaftliche Situation vor Ort hat sich doch nicht verbessert, nur weil Regionen, denen es noch schlechter geht, neu in die Europäische Union dazugekommen sind. Das mag ja in Statistiken abstrakt so darstellbar sein; in der Realität haben die Menschen aber nichts davon. Daher bin ich sehr froh, dass in diesem Punkt ein Kompromiss mit der Europäischen Kommission gefunden werden konnte. Mein Dank gilt an dieser Stelle auch unserem deutschen EU-Kommissar, Günter Verheugen, der in Brüssel ein verlässlicher Partner ist, wenn es um die Wahrung deutscher Interessen geht. ({1}) Dennoch: Beihilfen werden von Brüssel generell misstrauisch beäugt, egal in welchem Land sie gewährt werden. Deshalb ist es wichtig, vor Ort sehr verantwortungsbewusst mit diesem Instrument umzugehen. Denn negative Fälle, die auch zu Rückzahlungen führen, werden nur zu gern als Beispiel für die Nichtzweckmäßigkeit dieser Regelungen angeführt. Die Begehrlichkeiten auf das Geld aus Brüssel sind überall groß. Den Unternehmen bringt es nichts, wenn sie Gelder für Investitionen, die von vornherein als nicht förderfähig gelten, für sich dennoch in Anspruch nehmen und diese dann wieder zurückzahlen müssen. Dies ist oftmals mit einem langen Rechtsstreit verbunden, der zusätzliche Kosten für die betroffenen Unternehmen verursacht. Doch das sind nur sehr wenige Ausnahmen, die in keinem realen Verhältnis zu den vielen positiven Beispielen stehen. Wir brauchen in den neuen Ländern weiterhin die Investitionsförderung zum Aufbau einer stabilen Wirtschaft. Dieses Anliegen wird auch von vielen gesellschaftlichen Gruppen wie Wirtschaftverbänden und Gewerkschaften massiv unterstützt. Das ist auch gut so; denn eine verlässliche Wirtschaftsförderung schafft Vertrauen in Deutschland und in die EU. Deshalb soll die Förderung betrieblicher Investitionen in Betrieben des verarbeitenden Gewerbes und bestimmter produktionsnaher Dienstleistungen in den Jahren 2007 bis 2009 im Rahmen dieser Gesetzesinitiative fortgesetzt werden. Dabei stehen natürlich die eben genannten Bereiche im Vordergrund. Ein großer Erfolg ist es aber, dass erstmalig auch das Beherbergungsgewerbe in den Genuss dieses Förderinstrumentes kommen kann. Für viele Regionen in den neuen Ländern ist das besonders wichtig, weil sich durchaus tragfähige Konzepte im Bereich des Tourismus als Wirtschaftskraft entwickeln lassen. Das gilt meist für Gegenden, wo es in absehbarer Zeit nicht zu einem Aufbau anderer Wirtschaftsbereiche kommen wird. Damit sollen die Chancen der geförderten Regionen im Wettbewerb um Ansiedlungen weiter gestärkt und bestehende Standortnachteile vermindert werden. Gerade auch in Grenzgebieten ist das nach wie vor ein wichtiger Punkt. Ich komme aus Sachsen - zwei Außengrenzen zu neuen Mitgliedern in der EU! - und weiß, wie schwer es in diesen grenznahen Räumen schon jetzt ist, den Menschen eine wirtschaftliche Perspektive zu gewähren. Wir brauchen aber positive wirtschaftliche Entwicklungen, damit Menschen auf der Suche nach Arbeit und einer lebenswerten Infrastruktur nicht ihre Heimat verlassen müssen. Eines bedingt dabei das andere: Eine Ausdünnung der Bevölkerung hat zur Folge, dass auch das gesellschaftliche Umfeld abgebaut wird. Schulschließungen, weniger Kulturangebote, weitere Wege usw. sind dabei häufig die Folge und machen Regionen unattraktiv. Das hat wiederum zur Folge, dass sich Menschen dort nicht ansiedeln oder weiter weggehen. Daraus folgt, dass dort keine Unternehmen angesiedelt werden, weil ein Fachkräftemangel herrscht. Diese Spirale muss aufgehalten werden. Ein Mosaiksteinchen dabei ist das Förderinstrument der Investitionszulage. Ich weiß, dass durch das Auslaufen des alten Gesetzes bis zum In-Kraft-Treten des jetzt vorgelegten Entwurfes eine Förderlücke entstanden ist. Unser Ziel war es daher, eine einvernehmliche Lösung mit Brüssel zu erreichen, mit der diese Lücke möglichst geschlossen werden kann. Leider konnte diesbezüglich nur ein Kompromiss erreicht werden. Immerhin bestand man nach intensiven Verhandlungen nicht auf der eingetretenen Lücke von zwölf Monaten. Die weitere Förderung ist jetzt bereits vom Tag der Verkündigung des Gesetzes an möglich. Das heißt, je eher dieses Gesetz verabschiedet wird, umso eher - bereits im Jahr 2006 können wieder Förderungen nach dem Investitionszulagengesetz gewährt werden. Daher sollten wir diesen Gesetzentwurf so schnell wie parlamentarisch möglich beraten und gemeinsam verabschieden. Denn die Investoren stehen weiterhin in den Startlöchern. Es liegt nun an uns, den Startschuss so schnell wie möglich abzufeuern. Vielen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort der Kollege Christian Ahrendt.

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch die FDP-Fraktion wird der Verlängerung der Investitionsförderung im Rahmen des Investitionszulagengesetzes zustimmen. Ich darf daran erinnern, dass wir dieses Gesetz 1997 zusammen mit der CDU/CSUFraktion, damals noch in Regierungsverantwortung, auf den Weg gebracht haben. Dieses Gesetz ist auch heute noch ein zentraler und vor allem verlässlicher Bestandteil der Förderung vor allen Dingen kleiner und mittelständischer Unternehmen in den neuen Bundesländern. ({0}) Besonders freut mich natürlich, dass die Förderung des Beherbergungsgewerbes Eingang in das Investitionszulagengesetz gefunden hat. Der Tourismus in den neuen Bundesländern, besonders aber der Tourismus in Mecklenburg-Vorpommern ist ein bedeutender Wirtschaftszweig, den es auch in Zukunft nachhaltig zu fördern gilt. ({1}) Wir müssen aber an dieser Stelle die Frage stellen, warum es nach 16 Jahren deutscher Einheit noch erforderlich ist, über ein Investitionszulagengesetz zu sprechen. Wir können zunächst feststellen, dass sich die Situation der mittelständischen Unternehmen in den fünf neuen Bundesländern trotz aller Widrigkeiten deutlich verbessert hat. Die Unternehmen sind heute breiter und wirtschaftlich robuster aufgestellt. Sie sind innovativ und für die Zukunft gut gewappnet. Es gibt aber ein altes Problem - und ein neues Problem ist hinzugekommen -: Nach wie vor ist die mittelständische Landschaft in den neuen Bundesländern von Klein- und Kleinstunternehmen geprägt. Die Unternehmen sind kurz nach der Wende gegründet worden. Die Zeit des Aufschwunges haben sie genutzt, um ihre Existenzgründungsdarlehen zurückzuführen. Rücklagen konnten meist nicht gebildet werden. Dann kam ein langer wirtschaftlicher Abschwung. In dieser Zeit mussten Rücklagen, die dennoch gebildet werden konnten, für das wirtschaftliche Überleben eingesetzt werden. Ergibt sich nach dieser Situation eine neue wirtschaftliche Entwicklung, so fehlt gerade für Ersatz- und Erweiterungsinvestitionen das entsprechende Kapital, weil die Unternehmen aufgrund der kurzen Tradition, die sie haben, mit einer zu geringen Eigenkapitaldecke ausgestattet sind. Genau dort setzt die Investitionsförderung an, die zumindest die Rentabilität dieser Unternehmen über eine direkte Förderung verbessern kann. Hinzugekommen ist ein Problem, über das man sich sehr ernsthaft Gedanken machen muss: Wir haben eigentlich in ganz Deutschland festzustellen - auch wenn es die Unternehmen in den neuen Bundesländern besonders stark trifft -, dass sich die deutschen Geschäftsbanken nach der wirtschaftlichen Stagnation der letzten Jahre aus der Finanzierung des Mittelstandes vollständig zurückgezogen haben. ({2}) Die Investitionsförderung ist natürlich kein Ersatz für die fehlende Finanzierung des Mittelstandes. Sie ist aber zumindest ein Instrument, um die Kapitaldienstfähigkeit der kleinen und mittelständischen Unternehmen zu verbessern. Auch deshalb ist es sinnvoll, dem Entwurf des Investitionszulagengesetzes 2007 zuzustimmen. Drittens. An dieser Stelle - das muss man leider sagen - kann man die Regierung nicht besonders loben. ({3}) - Loben reicht schon? Es reicht aber nicht einmal zum normalen Loben. ({4}) Sie kennen den EU-Haushaltskompromiss, der im Dezember geschlossen wurde. Die Bundeskanzlerin ist für den EU-Haushaltskompromiss besonders gelobt worden. Tatsache ist, dass im Zeitraum 2007 bis 2013 in den neuen Bundesländern 5 Milliarden Euro Fördermittel fehlen, weil diese Mittel im EU-Fonds für regionale Entwicklung eingespart wurden. Der Bundesverkehrsminister hat in seiner Rede anlässlich der Vorstellung des Jahresberichtes zum Stand der deutschen Einheit verkündet, dass, wenn 1 Milliarde Euro in den Wirtschaftskreislauf eingespeist wird, rund 25 000 Arbeitsplätze geschaffen werden. In logischer Konsequenz heißt das im Grunde genommen nichts anderes, als dass durch die ausbleibende Einspeisung von 5 Milliarden Euro Fördergeldern im Zeitraum von 2007 bis 2013 in den neuen Bundesländern 125 000 Arbeitsplätze nicht geschaffen werden können. Auch vor diesem Hintergrund ist die Investitionszulage als wirtschaftliches Förderinstrument für die kleinen und mittelständischen Unternehmen wichtig. Aus diesem Grunde stimmen wir diesem Gesetzentwurf zu. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun für die Unionsfraktion der Kollege Manfred Kolbe. ({0})

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Koalitionsvertrag haben sich CDU, CSU und SPD verpflichtet, den Aufbau Ost fortzusetzen und alles zu tun, damit wir auch im Osten Deutschlands einen sich selbst tragenden Aufschwung erreichen. Die Reduzierung der Arbeitslosigkeit ist das zentrale Ziel des Aufbaus Ost. Deshalb wollen wir die Investitionsförderung überall dort fortsetzen, wo es darum geht, bestehende Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen. ({0}) Diesem Ziel dient auch das heutige Gesetzesvorhaben. Das Investitionszulagengesetz 2005 läuft Ende dieses Jahres aus. Im Koalitionsvertrag haben wir uns deshalb zur Fortführung der Investitionszulage und ihrer Konzentration auf wachstumsrelevante und arbeitsplatzschaffende Investitionen bekannt. Deshalb bringen wir heute den Entwurf eines Investitionszulagengesetzes 2007 ein. Herr Kollege Hettlich, an dieser Stelle können auch Sie klatschen; denn die Unternehmer in unserem Wahlkreis Torgau-Oschatz warten auf diese Investitionszulage. Ich bitte um heftigen Applaus! ({1}) Die Investitionszulage ist ausdrücklich zu begrüßen. Die wirtschaftliche Entwicklung in den östlichen Ländern - das ist schon teilweise angeklungen - hat viele Erfolge gezeitigt, verlief in den letzten Jahren aber teilweise enttäuschend. Die Wachstumsraten liegen seit 1998 unterhalb des gesamtdeutschen Durchschnitts. Das wird, folgt man den jetzigen Prognosen, 2006 bedauerlicherweise nicht anders sein. Die Zahl der Erwerbstätigen ging seit 1998 von knapp 6 Millionen auf knapp 5,6 Millionen zurück. Die Arbeitslosenquote ist im Schnitt im Osten Deutschlands leider immer noch doppelt so hoch wie im Westen Deutschlands. Die Abwanderung ist nach wie vor unser größtes Sorgenkind. Jedes Jahr verlieren die östlichen Bundesländer im Saldo rund 50 000, zumeist junge Menschen. Handeln tut Not! Deshalb bringen wir diesen Entwurf eines Investitionszulagengesetzes 2007 ein. Da nach Art. 87 des EG-Vertrages staatliche Beihilfen an Unternehmen mit dem Gemeinsamen Markt nur ausnahmsweise vereinbar sind, muss sich das Investitionszulagengesetz 2007 strikt am europarechtlichen Rahmen orientieren. Dieser Rahmen steht seit dem 4. März dieses Jahres fest. Es sind die „Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung 2007 bis 2013“. Das Bundesfinanzministerium hat rasch gehandelt und eine Formulierungshilfe vorgelegt. Wir bringen heute einen Gesetzentwurf ein. Lassen Sie mich ihn kurz skizzieren. Fördergebiet sind nach wie vor die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und mit Einschränkungen Berlin. Begünstigte Investitionen sind Erstinvestitionen, die mindestens fünf Jahre zum Anlagevermögen eines Betriebes des verarbeitenden Gewerbes, der produktionsnahen Dienstleistungen oder des Beherbergungsgewerbes gehören. Erstinvestitionen oder Erstinvestitionsvorhaben - das ist der neue zentrale Begriff der Leitlinien der EU 2007 - 2013 - sind die Errichtung einer neuen Betriebsstätte, die Erweiterung einer bestehenden Betriebsstätte, die Diversifizierung der Produktion und die Vornahme einer grundlegenden Änderung des gesamten Produktionsverfahrens. Bei kleinen Betrieben - das sage ich hier ausdrücklich - kann ein Erstinvestitionsvorhaben auch die Herstellung oder Anschaffung lediglich eines einzigen Wirtschaftsgutes sein. Die Investition muss dann fünf Jahre im Betrieb verbleiben, womit dem Nachhaltigkeitsfaktor Rechnung getragen ist. Begünstigte Wirtschaftszweige sind wie bisher das verarbeitende Gewerbe, die produktionsnahen Dienstleistungen und neu hinzugekommen das Beherbergungsgewerbe. Nicht mehr begünstigt sind Leasingunternehmen. Das Wirtschaftsgut muss jetzt im eigenen förderfähigen Betrieb verwendet werden. Das ist sicherlich eine richtige Einschränkung gegenüber dem alten Investitionszulagengesetz. Investitionszeitraum ist die Zeit nach dem Tage der Verkündung des vorliegenden Gesetzes - voraussichtlich wird das, wenn wir uns alle beeilen, Mitte Juli dieses Jahres sein - bis zum 31. Dezember 2009, also ungefähr dreieinhalb Jahre. Allerdings sind Erstinvestitionen, mit denen vor dem Tag der Verkündung begonnen wurde, auch dann förderfähig, wenn hierfür eine Genehmigungsentscheidung der EU-Kommission vorliegt. Der Fördersatz beträgt nach wie vor grundsätzlich 12,5 Prozent der Bemessungsgrundlage, in Randgebieten 15 Prozent und bei kleinen und mittleren Unternehmen 25 bzw. 27,5 Prozent. Das Finanzvolumen ist beachtlich. Die gesamten Investitionszulagen sollen im Jahr 2008 350 Millionen Euro, 2009 580 Millionen Euro, 2010 ebenfalls 580 Millionen Euro und 2011 noch 230 Millionen Euro betragen. Da der durchschnittliche Fördersatz bei ungefähr 20 Prozent liegt, heißt das, dass wir damit Investitionen im Osten Deutschlands im Gesamtvolumen von insgesamt 10 Milliarden Euro anstoßen. Das ist keine Kleinigkeit. Lassen Sie mich abschließend auf die Förderlücke eingehen, die auch von einer Vorrednerin angesprochen wurde. Förderlücken liegen in der Natur unserer Investitionszulagengesetze, da diese periodisch für einen bestimmten Förderzeitraum gelten. Natürlich können dann an den Schnittstellen Förderlücken auftreten. Wir müssen aber, um die Unternehmen nicht zu verunsichern, ganz genau hinschauen, wo eine Förderlücke besteht und wo nicht. Drei Konstellationen sind zu unterscheiden: Erstens. Unternehmer, die ihr Investitionsvorhaben noch in diesem Jahr beginnen, können alle bis zum Ende dieses Jahres beendeten Einzelinvestitionen noch nach dem Investitionszulagengesetz 2005 geltend machen. Für sie tritt also keine Förderlücke ein. Allerdings trifft das nicht für das Beherbergungsgewerbe zu, weil es nur im neuen Investitionszulagengesetz 2007 begünstigt ist. Zweitens. Unternehmer, die ihr Investitionsvorhaben nach dem Tag der Verkündung des neuen Investitionszulagengesetzes 2007 beginnen - ich sagte schon, dass das etwa Mitte 2006 sein wird -, können alle noch in 2006 beendeten Investitionen nach dem Investitionszulagengesetz 2005 und alle ab 2007 beendeten Investitionen nach dem Investitionszulagengesetz 2007 geltend machen. Also auch in diesem Fall besteht keine Förderlücke. Drittens. Eine Förderlücke besteht nur dann, wenn ein Unternehmer jetzt, noch vor dem Tag der Verkündung des Investitionszulagengesetzes 2007, mit dem Investitionsvorhaben und den ersten Einzelinvestitionen beginnt und weitere Einzelinvestitionen erst im Jahre 2007 beendet. Dann sind diese weiteren Einzelinvestitionen im Jahr 2007 nicht förderfähig, es sei denn, eine Genehmigungsentscheidung der EU liegt vor. Hier gilt der „umgekehrte Gorbatschow“: Wer zu früh investiert, den bestraft das Investitionszulagengesetz! Dies trifft allerdings nur auf diesen einen besonderen Fall zu. Darauf ist sorgfältig zu achten, um keine Verunsicherung zu schaffen. ({2}) - Dazu sind wir als nationaler Gesetzgeber allein nicht in der Lage, verehrter Herr Kollege. ({3}) Aber Sie können uns dabei behilflich sein, den Nachteil einzugrenzen, indem Sie dazu beitragen, dass wir diesen Gesetzentwurf möglichst schnell verabschieden können; ({4}) denn die Förderlücke wird umso geringer sein, je zügiger wir diesen Gesetzentwurf verabschieden. Unser Zeitplan sieht vor, dass die Behandlung im Ausschuss noch im Mai dieses Jahres stattfindet. Die zweite und dritte Lesung des Gesetzentwurfs könnte am 1. Juni durchgeführt werden. Der Bundesrat könnte dann am 7. Juli entscheiden. Die Verkündung des Gesetzes wäre Mitte Juli 2006 möglich. Wir alle sollten daran mitwirken, dass das gelingt. Wenn auch die Oppositionsfraktionen ihren Beitrag dazu leisten, ist das umso besser. Vielen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Roland Claus für die Fraktion Die Linke. ({0})

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will mich an einen Grundsatz der alten griechischen Rednerschulen halten, der da heißt: Lobend beginnen, kritisch ausführen, optimistisch enden. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass das Investitionszulagengesetz die Fortsetzung der Investitionsförderungen ab dem Jahre 2007 regelt. Das nützt vorrangig den neuen Bundesländern. An meinen Vorredner gewandt, kann ich für meine Fraktion ganz ausdrücklich eine zügige Behandlung dieses Gesetzentwurfes zusagen. In ihm werden neue EU-Vorgaben berücksichtigt. Das geschieht vor dem Hintergrund - auch das dürfen wir, wie ich finde, nicht ausblenden -, dass die wichtigsten wirtschaftspolitischen Indikatoren verdeutlichen, dass die Schere zwischen Ost und West seit dem Jahre 1997 leider wieder auseinander geht. Anerkennenswert, lobenswert und gut finden wir Folgendes: Zunächst einmal wird in diesem Gesetz der Förderbedarf im Osten anerkannt. Das ist nicht unwichtig. Ich habe schon ein bisschen über den Kollegen von der FDP gestaunt, der das Vorhaben unterstützt hat. Ich komme nämlich gerade aus den Beratungen des Haushaltsausschusses. Dort stellt Ihre Fraktion, verehrter Kollege, pausenlos Anträge auf Kürzung der Wirtschaftsförderung Ost. Das können wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({0}) Das Gesetz zielt - auch das ist unterstützenswert - auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Erhaltung vorhandener Arbeitsplätze. Dabei geht es insbesondere um die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen. Dabei handelt es sich um einen Rechtsanspruch und nicht um einen Bewilligungstatbestand. Das ist gerade für kleine Unternehmen, die sich im Förderdschungel oft nicht zurechtfinden, ein wichtiger Schritt. Zudem ist der Verwaltungsaufwand als relativ gering eingeschätzt worden. Bemerkenswert finden wir die Aufnahme der - ich sage das verkürzt - Tourismusförderung. Die rot-rote Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern hat das ausdrücklich begrüßt und zum Teil als Erfolg ihres Bemühens um die Förderung dieses Bereichs verstanden. Darüber hinaus sind wir der Auffassung, dass Sie den EU-Rechtsrahmen ziemlich weit ausgeschöpft haben. Das ist, wenn man das optimal machen will, ziemlich schwierig, wie wir alle wissen. Hier endet das Lob der Opposition. Nun zu unserer Kritik: Sie bleiben bei der Pflicht stehen und wagen sich nicht an die Kür. Ihre Pflicht ist es deshalb, weil Sie sich im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet haben. Sie kamen also nicht darum herum, hier aktiv zu werden, zumal Sie das den Ost-Ministerpräsidenten auf der letzten Ost-Ministerpräsidentenkonferenz in Halle an der Saale auch versprochen haben. Gelegentlich ist es nötig, daran zu erinnern, dass Fördermittel nicht von den Bezügen der Minister abgespart, sondern nach wie vor aus Steuergeldern gezahlt werden. ({1}) Von denjenigen, die Fördersätze von 12 oder 15 Prozent - zum Teil sind sie noch höher - in Anspruch nehmen wollen, wird noch immer ein recht hohes Maß an Eigenkapital vorausgesetzt, das, wie wir wissen, gerade in den neuen Bundesländern nur selten vorhanden ist. Mit diesem Gesetz führen Sie einen Passus neu ein, der da heißt, dass auch solche Unternehmen gefördert werden, die mit Unternehmen verbunden sind, die im Fördergebiet ansässig sind. Da wird mir um meinen Wahlkreis Naumburg/Weißenfels nicht bange, weil jeder die Story von Rotkäppchen und Mumm kennt. Aber wenn man sich den Regelfall vor Augen führt, muss man an dieser Stelle einige Bedenken anmelden. Ich will ausdrücklich sagen: Auch wenn wir uns vehement für die weitere Förderung der Interessen der neuen Bundesländer einsetzen - Mitnahmeeffekte bei der Verlagerung von Betrieben aus den westlichen in die östlichen Bundesländer unter Vernichtung von Arbeitsplätzen in westlichen Bundesländern stehen nicht auf unserer politischen Agenda und werden von uns kritisiert. ({2}) Wir finden, dass die Industrieforschung fehlt. Wir werden Sie, wie Sie in den Haushaltsberatungen sehen werden, weiter mit unserem Vorschlag behelligen, eine kommunale Investitionspauschale in Höhe von 1,5 Milliarden Euro einzuführen; das ist nicht mit diesem Gesetz zu lösen. Wir finden es bedauerlich, dass unlängst im Ältestenrat unserem Antrag nicht gefolgt wurde, einen Bundestagsausschuss für die Angelegenheiten der neuen Länder und für strukturschwache Gebiete in westlichen Bundesländern einzusetzen. Wir möchten Sie daran erinnern, dass Sie sich in Ihrem Koalitionsvertrag unter dem Stichpunkt „Aufbau Ost“ verpflichtet haben, Mitte des Jahres 2006 neue Kreditbedingungen für Risiko- bzw. Wagniskapital zu schaffen, die den Unternehmen zugute kommen sollen. Bei aller Anerkennung dieses Gesetzentwurfes muss ich sagen: Was die Koalition gut und richtig macht, das macht sie notgedrungen und halbherzig - was Koalition und Regierung schlecht machen, wie die Erhöhung der Mehrwertsteuer und die Privatisierung der Bahn, das macht sie mit sehr viel mehr Power. Wir würden nicht in Ehrfurcht erstarren, wenn das umgekehrt wäre; aber schon ein Schritt in die richtige Richtung wäre gut. Vielen Dank. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Peter Hettlich für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Peter Hettlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003554, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich habe schon vor einigen Wochen in der Debatte zum Stand der deutschen Einheit gesagt: Wir halten die Verlängerung der Geltungsdauer des Investitionszulagengesetzes für einen Fehler und werden den Gesetzentwurf in dieser Form ablehnen. Um der Legendenbildung vorzubeugen - der Kollege Kolbe hat ja schon angedroht, mich in meinem Landkreis Torgau-Oschatz anzuschwärzen -: Wir sind nicht gegen die Förderung von Investitionen in Ostdeutschland; aber wir sind für eine effiziente und vor allem Fehlallokationen vermeidende Investitionsförderung. ({0}) - Manfred, machen wir es später; lass mich erst einmal anfangen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Heißt das, dass Sie die Zwischenfrage jetzt nicht genehmigen?

Peter Hettlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003554, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe fünf Minuten Redezeit; das ist wirklich sehr knapp. Das Ziel, das ich eben definiert habe, ({0}) wird mit der Investitionszulage nach dem Investitionszulagengesetz verfehlt; das ist ganz klar. Deshalb können wir dem Gesetzentwurf in dieser Form nicht zustimmen. Ich weiß mich damit auf der sicheren Seite, was die Fachleute angeht. Schauen Sie sich an, was die wirtschaftswissenschaftlichen Institute erklären, schauen Sie sich die Fortschrittsberichte an, zum Beispiel das Jahresgutachten 2004/05 des Sachverständigenrates - ich zitiere -: Der Sachverständigenrat hat sich wiederholt für ein Auslaufen des Investitionszulagengesetzes ausgesprochen … Problematisch ist insbesondere, dass auf diese Zulage ein Rechtsanspruch besteht und vergleichsweise hohe Mitnahmeeffekte ausgelöst werden. Sinnvoll wäre demgegenüber eine einzelfallbezogene und regionalpolitischen Zielen entsprechende Investitionsförderung. Dem muss ich nichts hinzufügen. ({1}) Dennoch heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfs - ich zitiere -: Mit der Investitionszulage sollen die Unternehmen gezielt unterstützt werden, um in Ostdeutschland neue Investitionen zu tätigen, die dazu beitragen, die Wirtschaftskraft zu stärken und Arbeitsplätze zu schaffen, um der Abwanderung und der hohen Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken. Jetzt frage ich mich: Haben Sie die Gutachten nicht gelesen? Haben Sie sie nicht zur Kenntnis genommen? Oder sagen Sie wider besseres Wissen etwas anderes? Warum soll man über die I-Zulage Unternehmen gezielter fördern können? Das lässt sich für mich nicht nachvollziehen, auch nicht anhand der Begründung in Ihrem Gesetzentwurf. Wir sagen ganz deutlich - ich habe es immer wieder gesagt -: Die Gemeinschaftsaufgabe Ost, „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, ist das bessere Instrument; das bestätigen uns alle wissenschaftlichen Institute. Es ist gezielter, es ist eine regional abgestimmte Wirtschaftsförderung, es schafft nachweislich mehr Arbeitsplätze - schauen Sie sich die Berichte an - und es ist vor allen Dingen unproblematisch, was das Beihilferecht der EU angeht, weil es in diesem Korsett bereits abgesegnet ist. Die Gemeinschaftsaufgabe Ost - das hat der Kollege Claus eben wieder gesagt - ist jedoch laufend bedroht: Jedes Jahr, in schöner Regelmäßigkeit, wird darüber diskutiert, wie wir diese Mittel weiter kürzen können; auch dieses Jahr drohte dies wieder am Horizont. In letzter Minute hat man noch einmal die Kurve gekriegt. Ich kenne jetzt nicht den letzten Stand des Haushaltsausschusses; aber ich hoffe, dass es zumindest bei den zugesagten Mitteln bleibt. Die Gemeinschaftsaufgabe Ost, dieses erfolgreiche Instrument, ist immer wieder bedroht. Wir sollten uns an unsere eigene Nase fassen und sollten uns an dieser Stelle zu diesem erfolgreichen Instrument bekennen. ({2}) Ich weiß auch, warum das so ist; das wurde eben schon von einem Vorredner gesagt. Hierbei spielt die Kofinanzierung durch die Länder eine entscheidende Rolle. Über die Kofinanzierung müssten wir eigentlich einmal eine gesonderte Debatte führen. Ich habe Ministerpräsident Böhmer vor sechs oder sieben Wochen gesagt: Bei der Frage, woher die Mittel kommen, bin ich zu vielen Schandtaten bereit. Aber nur mit der Begründung, man müsse kofinanzieren, ein Gesetz voranzubringen, das aus meiner Sicht wirklich schlechtere Effekte hat, halte ich nicht für vertretbar und halte ich für unverantwortlich, gerade auch, weil wir Steuergelder effizient verwenden müssen. Zum Thema EU-Vorbehalte - dieser Punkt wurde schon vorhin angesprochen -: Ein Teil des Gesetzes tritt erst dann in Kraft, wenn die EU die entsprechenden beihilferechtlichen Aspekte überprüft hat. Ich als Verkehrspolitiker, der ich ja auch bin, kann mich sehr gut daran erinnern, dass wir uns im Zusammenhang mit der LKWMaut mit der Frage der Kompensation für die Logistikunternehmen beschäftigt haben. Bis heute haben wir hierzu im Prinzip keine Entscheidung getroffen. Das heißt, dass es, wenn wir dieses Gesetz jetzt mit den bestehenden Vorbehalten verabschieden, durchaus sein kann, dass wir in den nächsten drei Jahren keine Entscheidung der EU-Kommission bekommen. Was machen Sie dann mit diesem Teil des Gesetzes? Ich finde das unverantwortlich. Das ist nicht das, was ich unter Investitionssicherheit und vor allem unter Vertrauensschutz für die Unternehmen verstehe, die möglicherweise in den nächsten Jahren Investitionen in Ostdeutschland tätigen werden. Das Gesetz ist auch in diesem Punkt nicht der Weisheit letzter Schluss. Wir fordern daher, dass die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe Ost um die Summe, die im Investitionszulagengesetz eingestellt ist, erhöht werden, also um etwa 250 Millionen bis 300 Millionen Euro. Das müssen wir einmal überdenken. Das hat sehr viel Charme; denn dann müssten wir nur den Haushaltstitel entsprechend erhöhen, brauchten kein Gesetz zu verabschieden und hätten das Problem des EU-Beihilferechts bei der Gelegenheit auch noch umgangen. Ich will noch auf einen weiteren Aspekt zu sprechen kommen - auch diesen hat der Kollege Claus schon genannt: Es gibt keine Initiativen zu der Frage der Unternehmensfinanzierung, zu der Frage, wie wir Start-ups in Ostdeutschland finanzieren, oder zu der Frage, wie es mit dem Risikokapital weitergeht. Das Problem in Ostdeutschland ist, dass viele Unternehmer gar keine Investitionszulage in Anspruch nehmen können, weil sie es nicht schaffen, die Gründungsphase zu überstehen. Ich kann abschließend nur sagen: Sie haben versprochen, gezielter zu fördern. Was haben Sie gemacht? Sie haben aus dem Keller die Gießkanne hervorgeholt. Ich fordere Sie auf: Räumen Sie diese schnell wieder weg. Noch ist es nicht zu spät. Wir haben bis zum Sommer Zeit. Vielleicht sehen Sie es ein und arbeiten gemeinsam mit uns an der Initiative weiter, die Gemeinschaftsaufgabe zu stärken. Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Garrelt Duin für die SPD-Fraktion. ({0})

