Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und wünsche Ihnen einen guten Tag und uns
gute, konstruktive Beratungen.
Ich habe einige wenige amtliche Mitteilungen zu machen: Der Kollege Johannes Pflug feierte am 8. April
seinen 60. Geburtstag und der Kollege Winfried
Nachtwei feierte am 15. April seinen 60. Geburtstag. Im
Namen des ganzen Hauses gratuliere ich zu diesen runden Geburtstagen nachträglich herzlich und wünsche alles Gute.
({0})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung der Bundesregierung zur Umsetzung der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinie
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu den Antworten der Bundesregierung auf die Fragen Nr. 26 und 27 auf Drucksache 16/1374
({1})
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger,
Dr. Max Stadler, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Schlanker Staat durch weniger Bürokratie und Regulierung
- Drucksache 16/119 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 4 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren ({3})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen
Übereinkommen vom 6. November 2003 über den
Schutz von Tieren beim internationalen Transport
({4})
- Drucksache 16/1346 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({5})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Volker Beck ({6}), Birgitt Bender, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verlängerung der Ich-AG
- Drucksache 16/1405 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Hänsel,
Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Flugticketabgabe jetzt - Entwicklungsfinanzierung
auf breitere Grundlagen stellen
- Drucksache 16/1203 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Kerstin Andreae, Marieluise Beck ({9}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Umsetzung des EU-Stufenplans zur Entwicklungsfinanzierung ({10}) durch Flugticketsteuer unterstützen
- Drucksache 16/1404 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({11})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD eingebrachten Entwurfs eines Investitionszulagengesetzes 2007 ({12})
- Drucksache 16/1409 Redetext
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Verbraucherinformation
- Drucksache 16/1408 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende
- Drucksache 16/1410 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 8 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben ({3})
- Drucksache 16/1364 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 6, 9, 13 und 15 werden abgesetzt und in der Folge werden die Tagesordnungspunkte 16 und 17 sowie 18 und 19 jeweils getauscht.
Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:
Der in der 32. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({5}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neuregelung der Besteuerung von Energieerzeugnissen und zur Änderung des Stromsteuergesetzes
- Drucksache 16/1172 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Der in der 32. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Antrag der Fraktion der LINKEN
Für Selbstbestimmung und soziale Sicherheit Strategie zur Überwindung von Hartz IV
- Drucksache 16/997 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Schließlich möchte ich den neuen Direktor beim
Deutschen Bundestag, Herrn Dr. Hans-Joachim Stelzl,
der hinter mir Platz genommen hat, herzlich begrüßen.
({9})
Ich wünsche ihm auch im Namen aller Kolleginnen und
Kollegen viel Erfolg bei seiner verantwortungsvollen
Aufgabe und verbinde das mit dem ausdrücklichen Dank
an Herrn Professor Zeh für seine jahrelange verdienstvolle Arbeit hier im Deutschen Bundestag.
({10})
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich
Sie bitten, sich von den Plätzen zu erheben.
({11})
Am 30. April dieses Jahres ist Paul Spiegel, Vorsit-
zender des Zentralrats der Juden in Deutschland, verstor-
ben. Mit Paul Spiegel verlieren wir einen großartigen
Menschen und eine bedeutende Persönlichkeit, die sich
um unser Land verdient gemacht hat.
Paul Spiegel wurde am 31. Dezember 1937 in Waren-
dorf/Westfalen geboren. Als Deutscher jüdischen Glau-
bens musste er im Kindesalter die Schrecken der
Nazibarbarei erfahren. Sein Vater überlebte die Konzen-
trationslager Buchenwald, Auschwitz und Dachau, seine
nach Bergen-Belsen verschleppte Schwester Rosa nicht.
Nachdem er im Exil in Brüssel überlebt hatte, kehrte er
nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Familie nach
Warendorf zurück.
Paul Spiegel gehörte zu denen, die das scheinbar Un-
mögliche zu tun wagten und zurückkehrten, um jüdische
Gemeinden wieder aufzubauen. Die Aussöhnung von
Juden und Deutschland, von deutschen Juden mit ih-
rem Land, stand im Mittelpunkt seines Wirkens. Das galt
Präsident Dr. Norbert Lammert
für sein Engagement in der Jüdischen Kultusgemeinde
Düsseldorf ebenso wie für seine Arbeit als Präsident des
Zentralrats der Juden in Deutschland seit Januar 2000.
Bereits kurz nach seiner Amtseinführung warnte Paul
Spiegel angesichts der Zunahme von rechtsextremen Ge-
walttaten und fremdenfeindlichen Übergriffen in
Deutschland in öffentlichen Stellungnahmen vor der
Gleichgültigkeit und stummen Zustimmung. Er erklärte
nicht nur anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Zen-
tralrats im September des Jahres 2000, dieser werde sich
nicht nur für Juden, sondern auch für Flüchtlinge, für
Aussiedler und für andere benachteiligte Minderheiten
einsetzen.
Im Juli 2001 nahm Paul Spiegel als erster Repräsen-
tant der Juden in Deutschland am öffentlichen Gelöbnis
der Bundeswehr im Bendlerblock in Berlin-Tiergarten
teil, dem Sitz des Oberkommandos des Heeres im Drit-
ten Reich. Bei dieser Gelegenheit bezeichnete er die
Bundeswehr als „Teil unserer rechtsstaatlichen Demo-
kratie“.
Zu den Höhepunkten seiner zweiten Amtszeit nach
einstimmiger Wiederwahl als Präsident des Zentralrats
der Juden gehört die Unterzeichnung des Staatsvertra-
ges zwischen Deutschland und dem Zentralrat im
Januar 2003 in Berlin. In diesem Staatsvertrag verpflich-
tet sich die Bundesregierung, das deutsch-jüdische Kul-
turerbe zu erhalten und zu pflegen, zum Aufbau einer jü-
dischen Gemeinschaft in Deutschland beizutragen und
ihre Integration in die deutsche Gesellschaft zu unter-
stützen.
Paul Spiegel hat nicht geschwiegen, wenn es Anlass
zur Kritik oder zur Mahnung gab. Aber er hat sich nicht
zu allem und jedem geäußert. Auch deshalb hatte sein
Wort so großes Gewicht und fand sein Wirken so viel
Respekt.
Paul Spiegel war ein deutscher Patriot. Er wird uns
fehlen. Unser Mitgefühl gilt seiner Frau und seinen bei-
den Töchtern sowie der Gemeinschaft der Juden in
Deutschland. Wir verneigen uns in Dankbarkeit vor ei-
ner Lebensleistung, die uns nicht nur in Erinnerung blei-
ben, sondern auch bleibende Verpflichtung sein wird.
Ich danke Ihnen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:
a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzle-
rin
zur Europapolitik
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christian Ahrendt, Markus Löning, Michael Link
({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Den Kommunen an den Grenzen zu Polen und
der Tschechischen Republik die Zusammenarbeit mit diesen Ländern erleichtern
- Drucksache 16/456 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({13})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über ihre Bemühungen zur Stärkung der gesetzgeberischen
Befugnisse des Europäischen Parlaments 2005
- Drucksache 16/528 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({14})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung anderthalb Stunden vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.
({15})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gute
Tradition dieses Deutschen Bundestages, regelmäßig
über den Stand und die Perspektiven der europäischen
Einigung zu debattieren. Eine solche Debatte in dieser
Woche, der Europawoche, ist nicht nur wegen dieser
Tradition wichtig, sondern sie ist angesichts der Sachlage und der Situation meines Erachtens notwendig.
Deshalb bin ich den Fraktionen sehr dankbar, dass sie
darum gebeten haben, genau in dieser Woche über die
Fragen Europas zu diskutieren; denn angesichts vieler
Einzelfragen, die wir debattieren, kann man den Eindruck gewinnen, dass der Blick auf das Ganze manchmal verloren geht.
({0})
Es war richtig, dass wir vor zwei Tagen, am Europatag, noch einmal des großen Europäers Robert Schuman,
des ehemaligen französischen Außenministers, gedacht
und uns an seine Initiative zur Gründung der Montanunion erinnert haben. Schuman schlug vor, die für die
Rüstungsindustrie notwendigen Rohstoffe Kohle und
Stahl einer gemeinsamen Behörde zu unterstellen. Das
war nicht irgendeine Initiative, sondern diese Initiative
hat das deutsch-französische Verhältnis als ein besonderes Verhältnis begründet. Aber mit dieser Initiative sollte
auch verhindert werden, dass die europäischen Staaten,
allen voran Deutschland und Frankreich, je wieder gegeneinander in den Krieg ziehen.
Europa als Friedensgemeinschaft - das war nach dem
Ende des Zweiten Weltkriegs, nach so viel Leid und so
großen Verlusten an Menschenleben, eine bahnbrechende Idee. Europa als Friedensgemeinschaft - diese
Utopie wurde in den folgenden Jahrzehnten wirklich mit
Leben erfüllt. Aus der Vision wurde Realität: unsere Lebensrealität.
Sie alle kennen die Stichworte, die das dokumentieren: die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft von
1957, die Einführung des Binnenmarktes und einer gemeinsamen Währung für zwölf Mitgliedsländer in dem
Verständnis, dass Länder, die dieselbe Währung haben,
nie wieder gegeneinander antreten werden, und die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft mit heute
25 und bald 27 Mitgliedstaaten.
Im Rückblick kann man feststellen: Robert Schuman
hat die Beziehungen der europäischen Länder zu anderen wahrhaft revolutioniert. Es ist eine völlige Neuordnung des europäischen Staatensystems entstanden. Diese
Neuordnung ist nach meiner Auffassung die größte seit
dem Westfälischen Frieden.
({1})
Nach dem Fall der Mauer, mit der Osterweiterung
und dem Ende des Kalten Krieges hat die Friedens- und
Werteidee schließlich unseren gesamten Kontinent erreicht. Gerade wir Deutschen mit unserer Geschichte
können uns gar nicht oft genug bewusst machen, dass
Frieden in Freiheit wahrlich keine Selbstverständlichkeit
ist.
({2})
Das ist ein Glück und es ist ein Geschenk. Dieser Frieden in Freiheit ist, weil er nicht selbstverständlich ist,
auch immer wieder neu zu erarbeiten und zu verteidigen.
({3})
Wir sollten uns schon bewusst machen, dass alle guten Wendepunkte in der deutschen Nachkriegsgeschichte
untrennbar mit Europa verbunden sind. Ob es die Wiedereingliederung in die Europäische Union oder die
deutsche Einheit ist: Wir verdanken der europäischen
Integration eine beispiellose Zeit von Frieden, Freiheit
und Wohlstand.
Wir sehen daran auch, dass Europa von Anfang an
mehr war als nur eine Zweck- oder Interessengemeinschaft. Europa hat sich immer auf gemeinsame Werte gegründet, ist sich immer seiner gemeinsamen Geschichte
bewusst gewesen und hat einen gemeinsamen Willen,
die Zukunft zum Wohle aller zu gestalten. Genau über
diesen Willen werden wir mit dem Blick auf die Zukunft
auch zu sprechen haben.
Es ist ein einzigartiges Miteinander von größeren und
kleineren Staaten entstanden. Im nächsten Jahr werden
wir das Jubiläum der Unterzeichnung der Römischen
Verträge vor 50 Jahren begehen. Das ist noch einmal
ein guter Anlass, um an das Erreichte zu erinnern.
Das alles bietet aber auch Anlass, selbstbewusst nach
vorne zu schauen. Heute ist noch nicht der Tag, um im
Detail über die deutsche Präsidentschaft im ersten
Halbjahr 2007 bzw. über die Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland gleichzeitig die G-8-Präsidentschaft innehaben wird, zu sprechen; aber wir sollten uns
bewusst werden, worum es geht. Denn auch das ist unser
gemeinsames Gefühl: Die Beschwörung der Werte und
der Ursprungsidee des europäischen Einigungsprozesses
reicht heute nicht mehr aus; damit ist es nicht getan.
Deshalb ist dies auch nicht die Stunde einer historischen Reminiszenz, sondern es ist die Stunde einer Regierungserklärung. Die Wahrheit muss in den Blick genommen werden; denn sie ist zum Teil ernüchternd.
Viele Bürgerinnen und Bürger erleben Europa in der
Kritik an detailliertesten Regelungen, im Zweifel, ob Europa die Probleme der Zukunft - Arbeitslosigkeit und
ein zu geringes Wirtschaftswachstum - bewältigen kann.
Kurz gesagt muss man feststellen: Europa steht bei den
Europäerinnen und Europäern nicht so hoch im Kurs,
wie es der historische Rückblick vielleicht vermuten
lässt. Dabei sind die beiden gescheiterten Volksabstimmungen in Frankreich und Holland sicherlich nur Indikatoren, die aber noch nicht alles aussagen.
Das heißt, es reicht auch nicht aus, wenn wir darauf
verweisen können, dass durchaus zukunftsweisende Lösungen gefunden wurden. Ja, es ist glücklicherweise ein
Finanzrahmen für die kommenden Jahre beschlossen
worden. Ich füge hinzu: Es ist übrigens gelungen, bei der
Vergabe der Mittel und bei den Kriterien sicherzustellen,
dass Strukturfondsmittel nicht mehr vergeben werden,
wenn Arbeitsplätze von einem Land in ein anderes verlagert werden. Das ist ein sehr wichtiger Punkt, der viele
Menschen beunruhigt.
({4})
Es ist des Weiteren eine Einigung betreffend die Chemieindustrie gelungen. Es ist eine grundsätzliche Einigung über die Dienstleistungsrichtlinie gelungen. Es ist
dem Europäischen Parlament gelungen, eine sinnlose
Richtlinie wie die zum Sonnenschutz abzuwehren und
nicht zu verabschieden. All das sind Fakten, die erfreulich und positiv sind.
Das alles reicht aber nicht aus, um den Bürgerinnen
und Bürgern deutlich zu machen, was Europa für sie bedeutet und welche Verantwortung Europa hat. Wir müssen - davon bin ich zutiefst überzeugt - den Stand des
Projekts Europa kritisch überprüfen. Wir müssen den
Bürger in den Mittelpunkt stellen und seine Fragen beantworten: Was bedeutet das für meinen Arbeitsplatz, für
meinen Wohlstand und für meine soziale Sicherheit bei
Krankheit und im Alter? Macht Europa die Dinge einfacher, besser oder ist Europa ein Bremsklotz, eine Hürde?
Ich glaube, wir dürfen uns vor diesen Fragen nicht drücken. Wir müssen sie sehr spezifisch und konkret beantworten.
Ich denke, es geht um nicht mehr und nicht weniger,
als dass wir der historischen Begründung der Europäischen Union eine Neubegründung hinzufügen. Ich will
die Dinge nicht dramatisieren, aber ich glaube, eine Neubegründung ist notwendiger denn je. Denn wir sind in
folgender Situation: In der Zeit des Kalten Krieges war
es ein riesengroßer Fortschritt, dass die westeuropäischen Länder in der Europäischen Union zusammengearbeitet haben, sich entschlossen haben, nicht mehr
gegeneinander zu handeln. Aber es war keine Frage,
dass diese Europäische Union dem gesamten sozialistischen und kommunistischen System überlegen war. Es
musste nicht aus sich heraus begründet werden, warum
dieses Europa die richtige Antwort war. Es war die bessere Antwort als alles, was jenseits des Eisernen Vorhangs stattfand.
Dann kam der große Siegeszug der Freiheit. Dann hat
sich die Überlegenheit der freiheitlichen Idee durchgesetzt. Der Kalte Krieg war zu Ende. Der ganze Kontinent
kann heute nach dieser europäischen Idee leben. Aber
die Situation in Bezug auf andere Kontinente hat sich
verändert. Europa muss sich aus sich selbst heraus begründen und zeigen, dass es in einer Welt größeren Wettbewerbs, in einer global transparenten Welt Politik nach
seinen Wertvorstellungen gestalten kann. Das ist die
große Aufgabe, vor der wir stehen.
({5})
Die Bürgerinnen und Bürger haben schlicht und ergreifend Zweifel, ob das Modell der sozialen Marktwirtschaft, ob unsere Vorstellungen von der Würde des Menschen so überlegen, so dominant, so durchschlagend
sind, dass wir nicht nur in der Vergangenheit die
Schlacht im Kalten Krieg gewinnen konnten, sondern
dass wir auch jetzt in einer gemeinsam verantworteten
Welt unsere Art, zu leben, weiterführen können und anderen als Vorbild zeigen können. Deshalb müssen wir
darüber nachdenken, was Europa bedeutet und wie der
Gestaltungsanspruch der Politik wieder durchgesetzt
werden kann. Viele haben den Eindruck, dass es hier nur
um den Fluss von Kapitalströmen geht, dass die Politik
gar keine Kraft mehr hat. Wir müssen aber unsere Überlegenheit zeigen. Daher ist es, glaube ich, richtig und
wichtig, dass wir sehen: Mit 450 Millionen Menschen in
der Europäischen Union können wir natürlich die Regeln
des Welthandels beeinflussen. Kein einziges Mitgliedsland könnte sich mit seinen Interessen so durchsetzen,
wie wir uns gemeinsam durchsetzen können. Um ein
Beispiel aus dem Umweltschutz zu nennen: Die einzelnen Mitgliedstaaten hätten niemals so erfolgreich über
das Kiotoprotokoll verhandeln können. Wir haben eine
gemeinsame Entwicklungshilfepolitik.
Wir treten an vielen Stellen als Europäische Union
auf und können so viel stärker gestalten. Das heißt, einer
alleine würde Schiffbruch erleiden, wo wir gemeinsam
unsere Interessen durchsetzen können. Das ist ein ganz
handfester Vorteil Europas.
({6})
Um aber das Gesamtziel zu erreichen, müssen wir uns
konzentrieren und sagen, welches die wesentlichen Bereiche sind, in denen Erfolge sichtbar werden müssen
und in denen wir unseren Bürgerinnen und Bürgern beweisen müssen, dass wir mit Europa erfolgreicher sind
als ohne Europa. Da stellt sich aus meiner Sicht zunächst
die Frage der wirtschaftlichen Dynamik, der sozialen
Verantwortung, die wir für die Menschen wahrnehmen,
und der Arbeitsplätze.
Jeder Mitgliedstaat - das wird auch für die Zukunft
gelten - wird zunächst einmal seine eigenen Aufgaben
lösen müssen. Das gilt für Deutschland allemal; denn
Deutschland ist die größte Volkswirtschaft in Europa.
Daraus dürfen wir keine falschen Schlussfolgerungen
ableiten. Wir haben unsere Pflicht zu tun. Wir waren diejenigen, die im Rahmen der Europäischen Währungsunion den Stabilitätspakt eingeführt haben, um den
Menschen Sicherheit zu geben. Deshalb ist es nicht in
Ordnung, wenn wir zum dritten, vierten oder fünften
Mal diesen Stabilitätspakt verletzen; denn damit genügen wir unseren eigenen Ansprüchen nicht.
({7})
Ich weiß, dass die Bundesregierung den Menschen in
diesem Lande mit manchem Beschluss in diesen Tagen
manches zumutet. Glaubwürdigkeit in Bezug auf die
Maßstäbe, die wir bei anderen in Europa anlegen, ist
aber ein hohes Gut. Deshalb hat sich diese Bundesregierung vorgenommen, die Verfassung und den Stabilitätspakt in Europa wieder einzuhalten. So einfach ist das.
Das muss durchgesetzt werden.
({8})
Wir unterstützen aus vollem Herzen die Lissabonstrategie, nach der das A und O in einer Welt zunehmender Widersprüche wirtschaftlicher Erfolg, Erfolg bei
Innovation, Wachstum und Arbeitsplätzen, ist. Wir werden unser Gewicht in vielen Bereichen in Europa nur
einbringen können, wenn erst einmal wir zeigen, dass
wir ein wirtschaftlich erfolgreiches Modell haben, das
im Sinne der sozialen Marktwirtschaft gleichzeitig
menschlich ist und soziale Verantwortung gewährleistet.
Unsere Aufgabe ist es, aktiv an der Lissabonstrategie
mitzuarbeiten. Es ist wichtig, zu überlegen, wo sich Europa Wachstumsfesseln angelegt hat.
Unsere Aufgabe muss es immer sein, auf den Wettbewerb im Allgemeinen zu achten und vor allen Dingen
auch kleinen und mittleren Unternehmen in der Europäischen Union eine Chance zu geben. Wir wissen: Wenn
Europa erfolgreich sein soll, dann muss es bei Bildung,
Forschung und Innovation vorne sein. Das sind unsere
Stärken. Deshalb ist unsere nationale Maßnahme richtig,
3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und
Entwicklung auszugeben. Es ist genauso richtig, dass
wir darauf achten, dass die europäischen Forschungsstrukturen dem Anspruch genügen, Effizienz zu fördern.
Sie dürfen nicht einem Regionalproporz entsprechen;
Forschung muss vielmehr da gefördert werden, wo Leistungen erzielt werden, die innovativ sind und mit denen
wir weltweit an der Spitze stehen.
Wir sind sowohl innerstaatlich als auch auf europäischer Ebene einen Weg gegangen, der viele Regulierungen mit sich gebracht hat. Ich unterstütze ausdrücklich,
dass die Kommission, insbesondere der Präsident der
Kommission und der Vizepräsident Günter Verheugen,
gemeinsam sagt, dass Bürokratieabbau das Gebot der
Stunde ist. Wir können 25 Prozent des bürokratischen
Aufwandes nicht nur bei uns zu Hause, sondern in ganz
Europa einsparen. Es ist im Übrigen ein revolutionärer
Schritt, dass wir uns nach fast 50 Jahren europäischer
Einheit - Sie können zurzeit in Brüssel den mindestens
6 Meter hohen Berg aufeinander gestapelter Papiere besichtigen, die den gesamten Acquis communautaire beinhalten; all das ist in 50 Jahren entstanden - entschließen, angesichts einer sich dramatisch verändernden Welt
einmal nachzuschauen, ob man etwas ändern oder wegnehmen kann. Auch das gehört zu Europa.
({9})
Die Frage, ob wir wirtschaftlich erfolgreich sein werden, ob wir den Menschen Arbeitsplätze geben können
und ob die Menschen den Eindruck haben, dass sich die
Wertvorstellungen einer sozialen Ordnung in der Europäischen Union besser als auf nationaler Ebene verwirklichen lassen, ist für mich die entscheidende Frage, an
der sich die Akzeptanz Europas beweisen muss.
Wir brauchen neben der wirtschaftlichen Dynamik
eine Antwort auf das Bedürfnis der Menschen nach
Sicherheit, nach innerer Sicherheit und nach Rechtssicherheit. Umfragen zufolge ist das übrigens eine ganz
wichtige Anforderung, die die Bürgerinnen und Bürger
an Europa stellen; sie wollen das.
Aber wir tun uns gerade auf diesem Gebiet schwer,
zuzulassen, dass nationalstaatliche Verantwortungen an
Europa übertragen werden. Sie erinnern sich sicherlich
alle an die Debatten über den Europäischen Haftbefehl.
Wir nutzen heute ganz selbstverständlich das Schengener Abkommen. Gerade in der Innen- und Rechtspolitik wird es immer wieder Bereiche geben, in denen
einzelne Länder sich zusammenschließen und vorangehen. Ich habe - um ein Beispiel zu geben - gestern mit
dem litauischen Ministerpräsidenten gesprochen: Litauen arbeitet hart daran, auch in das Schengener Abkommen integriert zu werden, weil es als ein unglaublicher Vorzug gilt, Innengrenzen zu haben und die
Außengrenzen dann gemeinsam zu schützen. Das ist ein
Gedanke, den wir vor 30 oder 40 Jahren für völlig unmöglich gehalten haben.
Wer heute einmal die Verhältnisse an deutsch-französischen Grenzübergängen mit denen an deutsch-polnischen vergleicht, der spürt im Grunde schon die Ungeduld. Man fragt: Wann wird es denn nun endlich ein
bisschen einfacher? Die Fortschritte haben einen unglaublichen Mehrwert für die Menschen und sie sind fast
selbstverständlich geworden.
Wir haben inzwischen ein europäisches Strafregister
und einen europäischen Informationsverbund, Stichwort
Europol. Gerade in der Innen- und Rechtspolitik werden
wir die Vereinheitlichung weiterführen müssen, auch
wenn dazu viele Mitgliedstaaten ihre Vorbehalte aufgeben müssen. Ich denke, es wird auch weiterhin eine intensive Diskussion im Deutschen Bundestag darüber geben, wie viel Souveränität wir abgeben und wie viel wir
behalten wollen. Diese Diskussion muss geführt werden.
Ein weiterer zentraler Punkt - auch hierbei geht es um
die Frage, wie Europa wahrgenommen wird und wie wir
unsere Interessen durchsetzen können - ist der Bereich
der äußeren Sicherheit, der europäischen Außen- und
Sicherheitspolitik.
Nach dem Ende des Kalten Krieges haben sich völlig
neue Bedrohungen ergeben: Terrorismus, Fundamentalismus. Die Erkenntnis ist, dass kein Staat, kein Land,
keiner allein mit dieser Bedrohung fertig werden kann.
Das können weder die Supermacht Vereinigte Staaten
noch Russland, noch die Europäische Union, geschweige denn ein Mitgliedstaat.
Wenn man ehrlich ist, dann muss man feststellen: Europa hat hier seit dem Ende des Kalten Krieges viel lernen müssen. Wir haben auf dem Balkan nicht rechtzeitig
gehandelt. Wir haben aus diesem Versagen glücklicherweise die Lehren gezogen. Es ist dann durch unseren
Einsatz, zum Beispiel in Mazedonien, gelungen - in
meiner Fraktion hat es darüber heiße Debatten gegeben -,
einen Bürgerkrieg zu verhindern. Es ist uns, der Europäischen Union, mittlerweile gelungen, die Verantwortung
für Bosnien und Herzegowina zu übernehmen. Das ist
ein ganz neuer Meilenstein. Was haben wir uns noch
über die Frage gestritten, ob wir außerhalb unserer Landesgrenzen überhaupt auftreten dürfen!
({10})
Heute ist es für die überwiegende Mehrheit der Menschen selbstverständlich geworden, dass wir hier Verantwortung übernehmen.
Wir überwachen die Friedensprozesse in der indonesischen Provinz Aceh. Wir haben als Europäische Union
im Quartett eine ganz wichtige Rolle im palästinensischisraelischen Konflikt übernommen. Das Engagement im
Kongo bei der Absicherung der Wahlen reiht sich in die
Verantwortlichkeiten ein.
Was heißt das? Das heißt, Europa hat gelernt: Es muss
eingreifen, bevor es zu spät ist, bevor es zu dramatischen
Konflikten kommt, bevor wieder Hungersnöte auftreten
wie in der Region der Großen Seen in Afrika. Europa
kann seinen Anspruch, ein Wertesystem zu haben, nicht
mehr allein bei sich durchsetzen; wenn wir es mit diesem
Wertesystem ernst meinen, dann müssen wir vielmehr da
helfen, wo andere allein nicht klarkommen. Das ist die
Konsequenz aus dem von uns erhobenen Anspruch.