Garrelt Duin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003751, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn folgende Bemerkung machen: Ich habe im „Kürschner“ nachgesehen, woher die Rednerinnen und Redner, die zu diesem Tagesordnungspunkt sprechen, kommen. Mir ist aufgefallen, dass ich der einzige Redner bin, der nicht aus einem der neuen Länder kommt. Lassen Sie uns die Aufgabe Aufbau Ost bitte auch künftig als gesamtdeutsche Aufgabe begreifen. Sorgen wir dafür, dass dieses Thema nicht nur einem Teil Deutschlands überlassen wird und gesagt wird: Seht zu, wie ihr damit fertig werdet. - Es ist und bleibt eine Aufgabe für das gesamte Haus und für die Vertreter aus allen Regionen. ({0}) In den vergangenen 16 Jahren hat in den neuen Ländern ein umfassender Modernisierungsprozess stattgefunden. Das konnten wir miterleben. Aber wir müssen feststellen, dass dort trotz aller Anstrengungen noch nicht eine solche Wirtschaftskraft erreicht wurde, die für eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung ausreichen würde. Die industrielle Basis ist nach wie vor zu schwach. Die Investitionsdynamik der ostdeutschen Wirtschaft lässt nach; das ist von meinen Vorrednern schon angesprochen worden. Der zentrale Punkt ist: Noch immer finden zu wenige Menschen Arbeit und zu viele Menschen haben keine Arbeit. Nur durch weitere neue Investitionen kann dazu beigetragen werden, neue und sichere Arbeitsplätze zu schaffen und die Wirtschaft zu stärken. Investitionen sind deswegen enorm wichtig. Um es anders zu sagen: Geld in die Hand zu nehmen, ist enorm wichtig. Das wollen wir als große Koalition machen. Die Ansiedlung neuer Unternehmen, der Bau von Technologiezentren und vieles andere mehr - der wirtschaftliche Aufschwung der neuen Bundesländer wäre ohne öffentliche Gelder so nicht möglich. Insbesondere die Gewährung von Investitionszuschüssen durch Bund und Länder hat zahlreiche Unternehmensgründungen und damit die Schaffung neuer Arbeitsplätze erst möglich gemacht. Es geht darum, die ostdeutschen Regionen entsprechend ihrem eigenen Profil wirtschaftlich zu entwickeln. Regionalentwicklung ist nicht das Resultat, sondern Teil der wirtschaftlichen Entwicklung. Im Mittelpunkt der Politik müssen deshalb die regionalen Potenziale und Fähigkeiten stehen. Diese gilt es auszubauen und die regionalen Stärken zu verbessern. Gerade im Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten kann sich regionales Selbstbewusstsein entwickeln. Hier muss die Politik ansetzen. Jede Region hat Stärken, sei es in der Erzeugung und Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte, sei es im Maschinenbau, sei es in der umweltfreundlichen Energieerzeugung, sei es im Tourismus, sei es im Logistikbereich, sei es im traditionellen Handwerk. Das geltende Investitionszulagengesetz läuft aus. Uns war aber bewusst: Die Förderung von betrieblichen Investitionen in den ostdeutschen Ländern durch eine Investitionszulage ist weiterhin dringend nötig. Sie ist eines der zentralen Instrumente zur Förderung des Aufbaus der ostdeutschen Wirtschaft. Die Fortsetzung der Geltungsdauer der Investitionszulage haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart; darauf ist schon hingewiesen worden. In Genshagen haben wir das konkretisiert. Ganz im Sinne der Europäischen Kommission wird in diesem Gesetzentwurf die Förderung von kleinen und mittleren Betrieben im Fördergebiet intensiviert. Erstinvestitionen werden in den Bereichen unterstützt, die die Konjunktur- und Wachstumsmotoren in den neuen Ländern darstellen. Wir sind froh darüber, dass auch der Bereich des Tourismus hier Eingang gefunden hat. Der Tourismus hat sich in vielen Regionen Ostdeutschlands zu einem starken und erfolgreichen Wirtschaftsfaktor entwickelt. Wir wollen mit der Aufnahme von Hotelleriebetrieben usw. dazu beitragen, das touristische Potenzial Ostdeutschlands weiter zu stärken. ({1}) Herr Hettlich, mit der Investitionszulage und den Investitionszuschüssen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe steht ein insgesamt bewährtes Förderinstrumentarium zur Verfügung. Es geht nicht um ein Entwederoder. Vielmehr brauchen wir einen Mix der verschiedenen Instrumente und nicht nur eines. ({2}) Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Fördermaßnahmen, die nicht investive Zwecke verfolgen, zum Beispiel die Innovationsförderung und die Förderung der Netzwerkbildung. Auch diese helfen mit, die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und Regionen zu erhöhen. Es ist schon davon gesprochen worden, dass es von größter Wichtigkeit ist, das Verfahren hier im Hause und im Bundesrat jetzt so rasch wie möglich durchzuführen, damit möglichst zügig Rechtssicherheit für die Investoren geschaffen wird und keine zusätzliche Lücke die nötigen Investitionen in die Wirtschaft der neuen Länder unterbricht. Nach dem Beitritt der relativ wirtschaftsschwachen zehn osteuropäischen Staaten zur EU sind die ostdeutschen Bundesländer zudem in eine schwierige Lage geraten. Es ist wichtig, dass Ostdeutschland in diesem Zusammenhang nicht ins Hintertreffen gerät. Dies hat Brüssel mit der Gewährung von Beihilfen anerkannt, trotz großer Widerstände. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, sprechen Sie noch einmal mit Ihren Kolleginnen und Kollegen in Brüssel! Ich selber war dort fünf Jahre, bis zum Herbst des vergangenen Jahres, Abgeordneter. Der Widerstand, der dort insbesondere von der liberalen Fraktion gegen jede Form von Beihilfe gezeigt wird, ist gerade in diesem Punkt wirklich nicht hilfreich. Beim Investitionszulagengesetz wäre eine Solidarität, wie wir sie hier durchaus in Ansätzen erkennen können, in besonderem Maße notwendig. ({3}) Ich will abschließend grundsätzlich sagen, dass staatliche Beihilfe ein Schlüsselinstrument ist, das uns zur Förderung regionaler Entwicklung sowie echter Konvergenz zwischen den Ländern zur Verfügung steht. Sie bietet wichtige Anreize, wenn es darum geht, öffentliche Investitionen und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung zu fördern und im Übrigen auch dafür zu sorgen, dass in den am stärksten benachteiligten Regionen öffentliche Dienstleistungen erbracht werden. Nur so kann sozialer und wirtschaftlicher Zusammenhalt in unserem Land verwirklicht werden. Deswegen wollen wir diesen Vorschlag so einbringen. Eine letzte Bemerkung. Auch das ist gerade schon angesprochen worden: Wir haben es in Europa mit Betriebsverlagerungen zu tun. Wir müssen einen Wettlauf um die höchstmöglichen staatlichen Beihilfen verhindern. Herr Staatssekretär Hintze, es ist weiteres Tun auf der europäischen Ebene notwendig, um den Wettlauf um möglichst hohe staatliche Beihilfen in Europa einzudämmen. Wir erleben, dass es bei vielen Unternehmensverlagerungen um genau diese Frage geht. Die Menschen in Deutschland haben die Erwartung, dass auf europäischer Ebene eine entsprechende Antwort gefunden wird. Wenn das nicht gelingt, werden wir bei dieser Frage unglaubwürdig. Die große Koalition macht mit diesem Gesetz deutlich, dass die Wirtschaftsförderung in den neuen Bundesländern eine gesamtdeutsche Aufgabe ist. Wir lassen die Menschen dort nicht alleine, sondern wollen mit einem handlungsfähigen Staat, der investiert und die Wirtschaft fördert, weiter zum Gelingen beitragen. Vielen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat nun die Kollegin Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute beginnt die parlamentarische Debatte über die Verlängerung der Investitionszulage über den 31. Dezember 2006 hinaus. Gott sei Dank ist es in den Verhandlungen mit der Europäischen Union gelungen, neben den schon bisher geförderten Sektoren - verarbeitendes Gewerbe und produktionsnahe Dienstleistungen die Tourismusbranche in den förderungsfähigen Bereich aufzunehmen. Das ist für die neuen Länder gut und wichtig. Wer die Wachstumsquoten im Bereich Tourismus in den letzten 15 Jahren betrachtet, der sieht hier Chancen, in den neuen Ländern neue Arbeitsplätze und weiteres Wachstum zu generieren. Die Gutachten bestätigen immer wieder einen hohen Investitionsstau und ein Fehlen qualitativer Voraussetzungen in den neuen Ländern. Wir hoffen, mit der Ausweitung der Investitionszulage in diesem Bereich eine Lücke zu schließen. ({0}) Die Verlängerung der Investitionszulage ist schon vor dem heutigen Tag sehr lange diskutiert worden, sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik und unter den Sachverständigen, und zwar bei weitem nicht so einvernehmlich, wie es heute hier geschieht. Während sich die Unternehmen in den neuen Ländern schnell einig waren, dass auch über den 31. Dezember hinaus eine Förderung mit diesem Instrument erforderlich ist, plädieren Wissenschaftler schon seit längerem für ein Auslaufen und gegen eine Verlängerung. Herr Kollege Hettlich, Sie haben völlig Recht: Wir müssen uns mit diesen Bedenken beschäftigen. Wir können nicht ignorieren, dass sich sowohl das Institut für Wirtschaftsforschung Halle als auch der Sachverständigenrat gegen eine Verlängerung ausgesprochen haben. Die Investitionszulage ist ein breit angelegtes Förderinstrument. Es besteht die Gefahr, dass wegen der gesetzlichen Absicherung starke Mitnahmeeffekte entstehen, dass in Unternehmen investiert wird, die sich sowieso nicht am Markt halten können, und dass hier viel Geld für Investitionen, die durchaus auch ohne Fördermittel möglich wären, ausgegeben wird. ({1}) Auch der Sachverständigenrat hat in seinen Jahresgutachten 2004 und 2005 ausdrücklich für ein Auslaufen der Investitionszulage plädiert und sich für eine einzelfallbezogene und regionalpolitischen Zielen entsprechende Förderung ausgesprochen. Herr Kollege Hettlich, obwohl ich diese Argumente ernst nehme, komme ich zu einem anderen Ergebnis als Sie. Beide Wirtschaftsfachgremien fordern nicht die ersatzlose Abschaffung der Investitionszulage; beide sagen, man solle dieses Instrument aufschlüsseln und der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ zuschlagen. Unabhängig von diesen Gutachten tun wir gut daran, die Effektivität erneut zu prüfen, bevor wir 1,74 Milliarden Euro Steuergelder ausgeben. Wegen des gesetzlichen Anspruchs fällt dies zugegebenermaßen bei der Investitionszulage nicht leicht. Warum plädiere ich heute trotzdem für den vorliegenden Antrag auf Verlängerung der Investitionszulage? Warum halte ich die Auflösung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ nicht für den richtigen Weg? Herr Kollege, Sie haben die Diskussion über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ lange mitverfolgt. Wer schon ein wenig länger im Deutschen Bundestag ist, der kennt die Diskussion darüber im Haushaltsausschuss und weiß, dass die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe immer wieder gekürzt worden sind, und zwar um fast 30 Prozent in den letzten fünf Jahren. In jedem Haushaltsjahr haben wir Probleme, die Förderung auf dem bisherigen Niveau zu halten. Zu diesen Haushaltsvorbehalten kommt hinzu, dass die Gemeinschaftsaufgabe jeweils zur Hälfte vom Bund und von den Ländern zu tragen ist. Gerade wirtschaftsschwache Länder können aber häufig den Eigenanteil gar nicht erbringen, sodass auch die Bundesmittel wegfallen. Gerade in diesen Ländern wäre eine Wirtschaftsförderung ausgesprochen wichtig. Die Förderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe kann nur unter Haushaltsvorbehalt gewährt werden. Trotz der Verpflichtungsermächtigungen kommt es immer wieder zu der Situation, dass den Unternehmen gesagt werden muss: Wenn die Gelder zur Verfügung stehen, kann die Investition gefördert werden. So erhalten die Unternehmen keine hinreichende Sicherheit für ihre Investitionen. Deshalb sagt auch der Sachverständigenrat: Aus Sicht der ostdeutschen Länder rechnet sich die Investitionszulage besser als jede andere Förderung. Hier bin ich Thüringerin; das sage ich ganz offen. Als Thüringerin kann ich dem Stopp der Investitionszulage erst dann zustimmen, wenn ich gewiss sein kann, dass wir mit einer ähnlichen Sicherheit die gleiche Summe Geldes für den investiven Zweck in den neuen Ländern bekommen. Diese Sicherheit ist im Moment nicht gegeben. Ich plädiere mit Ihnen dafür, dass wir weiterhin versuchen sollten, diese Sicherheit zu erreichen. Ich bin auch gleichzeitig Mitglied der Föderalismuskommission und es ärgert mich natürlich schon, dass von 100 Euro Investitionszulage, die ein Unternehmen in meinem Bundesland erhält, genau 3 Euro thüringische Steuergelder sind. Die übrigen 97 Euro kommen über den Länderfinanzausgleich und Bundessonderergänzungszuweisungen. Das führt natürlich dazu, dass jeder Thüringer auf gar keinen Fall dem Stopp der I-Zulage zustimmen kann, solange nicht die Zahlung der 97 Euro, die unter anderem über den Länderfinanzausgleich kommen, in ähnlicher Weise sichergestellt wird. Ich plädiere dafür, dass wir heute die Zahlungsdauer der Investitionszulage bis 2009 verlängern. Das gibt uns Zeit, in der zweiten Runde der Föderalismusreform, die wir alle miteinander beschlossen haben und bei der wir uns mit den Finanzbeziehungen beschäftigen werden, ein Förderinstrument zu finden, durch das die Effektivität und die Treffsicherheit erhöht und den Ländern trotzdem die Sicherheit gegeben wird, dass dieses Geld tatsächlich bei ihnen ankommt. Ich bin gerne dabei und freue mich. Herr Hettlich, vielleicht haben wir hier ja ein gemeinsames Ziel. Ich bin froh, dass wir den Unternehmen erst einmal bis 2009 eine Sicherheit geben können. Beim künftigen Gesetzgebungsverfahren werde ich für meine Fraktion für diese Verlängerung stimmen. Danke. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 16/1409 in die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage soll abweichend von der Tagesordnung aus- schließlich gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen ({0}) - Drucksache 16/575 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Stalking-Bekämpfungsgesetzes - Drucksache 16/1030 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort für die Bundesregierung der Bundesministerin für Justiz, Brigitte Zypries.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Bei dem Thema Stalking gibt es inzwischen einen breiten Konsens in Deutschland. Das liegt nicht zuletzt daran, dass diese Problematik durch viele Veröffentlichungen bekannter geworden ist und dass viele Nachstellungen und Belästigungen, die es früher zwischen getrennten Paaren wahrscheinlich auch gab und die nicht als solche definiert waren, nun auf einmal einen Namen haben, und das liegt auch daran, dass sich inzwischen Forschungsgruppen dieses Themas angenommen haben. In Darmstadt, meinem Wahlkreis, wurde eine Untersuchung vorgelegt, die zeigt, dass überwiegend Männer stalken, dass es also auch beim Stalking dasselbe Phänomen wie ansonsten bei Gewaltdelikten im Strafrecht gibt, und dass - das ist besonders bedrückend für die Opfer - Stalkinghandlungen in der Regel circa zwei Jahre dauern. Das heißt, es ist ein relativ langer Zeitraum, in dem man beeinträchtigt und belästigt wird und in dem in einer Weise in das Leben eingegriffen wird, dass man gut verstehen kann, dass viele der Opfer sagen, sie müssten sich anschließend in psychiatrische Behandlung begeben. Die momentane Rechtslage ermöglicht es, etwas zu tun. Sie ermöglicht es den Opfern, sich vom Zivilgericht eine speziell auf ihren Fall zugeschnittene Verfügung zu holen. Bei Verstoß gegen diese Verfügung begeht der Täter eine Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft wird. Das haben wir alle übereinstimmend als zu wenig erachtet. Bei allen Schwierigkeiten im Hinblick auf die Ausgestaltung war deswegen immer klar: Der Strafrahmen muss angehoben werden, um diesen besonderen Unrechtsgehalt der Tat deutlich zu machen. Wie man das ansonsten formuliert, ist beim Stalking hinreichend schwierig; denn wir müssen genau bestimmen, ob sich jemand rechtmäßig auf öffentlichem Grund und Boden aufhält. Wenn beispielsweise jemand jeden Morgen gegenüber der Wohnung des Opfers auf der Straße wartet, steht er auf öffentlichem Grund und Boden und darf das zunächst einmal. Wann ist die Grenze zur Belästigung, zum Nachstellen, zum so genannten Stalking erreicht und wann wird dies strafrechtlich relevant? Diese Abgrenzung war schwierig. Deswegen hat die Debatte lange gedauert. Bereits in der letzten Legislaturperiode haben wir die rechtspolitische Diskussion über die Veränderung des Stalkingparagrafens begonnen. Wir konnten sie nicht mehr förmlich abschließen, weil die Legislaturperiode früher endete, als allgemein erwartet. Die Zeit, die wir dadurch gewonnen haben, haben wir aber genutzt. Gesetzentwürfe der Bundesregierung und des Bundesrates liegen vor. In den letzten Wochen haben wir gemeinsam mit den Rechtspolitikern dieses Hauses eine Formulierung gesucht, die sowohl vom Bundestag als auch vom Bundesrat getragen werden kann. Ich möchte mich an dieser Stelle sowohl bei den Ländern, insbesondere bei Ihnen, Frau Kollegin Merk, als auch bei den Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die sehr engagiert mitdiskutiert haben, wie auch bei dem Parlamentarischen Staatssekretär, der in diese Diskussionen involviert war, für diese sehr sachlichen, sachgerechten und konsensorientierten Gespräche herzlich bedanken. ({0}) Die Schwierigkeit war, das strafrechtlich Wünschbare und die eigenen Vorstellungen mit dem verfassungsrechtlich Machbaren und Vertretbaren zu verbinden. Es liegt in der Natur der Sache, dass kein Entwurf ohne auslegungsbedürftige Begriffe auskommt. Gleichwohl muss eben den Anforderungen des Bestimmtheitsgebotes genügt werden. Im Entwurf der Bundesregierung war vorgesehen: Es gibt klar definierte Straftatbestände, die Handlungen sind als Erfolgsdelikte konzipiert und eine Deeskalationshaft ist nicht vorgesehen. Damit hätten wir unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten mit Sicherheit jede Problematik ausgeschlossen. Aber im Zuge eines Kompromisses mit den weiter gehenden Vorstellungen aus dem Bundesrat haben wir Lösungen entwickelt, die den Wünschen des Bundesrates ein Stück weit entgegenkommen. Die vier sehr konkreten Handlungsalternativen, die wir in unserem Gesetzentwurf benannt haben, nämlich Verfolgung mittels Telekommunikation, Auflauern und Ähnliches, werden wir - das wollen wir wenigstens vorschlagen - um „andere vergleichbare Handlungen“ ergänzen. Damit stellen wir sicher, dass keine Strafbarkeitslücken entstehen. Insbesondere stellen wir in Anbetracht der sich rasant entwickelnden Technik sicher, dass durch die Weiterentwicklung durch Technik keine Lücken entstehen. Wer hätte vor einigen Jahren gedacht, dass es ein Stalking mittels SMS überhaupt geben kann? Durch diesen Auffangtatbestand meinen wir, dem Bestimmtheitsgebot zu genügen, weil wir die Handlungsalternativen zuvor näher konkretisiert haben und dadurch einen Bezug zu diesen konkreten Handlungen herstellen. Die Rechtsprechung muss dann herausarbeiten, was im Einzelfall eine „vergleichbare Handlung“ ist. Und: Wir knüpfen bei der Strafbarkeit nicht an eine potenzielle Gefährdung an. Auf besonderen Wunsch der Länder und auch der Union, wenn ich richtig informiert bin, wird es künftig auch Qualifikationstatbestände mit einem höheren Strafrahmen für die Fälle geben, in denen der Tod eintritt oder die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung entweder beim Opfer oder bei Angehörigen des Opfers besteht. Ich hatte eben schon gesagt, dass der Strafrahmen bisher bei einem Jahr lag. Künftig sollen dies drei Jahre sein. Bei schwereren, bei Qualifikationstatbeständen können dies künftig bis zu zehn Jahre werden. Im strafprozessualen Bereich wollen wir eine Erweiterung für die so genannte Deeskalationshaft erreichen. In einem Fall, der sich in Berlin zugetragen hat, hätte überlegt werden müssen, ob nicht die Deeskalationshaft das sachgerechte Mittel gewesen wäre, um auf diese Art und Weise einen Mord zu verhindern. Es ging um einen Fall von Stalking, der vor Gericht verhandelt wurde. Beim Verlassen des Saales hat der Mann die Frau erstochen. Ich kann den Fall nicht beurteilen, weil ich die reale Situation nicht kenne. Aber wenn gewaltförmiges Handeln absehbar ist, dann könnte man künftig in solchen extremen Fällen nach § 112 a StPO die Täter kurzfristig in Haft nehmen. Ich halte die dazu erreichten Lösungen für einen vernünftigen Kompromiss, der vor allem eine gesetzliche Regelung ermöglicht. Denn wir sind uns einig - das haben zahlreiche Gespräche mit Vertretern der Polizei bestätigt -, dass eine Regelung im Strafgesetzbuch vonseiten der Polizei für ausgesprochen wichtig gehalten wird. Das kann aber nicht der einzige Grund sein, weil er die Länder nicht davon enthebt, auch künftig zu berücksichtigen, dass für die praktische Bearbeitung dieser Fälle sowohl bei der Polizei als auch bei den Staatsanwaltschaften Fortbildungen durchgeführt werden müssen. Es kann nicht angehen, dass einem Stalking-Opfer, das sich bei der Polizei meldet, gesagt wird: „Er liebt Sie doch. Was wollen Sie denn?“ Ein positives Beispiel in diesem Zusammenhang ist Bremen, wo sowohl bei der Polizei als auch bei der Staatsanwaltschaft Schwerpunkteinheiten gebildet wurden, die Fortbildungen durchführen und psychologische Betreuung anbieten. In Berlin wird das ebenfalls gemacht. In diesen Ländern werden - abgesehen von den Opferhilfevereinen, die eine große Hilfe sind - Fachleute eingesetzt, die wissen, wie man mit einem Opfer redet. Aber wenn es um die Verfolgung einer Straftat geht, ist völlig klar, dass möglichst zügig die Polizei einzuschalten ist, um Schlimmeres zu verhindern. Alle Forschungsergebnisse belegen, dass ein schnelles und kategorisches Nein, mit dem die Grenzen aufgezeigt werden, das Beste ist, was in solchen Fällen getan werden kann. Ich würde mich freuen, wenn der Kompromiss, der zwischen Bund und Ländern ausgehandelt wurde, in diesem Haus einen Konsens finden und das Gesetz möglichst bald verabschiedet würde, damit wir im Interesse der Opfer zu einer besseren Rechtssituation kommen. Besten Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun für die FDP-Fraktion der Kollege Jörg van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, der Appell, den Sie zum Schluss an uns gerichtet haben, zielt offenkundig in Richtung Opposition. Sie haben innerhalb der Koalition schon einen Kompromiss gefunden, an dem wohl auch die Länder mitgewirkt haben. Ihre Problembeschreibung wird von uns geteilt. Wir hatten uns nicht zum ersten Mal mit diesem Thema zu befassen, und zwar zu Recht, weil uns selber durch Zeitungslektüre immer wieder gravierende Fälle von Stalking vor Augen geführt werden und wir das Gefühl haben, dass wir als Gesetzgeber die Opfer, die zum Teil schrecklich leiden, nicht allein lassen dürfen. Wir haben zuerst einen eher zivilrechtlichen Ansatz gewählt, weil wir davon ausgegangen sind, dass die schwierigen Abgrenzungsprobleme, die auch Sie aufgezeigt haben, in diesem Bereich leichter zu lösen sind. Aber auch in dem zivilrechtlichen Gewaltschutzgesetz, das dann verabschiedet worden ist, ist schon ein strafrechtlicher Teil enthalten gewesen. Ich denke, dass inzwischen genug Zeit verstrichen ist, um eine Bilanz ziehen zu können. Wir müssen feststellen, dass die bisherige Rechtslage dem notwendigen Schutz der Opfer offensichtlich nicht gerecht wird. Deshalb begrüßen wir es, dass wir erneut über dieses Thema sprechen und dass über die Notwendigkeit eines eigenen Straftatbestands diskutiert wird. Ich will nicht verhehlen, dass mir die vom Bundesrat vorgeschlagene Lösung nicht zusagt. Das Gefährdungsdelikt gefällt mir nicht und die darauf gründende Deeskalationshaft ist nach meiner Auffassung rechtsstaatlich höchst bedenklich. ({0}) Deshalb begrüße ich es außerordentlich, dass die Verhandlungen zwischen den Koalitionsfraktionen offensichtlich dazu geführt haben, davon Abstand zu nehmen. ({1}) - Ich gehe davon aus, dass das so ist. ({2}) Denn wir haben eine Verpflichtung. Deshalb sollten wir auf der Grundlage des Gesetzentwurfs diskutieren, der jetzt von der Koalition vorgelegt worden ist. Ich hoffe sehr, dass wir sorgfältig beraten; denn es ist notwendig, dass wir Abgrenzungen zu sozial adäquatem Verhalten vornehmen. Ich möchte einen Gesichtspunkt ansprechen, den Sie, Frau Ministerin, in Ihrer Rede nicht erwähnt haben. Sie wissen, dass die Medien befürchten, Probleme durch den zu schaffenden Straftatbestand zu bekommen. Ich finde, wir sollten die von den Medien geäußerten Sorgen ernst nehmen. Frau Ministerin, ich habe Ihre Pressemitteilung gelesen. Sie sagen, dass das noch nicht einmal tatbestandlich sei. Wer sich aber die verschiedenen Recherchemöglichkeiten der Presse anschaut, der weiß, dass man das nicht ganz ausschließen kann. Wir sollten daher in den Beratungen diesem Aspekt besondere Aufmerksamkeit widmen. Es darf nicht sein, dass die Presse in unserem Land Gefahr läuft, strafrechtlich verfolgt zu werden. ({3}) - Herr Kollege, ich habe mit Ihrer Aufgeregtheit gerechnet. ({4}) Ich will deshalb ergänzend hinzufügen, dass sich selbstverständlich auch die Medien in unserem Land an die Gesetze zu halten haben. ({5}) Aber wir haben die verfassungsrechtlich garantierten Rechte der Medien zu gewährleisten. Hier eine vernünftige Abwägung vorzunehmen, damit sollten wir uns in den Beratungen besonders beschäftigen. Alles das ist des Schweißes der Edlen wert. Ich sage für die FDP-Bundestagsfraktion, dass wir uns konstruktiv einbringen werden. Wir sind offen für einen Straftatbestand. Wir sind sehr dafür, dass kein Gefährdungsstraftatbestand, sondern ein erfolgsorientierter Straftatbestand geschaffen wird; denn mit Letzterem lässt sich das Entstehen vieler Probleme verhindern. Ich freue mich jedenfalls auf die Beratungen. Wir sind es insbesondere den Stalkingopfern schuldig, schnell zu einer rechtsstaatlich einwandfreien Lösung zu kommen. Herzlichen Dank. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Staatsministerin für Justiz des Freistaats Bayern, Dr. Beate Merk. Dr. Beate Merk, Staatsministerin ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Intensiv und mit großer Ernsthaftigkeit haben wir uns des Themas Stalking angenommen. Ich freue mich sehr, dass wir auf der Grundlage der Gesetzentwürfe von Bundesrat und Bundestag einen Kompromiss gefunden haben. Wir wissen, dass es jeden treffen kann, und doch wird das Delikt viel zu oft bagatellisiert. Fast jeder ist schon einmal verlassen worden. Wie oft passiert es, dass eine angebetete Frau oder ein bewunderter Mann nichts von ihrem Verehrer bzw. seiner Verehrerin wissen will! In einer solchen Situation hat man viele Möglichkeiten. Man kann resignieren, verzweifeln oder sich jemand anderen suchen. Was aber tut jemand, der clever ist, der Ausdauer hat und der absolut davon überzeugt ist, dass dieser andere Mensch einzig und allein für ihn geschaffen wurde? Er wird handeln; er wird Stalker. Als Stalker ist man Jäger. Das Opfer ist Freiwild. Ein Stalker ist ein guter Jäger. Er sieht, er hört und er ist präsent. Er registriert alles; es entgeht ihm nichts. Seine Motive mögen irrational sein, sein Handeln ist dafür umso rationaler. Die begehrte Frau will ihren Alltag leben. Der Stalker wird ihn analysieren: Wann geht sie morgens aus dem Haus? Wie lange muss man sie aufhalten, damit sie den Bus verpasst? In welche Schule geht ihr Kind? Wo kauft sie ein? Zu Staatsministerin Dr. Beate Merk ({1}) welcher Bank, zu welchem Arzt oder in welches Fitnessstudio geht sie? In welcher Zeitung könnte man ihre Todesanzeige aufgeben oder in welchem Blatt ein Inserat, in dem sie Telefonsex anbietet? Welche Nachbarn besitzen genügend Zeit und Neugier, um sich die Geschichte einer enttäuschten Liebe anzuhören und sie dann weiterzuerzählen? Als Stalker bringt man Disziplin in das Leben seines Opfers. Geht sie montagabends nicht gerne ins Freibad? Man muss nur auch dort sein, dann wird das aufhören. Kauft sie nicht immer gerne in diesem Fachgeschäft ein? Man muss nur in ihrem Beisein mit der Verkäuferin reden und sie kommt nicht mehr. Hat sie nicht früher oft über ihren Chef geschimpft? Man sollte es ihm einmal erzählen. Die betroffene Frau soll nicht ausgehen, nicht lustig sein, nicht vergessen. Sie soll nur eines: an mich denken. Ich habe mit vielen Stalkingopfern gesprochen. Sie erwarten eine klare, adäquate Aussage der Politik. Ich weiß, wie sie fühlen. Aber um die ganze Dimension des Geschehens zu begreifen, muss man sich in den Täter hineindenken. Er allein hat die Fäden in der Hand, nur er stellt die Weichen. Er hat nicht nur Wut im Bauch, er hat vor allen Dingen Konzept und System. Die Frau hat es eilig? Der Stalker hat Zeit. Die Frau scheut Peinlichkeiten? Der Stalker sucht sie geradezu. Die Frau kennt Freunde, Bekannte und Kollegen? Der Stalker kennt sie auch. Es ist wie bei Hase und Igel: Wohin auch immer sich das Opfer auf den Weg macht, der Stalker ist schon dort. Er ist der Schatten. Er hat keine eigenständige Existenz. Ihm genügt diejenige des Opfers. Und mag das Opfer einfach leben wollen - dem Stalker reicht das Warten. Man muss nicht erst an die tödlich endenden Fälle denken, um sich klar zu machen: Stalking ist ein massiver Angriff auf einen Menschen in seiner Gesamtheit, auf seine körperliche und auf seine seelische Unversehrtheit, auf sein ganzes soziales Dasein. Es kann, wie gesagt, jeden treffen. Warum ist Stalking eine Aufgabe für die Politik? Weil unsere Rechtsordnung bisher genau das tut, was dem Täter niemals einfiele: Unsere Gesetze lassen das Opfer allein. Wann können Polizei und Justiz eingreifen? Erst dann, wenn sich der Stalker aus der Deckung wagt, wenn er offen und sichtbar agiert, wenn er beleidigt, wenn er schlägt. Aber wer allein darauf reagiert, der kuriert nur Symptome und nicht die Krankheit. Deshalb ist es essenziell wichtig, dass wir einen Tatbestand bekommen, der das Stalking als solches zum Ziel hat, der beharrlichem Nachstellen eigenen Unrechtsgehalt verleiht, und es muss ein Straftatbestand sein, damit der Staatsanwalt für das Opfer aktiv werden kann. Das Gewaltschutzgesetz - Frau Kollegin Zypries hat es angesprochen - war ein wichtiger Schritt, das Kontaktverbot eine richtige Idee. Aber wer ein Leben zwischen Furcht und Scham führt, der tut sich mit dem Gang vor ein öffentliches Gericht sehr hart. Besonders wichtig ist mir die von uns in die Diskussion gebrachte Deeskalationshaft; denn Stalking bedeutet Steigerung. Es lebt von der Intensivierung. Der Täter muss die Schraube anziehen, die Kreise enger drehen. Früher oder später gehört dazu physisches Handeln. Will man diese Bedrohungsspirale rechtzeitig durchbrechen, muss man dazu auch physisch eingreifen dürfen. Es darf nicht länger Fälle geben, in denen die Strafverfolgungsbehörden quasi hilflos zusehen müssen, bis es zur Katastrophe kommt. Umso mehr freut es mich, dass wir hier auf einem guten Weg sind. Wir als Länder hätten uns sicher noch mehr gewünscht. Aber alles deutet auf einen tragfähigen Kompromiss hin, auch zur Deeskalationshaft. Mir ist bewusst, dass das ein schweres Geschütz ist. Aber als Justizministerin eines Landes kenne ich unsere Richter und ich weiß, dass sie dieses Instrument mit Umsicht gebrauchen werden. Außerdem ist die Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr keine neue Erfindung, sondern sie ist schon lange in der Strafprozessordnung enthalten. Unser Vorschlag passt in das vorhandene System. Stalking trägt die Wiederholungsgefahr schon seiner Definition nach in sich. Das Gesetz sieht diese Form der Haft bevorzugt für Sexualdelikte vor. Wir wissen alle, dass Stalking in aller Regel einen sexuellen Hintergrund hat. Die Deeskalationshaft wird zudem nur für die besonders schweren Fälle eröffnet, etwa wenn der Täter die Gesundheit seines Opfers schwer bedroht oder wenn er es gar in Lebensgefahr bringt. Gerade deshalb sind die Qualifikationstatbestände wichtig, die wir vorschlagen. Der neue Tatbestand soll nicht nur den Anfängen wehren, er soll auch eine Antwort für massive Formen des Stalkings enthalten. Mir ist bewusst, dass wir nicht jeden schrecklichen Fall verhindern können. Absoluten Schutz kann kein Gesetz gewährleisten. Aber wir brauchen ausreichende Rechtsgrundlagen. Mir ist auch bewusst, dass Strafrecht kein Allheilmittel ist. Es ist viel zu tun, um das Stalking in den Griff zu bekommen. Ich gebe Frau Kollegin Zypries vollkommen Recht: Wir brauchen Fortbildung für die Strafverfolger, wir brauchen Forschung durch die Psychiatrie, auch Therapie der Täter mit ihren ganzen Besonderheiten. Aber wenn uns eine effektive Lösung im Strafrecht gelingt, dann kann die große Koalition das Zeichen setzen: Wir lassen die Opfer nicht allein. Ich bitte Sie, setzen Sie dieses Zeichen. Es stimmt: Unser Vorhaben ist diffizil. Wir haben es uns damit aber auch wirklich nicht leicht gemacht. Deswegen sollten wir anfangen, es den Tätern schwer zu machen. Herzlichen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Sevim Dagdelen von der Fraktion Die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In einem sind wir uns alle einig: Der Schutz von Opfern beharrlicher Nachstellungen, des so genannten Stalkings, muss verbessert werden. Ich begrüße es hier ausdrücklich, dass wir über den Bundesratsgesetzentwurf anscheinend nicht mehr zu sprechen brauchen, da die inhaltlichen Mängel dieses Gesetzentwurfs meines Erachtens so groß sind, dass man darüber überhaupt nicht zu diskutieren braucht. Kommen wir also zum Entwurf der Bundesregierung. Dieser hat zwar den Vorteil, dass er wahrscheinlich nicht verfassungswidrig wäre; dafür weist er aber andere Schwächen auf. Im Gegensatz zum Bundesratsgesetzentwurf beschreibt der vorgesehene neue Straftatbestand § 241 b StGB abschließend besonders häufig auftretende Verhaltensweisen von Stalkern und stellt dieselben unter Strafe. Die Strafbarkeit soll dabei - das ist hier oft zum Ausdruck gekommen - vom Erfolg der kausalen schwerwiegenden und unzumutbaren Beeinträchtigung der Lebensgestaltung abhängen. Fraglich ist hier allerdings, ob das Ziel der Gesetzesinitiative so überhaupt erreicht wird. Das Ziel ist der Opferschutz, und zwar vor allem die bessere Betreuung durch die Strafverfolgungsbehörden zu einem Zeitpunkt, da das Opfer sich dem Psychoterror noch nicht durch Einschränkung der Lebensumstände gebeugt hat. Ein Ansetzen zu diesem Zeitpunkt wird durch den Gesetzentwurf jedoch nicht geregelt. Das Opfer soll erst schwerwiegend und unzumutbar beeinträchtigt sein, bevor die Schwelle zur Strafbarkeit überschritten wird. Den Bedürfnissen der Betroffenen wird er somit nicht gerecht. Diese sind primär nicht am repressiven Handeln des Staates interessiert, sondern an der präventiven Tätigkeit der Behörden und an Unterstützung. ({0}) Erforderlich sind daher unseres Erachtens eine Sensibilisierung der Strafverfolgungsbehörden und eine konsequente Unterstützung der Opfer durch geschulte Kräfte. Was die Opfer wollen, ist auch eine Unterbrechung der Gewaltspirale des Täters, um bereits jetzt strafbare Handlungen wie Körperverletzung zu verhindern. Eine aus Sicht der Opfer vielleicht wünschenswerte vorbeugende Haft ist in einem demokratischen Rechtsstaat wegen der schweren Form des Eingriffs in die Handlungsfreiheit und in die Freiheit der Person nur unter restriktiven Bedingungen möglich; vergleichen Sie dazu § 112 a StPO. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung würde im Gegensatz zum Entwurf des Bundesrats hieran zu Recht nichts ändern. Stellt sich somit die Frage, ob eine Ergänzung des Gewaltschutzgesetzes um bisher nicht erfasste, nach wissenschaftlichen Untersuchungen aber verbreitete Verhaltensweisen nicht hilfreicher wäre. Zudem sollte unseres Erachtens der Normverletzung nach § 4 Gewaltschutzgesetz der Anschein eines Bagatelldelikts genommen werden. Die Polizeikräfte sollten darüber hinaus dazu angehalten werden, die Opfer von Straftaten allgemein und die Opfer von Stalking ernst zu nehmen und entsprechend zu betreuen. Dem grundsätzlichen Anliegen, eine bessere Verfolgbarkeit der Stalker durch die Strafbewehrung zu erreichen und damit den Opfern zu helfen, wird man durch die vorliegende Fassung dieses Gesetzentwurfs nicht gerecht. Ich hoffe, wir werden bei den Beratungen im Ausschuss darauf hinwirken können, dass die Regelung zu dem Zeitpunkt, wo die Opfer die Hilfe benötigen, greift. Ich danke Ihnen. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Jerzy Montag von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin, wir reden heute über eine mögliche neue Strafvorschrift gegen beharrliches Nachstellen, Stalking genannt. Frau Justizministerin Merk aus Bayern hat in ihrem Redebeitrag die Vielfalt der möglichen Lebensgestaltungen geschildert und uns klar gemacht, welch eine unglaubliche Belastung dies für die Opfer jeweils darstellt. Es ist richtig: Stalking ist eine ganz erhebliche Beschneidung der Freiheit der Lebensführung von Menschen. Stalking ist ein Verhalten von Tätern, das den Opfern nicht nur psychisch, sondern auch physisch erhebliche Schäden zufügt. Trotzdem sollten wir uns noch einmal klar machen, dass eine neue Strafvorschrift im Strafgesetzbuch kein Allheilmittel gegen diesen Zustand ist. ({0}) Die Untersuchung, die der Weiße Ring hat durchführen lassen und auf die die Bundesjustizministerin zu sprechen gekommen ist, hat ergeben, dass in 70 Prozent der Fälle die Polizei überhaupt nicht begriffen hat, was die Opfer ihr sagen wollten; in 80 Prozent der Fälle haben die Opfer erklärt, dass sie sich durch das Verhalten der Polizei überhaupt nicht geschützt gefühlt haben. Das liegt nicht daran, dass es zurzeit keinen eigenen Straftatbestand des Stalkings gibt. In der gleichen Studie wird gesagt, dass es in 40 Prozent aller Fälle zu Körperverletzungen gekommen ist, in weiteren 20 Prozent zu gefährlichen und schweren Körperverletzungen, dazu zu Beleidigungen, Bedrohungen und auch noch anderen gefährlichen Straftaten. Trotzdem reagiert die Polizei in der Regel immer noch nicht. Das hat damit zu tun, dass die Polizei - und auch die Justiz - auf dieses Phänomen des Stalkings immer noch nicht genügend vorbereitet und nicht entsprechend geschult ist. Deswegen ist es Aufgabe der Länder, da noch viel zu tun. Unter dem Strich sage ich für uns Grüne: Wir sind der Auffassung, dass es eines neuen Straftatbestandes gegen das Stalking bedarf. Wir sollten uns jetzt in der ersten Lesung den Entwürfen nähern, die es dazu heute gibt. Die große Koalition hat heute - wie gestern zum Steuerchaos - ein bisschen zum Rechtsstaatschaos beigetragen. Wir reden heute nämlich über einen Gesetzentwurf des Bundesrates, den es offensichtlich nicht mehr gibt, und über einen Gesetzentwurf der Bundesregie2974 rung, den es offensichtlich auch nicht mehr gibt. In der Öffentlichkeit wird über einen Gesetzentwurf von Bayern diskutiert, der nie eingebracht worden ist. Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben über irgendeine Einigung geredet, die wir nicht kennen, jedenfalls nicht in Form einer Gesetzesvorlage hier. Aber wir sind ja in der ersten Lesung des Gesetzes. Es ist kein guter Stil, dass wir heute um halb drei eine Presseerklärung des Bundesjustizministeriums bekommen haben, in der erstens steht, dass der Bundestag heute in erster Lesung über zwei Gesetzesvorschläge beraten hat - jetzt ist es halb fünf! -, und in der uns zweitens ein völlig neuer Gesetzentwurf mit neuen Fallgestaltungen vorgelegt wird, den wir so nicht kennen. ({1}) Ich habe keine Zeit, im Rahmen meines jetzigen Beitrags zur Debatte zu den einzelnen Punkten des nicht vorhandenen Gesetzentwurfs Stellung zu nehmen. Aber wir sichern Ihnen zu, dass wir uns im Gesetzgebungsverfahren mit Ihrem Vorschlag einer Deeskalationshaft und mit vielen anderen Vorschlägen befassen werden, mit Vorschlägen, von denen das Bundesjustizministerium bisher behauptet hat, sie seien verfassungswidrig, während es nun der Meinung ist, das sei hinnehmbar. Ein solches Verhalten ist nicht hinnehmbar. ({2}) Dem werden wir im parlamentarischen Verfahrensgang noch nachspüren. Danke schön. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- würfe auf den Drucksachen 16/575 und 16/1030 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, Dr. Gesine Lötzsch und der Fraktion der LINKEN Gesetzliche Regelung für frühere Mitglieder der Bundesregierung und Staatssekretäre zur Untersagung von Tätigkeiten in der Privatwirtschaft, die mit ihrer ehemaligen Tätigkeit für die Bundesregierung im Zusammenhang stehen - Drucksache 16/846 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Koppelin, Dr. Max Stadler, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Verhaltenskodex für ausscheidende Regierungsmitglieder - Drucksache 16/677 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({2}), Monika Lazar, Jerzy Montag, Silke Stokar von Neuforn und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Berufstätigkeit von ausgeschiedenen Mitgliedern der Bundesregierung regeln - Drucksache 16/948 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist auch dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch von der Fraktion Die Linke das Wort. ({4})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor kurzem haben wir hier in einer Aktuellen Stunde über den Wechsel ehemaliger Bundesminister und Staatssekretäre in die Wirtschaft gesprochen. Dabei ging es nicht um Einzelfälle, sondern um eine bisher ungekannte Massenflucht des politischen Personals in die Wirtschaft. ({0}) Zwei Beispiele zur Erinnerung: Altkanzler Gerhard Schröder ging nach seiner Abwahl in den Aktionärsausschuss der Nordeuropäischen Gaspipelinegesellschaft. Jahreseinkommen 250 000 Euro. Noch zum Ende seiner Amtszeit wurde von der Bundesregierung über eine gewaltige Kreditbürgschaft für Gasprom entschieden. Herr Schröder will angeblich nichts davon gewusst haben. ({1}) Anderes Beispiel: Exfinanzstaatssekretär Cajo KochWeser geht als Vice Chairman zur Deutschen Bank. Vorher war er in der Bundesregierung für die BankenaufDr. Gesine Lötzsch sicht zuständig. Er war an der Abwicklung eines Schuldendeals beteiligt, in den auch die Deutsche Bank involviert war. Wissen Sie, ich habe gar kein Problem, wenn zum Beispiel der ehemalige Staatssekretär Rezzo Schlauch von den Grünen die Seiten wechselt und jetzt Kernkraftwerksbetreiber EnBW berät, wie man den von SPD und Grünen beschlossenen Atomausstieg wieder rückgängig machen kann. In der Diskussion vor einigen Wochen im Bundestag wurde deutlich, dass niemand etwas dagegen hat, wenn Politiker so in die Wirtschaft wechseln, wie es Herr Schlauch gemacht hat. Er muss das nur mit seiner Partei und, wenn vorhanden, mit seinem Gewissen vereinbaren. Es ist aber ein unhaltbarer Zustand, wenn Politiker in ihrer Amtszeit Entscheidungen treffen, die Unternehmen begünstigen, zu denen sie dann später wechseln wollen, und das noch gut dotiert. ({2}) Das ist noch nicht strafbar. Für mich ist das eine Form der nachgelagerten Bestechung nach dem Motto „Erst liefern, später zahlen“. Diese Praxis muss gesetzlich ausgeschlossen werden. ({3}) Leider hatten wir den Eindruck, dass die Bundesregierung denkt, wenn sich die erste Aufregung gelegt habe, gebe es keinen Handlungsbedarf mehr. Da haben Sie aber die Rechnung ohne die Wählerinnen und Wähler gemacht. Auch wir werden das nicht akzeptieren. Darum haben wir Ihnen den heute in Rede stehenden Antrag vorgelegt. Wir fordern die Bundesregierung darin auf, eine gesetzliche Regelung auszuarbeiten, die eine Karenzzeit von fünf Jahren für ehemalige Regierungsmitglieder vorsieht. ({4}) Jeder Regierungsbeamte muss vor einem Wechsel in ein Unternehmen die Genehmigung seines Dienstherrn einholen. Das gilt noch fünf Jahre nach dem Ausscheiden aus dem Staatsdienst. Laut Beamtengesetz muss der Dienstherr die Beschäftigung untersagen, wenn die Gefahr besteht, dass dadurch dienstliche Interessen beeinträchtigt werden. Warum, frage ich Sie, soll diese Regelung, die für Staatsbedienstete schon lange gilt, nicht auch für ehemalige Regierungsmitglieder gelten? Das Motto „Erst regieren, dann kassieren“ darf nicht weiter Schule machen. ({5}) Ich finde, meine Damen und Herren, es ist nicht gut für unser Land und für die Demokratie, wenn der Eindruck erweckt wird, dass bestimmte Herren ihren Eid auf das Grundgesetz bei ihrer Entlassung an der Garderobe des Bundespräsidenten abgeben. Darum bitte ich Sie, unseren Vorschlag zu übernehmen oder, wenn Sie einen besseren haben, diesen vorzulegen. ({6}) - Einigkeit der Opposition in dem Fall, verehrter Kollege Niebel, wäre ja nicht schlecht. Aber ob Ihr Vorschlag wirklich besser ist, werden wir in den Ausschüssen sorgfältig beraten. Es geht darum, die Mehrheit des Hauses einzubeziehen. Sie sollten also nicht auf die Vergesslichkeit der Wählerinnen und Wähler hoffen. Das wäre der falsche Weg. Sie werden Sie am nächsten Wahltag daran erinnern. Vielen Dank. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun erteile ich dem Kollegen Helmut Brandt für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Auf Verlangen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fand am 16. Februar 2006 eine Aktuelle Stunde unter dem Titel „Übernahme ehemaliger Regierungsmitglieder in Vorstände und Aufsichtsräte deutscher Energiekonzerne“ statt. Ausgangspunkt für diese Aktuelle Stunde war der in der Öffentlichkeit vielfach negativ diskutierte Wechsel des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder in den Aufsichtsrat des deutsch-russischen Konsortiums Nordeuropäische Gaspipeline. In der Diskussion wurde bereits damals zu Recht darauf hingewiesen, dass es bei dieser Frage eben nicht um ein energiepolitisches Thema gehe, sondern dass über das Thema unter grundsätzlichen Gesichtspunkten zu diskutieren sei. Nunmehr diskutieren wir über drei Anträge der Linken, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen. Diese Anträge haben eines gemeinsam: In ihnen wird ein Verhaltenskodex bzw. eine gesetzliche Regelung gefordert, ohne aber zu präzisieren, wie eine solche Regelung inhaltlich ausgestaltet sein soll. Aber genau hierin liegt das Problem. Die drei Anträge unterscheiden sich im Wesentlichen darin, dass die Linke eine fünfjährige Karenzzeit fordert, während die FDP eine solche von zwei Jahren für ausreichend hält. Bündnis 90/Die Grünen fordert ohne Festlegung auf eine Karenzzeit von der Bundesregierung, eine verfassungsfeste Lösung zu präsentieren. ({0}) - Ich komme noch auf diesen Punkt, Herr Kollege Niebel. - So weit zum Ausgangspunkt der heutigen Debatte. Es erscheint mir wesentlich, über dieses schwierige Thema mit großer Sensibilität und Sachlichkeit zu diskutieren. Alles andere würde nur dazu führen, dass in der Öffentlichkeit der falsche Eindruck entsteht, dass bei Politikern nach dem Ausscheiden aus ihrem Amt ein direkter Wechsel in die Wirtschaft an der Tagesordnung ist. Ein solcher Eindruck würde nur zu weiterer Politikverdrossenheit führen. Wir haben heute schon an anderer Stelle über diese Problematik diskutiert. Tatsächlich muss zunächst einmal festgestellt werden, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis heute, also immerhin mehr als 56 Jahre, ohne eine solche Regelung ausgekommen sind. Es stellt sich daher schon die Frage, ob man aufgrund bestimmter Einzelfälle, die sicherlich fragwürdig und kritikwürdig sind, auf die Notwendigkeit einer generellen Regelung schließen muss. Außerdem muss man sich darüber im Klaren sein, dass eine solch konkrete Regelung nur äußerst schwer generalisiert werden kann. Dafür spricht schon, dass es in sämtlichen Anträgen der drei eben genannten Fraktionen ganz offensichtlich bewusst unterlassen wurde, einen bestimmten Text vorzugeben. Betritt man Neuland, so empfiehlt es sich immer, über den Tellerrand hinauszuschauen. Dabei stellt man sehr schnell fest, dass es höchst unterschiedliche Regelungen und Auffassungen zu dem hier diskutierten Thema gibt. Beispiel USA: Hier gibt es eine Wartezeit von einem bis zwei Jahren, wobei dort auf den Einzelfall abgestellt wird. Das Gleiche gilt in etwa auch in Großbritannien. In Frankreich demgegenüber ist ein schneller Wechsel in die Wirtschaft völlig üblich und gilt dort nicht als ehrenrührig. Auf europäischer Ebene gilt seit dem Jahr 2000 eine Karenzzeit von einem Jahr. Das ist die so genannte Lex Bangemann. In unseren Bundesländern gibt es nach meinem Wissen nur im Land Nordrhein-Westfalen eine Regelung, die sich an die Regelung für Beamte anlehnt. Diese Beispiele zeigen, dass eine wie auch immer geartete gesetzliche Regelung nicht per se als notwendig angesehen werden kann. Immer wieder werden zu Recht die Forderung und auch der Wunsch geäußert, dass wir mehr Politiker mit Berufserfahrung außerhalb der Politik benötigen und es nicht erstrebenswert sein kann, künftig nur noch Berufspolitiker zu beschäftigen. Wenn man diese Forderung ernst nimmt, so muss man sowohl den Wechsel von einer beruflichen Tätigkeit in eine politische Tätigkeit ermöglichen wie auch umgekehrt nach Beendigung des Mandates bzw. nach Ausscheiden aus dem Amt den Wechsel in eine wirtschaftliche Betätigung ermöglichen. Dies sollte ohne Diskriminierung geschehen. Im Übrigen würde das Verbot einer Tätigkeit, wenn es rigoros gelten würde, eindeutig gegen Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes verstoßen. Was ist die rechtliche Situation heute? Da muss man zunächst auf Art. 66 des Grundgesetzes verweisen. Hier wird den Mitgliedern der Bundesregierung eine gleichzeitige Erwerbstätigkeit praktisch untersagt. Näher ausgestaltet ist dieses Verbot im Bundesministergesetz. Wenn das Grundgesetz diese Betätigungs- und Zugehörigkeitsverbote nur aktiven Mitgliedern der Bundesregierung auferlegt, so kann man hieraus sicherlich auch den Schluss ziehen, dass eine gewisse Grundentscheidung des Grundgesetzgebers dahin gehend vorliegt, dass vor und nach einem Regierungsamt eine sonstige berufliche Tätigkeit möglich sein soll. Dabei ist auch zu beachten, dass die Anlehnung an das Beamtenrecht, wie es von einigen gefordert wird, schon deshalb problematisch ist, weil die Mitglieder der Bundesregierung in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis zum Bund stehen und keine Beamte im staatsrechtlichen Sinne sind. Die Amtszeit eines Mitgliedes der Bundesregierung ist zeitlich begrenzt und nicht wie das Dienstverhältnis eines Beamten auf Lebenszeit ausgerichtet. Darüber hinaus finden sich im Strafgesetzbuch Vorschriften wie § 331, die Vorteilsannahme, und § 353 b, die Verletzung von Dienstgeheimnissen. Diese Vorschriften haben Auswirkungen nicht nur während der Mitgliedschaft in der Bundesregierung, sondern nach Auffassung der Rechtswissenschaft auch noch danach, wenn nämlich die Aufnahme einer Tätigkeit und die damit verbundene Vorteilsannahme in unmittelbarem Zusammenhang mit der früheren Tätigkeit als Mitglied der Regierung stehen sollten. Man kann deshalb nicht sagen, dass es in diesem Bereich keine Regelungen gibt. Fasst man alles zusammen, so ist sicherlich die Frage berechtigt, ob überhaupt eine Regelungslücke besteht. Jedenfalls kann man nach meiner Meinung aus dem Vorhergesagten sicherlich den Schluss ziehen, dass es einer zusätzlichen gesetzlichen Regelung nicht zwingend bedarf. ({1}) Reden wir mithin über einen Verhaltenskodex, dem sich jedes Regierungsmitglied einschließlich der Parlamentarischen Staatssekretäre zu unterwerfen hätte. Unter Kodex versteht man zunächst ungeschriebene Verhaltensregeln. In der Formulierung solcher Regeln, will man sie schriftlich fixieren, liegt das Problem. Will man mithin den Wechsel von der beruflichen Tätigkeit aus der Wirtschaft in die Politik und umgekehrt nicht unnötig behindern, sondern im Gegenteil grundsätzlich fördern, so müssen Regeln gefunden werden, die auf die Besonderheit der Tätigkeit eines Staatssekretärs, Ministers, eines Bundeskanzlers oder einer Bundeskanzlerin Rücksicht nehmen. Denn nur wenn die Gefahr besteht und der äußere Anschein erweckt wird, dass die beruflich übernommene Tätigkeit in einem nachträglichen Zusammenhang mit der früheren Tätigkeit und mit bestimmten aus dieser Tätigkeit sich ergebenden Entscheidungen in Zusammenhang steht, ist die Selbstbeschränkung geboten und dann allerdings auch zu fordern. Eine weitere Schwierigkeit bietet aber auch die Frage, wem es dann obliegt, die Einhaltung einer solchen Regelung zu überprüfen, und welche Sanktionen damit verbunden sein könnten. Es kommt hinzu: Fasst man die Verhaltensregeln zu weit, so wäre die zwangsläufige Folge, dass man zu grundgesetzwidrigen Berufsverboten gelangen würde. Fasst man die Formulierung zu eng, so ist nicht auszuschließen, dass ein Wechsel zwischen Politik und Wirtschaft in zulässiger Weise erfolgt, wobei dann ein fader Beigeschmack bleibt oder das Ganze - wie die Schwaben sagen - ein Geschmäckle hat. Mir scheint, dass die Vielzahl möglicher Interessenkollisionen kaum abstrakt zufriedenstellend geregelt werden kann. Dennoch sollten wir alles tun, um künftig einen möglichen Schaden für das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland und der Politik insgesamt zu verHelmut Brandt meiden. Schön und nach meiner Auffassung die beste Lösung wäre es, wenn die betroffenen Regierungsmitglieder sich selbst eine Art freiwillige Beschränkung auferlegen würden. Solange dies nicht der Fall ist, bedarf es weiterer Diskussionen, um zu einem für alle befriedigenden Ergebnis zu gelangen. Ich freue mich in diesem Sinne auf eine unpolemische und nicht populistische Diskussion im zuständigen Fachausschuss. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Brandt, nach meinen Informationen war das Ihre erste Rede in diesem Haus. ({0}) Ich gratuliere Ihnen dazu sehr herzlich und wünsche Ihnen für die weitere Arbeit alles erdenklich Gute. ({1}) Nun erteile ich das Wort zur Geschäftsordnung dem Kollegen Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist eine wichtige Frage, die vor allen Dingen die Bundesminister interessieren muss. Es schmerzt mich schon sehr, dass bei dieser Debatte kein Minister anwesend ist. ({0}) - Lediglich einer, Herr Seehofer. - Ich meine, der Wirtschaftsminister sollte angesichts der Tatsache, dass es in seinem Haus einen aktuellen Fall zu dem in Rede stehenden Thema gibt, anwesend sein. Deswegen beantragen wir die Herbeizitierung des Ministers Glos. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Küster, bitte sehr.

Dr. Uwe Küster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hoch geehrter Herr Kollege Beck, man kann natürlich immer wieder versuchen, durch solche Anträge ein bisschen Wirbel in das Plenum hineinzubringen und für ein bisschen Aufhellung zu sorgen. Ich halte das für absolut überflüssig. Erstens haben Sie Herrn Minister Seehofer übersehen. ({0}) Zweitens war die Staatsministerin da. Auch zwei Staatssekretäre sind anwesend. ({1}) - Herr Beck, lassen Sie den Kinderkram doch bitte einmal außen vor und bleiben Sie einigermaßen ernsthaft! Ich merke ja, dass Sie sich wahnsinnig amüsieren. Das kann man sich ja wünschen. Wir wollen eine geordnete Debatte führen. Wir waren mitten in der Debatte. Jetzt unterbrechen Sie die Debatte und versuchen eine Abstimmung über eine Sache, die ich für absolut überflüssig halte, herbeizuführen. Bei dieser Gelegenheit muss ich sagen: Ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit kann nicht schaden. ({2}) Sie werden erleben, dass Sie jetzt und bei jeder folgenden Gelegenheit den Kürzeren ziehen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Koschyk.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Kollege Beck, bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundeswirtschaftsminister im Plenum anwesend ist. ({0}) - Sie haben die Nichtanwesenheit eines Vertreters des Bundeswirtschaftsministeriums angemahnt. Ein Vertreter ist aber anwesend. ({1}) Der Herr Bundesminister hat wichtige andere Termine. ({2}) Er war heute den ganzen Morgen im Plenum anwesend. Herr Kollege Beck, wir haben uns im Kreise der Parlamentarischen Geschäftsführer und im Ältestenrat oftmals ernsthaft darüber unterhalten, was im Umgang miteinander geboten ist. Sie sollten Ihren Antrag zurückziehen. Ich appelliere an Sie, mit dem Instrument der Herbeizitierung von Ministern nicht leichtfertig umzugehen, insbesondere wenn der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie anwesend ist. ({3}) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Regierungsbank ist leer! - Dirk Niebel [FDP]: Ich sehe keinen Staats- sekretär!)

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen. Herr Kollege Beck, erhalten Sie Ihren Antrag aufrecht, auch wenn der Herr Parlamentarische Staatssekre2978 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt tär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie anwesend ist? ({0}) - Herr Kollege Niebel, Sie haben gesehen, dass er zuerst auf der Regierungsbank saß und immer noch im Plenarsaal ist. Noch einmal zur Geschäftsordnung, Herr Küster. ({1})

Dr. Uwe Küster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Beck, Sie kennen die Geschäftsordnung genauso gut wie ich. Also werden Sie nicht erwarten, dass ich noch einmal in die bereits abgeschlossene Debatte über diesen Punkt einsteige. Ich stelle den Antrag, dass wir in dem üblichen Verfahren, also durch Auszählen, über die Frage, um die es hier geht, abstimmen. Das heißt, wir machen jetzt einen schönen Hammelsprung. ({0}) Dann schauen wir einmal, ob der Antrag von Herrn Beck eine Mehrheit findet.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Der Antrag steht. In unserer Geschäftsordnung ist das Procedere klar geregelt. Zunächst einmal wird ohne Auszählung der Stimmen über den Antrag abgestimmt. Ich bitte diejenigen, die dem Antrag des Kollegen Beck auf Herbeizitierung des Wirtschaftsministers zustimmen wollen, um das Handzeichen. ({0}) Wer ist dagegen? ({1}) Wir sind uns im Präsidium nicht einig. Deshalb müssen wir noch einmal abstimmen. ({2}) Ich bitte diejenigen, die dem Antrag zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer lehnt den Antrag ab? ({3}) Wir im Präsidium sind der Meinung, dass das Ergebnis unterschiedlich interpretiert werden kann. Der Sitzungsvorstand ist sich über das Ergebnis der Abstimmung auch nach der Gegenprobe nicht einig. Daher kommen wir zur Abstimmung über den Geschäftsordnungsantrag des Kollegen Beck und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen durch Auszählung der Stimmen. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, jetzt den Saal zu verlassen, und ich bitte, die Türen zu schließen. Die Abstimmung ist eröffnet. Ich schließe die Abstimmung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz zu nehmen. Wir erwarten das Ergebnis der Auszählung durch die Schriftführerinnen und Schriftführer. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz zu nehmen, damit ich das Ergebnis der Abstimmung bekannt geben kann. Mit Ja haben 102 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, ({0}) mit Nein haben 254 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, ({1}) kein Kollege und keine Kollegin hat sich enthalten. ({2}) Damit ist der Antrag abgelehnt. Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort erhält der Kollege Niebel. ({3})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem der Kollege Beck mir ein ausreichendes Publikum besorgt hat, freue ich mich, dass wir die Debatte fortsetzen können. Es ist nämlich eine wichtige Debatte. Denn es geht um das Ansehen der Politiker und das Vertrauen in die Unabhängigkeit staatlichen Handelns in der Bundesrepublik Deutschland. ({0}) Wir alle - auch diejenigen, die da herumstehen und reden - müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Schamlosen und die Ungenierten nicht nur ihren eigenen Ruf ruinieren, sondern - wie es im wirklichen Leben bei allen gesellschaftlichen Gruppen der Fall ist - auch diejenigen, die ihre Arbeit ernst nehmen, mit einem schlechten Ruf überziehen. Deswegen haben wir gesagt: Wir brauchen einen Verhaltenskodex für das berufliche Engagement von ehemaligen Regierungsmitgliedern. ({1}) Wir sind ganz ausdrücklich gegen ein gesetzliches Berufsverbot, weil unser Bild vom hauptamtlichen Politiker nicht das eines berufslosen Politikers ist. Vielmehr ist es das von gestandenen Persönlichkeiten, die Lebenserfahrung haben, die wissen, wie man sich im wirklichen Leben durchschlägt, und die ihre Erfahrungen in die politische Tätigkeit einbringen. ({2}) Deswegen haben wir schon 2003 gefordert, einen entsprechenden Verhaltenskodex einzuführen, wie ihn auch die Europäische Union hat. Glauben Sie mir: Es waren leidvolle Erfahrungen, bis die Europäische Union dahin gekommen ist. Es ist jetzt wieder notwendig, dieses Thema auf die Tagesordnung zu setzen; denn gerade bei der abgewählten rot-grünen Bundesregierung gibt es eine deutliche Häufung von Fällen, die zumindest ein Geschmäckle haben. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Niebel, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Solange Sie die Zeit anhalten, jederzeit.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ja. - Ich möchte Ihre Redebedingungen verbessern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie an dieser Debatte nicht teilhaben wollen, bitte ich Sie, die dringenden Gespräche doch vor der Türe fortzusetzen, sodass die Kollegen, die sich hier mit dem Kollegen Niebel austauschen wollen, die Chance dazu haben. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich warne bloß davor, dass dann hier wieder nur zehn Abgeordnete der Regierungsfraktionen sitzen. - Ein bisschen disziplinierter müssen Sie schon sein, wenn Sie groß sein wollen. ({0}) In der abgewählten Regierung gibt es eine gewisse Häufung von Fällen, von denen man sagen könnte, dass sie ein Geschmäckle haben. Eine Interessenvermischung ist zumindest möglich. Wenn der ehemalige Wirtschaftsminister Müller, der aus der Energiewirtschaft kam und als Parteiloser ein Ministeramt übernommen hat, in die Energiewirtschaft zurückgeht, mag noch ein gewisses Maß an Toleranz geübt werden. Wenn aber ein Staatssekretär, der für diesen Minister eine Ministerentscheidung durchgesetzt hat, ebenfalls in den Vorstand eines der begünstigten Energieunternehmen geht, dann wird es schon kritisch. Wenn ein ehemaliger bayerischer Wirtschaftsminister erst die Verhandlungen dieser vermeintlich großen Koalition im Verkehrsbereich führt und unmittelbar im Anschluss daran in den Vorstand der Deutschen Bahn wechselt, dann darf man schon hellhörig werden. ({1}) Das Gleiche gilt für einen ehemaligen Staatssekretär im Finanzministerium, der nicht nur ein Schuldengeschäft eingefädelt hat, sondern auch für die Bankenaufsicht zuständig war und offenkundig an der Gewährung einer relativ großen Bürgschaft mit beteiligt war, von der in der letzten Regierung offenkundig keiner gewusst hat, und der dann in ein Unternehmen geht, das von all diesen Geschäften profitiert hat. Spätestens dann muss die Hellhörigkeit doch noch etwas präziser werden. ({2}) Es schlägt dem Fass den Boden aus, wenn ein Altbundeskanzler zum Gasmann wird, also faktisch auf einen Posten wechselt, den es ohne sein politisches Handeln niemals gegeben hätte. Ich habe drei Kinder. Ich versuche ihnen deutlich zu machen, dass es bestimmte Dinge gibt, von denen man weiß: Die tut man nicht. Es gibt auch bestimmte Dinge, die sich nicht wegprozessieren lassen. Es ist eine Frage von Ethik und Moral, von Anstand und Common Sense, über die wir hier diskutieren. Ich bin der festen Überzeugung: Wenn sich Menschen in einem öffentlichen Amt engagieren, haben sie auch nach dem Ausscheiden ein Stück weit Sorge dafür zu tragen, dass dieses Amt und alle Nachfolgerinnen und Nachfolger in diesem Amt nicht beschädigt werden. Gerade von einem Altkanzler, der - wie ich finde, zu Recht - sein Leben lang mit öffentlichen Aufgaben betraut wird und auch deswegen richtigerweise in einem ausreichenden Maße alimentiert wird, hat man eine größere Sensibilität zu erwarten als von einem ehemaligen grünen Wirtschaftsstaatssekretär, der zu einem der größten Atomenergieerzeuger in Deutschland geht - obwohl er doch eigentlich gegen die Atomenergie ist. Ich glaube, es ist richtig, dass wir uns mit der Frage auseinander setzen, was man tut und was man nicht tut. Einen gewissen inneren Kompass für das zu haben, was anständig ist, steht einem Parlament durchaus gut an. Deswegen fordern wir kein gesetzliches Berufsverbot - Staatssekretäre und Minister sind keine Beamten und Soldaten, es gilt nicht das Lebenszeitprinzip -, aber einen Verhaltenskodex. Wir selbst sollten uns Gedanken darüber machen, welches Ansehen wir in der Öffentlichkeit genießen, dass Fehlverhalten Misstrauen in die Unabhängigkeit politischer Entscheidungen wecken kann. Die Bürgerinnen und Bürger können von uns erwarten, dass wir wenigstens so weit gehen, uns diese Gedanken zu machen. Deswegen lade ich Sie alle ein, unseren Weg zu gehen: kein gesetzliches Berufsverbot, aber ein Stück weit mehr Sensibilität für das, was sich gehört, und das, was man nicht tut. Vielen herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Martin Gerster. ({0})

Martin Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Aktuelle Stunde im Februar dieses Jahres, die Bundestagsdebatte im Dezember, aber auch die heutigen Beiträge zeigen: In der Tat gibt es immer wieder Fragen und Unklarheiten, wenn ehemalige Angehörige der Bundesregierung sehr schnell in die Wirtschaft wechseln. Oft wird über Nacht - ruck, zuck! - der Vorwurf der Vorteilsnahme erhoben, auch wenn das Verhalten rechtlich einwandfrei ist. Medien und Opposition spielen dabei einander in die Hände, skandalisieren vorschnell die Vorgänge. Es geht oft nur um Theater, wie es auch der heutige Vorgang, der von den Grünen initiiert wurde, zeigt. ({0}) Hauptsache, das Image der Politiker, das Ansehen der Entscheidungsträger ist schnell ruiniert. Ich glaube, am Ende nehmen unsere Demokratie und unsere Gesellschaftsordnung Schaden, wenn wir vorschnell ein Urteil über andere fällen, die sich viele Jahre in der Sache verdient gemacht haben. ({1}) Ich glaube, dass eine Versachlichung der Debatte notwendig ist. Es stünde uns allen gut an, gerade in diesem Zusammenhang auf Polemik und Fingerzeige zu verzichten. Art. 66 Grundgesetz verbietet Ministern eine anderweitige Tätigkeit, allerdings nur, solange sie im Amt sind. Das Bundesministergesetz beinhaltet viel zu den Rechten und Pflichten ehemaliger Bundesminister, kennt aber kein Berufsverbot. ({2}) Ich sage: Das ist auch gut so. ({3}) Kollege Brandt hat schon vor einer halben Stunde darauf hingewiesen. Aus meiner Sicht brauchen wir in der Politik mehr Quereinsteiger aus der Wirtschaft und aus der Wissenschaft. Das ist meines Wissens eine Forderung, die von allen Parteien aufgestellt wird. Wer dies fordert, muss im Umkehrschluss natürlich auch sagen, dass wir für den Fall, dass jemand aus der Politik wieder in die Wirtschaft oder in die Wissenschaft möchte, den Wechsel dorthin weiterhin ermöglichen müssen. ({4}) Zweifelhaft wird der Wechsel aus meiner Sicht allerdings dann, wenn ein Mitglied der Bundesregierung politische Entscheidungen offensichtlich nicht zum Wohle des Volkes trifft, sondern um sich damit für die Zeit nach der Regierungsverantwortung womöglich einen Posten in einem Unternehmen zu sichern. Es ist aus meiner Sicht nicht nur legitim, sondern auch dringend notwendig, hierüber zu diskutieren. Ich finde es auch gut, dass diese Debatte hier heute erneut stattfindet. Deswegen bin ich auch dankbar für die Denkanstöße, die aus den drei Fraktionen gekommen sind. Entschuldigung, aber mehr als Denkanstöße sind es aus meiner Sicht an dieser Stelle leider nicht. Wenn Ihre Anträge wirklich so ernst gemeint sind, dann hätte ich eigentlich schon erwartet, dass sie nach all den erhitzten Diskussionen in den letzten paar Monaten fundierter und auch genauer ausgearbeitet sind. ({5}) Mir liegt viel daran, dass sich die Bundesregierung tatsächlich auf den Weg macht, eine Selbstverpflichtung einzugehen und sie vielleicht auch öffentlich zu präsentieren. Herr Niebel, ich glaube aber, dass sie in der Tat kein Patentrezept bzw. Allheilmittel ist und erst recht kein wirksamer Schutz davor, dass ein Wechsel aus der Regierung in Spitzenpositionen der Wirtschaft womöglich ein Geschmäckle nach sich zieht. Hier also so zu tun, als ob das die Patentlösung sei, ist sicher verfehlt. ({6}) Herr Brandt hat schon auf die Frage hingewiesen, wer letztendlich über Verstöße urteilen soll. Wer soll überhaupt Sanktionen verhängen? Welche Sanktionen sollen an dieser Stelle überhaupt greifen? Ehrlich gesagt: Von einem solchen Ehrenkodex verspreche ich mir nicht allzu viel. Interessant ist auch der Beitrag des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, der in der „Leipziger Volkszeitung“ im Dezember gesagt hat - ich zitiere -: Von dem Erlass eines normativen Regelwerks in Fragen des politischen Anstands rate ich ab. Das Meiste sollte sich von selbst verstehen. Für jeden denkbaren Einzelfall lasse sich ohnehin keine Vorabregelung treffen. Weiter sagte er: Jeder muss sich für seine Entscheidungen vor sich selbst und vor der Öffentlichkeit rechtfertigen. Kurzum, Herr Niebel: Ein Ehrenkodex ist gut gemeint, aber gut gemeint ist eben meistens nicht gut gemacht. ({7}) - Herr Niebel, wir haben auch in diesem Hause in der Vergangenheit reichlich über diese Fälle diskutiert. Ich denke, irgendwann muss man auch einmal mit Blick in die Zukunft diskutieren. Ansonsten können wir noch einmal von vorne beginnen und alle Fälle, angefangen bei Herrn Bangemann, noch einmal durchdiskutieren. ({8}) Ich komme jetzt zu den einzelnen Anträgen, die hier auf dem Tisch liegen. ({9}) - Ich komme auch zu Ihrem Antrag. Um diese geht es heute hier in unserer Debatte ja. - Zum Antrag der Fraktion Die Linke. Es soll eine Regelung geschaffen werden, die es - so wörtlich früheren Mitgliedern der Bundesregierung und ihren Staatssekretären untersagt, in den ersten fünf Jahren nach ihrer Tätigkeit in Regierungsverantwortung eine Tätigkeit in der Privatwirtschaft aufzunehmen, die im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit in Regierungsverantwortung steht. Ich sage Ihnen ganz ehrlich, dass ich zwei Probleme damit habe: Erstens. Beamtete Staatssekretäre können Sie entgegen Ihrem Wortlaut ja wohl nicht meinen; denn dafür gibt es ja bereits eine Regelung, nämlich eine beamtenrechtliche. Deswegen sage ich: Ihr Antrag ist handwerklich einfach nicht gut zusammengeschustert worden. Zweitens. Ich halte es auch für sehr schwierig - hier teile ich die Ansicht vom Kollegen Niebel -, ein teilweises Berufsverbot für fünf Jahre zu verhängen, während das Übergangsgeld keinesfalls länger als drei Jahre bezogen werden kann. Sie haben hierbei nämlich offenbar vergessen, dass laut Arbeitsrecht Konkurrenzverbote nur dann wirksam sind, wenn eine entsprechende Entschädigung gewährt werden kann. Dies ist hier nicht der Fall. Deswegen muss Ihr Antrag leider schon allein aus handwerklicher Sicht zurückgewiesen werden. ({10}) - Jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Wieland. Warten Sie es doch ruhig ab. Ich glaube, weniger Aufgeregtheit tut uns allen gut. Ich habe mir auch das Papier vom Bündnis 90/Die Grünen angeschaut. Sie fordern eine verfassungsfeste Lösung, die die Bundesregierung hier vorlegen soll. ({11}) Dabei ist ganz interessant, dass Sie in Ihrem Antrag auf § 69 a des Bundesbeamtengesetzes verweisen und dies gleich mit dem Hinweis versehen, dass es dabei ja verfassungsrechtliche Probleme gibt. Ich frage Sie: Wie passt das zusammen? Auf der einen Seite fordern Sie von der Bundesregierung, eine verfassungsfeste Lösung vorzulegen. Auf der anderen Seite weisen Sie in Ihrem eigenen Antrag auf verfassungsrechtliche Probleme hin. Irgendwie - Entschuldigung - passt das überhaupt nicht zusammen. ({12}) Ich fasse zusammen: Ich gestehe Ihnen zu, dass Ihre Initiativen aus meiner Sicht wichtige Beiträge für eine absolut notwendige Debatte sind. Aber der Königsweg ist ganz sicher nicht dabei. Mein Wunsch an die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen ist: weniger Polemik und mehr Sachlichkeit. Das würde uns allen gut tun und uns in der Sache einen großen Schritt voranbringen. Herzlichen Dank. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Volker Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Gerster, ich habe nicht verstanden, welches die Position der SPD-Fraktion ist. Wollen Sie nun, dass etwas getan wird, oder wollen Sie alles so lassen, wie es ist? Das wird immer wieder zu solchen Debatten wie nach dem Wechsel von Herrn Schröder zu Gasprom führen. Ich will gar nicht sagen, dass seine frühere Position in einem direkten Zusammenhang zu seiner jetzigen Tätigkeit steht. Aber es gibt kein Verfahren, in dem geprüft wird, ob dieser Zusammenhang besteht und ob diese Tätigkeit zulässig ist. Das schadet nicht nur der Wirtschaft, sondern auch den Betroffenen. Deshalb brauchen wir klare Regelungen. Lieber Herr Kollege, in der Europäischen Union gibt es eine Regelung, die nach dem Fall Bangemann, dem früheren EU-Kommissar der FDP, eingeführt wurde, als er unmittelbar nach seinem Ausscheiden aus der Kommission, wo er für das Telekommunikationsgeschäft zuständig war, zu einem Telekommunikationsunternehmen gewechselt ist. Das hatte genau wie jetzt bei Herrn Schröder ein Geschmäckle, der in diesem Sinne sozusagen der Bangemann der SPD ist. ({0}) Leider gibt es dazu eine Reihe von Diskussionen. Es schadet dem Ansehen der parlamentarischen Demokratie, der Bundesregierung und der politischen Klasse, wenn wir das nicht in Ordnung bringen. Einige Beispiele: Herr Müller ist zur RAG gewechselt, Herr Tacke arbeitet inzwischen für die STEAG und Herr KochWeser ist nun für die Deutsche Bank tätig. Herr Wiesheu verhandelt erst in der Koalition über die Bahn und die Verkehrspolitik - so hört man - und entschwindet dann zur Deutschen Bahn AG, nachdem er lange Zeit Verkehrsminister in Bayern war. Das hat einen komischen Beigeschmack. Wenn dann auch noch die Deutsche Bahn erklärt, gerade wegen seiner Beteiligung an den Bahnreformen habe sie Herrn Wiesheu angeheuert, dann muss man sagen: Man weiß nicht, wie die Zusammenhänge sind, aber man hat ein ungutes Gefühl. Volker Beck ({1}) Auch in der Öffentlichkeit entsteht der Verdacht - dem will ich entgegentreten -, Regierungsmitglieder fällten in ihrem Amt Entscheidungen, die sich hinterher für sie direkt oder indirekt auszahlten, weil sie sich Unternehmen gewogen gemacht hätten. Diesen Verdacht müssen wir ausräumen, indem wir klare und transparente Regelungen festlegen. Zur Lösung dieses Problems gibt es zwei Ansätze. Der eine Ansatz orientiert sich an § 69 a des Bundesbeamtengesetzes, der für Beamte gilt. Dabei werden mutatis mutandis die versorgungsrechtlichen und die statusrechtlichen Verhältnisse von Bundesministern und Staatssekretären angepasst. Der andere Ansatz ist der Verhaltenskodex der Europäischen Union für ehemalige Kommissionsmitglieder. Ich bin dafür, dass wir uns zusammensetzen, um zu klären: Was können wir aus diesen beiden Regelungen lernen, um so zu einer Lösung zu kommen? Ein Vorschlag: In einem festgelegten Verfahren meldet das ausgeschiedene Mitglied die Tätigkeit an. Danach untersucht ein Ethikrat oder ein Gremium, ob es einen Konflikt zur früheren Tätigkeit gibt. Dann wird entschieden, ob die Tätigkeit innerhalb der Karenzzeit aufgenommen werden darf oder ob bis zum Ende der Karenzzeit gewartet werden muss. ({2}) Dieses Verfahren ist klar und transparent. Es dient dazu, das Ansehen der politischen Klasse zu stärken, und vermeidet jeden Anschein von Korruption und Makeleien anderer Art. Ich bitte Sie wirklich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen Koalition: Überlegen Sie noch einmal, ob Sie nicht mit uns, den Oppositionsparteien, zusammen zu einer Regelung kommen wollen. Wir wollten Ihnen eigentlich den Vortritt lassen. Wir hatten ursprünglich in einer Geschäftsführerrunde vereinbart, etwas zu warten, bis sich die Bundesregierung entscheidet, ob sie aus eigener Kraft etwas vorlegen will. Ich hätte das besser gefunden, weil es mir kein Anliegen ist, uns bei solchen Themen als Oppositionspartei zu profilieren. Aber ich finde, dass wir in diesem Bereich für Klarheit sorgen müssen. Das erwarten die Bürgerinnen und Bürger draußen im Lande von uns und das sollten wir uns als Demokratinnen und Demokraten auch selber schuldig sein. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/846, 16/677 und 16/948 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Verbraucherinformation - Drucksache 16/1408 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Horst Seehofer für die Bundesregierung. ({1})

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute wird zum dritten Mal innerhalb der letzten fünf Jahre versucht, ein bundeseinheitliches Verbraucherinformationsgesetz mit einem Recht der Verbraucher auf Zugang zu Behördeninformationen durchzusetzen. Diese Koalition wird den dritten Versuch zum Erfolg führen. ({0}) Ich glaube, nach einem langen Anlauf wird das Gesetz zu einem Meilenstein für die Verbraucherrechte in der Bundesrepublik Deutschland, der gut in unsere Zeit passt, ({1}) weil nach unserer modernen Verbraucherpolitik ausreichende Verbraucherinformationen zum Bild des mündigen Verbrauchers gehören. Wir machen eine moderne Verbraucherpolitik, die - das kann man nicht oft genug betonen - der Schlüssel für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik ist. Beides gehört zusammen. ({2}) Deshalb ist dieses Gesetz jetzt notwendig. Es steht auch in Einklang mit dem anderen großen politischen Ziel dieser Regierung, unser Land zu entschlacken und unbürokratischer zu gestalten. ({3}) Denn nicht jeder Paragraf bedeutet Bürokratie. Beim Verbraucherinformationsgesetz geht es vielmehr darum, den Bürgern eine Dienstleistung anzubieten. Die Bürger bekommen vor allem ein Recht auf Zugang zu Informationen, die ohnehin bei den Behörden vorhanden sind. Deshalb trägt dieses Gesetz nicht zu zusätzlicher Bürokratie bei; vielmehr schafft es eine zusätzliche Dienstleistung der öffentlichen Hand zugunsten der Menschen. ({4}) Das Gesetz insgesamt ist äußerst schlank. ({5}) Ich habe wenige Gesetze mitbeschlossen, die so übersichtlich, klar lesbar und hinsichtlich ihres Volumens so kompakt waren wie das Verbraucherinformationsgesetz, sodass wir mit Fug und Recht davon reden können, dass dieses Gesetz schlank und unbürokratisch ist und deshalb nicht im Widerspruch zu unseren Entbürokratisierungsbemühungen in Deutschland steht. ({6}) Das Gesetz umfasst drei wesentliche Inhalte: Der erste Punkt ist eine Konsequenz aus den Fleischskandalen des letzten Jahres, Stichwort „Gammelfleisch“ bzw. „Ekelfleisch“. Das geltende Recht hat zu der eigenartigen Situation geführt, dass der Name einer Firma nicht mehr öffentlich genannt werden durfte, wenn ein verdorbenes Produkt bereits verkauft und im Regelfall schon verzehrt war, dass aber dann, wenn das Produkt noch auf dem Markt war, der Name genannt werden durfte. Sie können keinem logisch denkenden Menschen erklären, warum der Hersteller eines Produkts, das aufgrund der besonderen Energie seitens des Herstellers bereits verkauft wurde und nicht mehr auf dem Markt ist, nicht namentlich genannt werden darf, während der schläfrige Produzent, der noch nicht alles verhökert hat, genannt werden darf. Es ist dringend notwendig, diese Gesetzeslücke zu schließen. ({7}) Denn die Namensnennung ist eine sehr wichtige Präventionsmaßnahme. Ich glaube, dass die Nennung des Namens desjenigen, der gegen das Lebensmittelrecht verstoßen hat, mehr präventive Wirkung hat als das Ordnungswidrigkeiten- oder das Strafrecht. Es geht schließlich immer um die wirtschaftliche Existenz einer Firma. Der zweite Punkt ist ebenfalls schwer zu erklären. Aber es war und ist Realität, dass die eine Ebene des Staates, die Strafverfolgungsbehörden, zwar Ermittlungen wegen Verstößen gegen das Lebensmittelrecht durchführt, aber die andere Ebene des Staates, die für Lebensmittelüberwachung zuständigen Behörden, nicht unterrichtet. Die eine Ebene des Staates hat also Erkenntnisse und die andere Ebene des Staates hält sich unwissend. Dies hat gerade im Süden der Republik konkrete Auswirkungen gehabt. Deshalb ist ein zentrales Element des Gesetzentwurfs die Verpflichtung der Strafverfolgungsbehörden, die für Lebensmittelüberwachung zuständigen Behörden über Ermittlungsverfahren zu unterrichten. ({8}) Ein dritter wichtiger Punkt ist, dass Firmen, die selber feststellen, dass ihre Produkte nicht in Ordnung sind, und die Öffentlichkeit informieren wollen, nicht länger nur auf Eigeninitiative angewiesen sind, sondern von den Behörden Unterstützung bekommen können. Die Behörden können nun öffentlich vor den entsprechenden Produkten warnen und Hinweise ins Internet einstellen. Das ist ein wichtiger Fortschritt, eine Konsequenz aus den letzten Monaten. Der vierte und zentrale Punkt ist: Erstmals in der bundesdeutschen Geschichte wird den Bürgern ein Anspruch auf Behördeninformationen eingeräumt. Wenn die Bürger diesen wahrnehmen, müssen sie für die entsprechende Dienst- bzw. Serviceleistung Gebühren zahlen und Auslagen ersetzen, wenn beispielsweise umfangreiche Studien kopiert werden müssen. Aber es ist ein Meilenstein, ein verbraucherpolitischer Durchbruch, dass die Bürger unseres Landes gegenüber den Behörden erstmals einen Anspruch auf Information über die Zusammensetzung und die Gefahren von Lebens- und Futtermitteln sowie Bedarfsgegenständen haben. Sie können nun beispielsweise erfahren, wie hoch die Pestizidbelastung von Erdbeeren oder bestimmten Gemüsesorten ist. Wenn wir landauf, landab vom mündigen Bürger reden - das tun fast alle Politikerinnen und Politiker -, dann gehört es dazu, dass der mündige Bürger das Recht erhält, dass ihm die Behörden im Falle des Falles die ohnehin vorhandenen Informationen mitteilen; das ist ein großer Fortschritt. Darüber bin ich sehr glücklich. ({9}) Nun ist es gerade in Deutschland objektiv unmöglich - hier mache ich mir keine Illusionen -, politische Entscheidungen zu treffen, ohne dass man dafür kritisiert wird. Das gehört sicherlich zu einer lebendigen Demokratie. Aber die Kritik sollte sich zumindest an der Wahrheit orientieren, insbesondere bei denjenigen, deren Existenz durch Steuergelder mitfinanziert wird. Auf einer heute stattfindenden Demonstration wird ein Flugblatt verteilt, in dem es heißt: Das Gesetz hat gravierende Lücken. Es fehlen klare Regeln, die verhindern, dass Gesetzesverstöße weiter als Betriebsgeheimnisse unter Verschluss bleiben. ({10}) Dazu kann ich nur sagen: Das hat mit der Realität nichts zu tun; denn nach unserem Gesetzentwurf sollen Gesetzesverstöße ausdrücklich nicht unter den Schutz von Betriebsgeheimnissen fallen. ({11}) Auf Deutsch: Niemand kann sich auf den Schutz von Betriebsgeheimnissen berufen, wenn Rechtsverstöße begangen wurden. Nichtsdestotrotz werden unwahre Kritikpunkte in der Öffentlichkeit verbreitet, obwohl sie mit der Absicht des Gesetzgebers nicht in Einklang stehen. Ich habe nichts gegen Diskussionen. Aber sie sollten fair und an der Wahrheit orientiert geführt werden. Natürlich kann man über die Ausgestaltung eines Gesetzes endlos diskutieren. Aber dafür gibt es ein parlamentarisches Verfahren. Wir werden in den Expertenhearings völlig offen gegenüber der technischen Ausgestaltung des Gesetzes sein. Das ist ja der Sinn des parlamentarischen Verfahrens. Das oberste Ziel muss bleiben, dass wir nach fünfjährigen Bemühungen um eine verbesserte Verbraucherinformation in der Bundesrepublik Deutschland die Vorschläge, die wir heute vorlegen, nicht mit der Folge zerreden, dass am Ende nichts kommt. Wir sollten vielmehr das, was möglich ist, jetzt verabschieden. Dann sollten wir einen zweijährigen Praxistest machen. Nach Ende dieser zweijährigen Periode, die wir in der Koalition vereinbart haben, sollten wir uns ansehen, wie das Gesetz in der Praxis gewirkt hat. Geben wir dem Gesetz in der Praxis eine Chance! Machen wir es nicht umgekehrt, nämlich so, dass es vor lauter Theoriediskussion nicht zur Anwendung in der Praxis kommt. ({12}) Wir werden nicht zulassen, dass der Erfolg von vornherein klein geredet wird. Ich möchte zum Schluss ein schönes Sprichwort bringen: Wir sind niemals am Ziel, sondern immer auf dem Weg dorthin. Machen wir uns also auf zum Ziel! ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Schluss haben Sie, Herr Minister, gesagt, dass Sie auf einem Weg sind. Dieser Weg ist für uns nicht erkennbar. Dieses Gesetz ist nicht schlank, ({0}) sondern es ist schlicht und ergreifend inhaltsarm. Dieses Gesetz hat keine Substanz und es wird zusätzlich dadurch verwässert - da sollten wir sehr ehrlich miteinander umgehen, Herr Seehofer; Sie nehmen die Worte Wahrheit und Klarheit häufig in den Mund -, dass es ein interessantes parlamentarisches Verfahren gibt. Auf der einen Seite gibt es den Gesetzentwurf, auf der anderen Seite gibt es einen, wenn auch heute noch nicht im Parlament zu behandelnden, aber immerhin im Verfahren steckenden Entschließungsantrag. Wenn man den Gesetzentwurf mit dem Entschließungsantrag vergleicht, dann ist man schon sehr darüber überrascht, dass auf der einen Seite im Gesetzentwurf Versprechen gemacht werden, die auf der anderen Seite im Entschließungsantrag zum großen Teil rückgängig gemacht werden. Insofern ist dieser Koalitionskompromiss, der hier auf dem Tisch liegt, schwach und er ist in Sachen Klarheit als absolut minderwertig zu beurteilen. ({1}) Es gibt auch die Qualifizierung „bedingt tauglich“, aber dieser Gesetzentwurf ist minderwertig, das heißt im Nahrungs- und Genusswert erheblich herabgesetzt. ({2}) Zu diesem Gesetz muss man sagen: Sie betreiben Etikettenschwindel. Ihr Gesetz ist unübersichtlich, es reihen sich zahlreiche unüberschaubare Ausnahmetatbestände aneinander, es wird von vornherein ein viel zu enger Anwendungsbereich angelegt und die Kostenregelung zulasten des Verbrauchers führt dazu, dass Sie den Verbrauchern Informationsrechte rauben. Da helfen auch keine Presseerklärungen der Kolleginnen Heinen und Klöckner oder des Kollegen Bleser, die von einer Stärkung der Verbraucherrechte sprechen. Ich habe den Eindruck, dass bei Ihnen ein hohes Maß an Verwirrung herrscht. ({3}) Im Gesetz wollen Sie Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse grundsätzlich schützen. Verwirrung schaffen Sie aber schon durch die problematische Formulierung, „wettbewerbsrelevante Informationen, die in ihrer Bedeutung für den Betrieb mit einem Betriebs- und Geschäftsgeheimnis vergleichbar sind“, sollten ebenfalls geschützt werden. Was sind denn wettbewerbsrelevante Informationen? Wer hat denn das zu klären? Soll das eine Behörde entscheiden oder soll das möglicherweise sogar ein Beamter entscheiden? Nein, es gehört Klarheit in das Gesetz und diese Klarheit fehlt dem Gesetz ganz eindeutig. ({4}) Eine andere Frage ist, wie es sich mit dem direkten Informationsanspruch gegenüber einem Unternehmen verhält. Sie wissen, dass gerade kleine und mittelständische Unternehmen mit diesem Anspruch, der zum Teil von Verbraucherorganisationen erhoben wird, erhebliche Probleme haben. Ich hatte in der letzten Zeit während Beratungen mit Kollegen der CDU/CSU, zum Beispiel im Vermittlungsausschuss, den Eindruck, dass wir uns in dieser Frage einig sind. ({5}) - Wenn das so ist, warum bringen Sie dann zusammen mit der SPD einen Entschließungsantrag in das Verfahren, mit dem Sie durch die Hintertür gerade diesen nach unserer Auffassung ungerechtfertigten Anspruch des Verbrauchers gegen Unternehmen einführen? Denn Sie wollen auf europäischer Ebene eine Initiative entwickeln, um diese Verbraucherrechte über die europäische Ebene auf nationaler Ebene zur Geltung zu bringen. Das finde ich unfair und unaufrichtig. Das ist eigentlich eine Politik nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass! ({6}) Sehr geehrter Herr Minister Seehofer, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ich meine, Sie sollten in diesem Punkt Farbe bekennen. Was sollen diese europäischen Initiativen? Wenn Sie der Meinung sind, dass es einen Verbraucherinformationsanspruch nicht nur gegenüber der Behörde, sondern auch gegenüber dem Unternehmen geben soll, warum schaffen Sie dann keine entsprechende Regelung in Ihrem Gesetz? Ich will noch einen anderen Punkt ansprechen, der mich sehr beunruhigt: Es geht um die Selbstverpflichtung der Unternehmen zu mehr Verbraucherinformationen. Das ist dasselbe Verfahren: Sie sagen, Sie wollen zunächst einmal mit den Betrieben ins Gespräch kommen; aber wenn die Betriebe dann nicht so spuren, wie Sie sich das vorstellen, dann entwickeln Sie europäische Initiativen, die wiederum dazu beitragen, dass die europäische Ebene das regelt, was Sie aufrichtigerweise ins nationale Verbraucherinformationsgesetz hineinzubringen nicht bereit sind. Ich frage mich wirklich: Welche Haltung haben Sie gegenüber Unternehmen, wenn Sie von Selbstverpflichtung sprechen? Kennen Sie die vielfältigen Aktivitäten deutscher Unternehmen nicht, die gerade darauf abzielen, die Verbraucherinformationen, die Verbraucherbildung zu verbessern? Kennen Sie nicht das Mitwirken der deutschen Lebensmittelwirtschaft zum Beispiel in der Plattform für Ernährung und Bewegung? Wenn Sie das alles kennen, dann wundere ich mich sehr darüber, dass wir hier diesen Doppelweg gehen: auf der einen Seite ein - Sie sagen: schlankes, ich sage: inhaltsarmes - Verbraucherinformationsgesetz und auf der anderen Seite europäische Initiativen, die das regeln, was in Ihrem Gesetz nicht verankert ist. Dieses Gesetz muss im Rahmen der Anhörung und im Rahmen der Ausschussberatungen deutlich verbessert werden; sonst wird es unseren gemeinsamen Ansprüchen an Verbraucherinformationen und an Verbraucherbildung nicht gerecht. Herzlichen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Drobinski-Weiß für die SPD-Fraktion.