({11})
Wir werden immer wieder merken: Wir sind als Partner gewünscht, gefragt. Angesichts dessen runzelt
manch einer die Stirn und fragt: Können wir das alles
leisten? Aber ich sage ganz bewusst: Wenn wir unsere
Art, zu leben und zu wirtschaften, zu einer Art machen
wollen, mit der wir uns auch in der Welt Anerkennung
und Durchsetzung verschaffen, dann werden wir uns vor
den Verantwortungen und Herausforderungen in der
Welt nicht drücken können. Deshalb müssen wir auch
wirtschaftlich stark sein. Wenn wir Politik gestalten wollen - die Angst der Menschen ist, dass Politik nicht mehr
die gestaltende Kraft hat -, dann müssen wir das durchsetzen und dann dürfen wir uns nicht drücken. Wenn wir
uns drücken, dann wird das so verstanden, als wenn wir
vor den Herausforderungen kapitulieren, und das wäre
genau das Falsche.
({12})
Um all diese Aufgaben bewältigen zu können, muss
Europa handlungsfähig sein. Was die Handlungsfähigkeit betrifft, gibt es zwei Probleme, mit denen wir uns
auseinander setzen müssen und die auch noch nicht vollständig gelöst sind. Handlungsfähig sind wir nur dann,
wenn wir von unserer inneren Verfasstheit her die notwendigen Entscheidungen vernünftig treffen können.
Handlungsfähig sind wir nur dann, wenn wir auch wissen, welches Gebilde diese Europäische Union ist. Erweiterung und Vertiefung - beides sind Fragestellungen,
die sich jetzt in einer völlig neuen Dimension stellen,
weil Europa attraktiv ist, weil viele Mitglied dieser Europäischen Union werden wollen, weil wir aber auch sagen müssen, wer das kann und wer das nicht kann und
welches Angebot wir machen, um nicht als eine abgeschlossene Burg wahrgenommen zu werden.
Was die Handlungsfähigkeit anbelangt, ist die Debatte über den Verfassungsvertrag sehr wichtig. Es ist
ein Rückschlag, dass die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden negativ ausgegangen sind.
({13})
Aber damit ist mitnichten eine Aussage darüber getroffen, ob wir einen Verfassungsvertrag brauchen oder
nicht. Ich sage: Wir brauchen den Verfassungsvertrag.
({14})
Wir brauchen ihn, weil er auf verschiedene Fragen Antworten gibt. Er sagt uns, was unsere Grundrechte sind
und was das gemeinsame Verständnis ist.
Zum allerersten Mal - damals noch unter der Führung
von Roman Herzog - ist es gelungen, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union dazu zu bringen, das, was
man allgemein als unsere Wertvorstellungen bezeichnet,
in Form eines Grundrechtekatalogs niederzuschreiben.
Wir haben heiße Debatten gehabt - die werden auch
weitergehen -, zum Beispiel über die Frage, wie wir auf
unsere christlichen Wurzeln Bezug nehmen, ob das überhaupt möglich ist. Wir haben damit noch einmal einen
tiefen Einblick in die unterschiedliche Geschichte der
einzelnen europäischen Länder bekommen. In der Auseinandersetzung mit anderen Religionen, mit anderen
Kulturen wird es wichtig sein, dass wir als Europäer in
der Lage sind, auch unsere Wurzeln ganz klar zu benennen. Das erwarten andere von uns. Wie wollen wir für
unsere Werte fechten, wenn wir das nicht können?
({15})
Der Verfassungsvertrag hat zum ersten Mal den Versuch unternommen, klare Kompetenzordnungen festzuschreiben, etwas, was die Bürgerinnen und Bürger mit
Recht verlangen, was im Übrigen in unserem Grundgesetz seit dem ersten Tage des Bestandes der Bundesrepublik Deutschland in klarer Form enthalten war. Es gehört
zu den wunderbaren Merkmalen des Grundgesetzes,
dass es die Kompetenzen klar auf die einzelnen Ebenen
verteilt. Wir werden nächste Woche das Vergnügen haben, über die Neuordnung dieser Kompetenzen zu sprechen ({16})
ein nicht so einfaches Thema,
({17})
aber eines, dessen man sich annehmen muss. Verwischte
Kompetenzen sind nämlich immer ein Demokratiedefizit. Die Leute wissen nicht mehr, wen sie für was verantwortlich machen können. Das muss in Europa wieder
möglich sein.
({18})
Dieser Verfassungsvertrag schafft zum ersten Mal das
Amt eines europäischen Außenministers. Da muss
man genau überlegen, welche Kompetenzen wir ihm geben wollen. Ich schaue unseren Außenminister an und
sage: Er wird durch den europäischen Außenminister
nicht arbeitslos werden. Man wird aber natürlich wissen
müssen, wer für Europa auftritt, zum Beispiel in den
Verhandlungen des Quartetts.
Dieser Verfassungsvertrag weist mittels der Subsidiaritätsklausel zum ersten Mal den nationalen Parlamenten eine Bedeutung zu.
({19})
Im Übrigen hat mir der Kommissionspräsident gerade
erzählt, dass das gar nicht ohne Differenzen mit dem Europäischen Parlament geht; denn das Europäische Parlament wacht mit Argusaugen darüber, dass die nationalen Parlamente nicht wieder zu viele Möglichkeiten
bekommen.
An der Stelle will ich allerdings sagen: Das Europäische Parlament hat in den letzten Jahren in einem Maße
an Bedeutung gewonnen, wie das vor 20, 30 Jahren
überhaupt nicht vorstellbar war. Angesichts der Dienstleistungsrichtlinie und der Beratungen darüber hat es
zum ersten Mal Demonstrationen in Straßburg gegeben.
Einer unserer Europaparlamentarier hat gesagt, er fühle
sich geehrt; das habe es überhaupt noch nicht gegeben,
dass wegen einer europäischen Regelung demonstriert
werde.
({20})
Das zeigt, dass dort etwas entschieden wird.
Meine Damen und Herren, wir werden im Übrigen
über Folgendes weiter diskutieren müssen; das ist im
Verfassungsvertrag noch nicht geklärt. Ich bin der festen
Überzeugung, dass die Entscheidung richtig war, dass
die politische Kraft, die bei den europäischen Wahlen
die meisten Stimmen bekommt, auch das Recht erhält,
den Präsidenten der Kommission zu benennen. Aber wir
werden auch weitersehen müssen. Wenn wir in Europa
einen Gesetzgebungsprozess mit einem so starken Euro2894
päischen Parlament haben, dann muss es auch - was für
uns ganz selbstverständlich ist - das Prinzip der Diskontinuität geben. Es kann nicht sein, dass Richtlinien
in Generaldirektionen erarbeitet werden, die Jahrzehnte
überleben, egal wer gerade gewählt und an der Arbeit ist.
Auch das gehört zu einer Fortentwicklung Europas.
({21})
Das heißt, wir haben eine Europäische Union, die
durch den Verfassungsvertrag in die Lage versetzt
wird, Entscheidungen zu treffen. Denn der institutionelle Teil - die Fragen bezüglich der Kommission, des
europäischen Außenministers, des Rates - muss so geklärt werden, dass Europa arbeiten kann. Die heutigen
Entscheidungsmechanismen in Europa sind so schwierig, dass man fast ein Fachhochschulstudium braucht,
um zu erkennen, wer gerade die Mehrheit hatte oder wie
man eine Sperrminorität erzeugt. Die Zusammensetzung
der Kommission kann so nicht bleiben. Wir brauchen
also unbedingt den Verfassungsvertrag, um ein handlungsfähiges Europa zu haben. Spätestens die deutsche
Präsidentschaft wird sich damit befassen.
({22})
Weil das Thema aber so schwierig ist und weil die Interessen so unterschiedlich sind, bin ich gegen einen
Schnellschuss, durch den wir in eine Lage versetzt werden, in der wir wieder nicht weiterkommen. Stattdessen
sollten wir sehr gut überlegen, wie wir das Projekt des
Verfassungsvertrages zu einem Erfolg führen. Ich
möchte diesen Verfassungsvertrag, die Bundesregierung
möchte ihn und auch, wie ich denke, die Mehrheit dieses
Parlaments.
({23})
Meine Damen und Herren, der zweite große Punkt ist
die Frage der Erweiterung. Hier will ich ausdrücklich
sagen: Das, was versprochen ist, wird - da bewegen wir
uns alle in einer Kontinuität - umgesetzt. Dabei sind allerdings auch die Kriterien klar, unter denen Beitritte erfolgen können. Wir werden in der nächsten Woche den
Fortschrittsbericht zu Bulgarien und Rumänien erhalten. Ich denke, es ist klar, dass Bulgarien und Rumänien Mitglieder der Europäischen Union werden.
({24})
Aber ich erwarte von der Europäischen Kommission
auch, dass sie in ihrem Fortschrittsbericht die Defizite
klar benennt.
({25})
Wir helfen den Ländern nicht, wenn wir die Defizite
einfach unter den Teppich kehren und davon ausgehen,
dass die Europäische Union und die europäische Idee sie
schon zudecken werden.
({26})
Ich gehe auch davon aus, dass die Europäische Kommission Vorschläge machen wird, wie diese Defizite zu beheben sind.
Wichtig ist auch, dass Beitrittsverhandlungen keine
Einbahnstraße sind. Die Kriterien müssen erfüllt werden. Das gilt für Kroatien genauso wie für die Türkei. Es
gibt auch keine Koppelgeschäfte. Nur weil zwei Länder
am gleichen Tag die Beitrittsverhandlungen begonnen
haben, müssen sie sie nicht auch am gleichen Tag abschließen. Jedes Land hat ein Anrecht darauf, so behandelt zu werden, wie es sich selber darstellt.
Es war richtig, meine Damen und Herren, dass die
Europäische Union die Verhandlungen über ein Stabilitäts- und Assoziationsabkommen mit Serbien und Montenegro erst einmal unterbrochen hat, weil dort keine
Kooperation mit dem Haager Gerichtshof für Kriegsverbrechen stattfindet. Auch solche Signale müssen ausgesandt werden: Beitritte gibt es nicht zu jedem Preis, sondern die Bedingungen, die für die Europäische Union
gelten, müssen erfüllt werden.
({27})
Da wir nicht alle, die Mitglied werden wollen, aufnehmen können, werden wir die Nachbarschaftspolitik
weiterentwickeln. Das ist überhaupt keine Frage. Ich bin
zutiefst davon überzeugt, dass wir das nicht einfach mit
Handelsassoziierungsabkommen machen können. Wir
werden diesen Staaten eine verstärkte politische Kooperation anbieten müssen, die aber nicht in jedem Falle
eine Vollmitgliedschaft bedeuten kann. Ich habe begründet, warum Europa handlungsfähig sein muss. Ein Gebilde, das keine Grenzen hat, kann nicht in sich schlüssig
handeln und eine bestimmte Verfasstheit haben. Das
müssen wir uns klar vor Augen führen und deshalb
Grenzen ziehen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, wenn wir die
anstehenden Fragen beantworten und als Bundesrepublik Deutschland unseren Beitrag dazu leisten, dass die
Menschen in ganz Europa nachvollziehen können, dass
diese Europäische Union für uns eine einzigartige Möglichkeit ist, unsere Interessen, unsere Werte, unsere Art
zu leben, lebbar zu machen, dann werden die Menschen
das auch verstehen. Es kann dann sein, dass einige
Punkte wieder unter die nationale Kompetenz fallen und
andere aus der nationalen in die europäische Kompetenz
übergehen. Dies muss sich aber immer an folgenden Fragen orientieren: Hat es einen Mehrwert für die einzelnen
Menschen, für ihre soziale Sicherheit, für ihren Arbeitsplatz und für unsere äußere und innere Sicherheit? Haben wir damit die Möglichkeit, einen Beitrag zu leisten,
anderen bei der Lösung ihrer Probleme zu helfen? Wenn
wir diese Fragen ehrlich beantworten, dann werden wir
die Europäerinnen und Europäer erreichen, und zwar
nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten.
Unsere Politik muss die Kraft haben, das Wichtige
vom Unwichtigen zu trennen. Wir müssen an die Kraft
von Frieden in Freiheit, von Demokratie und von Menschenrechten glauben, die auf der ganzen Welt verwirkBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
licht werden sollten. Mit unserer Politik auf der Grundlage dieser unglaublich großen Erfolgsgeschichte
müssen wir die Zukunft gestalten.
Menschen wie Schuman, de Gaulle, Adenauer und
viele andere standen damals vor unglaublich großen
Trümmern; aber sie hatten Visionen. Wir haben ein starkes Fundament, auf dem wir aufbauen können. Wir haben eine jahrzehntelange Erfolgsgeschichte. Heute gibt
es neue Bedrohungen, neue Herausforderungen und
mehr Wettbewerb. Aber mit unserer Geschichte und unserem Selbstbewusstsein, das wir einbringen, können
wir es schaffen, aus Europa auch im 21. Jahrhundert eine
Erfolgsgeschichte zu machen. Ich jedenfalls bin entschlossen, gemeinsam mit der Bundesregierung und mit
Ihnen das zu tun.
Herzlichen Dank.
({28})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Dr. Werner Hoyer für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Zustand der Europäischen Union ist überaus besorgniserregend. Über Jahrzehnte hinweg haben wir uns darauf
verlassen können, dass die Integrationsfortschritte nicht
reversibel sind.
({0})
Einen Moment, Herr Kollege Hoyer. Ich möchte dem
Fraktionsvorsitzenden der FDP gerne bei seinem verständlichen Bemühen behilflich sein, Ihrer Rede ungestört folgen zu können. Ich bitte all diejenigen, die an der
Debatte nicht weiter teilnehmen können, möglichst
schnell und geräuschlos den Saal zu verlassen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Zustand der
Europäischen Union ist besorgniserregend. Wir müssen
alles daran setzen, die aufkommenden Zweifel an der Irreversibilität des Integrationsprozesses schnellstens auszuräumen. Defizite an politischer Führung in Brüssel
und in vielen Mitgliedstaaten, erschreckende, ja oft
stumpfsinnige Renationalisierungstendenzen in einigen
Mitgliedstaaten, abnehmendes Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, mangelndes Vertrauen in die Reformfähigkeit unserer Mitgliedstaaten - all das gibt Anlass zu
größter Sorge.
Wir Politiker dürfen die Skepsis gegenüber Europa
nicht durch populistische Wettrennen bei der vermeintlichen Wahrnehmung nationaler Interessen oder durch
Teilnahme an der immer weiter um sich greifenden Europanörgelei geradezu anfeuern.
({0})
Sicher, Europa hat Schwächen. Die Politik muss diesen Schwachstellen zu Leibe rücken. Aber wir haben
auch die Pflicht, darzustellen, dass der Prozess der
europäischen Integration ohne Alternative ist und wir
uns an der Zukunft unserer Völker versündigen würden,
wenn wir nicht entschlossen aufträten, wenn diesem Integrationsprozess Schaden droht.
Die Staats- und Regierungschefs können dazu übrigens selber beitragen, indem sie nach Tagungen der Europäischen Räte nicht immer nur das national Herausgeholte in den Vordergrund stellen und dabei das Ganze
aus dem Blick verlieren. Europa ist kein Nullsummenspiel; Europa ist mehr als die Summe seiner Teile.
Natürlich ist das schwer zu kommunizieren, wenn die
Menschen Angst um ihren Arbeitsplatz haben oder ihn
bereits verloren haben. Man darf nicht übersehen, dass
jeder verlorene Arbeitsplatz mit einem Gesicht, mit einem konkreten Schicksal verbunden ist, während jeder
Arbeitsplatz, der durch die europäische Integration und
die Globalisierung neu geschaffen wird, eher abstrakt
bleibt. Dennoch müssen wir immer wieder darauf hinweisen, dass die Veränderungen, die die europäische Integration mit sich bringt, per saldo positiv sind. 50 000
zusätzliche Arbeitsplätze netto durch die Öffnung nach
Osten - so rechnet es uns der Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels vor - ist eine Zahl, die
man ernsthaft zur Kenntnis nehmen und kommunizieren
muss.
Die Gründergeneration der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die auch Kriegsgeneration war, ist heute
im Deutschen Bundestag nicht mehr vertreten. Solange
Helmut Schmidt, Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher
und Helmut Kohl die Szene geprägt haben, war es völlig
undenkbar, dass die Qualität der Europäischen Union als
größtes europäisches Friedensprojekt unserer Geschichte im Bewusstsein der Menschen weit nach hinten
rückt. Für die heutige junge Generation ist dies alles
- erfreulicherweise - selbstverständlich erlebte Realität
und Normalität, die kaum jemand hinterfragt.
Dennoch müssen wir - Frau Bundeskanzlerin, Sie haben das dankenswerterweise heute getan - immer wieder
auf die großen Zusammenhänge und auch auf die damit
verbundenen fundamentalen Wertefragen hinweisen,
die wir mit der europäischen Integration verbinden. Wir
werden die jungen Menschen aber nicht allein durch den
Verweis auf die Gräber von Verdun für Europa begeistern können. Hinzukommen muss der Hinweis auf die
Riesenchancen, die die europäische Integration für unsere Zukunftssicherung darstellt. Sie haben gesagt: Wir
müssen der historischen Begründung eine Neubegründung hinzufügen. - Das teile ich ausdrücklich.
Europa ist die Antwort auf die Herausforderungen der
Globalisierung. Mit Europa organisieren wir die Selbstbehauptung der Europäer im globalen Wettbewerb, und
zwar wirtschaftlich wie politisch. Ohne Europa werden
weder Deutschland noch Dänemark, weder Ungarn noch
Großbritannien ihre Interessen in der Welt wahren sowie
Sicherheit und Wohlstand erhalten können.
Dabei kann vieles besser gemacht werden. Man kann
sich zum Beispiel auf das konzentrieren - Sie haben es
gesagt -, was Europa besser kann als der Nationalstaat
oder die Regionen. Wir sollten deshalb zum Beispiel
dringend prüfen - um konkret zu werden -, ob das Subsidiaritätsprotokoll des Verfassungsvertrages, das einen wirklichen Fortschritt darstellt, nicht vorab in Kraft
gesetzt werden kann.
({1})
Die Rolle der nationalen Parlamente kann, ja muss
schnellstmöglich sichtbar gestärkt werden.
Aber wir sollten nicht in Brüssel Kritik abladen, die
nach Berlin oder in deutsche Landeshauptstädte gehört.
Beim Antidiskriminierungsgesetz sehen wir, welchen
Glaubwürdigkeitsverlust man sich sehr schnell einhandeln kann.
({2})
Sie von der Union haben im letzten Jahr Ihre Wahlkreise
durchpflügt und mit dem Kampf gegen das rot-grüne
Antidiskriminierungsgesetz richtig schön Punkte gemacht.
({3})
Was ist daraus geworden? Sie hatten ursprünglich gesagt, in Zukunft würden EU-Richtlinien nur noch eins zu
eins umgesetzt. Dann haben Sie aber eine Kirchenklausel herausgehandelt und für die Landwirte noch etwas
herausgeholt. Und schon ist das alte rot-grüne Antidiskriminierungsgesetz wieder auf dem Tisch.
({4})
Das schafft keine zusätzliche Glaubwürdigkeit; das
schafft kein Vertrauen in die Politik.
({5})
Einen ähnlichen Fall unverantwortlichen Herumschlagens auf Europa bei gleichzeitigem nationalen Versagen sehen wir in vielen Fragen des Lissabonprozesses.
Es ist doch geradezu rührend, wenn der Europäische Rat
im Halbjahresrhythmus große Ziele bekräftigt, die nationalen Hausaufgaben aber gleichzeitig nicht erledigt werden.
Deutschland wird umso mehr Einfluss entfalten können, je mutiger und konsequenter wir unsere Volkswirtschaft modernisieren, unsere Bildungsanstrengungen intensivieren, unsere Haushalte sanieren und unsere
Arbeitsmärkte deregulieren.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben am Dienstag gefordert: Jobs schaffen, Bürokratie abbauen und Überregulierung zurücknehmen. Das ist völlig richtig. An genau
dieser Stelle muss die Bundesregierung aber selbst noch
liefern. Ansonsten werden in Europa viele Hoffnungen
zerstört, die sich vor allem auf Deutschland und die
deutsche Bundeskanzlerin richten.
Wir Freien Demokraten wünschen Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie die in Sie gesetzten Hoffnungen
erfüllen können. Der Anspruch auf Reformen in Europa
und das Fehlen einer mutigen nationalen Reformpolitik
passen allerdings nicht zusammen.
({6})
Am 25. März 2007, also etwa zur Halbzeit der deutschen Präsidentschaft, jährt sich die Unterzeichnung der
Römischen Verträge zum 50. Mal. Es muss unsere Ambition sein, diesen Jahrestag für einen neuen Aufbruch,
nicht nur zur Reflexion und Rückbesinnung zu nutzen.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gesagt, warten heiße
nicht, den Verfassungsprozess einschlafen zu lassen,
sondern den geeigneten Zeitpunkt zum Handeln zu finden, der aber noch nicht gekommen sei. Wir haben aber
nicht mehr viel Zeit. Spätestens während der deutschen
Präsidentschaft, möglicherweise in dem kleinen Zeitfenster zwischen den Wahlen in Frankreich und dem
Ende der deutschen Präsidentschaft, muss Deutschland
alles versuchen, den Zug wieder auf die Schiene zu setzen und die Weichen richtig zu stellen. Mit dem Vertrag
von Nizza können wir uns auf Dauer nicht zufrieden geben. Wenn wir das täten, spielten wir denen in die
Hände, die von vornherein nicht mehr wollten als eine
gehobene Freihandelszone.
({7})
Wer mehr Demokratie, mehr Transparenz, mir Subsidiarität, mehr Dynamik und mehr Handlungsfähigkeit,
auch in der Außen- und Sicherheitspolitik, will, muss
den Verfassungsprozess neu beleben. Ich halte es für
ernsthaft erwägenswert, bei Wahrung des Gehalts des
Vertrages über eine Verfassung für Europa seine
konstitutionellen Elemente zu einem echten, vergleichsweise schlanken und lesbaren Verfassungstext zu
destillieren und die übrige Materie, insbesondere den
Teil III, weitgehend sekundärrechtlich zu regeln.
Europa braucht Mut: Mut zur Erneuerung, Mut zur
Freizügigkeit, Mut zum Wettbewerb, Mut zur Vertiefung
und Mut zur weiteren Öffnung, auch wenn zwischen den
Entscheidungen in Zukunft vermutlich größere Abstände
liegen. Wir brauchen mehr Kreativität bei der praktischen Ausgestaltung. Europa braucht Mut zur Freiheit,
damit die Bürger und Staaten unseres Kontinents die intellektuellen, technologischen und ökonomischen Chancen nutzen und die Dynamik entfalten können, die wir
für die Sicherung unserer Zukunft dringend brauchen.
Wenn Sie, Frau Bundeskanzlerin, dem europäischen
Integrationsprozess neuen Schwung geben wollen, werden Sie die Freien Demokraten an Ihrer Seite finden, insbesondere dann, wenn Sie Ihren europäischen Anspruch
durch nationale Politik unterfüttern.
Ich danke Ihnen.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Angelica
Schwall-Düren das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
seiner Dankesrede anlässlich der Entgegennahme des
Bruno-Kreisky-Preises am 9. März 2006 sagte Jürgen
Habermas:
Was mich heute am meisten aufregt, die Zukunft
Europas nämlich, finden andere abstrakt und langweilig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin überzeugt, die
heutige Debatte im Deutschen Bundestag wird nicht nur
zeigen, dass wir Europa ernst nehmen, sondern auch,
dass wir mit Leidenschaft diskutieren. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben uns das eben bereits gezeigt.
Die Europawoche gibt uns Gelegenheit, eine Standortbestimmung vorzunehmen. Jenseits von Gedenkritualen ist es aber wichtig, dass wir uns der Herausforderungen, aber auch der Gefahren eines Rückfalls hinter den
Stand der erreichten Integration bewusst sind. Es ist in
der Tat so, dass wir bis spätestens 2009 eine Entscheidung darüber herbeiführen müssen, wohin die Europäische Union will. Wir müssen uns fragen, ob die Friedenssicherung und die Wohlstandsentwicklung uns
weiterhin, ebenso wie in der vergangenen Zeit, gelingen
werden. Die Bürgerinnen und Bürger zweifeln zunehmend und immer wieder. Dennoch ist die Mehrheit für
die Europäische Union. Das scheint ein Widerspruch zu
sein. Aber angesichts der rasanten Veränderungen nach
Beendigung des Ost-West-Gegensatzes ist es tatsächlich
so, dass die Ängste der Bürger und Bürgerinnen zugenommen haben: Ängste um ihren Arbeitsplatz, um den
Verlust ihrer Identität, aber auch die Sorge um die Zukunft ihrer Kinder.
Das kennzeichnet auch die Herausforderungen für
Europa, für die Europäische Union. Denn dass die Bürger die EU für notwendig halten, weist darauf hin, dass
sie Erwartungen und Wünsche an die Europäische Union
haben, dass sie Lösungen und Antworten auf die aufgeworfenen Fragen und auf die Herausforderungen erwarten.
Damit sind natürlich der Rahmen der zukünftigen Arbeit und damit auch der Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft gekennzeichnet. Die Frau Bundeskanzlerin
hat ein großes Tableau gezeichnet. Gemessen an der Tatsache, dass eine Ratspräsidentschaft lediglich ein halbes
Jahr dauert, sind die Erwartungen natürlich sehr hoch
und wir müssen vorsichtig sein, um nicht Erwartungen
zu wecken, die dann nicht erfüllt werden können.
Es ist richtig, dass Deutschland in der Vergangenheit
immer wieder gezeigt hat, wie wir die Europäische
Union zusammen mit unseren Partnern voranbringen
können. Nicht zuletzt bei den Verhandlungen über die
Finanzen haben Frau Bundeskanzlerin Merkel und Herr
Außenminister Steinmeier bewiesen, dass wir die Europäische Union voranbringen können.
({0})
Aber wir haben keine finanzielle Wundertüte mehr, wie
wir sie bis zum Ende der 80er-Jahre besaßen, und die
Europäische Union ist vielfältiger und widersprüchlicher
geworden. Man muss heute auch sagen: Im Augenblick
haben wir keinen starken französischen Partner an unserer Seite, der uns helfen kann, die Gegensätze zu überbrücken.
Wir werden die Projekte, die angefangen und noch
nicht erledigt sind, fortsetzen müssen. Wir werden neue
Akzente setzen und Impulse geben. Es ist ganz wichtig
- ich bin froh, dass hierbei bis auf ganz wenige Ausnahmen große Einigkeit im Deutschen Bundestag besteht -,
dass das Verfassungsprojekt vorangebracht wird. Ich
stimme mit der Bundeskanzlerin völlig überein, dass wir
die Verfassung für die Handlungsfähigkeit, für größere
Transparenz und für mehr Bürgernähe brauchen. Mein
Kollege Michael Roth wird anschließend genauere Ausführungen dazu machen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das französische und das niederländische Nein in den Referenden
zur Verfassung waren neben anderen Gründen auch mit
der Erwartung an die soziale Gestaltungskraft der Europäischen Union verbunden. Deswegen ist es wichtig,
dass wir in diesem Feld aktiv bleiben und noch aktiver
werden.