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Wir bringen heute den Entwurf eines Verbraucherinformationsgesetzes ein. Erstmals wird damit dem Anspruch der Verbraucherinnen und Verbraucher auf Informationen in einem eigenständigen Gesetz Rechnung getragen und den Verbraucherinteressen der Stellenwert eingeräumt, der ihnen gebührt und den wir als SPD-Fraktion bereits mehrfach eingefordert haben. ({0}) Vor dem Hintergrund des Gammelfleischskandals ist Bewegung in die festgefahrene Diskussion um ein Verbraucherinformationsgesetz gekommen. Wir konnten uns mit unserem Koalitionspartner auf den heute vorliegenden Entwurf einigen. Er sieht deutliche Verbesserungen für die Verbraucherinnen und Verbraucher vor und verleiht ihren Interessen mehr Gewicht. ({1}) Ich will aber auch erklären, dass für uns, die SPDFraktion, dies erst der Auftakt ist. Die vorgesehenen Maßnahmen sind erste Schritte auf dem Weg zu einem transparenteren Markt, denen weitere Schritte folgen müssen. Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir die Möglichkeiten und Pflichten der Behörden zur Information der Öffentlichkeit über Missstände im Lebensmittel-, Futtermittel- und Bedarfsgegenständebereich ausweiten. Außerdem sollen sich Verbraucherinnen und Verbraucher künftig selbst bei den Behörden informieren können, auch wenn keine Rechtsverstöße vorliegen. Aber schon der Dichter Friedrich von Logau formulierte: „Anfang, der nicht Fortgang hat, ist ein Wagen ohne Rad.“ Wir wollen dafür sorgen, dass dieser Wagen namens Verbraucherinformation Räder bekommt, damit er fahren kann. Verbraucher und Verbraucherinnen müssen Zugang zu allen Informationen haben, die ihnen eine bewusste Auswahl von Produkten und Dienstleistungen ermöglichen und eine eigenverantwortliche Marktteilnahme gewährleisten. ({2}) Hier ist auch die Wirtschaft gefordert, Herr Kollege Goldmann: Die Unternehmen müssen ihrer Verantwortung gegenüber ihren Abnehmern nachkommen und sie über ihre Produkte und Dienstleistungen informieren. Verbraucherpolitik ist Wirtschaftspolitik von der Nachfrageseite. ({3}) Nur dann, wenn die Konsumenten und Konsumentinnen über die Qualität der Produkte informiert sind, kann Qualität nachgefragt werden und sich am Markt durchsetzen. Diesen Wettbewerbsvorteil gilt es zu nutzen; denn die Stärke der deutschen Wirtschaft liegt in der Qualitätsproduktion. ({4}) - Vielen Dank, Herr Goldmann. Wir werden deshalb im Laufe des Verfahrens einen Antrag zum Gesetzentwurf einbringen, der - der Herr Minister hat es schon angedeutet - die Überprüfung der Erfahrungen mit dem Verbraucherinformationsgesetz vorsieht und weitere Maßnahmen für mehr Markttransparenz aufzeigt. ({5}) Wir müssen auswerten, wie sich die neuen Regelungen in der Praxis bewähren. ({6}) - Ich finde das gar nicht lächerlich. - Wir wollen wissen, ob und, wenn ja, wie oft und aus welchen Gründen Informationen verweigert wurden. Damit kann nachvollzogen werden, ob und gegebenenfalls welche Ausschlussgründe den Informationsanspruch der Verbraucherinnen und Verbraucher zu stark einschränken. ({7}) Auch die Bearbeitungszeit für die Auskunftsanliegen und die Kosten für die Anfragenden sollen dokumentiert werden, damit wir bei Fehlentwicklungen gegensteuern können. ({8}) Ich sage von hier aus noch einmal ganz deutlich: Wir erwarten von der Wirtschaft Vorschläge dazu, wie der Zugang der Verbraucherinnen und Verbraucher zu den bei den Unternehmen vorhandenen Informationen ermöglicht werden kann. ({9}) Da werden wir nicht lockerlassen; denn die Unternehmen sind die wichtigste Informationsquelle für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Informationen sind die beste Werbung für Qualitätsprodukte. Kommt hier nichts zustande, werden wir auf gesetzliche Regelungen drängen. ({10}) Sehr geehrte Damen und Herren, mit unserem Gesetzentwurf machen wir uns endlich auf den Weg zu einem transparenteren Markt. Auf diesem Markt mit Qualitätsprodukten ist Transparenz ein Wettbewerbsvorteil. Deshalb lade ich Sie ein, uns auf diesem Weg zu begleiten. Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Tackmann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin, es ist mir eine große Ehre, während Ihrer ersten Sitzungsleitung reden zu dürfen. ({0}) - Das muss sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Mit dem Verbraucherinformationsgesetz ist es ein bisschen wie bei dem bekannten Sprichwort: Der Berg kreißte und er gebar ein Mäuschen. ({1}) Am Ende weiß man nicht, ob man froh darüber sein soll, dass es wenigstens ein Mäuschen geworden ist. Entgegen allen wortreichen Bekenntnissen zum Verbraucherschutz wirkt das erste große Gesetzesvorhaben von Minister Seehofer und den Koalitionsfraktionen lustlos und wenig ambitioniert, ({2}) vielleicht deshalb, weil das Ergebnis des Kreißens nicht einmal eine Maus werden sollte, sondern nur ein schwaches Mäuschen, das hoffentlich keinen Ärger macht. Dabei ist die Aufgabenstellung übersichtlich: Verbraucherinnen und Verbraucher sollen so mit Informationsrechten und Informationszugängen ausgestattet werden, dass sie sich im Spannungsfeld von Verbraucher- und Wirtschaftsinteressen souverän behaupten können; denn natürlich müssen Gesetze die Interessen der Schwächeren gegenüber denen der Stärkeren schützen. ({3}) Das ist, meine ich, alles andere als wirtschaftsfeindlich. Im Gegenteil: Dort, wo es ein Vertrauensverhältnis zwischen Wirtschaft und Verbraucherinnen und Verbrauchern gibt, profitieren beide Seiten. Vertrauen lässt sich nur mit Transparenz und Offenheit herstellen. ({4}) Diesem Anspruch wird der vorliegende Gesetzentwurf leider nicht gerecht. Meine Fraktion hat elf Kritikpunkte formuliert. Ich werde mich auf die wichtigsten konzentrieren. Erstens. Informationszugänge müssen kostenfrei angeboten werden, damit die Möglichkeit ihrer Nutzung nicht vom sozialen Status abhängig ist. ({5}) Nun hat Herr Minister Seehofer aber erst kürzlich öffentlich erklärt, dass kostendeckende Gebühren erhoben werden sollen. Wir halten das für falsch; denn für die immer größer werdende Zahl sozial benachteiligter Menschen stehen oft schon andere Informationsquellen wie Zeitungen nicht mehr zur Verfügung. Das zusammengekürzte Netz von Verbraucherberatungsstellen wird für sie immer schwerer erreichbar. Wir werden überall dort Widerstand leisten, wo Armut auch noch rechtlos macht. ({6}) Zweitens. Wir fordern einen Informationsanspruch gegenüber privaten Unternehmen. Für uns ist es ein fatales Zeichen, dass diese Diskussion unterschwellig von dem Gedanken durchzogen wird, Informationsrechte seien grundsätzlich und vorsätzlich gegen die Wirtschaft gerichtet. Es kann aber doch nicht Anliegen dieses Gesetzes sein, die Wirtschaft vor den Verbrauchern und Verbraucherinnen zu schützen. Was spricht eigentlich gegen diesen Informationsanspruch? Glauben Sie wirklich, dass dann jeder morgens beim Bäcker die Rezeptur seiner Brötchen verlangt? Drittens. Wir wollen die Behörden, entsprechend dem Umweltinformationsgesetz, deutlich stärker in die Pflicht nehmen. Das heißt zum Beispiel, die Behörden sollen zur aktiven Information der Öffentlichkeit sowie zur Hilfe bei der Informationsbeschaffung verpflichtet werden. Dass nur die bereits vorliegenden Informationen offen gelegt werden, reicht uns nicht. Viertens. Wir fordern die Erweiterung des Geltungsbereichs des Verbraucherinformationsgesetzes. Herr Goldmann hat schon darauf hingewiesen. Für uns ist es nicht vermittelbar, dass nur der Bereich der Erzeugnisse im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch geregelt werden soll, ({7}) aber beispielsweise nicht die berühmten Sicherheitshinweise bei Elektrogeräten. Fünftens. Wir fordern eine deutliche Reduzierung der jetzt sehr umfangreichen und weitgehenden Informationsverbote. Das bedeutet, der Verweis auf Betriebsund Geschäftsgeheimnisse darf nicht zum Freibrief für Informationsverweigerung werden. ({8}) Sechstens. Wir fordern deutlich kürzere Bearbeitungszeiten. Letztlich wird aber auch ein noch so gutes Verbraucherinformationsgesetz das eigentliche Problem nicht lösen: die strukturellen Ursachen der Lebensmittelskandale. Wo Sozial- und Umweltdumping stattfindet, ist es oft auch mit der Lebensmittelsicherheit nicht weit her. Vielen Dank. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Ulrike Höfken für die Grünen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist jetzt der dritte Versuch eines Verbraucherinformationsgesetzes. Sie hätten noch dazusagen sollen, Herr Minister, dass die ersten beiden Versuche hauptsächlich an Ihnen von der CDU/CSU gescheitert sind. ({0}) Sie haben gesagt, die Nennung des Namens zur klaren Information habe mehr Wirkung hinsichtlich der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität als alle anderen Strafgesetzregelungen. Das ist richtig. Aber dann fragen wir uns natürlich, warum die Latte beim Verbraucherinformationsgesetz diesmal wieder gerissen wird. Denn wie wir sehen, setzen Sie sich über die vielfache Kritik von Verbraucher- und Umweltverbänden, von Wirtschaft und Journalistenverbänden hinweg. Es ist ein Gesetz voller Anwendungslöcher und bürokratischer Hürden, das Sie jetzt durch den Bundestag peitschen. Die Ausschlussgründe sind zu vielfältig, der Anwendungsbereich ist zu klein, die Antwortfristen sind viel zu lang und die schwarzen Schafe - ich glaube, denen sind Sie heute schon begegnet - werden weiter geschützt. Die Bezeichnung „Verbraucherinformationsgesetz“ ist insgesamt völlig irreführend, weil Sie die Verbraucherinformation auf das Lebensmittel- und Futtermittelrecht reduziert haben. Das kann es ja wohl nicht sein. ({1}) Nun liegt ein Konzept für einen Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen vor. Das ist ein merkwürdiger Vorgang: Erst legen die Koalitionsfraktionen einen Gesetzentwurf vor, nun wollen die Abgeordneten einen eigenen Entschließungsantrag vorlegen. Das ist ein sehr interessantes Verfahren. ({2}) Im Herzen bin ich bei diesem Entschließungsantrag. Ich bin natürlich auch sehr interessiert, zu beobachten, wie sich dieses Kind entwickelt. Aber ganz klar ist: Hätten Sie sich an unserem Gesetzentwurf orientiert, den wir damals eingebracht haben, dann hätten Sie ein wirklich effektives Verbraucherinformationsgesetz bereits im ersten Durchgang vorlegen können. ({3}) Stattdessen sind die Regelungen nahezu gleich inhaltsleer geblieben: keine Informationsherausgabe und Namensnennung bei bestimmten Schadstoffen, zum Beispiel der Druckchemikalie ITX oder Acrylamid. ({4}) - Doch, das stimmt. - Acrylamid - das darf ich einmal den Kollegen von der CDU/CSU sagen - hat doch in der vergangenen Legislaturperiode noch eine Bedrohung der Menschheit dargestellt. ({5}) Hier muss man also eine deutliche Lücke feststellen. Eine Information über diesen Schadstoff - das können Sie gerne nachprüfen; wir möchten bei der Wahrheit bleiben und werden dies weiter überprüfen - werden Sie nicht bekommen, ebenfalls nicht bezüglich Mehrfachpestizidbelastungen von Obst und Gemüse. ({6}) Sie haben auch keinen Informationsanspruch und keine Informationspflicht durch die Behörden bei wirtschaftlicher Täuschung, zum Beispiel bei Verschleierung der Herkunft von Produkten - Frau Tackmann hat das schon erwähnt - oder bei Umetikettierung von ach so beliebten importierten Billigsportartikeln oder Medikamenten, vorgesehen. Kein Informationsanspruch besteht auch bei Produkten und Dienstleistungen, zum Beispiel bei Finanzdienstleistungen. Es gibt auch keinen Informationsanspruch gegenüber Unternehmen sowie im Hinblick auf wirtschaftlich relevante Informationen. Dies gilt beispielsweise für den Fall, dass Unternehmen Kapitalanleger bewusst geschädigt hatten. Der Gesetzentwurf baut durch unklare Formulierungen - das ist vielleicht das Hauptproblem -, mangelnde Transparenz, Kosten, bürokratische Vorschriften und zu lange Antwortfristen einen Schutzwall gegen die Verbraucher. Das finden wir nicht akzeptabel. Die Verbraucher und auch die Presse werden daran gehindert, ihre Rechte wahrzunehmen. Unternehmen verstecken sich hinter Betriebsgeheimnissen. Es ist für uns selbstverständlich, dass diese gewahrt bleiben. ({7}) Dieses Gesetz enttäuscht also die Erwartungen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist eigentlich zu Ende. Aber Sie können noch auf eine Zwischenfrage der Kollegin Klöckner antworten.

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe eine Frage, Frau Kollegin Höfken. Sie haben eben gesagt, der Verbraucher habe keinen Anspruch darauf, etwas über Herkunft und Kennzeichnung zu erfahren. Ich weiß nicht, ob Ihnen die aktuelle Version des Gesetzes vorliegt. Mir liegt sie als Drucksache vor. In § 1 Abs. 1 heißt es: Jeder hat nach Maßgabe dieses Gesetzes Anspruch auf freien Zugang zu allen Daten über … 3. die Kennzeichnung, Herkunft, Beschaffenheit, Verwendung sowie das Herstellen oder das Behandeln von Erzeugnissen sowie über Abweichungen von Rechtsvorschriften über diese Merkmale und Tätigkeiten … Haben Sie vorhin gemeint, dass das nicht möglich ist? ({0})

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir haben lange Zeit darauf verwendet, die einzelnen Paragrafen dieses Gesetzes zu prüfen und zu bewerten. Darum sagen wir, dass es eher ein Verbraucherinformationsverhinderungsgesetz ist. Denn normalen Menschen wird es aufgrund dieses Gesetzes nicht möglich sein, eine Auskunft zu bekommen. ({0}) Frau Klöckner, Sie vergessen den Anwendungsbereich des Gesetzes. Dieses Gesetz ist auf das Lebensmittel- und Futtermittelrecht reduziert. Aber es gibt auch den Bereich - Frau Tackmann hat ebenfalls darüber gesprochen - der importierten Sportartikel. Eine Information darüber bekommen Sie trotz aller Nachfragen nicht. Dieses Gesetz enttäuscht also die Erwartungen. Ich nehme Sie beim Wort, Herr Minister. Sie haben zugesagt, dieses Gesetz einer Überprüfung unterziehen zu lassen. Also ein neuer Sprung; die Latte wird neu aufgelegt. Wir werden im Gesetzgebungsverfahren weiter darüber diskutieren. Danke schön. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich erteile das Wort der Kollegin Mechthild Rawert von der SPD-Fraktion.

Mechthild Rawert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003825, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Wir haben schon gehört: Aus Kindern werden Leute; noch kein Mäuschen ist klein geblieben. Infolgedessen gilt: Aller guten Dinge sind drei. Verbraucherschutz ist ein aktiver und bedeutender Teil unserer Bürgergesellschaft. Jede Bürgerin und jeder Bürger ist als Verbraucher davon betroffen. Verbraucherschutz betrifft uns alle. Wir wollen, dass ein umfangreicher Verbraucherschutz der Gesundheit, dem Schutz der wirtschaftlichen Interessen, der Wiedergutmachung erlittenen Schadens wie auch der Unterrichtung und Aufklärung über Waren und Dienstleistungen sowie die damit verbundenen Gefahren und Missbräuche dient. Wir sind uns doch alle einig: Der unappetitliche Gammelfleischskandal hat uns gezeigt, dass Gesundheitsrisiken für Verbraucherinnen und Verbraucher durch unsichere Produkte frühzeitig ermittelt und wirksam bekämpft werden müssen. Zuverlässige Kontrollen, transparente Qualitätssicherungssysteme, sichere Prognosemethode sowie - darum geht es heute - unabhängige und objektive Informationen sind dabei die wichtigsten Instrumente. Grundsätzlich stehen beim Verbraucherrecht wirtschaftliche und finanzielle Aspekte im Mittelpunkt. Wir wollen Verbraucherinnen und Verbraucher dabei unterstützen, solche Waren und Dienstleistungen auszuwählen, die ihnen sowohl qualitativ als auch finanziell den größten Nutzen versprechen. Wir wollen die Bürgerinnen und Bürger befähigen, dem Marktgeschehen nicht wehrlos gegenüberzustehen, sondern als sachkundige und selbstbewusste Akteurinnen und Akteure zu agieren. ({0}) Denn eines ist richtig: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. ({1}) Dies hat eigentlich jede und jeder von uns schon einmal gesagt. Für beides, für Vertrauen und sachkundige Kontrolle, sind Transparenz und eine umfassende Information die Voraussetzung. ({2}) Mit dem von der Regierungskoalition vorgelegten Gesetz ermöglichen wir es den Verbraucherinnen und Verbrauchern erstmalig, Auskunft von Behörden zu erhalten. Wir wollen die Verbraucherinnen und Verbraucher dazu befähigen, sich über eklatante Verstöße zu informieren, bevor sie ihre Wirkung entfalten können. Eines ist sicher: Wir betrachten dies als einen ersten Schritt in Richtung eines verbesserten, modernen Verbraucherschutzes. Ich sage bewusst: Dies ist ein erster Schritt. Auch meine Kollegin Elvira Drobinski-Weiß hat von einem Stein gesprochen, der ins Rollen gekommen ist. Weitere Schritte müssen also folgen. Wir, die SPDBundestagsfraktion, wollen einen transparenten Markt, der den Verbraucherinnen und Verbrauchern durch Information und Beratung die Möglichkeit bietet, gleichberechtigte Partnerinnen und Partner der Wirtschaft zu werden. ({3}) Verbraucherschutz kann sich dauerhaft nicht nur auf Lebens- und Futtermittel beschränken. ({4}) Verbraucherschutz durch Verbraucherinformationen muss in unser aller Interesse langfristig für alle Produkte und Dienstleistungen gelten. Selbstverständlich wollen wir die Verbraucherin und den Verbraucher vor mangelhafter Ware schützen. Effektiver Verbraucherschutz bedeutet daher auch, die Wirtschaft vor ruinösen Wettbewerbsbedingungen, vor einer sowohl qualitativen als auch preislichen Spirale nach unten zu bewahren. Denn die Mentalität „Geiz ist geil“ schadet uns allen und nutzt niemandem. Dagegen ist anzugehen. Moderner Verbraucherschutz sei die Grundlage einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik, hat Herr Seehofer gesagt. Ich stimme ihm ausdrücklich zu; dies ist richtig. Aus diesem Grunde werden wir die Wirtschaft weiterhin sehr genau beobachten. Wir wollen einen ersten Schritt in Richtung eines transparenten Marktes gehen und das Leitbild der mündigen Verbraucherin bzw. des mündigen Verbrauchers stärken. Machen Sie mit! Stimmen Sie zu! ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 16/1408 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Bei gentechnisch veränderten Pflanzen nationales Recht auf Einfuhrverbote und Schutzmaßnahmen nutzen - Drucksache 16/1176 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache wiederum eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist auch dies so beschlossen. Als erste Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin Ulrike Höfken von den Grünen das Wort.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Unser Antrag widmet sich dem Thema „Zulassung gentechnisch veränderter Pflanzen und Produkte“. Wir greifen in der aktuellen Gentechnikdebatte ein Thema auf, über das sowohl auf der europäischen Ebene wie auch bei uns auf nationaler Ebene und in anderen Mitgliedstaaten intensiv diskutiert wird. Auf der EU-Konferenz Anfang April in Wien ist deutlich geworden, dass die Bedenken im Hinblick auf ökologische und gesundheitliche Risiken, die sich in den Ergebnissen zahlreicher Studien widerspiegeln, inzwischen von vielen Mitgliedstaaten und der EU-Kommission geteilt werden. Wir sind froh darüber, dass die EU-Kommission eine Verbesserung der Zulassungsverfahren in Aussicht gestellt hat. Wir werden diesen Prozess mit Nachdruck begleiten. ({0}) Ich will auf einen sehr interessanten Punkt unseres Antrages zu sprechen kommen. Zu der gentechnisch veränderten Maislinie MON 810, die von Minister Seehofer - es war eine seiner ersten Amtshandlungen - Ende letzten Jahres zugelassen wurde, haben wir heute ein Rechtsgutachten vorgestellt, welches erneut belegt, dass das Inverkehrbringen der in Deutschland verwendeten Maislinie MON 810 ungeachtet der Zulassung durch Minister Seehofer nicht erlaubt ist. Wir fordern Minister Seehofer daher auf, den gerade gestarteten Anbau von MON 810 sofort zu stoppen und die Sortenzulassung zurückzunehmen. ({1}) Die Bundesbehörden, die für die Kontrolle und das Inverkehrbringen zuständig sind, fordern wir auf, ihre Pflicht wahrzunehmen und den gestarteten Anbau zu stoppen. Der Anbau findet zu fast 99 Prozent in den neuen Bundesländern statt. Wir finden es nicht in Ordnung, dass die Menschen dort zu Versuchskaninchen gemacht werden. Die Bedenken, die in dem heute vorgelegten Rechtsgutachten noch einmal zum Ausdruck gebracht werden, müssen ihren Niederschlag finden: Der weitere Anbau der Maissorte MON 810 muss sofort gestoppt werden. ({2}) In dieser Zulassung sehe ich auch insofern einen politischen Skandal, als wir vorher deutlich genug darauf hingewiesen haben, dass eine Zulassung dieser Maissorte in Deutschland nicht rechtskonform ist. Trotzdem wurde der Anbau durchgedrückt. Herr Minister Seehofer, Sie haben die Betroffenen in eine äußerst schwierige Situation gebracht, und zwar sowohl diejenigen, die gentechnikfrei produzieren wollen, als auch diejenigen, die einen Anbau des gentechnisch veränderten Maises betreiben wollten bzw. dazu gebracht wurden. Sie befinden sich jetzt in einer rechtlich außerordentlich schwierigen Situation. Sie müssen sich an die Hersteller, Händler und Behörden wenden, um zu klären, wie die rechtliche Situation aussieht. Ich finde, diese Situation ist politisch nicht tragbar. Wir fordern Sie daher noch einmal auf, die Zulassung für den Anbau dieses Produktes sofort zurückzuziehen. Danke. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Lehmer für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Max Lehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Höfken, den in Ihrem Antrag gemachten Feststellungen zu den Zielen des deutschen Gentechnikrechtes, nämlich dem Schutz von Mensch, Tier und Umwelt - das ist die oberste Priorität -, der Wahlfreiheit der Verbraucher und Landwirte sowie der Koexistenz verschiedener Landwirtschaftsformen, stimmen wir uneingeschränkt zu. ({0}) Wir begrüßen es ausdrücklich, dass hinsichtlich der nationalen Gestaltungsspielräume bezüglich dieser wichtigen Zielsetzungen entsprechende Freiräume bestehen. Es ist unserer Meinung nach erfreulich, dass es hierzu vonseiten der EU keine einheitlichen und zwingenden Vorgaben gibt. Wie mehrfach angekündigt, wird die Regierungskoalition in den nächsten Monaten entsprechende nationale Regelungen zu den genannten Bereichen ausarbeiten und zur Abstimmung bringen. Im vorliegenden Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen wird verlangt, erteilte Sortenzulassungen von GVO-Maissorten zu widerrufen und keine weiteren Sortenzulassungen zu erteilen sowie Einfuhrverbote auf EU-Ebene zu unterstützen. Aktuelle Überprüfungen der im Antrag vorgebrachten Begründungen - denen Sie, Frau Höfken, eine andere aktuelle Information entgegensetzen - ergaben folgendes Ergebnis: Feststellung Nr. 1. Die Voraussetzungen für die Erteilung der Sortenzulassung für GV-Mais der Linie MON 810 lagen und - jedenfalls nach meinem gestrigen Informationsstand - liegen weiterhin vor. Eine erneute Bewertung der Rechtslage im Gesamtzusammenhang des europäischen Genehmigungsrechtes stützt nicht die angesprochenen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Zulassung. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit steht derzeit uneingeschränkt zu diesen bisherigen Zulassungen. Feststellung Nr. 2. Gegen die Inverkehrbringungsgenehmigung für MON 863 liegen ebenfalls nach aktuellem Stand der Sicherheitsbeurteilung keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse von rechtlicher Bedeutung vor. Feststellung Nr. 3. Die Kommission geht davon aus, dass alle bisher in der EU zugelassenen GVO auch in ihren ökologischen Langzeitwirkungen sicher sind. Die Kommission wird auch - so die Aussage - im Rahmen der strengen Gesetzgebung für weitere Zulassungen eintreten. Sie weist ausdrücklich darauf hin, dass nationale Alleingänge und Verbote nach einer Zulassung vermieden werden sollen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass Deutschland bei den Abstimmungen im Umweltrat am 24. Juni 2005 und im Landwirtschaftsrat am 25. Oktober 2005 - beide Male vertreten durch Jürgen Trittin, im Juni als Umweltminister und im Oktober als geschäftsführender Landwirtschaftsminister ({1}) dem Vorschlag der Kommission auf Zulassung zugestimmt hat. ({2}) Deutschland hat dabei ausdrücklich festgestellt, dass aus seiner Sicht keine schädlichen Auswirkungen von MON 863 auf Mensch oder Umwelt zu erwarten seien. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höfken zu?

Dr. Max Lehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte in meinem Konzept weitermachen. ({0}) Feststellung Nr. 4. Im Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion über eine Überarbeitung der EU-Zulassungsregeln - Sie haben sie angesprochen - regt die Kommission an, bei vorhandenen Zweifeln seitens der Mitgliedstaaten diese schon während des laufenden Zulassungsverfahrens einbringen zu können. Diese angebotene engere Kooperation mit den nationalen wissenschaftlichen Institutionen bereits in der Phase der Risikoanalyse selbst ist ausdrücklich zu begrüßen. Feststellung Nr. 5. Bundesminister Seehofer hat in diesen Tagen ein Schreiben an die Kommissare für Gesundheit und Verbraucherschutz sowie für Umwelt gesendet und fordert diese zur Klärung auf, welche Konsequenzen aus der Ankündigung der Kommission zu Änderungen der Entscheidungsprozesse über GVO zu erwarten sind. ({1}) Außerdem wurde das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit um Prüfung gebeten, ob aus einer aktuellen Sicherheitsbewertung heraus Anlass für zulassungsrelevante Entscheidungen besteht. In diese Prüfung sollen das Bundesamt für Naturschutz, das Robert-Koch-Institut, das Bundesinstitut für Risikobewertung und die Biologische Bundesanstalt für Landund Forstwirtschaft eingeschaltet werden. Das Ergebnis dieser Prüfung ist abzuwarten. Feststellung Nr. 6. Nationale Einfuhrverbote können nur im Einzelfall ausgesprochen werden - so lautet EURecht -, und zwar nur dann, wenn neue oder zusätzliche wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass eine Gefahr für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt besteht. Feststellung Nr. 7. Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten Einigkeit darin besteht, dass im Hinblick auf die Koexistenz die zwischenstaatliche Zusammenarbeit verstärkt werden soll. Danach sollen die verfügbaren Informationen allen Mitgliedstaaten zugänglich gemacht werden sowie Forschungstätigkeiten unterstützt werden. Einigkeit besteht auch darin, dass die Kommission so bald wie möglich einen Vorschlag für gemeinschaftliche Schwellenwerte für GV-Bestandteile im Saatgut vorlegen soll, bei deren Überschreitung das Saatgut folgerichtig als genetisch verändert gekennzeichnet werden soll. Jedenfalls ist zu vermeiden, dass durch unterschiedliche Koexistenzregelungen der Mitgliedstaaten Wettbewerbsverzerrungen entstehen. Feststellung Nr. 8. Ein Anbaumoratorium bis zum Erlass von EU-weiten Harmonisierungsmaßnahmen, wie Sie es vorschlagen, halten wir für nicht erforderlich. Aus all den genannten Gründen lehnen wir den Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen ab. Wir halten die gestellten Forderungen für nicht zielführend. Vielmehr bleiben wir bei der geplanten Vorgehensweise. Nach der erfolgten Umsetzung der Freisetzungsrichtlinie im Februar dieses Jahres erfolgt nun nach einer von Minister Seehofer breit angelegten Anhörung aller Interessensgruppen die Ausarbeitung der noch offenen, in nationaler Zuständigkeit zu regelnden wichtigen Sachfragen zu den Bereichen - ich wiederhole -: Koexistenz aller Anbauverfahren, die Haftungsregel, die Ausgestaltung der guten landwirtschaftlichen Praxis und - das ist ein wichtiger Punkt - die Sicherung der Wahlfreiheit für die Verbraucher. Im Mittelpunkt steht auch künftig die Forschung zur weiteren Aufklärung und Auffindung relevanter Erkenntnisse für die Bereiche Sicherheit und Anwendungsregelungen. Ein hoher Stellenwert muss dabei auch in Zukunft der öffentlichen wissenschaftlichen Forschung zugewiesen werden. Ein wichtiger Hinweis: Freilandversuche müssen ohne Behinderung möglich sein. Sie bilden die Basis für anbau- und ökologierelevante Fragestellungen. ({2}) Leider mussten wir in dieser Beziehung in manchen Regionen gegenteilige Erfahrungen machen. Zum Abbau vorhandener Bedenken unserer Bürger gegenüber der Grünen Gentechnik müssen alle Ergebnisse im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten transparent gemacht werden. Alle möglichen Maßnahmen für eine sach- und fachgerechte Information sind zu nutzen. Es geht vor allem darum, eine offene und wissenschaftlich fundierte Chancen-Risiko-Abschätzung vorzunehmen. Dazu ist es erforderlich, sich die sich in raschem Tempo entwickelnden Möglichkeiten gentechnisch veränderter Produkte und ihren Nutzen für den Verbraucher insbesondere in den Bereichen Lebensmittelqualität, Energienutzung von Pflanzen und Umweltschutz bewusst zu machen. Wir wollen niemandem eine Technologie aufdrängen keineswegs. Wir wollen aber sicherstellen, dass die Chancen der Grünen Gentechnik nach verantwortungsvoller Abwägung aller Vorteile und Risiken auch in Deutschland genutzt werden können, und zwar von den Verbrauchern, den Landwirten und der Wirtschaft. Dazu sind die Regeln so auszugestalten, dass der Markt, also der Verbraucher durch sein Konsumverhalten, entscheiden kann, wie es auch bei allen anderen Technologien der Fall war und ist. ({3}) Wir werden in Ruhe, ohne Zeitdruck und - das betone ich - in vollem Verantwortungsbewusstsein vorgehen. Alle Aktivitäten, die vornherein die Verhinderung einer modernen Technologie verfolgen, werden wir sehr kritisch begleiten. Ich bedanke mich. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Höfken.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank. - Da mich der Kollege gerade angesprochen hat, möchte ich seine Auffassung zur Zulassung der Maislinie MON 810 richtig stellen: Die in Deutschland verwendeten Sorten verfügen nicht über die erforderliche gentechnikrechtliche Genehmigung. MON 810 hat zwar auf Grundlage der so genannten EU-Freisetzungsrichtlinie aus dem Jahr 1990 ein Zulassungsverfahren durchlaufen. Aber die Entscheidung der EU-Kommission über diesen Antrag bedeutet keinesfalls - das wird auch in der Fachöffentlichkeit manchmal falsch dargestellt -, dass MON 810 genehmigt ist. Es oblag den französischen Behörden, für die in Frankreich angebauten Sorten eine Genehmigung zu erteilen. Das haben sie auch getan. Dabei ging es aber nicht um die Sorten, die vor kurzem in Deutschland zugelassen worden sind und hierzulande angebaut werden. Von daher besteht für die in Deutschland verwendeten Sorten seit 1998 eine gentechnikrechtliche Zulassungslücke. Sie alle wissen, dass das Gentechnikrecht bzw. das Zulassungsrecht nach dem Moratorium EU-weit deutlich verschärft worden ist. Seit 2003 dürfen gentechnisch veränderte Organismen, die für Lebensmittel prinzipiell verwendet werden dürfen, nur nach einer umfassenden Lebensmittelsicherheitsprüfung zugelassen werden. MON 810 ist im Rahmen eines solchen Verfahrens und anhand der aktuellen Vorschriften bisher überhaupt nicht geprüft worden. Zudem sind genehmigte Erzeugnisse nach altem Recht nur für eine Übergangsfrist bis Ende 2006 zugelassen, und dies auch nur dann, wenn eine ordnungsgemäße Meldung in Brüssel erfolgt ist. Diese Meldung ist, was MON 810 betrifft, aber nicht erfolgt. Dass es plötzlich eine Meldung in dem entsprechenden Register gegeben hat, ändert daran übrigens gar nichts. Das ist nämlich etwas anderes. Man kann nicht einfach ein Erzeugnis in ein Register eintragen lassen und dann behaupten, das entspreche einer Zulassung. Das geht nicht. Aus diesem Grunde darf das Saatgut MON 810 in Deutschland nicht mehr vertrieben und auch nicht mehr angebaut werden. Diese Erkenntnis haben wir aus dem entsprechenden Rechtsgutachten gewonnen. Deswegen sind wir der Auffassung, dass auch Sie die Konsequenzen aus diesem Rechtsgutachten ziehen müssen. Danke.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Dr. Lehmer, Sie haben das Wort zu einer Erwiderung.

Dr. Max Lehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003798, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Höfken, ich habe mich über den rechtlichen Hintergrund der Zulassung von MON 810 informiert. Meine Informationen - Stand: gestern - stehen im Widerspruch zu Ihren Aussagen. Ich kann diesen Widerspruch nicht auflösen. Ich kenne das Rechtsgutachten nicht, auf das Sie sich beziehen. Mir liegen andere Informationen vor. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich erteile das Wort für die FDP-Fraktion der Kollegin Dr. Happach-Kasan. ({0})

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuvor ein Wort zu dem aktuellen Streit: Ich wundere mich sehr, dass die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen jetzt ein Rechtsgutachten zu diesem Thema eingeholt hat. Warum ist der rechtliche Dissens im Hinblick auf die Zulassung dieser Sorte nicht thematisiert worden, als Frau Künast Ministerin war? ({0}) Warum ist eigentlich Abteilungsleiter Schlagheck aus dem Amt vertrieben worden und warum sind die Sitzungen des Sortenausschusses abgesagt worden, sodass keine Entscheidung getroffen werden konnte? Dies alles hätte man vermeiden können, wenn es einen rechtlichen Grund gegeben hätte, die Sorte nicht zuzulassen. ({1}) Ich bitte Sie, das Rechtsgutachten zur Verfügung zu stellen, damit wir uns selbst eine Meinung darüber bilden können. Ich denke, wir alle - auch der Kollege Lehmer sind uns darüber einig, dass die Zulassung rechtlich korrekt zu verlaufen hat. Aber ich habe große Zweifel, dass Ihr Rechtsgutachten standhalten wird.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Happach-Kasan, möchten Sie auf Zwischenfragen der Kollegin Höfken antworten?

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte dazu sagen, dass diese Rechtsauffassung schon damals bestand und auch belegt worden ist. ({0}) Genau deswegen hat Frau Künast die Zulassung nicht erteilt. Allerdings haben wir jetzt in einem neuen, von der Fraktion in Auftrag gegebenen Gutachten noch andere Aspekte herausarbeiten können. Ich stelle dieses Gutachten gerne zur Verfügung.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Höfken, diese Äußerung wundert mich sehr; denn meines Wissens - Sie wissen, dass ich in der letzten Legislaturperiode ebenfalls Mitglied des Bundestages gewesen bin - hat Frau Künast dies nicht öffentlich gemacht. Sie hat verhindert, dass der Sortenausschuss tagen und damit die Zulassung aussprechen konnte. Ich wundere mich, warum ein solcher, an der Legalität vorbeigehender Weg gewählt worden ist, wenn die Sorte einem Rechtsgutachten nach eindeutig nicht zugelassen werden konnte. ({0}) Das ist für mich ein rechtsstaatlich sehr undurchsichtiges Verfahren. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich würde auch vorschlagen, dass Sie diesen interessanten Meinungsaustausch zunächst in den Ausschussberatungen fortsetzen und das Ganze nicht weiter als Zwischenfrage tarnen.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke schön, Frau Präsidentin. Ich möchte an den Anfangspunkt meiner Rede zurückkehren: Es geht nicht nur um MON 810, vielmehr müssen wir den Antrag der Grünen in den Gesamtzusammenhang stellen: Wir wissen, dass der Anbau von Kulturpflanzen, die unter Anwendung gentechnischer Methoden gezüchtet wurden, weltweit eine Erfolgsstory ist. ({0}) Jedes Jahr vergrößert sich die Fläche - inzwischen sind es über 90 Millionen Hektar -, auf der solche Pflanzen angebaut werden. Es gibt eine Studie von Professor Qaim von der Universität Hohenheim. Er hat herausgefunden, dass gerade die Bauern in den Entwicklungsländern davon profitieren. ({1}) Mehrere Millionen Tonnen gentechnisch veränderte Soja werden jedes Jahr eingeführt. 95 Prozent der Soja, die in Deutschland verbraucht werden, sind gentechnisch verändert; die Aufschrift „gentechnisch verändert“ ist inzwischen die Regel. Deutschland hinkt bei der Nutzung der Grünen Gentechnik in der EU hinterher. Wir haben keine Wahlfreiheit, weil die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht zwischen Produkten, die aus gentechnisch veränderten Pflanzen hergestellt sind, und solchen, die dies nicht sind, wählen können. Das wollen wir ändern. Wir haben im März die Freisetzungsrichtlinie der EU umgesetzt und damit eine Altlast von Rot-Grün aus dem Weg geräumt und drohende Strafzahlungen vermieden. Die EU hat mit dem im Mai 2004 beendeten sechsjährigen Moratorium für die Einfuhr gentechnisch veränderter Lebensmittel gegen internationale Handelsregeln verstoßen; dies hat das Schiedsgericht der WTO gerade bestätigt. Das gilt auch für die von Deutschland ausgesprochenen Handelsverbote. Wir als FDP wollen einen rechtlich sicheren Weg gehen und nicht gegen internationale Handelsbestimmungen verstoßen. ({2}) Die von der Bundesregierung in dem im März verabschiedeten Gentechnikgesetz angekündigte weitere Novellierung ist dringend erforderlich. Minister Seehofer ist inzwischen leider nicht mehr da. ({3}) - Oh, entschuldigen Sie, Herr Minister, ich nehme zur Kenntnis: Sie sind da. Ich freue mich, dass Sie mir zuhören. - Herr Minister, wir werden Sie daran messen, ob Sie nur ankündigen oder ob Sie auch handeln. Erst hieß es, im Mai gebe es einen Gesetzentwurf. Jetzt sollen im Juni Eckpunkte vorgelegt werden. Herr Lehmer hat gesagt, der Gesetzentwurf komme in mehreren Monaten. Wir wollen möglichst bald ein Gesetz. Wir wollen nicht, dass weiter Nebelkerzen geworfen werden. ({4}) Wir werden den Gesetzentwurf daran messen, ob durch ihn praktikable Haftungsregelungen geschaffen werden, ob das Inverkehrbringen neu definiert wird und ob schikanierende Bürokratielasten abgebaut werden. Sie, Herr Minister, haben mit der Zulassung fünf transgener Maissorten, deren Wertprüfung schon lange abgeschlossen ist - damit komme ich auf dieses Thema zurück -, den Weg rechtsstaatlichen Handelns beschritten. Das will ich ausdrücklich anerkennen. Jetzt brauchen wir eine Novelle des Gentechnikgesetzes, die in Deutschland einen Innovationsschub bewirken wird. Liebe Kollegin Höfken, der Antrag der Grünen weist in die falsche Richtung; das habe ich beim Thema MON 810 bereits gesagt. Ich will noch hinzufügen: Es mag sein, dass wir eine neue Freisetzungsrichtlinie haben, aber es gilt: Das Abitur bleibt gültig, auch wenn die Prüfungsordnung verändert wurde. So ist es auch bei den Sorten der Maislinie MON 810. Die Studien zu den Sorten der Linie MON 863 sind von der EFSA umfassend geprüft worden. Sie kommt zu dem Schluss, dass der Mais dieser Linie gut ist. Ich meine, wir können politisch nicht etwas entscheiden, was von der EFSA bereits richtig entschieden worden ist. ({5}) Wir sind wie Sie der Auffassung, dass Studien von unabhängigen Experten geprüft werden müssen. Doch wer sind unabhängige Experten? Wissenschaftler des Ökoinstituts, die der Regierung geraten haben, die gute fachliche Praxis beim Maisanbau an einer russischen Studie aus dem Jahre 1940 auszurichten? Sind das unabhängige Experten? Oder ist das der Umweltverband, der mit seiner Genmilchkampagne versucht hat, Verbraucherinnen und Verbraucher zu verunsichern und der ein Unternehmen diskreditiert hat, das hervorragende Produkte auf den Markt bringt? Ich glaube, das sind keine unabhängigen Experten. Die Anwendung Grüner Gentechnik zur Verbesserung der Sorten ist eine sehr gute Strategie, von der keine der Energiepflanzen von vornherein ausgeschlossen werden sollte, auch der Raps nicht. Es ist gut, dass es dazu Initiativen in Mecklenburg-Vorpommern gibt. Erst gestern haben wir gemeinsam für eine andere Politik der Bundesregierung bei Biokraftstoffen protestiert. Wir sind uns einig, dass Biokraftstoffe in Deutschland eine Zukunft haben müssen. Dazu brauchen wir die entsprechenden steuerlichen Regelungen, aber auch mehr Effizienz auf dem Acker. Dabei hilft die Grüne Gentechnik. ({6}) Die Grünen haben Erfahrung darin, mit Verboten auf neue Entwicklungen zu reagieren. Die Petflasche ist dafür ein Beispiel, ich nenne aber auch ihre Haltung zum Handy oder zum PC. Nun soll es die Terminatortechnologie sein, wissenschaftlich GURT. Es gibt dazu keinerlei Anwendungserfahrung. Jetzt ein Verbot zu fordern, ist Symbolpolitik, nicht mehr. Das gilt im Übrigen für den gesamten Antrag.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen. ({0})

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss. - Herr Minister Seehofer, Sie haben betont, dass Sie das Gentechnikgesetz im Konsens novellieren wollen. Ich finde, das ist ein guter Ansatz. Aber ich möchte Sie nur an folgenden Vorfall erinnern: Im April ist in Bayern ein Versuchsfeld durch Ausbringen von Mineralöl zerstört worden. Für mich ist das Umweltkriminalität. ({0}) Wie wollen Sie mit Menschen, die die biologische Sicherheitsforschung mit kriminellen und umweltgefährdenden Handlungen sabotieren, im Konsens ein für die deutsche Forschung und Landwirtschaft wichtiges Gesetz novellieren?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Antwort auf diese Frage müssen Sie leider in den weiteren Beratungen suchen bzw. in der zweiten und dritten Lesung. Sie haben Ihre Redezeit wirklich weit überschritten.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bitte Sie: Haben Sie mehr Mut, Herr Minister! Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Drobinski-Weiß von der SPD-Fraktion.

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Bei gentechnisch veränderten Pflanzen nationales Recht auf Einfuhrverbote und Schutzmaßnahmen nutzen“ hat vor dem Hintergrund derzeitiger Entwicklungen auf EU-Ebene an Aktualität gewonnen. Deshalb sollten wir die Debatte nicht auf einen Schlagabtausch zwischen Opposition und Regierungsfraktionen reduzieren. ({0}) Einige der angesprochenen Punkte sollten ernsthaft diskutiert werden. Wir sind uns sicher, dass alle in diesem Haus sich darin einig sind, dass wir die in Brüssel in Gang gekommene Diskussion um mehr Transparenz von Entscheidungen über gentechnisch veränderte Organismen und um eine Stärkung des Einflusses der einzelnen Mitgliedstaaten dazu nutzen sollten, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die Interessen der Menschen in diesem Land zu vertreten. ({1}) Neue Entwicklungen in der EU veranlassen uns, uns mit einigen der im Antrag aufgeworfenen Fragen auseinander zu setzen. So hat die EU-Kommission gegenüber der WTO das Zulassungsmoratorium, welches zwischen 1998 und 2004 für GVO-Pflanzen in der EU bestand, unter anderem damit gerechtfertigt, dass es ein begründeter und rechtmäßiger Standpunkt sei, schädlingsresistente GVO-Pflanzen nicht anzubauen, bevor alle Auswirkungen auf den Boden bekannt sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den in der EU zugelassenen GVO-Pflanzen geht es um solche Schädlingsresistenzen, nämlich um mithilfe eines Bodenbakteriums erreichte Maiszünslerresistenzen. Außerdem zitiert die Presse aus dem EU-Kommissionspapier, dass bei der Zulassung von Biotechprodukten die wissenschaftliche und technische Kenntnis oft unvollständig sei, zumal GVO-Produkte sehr neu sind. Dies bietet nach meiner Ansicht durchaus Anlass, die kritisierten Zulassungen und Genehmigungen zu überprüfen. Den Medien habe ich entnommen, dass Minister Seehofer den Umweltverbänden dies für den MonsantoMais 810 zugesichert hat. Das begrüßen wir ausdrücklich. Herr Minister, da haben Sie unsere volle Unterstützung. ({2}) Weiter ist zu lesen, dass die EU-Kommission Unsicherheit über den Gentransfer zu wild wachsenden Verwandten der gentechnisch veränderten Pflanze einräumt. In unseren Breiten hat der Raps solche wild wachsenden Verwandten. Laut Studien ist Raps nicht koexistenzfähig. Daraus sollten wir Konsequenzen ziehen. Gentechnisch veränderter Raps sollte nicht zum Anbau zugelassen werden. ({3}) Sehr zu begrüßen sind die Vorschläge der EU-Kommission, die wissenschaftliche Kohärenz und Transparenz von Entscheidungen über gentechnisch veränderte Organismen zu verbessern und einen Konsens zwischen allen Beteiligten herbeizuführen. So sollen die nationalen wissenschaftlichen Einrichtungen demnächst stärker einbezogen werden und die Stellungnahmen der einzelnen Mitgliedstaaten mehr Gewicht im EntscheidungsElvira Drobinski-Weiß prozess erhalten. Auch sollen potenzielle Langzeitwirkungen und Fragen der biologischen Vielfalt stärker berücksichtigt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen sehr genau prüfen, welcher Handlungsbedarf und welche Möglichkeiten sich aus diesen Bewegungen auf der EUEbene für uns auf der nationalen Ebene ergeben. Der Schutz von Mensch und Umwelt gemäß dem Vorsorgeprinzip ist unser oberstes Ziel. Das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Mit der Grünen Gentechnik muss vorsichtig und verantwortungsvoll umgegangen werden, zum einen weil es noch immer wissenschaftliche Unsicherheiten gibt, wie die EU-Kommission selbst gegenüber der WTO angibt, zum anderen weil wir wollen, dass hier auch weiterhin gentechnikfrei angebaut und produziert werden kann. Das verlangen 80 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher von uns; das verlangen aber auch die deutsche Landwirtschaft und Lebensmittelwirtschaft von uns, für die die Produktion gentechnikfreier Rohstoffe und Lebensmittel ein Marktvorteil ist. Das polnische Parlament hat Ende April ein Gesetz verabschiedet, das den Vertrieb von GVO-Saatgut verbietet. Das Gesetz ist noch nicht vom Präsidenten unterzeichnet. Es sprengt voraussichtlich den EU-rechtlichen Rahmen und dürfte in Brüssel für helle Aufregung sorgen. Von den 16 polnischen Provinzregierungen haben sich mindestens 14 - ich denke, das ist die aktuelle Zahl zu gentechnikfreien Regionen erklärt. ({4}) Ich erwähne das deshalb, weil die Hoffnung auf Wettbewerbsvorteile bei diesen Initiativen mit Sicherheit eine Rolle gespielt hat. So haben diese Regionen eine Erklärung verfasst, in der sie unter anderem die Befürchtung äußern, der Anbau von GVO schade dem öffentlichen Ansehen der gesamten polnischen Landwirtschaft, die für ihre nachhaltige und hochwertige Wirtschaftsweise bekannt sei. ({5}) Ein nationales Verbot von 16 GVO-Maissorten in Polen ist Anfang der Woche von der EU-Kommission genehmigt worden. Es gibt also durchaus Spielräume, die zur Wahrung nationaler Interessen genutzt werden können.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Happach-Kasan?

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, vielen Dank. Frau Happach-Kasan, wir diskutieren das im Ausschuss immer rauf und runter. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Wir haben uns in der Koalitionsvereinbarung verpflichtet, die Forschung im Bereich Biotechnologie zu fördern. Daran halten wir fest. Die wissenschaftlichen Unsicherheiten in diesem Bereich, welche die EU-Kommission attestiert, sind nur durch Erkenntnisse aus der Forschung auszuräumen. Natürlich muss auch die Forschung dem Vorsorgeprinzip und der Nachhaltigkeit verpflichtet sein. Die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen nach einem weiteren Zulassungsmoratorium für GVO-Pflanzen bis zum Erlass EU-weiter Koexistenzregelungen können wir nicht unterstützen. Die EU-Kommission hat im März beschlossen, sich gegenwärtig nicht mit der Schaffung harmonisierter Koexistenzregelungen zu befassen. Zwar wollen auch wir EU-weit geltende Koexistenzregelungen; das Fehlen solcher Regelungen können wir jedoch nicht dazu nutzen, ein neues, rechtlich wackeliges Moratorium zu fordern. Auch wir hätten gern ein weltweites Verbot der GURT, auch bekannt als Terminatortechnologie, haben aber gesehen, wie schwierig es war, die Verlängerung des Moratoriums für die GURT zu erreichen. Deshalb halte ich ein weltweites Verbot für derzeit nicht durchsetzbar. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der grünen Fraktion, einige Forderungen in Ihrem Antrag lehnen wir ab, über einige andere Forderungen sollte vor dem Hintergrund neuer Entwicklungen in Brüssel diskutiert werden. Ich hoffe, wir alle werden das in den Ausschüssen - fruchtbar und jenseits politischer Grabenkämpfe miteinander angehen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Happach-Kasan.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kollegin Drobinski-Weiß, Sie brauchten gar nicht so angstvoll das Rednerpult zu verlassen. Ich hätte Ihnen wirklich gern die Frage gestellt, ob Ihnen bekannt ist, dass in Polen nicht nur ein Verbot von 16 GVO-Sorten, sondern außerdem von 700 konventionell gezüchteten Sorten beantragt wurde. Sicherlich haben Sie doch im Protokoll der ESA gelesen, dass das Verbot der 16 GVO-Sorten und der 700 konventionell gezüchteten Sorten damit begründet wird, dass diese Sorten unter den klimatischen Bedingungen in Polen nicht mehr reif werden. Das heißt, die Begründung ist nicht, dass man gentechnikfrei anbauen möchte, sondern dass die Sorten nicht reifen. Ich teile Ihre Einschätzung, dass man das nicht verbieten muss, weil Landwirte sicherlich keine Sorten anbauen, die nicht reif werden. Wir sollten konkret darauf hinweisen, dass es um 716 Sorten geht, und uns fragen, ob das insgesamt mit den Interessen des europäischen Binnenmarktes und unserer Pflanzenzüchter übereinstimmt. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Drobinski-Weiß, Sie haben die Möglichkeit zu einer Erwiderung. - Sie verzichten. Ich erteile Frau Dr. Tackmann das Wort. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wer würde den Maiszünsler kennen, wenn es nicht die intensive Diskussion über die Grüne Gentechnik und ihr Für und Wider gäbe? Das zeigt uns, dass manche politische Debatte durchaus Bildungswert hat. Zur Erinnerung: Der Maiszünsler ist ein Schädling, der in allen Maisanbaugebieten heimisch ist. Deswegen ist die Frage: Ergreifen wir Gegenmaßnahmen? Wenn ja, welche? Wie einige wissen, komme ich aus der schönen Prignitz im Nordwesten Brandenburgs. Die dortige SPD/ CDU-Landesregierung hat meiner Kollegin Carolin Steinmetzer im November 2005 auf eine Kleine Anfrage geantwortet, dass es insbesondere in den östlichen Landesteilen Befallsschwerpunkte mit Befallshäufigkeiten von zum Teil mehr als 50 Prozent gebe. Die Landesregierung kommt dann zum Schluss, dass ein genereller Einsatz von Bt-Mais - also Gen-Mais - auf allen Befallsstandorten als nicht erforderlich angesehen wird. Man könne nämlich … mit den zur Verfügung stehenden ackerbaulichen Maßnahmen … das Auftreten dieses Schaderregers unter der wirtschaftlichen Schadensschwelle … halten. ({0}) Es besteht also berechtigterweise die Frage: Müssen wir überhaupt die Risiken des Anbaus von Genmais eingehen, um dem Maiszünsler den Garaus zu machen? Eine ganze Reihe Brandenburger Landwirte hat unterdessen, vielleicht gerade weil diese Frage im Raum steht, ihre Anbauanmeldungen für dieses Jahr zurückgezogen. Die Skepsis ist berechtigt, denn die Grüne Gentechnik ist eine Risikotechnologie; durch sie eingetretene Schäden sind nicht oder kaum zu beheben. ({1}) Diskussionen auf der Ebene der Totschlagargumente Technologiefeindlichkeit versus blinder Fortschrittsglaube bringen uns aber nicht weiter. Neben ethischen Aspekten und der Abhängigkeit von den Saatgutmultis gehört vor allem die Bewertung der Risiken - auch in Abwägung möglicher Nutzen - in das Zentrum dieser Debatte. Die anfängliche Euphorie bei der Agro-Gentechnik wird ohnehin zunehmend von nüchterner Skepsis abgelöst. So konnte zum Beispiel in den neuesten Genmaisstudien im Oderbruch wie auch schon in den USA kein positiver Ertragseffekt nachgewiesen werden. Prinzipiell ist unsere Gesellschaft bereit, Risiken im Kontext des Lebensalltags einzugehen. Trotz der Verkehrstoten wird niemand ernsthaft den Straßenverkehr infrage stellen. Wenn zum potenziellen Risiko aber auch noch ein sehr fraglicher Nutzen kommt, dann ist das einfach zuviel. Die Menschen haben deswegen die völlig berechtigte Erwartung an die politischen Entscheidungsträger, dass die ökologischen und die gesundheitlichen Risiken des Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen mit Abschluss eines Zulassungsverfahrens objektiv geklärt sein müssen. Es macht mich daher sehr nachdenklich, dass sich die EU-Kommission jetzt zu tief greifenden Änderungen des Zulassungsverfahrens veranlasst sieht. Dabei sind die von den EU-Kommissaren für Verbraucherschutz, Markos Kyprianou, und für Umwelt, Stavros Dima, vorgeschlagenen Korrekturen alles anderes als nur Schönheitsreparaturen. Es geht unter anderem um den Umgang mit divergierenden wissenschaftlichen Gutachten, die Ablehnung wissenschaftlich fundierter Einwände und die Klärung spezifischer Protokolle zum Sicherheitsnachweis. Dieser Vorgang stellt aus unserer Sicht alle bisher erfolgten Zulassungen ganz grundsätzlich infrage - übrigens auch über die von den Grünen in ihrem Antrag vorgebrachten Argumente hinaus.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin Tackmann, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höfken zu?

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe mich aus wirklich sachlichem Grund gemeldet. Fast alle Ihre Ausführungen kann ich begrüßen. Ich war gestern in Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern und frage mich, ob Sie als Beteiligte in der SPD/ PDS-Landesregierung bereit sind, diese Auffassung auch durchzusetzen; denn ich muss wirklich sagen: Die Versuche, die dort von der Uni Rostock gemacht werden, gehen an die Grenzen dessen, was man mit der Freiheit der Forschung im Hinblick auf die Rechte der Menschen im Umfeld dieser Forschungseinrichtungen - Recht auf Eigentum, Recht auf freie Berufsausübung und Ähnliches - wirklich noch verantworten kann. Dort wird nämlich gentechnisch veränderter Raps getestet und es werden zudem noch sehr umstrittene Versuche mit einer Medikamentenkartoffel zum Zwecke der Impfstoffherstellung mithilfe von Choleragenen durchgeführt. Meine Frage an Sie lautet: Sind Sie bereit, dafür zu sorgen, dass in diesem Land eine andere Haltung zur Agro-Gentechnik eingenommen wird?

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Höfken. - Sie kennen sicherlich die Meinung von Professor Methling zu diesen Fragen, der hier ganz dezidiert anderer Meinung ist als beispielsweise der Landwirtschaftsminister Till Backhaus. Sie kennen auch die Zwänge, in die man in Koalitionen teilweise gerät. Sie können sich sicher sein, dass wir ganz bestimmt versuchen, Einfluss darauf zu nehmen, dass auch in Mecklenburg-Vorpommern Vernunft in diesen Dingen einkehrt. ({0}) Im Übrigen ist natürlich klar, dass Daten, auf deren Grundlage die Risikobewertung erfolgt, öffentlich zugänglich sein müssen. Das ist selbstverständlich. Auch die Tatsache, dass in neun Fällen EU-Mitgliedstaaten nationale Schutzmaßnahmen nach § 23 der EU-Freisetzungsrichtlinie erlassen haben, zeigt die Brisanz der Zulassungssituation. Die Risiken sind also nicht wegzudiskutieren. Deshalb greifen Landwirte inzwischen zur Selbsthilfe und schaffen gentechnikfreie Zonen. Auch der Wahlkreis von Minister Seehofer gehört dazu, wie die Zeitungen schreiben. Unbeirrt davon hält Herr Seehofer aber an seiner abenteuerlichen Haltung fest, man müsse gentechnisch veränderte Pflanzen anbauen, damit das Risiko bewertet werden kann. Ich halte ein solches politisches Abenteuer - Freilandversuche mit 88 Millionen Menschen und mit einer unwiederbringlichen Natur - angesichts der vorliegenden bedenklichen Daten für unverantwortlich. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. - Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/1176 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der neu gefassten Bankenrichtlinie und der neu gefassten Kapitaladäquanzrichtlinie - Drucksache 16/1335 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist auch dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin Nina Hauer für die SPDFraktion das Wort.

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es war ein langer Weg von der alten Regelung des Baseler Ausschusses für Bankenaufsicht aus dem Jahr 1988, dem so genannten Basel I, bis heute. Nach der alten Regelung müssen die Banken 8 Prozent der Anrechnungswerte für Kreditrisiken in Eigenkapital vorhalten. Das wurde aber nicht nach Bonität entschieden, sondern es ging danach, welcher Gruppe die Kunden angehört haben. Das Ergebnis war - das wissen Sie -, dass vor allem eine schlechte Bonität, die zu höheren Zinsen führte, für die Banken besonders attraktiv war. Das ist nicht nur für die Banken, sondern auch für die Volkswirtschaft verheerend, weil Unternehmen mit schlechter Bonität aus marktwirtschaftlichen Gründen bevorzugt werden, während Unternehmen mit guter Bonität außen vor bleiben. Diese und andere Defizite waren der Grund dafür, dass seit 1999 der Baseler Ausschuss an der Weiterentwicklung seines Regelwerkes gearbeitet hat. Die Vereinbarung, die uns jetzt vorliegt, ist das Ergebnis dieser Verhandlungen. ({0}) Ziel der Regelung über die Bankenaufsicht sind die Stabilität der Banken selber und die Solidität unseres Finanzmarktes. Natürlich ist das auch für unser Wachstum von Bedeutung. Wem die wirtschaftlichen Begründungen nicht ausreichen, dem nenne ich eine politische Begründung: Es darf nicht sein, dass die Banken ihre Gewinne privatisieren, wohingegen die damit verbundenen Risiken im Falle einer Instabilität von der öffentlichen Hand gegenfinanziert werden müssen. ({1}) Wir wollen ein Regelwerk, das für unser Bankensystem gut ist, aber auch die Interessen der kleinen und mittleren Unternehmen berücksichtigt. Dabei muss insbesondere die Situation im deutschen Mittelstand betrachtet werden. Ich danke der alten Bundesregierung dafür, dass sie mit dem Verhandlungsführer Jochen Sanio das, was wir im Deutschen Bundestag mit unseren zwei Entschließungen aus den vergangenen Jahren auf den Weg gebracht haben, erfolgreich umgesetzt hat. Vor allen Dingen die Bedenken und Wünsche in Bezug auf die Situation mittelständischer Unternehmen wurden aufgenommen. Wir haben damals die Sorge gehabt, dass das Basel-II-Abkommen zu einer Gefahr für die kleineren und mittelgroßen Unternehmen bei der Kreditvergabe wird. Mittlerweile ist diese Gefahr dank der guten Ergebnisse dieser Verhandlungen gebannt. Die hohe Abhängigkeit von Krediten unserer Wirtschaft hat ihre Vor- und Nachteile. Aber sie darf insgesamt nicht dazu führen, dass Unternehmen Schwierigkeiten haben, in Deutschland Kapital zu bekommen. Das gilt für die bestehenden Unternehmen genauso wie für neue Unternehmen mit innovativen Ideen, die Kapital brauchen, um diese Ideen umzusetzen. Aus dem Baseler Regelwerk ist eine EU-Richtlinie geworden. Diese EU-Richtlinie müssen wir nun durch ein Gesetz in nationales Recht umsetzen. Die neuen Regelungen sollen die Banken dazu verpflichten, dass Risiken, die bei der Kreditvergabe entstehen, stärker differenziert und genauer bestimmt werden. Das entlastet vor allem die kleineren Banken von zu hohen Eigenkapitalanforderungen und bedeutet für die Unternehmen die Chance, bei ihrer Kreditaufnahme danach zu differenzieren, ob der Kredit für eine Expansion benötigt wird, zum Beispiel für einen Grundstückskauf, oder ob der Kredit für Investitionen in die Produktentwicklung oder in die Dienstleistung gebraucht wird. Das hilft, Kredite zielund passgenauer aufzunehmen, und führt dazu, dass sich Unternehmen besser entwickeln können. Basel II sieht vor, dass Kredite an kleinere oder mittlere Unternehmen bis zu 1 Million Euro mit einem um 25 Prozent niedrigeren Risikogewicht belegt werden sollen. Das bedeutet für den Mittelstand, dass er bessere Kreditbedingungen vorfindet, als das jetzt - nach Basel I der Fall ist. Wir als Abgeordnete kennen die vielen Berichte von Unternehmen aus unseren Wahlkreisen, die darüber klagen, dass sie keinen Kredit mehr bekommen, was von der Bank mit Basel II begründet werde. Das ist erstens sachlich nicht richtig und zweitens wird sich das ändern, wenn wir die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt haben, weil dann gerade die kleinen und mittleren Unternehmen bessere Bewertungen als bisher bekommen werden - sie werden, wie gesagt, mit einem um 25 Prozent niedrigeren Risikogewicht belegt - und Risiken stärker differenzieren können. Insofern ist das Vorhaben ein Erfolg. Die Gefahren, die damit einhergehen konnten, sind gebannt. Zu diesem Erfolg haben wir als Deutscher Bundestag gemeinsam beigetragen. Durch die Neuregelung ändern sich auch die Anforderungen an die Banken. Wer Kunden berät, muss demnächst stärker auf die wirtschaftliche Situation des Unternehmens bzw. auf das Risikomanagement im eigenen Unternehmen eingehen. Das bedeutet auch, dafür zu sorgen, dass Mittelständler mit dem Risikomanagement umgehen können, statt wertvolle Zeit zu verlieren und gute Ideen zu verschenken, weil sie sich mit Aufgaben beschäftigen müssen, die letztlich dazu führen, dass sie keinen Kredit erhalten und ihr Unternehmen nicht weiterentwickeln können. Die Banken sind demnächst dazu verpflichtet, ihr Risikoprofil transparenter zu machen. Auch das wird dazu führen, dass Banken verantwortungsvoller mit den bestehenden Risiken umgehen. Für die Genehmigung von technischen Modellen durch die nationale Aufsicht vom Ratingverfahren bis zur Umsetzung ist, was die Risikogewichtung in der Bank und im Unternehmen selber angeht, für grenzüberschreitend tätige Unternehmen eine stärkere Zusammenarbeit der jeweiligen Finanzaufsichten notwendig. Ich denke, dass eine stärkere Notwendigkeit zur Zusammenarbeit unserer europäischen Finanzaufsicht in einem wachsenden Markt insgesamt nur gut tun kann. Eine stärkere Differenzierung bei Risiken der Kreditvergabe macht immun gegen konjunkturverstärkende Effekte - insbesondere nach unten -, weil die Konjunkturabhängigkeit großer Unternehmen weitaus größer ist als die von kleinen, aber auch, weil besser auf die Situation von Unternehmen eingegangen werden kann. Dadurch werden wir konjunkturunabhängig die Kreditsituation nicht nur für die großen Unternehmen, sondern besonders für unsere kleinen und mittleren Unternehmen verbessern, einfach weil wir besser auf Konjunkturschwankungen - auf die wir reagieren müssen, weil uns der Weltmarkt dazu zwingt - eingehen können. Insgesamt sind die vorliegenden Regelungen ein Erfolg. Die Bundesregierung hat von den verschiedenen Wahlrechten Gebrauch gemacht, die wir als unsere nationalen Interessen ausüben können. Ich denke, uns liegt ein gutes Paket vor, das sowohl den unterschiedlichen Interessen unserer Kreditinstitute - der Sparkassen auf der einen Seite und der Privatbanken auf der anderen gerecht wird als auch den Unternehmen entgegenkommt, die Kapital auf dem Finanzmarkt aufnehmen. Das Gesetz wird insgesamt ein Erfolg werden. Ich bedanke mich für die gute Vorlage, mit der wir jetzt weiterarbeiten werden, damit sie zügig und erfolgreich umgesetzt werden kann. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Frank Schäffler, FDP-Fraktion. ({0})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Basel-II-Umsetzung ist eine Herausforderung für die Unternehmen und die Kreditwirtschaft in Deutschland. Mit der Novellierung des KWG vollziehen wir den ersten Schritt der Umsetzung. Der zweite Schritt mit der Anpassung der Solvabilitäts- sowie der Großund Millionenkreditverordnung wird in diesem Jahr folgen. Basel II stellt einen Paradigmenwechsel bei der Beurteilung und Klassifizierung von Kreditrisiken für Banken dar. Wir begrüßen, dass sich damit die Eigenkapitalunterlegung der Banken an deren tatsächlichen Kreditrisiken orientiert. Dies verhindert nationale, aber vor allem auch internationale Wettbewerbsverzerrungen auf den Kreditmärkten. Gerade als große Volkswirtschaft müssen wir für freie Märkte mit gleichen Spielregeln eintreten. ({0}) Ziel der Basel-II-Vereinbarung sind stabile Finanzmärkte. In Deutschland, aber nun auch mit zweijähriger Verzögerung in den USA, führte die Diskussion über Basel II zu heftigen Auseinandersetzungen. Beide Seiten, Europa und die USA, müssen jedoch ein großes Interesse an einer möglichst zeitgleichen Umsetzung haben. Im deutschen Mittelstand gab es Befürchtungen, dass sich Kredite nun verteuern würden, da ein höheres Risiko des Kreditnehmers zu einer höheren Eigenkapitalanforderung führt. Dass nunmehr die Ausfallwahrscheinlichkeit bei Großunternehmen sowie bei kleinen und mittleren Unternehmen untersucht wurde, begrüßen wir. Das Ergebnis der Untersuchung ist gerade für kleine und mittlere Unternehmen positiv; denn während die Ausfälle bei Großunternehmen besonders stark in dem Konjunkturverlauf entsprechenden Wellen auftreten, sind kleine und mittlere Unternehmen diesem Teil des Kreditrisikos weniger ausgesetzt. Voraussichtlich können die Eigenkapitalanforderungen an mittelständische Unternehmen um 17 Prozent verringert werden. Die FDP-Bundestagsfraktion ist dem Mittelstand wie keine andere Fraktion hier im Haus verbunden. ({1}) Deshalb begrüßen wir im Einzelnen, dass Kredite bis 1 Million Euro wie Retail-Kredite behandelt werden können. Banken können darüber hinaus für Unternehmen mit einem jährlichen Umsatz von weniger als 50 Millionen Euro ein Segment für kleine und mittlere Unternehmen bilden. Auch dies führt zu einer Entlastung des Mittelstandes, da hier geringere Eigenkapitalanforderungen bestehen. Unterm Strich wird die Kreditvergabe für den Mittelstand durch die geringere Eigenkapitalunterlegung der Banken verbessert. Damit werden rund 90 Prozent aller deutschen Unternehmen Nutznießer dieser Regelung sein. Dennoch sind Bankkredite für die Finanzierung von Unternehmen nur ein Baustein. Deshalb sollten wir auch andere Formen der Kapitalbeschaffung von Unternehmen fördern. Wir sollten die Private-EquityBranche einladen, zu uns nach Deutschland zu kommen. Vergleiche von Investoren mit Tieren nutzen dem Standort Deutschland dabei nicht. ({2}) Es passt nicht zusammen, wenn Sie von der SPD Investoren beschimpfen und dann den Einstieg eines PrivateEquity-Fonds bzw. eines Hedgefonds - je nachdem, wie man das bezeichnen will - bei der Deutschen Telekom einfädeln. Unser Augenmerk gilt bei der Basel-II-Umsetzung auch dem deutschen Bankensektor. Gerade gestern hat der Chef der BaFin, Jochen Sanio, auf der Jahrespressekonferenz die schlechte Ertragslage der deutschen Banken dargestellt. Unter Renditegesichtspunkten haben die deutschen Banken weiterhin die rote Laterne. Wichtig ist, dass der Gesetzgeber den Wettbewerb in der deutschen Kreditwirtschaft nicht verzerrt. Bei der Basel-IIUmsetzung stellt sich das Problem der Nullgewichtung von Intergruppenforderungen. Die FDP hat dazu eine Kleine Anfrage hier im Parlament gestellt. ({3}) - Das meinen Sie. - Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort leider kein Problembewusstsein gezeigt. Es ist nun Aufgabe der BaFin, zu prüfen, ob die Haftungsverbünde, in Deutschland insbesondere die Sparkassen und die Landesbanken, die Voraussetzungen für eine Nullgewichtung von Intergruppenforderungen erfüllen. Ich erwarte von der BaFin eine unvoreingenommene Prüfung. Es darf keine Vorabzusagen geben. Immerhin wird in diesem Bereich ein Volumen von 8 Milliarden Euro bewegt. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Leo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der heute zur ersten Lesung anstehenden Umsetzung der neu gefassten Bankenrichtlinie und der neu gefassten Kapitaladäquanzrichtlinie beraten wir über den Abschluss eines Prozesses, den wir alle besser unter dem Stichwort „Basel II“ kennen. Basel II wird den Basel-I-Akkord aus dem Jahre 1988 ablösen. Eine zentrale Neuerung von Basel II besteht darin, dass die Risiken einer Bank bei der Kreditvergabe und der damit verbundenen Bemessung ihrer Eigenkapitalausstattung und -unterlegung genauer und differenzierter berücksichtigt werden. Das heißt, künftig muss nicht mehr wie bisher jeder Kredit pauschal mit einer Eigenkapitalquote von 8 Prozent der Aktiva unterlegt werden. Zeitgleich beraten die amerikanischen Parlamentarier erst die Auswirkungen von Basel II, wohingegen wir uns in diesen Prozess schon viel früher eingeschaltet haben. Wir werden deshalb das Einführungsdatum einhalten können, was immer unser Ziel war. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht und erreichen mit dem nunmehr vorliegenden Umsetzungsgesetz die Zielgerade von Basel II. Mit den heute beginnenden Beratungen stellen wir sicher, dass Basel II rechtzeitig und mit genügend Vorlauf zum 1. Januar 2007, dem von Europa vorgesehenen Einführungsdatum, verabschiedet werden wird. Dadurch erhält die Kreditwirtschaft die Zeit, die sie für die Implementierung braucht. Dass der Basel-II-Prozess in Deutschland so weit und positiv fortgeschritten ist, ist das Ergebnis jahrelanger konsequenter und hartnäckiger Arbeit auf internationaler, europäischer und schließlich nationaler Ebene. Dabei waren mit Basel II auch und gerade bei uns in Deutschland anfänglich viele Sorgen und Ängste verbunden. Der Mittelstand befürchtete, dass Kredite unbezahlbar würden oder überhaupt nicht mehr an eine bestimmte Klientel vergeben würden. Die Kreditwirtschaft sorgte sich wegen des hohen administrativen Aufwands und gravierender Kosten. Dass die Implementierung von Basel II Geld kostet und aufwendig ist, ist auch heute noch unbestritten. Bezüglich der anderen Sorgen, die in den vergangenen Jahren mit Basel II verbunden waren, vor allem hinsichtlich der befürchteten Finanzierungslücken im Mittelstand, können wir mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf Entwarnung geben. Vielmehr ist es an der Zeit, die positiven Aspekte von Basel II deutlich zu machen: Erstens. Basel II trägt zu einer größeren Stabilität im Bankensektor weltweit bei. Zweitens. Basel II wirkt konjunkturellen Übertreibungen bei der Kreditvergabe entgegen und stabilisiert somit die Kreditverfügbarkeit in allen Stadien des Wirtschaftszyklus. Drittens. Basel II ist in seiner aktuellen Fassung mittelstandsfreundlich, da Mittelstandskredite besonders behandelt werden. Viertens. Basel II führt mittelfristig gerade bei den kleinen Kreditinstituten zu erheblichen Entlastungen bei den Aufwendungen von und für Eigenkapital. Diese positiven Aspekte von Basel II waren, wie wir alle wissen, keinesfalls von Anfang an absehbar. Sie sind vielmehr das Ergebnis eines langen Verhandlungsprozesses, der bereits vor sieben Jahren begann. Erlauben Sie mir einen kurzen Blick zurück auf diesen Prozess, der sehr deutlich macht, dass wir den heutigen Gesetzentwurf zu Basel II als einen Erfolg für den Finanzstandort Deutschland bezeichnen können. Sein erstes Konsultationspapier zu Basel II veröffentlichte der Baseler Ausschuss im Jahre 1999. Vor Augen hatte der Ausschuss damals dabei vor allem die 1997er-Finanzkrise in Südostasien, als einige größere Banken kollabierten, nachdem sich riskante und leichtfertig vergebene Kredite als Totalausfälle erwiesen hatten. Mit neuen Eigenkapitalregeln, welche die Risiken besser erfassen und die die Eigenkapitalvorsorge der Kreditinstitute risikogerechter ausgestalten, sollte, so die Intention des Baseler Ausschusses, Krisen wie in Asien besser vorgebeugt werden. Insgesamt sollte die Stabilität in der internationalen Finanzstruktur verbessert werden. Vor diesem Hintergrund war Basel von Anfang an ein internationales Projekt. Der Deutsche Bundestag hat die Zielsetzung des Baseler Ausschusses, mehr Stabilität in der internationalen Finanzstruktur zu schaffen, von Beginn an fraktionsübergreifend unterstützt. Fraktionsübergreifend waren wir uns von Beginn an auch einig, dass die zunächst vom Baseler Ausschuss vorgeschlagene Umsetzung nicht sachgerecht war und eine Gefährdung der gewachsenen Finanzstrukturen insbesondere in Deutschland bedeutet hätte. Diese fraktionsübergreifende Einigkeit sowie unser sehr frühzeitiges gemeinsames Engagement in dem zunächst internationalen, später europäischen Prozess haben - da bin ich sicher - wesentlich zu positiven Ergebnissen bei Basel II beigetragen. Bereits im Juni 2000 haben alle Fraktionen gemeinsam einen Entschließungsantrag zu Basel II eingebracht, in dem wir Folgendes deutlich gemacht haben: Erstens. Die gewachsenen Finanzstrukturen in Deutschland müssen im Basel-II-Prozess berücksichtigt werden. Zweitens. Basel II darf nicht zu einer unangemessenen Verteuerung der Finanzierungskonditionen des Mittelstands führen. Drittens. Der regulierungsbedingte Mehraufwand soll für alle beteiligten Kreditnehmer und für die Institute so gering wie möglich gehalten und so einfach wie möglich gestaltet werden. Die deutsche Verhandlungsführung hat diese Forderungen in die internationalen Gremien eingebracht und sie hat - wenn auch nach anfänglichem Zögern bei den Verhandlungsführern; das muss in Erinnerung gerufen werden - hart verhandelt. Zugute kam ihr dabei, dass sie stets auf eine breite Rückendeckung hier im Parlament verweisen konnte. So hat der Baseler Ausschuss dank der deutschen Einbringung im Juli 2002 diverse Elemente beschlossen, die vor allem, wie schon betont, für den Mittelstand von großer und vor allen Dingen positiver Bedeutung sind. Beispielhaft möchte ich hier nur die Einführung eines einfachen, auf bankinternen Ratings gestützten Standardansatzes anführen ebenso wie die so genannten Retail-Portfolios. Hinter diesen Portfolios verbergen sich Kredite an kleine und mittlere Firmenkunden mit einem Gesamtvolumen von weniger als 1 Million Euro. Diese Kredite können nunmehr von dem Kreditinstitut in einem Portfolio zusammengefasst und mit einer geringeren Eigenkapitalsumme als bisher unterlegt werden. Wie schon mehrmals betont worden ist, dürften davon in Deutschland rund 90 Prozent aller Kreditforderungen an mittelständische Unternehmen profitieren. Darüber hinaus wurden - wiederum zugunsten des Mittelstands - die Methoden zur Minderung des Kreditrisikos erweitert. So werden nunmehr auch ganz spezifische und mittelstandstypische Sicherheiten anerkannt, beispielsweise Sicherungsübereignung und Abtretung von Forderungen aus Lieferungen und Leistungen. Das war zuvor so nicht der Fall. Der Bundestag hat Basel II nicht nur auf internationaler Ebene begleitet, sondern er hat auch - das war für uns besonders wichtig - die europäische Umsetzung aktiv flankiert. Dabei hat uns auch das große Engagement unserer Kollegen im Europäischen Parlament geholfen, die sich für eine möglichst schlanke Richtlinie und diverse Wahlrechte stark gemacht haben. Seit Februar dieses Jahres liegt nun die nationale Umsetzung von Basel II in Form des heute zur ersten Lesung anstehenden Gesetzentwurfs vor. Neben Änderungen im Kreditwesengesetz sind zudem zwei Verordnungen notwendig, welche die technischen Details von Basel II umsetzen. Der Gesetzentwurf - das ist eine für mich sehr wichtige Botschaft in dieser ersten Lesung - setzt die EURichtlinien zu Basel II, wie wir es im Koalitionsvertrag vorgesehen haben, im Grundsatz eins zu eins um. Wir satteln keine neuen oder weiter gehende Regeln und Regulierungen auf die EU-Richtlinie drauf ({0}) und sorgen damit für gleiche Wettbewerbsbedingungen wie in den anderen EU-Mitgliedstaaten. Ebenso - das ist genauso wichtig - kommt der Gesetzentwurf einem zweiten Auftrag des Koalitionsvertrages nach: Er nutzt die von der EU eröffneten Wahlrechte zugunsten des deutschen Standorts. Beispielhaft seien hier die Wahlrechte angeführt, die der besonderen deutschen Drei-Säulen-Bankenstruktur Rechnung tragen und bei Haftungsverbünden unter ganz bestimmten Voraussetzungen eine Nullgewichtung von Intergruppenforderungen vorsehen. Sie sehen, dass wir dies konsequent umgesetzt haben. Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf ist sicherlich noch nicht in sämtlichen technischen und redaktionellen Einzelheiten perfekt. Die nun anstehenden Beratungen werden wir dazu nutzen, auch diese Details zu klären. Im Grundsatz lässt sich aber glücklicherweise schon heute sagen: Die kontinuierliche Arbeit bei Basel II, auch die parlamentarische, hat sich für Deutschland gelohnt. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der Kollege Axel Troost, Fraktion Die Linke, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1) Als Letzter spricht in dieser Debatte Dr. Gerhard Schick, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ge- schichte der Verhandlungen über Basel II zeigt sehr deutlich, welch immense Bedeutung die Bankenregulie- rung für die wirtschaftliche Entwicklung hat. Ein wichti- ger Impuls für die Verhandlungen in Basel war die Asienkrise. Man hat gesehen, dass eine schwache Ban- kenregulierung dramatische Auswirkungen für die Real- wirtschaft haben kann, die sich weit über das jeweilige Land hinaus erstrecken können. Die Umsetzung in einer internationalen Vereinbarung ist deswegen richtig. Da- rüber hinaus haben wir in dem Diskussionsprozess zu Basel II gemerkt, dass es dann, wenn an ein paar Stellen zu rigoros, zu dogmatisch geschraubt wird, große Pro- bleme für die Finanzierung der Unternehmen geben kann. Deswegen die große Diskussion: Was tut Basel II für den Mittelstand? Wenn wir uns heute anschauen, was vorliegt, wie also die Vorschläge der Koalition zur Umsetzung der Ban- kenrichtlinie und der Kapitaladäquanzrichtlinie sind, können wir vom Bündnis 90/Die Grünen sagen, dass wir da mitgehen können; wir haben das auch bisher schon zusammen getragen. Wir finden es richtig, dass zum 1. Januar 2007 mit der zweistufigen Umsetzung begonnen wird, obwohl in den USA nicht gleichgezogen wird. In Deutschland haben sich schon alle, die Banken, aber auch die Unternehmen, darauf eingestellt. Von daher wäre es falsch, jetzt einen Rückzieher zu machen. Wir sind mit der Mittelstandskomponente sehr zufrie- den. Wir von der rot-grünen Seite haben uns schon in der letzten und der vorletzten Legislaturperiode sehr dafür eingesetzt, dass eine starke Mittelstandskomponente hi- neinkommt. Erlauben Sie mir an der Stelle eine Bemer- 1) Anlage 2 kung: Dieses Pachten des Eintretens für die kleinen und mittleren Unternehmen durch eine Partei ist da wenig hilfreich. Es ist gut, dass wir gemeinsam daran arbeiten. Auch auf die Grünen kann der deutsche Mittelstand, können die kleinen und mittleren Unternehmen auf jeden Fall zählen. Das haben wir gerade bei dem Thema gezeigt. ({0}) Die Details zu der Frage, in welchen Bereichen der Mittelstand in den Verhandlungen gestärkt worden ist, sind schon genannt worden; darauf will ich jetzt nicht noch einmal eingehen. Wir können im Endeffekt sagen, dass es wirklich gelungen ist, das einzulösen, was der Verhandlungsführer Sanio gesagt hat: In Basel gilt es, ein Zeichen für den deutschen Mittelstand zu setzen. Ich will noch auf zwei, drei Aspekte eingehen, die in der bisherigen Debatte noch nicht genannt worden sind. Neben den Mindestkapitalanforderungen, der einen Säule, die im Zentrum der Diskussion stand, geht es natürlich auch darum, dass wir die Bankenaufsicht hinsichtlich des Risikomanagements insgesamt deutlich modernisieren und effektiver machen. Wir mussten Druck ausüben, damit überall im Bankensystem ein modernes Risikomanagement Einzug hält. Außerdem geht es mit neuen Offenlegungspflichten und neuen Handlungsmöglichkeiten für die BaFin ein Stück voran auf dem Weg zu einer guten Bankenaufsicht. Wenn wir jetzt in die Beratungen gehen, wird das Thema Intergruppenforderungen eine Rolle spielen. Von unserer Seite aus werden auch die Themen Datenschutz und Verbraucherschutz eingebracht werden. Es geht um Fragen wie: Wie werden die Daten übermittelt? Gibt es im Hinblick auf das Scoring - das durch Basel II nicht neu eingeführt wird, aber dadurch eine größere Bedeutung erhält - eine Möglichkeit, Auskunft über das eigene Scoring zu erhalten? Gibt es die Möglichkeit, da noch einmal nachzufragen, damit das nicht nur ein Automatismus ist? Ich möchte zum Schluss noch sagen: Wenn man sich den Gang der Verhandlungen anschaut, erkennt man, dass es sich lohnt, wenn wir uns frühzeitig bei internationalen Verhandlungen einklinken. ({1}) So konnten wir als Parlament für die deutsche Wirtschaft, für die typischen deutschen Strukturen - jedes Wirtschaftssystem ist ein bisschen anders strukturiert auch international wirklich etwas herausholen. Diese positive Erfahrung sollten wir uns für die nächsten Projekte merken, zumal wir bei Solvency II das Ganze für die Versicherungswirtschaft noch einmal in ähnlicher Weise durchdeklinieren werden. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/1335 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut Königshaus, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Aus dem Peer-Review der OECD lernen - die Empfehlungen zur Umgestaltung der Entwicklungszusammenarbeit umsetzen - Drucksache 16/963 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) Auswärtiger Ausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Erster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Hellmut Königshaus, FDP. ({1})