({1})
Sollte die europäische Dienstleistungsrichtlinie bis
zu unserer Ratspräsidentschaft noch nicht verabschiedet
sein - ich hoffe, dass sie es sein wird -, dann wird sich
Deutschland selbstverständlich dafür einsetzen, dass dieses Projekt erfolgreich zu Ende gebracht wird. Für uns
ist dabei klar, dass das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ zur Geltung kommen muss.
({2})
Die soziale Dimension der Europäischen Union kann
im Jahr 2007 in hervorragender Weise angepackt werden, in einem Jahr, das auf europäischer Ebene als Jahr
der Chancengleichheit für alle ausgerufen wird. Es
kommt in der Tat darauf an, dass konkrete Politik gemacht wird, die für die Menschen erfahrbar ist. Dabei
geht es beispielsweise - übrigens sind das auch Faktoren
für Wachstum im wirtschaftlichen Bereich - um Themen
wie Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz. Es geht
um die Arbeitszeitrichtlinie, um die Arbeitsschutzrichtlinie, um Fragen der Leiharbeit und um das Aktionsprogramm „Lebenslanges Lernen“.Hier gibt es eine Reihe
von Möglichkeiten, die notwendige Flexibilität mit der
sozialen Sicherheit für die Bürger und Bürgerinnen zu
verbinden.
Um die Voraussetzungen für Chancengleichheit
schaffen zu können, braucht der Staat allerdings finan2898
zielle Ressourcen. Deswegen müssen wir uns auch dem
Thema „unfairer Steuerwettbewerb“ widmen. Ich bin
froh, dass wir das Projekt der Schaffung einer einheitlichen Bemessungsgrundlage für die Unternehmensbesteuerung weiterverfolgen werden.
({3})
Das historisch gewachsene Zusammenspiel der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Institutionen ist
ein fundamentaler Bestandteil unseres kulturellen europäischen Erbes. Das ist es, was wir soziale Marktwirtschaft oder gelegentlich auch europäisches Sozialmodell
nennen.
Klar ist: Bei der Umsetzung der Wachstumsstrategie
von Lissabon werden wir Sozialdemokraten darauf achten, dass es zu keinen marktradikalen Entwicklungen
kommt, wie sie immer wieder von der FDP eingefordert
werden, sondern dass eine Modernisierung der gewachsenen Strukturen verfolgt wird. Würde hier ein Abbau
betrieben, könnten wir nicht mit einem ökonomischen
Erfolg rechnen, sondern müssten eher negative Abwehrreaktionen befürchten. Wir werden das nationale Reformprogramm zur Umsetzung der Lissabonstrategie
sorgfältig begleiten, damit seine positiven Ansätze auf
dem Frühjahrsgipfel 2007 als Erfolg gewertet werden
können.
Zum Thema Bürokratieabbau ist heute bereits einiges
gesagt worden. Dem möchte ich nur eines hinzufügen:
Es ist sicherlich wichtig, insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen in diesem Bereich zu entlasten.
Dabei darf aber keine blinde Deregulierung stattfinden.
Vielmehr ist eine bessere Gesetzgebung erforderlich, um
die Innovationsfähigkeit dieser Unternehmen zu stärken
und ihnen die Chance zu geben, am Wissens- und Technologietransfer teilzunehmen, den wir auch im Rahmen
der europäischen Forschungsprogramme unterstützen
können.
Frau Merkel hat in den letzten Tagen auf die europäische Energiestrategie hingewiesen. In der Tat ist eine
nachhaltige Energieversorgung, die bezahlbar und sauber ist, eine sehr wichtige Bedingung für den Erfolg der
Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten. Deswegen brauchen wir eine kooperative Energiestrategie, die
mehr bedeutet, als langfristige Lieferverträge abzuschließen. Dazu gehören auch Elemente wie Energieeffizienz und Energieeinsparung sowie die Unterstützung
regenerativer Energien. Auch in diesem Bereich ist die
Europäische Union tätig, um im Interesse einer ökologischen Nachhaltigkeit, aber auch im Interesse der Bewahrung und Schaffung von Arbeitsplätzen, beispielsweise
im Handwerk und in der Landwirtschaft, Erfolge zu erzielen.
Hier muss Deutschland Impulsgeber sein, aber auch
Moderator zwischen den unterschiedlichen Interessen
der großen und der kleinen Staaten, zwischen den Ländern, die in der Zukunft eher den nuklearen, den fossilen
oder den regenerativen Energien eine Chance geben
wollen. Deutschland muss auch Moderator zwischen
Ländern mit unterschiedlichen historischen Erfahrungen
sein. Das hat, wenn ich beispielsweise an unsere Nachbarn Polen und die baltischen Staaten denke, auch mit
der Frage zu tun: Wie viele Kompetenzen sollen auf europäischer Ebene angesiedelt werden und wie viel kann
und muss weiterhin auf nationaler Ebene geregelt werden?
Hier besteht ein Zusammenhang mit dem wichtigen
Feld der Energiesicherheitspolitik, mit der Nachbarschaftspolitik und mit der gemeinsamen Außenpolitik,
der bereits skizziert worden ist. Ich möchte allerdings
betonen, wie wichtig es ist, dass wir diese Politiken mit
den östlichen Nachbarn der Europäischen Union partnerschaftlich weiterentwickeln und uns auf gleicher Augenhöhe begegnen, damit die Menschen in diesen Ländern
die Chance bekommen, an der Entwicklung hin zu Demokratie, Wohlstand und sozialer Sicherheit teilzunehmen, ohne dass damit Souveränitätsabgabe verbunden
ist.
({4})
Wir haben in den nächsten Jahren eine Fülle von Herausforderungen zu meistern: den Beitritt von Rumänien
und Bulgarien, die Beitrittsverhandlungen mit weiteren
Ländern, die Entwicklung einer europäischen Perspektive für den westlichen Balkan. Diese europäische Perspektive muss gesichert sein, aber dabei müssen wir Augenmaß wahren und die Aufnahmefähigkeit der
Europäischen Union berücksichtigen. Deswegen wünschen wir uns, wünschen wir der Bundesregierung, wünschen wir Frau Merkel und Herrn Steinmeier im Vorfeld
und bei der Ausübung der deutschen Präsidentschaft in
der Europäischen Union weitsichtige und kompetente
Partner. Ich bin sicher, dass wir dann gemeinsam erfolgreich für die Zukunft der Bürger und Bürgerinnen in der
Europäischen Union arbeiten können. Diese Erfolge
werden von den Menschen gewürdigt werden und die
Europäische Union wird wieder mehr Akzeptanz bei ihnen finden; da bin ich ganz sicher. An diesen konkreten
Politikfeldern wird sich das zeigen.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Gregor Gysi, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen,
dass die große Leistung der Europäischen Union darin
bestehen kann - und hoffentlich auch darin bestehen
wird -, dass es einen europäischen Frieden gibt, dass die
Jahrhunderte der europäischen Kriege endlich überwunden werden und dass zumindest auf diesem Kontinent
die kriegerische Geschichte ein Ende findet. Dann - so
die Hoffnung - wären die kriegerischen Auseinandersetzungen innerhalb Jugoslawiens, aber auch der völkerDr. Gregor Gysi
rechtswidrige Krieg der NATO gegen Jugoslawien die
hoffentlich letzten Kriege in Europa gewesen. Das wäre
wichtig.
({0})
Sie wissen, dass es in der EU-Verfassung, die von
zwei Völkern mehrheitlich abgelehnt worden ist - darauf
komme ich noch zu sprechen -, auch einen großen militärischen Teil gibt. Ich hätte es noch verstanden, wenn
man die nationalen Streitkräfte durch irgendetwas Europäisches ablösen wollte. Es soll aber alles oben draufgesetzt werden: Die NATO soll bleiben, die nationalen
Streitkräfte sollen bleiben und Europa will auch noch
Streitkräfte. Wozu eigentlich, wenn wir Europäer keine
Kriege mehr führen wollen? Das ist die Frage, die die
Bevölkerungen stellen.
({1})
Frau Bundeskanzlerin, ich hätte heute von Ihnen ein
Wort zu dem Interview erwartet, in dem Verteidigungsminister Jung auf die Frage, ob für unser Militär, die
Bundeswehr, wirtschaftliche Interessen, Versorgungsund Ressourcensicherung eine Rolle spielen, sagte: Ja,
das müsse man offen sagen. - Das ist ein Denken wie in
den früheren Jahrhunderten. Ich will nicht, dass wir noch
Kriege wegen Erdgas, Erdöl und dergleichen führen!
({2})
Das wäre auch grundgesetzwidrig. Wenn Sie die Mütter
und Väter des Grundgesetzes gefragt hätten, ob sie sich
vorstellen könnten, die Bundeswehr zur Durchsetzung
ökonomischer Interessen einzusetzen, hätten sie das völlig zu Recht strikt verneint. Wir sollten uns an das
Grundgesetz halten.
({3})
Bis Maastricht war die Europäische Union darauf
ausgerichtet, die Volkswirtschaften der Länder anzugleichen und sozusagen schrittweise eine ökonomische Gemeinschaft in Europa zu schaffen. Das war auch sehr
sinnvoll. Aber wir müssen uns mit den Änderungen, die
es seit Maastricht gegeben hat, auseinander setzen. Es
war Helmut Kohl, der gesagt hat: Erst die politische
Union, dann die Währungsunion. Als er die politische
Union nicht durchsetzen konnte, hat er sich entschieden,
doch erst die Währungsunion einzuführen. Dafür zahlen
die europäischen Völker noch heute; denn das war der
Beginn der Dumpingstrukturen, mit denen wir es heute
zu tun haben.
({4})
Eigentlich hätten wir vor der Währungsunion die Verfassung gebraucht, über die jetzt diskutiert wird. Wir
hatten aber keine. Immer, wenn man so etwas im Nachhinein einzuführen versucht, wird es kompliziert. Nun
haben wir - zum Teil - einen Binnenmarkt und eine Binnenwährung - auch zum Teil -, aber keine wirkliche politische Verfasstheit. Das ist ein riesiges Problem. Schritt
für Schritt versuchen wir jetzt, das eine oder andere zu
regeln.
Wie lautet denn das Argument, das immer vorgebracht wird, wenn es um die Senkung der Steuern für
Konzerne, Best- und Besserverdienende geht? Das Argument lautet, das sei gerade in einem anderen europäischen Land so gemacht worden, danach müssten wir uns
richten. Das ist organisiertes Steuerdumping, das dazu
führt, dass die Staaten nicht mehr in der Lage sind, den
sozialen und ökologischen Ausgleich zu bezahlen, der
aber dringend nötig ist, und die notwendigen Investitionen vornehmen zu können.
({5})
Wann machen wir endlich Schluss damit? Wann einigen
wir uns in der Europäischen Union endlich und legen
Mindeststeuern fest, die jedes Land erheben muss, zum
Beispiel bei der Körperschaftsteuer? Wir brauchen diesbezüglich eine Verständigung, sonst ist das keine Union.
Wir haben einen Binnenmarkt mit einer Binnenwährung,
die Steuern aber sind völlig unterschiedlich. Die Unterschiede sind viel größer als diesbezüglich zwischen den
Nord- und den Südstaaten in den USA. Das ist nicht zu
verkraften.
({6})
Dadurch haben wir ein Dumping bei Löhnen und bei
sozialen und juristischen Standards. Weil meine Zeit dafür nicht reicht, will ich das nicht näher ausführen. Nur
so viel: Bei der Zulassung der Beschwerde eines Nachbarn gegen einen Bau auf dessen Nachbargrundstück
gibt es gewaltige Differenzen. Es macht aber einen Riesenunterschied, ob Sie einem Investor sagen: „Das kann
acht Jahre dauern“ oder, in einem anderen Land, „Das
dauert ein halbes Jahr“. Darüber muss man sich doch
verständigen, wenn man eine Union sein will.
({7})
Als die Erweiterung der Union anstand, hat man gesagt, man wolle nicht mehr zahlen, man wolle für den
Aufbau der Wirtschaften in Litauen, Slowenien und in
anderen Ländern nicht mehr so viel Geld ausgeben. Das
führte dazu, dass die Union umgerechnet für jeden Iren
122,1 Euro im Jahr zahlt, für jeden Slowenen aber nur
44,4 Euro. Irland ist inzwischen aber das zweitreichste
Land in der Union. Was ist die Folge dessen? Die Folge
ist, dass Dumpingstrukturen entstehen, weil man Slowenien und andere Länder zwingt, über möglichst niedrige Steuern Anziehungskraft auszuüben. Das wirkt sich
negativ in den reicheren Ländern wie Frankreich und
Deutschland aus und führt zu solch negativen Stimmungen, die Sie nicht verstehen und womit Sie sich hier auseinander setzen.
({8})
Sie haben gesagt, bei der Erarbeitung einer Verfassung bräuchten Sie eine Denkpause, Sie müssten in
Ruhe darüber nachdenken. Nun sagen Sie, Sie wollen
die Verfassung so, wie sie ist. Frau Bundeskanzlerin,
Mehrheiten in Frankreich und in Holland haben die Verfassung abgelehnt. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
({9})
Sie können doch nicht einfach sagen: „Wir machen eine
Pause“ und dann die gleiche Verfassung wieder einbrin2900
gen. Man muss sich doch Gedanken darüber machen,
was man ändern muss, um die Mehrheit der Bevölkerungen dafür zu gewinnen, gerade wenn man, wie auch wir,
die Europäische Union will.