Hellmut Königshaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003709, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat einen Peer-Review erhalten. Das bedeutet, dass die Wirksamkeit ihrer Politik in einem Teilbereich, in diesem Fall der Entwicklungszusammenarbeit, von der OECD untersucht und bewertet wurde. Sie, Frau Ministerin, haben dies für die Bundesregierung als ein nachdrückliches Lob empfunden und so dargestellt. Es ist zu befürchten, dass Sie das auch wirklich glauben. Davon kann aus unserer Sicht aber keine Rede sein. Gelobt wurde einiges; das ist wahr; das wollen wir auch einräumen. Aber es waren Teile dabei, die wir jedenfalls nicht für richtig halten. Es ging zum Beispiel darum, dass ein eigenes Ministerium existiere. Das hat, neben einigen Vorteilen, vor allem Nachteile. Das Nebeneinander mehrerer Ämter und Ministerien hat notwendigerweise Reibungsverluste und Kompetenzgerangel zur Folge. Das können wir auch hier in einigen Bereichen beobachten. Damit stellt es eigentlich eher, anders als Sie es darlegen, einen Teil des Problems dar, das der Peer-Review im Weiteren übrigens heftig kritisiert, und nicht einen Teil der Lösung. Auch die Fokussierung auf die so genannte ODAQuote, die der Peer-Review in der Tat behandelt, ist nach unserer Überzeugung falsch; denn sie macht den Mittelabfluss, das heißt das Geldausgeben an sich, zum Erfolgskriterium und animiert damit letztlich zum Geldverschwenden. Es geht doch wohl weniger darum, dass wir Geld ausgeben, dass wir Mittel abfließen lassen, sondern vielmehr darum, dass bei den Partnerländern möglichst viel und natürlich vor allem Nutzbringendes ankommt. ({0}) Nicht die Quantität, sondern vor allem die Qualität muss stimmen. Darüber sagen Quoten gar nichts. ({1}) Aber ich will mich hier vor allem auf diejenigen Vorschläge der OECD konzentrieren, Herr Kollege, die uns wirklich weiterführen. Da will ich nicht verhehlen, dass auch wir Liberalen nicht alle Kritikpunkte des PeerReview teilen. Es gibt in dem Bericht aber doch sehr berechtigte Kritik, und das nicht zu knapp. Diese Punkte will ich hier einmal kurz zusammenfassen. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sei, so die OECD, zersplittert, nicht kohärent und oftmals nicht an den Bedürfnissen der Empfängerländer orientiert. Schlimmer noch: In Teilen sei sie ineffektiv. Vernichtender, meine Damen und Herren, kann das Urteil über eine Politik, bei der so viel Geld umgesetzt wird, so viel Steuergelder eingesetzt werden, eigentlich nicht ausfallen. Sie fragen natürlich, wenn wir das so nachdrücklich kritisieren, was wir, die Liberalen, denn vorschlagen. ({2}) Wir müssen - das ist unsere Antwort - zunächst einmal die Entwicklungszusammenarbeit auf ihre Zielgenauigkeit und Effizienz hin überprüfen. Das heißt konkret, wir müssen vor allem das Verhältnis zwischen technischer Zusammenarbeit und finanzieller Zusammenarbeit überprüfen, mit dem Ziel, die unnötige, teure, lähmende Bürokratie zu verringern. ({3}) Wir müssen die Hilfe besser bündeln, auf weniger Partnerländer fokussieren. Dabei müssen die Kriterien Good Governance, Reformbereitschaft und Kooperationswilligkeit, aber auch Bedürftigkeit im Vordergrund stehen. Außerdem müssen wir das Ankerländerkonzept zumindest in seiner gegenwärtigen Ausprägung aufgeben. Das bedeutet nicht Rückzug, sondern verstärkte Mobilisierung von finanziellen Eigenmitteln der Empfängerländer. Wir waren gerade in China und haben die starke Wirtschaftskraft besonders in den Küstenstädten erlebt. Was wir dort gesehen haben, waren keine potemkinschen Dörfer, meine Damen und Herren. China ist kein Disneyland. Die Hochhäuser in Schanghai, Hongkong und den anderen Küstenstädten drücken echte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aus. Diese müssen wir aktivieren; wir müssen sie den Chinesen abverlangen. Das zu leisten sind die Chinesen auch bereit. Für die anderen Schwellenländer gilt nichts anderes. ({4}) Wir müssen die bisherige Praxis der Schuldenerlasse überprüfen. Es muss sichergestellt sein, dass, wenn wir einen Schuldenerlass in Betracht ziehen, die Mittel dann tatsächlich in geeignete Kanäle fließen, dass sie wirklich für die weitere Entwicklung eingesetzt werden. Wir dürfen nicht ungeeigneten Partnern, die anschließend innerhalb kürzester Zeit wieder neue Schulden in ungeahnter Höhe aufbauen, Zusagen machen. Ein Schuldenerlass, weil die Länder dann, ohne Cash zu haben, die ODAQuote auffüllen können, ist einfach Unfug. ({5}) Nicht zuletzt - Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss - müssen wir das Verhältnis zwischen bilateraler und multilateraler Zusammenarbeit überprüfen. Die Probleme mit dem Europäischen Entwicklungsfonds, auch durch mangelnde parlamentarische Kontrolle, haben wir hier schon mehrfach erörtert. Ich will das hier aber nicht weiter vertiefen. Wir müssen all diese Punkte in Betracht ziehen. Der OECD-Bericht gibt uns an einigen Stellen wertvolle Hinweise. Wir sollten - damit haben wir schon begonnen - weiter intensiv darüber reden. Die Liberalen sind dazu bereit, um die Ziele, die wir teilen, zu erreichen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Ruck, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich glaube, dass der DAC-Peer-Review eine gute Einrichtung ist. Wenn uns Kollegen aus befreundeten Ländern ein wenig auf die Finger schauen, befreit uns das von der Nabelschau, die wir oft betreiben. Ich danke daher den französischen, kanadischen und den holländischen Kollegen herzlich. Der DAC-Peer-Review fällt in eine Zeit, in der die Probleme der Entwicklungsländer auch zunehmend unsere eigenen Probleme werden und in der die Entwicklungszusammenarbeit und die Entwicklungspolitik unter Erfolgsdruck und auch Legitimationsdruck stehen. Wir Entwicklungspolitiker sind schon von Natur aus selbstkritisch und nehmen deshalb die Ratschläge im DACPeer-Review dankend zur Kenntnis. In dem PeerReview ist auch viel Lob für unsere Entwicklungspolitik enthalten. An die Adresse meines Vorredners gerichtet muss ich sagen: Die Eigenständigkeit des BMZ war schon in der letzten Legislaturperiode ein Streitpunkt zwischen uns. Wir sind der Meinung, dass wir eine stärkere Stellung des BMZ brauchen und dass die Entwicklungspolitik im Kabinett vertreten sein muss. Dabei bleibt es. ({0}) Ein weiterer Punkt. Es wurde ausdrücklich die hohe Qualität unserer Entwicklungsinstitutionen in diesem Bericht erwähnt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Diskussion mit Herrn Manning und auch an die hohe Qualität der GTZ beispielsweise im Bereich des Capacity-Buildings, also im Bereich des Aufbaus, der Staatsverwaltung, der Forschung und anderen Punkten. Auch in Bezug auf die ODA-Quote ist das Lob im DAC-Peer-Review gerechtfertigt. Wir haben unser Wort gegeben und werden es auch einhalten, dass wir diese Quote erfüllen. Sie haben natürlich Recht: Bei einer modern aufgestellten Entwicklungsarbeit geht es vor allem um die Verbesserung der Qualität. Aber bei den gigantischen Aufgaben, die nach unserer Meinung die Entwicklungspolitik erfüllen muss, geht es natürlich auch um Quantität. Deswegen ist die Koordination zwischen Verbesserung und Erhöhung des Potenzials der Entwicklungspolitik richtig. Diese Position vertreten beide Koalitionspartner. ({1}) Wir nehmen natürlich auch die Mahnungen ernst. Herr Königshaus, die Mahnungen decken sich mit dem, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Ich kann Ihnen die einzelnen Punkte Schritt für Schritt herunterbeten. Im Koalitionsvertrag sind die Ausrichtung der strategischen Entwicklungspolitik, die Erhöhung der Effizienz und auch die Reform der Durchführungsorganisationen enthalten. Auch wir sind trotz des guten Rufes, den unsere Organisationen haben, der Meinung, dass die Notwendigkeit zur Verbesserung, zur Erhöhung der Effizienz, zur Straffung und zur Hebung von Synergien besteht. Auch das steht im Koalitionsvertrag. Also keine Aufregung! ({2}) Ich bin dafür, dass wir diesen Weg gehen, dass wir das Gutachten einer hervorragenden Institution abwarten und dass wir diesen Prozess transparent gestalten und ohne Tricks im Parlament begleiten. Darauf legen auch wir Wert. Dann können wir erneut diskutieren, ob die gemachten Vorschläge sinnvoll sind. Ich möchte, dass wir in diesem Zusammenhang auch an das BMZ und nicht nur an die Durchführungsorganisationen denken. Das gesamte System der entwicklungspolitischen Instrumente muss auf den Prüfstand. Ich glaube, dass das ein wichtiger Punkt ist. ({3}) Was wird im Peer-Review noch angemahnt? Die Ausrichtung auf die Millennium-Development-Ziele - auch dies steht im Koalitionsvertrag. Die Steigerung der Kohärenz und die Konzentration auf sowohl sektorale als auch regionale Schwerpunkte haben wir ebenso im Koalitionsvertrag festgehalten. Ich gebe zu: Der Bericht wurde natürlich im Wesentlichen vor den Koalitionsverhandlungen geschrieben. Aber auch diese Punkte haben wir abgehakt. Wir müssen eine ganz sorgfältige Diskussion darüber führen, wer in Zukunft unsere Schwerpunktpartnerländer sein sollen. Dies muss unter dem Gesichtspunkt erfolgen, in welchem Land wir am meisten bewegen können und müssen und wie wir am meisten erreichen. Auch das ist eine Diskussion, der wir uns laut Koalitionsvertrag stellen müssen. Genauso halten wir für ganz entscheidend: Es geht nicht nur um die nationale Arbeitsteilung, sondern vor allem auch - das ist ebenso ein ganz wichtiger Punkt in unserem Koalitionsvertrag - um eine Verbesserung der internationalen Arbeitsteilung, die auch Good Governance einfordert. Gerade das, was Manning angesprochen hat, Good Governance, ist ein schwarz-roter Faden, der sich durch den Koalitionsvertrag zieht. ({4}) Auch in diesem Punkt ist der Peer-Review abgehakt. ({5}) Nun zur Frage der Entschuldung. Ich gebe Ihnen vollkommen Recht: Die Entschuldung darf kein Trick werden, der es erlaubt, die ODA-Quote zu erhöhen. Ich kann mich gut an meine eigenen Worte erinnern - ich lasse mich auch gerne daran erinnern -, was den Irak anbelangt. Wir sind der Meinung - wir haben im Obleutegespräch eine Anhörung zu diesem Thema vereinbart; sie ist schon terminiert -, dass wir eine Entschuldung wollen, die nicht dazu führt, dass die Katze wieder auf die alten Füße fällt, sondern die wirklich zu einem Entwicklungsschritt führt. Das müssen wir natürlich sicherstellen. Da geht es um Konditionalität. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass unsere Entschuldungsprogramme zu besseren Ergebnissen führen als bisher. Auch die bilateralen und multilateralen Instrumente - dies steht ebenso im Koalitionsvertrag - wollen wir angehen. Nur, wir haben in den Haushaltsverhandlungen gesehen: Wenn wir damit ernst machen, dann geht es ans Eingemachte. Dies muss man dann trotz Zähneknirschen und Wehklagen der Betroffenen durchsetzen. Irgendeine Gruppe ist immer betroffen. Ich bitte in diesem Zusammenhang um Tapferkeit und Mut auch seitens der FDP. Ein wichtiger Punkt ist natürlich die Diskussion um Schwellenländer und Ankerländer. Das ist ein entscheidender Punkt, der auch in unserer eigenen Fraktion eine Rolle spielt. Ich glaube, dass wir diese Diskussion vor dem Hintergrund folgender Fragen führen müssen: Was ist für uns eine moderne Politik der Zusammenarbeit und Entwicklung? Ist es überhaupt möglich, ganze Erdteile, die eine rasante Entwicklung durchmachen, auszuklammern? Ist es nicht so, dass China durch seine Entwicklung und die gigantische Auseinanderentwicklung ganzer Landesteile in einen bedrohlichen Zustand versetzt werde könnte, der zu schweren Rückschlägen mit ungeahnten Folgen auch für unser eigenes Land führen könnte? Müssen wir nicht auch auf unsere Partner, zum Beispiel auf die Kirchen, hören, die sagen, dass es für sie weiterhin eine Verpflichtung ist, sich um die Armen in China und in Indien zu kümmern? Das alles sind Dinge, die wir gut überlegen und über die wir diskutieren sollten. Da komme ich zu anderen Schlüssen als Sie von der FDP. Ich möchte diesen Bericht - das sage ich ganz ehrlich nicht wie eine Monstranz vor mir hertragen. In der Diskussion mit Manning haben wir Widersprüche festgestellt. Wir haben gesagt, dass wir in einigen Punkten nicht einer Meinung mit ihm sind. Aber wir nehmen den Bericht ernst. Wir sagen: Wir haben schon im Koalitionsvertrag die entsprechenden Weichen gestellt. Diese werden wir jetzt abarbeiten. Insofern kann ich nur sagen: Der Antrag der FDP ist überflüssig. Ihm können wir deswegen nicht zustimmen. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Hüseyin Aydin, Fraktion Die Linke. ({0})

Hüseyin Kenan Aydin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003733, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die FDP fordert in ihrem Antrag mehr Zielgenauigkeit und Effektivität in der deutschen Entwicklungshilfe. ({0}) - Wer würde dem widersprechen? Sie haben Recht. Niemand ist gegen mehr Effizienz. Sie wollen jedoch den Eindruck vermitteln, als behindere allein die mangelnde Effizienz die Umsetzung der Millenniumsentwicklungsziele. Das ist Unsinn. Die Millenniumsentwicklungsziele sehen die Halbierung der Zahl der weltweit Hungernden und extrem Armen bis zum Jahr 2015 vor. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen zunächst einmal mehr finanzielle Mittel bereitgestellt werden. Dazu sagt die FDP aber keinen Ton. Die Bundesregierung hat sich im Rahmen der EU auf einen Stufenplan zur Erhöhung der Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis 2015 verpflichtet. Die Bundesregierung behauptet heute, der erste Schritt sei getan. Mit 0,35 Prozent sei das Etappenziel in diesem Jahr sogar übertroffen worden. Das ist Augenwischerei. ({1}) Kollege Raabe, in Wirklichkeit wurde diese scheinbare Erhöhung nur dadurch erreicht, dass dem Irak und Nigeria Schulden erlassen wurden. Darauf hat Herr Ruck hingewiesen. ({2}) Dieser Erlass wurde auf die öffentlich geleistete Entwicklungshilfe angerechnet. Die OECD hat festgestellt, dass die deutsche Entwicklungshilfe, bereinigt um die Mittel des Schuldenerlasses und der Wechselkurseinflüsse, zwischen 2004 und 2005 um fast 10 Prozent abgenommen hat. Ich wiederhole: minus 10 Prozent. Das ist nicht meine Berechnung. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Wir von der Linksfraktion sind für die umfassende Entschuldung von Drittweltländern. ({3}) Viele afrikanische Staaten werden von einer Schuldenlast erdrückt. Entschuldung ist die Voraussetzung für Entwicklung. ({4}) Kollege Raabe, nehmen wir das Beispiel Mosambik. Der deutliche Anstieg der Einschulungsrate in Mosambik steht in einem engen Zusammenhang mit der Entschuldung des Landes. ({5}) Doch ohne den Bau neuer Schulen, ohne Mittel für die Ausbildung von Lehrern wird die Entschuldung nicht greifen. Entschuldung kann die Bereitstellung echter, frischer Mittel in der Entwicklungszusammenarbeit nicht ersetzen. Bundesministerin Wieczorek-Zeul hat offenbar vergessen, dass sie diesem Punkt bis vor kurzem zustimmte. Im März 2002 hat sich die Bundesregierung im mexikanischen Monterrey darauf eingelassen, Schuldenerlasse nicht auf die ODA-Quote anzurechnen. ({6}) Leider hält sich die Bundesregierung heute nicht mehr daran. Sie erklärt das sogar zu einem großen Fortschritt auf dem Weg zur Erfüllung der gesteckten Entwicklungsziele. Frau Ministerin, ich frage Sie: Ist das der Preis, den Sie für die große Koalition zahlen müssen? Der OECD-Bericht kritisiert den mangelnden strategischen Ansatz der deutschen Entwicklungspolitik. Es geht um die Effektivierung der Armutsbekämpfung. Es gibt einzelne Länder, vor allem in der Sahelzone, wo die deutsche Entwicklungszusammenarbeit durch ein umfassendes und zusammenhängendes Konzept zur Armutsbekämpfung überzeugt. Die Frauen und Männer von der GTZ leisten in einem Land wie Burkina Faso hervorragende Arbeit. Dort trägt das Programm „Landwirtschaftliche Entwicklung“ zur Sicherung der Ernährungsgrundlagen bei. Hier werden die Folgen der Armut, die eine unsoziale und ungerechte Weltwirtschaftsordnung immer von neuem erzeugt, unmittelbar bekämpft. Ich empfinde es als angebracht, an dieser Stelle - ich hoffe, ich spreche im Namen aller Abgeordneten im Deutschen Bundestag - den Entwicklungshelfern für ihren Einsatz Anerkennung und Dank auszusprechen. ({7}) Leider ist die deutsche Entwicklungspolitik in ihrer Gesamtheit aber alles andere als optimal aufgestellt. Der Anteil der armutsrelevanten Kernbereiche Bildung, Gesundheit und Wasserversorgung betrug 2005 zusammengenommen deutlich weniger als 25 Prozent der Mittel für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit. Die FDP kommt mit ihrem Antrag kritisch daher. Sie fordert die Überprüfung des Verhältnisses „zwischen technischer und finanzieller Zusammenarbeit“ um „belastende ... Bürokratie zu verringern“. Wer ist schon für belastende Bürokratie? Selbst die Linke nicht. Wenn die FDP die Verschlankung des Staates fordert, dann ist der Stellenabbau nicht weit. ({8}) Wir sagen: Effizient ist das, was den Armen in der Dritten Welt hilft. Wenn eine Fusion von technischer und finanzieller Zusammenarbeit in der deutschen Entwicklungshilfe dem Kampf gegen Hunger, dem Kampf gegen Aids und dem Bau neuer Abwassersysteme dient, dann unterstützen wir das.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Hüseyin Kenan Aydin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003733, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum letzten Absatz. Der OECD-Bericht merkt kritisch an, Deutschland möge über Möglichkeiten zur Freisetzung zusätzlicher öffentlicher Haushaltsmittel für die Entwicklungsarbeit nachdenken, sprich: nicht nur auf dem Papier, sondern real die Entwicklungshilfe steigern.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege!

Hüseyin Kenan Aydin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003733, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Doch diese Kritik hat die FDP in ihrem Antrag gern übersehen. Zu einem Antrag, der von Effektivität redet, aber Abbau der Entwicklungshilfe meint, können wir nur Nein sagen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Sascha Raabe, SPD-Fraktion.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Deutschland verdient Anerkennung für sein Engagement in einer Reihe von Bereichen, die von anderen Gebern eher weniger finanziell unterstützt werden … Dieser Satz stammt nicht von mir, sondern er ist ein Zitat aus eben jenem DAC-Prüfbericht, von dem die Opposition meint, er sei so schlecht ausgefallen. Sie tut sich nun erkennbar schwer damit, zu begründen, warum das, was eigentlich gut ist, schlecht sein soll. Diese von mir zitierte Stelle ist nur eine von vielen, an denen der Bericht die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ausdrücklich lobt. ({0}) In weiten Teilen fällt der Bericht überaus positiv aus und erkennt an, dass „die Bundesregierung beträchtliche Fortschritte bei der Anpassung ihrer Politiken und Ansätze erzielt“. Ich jedenfalls fühle mich durch den Bericht ermutigt und bin durchaus stolz auf das, was deutsche Entwicklungszusammenarbeit in den letzten Jahren für die Menschen in der ganzen Welt geleistet hat. Denn, meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihnen muss bewusst sein, wenn Sie in Ihrem Antrag und, Herr Königshaus, in Ihren Redebeiträgen davon sprechen, dass das eine vernichtende Kritik an der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sei, dass das nicht zuletzt eben jene vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort trifft, die sich unter schwierigsten Bedingungen für die ärmsten Menschen auf dieser Welt einsetzen. Wir werden nicht zulassen, dass Sie denen vors Schienbein treten. ({1}) Es ist nicht so, dass wir für konstruktive Kritik nicht offen wären. Der DAC-Bericht liefert sicher sinnvolle Hinweise, in welchen Punkten wir unsere Bemühungen noch forcieren müssen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Königshaus?

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es gibt zwar Dinge, die mehr Vergnügen bereiten, aber gerne. ({0}) - Sie können gerne noch den Abend im Biergarten mit ihm verbringen. Das steht Ihnen frei, Herr Kollege.

Hellmut Königshaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003709, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, sind Sie bereit, einzuräumen, dass die Kritik an der Politik der großen Koalition und der Bundesregierung nicht identisch ist mit der Kritik, die Sie uns unterstellen, nämlich Kritik an denen, die unter dieser schlechten Politik leiden - sie müssen diese Politik umsetzen, obwohl sie sie nicht gut finden -, und Ihre Unterstellung somit völlig daneben ist?

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist wieder typisch. Sie stellen eine Behauptung in den Raum. Der DAC-Prüfbericht hat ja nicht nur die Arbeit der Regierung geprüft - Herr Manning hat ja nicht nur die Frau Ministerin in ihrem Wirken geprüft -, sondern er hat geprüft, wie effizient, wie gut Entwicklungszusammenarbeit vor Ort ist. Sie wird nicht in Berlin am grünen Tisch gemacht, sondern vor Ort bei den Menschen. Wenn Sie wahrheitswidrig behaupten, dass der DAC-Prüfbericht ein vernichtendes Urteil über die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ausspricht, dann sollten sie wirklich einmal mit den Menschen reden, die vor Ort arbeiten, und auch mit denen, denen geholfen wird. Sie würden Ihnen sagen, was auch im Prüfbericht steht: Das ist eine gute Arbeit, die Menschen hier machen eine gute Arbeit. - Das sollte man anerkennen. ({0}) Wir sind auch der Meinung, dass es des Antrags nicht bedurft hätte - da stimme ich mit meinem Kollegen Ruck überein -, weil wir die Lehren aus dem Bericht schon gezogen haben. Wir halten es eher mit Aristoteles: „Was man lernen muss, um es zu tun, das lernt man, indem man es tut.“ Deswegen haben wir uns die Mühe gemacht, im Koalitionsvertrag viele Dinge aufzugreifen, die durchaus mutig sind, weil sie in gewissen Bereichen erst einmal auf Widerstand stoßen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn man sagt, dass man die finanzielle und die technische Zusammenarbeit enger verzahnen, also die Arbeit zweier guter Durchführungsorganisationen noch weiter verbessern möchte. All das ist angegangen worden. Wie Herr Ruck erwähnt hat, haben wir auch ein Gutachten erstellen lassen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Trittin?

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne. Herr Trittin läuft ja immer mit mir zusammen von UdL 50 bis zum Reichstag. ({0}) Davon soll er auch etwas haben.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Raabe, da Sie gesagt haben, dass man Gutes lernt, indem man Gutes tut, frage ich Sie: Wie stehen Sie zu dem Vorschlag - er ist wohl von einer Beratungsorganisation des BMZ entwickelt worden -, die erfolgreiche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, die GTZ, künftig einer Bank, der KfW, zu unterstellen, und welche Folgen erwarten Sie insbesondere vor dem Hintergrund des erfolgreichen Wirkens der GTZ im Rahmen der technischen Zusammenarbeit?

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Trittin, Sie behaupten, bereits einige Auszüge aus dem Gutachten zu kennen. Ich kenne diese Auszüge nicht, weil das Gutachten noch nicht vorliegt. Darin werden sicherlich viele Gedankenspiele gemacht. Erinnern Sie sich einmal an Ihre Zeit als Minister. Damals haben auch Sie sich nicht immer gefreut, wenn alles, was in Ihrem Ministerium angedacht wurde, an die Öffentlichkeit gelangte; meistens haben Sie dann gesagt, dass diese Ideen ganz gewiss nicht von Ihnen kommen. Daran wird deutlich: Es gibt immer viele gute Ideen, die gesammelt werden müssen, und es gibt keine Denkverbote. ({0}) Uns Parlamentariern werden dann, wenn das Gutachten vorliegt, mehrere Optionen vorgeschlagen. ({1}) Dann werden wir uns dazu äußern. Aber Sie werden verstehen, dass ich zu einem angeblichen Zitat aus einem Gutachten, das noch nicht vorliegt, nicht Stellung nehmen werde. ({2}) Herr Kollege, Sie können aber versichert sein, dass wir uns darüber noch ausführlich unterhalten und dann die beste Lösung finden werden. Wie ich bereits sagte, werden auch andere Punkte, die im DAC-Peer-Review angeregt werden, bereits von uns bearbeitet. Dabei geht es zum Beispiel um die Konzentration auf weniger Partnerländer, also um die zukünftige Beschränkung der bilateralen staatlichen Zusammenarbeit auf 60 Länder. Das lassen wir im Augenblick mit wissenschaftlicher Begleitung prüfen. Hier spielen verschiedene Kriterien eine Rolle, zum Beispiel die Bedürftigkeit und die Bedeutung für den Schutz globaler Umweltgüter. Auch Good Governance, gute Regierungsführung, ist für die Mittelvergabe mit Sicherheit ein wichtiger Aspekt. Ich sage aber auch: Wir dürfen die Menschen, die nicht das Glück haben, in einem Staat mit guter Regierungsführung zu leben, nicht im Stich lassen. ({3}) - Doch. ({4}) Denn in Ihrem Antrag, Herr Addicks, heißt es, dass wir uns bei der Länderauswahl, wenn es also um die Konzentration auf weniger Partnerländer geht, daran orientieren sollten, ob dort gute Regierungsführung geleistet wird oder nicht. Das steht wörtlich so in Ihrem Antrag. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Sie nicht mehr wollen, dass wir weiterhin mit Ländern zusammenarbeiten, in denen die Regierungsführung nicht gut ist. ({5}) Dazu sage ich: Natürlich werden wir keinen Despoten unkontrolliert deutsche Steuergelder anvertrauen; das haben wir noch nie getan. Dennoch wollen wir in Ländern mit schlechter Regierungsführung die Zivilgesellschaft stärken, für Demokratisierung sorgen und insbesondere durch die Entwicklungszusammenarbeit dazu beitragen, dass man im Interesse der Menschen zu einer guten Regierungsführung übergeht. Deswegen können wir uns hier nicht einfach zurückziehen, wie Sie es vorschlagen. ({6}) An einem Punkt haben Sie den Bericht allerdings nicht richtig verstanden - das ist zwar nicht nur an dieser einen Stelle der Fall; hier wird es aber besonders deutlich -: ({7}) Sie haben in Ihrem Antrag ein Zitat aus dem DAC-Prüfbericht angeführt und dann gesagt, dass das Ankerländerkonzept darin kritisiert würde. Das Ankerländerkonzept wird aber nicht kritisiert, sondern lediglich beschrieben. Es wäre falsch, dieses Konzept aufzugeben. Wer das tut, verkennt, dass Ankerländer für die Entwicklungszusammenarbeit eine strategische Bedeutung haben. Ihnen kommt bei der Bekämpfung der Armut im Rahmen einer nachhaltigen globalen Entwicklung, bei der Sicherung von Frieden und Stabilität und beim Schutz öffentlicher Güter eine Schlüsselrolle zu. Die Mehrzahl der Armen lebt in Anker- und Schwellenländern. Oft wird allerdings so getan, als würden die Menschen dort schon in Saus und Braus leben. Man muss sich nur einmal vergegenwärtigen, dass allein in Indien mehr hungernde Kinder als in ganz Afrika leben. Wir dürfen also nicht so tun, als wäre in diesen Anker- und Schwellenländern schon alles geregelt und als ob wir uns aus der Entwicklungszusammenarbeit mit diesen Ländern zurückziehen könnten. Wir wollen dort Maßnahmen ergreifen, die die soziale Kohäsion nach vorne bringen und die globalen Umweltgüter schützen. Wir wollen das wirtschaftliche Gewicht und den Einfluss dieser Länder in der Region dahin gehend steuern, dass auch andere Länder davon profitieren können. Ein gutes Beispiel in diesem Zusammenhang ist China. Herr Königshaus, Sie sind selbst dort gewesen - die Kollegin Kofler auch - und haben in Ihrem Bericht vor dem Ausschuss erklärt, dass es Sinn macht, mit China eine vernünftige Entwicklungszusammenarbeit zu pflegen. Denn China hat eine so große Bevölkerung, dass sich die Millenniumsziele ohne eine Zusammenarbeit mit China überhaupt nicht erreichen ließen. Wir wollen nicht wieder eine Entwicklungspolitik nach dem Motto „Der gute Onkel gibt den armen Menschen etwas Milchpulver und Reis als Entwicklungshilfe“, sondern wir haben ein modernes Verständnis von Entwicklungszusammenarbeit. Deswegen geht Ihre Kritik daran, dass wir den ärmsten Menschen die Schulden erlassen, völlig am Thema vorbei - als ob wir in der Vergangenheit Schulden ungeprüft erlassen hätten. Nein, anders als es in Ihrem Antrag heißt, ist es so, dass wir auch in der Vergangenheit nur solchen Ländern einen Schuldenerlass gewährt haben, die nachweislich Fortschritte bei der Armutsbekämpfung gemacht haben, die strukturelle Reformen vorgenommen haben. Wir werden weiterhin Ländern, in denen diese Voraussetzungen gegeben sind, die Schulden erlassen. Dadurch bekommen sie Mittel für die Armutsbekämpfung, die sie sonst für Zinsen und Tilgung ausgeben müssten. ({8}) Herr Kollege Aydin, Sie haben am Beispiel von Mosambik zu Recht aufgezeigt, wie ein Land in die Lage versetzt wurde, sich eigenständig zu entwickeln und Hunger und Armut zu bekämpfen. Warum Sie versuchen, die ODA-Quote mit dem Hinweis, ein Schuldenerlass sollte nicht einfließen, klein zu rechnen, kann ich nicht nachvollziehen. Man hat sich international zu Recht darauf geeinigt, dass auch ein Schuldenerlass ein wichtiger Bestandteil von Entwicklungszusammenarbeit ist. Das lobt auch der DAC-Bericht, insbesondere lobt er den Aufwuchs unserer Mittel in diesem Bereich von 0,28 Prozent in 2004 auf 0,35 Prozent unseres BIP. Ich kann ja verstehen, dass man es als Opposition angesichts eines solchen Anstiegs, wie es ihn in den letzten zehn, zwanzig Jahren in dieser Größenordnung nicht gegeben hat, in der Debatte schwer hat und seltsamste Arithmetik bemühen muss, um das schlecht zu rechnen. ({9}) Aber nehmen Sie einfach einen Taschenrechner zur Hand und tippen Sie die Zahlen ein; wir brauchen dazu nicht viel zu erklären. Zum Abschluss möchte ich erwähnen, dass im DACBericht besonders der Kohärenzcharakter der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gelobt wird.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, der Herr Kollege Addicks möchte eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne; aber die Uhr muss gestoppt werden.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die Uhr habe ich schon immer gestoppt, bei jeder Zwischenfrage, Herr Kollege.

Dr. Karl Addicks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003713, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Raabe, ich gebe Ihnen gerne Gelegenheit, Ihre Redezeit etwas zu verlängern, wenn Sie mir die Frage beantworten, wieso ausgerechnet ein Land wie Nigeria Teil des Entschuldungsprogramms der Bundesregierung geworden ist.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Entschuldungsprozesse haben immer einen langen Vorlauf: Da wird überprüft, und wenn die Kriterien nicht mehr erfüllt sind, dann reagieren wir als Parlamentarier und als Regierung entsprechend. Wir Entwicklungspolitiker sind nicht blind, wenn in einem Land Rohstoffe vorhanden sind und wir das Gefühl haben, dass die entsprechenden Einnahmen nicht so verwandt werden, wie wir es wollen. Das ärgert uns; das möchte ich ganz offen sagen. Sicherlich gibt es in Nigeria wie in einigen afrikanischen Ländern in dieser Hinsicht Probleme; wir haben ja im Ausschuss eine Anhörung zu diesem Thema. Sie rennen bei mir offene Türen ein, wenn Sie sagen, dass man Ländern, die mit ihren eigenen Einnahmen nicht verantwortungsvoll umgehen, an den Stellen, wo wir normalerweise helfen, sagen muss: So nicht. Aber die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen und anderen Stellen sollte man natürlich weiterführen; wir wollen ja nicht die Menschen in diesen Ländern bestrafen. Ganz wichtig, Herr Kollege Addicks, ist es auch, dass ein Land wie Nigeria gerechte Handelsbedingungen bekommt. Das ist der Kern. Es darf nicht nur um Schuldenerlass gehen, die Entwicklungsländer müssen auch gerechte Handelsbedingungen bekommen. Im Bereich globaler Strukturpolitik hat sich unsere Ministerin dafür seit 1998 sehr stark eingesetzt. Der DAC-Bericht lobt die Bemühungen Deutschlands in diesem Bereich ausdrücklich. Dort ist zu lesen: Zur Förderung der Politikkohärenz im Bereich der internationalen Handelsagenda hat sich Deutschland 2004 für die Reform der europäischen Baumwollmarktordnung sowie für die Baumwoll-Initiative in der WTO eingesetzt und zu einer baldigen Reform der europäischen Zuckermarktordnung aufgerufen. Das wollte ich gerne noch loswerden. Es ist schön, dass Sie mir das durch Ihre Zwischenfrage ermöglicht haben. ({0}) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Ute Koczy, Bündnis 90/ Die Grünen.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen auf internationaler Ebene seit geraumer Zeit eine Debatte über die Aufstockung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit und darüber, wie man bessere Ergebnisse in der Entwicklungszusammenarbeit erreichen kann. Dazu gibt es einige wichtige Stichworte, die ich Ihnen in Erinnerung rufen möchte: Qualität der Entwicklungszusammenarbeit, bessere Abstimmung der Geber und - das betone ich besonders nachvollziehbare, klare Ergebnisse. Das wird im Jargon Geberharmonisierung und Ergebnisorientierung genannt. Die OECD-Länder haben letztes Jahr mit der Parisdeklaration eine Vereinbarung zur Verbesserung der Wirksamkeit ihrer Entwicklungszusammenarbeit getroffen. Kofi Annan hat gerade ein Beratergremium, ein High Level Panel, eingesetzt, das bis zum Sommer einen Vorschlag zur Reorganisation der Entwicklungszusammenarbeit auf UN-Ebene erarbeiten soll. Die multilateralen und regionalen Entwicklungsbanken stehen unter Druck, die Effektivität ihrer Arbeit zu beweisen und zukünftig zu erhöhen. Jetzt liegt der DAC-Peer-Review vor, der eine umfassende Reform der EZ anmahnt, ich denke, zur richtigen Zeit. Es ist wichtig, in dieser Debatte zwei Dinge dazu klarzustellen: Zum einen müssen die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit erhöht werden, zum anderen brauchen wir eine höhere Effizienz in der Entwicklungszusammenarbeit. ({0}) Beides ist wichtig, wenn wir in Zukunft die Eigenständigkeit der Entwicklungszusammenarbeit erhalten wollen. Bei einer solchen Qualitätsverbesserung geht es nicht allein um eine Reform der Durchführungsinstitutionen. Es müssen auch andere Elemente stimmen, damit wir tatsächlich eine größtmögliche Effizienz erreichen: Die Empfängerländer müssen ihre Regierungsführung verbessern - ich nenne das Stichwort Good Governance -, damit die von außen kommenden Gelder eben nicht auf den Konten von korrupten Beamten und Politikerinnen und Politikern versickern. Die Eigenverantwortung der Empfänger muss gefördert werden. Dazu müssen die Geber eine größere Planungssicherheit gewährleisten. Sie müssen die Berechenbarkeit ihrer Mittel verbessern und zu Mehrjahreszusagen bereit sein. Das bedeutet, dass auch wir einiges verändern müssen. Die Geber müssen versuchen, eine größere Übereinstimmung ihrer Mittelvergabe mit der Politik des Landes herzustellen, zum Beispiel im Sinne eines Beitrags zur Umsetzung der nationalen Strategien zur Armutsminderung. Nun zum DAC-Peer-Review. Der Bericht stellt Deutschland eigentlich ein gutes Zeugnis aus. Aber wie es sich für einen guten Bericht gehört, wird in ihm auch Kritik an der deutschen Entwicklungszusammenarbeit geübt: Das deutsche EZ-System sei zu unübersichtlich, es benötige zu viel interne Koordinierung, es überfordere durch seine Aufwendigkeit schlicht und einfach die Strukturen der Empfängerländer. Insgesamt wird aber herausgestellt, dass die deutsche EZ gut ist, die technische Zusammenarbeit wird als vorteilhaft beschrieben. Die EZ erzielt in verschiedensten Evaluierungen vergleichsweise gute Ergebnisse. In der Debatte müssen wir aber auch die Institutionenlandschaft der deutschen EZ betrachten. Es kommt natürlich darauf an, wie, wo und mit welchen Institutionen die Mittel verwendet werden sollen. Die Tatsache, dass das deutsche System einmalig ist, lässt sich historisch begründen, ist aber für die Entwicklung in der Zukunft nicht sehr aussagekräftig. Wir brauchen - das ist wichtig - Kohärenz zwischen BMZ, Auswärtigem Amt und anderen Ministerien in der Entwicklungszusammenarbeit, wenn wir gute Entwicklungszusammenarbeit leisten wollen. ({1}) Das BMZ muss seine Fähigkeit beweisen, die Durchführungsorganisationen zu steuern. Es muss daran arbeiten, das zu verbessern, die strategische Gestaltung der Inhalte in den Vordergrund zu stellen und über die Diskussion der Budgetfinanzierung hinaus Innovationen zu ermöglichen. Die Frage „KfW oder GTZ?“ wird jetzt vorrangig in den Medien gestellt. Dieser Frage müssen wir uns offensiv stellen. Ich bin der Meinung, es handelt sich um zwei Institutionen mit unterschiedlichen Kulturen. Wir müssen sehr sorgfältig prüfen, was wir in diesem Zusammenhang für zukunftsfähig halten. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/963 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende - Drucksache 16/1410 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Rolf Stöckel, SPD-Fraktion.

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten bekennen uns bei aller unberechtigten, aber auch berechtigten Kritik und Diskussion im Detail zu den von uns eingeleiteten Reformen der Arbeitsmarktpolitik und zu dem notwendigen Umbau unserer sozialen Grundsicherungssysteme. Es bleibt menschenunwürdig, wenn Langzeitarbeitslose zwar ausreichende staatliche Transferleistungen erhalten, aber ohne Chance auf Qualifizierung und auf Integration in den Arbeitsmarkt sind und damit vom gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt bleiben. Es bleibt richtig, dass wir das ganze Ausmaß der versteckten Langzeitarbeitslosigkeit und der betroffenen Familien ans Licht gebracht haben, obwohl wir Prügel für die gestiegene Arbeitslosenstatistik bekommen haben. Es bleibt auch richtig, dass die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, für die alle Akteure in der Wirtschaft - also Kapitaleigner, Arbeitgeber und Gewerkschaften - sowie Beratungsstellen, Verbände und die ausführenden Bürokratien der Arbeitsagenturen und der Sozialverwaltungen in den Kommunen verantwortlich sind und bleiben. Wir als Gesetzgeber haben den gesetzlichen Rahmen dafür weiterzuentwickeln, damit diese Aufgabe fortschreitend besser umgesetzt werden kann. Nennen Sie es Nachbessern oder lernende Gesetzgebung! Das liegt in der Natur der Sache und einer modernen Politik. Das ist sogar der gesetzliche Auftrag des SGB II, den diese große Koalition ernst nimmt und den wir im Koalitionsvertrag verankert haben. Niemand von uns hatte damals die Vorstellung, dass die neue Grundsicherung für Arbeitsuchende alle strukturellen Probleme mit einem Schlag auflöse, die über Jahrzehnte gewachsen sind und mit der deutschen Einheit, die international ohne Beispiel ist, verschärft wurden, zumal vor dem Hintergrund einer weltweit schlechten Wirtschaftsentwicklung nach dem 11. September 2001. Da hilft auch kein populistisches Wunschdenken; da helfen keine Parolen. Vor allem den Betroffenen hilft das keinen Schritt weiter. Es ist unbestritten, dass es Defizite und Unvermögen in der Organisation gibt, etwa beim Datenabgleich und insbesondere bei der Schnelligkeit und Qualität der persönlichen Betreuung und Integration, also beim Fördern durch die örtlichen Arbeitsgemeinschaften oder auch in den so genannten Optionskommunen. Die Eingliederungsmittel sind bis heute etwa zur Hälfte in Angebote umgesetzt worden, von einer bedarfsgerechten ganztägigen Kinderbetreuung in den Kommunen ganz zu schweigen. Im Gerangel der Leistungsträger, die in alter, gewohnter Manier versuchen, Kosten und Verantwortung auf andere abzuwälzen, am liebsten auf den Bund, werden bewährte Unterstützungsangebote, zum Beispiel in der Jugendhilfe, der Drogen- und der Schuldnerberatung, eher ab- als aufgebaut. Die Sparorgie der schwarz-gelben Landesregierung in Nordrhein-Westfalen ist ein besonders unrühmliches Beispiel dafür. Wir Sozialdemokraten werden gemeinsam mit den Betroffenen dagegen Sturm laufen. ({0}) Wir werden uns aber auch nicht damit abfinden, dass es sozialdemokratische Bürgermeister gibt, deren Hauptanliegen nicht die effiziente Betreuung der Betroffenen oder die Schaffung ganztägiger Kinderbetreuung, sondern das Abwälzen von Personal- und Unterkunftskosten auf den Bund ist. Wir sind nicht einverstanden, wenn die Geschäftsstrategie der Verantwortlichen der BA vorsieht, möglichst schnell die so genannten Betreuungskunden - schwer vermittelbare und unqualifizierte Betroffene - aus ihrem Verantwortungsbereich loszuwerden. ({1}) Es ist wahr, dass es durch organisatorische Mängel nicht nur infolge der gestiegenen Bedürftigkeit, die wir auch konstatieren müssen, sondern auch infolge legaler Mitnahmen Leistungsausweitungen gab. Sie haben die Kosten für den Bund in die Höhe getrieben, während der zielgenaue Einsatz der Mittel und die Umsetzung von Sanktionsmöglichkeiten bis heute mangelhaft sind. Diejenigen, die aufgrund dieser Anfangsprobleme gravierende Leistungskürzungen fordern, etwa Herr Sinn vom Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, sind auf dem Holzweg. Die Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums löst keine Probleme, sondern schafft neue, die der Gesellschaft teuer zu stehen kommen. ({2}) Nur das aktive Fördern sowie die möglichst schnelle und intensive persönliche Betreuung hilft den Betroffenen, verhindert missbräuchlichen Leistungsbezug, den es nach allen Erfahrungen auch gibt, der aber mit Sicherheit nicht dazu führen kann - das wäre völlig falsch und zynisch -, alle Betroffenen unter Generalverdacht zu stellen. Ich rate Herrn Sinn und all denen, die so denken wie er, sich mit den Einnahmeausfällen aufgrund von Mitnahmen bei den Steuern bzw. mit Steuerbetrug zu beschäftigen. ({3}) Bei allen verständlichen Debatten dürfen wir eines nicht übersehen: ({4}) Alle vergleichbaren Staaten, in denen entsprechende Reformen früher eingeführt worden sind und die teilweise bessere Ausgangsbedingungen hatten, hatten ähnliche Anfangsschwierigkeiten; sie brauchten ebenfalls drei bis fünf Jahre, um eine annähernd optimale Praxis zu entwickeln. Umso mehr geht es uns darum, Kurs zu halRolf Stöckel ten, einen langen Atem zu haben und sich nicht durch fundamentale Opposition oder Störmanöver von Vertretern durchsichtiger Einzelinteressen von dieser Verantwortung ablenken zu lassen. ({5}) Es gibt bei der CDU/CSU auf der einen Seite und bei der SPD auf der anderen Seite verschiedene Schlussfolgerungen aus den Praxiserfahrungen. Wir freuen uns nicht über alles, was in diesem Gesetzentwurf steht. Wie könnte es anders sein? ({6}) Der Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist aber keinesfalls, wie vielfach behauptet wird, nur ein Spargesetz. Er ist auch viel besser als ein schlechter Kompromiss. Ich möchte gleich ein paar Beispiele dafür nennen. In der Tat sollen in den kommenden Jahren Einsparungen, die sich aus der Verbesserung der Verwaltungsabläufe und aus der Bekämpfung von Leistungsmissbrauch ergeben, erzielt werden. Beispiele sind etwa die Einführung eines flächendeckenden Außendienstes oder aber das Sofortangebot an Antragsteller ohne vorherigen Leistungsbezug. In 2006 geht es um einen Betrag von 500 Millionen Euro, in 2007 und 2008 um einen Betrag von jeweils 1,48 Milliarden Euro. Ein vorrangiges Anliegen des Gesetzentwurfes ist jedoch eine verbesserte Betreuung der tatsächlich hilfeberechtigten Arbeitsuchenden aus einer Hand. Die Arbeits- und Ausbildungsstellenvermittlung wird einheitlich als Pflichtaufgabe der Arbeitsgemeinschaften und der zugelassenen kommunalen Träger festgelegt. Weitere vorrangige Anliegen sind die Beseitigung von Schnittstellen, die klare Regelung der Zuständigkeit für Personen, die Arbeitslosengeld I und aufstockend Arbeitslosengeld II erhalten, und die Erhöhung des Schonvermögens für die Alterssicherung bei gleichzeitiger Absenkung des freien Vermögens. Aus unserer Sicht müssen aber auch - das sage ich den Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU hier ganz deutlich - die Belange der jüngeren Langzeitarbeitslosen ausreichend beachtet werden. Die Union handelt meines Erachtens widersprüchlich, wenn sie den Ausbau des geschützten Altersvermögens fordert und gleichzeitig das Arbeitslosengeld II absenken möchte. Sie ignoriert die aktuellen Erfordernisse bei der Mobilität und Flexibilität junger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir sind der Meinung, dass die Stärkung des Förderns, zum Beispiel die Weiterfinanzierung einer Eingliederungsmaßnahme bei Wegfall der Hilfebedürftigkeit und die schnellere Aktivierung der Arbeitsuchenden, eine bessere Lösung darstellt. Das gilt auch für die Unterstützung junger Menschen, zum Beispiel durch Vollfinanzierung der Aktivierungshilfen für erwerbsfähige hilfebedürftige Jugendliche, und für die bedarfsgerechte Ausgestaltung der Leistungen durch einen Zuschuss zu den Wohnkosten für die Bezieher von BAföG oder Berufsausbildungsbeihilfe. ({7}) - Ja. Ich kann Ihnen nicht alle Einzelheiten und Details des Gesetzes vortragen. Wir werden sicherlich an dem einen oder anderen Punkt in der Debatte darauf zurückkommen. Wir legen einen Gesetzentwurf vor, der die Grundsicherung für Arbeitsuchende fortentwickelt. Wir haben uns redlich bemüht, die Vorschläge der verschiedensten Akteure in der Praxis einzuarbeiten ({8}) und wir werden gemeinsam eine ausführliche Anhörung dazu durchführen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Möller?

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, selbstverständlich.

Kornelia Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003811, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass das Papier von Herrn Clement zum so genannten Leistungsmissbrauch keinen wissenschaftlichen Hintergrund hat, sondern dass nur ausgewählte Einzelfälle zur pointierten Darstellung für dieses Papier herangezogen wurden? Ich vermute, dass Ihnen das bekannt ist. Deshalb frage ich: Warum haben Sie in diesem SGB-II-Fortentwicklungsgesetz einen flächendeckenden Schnüffeldienst eingeführt? Können Sie sich vorstellen, was es für Menschen mit ALG II bedeutet, wenn sie keine Privatsphäre mehr haben und unter ihre Bettdecke geschaut wird? ({0})

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollegin Möller, mir ist nicht nur dieses Papier bekannt, mir sind viele Papiere von Herrn Clement bekannt. Unabhängig von wissenschaftlichen Untersuchungen kann ich Ihnen aus 15-jähriger Sozialarbeiterpraxis in einem Sozialamt, in dem ich Klienteninteressen zu vertreten hatte, sagen, dass das, was dort beschrieben ist, sicherlich Einzelfälle sind. Wenn man aber die gesamte Praxis der Sozialhilfe seit dem Bestehen des Gesetzes betrachtet, also seit ungefähr 45 Jahren, dann sieht man auch, dass es immer auch Leistungsmissbrauch gab. Wir beziehen uns in unserer Debatte im Wesentlichen auf legale Mitnahmen von sicherlich von irgendeiner Notlage Betroffenen, um die es beim SGB II aber mit Sicherheit nicht geht. ({0}) Zur Ausweitung der Bedarfsgemeinschaften kam es ja nicht etwa aufgrund des betrügerischen Missbrauchs, sondern aufgrund legaler Mitnahmen durch Lücken im Gesetz, also durch Defizite, die damals im Vermittlungsverfahren nicht berücksichtigt werden konnten. Alle Kolleginnen und Kollegen in der Praxis werden Ihnen sagen, dass es, egal welches Gesetz wir in diesem Hause verabschieden, immer den Versuch geben wird, einen eigenen Nutzen daraus zu ziehen. Ich glaube, dass wir gut daran tun - natürlich gemeinsam mit den Praktikern -, in einer Fortentwicklung dieses Gesetzes diese Möglichkeiten zu begrenzen, weil die Mittel, die wir als Steuerzahler alle gemeinsam dafür einsetzen, möglichst effektiv denen zukommen sollten, die tatsächlich betroffen sind. Wir Sozialdemokraten sind der Meinung, dass das für die Solidargemeinschaft auch kontrollierbar und transparent sein muss. Das ist richtig. ({1}) Wenn wir die Beweislast bei der Frage umkehren, ob es sich um Lebenswirtschaftsgemeinschaften handelt oder nicht, dann bedeutet das aus meiner Praxiserfahrung im Sozialamt heraus eher weniger Schnüffelstaat, weniger Kontrolle und ein geringeres Herumschnüffeln in den Schlafzimmern als bei der bisherigen Praxis zumindest in der Sozialhilfe. Bisher gibt es diesen entwickelten Außendienst ja überhaupt nicht. Insofern weiß ich gar nicht, auf welche Erfahrung Sie sich hier berufen. ({2}) Ich sage noch einmal: Wir werden gemeinsam eine ausführliche Anhörung dazu durchführen. Ich denke, dass die Ausführungen der Experten und Praktiker dort für uns sicherlich wichtige Aufschlüsse bringen werden. Wir alle kennen das strucksche Gesetz. Ich persönlich würde sagen: Nichts ist so gut, dass es nicht noch verbessert werden kann. - Sie sind herzlich eingeladen - auch Sie, Frau Möller -, eigene konstruktive und realistische Vorschläge zu machen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dirk Niebel, FDPFraktion. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das hier in erster Lesung zu beratende Gesetz nennt sich Fortentwicklungsgesetz. Im Vorfeld sprach die Regierungskoalition immer noch von einem Optimierungsgesetz. Ich denke, es ist bemerkenswert, dass man ein Gesetz erst einmal fortschreibt, bevor man ein vorhandenes Gesetz, das Fehler aufweist, optimiert. Vielleicht ist auch die späte Stunde, zu der die Debatte über dieses Gesetz stattfindet, das sehr viele Menschen in diesem Lande interessiert, ein Fingerzeig dafür, wie die Regierung miteinander umgeht. ({0}) Auch die Stimmung bei den Koalitionspartnern, die man jetzt gesehen hat bzw. nicht hören konnte, zeigt ja, dass es hier intern durchaus unterschiedliche Betrachtungsweisen gibt. ({1}) Bei der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, die ich nach wie vor für richtig halte, weil es unwürdig war, dass zwei steuerfinanzierte Transfersysteme teilweise für den gleichen Personenkreis parallel existiert haben, sind Fehler gemacht worden. Man hat richtigerweise mit der Zusammenlegung dieser beiden Leistungen für den gleichen Lebenssachverhalt, dass man seinen Unterhalt eben nicht mit der eigenen Hände Arbeit verdienen kann, versucht, Verwaltung zu vereinfachen, Kosten zu minimieren, die Betreuung von Arbeitsuchenden zu verbessern und die Würde der Betroffenen dadurch zu schonen, dass sie ihre intimsten wirtschaftlichen Daten nicht vor zwei wildfremden Beamten offen legen müssen. Aber die Situation der Arbeitsuchenden ist nicht verbessert worden, weil in der Grundanlage dieses Gesetzes entscheidende Fehler gemacht worden sind. Die Union war übrigens im Vermittlungsverfahren, an dem auch ich teilnehmen durfte, mit mir der Meinung, dass man keine doppelten Vermittlungsstrukturen aufbauen sollte, weil der Verlust des Arbeitsplatzes bei dem Personenkreis der Langzeitarbeitslosen oftmals nur ein Problem von ganz vielen darstellt und andere Probleme wie Wohnungsverlust, Überschuldung und Suchtprobleme hinzukommen. Für all diese Punkte sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit, ohne ihnen Böses zu wollen, nicht ausreichend kompetent und überhaupt nicht qualifiziert. Deswegen waren wir der Ansicht, man müsse die kommunale Trägerschaft präferieren. Sie haben das noch im Wahlkampf gefordert. Sie sind noch nicht einmal so weit gegangen, die Kommunen, die das möchten, in die Lage zu versetzen, sich um diesen Personenkreis zu kümmern. Das ist ein großer Fehler. ({2}) Im Vermittlungsverfahren habe ich gefordert: Wer sich bei der Bundesagentur für Arbeit meldet, muss sofort ein Angebot zu einer Qualifizierung, einer gemeinnützigen Tätigkeit oder einer Zeitarbeit bekommen. Ein solches Angebot verdeutlicht, dass erstens die Arbeitsbereitschaft vorhanden ist, und führt zweitens dazu, dass die Arbeitslosigkeit möglichst zügig wieder beendet werden kann. Das ist aus ideologischen Gründen von einer Seite dieses Hauses abgelehnt worden. Jetzt steuern Sie nach; das finde ich gut und richtig. Es geht hier - Herr Stöckel, Sie sind, wie ich gelesen habe, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Verteilungsgerechtigkeit Ihrer Fraktion - um die Erwirtschaftungsgerechtigkeit; denn die Mittel für das Arbeitslosengeld II werden durch die Steuergelder der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer finanziert. Ohne einen Generalverdacht aussprechen zu wollen: Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, dafür zu sorgen, dass Möglichkeiten zum Missbrauch in diesem System verhindert werden. Das hätten wir viel früher haben können. Es ist gut, dass dies jetzt endlich passiert. Dann lassen Sie es uns aber auch richtig machen. ({3}) Lassen Sie uns dafür sorgen, dass eine Arbeitslosenpolizei nicht flächendeckend eingeführt werden muss, sondern dass die Arbeitsgemeinschaften und die Optionskommunen vor Ort, die es möchten und es für notwendig erachten, einen Außendienst einführen können. Lassen Sie uns dort, wo es vielleicht sinnvoller ist, Stellenakquise zu betreiben, weil der Arbeitsmarkt wie in Baden-Württemberg ordentlich funktioniert, die Mitarbeiter für die Stellenakquise einsetzen, damit die Arbeitslosigkeit beendet werden kann. Lassen Sie uns das aber ohne eine weitere Aufblähung des Personalapparates machen. Der Effizienzgrad der Bundesagentur mit 90 000 Mitarbeitern und einer Vermittlungsquote von ungefähr 18 Prozent schreit zum Himmel. Das ist auch einer der Gründe dafür, weshalb wir über das Thema der Verwaltung der Arbeitslosigkeit in der Zukunft noch werden sprechen müssen. Sie wissen, wir sind der Überzeugung: Die Agentur ist in dieser Form nicht reformierbar. Wir wollen die kommunale Trägerschaft. Frau Engelen-Kefer hat gerade diese Woche in einer Pressekonferenz erklärt, es sei ein Fehler, doppelte Vermittlungsstrukturen aufzubauen. In dieser Frage hat Frau Engelen-Kefer Recht. Aber man sollte die Aufgabe, sich um die Arbeitslosen zu kümmern, nicht dem Moloch in Nürnberg überlassen. Vielmehr müssen die Menschen dort, wo sie sind und wo auch die Arbeitsplätze sind, betreut werden, nämlich vor Ort. Dafür kommt nur die kommunale Trägerschaft infrage. ({4}) Es macht überhaupt keinen Sinn, dass Sie die Durchführung der Ordnungswidrigkeitenverfahren in Kommunen erst ab dem 1. Januar 2007 zulassen wollen. Das kann man sofort machen, weil das effizient und sinnvoll ist. Wir unterstützen Sie darin ausdrücklich. Deswegen glaube ich, dass wir im Verfahren der parlamentarischen Beratung noch weiterkommen. Der letzte Punkt sind die Telefonbefragungen. Die Ergebnisse, die uns zwischenzeitlich aus den Berichten bekannt geworden sind, zeigen, dass die Telefonbefragungen ein adäquates Mittel sind, Missbrauch aufzudecken und zu beenden, und zwar auf eine Art und Weise, bei der keiner unter irgendeine Bettdecke schauen muss, liebe Frau Kollegin Möller. Dies geschieht einfach dadurch, dass allein ungefähr ein Drittel von denjenigen, die mit der Information angeschrieben worden sind, sie würden angerufen werden, eine freiwillige Änderung ihres Status bei den Arbeitsgemeinschaften haben durchführen lassen. Lassen Sie uns die Arbeitsgemeinschaften verpflichten, bei den Telefonbefragungen mitzumachen. Lassen Sie uns die Telefonbefragungen bei den Arbeitsuchenden verpflichtend machen. Das spart Verwaltung und auch das Geld anderer Leute, nämlich derjenigen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die es zu finanzieren haben. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist wahr, Kollege Niebel: Wir debattieren dieses wichtige Thema zu einem sehr späten Zeitpunkt. Den Schuh müssen wir uns anziehen. Ich kann Ihnen aber den Grund dafür nennen: Eine vergleichsweise kleine Partei veranstaltet morgen ihren Bundesparteitag und hat darum gebeten, dass der morgige Tag sitzungsfrei ist und wir die anstehenden Themen heute beraten. Ich verrate nicht, wie die Partei heißt. Es sei nur so viel gesagt: Sie sind der Generalsekretär der Partei, auf die wir bei der Planung Rücksicht genommen haben. ({0}) Sonst hätten wir das Thema morgen zu einer besseren Sendezeit beraten können. ({1}) Aber aus dem genannten Grund steht es heute so spät auf der Tagesordnung.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Da an dem Umstand, den ich bisher geschildert habe, in politischer Hinsicht nichts streitig ist, erübrigt sich eine Zwischenfrage dazu. ({0}) Die große Koalition hat sich im Koalitionsvertrag umfangreiche Maßnahmen vorgenommen, um Fehlentwicklungen im Zusammenhang mit Hartz IV zu korrigieren. Wir haben uns Einsparungen in Höhe von 3,8 Milliarden Euro bezogen auf ein Jahr vorgenommen, die zum wesentlichen Teil bereits durch das SGB-II-Änderungsgesetz auf den Weg gebracht worden sind. Wir legen nun einen weiteren Gesetzentwurf zur Korrektur von Fehlentwicklungen im Zusammenhang mit Hartz IV vor, mit dem wir die anderen umfangreichen Maßnahmen, die wir uns vorgenommen haben, in Gesetzesform bringen. Wir können dann sicherlich in relativ kurzer Zeit feststellen, dass wir die Fehlentwicklungen in diesem Bereich korrigiert haben. Denn bei allem, was hinsichtlich der Vermarktung schlecht gelaufen ist, war die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe grundsätzlich richtig. Im Gegensatz zu dem oft in der Öffentlichkeit vermittelten Eindruck ist für die Menschen, um die es geht - nämlich die früheren Bezieher von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe -, nie so viel ausgegeben worden wie seit dem In-Kraft-Treten von Hartz IV. Das ist die Wahrheit - nicht das Zerrbild von Verarmung, das von manchen gezeichnet wird. ({1}) Das ändert nichts daran, dass der Regelsatz von 345 Euro für das Arbeitslosengeld nicht sehr hoch ist. Aber wie jeder weiß, kommen Leistungen für Unterkunft und Heizung hinzu. Das Verfahren ist unbürokratischer als früher. Die Wohngeldregelungen und die Leistungen für Familien tragen mit dazu bei, dass für eine mehrköpfige Familie insgesamt ein so hoher Anspruch besteht, dass es nicht einfach ist, durch Erwerbstätigkeit ein Nettoeinkommen in vergleichbarer Höhe zu erzielen. Auch das gehört zu den Realitäten, die wir zur Kenntnis nehmen müssen. Damit wir denjenigen helfen können, die sozial schwach sind und der Hilfe bedürfen, bleibt es auch über das vorliegende Gesetzesvorhaben hinaus eine Daueraufgabe, das zu verhindern, worauf die Bundeskanzlerin schon in ihrer Regierungserklärung hingewiesen hat, nämlich dass sich Starke als Schwache verkleiden. ({2}) Wir haben uns mit dem Gesetzentwurf wesentliche Einsparungen sowohl beim Bund als auch bei den Kommunen vorgenommen. Vorgesehen sind die Erweiterung des automatisierten Datenabgleichs und die Überprüfung von Daten in Verdachtsfällen. Das ist völlig richtig und legitim. Des Weiteren geht es um die Einrichtung von Außendiensten in allen Arbeitsgemeinschaften, um die Einführung regelmäßiger Telefonabfragen und auch um Sanktionen. Selbstverständlich sind gegenüber denjenigen, die sich nicht an die Regeln halten, spürbare Sanktionen notwendig. Das liegt im Interesse der Menschen, die täglich frühmorgens aufstehen, zur Arbeit gehen und mit ihren Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen die Leistungen finanzieren, die die bekommen sollen, die in diesem Land der Hilfe bedürfen. ({3}) Deswegen verstecken wir das nicht. Wir bekennen uns vielmehr dazu, dass diejenigen, die sich nicht an die Spielregeln halten, Sanktionen zu spüren bekommen müssen. Wir werden die Beweislastumkehr bei eheähnlichen Gemeinschaften einführen. Es ist eine pure Selbstverständlichkeit, dass Menschen, die im Leben füreinander einstehen, auch bei Hilfebedürftigkeit als solche behandelt werden. Das hat nichts mit Bespitzelung zu tun. Vielmehr werden wir den Gesetzentwurf im Interesse derjenigen umsetzen, die auf Hilfe angewiesen sind. Diese Hilfe werden wir ihnen auch zukommen lassen. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Maurer?

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0}) - Jetzt mal ganz ruhig mit der Koalition in der Opposition! Ich möchte lieber die einzelnen Punkte im Zusammenhang vortragen. ({1}) Es geht darum, Fördern und Fordern in Einklang zu bringen. Deswegen machen wir mit dem Gesetz den Menschen, die erstmalig Leistungen nach dem SGB II beziehen, ein Sofortangebot zur Integration auf dem Arbeitsmarkt. Es geht darüber hinaus um Maßnahmen zur Verbesserung der Verwaltungspraxis. Dabei müssen wir uns eingestehen: Es wird immer Schnittstellenprobleme insbesondere bei den Arbeitsgemeinschaften geben. Die Argen tragen alle Züge eines politischen Kompromisses. Hier findet eine Zusammenarbeit statt, wie es sie vorher nie gegeben hat. Wir haben uns in den Gesprächen zur Erarbeitung des vorliegenden Gesetzentwurfs mit jeder Schnittstellenproblematik beschäftigt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es nicht in jedem Falle befriedigende Lösungen geben kann. Aber wir müssen die Grundlagen dafür schaffen, dass alle, die Verantwortung tragen, verstärkt zusammenarbeiten, damit die Betroffenen nicht von Pontius zu Pilatus geschickt werden. Alle, die als Träger zuständig und kompetent sind, müssen verantwortlich handeln und den Betroffenen die Hilfe zukommen zu lassen, die sie brauchen. ({2}) Selbstverständlich sind bei einem solchen Gesetz, von dem wir uns Einsparungen in einem Volumen von etwa 1,2 Milliarden Euro allein beim Bund und mehreren Hundert Millionen Euro bei den Bundesländern versprechen, verschiedene Dinge abzuwägen. Deswegen nehmen wir keine Kürzungen nach dem Rasenmäherprinzip vor. Vielmehr ist es immer unser Prinzip gewesen, dass es selbst dann, wenn generell gekürzt werden muss, die Möglichkeit geben muss, an Stellen - es geht hier nicht nur um ein oder zwei -, an denen es sachlich gerechtfertigt ist, zu einem Aufwuchs zu kommen. Die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen, die an den vorbereitenden Gesprächen über diesen Gesetzentwurf teilgenommen haben, wissen, dass wir an rund einem Dutzend Stellen zu höheren Leistungen, zu einem Aufwuchs gekommen sind, obwohl wir unterm Strich 1,2 Milliarden Euro einsparen wollen. So wollen wir - das ist für uns ein wichtiger Punkt das Schonvermögen erhöhen, das der Altersvorsorge dient; denn wir müssen denjenigen etwas anbieten, die über Jahrzehnte Beiträge und Steuern gezahlt haben, die dann unverschuldet arbeitslos geworden sind und die aufgrund ihres Alters nicht die Möglichkeit hatten, die Riester-Förderung - diese bleibt geschützt - in Anspruch zu nehmen. Es kann nicht sein, dass Menschen, die jahrzehntelang fleißig gearbeitet haben, nach kurzer Zeit so gestellt werden wie diejenigen, die noch nie gearbeitet haben. Deswegen wird es hier zu einem Aufwuchs kommen. ({3}) Hier gibt es auch keine Widersprüche. Wir sollten uns die Freiheit nehmen, zu sagen: Es tut uns Leid, aber wir müssen sparen. Niemand tut das gerne. Gleichzeitig müssen wir jedoch in der Lage sein, Prioritäten zu setzen. Das werden wir tun. ({4}) Wir werden mit den Bundesländern im Gespräch über diesen Gesetzentwurf bleiben. Wir wissen, dass wir die Zustimmung des Bundesrates brauchen. Die Sachverständigen werden ebenfalls ausführlich zu Wort kommen; denn wir sind an einem breiten Konsens interessiert. Klar ist: Wenn das Prinzip „Fördern und Fordern“ funktionieren soll, brauchen wir in diesem Land mehr Arbeitsplätze. Hartz IV und das SGB II dienten immer dazu, eine Grundsicherung für Hilfsbedürftige sicherzustellen. Aber es ging nie darum, damit zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Vielmehr sollen Härten für die Menschen abgefedert werden, die der Hilfe bedürfen. Wir brauchen vor allem mehr Arbeitsplätze in Deutschland. Dafür ist eine bessere wirtschaftliche Entwicklung Voraussetzung. Diese hat offensichtlich eingesetzt. ({5}) Alle Daten deuten darauf hin, dass wir auf einem guten Weg sind. Wenn die wirtschaftlichen Voraussetzungen stimmen, wird dieses Gesetz den erwarteten Erfolg zeitigen. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Niebel das Wort.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Der Kollege Brauksiepe hat mir zugestimmt, dass es bemerkenswert ist, dass dieses wichtige Thema zu dieser späten Stunde regelrecht versteckt wird. Er hat allerdings suggeriert, dass der Grund dafür der ordentliche Parteitag der FDP am kommenden Wochenende sei. ({0}) Das ist eindeutig falsch. Noch auf der vorläufigen Tagesordnung für die heutige Sitzung war die Debatte über diesen Gesetzentwurf aufgesetzt. Dann wurde dieser Tagesordnungspunkt abgesetzt und erst am Montag dieser Woche wieder aufgesetzt. Der Absetzungsgrund bestand, wie wir gehört haben, in Differenzen zwischen den Regierungsfraktionen. ({1}) Im Übrigen hat der Kollege Brauksiepe offenkundig nicht verstanden, dass in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die Sitzungswochen immer so festgesetzt wurden, dass die Parteien - das galt für alle Parteien - ihre ordentlichen Parteitage durchführen konnten. ({2}) Es wundert mich nicht, dass der Kollege Brauksiepe ein gewisses Problem mit den Umgangsformen zwischen den demokratischen Parteien hat. ({3}) Das sage ich vor allem vor dem Hintergrund, dass die SPD aufgrund der Wirren im Zuge des Verlustes vieler Parteivorsitzender nicht in der Lage war, festzustellen, dass eine Partei einen ordentlichen Parteitag durchführt, und im Gegensatz zu den Gepflogenheiten erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einen außerordentlichen Parteitag auf das Datum eines ordentlichen Parteitages einer anderen Bundestagspartei gelegt hat. Das zeigt, dass die große Koalition nicht nur merkwürdige Umgangsformen untereinander hat, sondern dass sie offenkundig bereit ist, sich dieses Land zur Beute zu machen. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Brauksiepe, Sie können antworten.

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Niebel, machen Sie sich um die große Koalition und deren Umgang miteinander keine Sorgen. Wir werden am Ende ein gutes Gesetz durch das Parlament bringen. Wir haben selbstverständlich Rücksicht genommen. Wir waren es, die das kritisiert haben. Wir haben mit Rücksicht auf Sie diese Zeit gewählt, damit wir heute die Tagesordnung abwickeln können. ({0}) Das ist in der Tat unter Demokraten selbstverständlich. ({1}) Sie, auf die wir Rücksicht genommen haben, sollten unsere Rücksichtnahme jetzt nicht kritisieren. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping, Fraktion Die Linke. ({0})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Brauksiepe, man will Ihnen Ihre dicken Krokodilstränen, die Sie darüber vergießen, dass es Ihnen schwer fällt, bei den Erwerbslosen zu kürzen, nicht so richtig abnehmen, insbesondere wenn man daran denkt, dass Sie bereitwillig immer wieder in Missbrauchsdebatten einstimmen und Erwerbslose als Sozialschmarotzer darstellen. ({0}) Ganz unabhängig davon, wie man diesen Gesetzentwurf nennt, wollen wir eines festhalten: Das Einzige, was hier optimiert wird, ist die Diskriminierung von Erwerbslosen und die Verfolgungsbetreuung. ({1}) Hier soll die zentrale These fortentwickelt werden - das ist das alte Trauerspiel -, dass Erwerbslose schuld an der Massenarbeitslosigkeit sind. Damit werden sie zu Sündenböcken gemacht. Wenn das nicht so verdammt traurig für die Betroffenen wäre, dann könnte man fast darüber lachen. Diese Masche ist wirklich nicht neu. Zwar enthält der vorliegende Gesetzentwurf auch einige kleine Verbesserungen. Das ändert aber nichts daran, dass es im Kern um die Verschärfung von Hartz IV geht. Von den vielen Sauereien dieses Gesetzes möchte ich auf drei zentrale Gemeinheiten eingehen. Im Kern geht es hier um nichts anderes als um die Fortführung einer Verdächtigungskampagne gegenüber Erwerbslosen. ({2}) In den letzten Tagen häufen sich die Meldungen, dass es zu Kostenexplosionen kommt. Das geht mit der Unterstellung einher, die Ursache dafür sei Missbrauch. Wir wollten diesen Meldungen auf den Grund gehen und haben beim zuständigen Bundesministerium nachgefragt, wie hoch die Zahlungen im alten System für Erwerbslose ausgefallen sind, wie viel man für Sozialhilfe, Wohngeld und Arbeitslosenhilfe ausgegeben hat. Es gibt eine Berechnung aus Ihrem Haus, Herr Andres, die besagt, dass dann, wenn man das alte System beibehalten hätte, im Jahr 2005 35,5 Milliarden Euro für Erwerbslose ausgegeben worden wären. Im letzten Jahr sind nach dem neuen System gerade einmal 1,8 Milliarden Euro mehr als im alten System ausgegeben worden. Davon sind 1,4 Milliarden Euro auf die Erhöhung der Rentenzahlung zurückzuführen. Im Klartext heißt das: Es gibt keine Kostenexplosion durch Missbrauch. Das Einzige, was es gibt, ist eine Verschiebung der Zahlungen. Früher zahlte man Sozialhilfe, Wohngeld und Arbeitslosenhilfe, heute zahlt man Kosten für Unterkunft und Arbeitslosengeld II. Ihre Unterstellung des Missbrauchs ist nicht haltbar und nicht durch Zahlen belegt. ({3}) Für die zweite Sauerei ({4}) sorgt der Außendienst, der die Lebenssituation von Arbeitslosengeld-II-Empfängern untersuchen soll. ({5}) Im Clement-Report wurde sehr anschaulich dargestellt, wie Sozialspitzel losgeschickt werden, um bei allein erziehenden Erwerbslosen nachzuschauen, ob sie nicht doch einen Freund haben, den man finanziell in Haft nehmen kann. Einige Sozialspitzel gingen sogar in die Schlafzimmer, um zu schauen, wie groß die Kuhle im Bett ist, um nachzuweisen, dass man dort doch zu zweit geschlafen hat. ({6}) Ich meine, im Schlafzimmer hat der Staat nichts zu suchen. Das ist so und das soll so bleiben. ({7}) - Wir haben die Lehren aus der Vergangenheit gezogen. ({8}) Ich möchte Ihnen sagen: Alle Versuche, die Privatund Intimsphäre von Menschen auszuspionieren, sollten in Filmen wie „Das Leben der Anderen“ unternommen werden. ({9}) Mit moderner Sozialpolitik hat die Sozialspitzelei, die Sie jetzt praktizieren, nichts, aber auch gar nichts zu tun. ({10}) Wir brauchen eben nicht mehr Sozialspitzel, sondern mehr sorgfältige Beratung und mehr Vermittlung von Erwerbslosen. ({11}) Die dritte zentrale Gemeinheit, die ich ansprechen möchte, ist die Beweislastumkehr bei den BedarfsgeKatja Kipping meinschaften. Hier setzen sie den Hebel am Rechtsstaat an; hier werden rechtsstaatliche Grundsätze geopfert. Heute gilt: Wer nur ein Jahr zusammen wohnt, der lebt schon in einer Bedarfsgemeinschaft. Damit wird jede Wohngemeinschaft zu einer Bedarfsgemeinschaft. ({12}) Beispielsweise in meiner WG leben vier Personen. Was ist, wenn jetzt einer meiner Mitbewohner arbeitslos wird? Heißt es dann, einer von uns muss ausziehen, damit er keiner Bedarfsgemeinschaft zugeordnet wird? ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Heute hat ein CDU-Minister in NRW gesagt: Wenn zwei Personen zusammenleben, von denen eine erwerbslos ist, dann müssen sie beweisen, dass sie kein Liebespaar sind. Ich frage Sie: Wie soll man das beweisen? ({0}) Müssen Erwerbslose in Zukunft Kameras in ihren Schlafzimmern installieren?