Ich fordere Sie auf: Denken Sie neu über den militärischen Teil nach und darüber, wie der Neoliberalismus
aus der Verfassung verdrängt wird.
({10})
- Sie machen hier doch nichts weiter als neoliberale Politik:
({11})
Sie wollen das Rentenalter heraufsetzen. Die Jungen sollen weniger Arbeitslosengeld II bekommen. Die von
Arbeitslosengeld II Betroffenen wollen Sie auf unangenehmste Weise kontrollieren. Der Sparerfreibetrag soll
heruntergesetzt werden. Dann machen Sie eine Reichensteuer, die nicht einmal ein Witz ist. - Das ist die Wahrheit. So wird gegenwärtig Politik organisiert.
({12})
Mit dieser Politik werden Sie den Haushalt nicht konsolidieren, aber die Gesellschaft weiter entsolidarisieren.
Das ist das Problem.
({13})
Wir brauchen eine Europäische Union des Friedens
und der Abrüstung und eine Europäische Union der
Wohlfahrt, aber dies nicht für die 10 Prozent Reichsten
in der Gesellschaft, sondern endlich für die Mehrheit der
Bevölkerungen. Dann wird es auch ein Ja zu einer veränderten und brauchbaren Verfassung für Europa geben,
die wir zweifellos dringend benötigen.
Herr Kollege Gysi, ich weiß, dass Sie jetzt erst die
richtige Betriebstemperatur erreicht haben.
({0})
Das stimmt, Herr Präsident. Ich komme langsam in
Form. Das haben Sie gut erkannt.
({0})
Zum Schluss möchte ich aber noch einen Gedanken
vorbringen: Dann, Frau Bundeskanzlerin, habe ich die
Hoffnung, dass wir eine Jugend erleben, von der wir sagen können, sie habe ein erweitertes europäisches
Selbstbewusstsein. Es wäre doch eine Chance, wenn solche Leute einer europäischen Mannschaft und nicht nur
ihrer Nationalmannschaft die Daumen drücken würden.
Davon sind wir leider noch meilenweit entfernt, aber wir
werden es noch erleben.
({1})
Nächster Redner ist der Vorsitzende der CDU/CSUFraktion, Volker Kauder.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Seit 60 Jahren leben wir Europäer in Frieden.
Diese lange Phase des Friedens ist historisch einmalig.
Schon deshalb ist die europäische Integration eine Erfolgsgeschichte ohne Beispiel.
({0})
Diese Erfolgsgeschichte ist eng verbunden mit den
christlich-demokratischen Baumeistern Europas: Konrad
Adenauer, Alcide de Gasperi, Robert Schuman und
Helmut Kohl. Allerdings ist diese Leistung für die Mehrheit der Menschen selbstverständlich geworden. Daher
fragen sie nach dem Nutzen der Europäischen Union.
Das Dilemma besteht darin, dass ausgerechnet die fundamentalen Errungenschaften der EU - Friede, Versöhnung, Sicherheit und Wohlstand - in der Wahrnehmung
vieler Menschen nicht mehr ausreichen, um den Nutzen
der europäischen Integration darzustellen. Wir alle erleben in unseren Wahlkreisen unmittelbar, wie deutlich der
Unmut gewachsen ist. Nur noch jeder vierte Deutsche
glaubt, dass die Mitgliedschaft in der EU für Deutschland unter dem Strich Vorteile hat. Nur jeder Vierte!
Das liegt auch daran, dass die Menschen mit Sorge
zur Kenntnis genommen haben, dass die EU in den letzten Jahren nach ihrer Auffassung zu schnell gewachsen
ist. Das hat zu strukturellen Schwierigkeiten geführt. Damit die EU ihre Erfolgsgeschichte fortsetzen kann, brauchen wir jetzt dringend eine Phase der Konsolidierung.
Zunächst müssen wir unsere Vorstellungen von Europa
neu definieren und nüchtern fragen: Was ist die EU?
Was soll die EU werden? Welche Aufgaben liegen vor
uns?
Ich sehe eine zentrale Aufgabe der EU in der inhaltlichen Vertiefung. Es ist deshalb richtig, wenn die Bundeskanzlerin sagt, dass die EU nicht unbegrenzt wachsen
kann. Daraus folgt eine klare Erkenntnis: Der Wunsch
eines Landes nach Aufnahme in die Europäische Union
muss auch mit der Aufnahmefähigkeit der EU in Übereinstimmung gebracht werden.
({1})
Wichtiger als Konferenzen zur Seele und zur Identität
Europas ist, dass wir uns kritisch den gegenwärtigen Zustand der Europäischen Union anschauen und fragen: Ist
es gut so? Hier - da hat die Bundeskanzlerin völlig
Recht - müssen wir die EU so beim Wort nehmen, wie
es im Verfassungsvertragsentwurf steht. Nur die Aufgaben, die die Nationalstaaten allein nicht mehr regeln
können, dürfen auf europäischer Ebene behandelt werden. Das ist der Kern von Subsidiarität und diesen Kern
müssen wir europarechtlich verankern. Wir benötigen
daher eine klare Abgrenzung von Verantwortungsbereichen, so wie sie durch die europäische Verfassung angestrebt wird. Wir können nicht zulassen, was gerade in
diesen Tagen vom Präsidenten der EU-Kommission wieder formuliert worden ist, nämlich dass die Europäische
Kommission immer wieder nach neuen Kompetenzen
greift. Das untergräbt die politische Legitimität der EU.
({2})
Nur um zwei Beispiele zu nennen: Was hat die Europäische Kommission mit den deutschen Naturschutzgebieten zu schaffen
({3})
oder mit der Frage, ab welcher Außentemperatur Arbeitnehmer frei bekommen? Immerhin ist diese irrsinnige
„Sonnenscheinrichtlinie“ inzwischen entschärft worden.
Auf den Einwand, dass es ohne die EU diese Gebiete
nicht gäbe, muss ich Ihnen sagen: Ich glaube, dass der
Deutsche Bundestag und die deutschen Bundesländer
sehr wohl in der Lage sind, in eigener Kompetenz die
Naturschutzgebiete in unserem Land festzulegen.
({4})
Dazu brauchen wir keine europäische Richtlinie.
({5})
Die Europäische Kommission sollte sich eher darauf
konzentrieren, Regulierungen auf den Prüfstand zu stellen und sie abzubauen, wenn sie nicht notwendig sind.
Nicht Bürokratieaufbau, sondern Bürokratieabbau muss
zum Markenzeichen der Europäischen Union werden.
Deutschland hat eine besondere ordnungspolitische
Verantwortung für Europa. Subsidiarität bedeutet für
alle Ebenen mehr Freiheit. Diese Freiheit müssen wir ermöglichen, weil die sichtbare Zurechenbarkeit von politischer Verantwortung die EU transparenter, verständlicher und insgesamt handlungsfähiger macht. Mit diesem
Mehr an Freiheit und dem Mehr an Transparenz bringen
wir die Europapolitik wieder näher an die Menschen und
das ist dringend notwendig.
Nahe bei den Menschen ist auch der individuelle Nutzen der europäischen Integration. Wenn wir uns die Exportzahlen anschauen, stellen wir fest: Zehntausende Arbeitsplätze bestehen in Deutschland allein dadurch, dass
die neuen Mitgliedstaaten viel mehr Waren aus Deutschland einführen, als sie hierher exportieren. Durch das integrierte Europa können also Arbeitsplätze entstehen.
Ich bin außerordentlich dankbar, dass es jetzt in Europa
gelungen ist, zu sagen: Arbeitsplätze sollen am jeweiligen Ort entstehen. Europäische Fördermittel sollen nicht
dazu genutzt werden, von einem Land ins andere Land
transportiert zu werden.
({6})
Auch dies ist heute in der Regierungserklärung der
Bundeskanzlerin deutlich geworden: Wir alle müssen
der EU mehr Beachtung schenken. Die Themen und Entscheidungsprozesse in Brüssel verdienen mehr öffentliche Aufmerksamkeit; denn kritische Aufmerksamkeit
zwingt zu Transparenz: Was wird entschieden? Welche
Auswirkungen hat das? Welches sind die deutschen Interessen? - Was man erreichen kann, wenn man sich frühzeitig um die Themen und die Entwicklungsprozesse in
der Europäischen Kommission - ich nenne nur die Entsenderichtlinie und die Dienstleistungsrichtlinie - kümmert und darauf Einfluss nimmt, haben wir in diesen Tagen auch durch den Einsatz der Bundesregierung erlebt.
Genau so muss es gemacht werden.
({7})
Wenn die Dinge erst beschlossen sind und den nationalen Parlamenten vorgelegt werden, können wir sie nicht
mehr richten.
({8})
Wir müssen schneller erfahren, welche Aufgaben aus
Brüssel auf uns zukommen. Deshalb wird der Deutsche
Bundestag ein Verbindungsbüro in Brüssel einrichten.
Wir müssen einfach schneller und dichter am Ball sein
und in Brüssel deutlich machen: Der Deutsche Bundestag ist nicht Vollstrecker der Brüsseler Bürokratie, sondern Mitgestalter europäischer Politik. Auch dafür sind
wir in die nationalen Parlamente gewählt worden.
({9})
Frau Bundeskanzlerin, wir werden Sie und die Bundesregierung deshalb dabei unterstützen, europäische
Fehlentwicklungen rechtzeitig zu verhindern und dafür
zu sorgen, dass Richtlinienentwürfe dann nicht auf den
Weg gebracht werden, wenn sie nicht notwendig sind
und wenn sie unseren Interessen nicht entsprechen. Wir
werden uns also früher und mehr um Brüssel kümmern,
sehr viel mehr, als es in der Vergangenheit geschah. Nur
so können wir mitgestalten.
({10})
Die Europäische Union hat Kompetenzen an sich gezogen, die besser bei den individuellen Mitgliedstaaten
aufgehoben wären. Dort aber, wo die Handlungsfähigkeit der EU wirklich gefragt ist, sind die Fortschritte
durchaus noch ausbaufähig. Die Bundeskanzlerin hat ein
zentrales Thema angesprochen, die europäische Außenund Sicherheitspolitik. Sie hat völlig zu Recht darauf
hingewiesen, dass bezogen auf die Frage „Was ist auf
dem Balkan geschehen und wie haben wir reagiert?“
nicht die Außenpolitik der EU versagt hat. Das Problem
war vielmehr, dass sich die Nationalstaaten, die noch gar
keine EU-Politik formuliert haben, nicht rechtzeitig und
richtig haben einigen können. Deshalb ist die Frage, wie
die Europäische Union Außenpolitik gestalten und mit
einer Stimme sprechen kann - ich nenne beispielhaft nur
das uns so berührende Thema: Wie gehen wir mit dem
Iran um? -, von zentraler Bedeutung. Nicht die Sonnenscheinrichtlinie ist die Zukunft der EU, sondern die außenpolitische Handlungsfähigkeit - das ist die Zukunft.
({11})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die EU hat
eine enorme Anziehungskraft nach außen. Diese Ausstrahlung verschafft Autorität und hat bisher erfolgreich
Stabilität, Wohlstand, Demokratie und Sicherheit verbreitet. Dabei waren die Erweiterungen der EU notwendig und sinnvoll und nicht Ausfluss einer Gefälligkeitspolitik. Die Länder müssen fit für Europa sein;
darauf hat die Bundeskanzlerin hingewiesen. Deswegen
sage ich hier, Frau Bundeskanzlerin: Jawohl, Rumänien
und Bulgarien gehören zu Europa. Ich sage Bulgarien
und Rumänien aber auch: Im Schlussspurt gibt es noch
etwas tun. - Wir werden den Fortschrittsbericht ganz genau anschauen. Bulgarien und Rumänien haben jetzt
noch Zeit, einiges zu verändern. Die Voraussetzungen
für Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit müssen auf dem
Weg nach Europa gewährleistet sein.
({12})
Es ist auch richtig, dass wir angesichts der Größe der
EU in Zukunft kreativ sein müssen, wenn es darum geht,
neue Formen außenpolitischer Zusammenarbeit zu entwickeln. Eine vernünftige Nachbarschaftspolitik - das
wurde bereits formuliert - ist eine wichtige Zukunftsaufgabe für die Union. Bei der weiteren Entwicklung der
Union sind wir uns aber durchaus auch unserer gemeinsamen Werte der Aufklärung, des christlichen Menschenbildes und unserer Begabung zur Freiheit bewusst.
Deshalb ist es auch richtig, dass diese Grundpositionen
in einem EU-Verfassungsvertrag angesprochen werden.
Das sind aus unserer Sicht konstituierende Elemente für
eine Europäische Union.
Wer glaubt, etwas zu sein, hat aufgehört, etwas zu
werden.
Diese Einsicht von Sokrates hat auch für die Europäische Union Bestand.
({13})
Ungeachtet der Denkpause für Europa - der Status quo
ist keine Lösung. Die EU muss ihre Fähigkeit, Probleme
zu lösen, auf einer neuen Stufe beweisen. Dann wird
auch ihr Nutzen wieder deutlicher sichtbar werden und
die Europäische Union wird eine größere Zustimmung
durch die Menschen erfahren.
Zum Schluss möchte ich uns allen eine kluge Mahnung des Verfassungsrichters Udo di Fabio mitgeben:
Nicht nur der freiheitliche Nationalstaat, sondern
auch die Europäische Union ist kein Selbstzweck,
sondern um der Menschen willen und ihrer Würde
und Freiheit wegen da.