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, ich möchte Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum Ende. - Ich sage nur noch: Das hat nichts, aber auch gar nichts mit moderner Sozialpolitik zu tun. Anstatt die Situation von Bedarfsgemeinschaften zu verschärfen, brauchen wir eine soziale Sicherung, die konsequent vom Einzelnen ausgeht.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, das wäre ein gutes Ende gewesen.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Diesem Gesetzentwurf muss man Widerstand im Parlament und außerhalb des Parlaments entgegensetzen. Deswegen können wir allen nur empfehlen, am 3. Juni zur Demonstration nach Berlin zu kommen, um - ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, was Sie im Augenblick machen, finde ich nicht in Ordnung. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren von der großen Koalition, wenn man im privaten Leben oder auch als Gesetzgeber etwas optimieren möchte, was nicht so richtig funktioniert, dann setzt man doch zuallererst an der schwächsten Stelle an. Das ist im Falle des Sozialgesetzbuchs II immer noch die Komponente des Förderns und des Aktivierens. Hier muss man ansetzen. ({0}) Genau an dieser Stelle weist Ihr Gesetz eine große Leerstelle auf. Schlimmer noch: An manchen Stellen sind schwere Mängel und auch Mogelpackungen zu sehen. Anstatt die lokale Handlungsfreiheit der Arbeitsgemeinschaften aufzuwerten und zu verbessern, schränken Sie sie ein. Sie müssen einmal mit den Praktikern in den Arbeitsgemeinschaften und in den Jobcentern reden. ({1}) Es ist so, dass der Zugriff der Bundesagentur für Arbeit sogar noch verschärft wird und dass die Spielräume verringert werden. Es ist zum Beispiel so, dass Sie die so genannten 1-Euro-Jobs-Arbeitsgelegenheiten jetzt den ABM und SAM gleichstellen. Die Begründung dafür im Gesetzentwurf lautet, dadurch werde einfach die Veränderung in der Praxis nachvollzogen. Ich kann Ihnen sagen, was wir damals, als das SGB II entworfen wurde, gedacht haben: Wir haben die so genannten 1-Euro-Jobs ausdrücklich als Ultima Ratio, als letztes Mittel der Förderung an das Ende von § 16 SGB II gestellt. Wir haben die anderen Instrumente der Weiterbildung, die Eingliederung durch Zuschüsse und auch die sozialversicherungspflichtige Entgeltvariante deutlich priorisiert und daher vorangestellt. Sie sorgen jetzt für eine Gleichsetzung. Das ist der falsche Weg; das ist kein Fördern. ({2}) Wenn Sie sich mit großem Getöse hier hinstellen und sagen, wir brauchen jetzt Sofortangebote, dann muss ich fragen: War denn das vorher nicht möglich? Niemand in den Jobcentern ist doch davon abgehalten worden, ein Sofortangebot einzurichten. Was schreiben Sie denn für eine platte Tautologie in das Gesetz? Angesichts der Meldung in der „Welt“ von heute, dass bislang erst knapp 1 Milliarde Euro aus dem Eingliederungstitel beim SGB II ausgegeben wurde, wird dieses Reden vom Sofortangebot vollends zur Farce. Beschleunigen wir doch das Ausgeben der zur Verfügung gestellten Mittel zur Eingliederung! ({3}) Anstatt das Fördern zu verstärken, werden - das hat auch Frau Kipping beschrieben - auf der Leistungsseite Einschränkungen gemacht, die zum Teil mehr als fragwürdig sind. ({4}) Die Einkommensanrechnung in Wohngemeinschaften - dabei soll das Zusammenleben für länger als ein Jahr bereits ausreichen, um eine so genannte Bedarfsgemeinschaft zu begründen ({5}) ist aus meiner Sicht rechtlich überhaupt nicht haltbar. Das Verfassungsgericht hat sehr strenge Maßstäbe an so genannte Einstehensgemeinschaften angelegt. ({6}) Das Bundessozialgericht hat geurteilt, dass ein Zusammenleben von mindestens drei Jahren vorliegen muss, bevor man vermuten kann, dass es sich um eine Bedarfsgemeinschaft handelt. Sie machen einfach „ein Jahr“ daraus und führen noch zusätzlich eine Beweislastumkehr ein, die so in der Tat kaum zu leisten sein dürfte. Das ist ein unzulässiger Eingriff in die Lebenssphäre von Menschen, die in Form von Wohngemeinschaften - das ist eine mittlerweile durchaus verbreitete Wohnform zusammen wohnen, und ist aus diesem Grunde abzulehnen. ({7}) - Ich will damit an der Stelle schließen. Auch Ihre Regelungen zum so genannten Altersschonvermögen und zu seiner vermeintlichen Ausweitung sind eine Mogelpackung, weil Sie im gleichen Verhältnis das zulässige so genannte freie Vermögen kürzen. Selbst Ihr Sozialminister in Nordrhein-Westfalen, Herr Laumann, hat diese Regelung als unzulänglich bezeichnet und ein Altersvorsorgevermögen von 700 Euro pro Lebensjahr gefordert. In diese Richtung hätten Sie gehen sollen. ({8}) Als Roland Koch in Hessen das so genannte EEG gegen das Sozialgesetzbuch II in Anschlag gebracht hat, haben Sie in noch viel schärferem Maße das zulässige Altersvorsorgevermögen kürzen wollen. Anstatt in dieser Art und Weise Dinge vermeintlich zu tun und zu täuschen, sollten Sie an das herangehen, was man wirklich machen muss und in das man Energie stecken muss, nämlich an das Fördern. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/1410 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage soll abweichend von der Tagesordnung zusätzlich an den Haushaltsausschuss gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Frank Spieth, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für apothekenpflichtige Arzneimittel auf 7 Prozent - Drucksache 16/732 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll, Fraktion Die Linke. ({1})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diejenigen, die sich gerade die Debatte zu Hartz IV angehört haben, sollten ruhig noch sitzen bleiben; denn auch das jetzige Thema hat viel damit zu tun. Wir müssen einfach konstatieren, dass bereits im vergangenen Jahr viele Menschen nicht mehr zum Arzt gegangen sind, weil ihnen die 10 Euro für die Praxisgebühr zu viel waren. Jeder Hartz-IV-Empfänger und jede Hartz-IV-Empfängerin muss diese 10 Euro zahlen. ({0}) Sie müssen bei den Arzneimitteln Zuzahlungen leisten. Das sind Belastungen, die dazu führen, dass medizinische Versorgung nicht mehr in dem Umfang in Anspruch genommen wird, wie es notwendig wäre. Wir haben Ihnen einen kurzen Antrag vorgelegt, der in dieser Richtung zumindest eine kleine Hilfe geben würde. Wir möchten, dass der Katalog der Waren des lebensnotwendigen täglichen Bedarfs, die nur mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent belegt werden, erweitert wird. Es ist recht und billig, dass neben Brot, Butter und anderen Dingen wie Hundefutter, Schnittblumen und Tiermedikamenten ({1}) auch die apothekenpflichtigen Medikamente für Menschen dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegen; denn es ist steuersystematisch wohl kaum begründbar, warum Antibiotika für Hunde nur mit 7 Prozent Mehrwertsteuer belegt werden, während Antibiotika für KinDr. Barbara Höll der, für ältere Menschen, für jüngere Menschen, für jeden, der es braucht, mit 16 Prozent belegt werden. ({2}) Dieses Thema ist nicht neu. Bereits in der 222. Sitzung des Deutschen Bundestages am 5. März 1998, damals noch in Bonn, habe ich einen entsprechenden Antrag in den Bundestag eingebracht, den Sie mit den damaligen Mehrheiten am 7. Mai desselben Jahres abgelehnt haben. Es freut mich, inzwischen konstatieren zu können, dass auch die Bundesgesundheitsministerin Ende vergangenen Jahres öffentlich darüber nachgedacht und gesagt hat, dass sie Handlungsbedarf sehe und sich dem Thema widmen werde. Wir liegen mit unserer Regelung im europäischen Spitzenfeld; Deutschland hat den vierthöchsten Mehrwertsteuersatz für Medikamente. Viele andere europäische Staaten nutzen die Möglichkeit eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes bzw. erheben überhaupt keine Mehrwertsteuer auf Medikamente. Die Regelung, die wir Ihnen vorschlagen, würde zu einer kurzfristigen Entlastung des Systems der Krankenversicherungen führen. Die Krankenkassen und die Bürgerinnen und Bürger könnten im nächsten Jahr unmittelbar um 2,6 Milliarden Euro entlastet werden. Das wäre möglich, wenn es uns als Politikerinnen und Politiker gelingt, sicherzustellen, dass die Senkung des Mehrwertsteuersatzes tatsächlich an die Krankenkassen und die Bürgerinnen und Bürger weitergegeben und damit auch eine Senkung des Beitragssatzes, die Sie ja immer anstreben, um 0,2 Prozentpunkte ermöglicht wird. So sagt es der Vorsitzende des Apothekerverbandes Nordrhein. Wir haben hier also eine Möglichkeit, kurzfristig Druck aus dem System zu nehmen und im Interesse der Bürgerinnen und Bürger zu handeln. Wir meinen, das ist auf diesem Feld notwendig; denn das wäre zumindest ein Schritt in die richtige Richtung, den Sie nutzen könnten, um ruhiger und gelassener sachlich darüber zu diskutieren, wie die Probleme im Krankenversicherungssystem gelöst werden können. Wir werden nicht umhinkönnen, weiter über die Notwendigkeit einer Stärkung der Beitragsseite auch der Krankenversicherung und über die Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze zu diskutieren. Wir müssen die Krankenversicherung insgesamt gerechter gestalten, sodass die, die sehr viel verdienen, sich nicht privat versichern müssen, sondern in das System der gesetzlichen Krankenversicherung einbezogen werden können. Aber der ermäßigte Mehrwertsteuersatz auf apothekenpflichtige Medikamente wäre ein erster kleiner Schritt, den wir machen könnten und der umso notwendiger ist, als Sie angedroht haben, die Mehrwertsteuer im nächsten Jahr um 3 Prozentpunkte zu erhöhen. Das würde im Klartext bedeuten: Haushaltssanierung des Bundes auf Kosten der Kranken. Denn je kränker die Bevölkerung ist, umso höher sind die Zahlungen, die die Kranken über die Mehrwertsteuer leisten müssen. Das ist inhuman und kann nicht das sein, was wir als Politikerinnen und Politiker erstreben. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Manfred Kolbe, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, über den wir jetzt zu später Stunde diskutieren, ist einer der klassischen PDS-Schauanträge, die man Woche für Woche erlebt. Auf der einen Seite erleben wir immer wieder eine maßlose Überforderung des Sozialstaats. Ich denke da zum Beispiel an den vorhergehenden Tagesordnungspunkt. Sie fordern teilweise eine Grundsicherung oder Mindestlöhne von bis zu 1 400 Euro monatlich, worüber selbst in Ihren eigenen Reihen Diskussionen entstanden sind. Als wir beim vorherigen Tagesordnungspunkt dann aber über eine maßvolle Missbrauchskontrolle diskutiert haben, hat Ihre Rednerin, Frau Kipping, von „Sauereien“, „Gemeinheiten“ und „Sozialspitzeln“ gesprochen. ({0}) Ich zitiere nur; das sind nicht meine eigenen Worte. Auf der anderen Seite nehmen Sie dem Staat die notwendige Einnahmebasis weg. Das funktioniert nicht. Ich komme selbst aus einem Wahlkreis, Frau Höll, wo noch zu viele Bürgerinnen und Bürger PDS wählen. ({1}) Das verfängt aber auch in Ihrer Wählerschaft immer weniger. Das erlebe ich jede Woche in Bürgersprechstunden. Die Bürgerinnen und Bürger kommen zu uns, weil sie bei Ihnen ohnehin nichts erreichen; sie wissen, dass Sie alles versprechen, aber nichts halten können. Das funktioniert nicht. ({2}) Es fehlt nur noch Mallorca und Freibier für alle und zahlen soll der liebe Gott. Frau Höll, nachdem Sie eine ganze Reihe von Jahren im Haushaltsausschuss verbracht haben, sind Sie jetzt Finanzpolitikerin und wie ich Mitglied des Finanzausschusses. Ich hätte von Ihnen als Finanzpolitikerin zumindest ein Wort darüber erwartet, woher die 3 Milliarden Euro kommen sollen, die uns durch die von Ihnen vorgeschlagene Maßnahme verloren gehen. Eine Antwort darauf sind Sie schuldig geblieben. Das ist opportunistisch und leichtfertig und keine seriöse Politik. ({3}) Das macht Sie selbst bei Anträgen wie dem vorliegenden, über den man durchaus diskutieren kann, unglaub3020 würdig. Denn von Ihrer Seite werden keine seriösen Vorschläge zur Finanzierung gemacht. ({4}) Wir lehnen, auch wenn man darüber - wie gesagt durchaus diskutieren kann, Ihren Antrag aus folgenden Gründen ab: Erstens. Unsere Arzneimittelpreise liegen trotz des vollen Mehrwertsteuersatzes im europäischen Mittelfeld. Alle seriösen Studien haben ergeben, dass in unseren Nachbarländern wie etwa in den Niederlanden, in Dänemark, in der Schweiz, in Irland und in Finnland die Arzneimittelpreise wesentlich höher liegen. Zweitens. Eine ganze Reihe von Staaten erheben den vollen Mehrwertsteuersatz; wir sind nicht die Einzigen. Dänemark mit 25 Prozent und Österreich mit 20 Prozent liegen dabei an der Spitze. ({5}) Drittens. Die ermäßigten Mehrwertsteuersätze bringen das Problem der Abgrenzung mit sich. Schauen Sie sich einmal die fast 30 Seiten Papier an, die für die Beschreibung der Abgrenzung zu den ermäßigten Mehrwertsteuersätzen nötig sind. Diese Bürokratie bedeutet einen Mehraufwand für die Verwaltung. Sie fordern ja für apothekenpflichtige Arzneimittel einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz. Das wirft gravierende Abgrenzungsprobleme auf, die anzusprechen Sie nicht für nötig gehalten haben. Viertens. Wir können diese Maßnahme im Augenblick nicht finanzieren. Sie wissen, wir haben im Bundeshaushalt ein strukturelles Defizit in Höhe von 50 Milliarden Euro jährlich. Dieses Defizit müssen wir eingrenzen, um wieder einen verfassungsmäßigen Haushalt verabschieden zu können. Fünftens. Eine entscheidende Frage wäre, wie man die Kostensenkung durch die reduzierte Mehrwertsteuer an die Verbraucher weitergibt. Sie sind eine Antwort darauf schuldig geblieben, wie Sie das - es ist in der Tat ein schwieriges Unterfangen - bewerkstelligen wollen. Wir sind bereit, über die reduzierten Mehrwertsteuersätze zu diskutieren. Ihren Einzelantrag lehnen wir aber heute ab, weil uns nur eine Gesamtlösung weiterbringt. Danke. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Wissing, FDPFraktion. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mehrwertsteuer zu erhöhen, ist einfach; das Mehrwertsteuersystem zu reformieren, nicht. Es passt deshalb perfekt in das Bild der großen Koalition der kleinen Schritte. Sie erhöhen die Mehrwertsteuer, schaffen es aber nicht, das System zu reformieren. Dabei wäre das bitter nötig. Wie nötig das ist, hat die Bundesregierung jüngst in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion bestätigt. Ich frage Sie: Warum werden Trüffel subventioniert? Warum gelten für Basilikum und Rosmarin der volle, für Dill oder Majoran der ermäßigte Steuersatz? Worin besteht der Zweck, Schlachtnebenerzeugnisse von Bibern, Walen, Schildkröten und Fröschen mit einem ermäßigten Umsatzsteuersatz zu subventionieren? Auf unsere Anfrage nach circa 20 Produktgruppen, für die ein ermäßigter Umsatzsteuersatz gilt - die also subventioniert werden -, konnte die Bundesregierung nicht in einem einzigen Fall eine schlüssige Begründung vorlegen. Deutlicher kann man die Absurdität des Systems kaum vorführen. ({0}) Es ist bezeichnend für die Qualität der politischen Arbeit von CDU/CSU und SPD, dass sie nur Steuern erhöhen, sich eine Reform der Systeme aber überhaupt nicht vornehmen. 140 Seiten benötigt die Bundesregierung, um wenigstens einen teilweisen Überblick darüber zu geben, für welche Produkte der ermäßigte und für welche der volle Umsatzsteuersatz erhoben wird. Trotz dieses Kompendiums leiden Verwaltung und Wirtschaft nach wie vor darunter, dass oftmals nicht ersichtlich ist, welcher Steuersatz denn nun angewendet werden soll. Seit fünf Jahren müssen sich jeden Tag mindestens fünf Unternehmen bei den Zolltechnischen Prüfungsund Lehranstalten erkundigen, wie ihre Produkte besteuert werden. Sind Sie sich eigentlich darüber im Klaren, welche Bürokratiekosten dieser Umsatzsteuerwahn mittlerweile verursacht? Aber CDU/CSU und SPD können nur eines: Steuern erhöhen. Allein in der Bundesfinanzverwaltung beschäftigen sich 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Fragen der Umsatzbesteuerung. Die Bundesregierung erhöht lieber die Steuern, anstatt sich darum zu kümmern, wie man das Problem im System in Angriff nehmen kann. Es wäre an der Zeit, das System für die Bürgerinnen und Bürger, aber auch für die Finanzverwaltung selbst wieder verständlich zu machen. Aber Sie machen nichts. Sie erhöhen lieber die Mehrwertsteuer und beenden dann die Debatte. Selbst die Bundesregierung kann nicht sagen, wer in unserem Land eine verbindliche Auskunft darüber erteilen kann, ob für ein Produkt der ermäßigte oder der volle Umsatzsteuersatz fällig ist. Auf eine entsprechende Anfrage antwortet das Bundesfinanzministerium - ich zitiere jetzt aus der Antwort auf die Anfrage -: Bestehen Zweifel, haben die Lieferer und Abnehmer die Möglichkeit, bei der zuständigen Stelle eine unverbindliche Zolltarifauskunft einzuholen. ({1}) Außerdem können unverbindliche Zolltarifauskünfte auch bei den Landesfinanzbehörden beantragt werden. Dr. Volker Wissing Die Auskunft ist unverbindlich. Ich frage mich, wer in diesem Land eigentlich eine verbindliche Auskunft erteilen kann. Dazu sagt die Bundesregierung nichts, weil sie es offensichtlich auch nicht weiß. Ihr fehlt der Durchblick beim Umgang mit den eigenen Steuergesetzen. Das zeigt, wie dringend hier reformiert werden muss. ({2}) Sie sollten anfangen, unsinnig gewordene Ausnahmetatbestände zu streichen. ({3}) - Frau Kollegin, zum Beispiel die Subventionierung von Trüffeln und Gänsestopfleber. ({4}) Was halten Sie davon? Diese Produkte werden nämlich in Deutschland mit einem verminderten Umsatzsteuersatz subventioniert. Auch das wäre übrigens ein Thema gewesen, das die Linkspartei hätte aufgreifen können. ({5}) Ihr Antrag hilft nicht weiter. Hier wird nur ein Aspekt herausgepickt. Sie betreiben finanzpolitische Flickschusterei. Es geht nicht darum, einen ermäßigten Steuersatz für Medikamente zu fordern. Die Frage ist: Wie bekommen wir das bei der Umsatzsteuer bestehende Strukturproblem in den Griff? Fehlanzeige bei der SPD und Fehlanzeige bei der CDU/CSU! ({6}) - Herr Spiller, Sie haben eine breite Mehrheit und wollen eine große Koalition sein. Sie haben eine historische Mehrheit ({7}) und bekommen nichts zustande. Ihre Regierung weiß nicht einmal, welche Umsatzsteuersätze wann anwendbar sind. Dann wollen Sie Lösungen von der Opposition. Auch so kann man sich, wenn man solche Mehrheiten auf sich vereint, aus der Verantwortung stehlen. Die Steuererhöhungspolitik hilft den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland nicht weiter. Das ist kein Lösungsansatz. Wenn wir über die Mehrwertsteuer reden, sollte die Strukturfrage im Vordergrund stehen und nicht die Erhöhung. Diese braucht Deutschland nicht. Deutschland braucht auch keine finanzpolitische Flickschusterei der Linkspartei. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächste hat das Wort die Kollegin Lydia Westrich, SPD-Fraktion.

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen zu später Stunde! Liebe Frau Kollegin Höll, es ist keineswegs vergnügungssteuerpflichtig, zu addieren, wie viele Anträge von Ihrer Fraktion - Herr Kolbe hat es schon angesprochen -, die in hohem Maße kostenrelevant sind und die wir als verantwortungsbewusste Koalition natürlich ablehnen mussten, in den letzten Monaten in den Bundestag eingebracht wurden. Sie würden den jungen Menschen, unseren Kindern Milliardenbeträge als Riesenhypothek hinterlassen, falls Ihre Anträge durchkommen würden. Sie haben in der Aktuellen Stunde gestern Ihr Steuerkonzept erwähnt. Ich bin von Beruf Steuerbeamtin. Ich habe die Vermögensteuer bearbeitet. Wenn ich denke, welcher Verwaltungsaufwand für die paar Kröten notwendig ist! Es kommt noch nicht einmal ein Bruchteil der Summe zusammen, die Sie für die Umsetzung allein einer Ihrer Anträge brauchen würden. ({0}) - Das ist wahr. Wenn Sie sich mit der Praxis näher beschäftigen, stellen Sie fest, dass das eine ganz logische Geschichte ist. ({1}) Sie machen eine Politik des reinen Populismus nach dem Motto: Nach mir die Sintflut. ({2}) Als gewählte Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben auch Sie für die Zukunft unseres Landes Verantwortung übernommen. ({3}) Ihre Politik wird aber anscheinend immer noch vom Ewiggestrigen bestimmt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Barbara Höll zulassen?

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da es schon so spät ist, würde ich normalerweise Nein sagen. Aber, okay.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dann Frau Dr. Höll, bitte.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kollegin Westrich, ich finde, wir sollten uns auf ein uns zustehendes Diskussionsniveau begeben. Es ist doch wohl klar, dass der Verwaltungsaufwand für die Erhebung der Vermögensteuer - er mag vielleicht 10 bis 15 Prozent betragen haben - zu keinem Zeitpunkt höher war als die Einnahmen. Diesen Anschein haben Sie eben erweckt. Sie werden mir sicher zustimmen, dass wir als Gesetzgeber die Vermögensbesteuerung durchaus so gestalten können, dass auch tatsächlich Geld in die Kassen hineinkommt. Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir - das ist der Knackpunkt - vor dem Hintergrund der zu erwartenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Erbschaftsbesteuerung sowieso gezwungen sein werden, eine Neubewertung der Immobilien vorzunehmen. Da diese Aufgabe sowieso ansteht, sollten wir sie zeitnah angehen. Zur Erhebung ist zweifelsfrei eine Anschubfinanzierung erforderlich. Stimmen Sie mir zu, dass diese Aufgabe erstens ansteht - sie muss sowieso erledigt werden und es zweitens sehr wohl möglich ist, auf diesem Wege Geld einzunehmen? Die Erwartungen bezüglich der Einnahmen schwanken. Die Schätzungen - es gibt entsprechende Berechnungen - reichen von 15 Milliarden Euro bis zu 50, 60 Milliarden Euro. Diese sehr hohen Schätzungen würde ich persönlich nicht vertreten. Eine so hohe Besteuerung möchte ich nicht. Dazu liegen aber seriöse Berechnungen vor. Daher kann man das nicht so einfach zur Seite schieben. ({0})

Lydia Westrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002490, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Kollegin, dem kann ich nicht zustimmen. Selbst bei penibelster Bewertung aller Goldmünzen- und Briefmarkensammlungen, aller Gemälde, Teppiche oder dergleichen ist eine derart hohe Einnahme nicht zu erwarten. In den Jahren, in denen die Vermögensteuer zuletzt erhoben wurde - das muss ich ehrlich sagen -, wurden kaum mehr als 1 oder 2 Milliarden Euro eingenommen. Der dafür notwendige Verwaltungsaufwand betrug circa 20 Prozent dieser Summe. Der Aufwand, der erforderlich wäre, um die notwendigen Verwaltungsstrukturen wieder aufzubauen, wäre viel zu hoch. Dies ist im Übrigen nur ein Aspekt. Ich erinnere an die Vielzahl derartiger Anträge von Ihnen, die wir in diesem Haus schon behandelt haben. Das hat mit seriöser Politik überhaupt nichts zu tun. Irgendwann werden wir uns mit Ihrem Steuerkonzept auseinander setzen müssen. Ich kann aber gleich sagen, dass es etwas realitätsnäher sein müsste als das, was Sie jetzt vorgelegt haben. ({0}) Ihr heute vorliegender Antrag auf Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für apothekenpflichtige Arzneimittel hätte einen Ausfall an Steuergeldern in Höhe von jährlich sage und schreibe 3 Milliarden Euro zur Folge. Sie bezeichnen das als überfällige sozialpolitische Komponente im Umsatzsteuerrecht. Sie wissen genau - das können Sie auch nachlesen -, dass ein ermäßigter Umsatzsteuersatz als Instrument der Verteilungspolitik völlig ungeeignet ist. Das ist äußerst zielungenau und erreicht selten die Gruppen, die Sie mit dieser sozialpolitischen Komponente zu fördern versuchen. Ein Gegenfinanzierungsvorschlag taucht mit keiner Silbe auf. Ich kenne diese Forderung nach dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz für Medikamente aus Schreiben der pharmazeutischen Industrie, aus Gesprächen mit Apothekern und Großhändlern. Manche Kollegen der FDP bringen sie vor. Auch einige Verbraucherschützer aus meiner Fraktion führen sie immer wieder an. Sie haben aber nicht die bitteren Erfahrungen mit Steuersenkungen gemacht wie wir Steuerpolitiker. Wir haben das an anderer Stelle bereits erlebt. In den letzten Jahren haben wir doch sehr deutlich erfahren, dass Steuersenkungen, die wir als Vorleistung erbracht haben, nicht automatisch eine Preissenkung für die Verbraucherinnen und Verbraucher nach sich gezogen haben. Sie können auch in diesem Fall nicht sicherstellen, dass die Umsatzsteuerersparnis in Milliardenhöhe durch die Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes tatsächlich an die Krankenkassen und Patienten weitergegeben wird. ({1}) Dieser Antrag würde lediglich ein Loch in Milliardenhöhe produzieren, das auf andere Weise wieder gestopft werden müsste. Die sozialpolitische Komponente erreicht nicht diejenigen, für die sie gedacht ist. Sie hegen doch die gleichen Zweifel. Das machen Sie in Ihrem Antrag deutlich. Sie fordern nämlich gleichzeitig die Senkung der Zuzahlungspauschale für apothekenpflichtige Arzneimittel. Was ist denn das für eine Milchmädchenrechnung? Die Senkung der jeweiligen Zuzahlungspauschalen um den durch die Mehrwertsteuerersparnis erzielten Einsparbetrag, also mehrere Milliarden Euro, ist eine Mindereinnahme bei den Krankenkassen, die teilweise durch die Hoffnung aufgefangen werden soll, dass Medikamente tatsächlich billiger werden könnten, wenn der Staat auf seine Einnahmen verzichtet. Aber wir haben das Geld nicht mehr. Statt eines Gegenfinanzierungsvorschlags, wie sich das gehören würde, legen Sie also noch Milliardenabgaben für die Versicherten oben drauf. Ich halte das für eine unverantwortliche Politik. Die von Ihnen gewünschte sozialpolitische Komponente wird einfach der nächsten Generation in die Schuhe geschoben. ({2}) So einfach ist das für Sie. Das hat mit sozialer Gerechtigkeit überhaupt nichts zu tun. ({3}) Wir, Herr Wissing, haben vor drei Jahren einen sehr schmerzhaften Diskurs mit vielen Betroffenen geführt, und zwar mit dem umgekehrten Ziel, nämlich die bestehenden Mehrwertsteuerermäßigungen auf Lebensmittel - da wäre die Gänsestopfleber dabei; darüber müssen wir uns noch einmal gesondert unterhalten ({4}) und Kultur- und Druckerzeugnisse zu beschränken und die anderen auf den Normalsatz anzuheben. Das war eine sehr schmerzhafte Diskussion und Ihre Partei hat gut daran mitgewirkt, dass sie so schmerzhaft abgelaufen ist. Das Vorhaben ist, wie Sie wissen, im Bundesrat gescheitert. Trotzdem halte ich diesen Weg, die Steuerbasis für die öffentlichen Ausgaben besser zu sichern, immer noch für den richtigen. Wenn Sie dabei mithelfen, können wir gemeinsam einiges bewegen. ({5}) - Das ist schön. 1968 wurde die Gesamtkonzeption für die Besteuerung der Umsätze im Gesundheitswesen mit Einführung der Mehrwertsteuer entwickelt. Dem gingen langwierige Beratungen voraus und insgesamt hat sich dieses Konzept bewährt. Sie wissen, dass es umfassende umsatzsteuerliche Begünstigungen gibt, die Sozialversicherungsträgern und Bürgerinnen und Bürgern gleichermaßen zugute kommen. Die Heilberufe und die Krankenhäuser sind von der Umsatzsteuer befreit. Wir haben einen ermäßigten Steuersatz für orthopädische Hilfs- und Fortbewegungsmittel sowie für zahn- und kieferorthopädische Leistungen. Die einheitliche Besteuerung der Arzneimittelumsätze zum allgemeinen Umsatzsteuersatz ist schon zum damaligen Zeitpunkt eingeführt worden und hat sich seit Jahren eingespielt. Die zurzeit weit überdurchschnittlichen jährlichen Ausgabenzuwächse bei den gesetzlichen und privaten Krankenkassen für die Arzneimittelversorgung haben mit der Umsatzbesteuerung überhaupt nichts zu tun. ({6}) Uns allen ist klar, dass wir diese Ausgabenzuwächse wirksam und langfristig begrenzen müssen. Das kann aber nicht heißen, dass die öffentlichen Kassen von Bund, Ländern und Gemeinden auf Milliarden von Euro verzichten, nur in der Hoffnung, dass dann die Medikamente ein bisschen billiger werden könnten. Denn garantieren können Sie das nicht. Die Fehlentwicklung der immensen Ausgabenzuwächse müssen wir durch Gesetzesänderungen im Bereich des Gesundheitsministeriums angehen. Sie selbst mahnen ja in Ihrem Antrag eine grundsätzliche, dauerhafte Reform des Gesundheitswesens an. Wir in der Koalition werden sie in Kürze nach intensiven Beratungen durchführen. Sie sind gerne eingeladen, Ihre Vorschläge dazu einzubringen, allerdings ohne vorher großzügige Steuergeschenke an alle zu verteilen und unsere finanziellen Möglichkeiten schon im Voraus auszuschöpfen. Sie wissen, dass wir große Aufgaben zu bewältigen haben. Sie wissen, dass an einer Haushaltskonsolidierung überhaupt kein Weg vorbeiführt. ({7}) Ich glaube, dass ich für die meisten Mitglieder der Koalition in Anspruch nehmen kann, dass die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht leichten Herzens beschlossen worden ist. ({8}) Wir haben uns dazu durchgerungen, um die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen sicherzustellen. Das mag Ihnen, Herr Wissing, vielleicht nicht so wichtig sein. Uns ist es aber wichtig, weil wir eingesehen haben, dass selbst ein moderater Ausgabenkurs nicht ausreicht, um die Lücken der öffentlichen Haushalte zu schließen. Dieser Verantwortung für die Zukunft stellen wir uns in der Koalition. Wenn Sie sich, Herr Wissing, davon ausschließen, dann muss ich ehrlich sagen, dass ich daran zweifle, dass Sie den richtigen Beruf gewählt haben. ({9}) Die Leichtigkeit, mit der Sie von der Fraktion Die Linke in Ihren Anträgen zusätzliche Milliarden Euro verteilen wollen, können und wollen wir uns als Koalition wirklich nicht leisten, also auch nicht die ermäßigte Umsatzsteuerbelastung für Arzneimittel mit eventuellen Milliardengeschenken für Arzneimittelhersteller, wie Sie von der Linken es wollen. ({10}) Wir lehnen Ihren Antrag auf jeden Fall ab. Ausgeben ist immer leichter als reales Sparen. Aber ich wäre froh, wenn wir zusammenarbeiten könnten, um in Brüssel - hier haben Sie Recht, Herr Wissing - ein besseres Umsatzsteuerkonzept durchsetzen zu können. Das wäre eine große Aufgabe, der wir uns alle stellen sollten. Danke schön. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Harald Terpe, Bündnis 90/ Die Grünen.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir führen diese Diskussion vor dem Hintergrund der durch die große Koalition organisierten neuerlichen Defizite bei der Finanzierung des Gesundheitswesens zulasten der Bürgerinnen und Bürger. Ich verweise auf die beabsichtigte Mehrwertsteuererhöhung und auf die dadurch forcierte Steigerung der Arzneimittelausgaben. Sie sollten auf die Mehrwertsteuererhöhung verzichten, meine Damen und Herren von der großen Koalition. ({0}) Des Weiteren nenne ich die Beseitigung des Steuerzuschusses für versicherungsfremde Leistungen in Höhe von 4,2 Milliarden Euro zulasten der GKV. Das ist ein deutlicher Rückschritt auf dem Weg zur Steuerfinanzierung, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Ihr großkoalitionäres Konklave zur Gesundheitsreform nur schwarzen Rauch produziert. Vor diesem Hintergrund kommt der vorliegende Antrag der Linken scheinbar sympathisch daher. Er suggeriert uns eine wirksame Lösung. Aber wie so oft liegt der Teufel im Detail und damit bei Ihnen, meine Damen und Herren von der Linksfraktion. Lassen Sie mich das kurz begründen: Erstens. Eine gravierende Umsatzsteuersenkung in einem Land wie Deutschland mit freier Preisbildung schafft Spielräume für Preiserhöhungen bei Arzneimitteln durch die Pharmaindustrie, wovor auch das AVWG allenfalls zwei Jahre lang teilweise schützt, insbesondere deshalb, weil Sie es auf apothekenpflichtige Arzneimittel ausgedehnt haben. Deswegen wundert es mich persönlich gar nicht, dass ich vonseiten der Pharmaindustrie und der Apothekerverbände Ihrem Antrag gegenüber in den vergangenen Tagen nur Wohlwollen vernommen habe. ({1}) Das Phänomen der Preissteigerungen lässt sich in den in der Begründung Ihres Antrags genannten Ländern - Ländern mit niedrigen Umsatzsteuern - nachweisen. In Großbritannien zum Beispiel ist zu beobachten, dass die Einkaufspreise von Arzneimitteln wesentlich höher sind als in Deutschland, dass also der Gewinn der Pharmafirmen wesentlich größer ist als hierzulande. Zweitens. Vielleicht unbedacht, vielleicht aber auch, um zu verschleiern, dass Ihr Antrag krankenkassenzentriert ist - wenn man berücksichtigt, wer diesen Antrag eingebracht hat, wäre auch das nicht verwunderlich -, behaupten Sie, die erhofften Einsparungen in voller Höhe an die Kranken weiterzugeben. Dabei übersehen Sie aber zweierlei: zum einen, dass von dem Einsparbetrag, den Sie genannt haben, gerade die Bezieher höherer Einkommen profitieren, zum anderen, dass die durch die Einsparbeträge reduzierten Einnahmen der Krankenkassen von allen aufgebracht werden müssen, egal ob arm oder nicht arm. Drittens. Ihr Antrag würde zu Steuerausfällen in Milliardenhöhe führen, ohne dass Sie einen konkreten Vorschlag zur Gegenfinanzierung unterbreiten. Nun nehme ich noch den Gedanken meiner Vorrednerin von der SPD auf: Es ist eher zu fragen, ob man Steuersenkungstatbestände abschafft. Das habe ich jetzt allerdings nicht einfach nachgeplappert. Die Fraktion der Grünen im Schleswig-Holsteinischen Landtag hat darüber bereits Ende letzten Jahres diskutiert und einen entsprechenden Antrag erarbeitet. Es ist also an der Tagesordnung, darüber nachzudenken, ob reduzierte Steuersätze beispielsweise für Schnittblumen und Hundeund Katzenfutter sinnvoll sind. ({2}) Außerdem sei dahingestellt, ob das Ihre Genossen in den ostdeutschen Ländern, in denen Sie parlamentarisch vertreten sind oder mit regieren, erfreuen würde. Alles in allem bedeutet der Antrag der Linksfraktion eine potenzielle Umverteilung von Steuergeldern zugunsten der Pharmaindustrie und gut Verdienender; wegen dieser Ungerechtigkeit kann er von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen nur abgelehnt werden. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Terpe, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Dazu gratuliert Ihnen das ganze Haus und wir wünschen Ihnen viel Erfolg. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/732 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes und anderer Gesetze - Drucksache 16/887 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Hierfür wäre eigentlich eine Redezeit von einer hal- ben Stunde vorgesehen. Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden der Kollege Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion, der Kollege Dirk Manzewski, SPD-Fraktion, Kollegin Mechthild Dyckmans, FDP-Fraktion, der Kollege Dr. Ilja Seifert, Die Linke, der Kollege Peter Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen, und für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach1). Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 16/887 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute Koczy, Hans-Josef Fell, weiterer 1) Anlage 3 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN Mit der strategischen Partnerschaft zwi- schen der Europäischen Union und Latein- amerika Ernst machen und deutsches En- gagement ausbauen - zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Die Beziehungen zwischen EU und Latein- amerika solidarisch gestalten - Kein Frei- handelsabkommen EU-Mercosur - Drucksachen 16/941, 16/1126, 16/1441 - Berichterstattung: Abgeordnete Thilo Hoppe Anette Hübinger Dr. Karl Addicks Heike Hänsel Hierfür war ebenfalls eine Aussprache von einer hal- ben Stunde vorgesehen. Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die Kollegin Anette Hübinger, CDU/CSU-Frak- tion, die Kollegen Lothar Mark und Sascha Raabe, SPD- Fraktion, der Kollege Karl Addicks, FDP-Fraktion, der Kollege Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke, und der Kollege Thilo Hoppe, Bündnis 90/Die Grünen1). Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/1441 zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Mit der strategischen Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika Ernst machen und deutsches Engagement ausbauen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 16/941 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der Linksfraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. ({3}) - Sie haben für den Antrag gestimmt, aber gegen die Beschlussempfehlung; es ist schon alles richtig. Alles ist richtig, alles wird gut. ({4}) Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1126 mit dem Titel „Die Beziehungen zwischen EU und Lateinamerika solida- risch gestalten - Kein Freihandelsabkommen EU-Mer- 1) Anlage 4 cosur“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalition und der FDP bei Gegenstimmen der Linksfraktion und Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Pfändungsschutz der Altersvorsorge und zur Anpassung des Rechts der Insolvenzanfechtung - Drucksache 16/886 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({5}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Hierfür war ebenfalls eine Aussprache von einer hal- ben Stunde vorgesehen. Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden der Kollege Dr. Günter Krings, CDU/CSU-Frak- tion, der Kollege Dirk Manzewski, SPD-Fraktion, die Kollegin Mechthild Dyckmans, FDP-Fraktion, der Kol- lege Wolfgang Nešković, Fraktion Die Linke, der Kol- lege Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen, und für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach2). Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/886 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es offensichtlich keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Leibrecht, Dr. Karl Addicks, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für einen Beobachterstatus Taiwans bei der Weltgesundheitsversammlung - Drucksache 16/968 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({6}) Ausschuss für Gesundheit Hier wäre ebenfalls eine halbe Stunde Aussprache vorgesehen. Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden der Kollege Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, CDU/ CSU-Fraktion, der Kollege Detlef Dzembritzki, SPD- Fraktion, der Kollege Harald Leibrecht, FDP-Fraktion, die Kollegin Monika Knoche, Fraktion Die Linke, und der Kollege Jürgen Trittin, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.3) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/968 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie ebenfalls einverstanden. Die Überweisung ist damit so beschlossen. 2) Anlage 5 3) Anlage 6 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Ich rufe Zusatzpunkt 8 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben ({7}) - Drucksache 16/1364 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({8}) Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Hier wäre wiederum eine halbe Stunde Aussprache vorgesehen. Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden der Kollege Ralf Göbel, CDU/CSU-Fraktion, der Kollege Gerold Reichenbach, SPD-Fraktion, Hartfrid Wolff, FDP-Fraktion, Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke, und Silke Stokar, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.1) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/1364 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch hierzu gibt es keine weiteren Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Peter Hettlich, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Fördergesetz für Dieselrußpartikelfilter baldmöglichst vorlegen - Drucksache 16/946 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({9}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss Federführung strittig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Kollegen Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe soeben erfahren, dass ich der einzige Redner zu diesem Tagesordnungspunkt bin. So habe ich die Chance, Sie gnadenlos zu beschimpfen; denn Sie können sich nicht mehr dagegen wehren. Vielen Dank. ({0}) - Natürlich wird es nicht ganz so schlimm für Sie wer- den, aber ich kann dieses Thema nicht totschweigen, 1) Anlage 7 auch dann nicht, wenn alle anderen ihre Reden zu diesem Punkt zu Protokoll gegeben haben. Wenn man sich in den Zeitungen und auf der Internetseite des Umweltbundesamtes die Werte für die Feinstaubbelastung ansieht, dann muss man feststellen, dass in der Bundesrepublik in zahlreichen Städten - nicht nur in Großstädten -, in Ballungsräumen und überall dort, wo viel Verkehr ist, vermutlich schon zur ersten Jahreshälfte die Grenzwerte erreicht sein werden, die höchstens am Ende des Jahres hätten erreicht werden dürfen. Wir erleben in Deutschland also, dass deutsches und europäisches Recht nicht eingehalten werden. Das kann so nicht weitergehen, zumal wir alle wissen - das wissen Sie von der SPD-Fraktion genauso wie Sie von der CDU/CSU-Fraktion -, dass die Belastung mit Feinstaub viel zu hoch ist und ein hohes Risiko für die Gesundheit darstellt. Wir müssen alles tun, um diese Werte zu senken. ({1}) Lange waren die Länder und die Kommunen untätig. Das hat sich inzwischen geändert. Überall werden Anstrengungen unternommen, zum Teil werden Straßen komplett, zum Teil werden Ortsdurchfahrten auch nur für LKW gesperrt. Die Kommunen bemühen sich. Trotzdem sinken die Werte nicht. Warum ist das so? Insgesamt ist die Belastung in Ballungsräumen aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens und aufgrund der vielen Dieselfahrzeuge ohne Filter zu hoch. Es ist also angesagt, dringend zu handeln und nicht abzuwarten. Ich will kurz daran erinnern, wie lange wir uns schon damit beschäftigen: Dieses Parlament hat 2002 beschlossen, die neuen Grenzwerte einzuführen. Diese gelten seit 2005. Wir haben seit 2004 einen Bundestagsbeschluss, hier etwas zu tun. 2005 hat das Kabinett beschlossen, ein Fördergesetz zur Einführung des Dieselrußfilters vorzulegen. Inzwischen ist die große Koalition im achten Monat und noch nicht einmal schwanger mit einem solchen Gesetz. Es ist wirklich zum Mäusemelken. Es ist nicht nachzuvollziehen, dass nichts geschieht, obwohl alle wissen, dass bei der Nachrüstung von Dieselfahrzeugen, vor allem von Euro-3- und Euro-4-Fahrzeugen, die für die Masse der Belastung verantwortlich sind, etwas getan werden muss. Neufahrzeuge werden - das wissen wir - inzwischen aufgrund von Konsumentenverantwortung überwiegend mit Filtern gekauft. Aber bei den Altfahrzeugen brauchen wir dringend einen Schub. Wir haben dazu einen Vorschlag gemacht. Er ist in unserem Antrag skizziert. Ich will ihn angesichts der späten Stunde nur knapp umreißen. Wir wollen, dass rasch, nämlich noch in diesem Jahr, zum 1. Juli, ein Fördergesetz eingeführt wird. Vor allen Dingen sollen Fahrzeuge mit Vollfilter gefördert werden, und zwar mit 600 Euro. Eine Teilfilterlösung soll nur mit 250 Euro gefördert werden. Warum? Es macht keinen Sinn, Dieselrußfilter, die nur eine Wirksamkeit von 30 bis 40 Prozent haben, so stark wie voll wirksame, geregelte Filter zu fördern. Die Experten werden dem zustimmen. ({2}) Ich weiß, dass man im Umweltministerium brütet. Ich weiß, dass man es im Finanzministerium aufhält. ({3}) Aber Sie werden das Thema nicht aufhalten können. Sie müssen eine Lösung finden. Sie sollten eine differenzierte Lösung finden, die gute Filter stärker fördert als weniger gute Filter. Wir meinen, dass die Regelung durchaus aufkommensneutral sein sollte. Wer zukünftig mit einem Dieselfahrzeug ohne Rußfilter fährt, der soll mehr Steuern zahlen. Damit kann die Förderung mitfinanziert werden. ({4}) Meine Damen und Herren von der großen Koalition, es ist an der Zeit, zu handeln, jetzt und hier einen Gesetzentwurf zur Förderung der Nachrüstung von Dieselfahrzeugen vorzulegen. Warten Sie nicht noch länger! Sonst bestätigen Sie endgültig das Urteil, dass große Koalitionen nicht nur wenig hervorbringen, sondern dass das Wenige auch noch ziemlich langsam daherkommt. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben der Kollege Jens Koeppen, CDU/CSU-Fraktion, der Kollege Mi- chael Kauch, FDP-Fraktion, die Kollegin Gabriele Fre- chen, SPD-Fraktion, und der Kollege Lutz Heilmann, Fraktion Die Linke.1) Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/946 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist allerdings strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Federführung beim Finanzausschuss, hingegen die Fraktionen der FDP, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Oppositionsfraktionen abstimmen: Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Überweisungsvor- schlag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD abstimmen: Fe- derführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für die- sen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Ent- haltungen? - Dieser Vorschlag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenom- men. 1) Anlage 8 Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 21 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Bärbel Höhn, Dr. Anton Hofreiter, Ulrike Höfken, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Fahrgastrechte - Drucksache 16/1146 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Federführung strittig Hier ist interfraktionell eine halbe Stunde Aussprache vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Anton Hofreiter, Bündnis 90/Die Grünen. ({2})

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fahrgäste wollen sicher und pünktlich befördert und vernünftig informiert werden. ({0}) Nahezu 50 Prozent der Bevölkerung haben keinen regelmäßigen Zugang zu einem PKW. Sie sind auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Was geschieht, wenn diese Unternehmen, aus welchen Gründen auch immer, kein vernünftiges Produkt anbieten, das heißt den Fahrgast nicht pünktlich befördern und unter Umständen nicht einmal vernünftig über die Verzögerung informieren? In nahezu allen Fällen hat man als Kunde bestimmte Rechte. Wenn man eine Waschmaschine kauft, wenn man irgendeine Dienstleistung in Anspruch nimmt und dann irgendetwas schief geht, hat man Rechte. Nur der Fahrgast hat bei Verspätungen keinerlei Rechte. Dies wollen wir ändern. Deshalb haben wir diesen Gesetzentwurf eingebracht. ({1}) Wir wollen die Regeln des Bürgerlichen Gesetzbuches - eigentlich eine Selbstverständlichkeit - auch für Fahrgäste in Kraft setzen. Gleiche Kundenrechte für alle! Wir erreichen damit, dass die Unternehmen pünktlicher werden, dass die Fahrgäste informiert und, falls etwas schief geht, entschädigt werden. Die DB AG schreit immer herum, die Fahrpreise würden gigantisch ansteigen, wenn es zu einer solchen Regelung käme; all das bringe nichts und führe eher zu Nachteilen für die Kunden. Die Erfahrungen aus dem Ausland, zum Beispiel aus den Niederlanden, mit entsprechenden Maßnahmen haben ganz klar gezeigt: Weder steigen die Fahrpreise erheblich an noch kommt es zu anderen Problemen. Im Gegenteil: In Holland zeigte sich, dass die Bahnen sogar pünktlicher wurden. Das heißt: Fahrgastrechte sind ein Gewinn für alle, für die Fahrgäste, aber auch für die Unternehmen; denn zufriedene Kunden kommen wieder. ({2}) Wir alle kennen die Probleme, die es immer wieder mit der DB AG und anderen Unternehmen gibt. Deshalb kann ich nur dazu auffordern, nach den Beratungen unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. Er ist ein Gewinn für alle, für Unternehmer und Kunden. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben der Kollege Marco Wanderwitz, CDU/CSU-Fraktion, der Kollege Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion, Marianne Schieder, SPD-Fraktion, Heidrun Bluhm, Fraktion Die Linke, und die Kollegin Rita Schwarzelühr-Sutter, SPD- Fraktion.1) Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 16/1146 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Hierbei ist die Federführung ebenfalls strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP wünschen die Fe- 1) Anlage 9 derführung beim Rechtsausschuss. Die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen hingegen möchten die Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz sehen. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, der eine Federführung beim Verbraucherschutzausschuss vorsieht. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Überweisungsvorschlag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP, der eine Federführung beim Rechtsausschuss vorsieht, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist dieser Überweisungsvorschlag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 19. Mai 2006, 8 Uhr, ein. Genießen Sie die gewonnenen Einsichten! Haben Sie einen schönen Abend! Die Sitzung ist geschlossen.