({14})
Das Wort erhält nun die Vorsitzende der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen, Renate Künast.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Verlaub, Frau Bundeskanzlerin, mir war diese Regierungserklärung in Sachen Europa zu wenig.
({0})
Das war eine Art abstraktes Gemälde. Es war mir aber
zu abstrakt. Wenn Sie entlang der Straße Unter den Linden zur Humboldt-Universität gehen, dann können Sie
dort im Eingangsfoyer einen Satz von Marx lesen. Dort
steht:
Die Philosophen haben die Welt nur unterschiedlich
interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern.
Sie haben heute nur interpretiert und nicht konkret gesagt, was Sie verändern wollen.
({1})
Ich muss allerdings sagen, dass ich froh darüber bin,
dass Sie sich mit dieser Verve positiv für Europa positionieren. Es fehlt nur noch, dass Sie auch Herrn Kauder an
dieser Stelle überzeugen. Warum? Wir alle haben noch
in Erinnerung, wie gerade die CDU/CSU in den letzten
Jahren systematisch Emotionen gegen die Europäische
Union geschürt hat.
({2})
- Sie können ruhig lachen. Sie haben sie systematisch
geschürt. Das war im Prozess hin zu Europa zu keinem
Zeitpunkt hilfreich.
({3})
Es geht nicht nur um Bürokratieabbau und Ähnliches.
Die Leitfrage an dieser Stelle muss lauten: In welchem
Europa wollen wir leben? Das ist die Frage, auf die die
Menschen eine Antwort haben wollen. Was sollen sie im
Herzen fühlen, wenn es darum geht, warum dieses Europa existiert und warum sie dafür Steuern zahlen? Es
geht darum, dass wir in dieser kleinen politischen Krise
der Europäischen Union - so kann man es nennen neue Ziele und Visionen setzen und eine nächste Zündungsstufe erreichen. Es muss den Menschen aber auch
etwas bringen. Ich sage - frei nach von Jacques
Delors -: Die Menschen verlieben sich eben nicht in einen gemeinsamen Markt, sondern nur in das Wissen darum, dass es ihnen persönlich im Alltag und für die Zukunft ihrer Kinder etwas bringt.
({4})
Es reicht nicht, zu sagen, wie - und warum - sich die
Europäische Union entwickelt. Wir sind von den Rohstoffen Kohle und Stahl sowie von den besonderen Interessen einiger Länder an der Landwirtschaft ausgegangen. Wir müssen aber über den Rohstoff der Zukunft reden. Die wichtigsten Rohstoffe der Zukunft sind
Energie, Bildung und Forschung. Darüber haben Sie
zu wenig geredet.
({5})
- Das Soziale leitet sich daraus ab. Sie werden es merken, wenn Sie genau hinschauen. Die Rohstoffe heißen
Energie, Bildung und Forschung. Das sind die Zukunftsfragen. Auf diese Fragen brauchen wir europaweit Antworten. Dabei kann und muss uns auch der Verfassungsvertrag helfen.
Ich habe mit Freude gehört, Frau Merkel, dass Sie gesagt haben: Die Europäische Union braucht eine neue
Begründung. - Sie müssen dann aber auch sagen, was
das sein soll. Das ist mehr als Ihr Satz: Wir müssen die
Globalisierung nach unseren Werten gestalten. - Sie
müssen auch sagen, welche Werte Sie meinen. Dabei
geht es nicht einfach um die Freiheit, weltweit Geld zu
investieren. Es geht auch nicht einfach um die Freiheit
großer Unternehmen, sich überall in der Welt niederzulassen und sich dies durch die WTO absichern zu lassen.
Wir sagen: Die Europäische Union muss dafür stehen,
dass das Leben und die Gesundheit eines jeden Menschen, die sozialen Aspekte und auch der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen in der EU und im internationalen Handel abgesichert werden.
({6})
Die EU hat in vielen Bereichen keine guten Beschlüsse gefasst und Entscheidungen getroffen. Frau
Merkel hat zum Beispiel über die Dienstleistungsrichtlinie geredet. Ich meine, dass die Dienstleistungsrichtlinie kein Beispiel für einen guten Kompromiss ist. Das
Schlimmste haben wir zwar verhindert, aber ein wirklich
guter Kompromiss ist das immer noch nicht.
({7})
Beispielsweise sind die Kompromisse bei REACH das
Ergebnis aggressiver Lobbyarbeit und der Falschaussagen der Chemielobby. Auch dies ist kein guter Kompromiss.
({8})
Wir können und dürfen in Europa nicht auf bessere
Zeiten warten, sondern wir müssen jetzt etwas tun. Wir
brauchen eine Kultur der Exzellenz im Bildungsbereich im Wettbewerb um die klügsten Köpfe. Aber in einer solchen Exzellenz müssen sich alle, nicht nur Eliten
entwickeln können.
({9})
Wir wollen beim Bürokratieabbau gerne mitmachen.
Aber, Frau Merkel, Bürokratieabbau darf nicht heißen,
Standards abzubauen. Die europäischen Standards für
die Umwelt und das Soziale sind keine Knebelung, vielmehr dienen sie den Zielen der Europäischen Union, damit die Menschen gesund leben können und auch nachfolgende Generationen eine gesunde Umwelt haben.
({10})
Das von Ihnen gezeichnete Gemälde der Europapolitik war viel zu abstrakt, weil Sie zum Beispiel über Wettbewerb reden, aber nicht sagen, wie es mit der Lissabonstrategie weitergeht. Die EU will weltweit zu einer
der wettbewerbsfähigsten Regionen werden. Aber im
Energiebereich sind wir davon meilenweit entfernt.
Überall auf der Welt dreht sich alles um Energie. In
Russland, China, Indien oder auch in Südamerika hat
man entweder die entsprechenden Rohstoffe oder sichert
sie sich mit Verträgen auf Jahrzehnte hinaus.
Unsere Wirtschaft leidet unter den hohen Rohstoffpreisen. Die Verbraucher haben im wahrsten Sinne des
Wortes die Schnauze voll, wenn sie regelmäßig steigende Rechnungen bezahlen müssen. Sie aber haben
nicht gesagt, wie die Energiepolitik aussieht. Die Europäische Union braucht eine neue Energiekultur. Nur so
kann diese Lücke geschlossen werden.
({11})
Das heißt für uns, bis 2020 brauchen wir eine neue
Energiekultur, mit der Europa zur energieeffizientesten
Region der Welt wird. Alle Maßnahmen, die wir in Europa treffen, und alle Ausgaben müssen sich an diesem
Ziel messen lassen. Das können wir nicht aufschieben.
({12})
Wir brauchen - das sage ich, weil Frau Merkel die
ganze Zeit über von der Verbindung von nationalen und
europäischen Elementen geredet hat - nicht einfach nur
immer mehr Gipfel, auf denen viel geredet wird, aber am
Ende nichts Konkretes herauskommt. Lassen Sie mich
dazu Goethe zitieren: „Über allen Gipfeln ist Ruh“.
({13})
- Da sehen Sie: Quer durch Deutschland können wir auf
Zitate zurückgreifen, Herr Kollege. Das ist der Neid der
Bildungsbürger, oder?
Wir brauchen Gipfel, die zu einem Ergebnis führen.
Die Menschen müssen merken: Die Gelder werden nicht
mehr für veraltete Strukturen in der EU ausgegeben.
Frau Merkel ist einmal hinter Tony Blair hergelaufen
und hat mit Verve gerufen, dass zu viel Geld für die
Agrarwirtschaft und zu wenig für Zukunftsaufgaben ausgegeben wird. - Was ist denn heute mit diesem Satz? Wo
haben Sie denn gefordert, die Gelder anders auszugeben?
Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen. Wenn wir über
eine neue Bildungs- und Forschungspolitik reden, weil
jedes Kind in Europa - egal wo und egal, wie viel Geld
die Eltern in der Tasche haben - einen wichtigen Rohstoff darstellt, dann brauchen wir an dieser Stelle neuen
Schwung; dann müssen Bildung und Forschung neu ausgerichtet werden.
Wir müssen - sozusagen in einer Kultur der Exzellenz in Europa das Auto entwickeln, das ohne Öl angetrieben
wird, und es weltweit vermarkten. Aber dann müssen im
Siebten Forschungsrahmenprogramm auch endlich neue
Prioritäten gesetzt werden. Man muss vorrangig moderne Technologien unterstützen, zur schnellen Reduktion von CO2-Emissionen beitragen, sich um den größten Einspareffekt durch mehr Effizienz bemühen und
klar sagen, dass es nicht angeht, den obsoleten Eura2904
tomvertrag noch mit weiteren Forschungsgeldern zu
bedenken. 4,8 Milliarden Euro in Euratom zu investieren, ist falsch; sie müssen stattdessen in erneuerbare Energien und in eine Effizienzstrategie investiert
werden.
({14})
Eines ist klar: Der Atomausstieg in Deutschland ist
richtig. Was aber in Deutschland richtig ist, darf nicht in
der Europäischen Union konterkariert werden. Dabei
sind Sie, Frau Merkel, und diese Bundesregierung gefordert, sich nicht darauf zurückzuziehen, dass in Deutschland bis 2009 der Koalitionsvertrag gilt, während in der
europäischen Politik genau das Gegenteil gemacht wird.
Die Zukunft auch der Lissabonstrategie liegt darin,
dass wir uns in der Energiepolitik weiterentwickeln.
Deshalb müssen die Investitionen verlagert werden.
Sie haben über internationale Aufgaben geredet.
Diese bestehen aber nicht nur in der allgemeinen Feststellung, wir würden unsere Werte Glück bringend weiterverbreiten. Im nächsten Jahr ziehen wir fünf Jahre
nach dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in
Johannesburg eine Zwischenbilanz. Dabei geht es auch
um die Aufgaben, zum Beispiel um die klare Verpflichtung - auch dieser Bundesregierung -, Millionen von
Menschen aus der Armut zu befreien, das heißt, mehr in
Entwicklungshilfe zu investieren und die europäische
Außen- und Sicherheitspolitik entsprechend auszurichten. Es geht um nachhaltige Entwicklung und Krisenprävention, auch bei der G-8-Präsidentschaft. Es geht vor
allem darum, weitere Beiträge zu leisten, damit die Doharunde tatsächlich eine Runde für die Entwicklungsländer wird.
Ich habe Ihrer Regierungserklärung genau zugehört
und war froh, dass Sie nicht in alter CDU-Manier davon
gesprochen haben, dass das Boot voll sei.
({15})
Diese Mentalität hat zwar Herr Kauder ein bisschen aufgegriffen, aber nicht die Bundeskanzlerin. Das war in ihrer Rede positiv.
Es geht bei den neuen Aufgaben um die Weiterentwicklung der europäischen Nachbarschaftspolitik für
all diejenigen, die wir zumindest heute nicht aufnehmen
können. Aber dann sollten wir nicht so tun, Frau Merkel,
als würden wir den anderen einen Gefallen tun. Vielmehr haben die Europäische Union und auch Deutschland ein vehementes und elementares Interesse an solch
einer neuen Nachbarschaftspolitik: denn wir wollen,
dass die Länder, die aus alten Systemen herausgefallen
sind, eine Perspektive bekommen und sich orientieren
können. Lassen Sie uns also ehrlich sagen: Die Europäische Union muss auch dann, wenn ihr nicht alle beitreten
können, gegenüber den Nachbarn mit offenen Armen dastehen.
({16})
Wir müssen unsere internationale Politik ausbauen.
Lassen Sie mich noch auf eines hinweisen: Die europäische Außen- und Sicherheitspolitik muss sich in
diesen Tagen an zwei Bereichen messen lassen. Das eine
ist das Thema „Kongo“, über das wir demnächst auch
hier diskutieren werden. Ich halte es für richtig, dass die
Europäische Union auf die Bitte der UN eingeht, im
Kongo einen demokratischen Prozess zu organisieren und
zu unterstützen. Es wird aber im Zusammenhang mit dem
Kongo auch um die Frage gehen, was wir darüber hinaus
tun. Wie helfen wir beim Ausbau der dortigen Sicherheitsstrukturen? Wie helfen wir bei der Bekämpfung der
Korruption und wie helfen wir, dass der Nutzen der
wertvollen Bodenschätze der Bevölkerung statt irgendwelchen Eliten oder anderen Staatsangehörigen zugute
kommt?
({17})
Ich habe die Rede der Kanzlerin auch in einem anderen Zusammenhang - ich denke dabei an den Iran - genau verfolgt. Europa muss zeigen, dass es die internationale Politik gegenüber dem Iran bestimmen kann. Wir
wollen keine militärische Lösung. Wir wollen das, was
im Irak passiert ist, nicht noch einmal erleben. Wir wissen darum, dass wir immer für die Existenz Israels stehen und eintreten wollen. Wir müssen an der Stelle eine
Leistung bringen: Wir müssen ein Anreizpaket schaffen.
Europas Aufgabe besteht darin, dem Iran klar zu machen, dass wir ihm sozusagen die „Carrots and Sticks“
hinhalten und dass Europa immer dafür sorgen wird
- nur dann wirkt diese Maßnahme -, dass alle Länder
gemeinsam hinter diesem Anreizpaket stehen werden.
Nur dann haben zivile Lösungen eine Chance und nur
dann wird der Druck entsprechend stark.
({18})
Mein letzter Satz. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben
viel von mehr Transparenz und Kontrolle in Europa gesprochen. Ich sage Ihnen an dieser Stelle eines: Es gibt
einen Punkt, an dem Sie beginnen können. Es geht in
Europa nicht nur um die Frage, wer verantwortlich ist
- das Europäische Parlament oder die nationalen Parlamente -, sondern auch um die Frage, wer wie viel Geld
erhält. Ich fordere Sie daher auf: Unterstützen Sie die
Transparenzinitiativen der Kommission! Europa
kommt nur weiter, wenn wir die finanziellen Mittel umschichten. Der erste Schritt dahin ist, für mehr Transparenz zu sorgen, sodass man weiß, wer in Europa etwas
von den satten Geldern erhält. Ich weiß, dass das die
Landwirte, zumindest die großen, treffen wird. Aber das
wäre der erste Schritt. Dann wären Sie mit einem Verfassungsvertrag, mehr Transparenz und einer neuen international verantwortlichen Politik auf dem richtigen Weg.
({19})
Frau Kollegin Künast, ich bin immer ganz beeindruckt, wenn nach Überschreiten der Redezeit der letzte
Satz angekündigt wird, und wäre noch mehr erleichtert,
wenn er in der Nähe der Ankündigung tatsächlich erfolgte.
Präsident Dr. Norbert Lammert
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Michael Roth für die
SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Europa, die Europäische Union braucht endlich wieder
mehr Mut und weniger Verzagtheit und Kleingläubigkeit. Ich störe mich ein wenig daran, wie pessimistisch
und verdrossen wir über das große Projekt Europa reden
und wie wenig wir bereit sind, mit den Bürgerinnen und
Bürgern ins Gespräch darüber zu kommen,
({0})
warum es sich lohnt, Europa stark, handlungsfähig, demokratisch und zukunftsfähig zu machen. Nur so kann
ein Aufbruch entstehen, und zwar sowohl in Deutschland als auch in ganz Europa. Ich frage mich manchmal,
wo in Europa, in den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union, diejenigen sind, die zu Erneuerung und Veränderung bereit sind? Wo sind die Politikerinnen und Politiker, die die Krise, in der wir uns befinden, als eine
Chance verstehen?
Der Kollege Kauder hat eben große Christdemokraten
angesprochen. Ich möchte ein paar Sozialdemokraten erwähnen, und zwar nicht nur Willy Brandt und Helmut
Schmidt, sondern auch Jacques Delors - ihn hat schon
Frau Künast erwähnt -, François Mitterrand und Olof
Palme. Sie alle sind Männer - leider ist noch keine Frau
darunter -, die nach vorne geschaut haben, die Visionen
hatten und die sich auch dem Mainstream entgegengestellt haben. Solche Politiker brauchen wir in der Europäischen Union wieder.
({1})
Ich hoffe, dass solche Männer und Frauen auch im Bundestag und auf der Regierungsbank sitzen.
Nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und
den Niederlanden ist man nicht müde geworden, den
Menschen einzureden, dass nun in Europa kleine Brötchen gebacken werden müssten. Welch ein Unsinn! Seit
wann haben Kleinmut und Verzagtheit zu neuen Ufern
geführt? Deutschland hat sich im Übrigen immer, auch
und gerade in schwierigen Zeiten, als Motor eines demokratischen, handlungsfähigen und solidarischen Europas
verstanden. Auch unsere Partner erwarten das von uns.
Sie erwarten von uns neue Ideen. Wir pflastern im Moment die ganze Hauptstadt mit den etwas merkwürdig
anmutenden Installationen zum Thema „Land der
Ideen“. Nun zeigen wir doch einmal, dass wir wirklich
ein Land der Ideen sind, dass wir bereit sind, Europa
nach vorne zu bringen. Wir dürfen uns nicht nur zurückhalten und in Passivität üben.
({2})
- Es liegen schon zahlreiche Vorschläge vor. Auf ein
paar werde ich noch zu sprechen kommen.
Es stimmt zwar, dass die europäische Verfassung in
zwei Staaten keine Zustimmung gefunden hat. Aber vergessen wir nicht: In 15 Staaten hat es eine ganz klare
Mehrheit dafür gegeben. Diese 15 Staaten repräsentieren
die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union. Erst vorgestern hat Estland ein ganz
klares Zeichen gesetzt. Finnland erwägt, die europäische
Verfassung zu ratifizieren, genauso wie Portugal. Das ist
wahrer Mut und wahres Verantwortungsbewusstsein. So
macht man die so genannte Reflexionsphase zu etwas
Wertvollem und signalisiert: Die Verfassung ist nicht tot.
Dieses Verfassungsprojekt hat eine Zukunft.
({3})
Ich weiß, dass auch bei uns im Bundestag die Verfassungsdebatte allzu oft missverstanden wurde. Viele hielten sie für eine kleinkarierte Debatte, für Glasperlenspiele von Juristen und Politologen. Sie fragten sich, was
eigentlich die Botschaft sei, die hinter dieser Verfassung
stehe. Es geht dabei nicht nur um Institutionen und um
Strukturen. Darauf hat die Bundeskanzlerin hingewiesen. Es geht um die große Frage, wie wir Globalisierung demokratisch gestalten und wie wir uns in den Prozess der Globalisierung einbringen können. Das geht
nicht, indem wir Ängste schüren wie die PDS, sondern
indem wir deutlich machen, dass die Politik es schafft,
den Menschen nach innen und nach außen Sicherheit zu
geben und auch soziale Sicherheit zu schaffen. Das ist
unser großes Projekt.
Wir müssen endlich den Beweis erbringen, dass Vertiefung und Erweiterung zwei Seiten derselben Medaille
sind.
({4})
Die EU hat sich aus guten Gründen erweitert. Wir haben
die Teilung Europas überwunden. Jetzt müssen wir mit
der Vertiefung voranschreiten. Eine immer größer werdende Europäische Union braucht mehr Demokratie, sie
braucht handlungsfähige Strukturen und sie muss außenpolitisch - da hat Herr Kauder völlig Recht - mit einer
Stimme sprechen und einheitlich handeln. Da haben wir
noch verdammt viel zu tun.
Die Verfassung gibt nicht in allen Bereichen ausreichende Antworten. Sie ist aber ein wichtiger Schritt nach
vorne. Wenn man die Verfassung mit den Ergebnissen
der Regierungskonferenzen von Amsterdam und Nizza
vergleicht, dann stellt man fest, dass sie ein großer
Schritt nach vorne gewesen ist, den die Parlamentarierinnen und Parlamentarier des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente ermöglicht haben.
Ich bin durchaus bereit, darüber zu streiten, ob es zu diesem Verfassungsvertrag nicht möglicherweise Ergänzungen geben kann, um die Kernbotschaften der Verfassung,
die anders lauten, als Sie, Herr Gysi, es dargestellt haben, zu schärfen. Kritik kann aufgenommen werden. Es
kann durchaus eine Erklärung zur sozialen oder kulturellen Identität aufgenommen werden, die Präambel kann
revidiert oder es können Teile aus der Verfassung herausgelöst werden, die nicht zwangsläufig in eine Verfassung gehören. Lassen Sie uns darüber reden! Lassen
Michael Roth ({5})
Sie uns deutlich machen, dass wir den politischen Willen
dazu haben! Danach können uns Juristinnen und Juristen
erklären, ob das alles zu machen ist. Wir brauchen zunächst einmal einen Schritt nach vorne und die Botschaft, dass wir dieses Projekt wirklich realisieren wollen.
({6})
Acht Kolleginnen und Kollegen hatten in dieser Woche Gelegenheit, an der Konferenz des Europäischen
Parlaments und der nationalen Parlamente in Brüssel
teilzunehmen. Ich war hocherfreut, zu sehen, dass es unter den Abgeordneten ganz viele Freundinnen und
Freunde dieses Verfassungsprojekts gibt, gerade aus den
Ländern, in denen es keine Mehrheit - noch keine Mehrheit - für das Verfassungsprojekt gegeben hat. Darauf
sollten wir aufbauen.
Die Grundsatzdebatte wird durch einen Beitrag der
EU-Kommission ergänzt. Sie hat sich gestern dazu geäußert. Sie will Ergebnisse für Europa liefern. Ich hätte mir
von der Europäischen Kommission mehr Selbstkritik gewünscht. Die ursprünglichen Vorschläge der Kommission zur Dienstleistungsrichtlinie - Stichwort Bolkestein haben zum Glaubwürdigkeitsverlust der EU beigetragen, weil nicht deutlich wurde, dass eine Vervollkommnung des Binnenmarktes auch Solidarität bedeutet. Wir
dürfen den Binnenmarkt nicht in dem Sinne vervollkommnen, dass Lohndumping betrieben wird und soziale Standards in den Mitgliedstaaten gefährdet werden.
Das ist die Botschaft. Ich hoffe, dass die Kommission
diese Botschaft, die von den Menschen und den nationalen Parlamenten kam, verstanden hat.
({7})
Auch von einigen nationalen Regierungen hat es Zustimmung für die Vorschläge der Kommission gegeben.
Auch ihnen gegenüber ist Kritik angebracht. Zu dieser
Kritik gehört auch Selbstkritik. Wir tun oft so, als
komme das Gute nur aus den nationalen Hauptstädten
und das Schlechte immer aus Brüssel. Das ist falsch.
Kein einziges Gesetz kommt in der EU zustande, ohne
dass die nationalen Regierungen im Rat mitwirken. Wir
sitzen bei der europäischen Gesetzgebung immer mit im
Boot. Wir sollten den Leuten keinen Sand in die Augen
streuen, sondern deutlich machen, dass wir ein ganz
wichtiger Partner dieses Europas sind. Die nationalen
Hauptstädte gehören unverzichtbar zu Brüssel.
Wir kennen das Spiel: Früher hat man bei Ratlosigkeit
einen Arbeitskreis gegründet, heute eröffnet man eine
Denkpause. Das ist die so genannte Reflexionsphase.
Diese soll verlängert werden. Ich bin skeptisch. Offensichtlich verstehen viele unter einer Denkpause nicht
eine Pause zum Denken, sondern eine Pause vom Denken. Wir sollten jetzt deutlich machen, dass zu dieser
Reflexionsphase Ideen und die Bereitschaft, sich zu
streiten, gehören. Das fehlt mir.
({8})
Ich danke der Bundeskanzlerin und dem Außenminister dafür, dass sie sich für die Verfassung einsetzen.
Auch die EU-Kommission sollte die Initiative ergreifen
und in die Offensive gehen. Was sie momentan aber betreibt, ist „Rosinenpickerei durch die Hintertür“. Es ist
zwar sachlich richtig, dass die Europäische Union perspektivisch mehr Kompetenzen im Bereich der sozialen
Sicherheit und bei der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit braucht - sicherlich geht es auch um ein
besseres Miteinander zwischen den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament -; aber jetzt zu
fordern, der europäischen Ebene neue Kompetenzen zukommen zu lassen, ist verantwortungslos. Wir halten einen solchen Schritt nur dann für verantwortbar, wenn
dieses Verfassungsprojekt als Ganzes durchgesetzt wird.
Denn eine Verlagerung zusätzlicher Kompetenzen auf
die europäische Ebene ist nur in Verbindung mit Ratsreformen akzeptabel, zum Beispiel dem Prinzip der doppelten Mehrheit, und einem gestärkten Europäischen
Parlament. Nur wenn das gegeben ist, können wir der
Abwanderung von weiteren Kompetenzen auf die europäische Ebene zustimmen. Wir sollten uns dagegen wehren, dass die Kommission durch die Hintertür die Aufweichung dieses Verfassungskompromisses betreibt.
({9})
Herr Kollege Roth, schauen Sie bitte gelegentlich auf
die Uhr.
Frau Bundeskanzlerin, zum Schluss möchte ich gern
noch eine Bitte äußern. Wie der Kollege Kauder eben
schon angesprochen hat, stehen Bundestag und Bundesregierung in Verhandlungen darüber, wie wir die Mitwirkungs-, die Mitentscheidungs- und auch die Kontrollmöglichkeiten des Bundestages ausweiten können.
Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn Sie, Frau
Bundeskanzlerin, die Verhandlungsführer der Bundesregierung, nämlich Staatsminister Gloser und Staatssekretär Hintze, bei dieser Arbeit unterstützten.
Wir brauchen eine parlamentsfreundliche Regelung.
Mehr Rechte für das deutsche Parlament bedeuten nicht
mehr Blockaden, sondern ein höheres Maß an Legitimation für europäische Entscheidungen, ein Stück mehr
Verantwortung für den Bundestag und auch unsere Verpflichtung, Europapolitik endlich ernster zu nehmen, als
wir es in den vergangenen Jahren getan haben. Ich wünsche mir mehr Mut, mehr Entschlossenheit. Vielleicht
kann auch die heutige Debatte einen kleinen Beitrag
dazu leisten.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Christian Ahrendt für
die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir haben jetzt viel zum Thema
„europäische Verfassung“ gehört. Wir haben in dieser
Woche lesen müssen - wir haben auch in der Regierungserklärung heute Morgen nichts dergleichen gehört -,
dass die Bundesregierung keine Initiative plant, den EUVerfassungsprozess neu zu beleben. Ich halte dies für
unverständlich. Es ist vielleicht aus Sicht der Bundesregierung verständlich, sich auf den Standpunkt zu stellen,
dass dieser Verfassungsprozess derzeit nicht von Erfolg
gekrönt ist und dass eine neue Initiative daher keinen Erfolg haben kann. Ich glaube, dass das ein Irrtum ist. Europa - weniger Deutschland - braucht vielmehr gerade
das, was die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung im letzten Jahr hier vorgetragen hat: Es sind die berühmten kleinen Schritte, die uns in Europa weiterbringen. Diese Schritte müssen gewagt werden.
Die EU-Verfassung ist in erster Linie daran gescheitert, dass sie eine Verfassung für Politiker, für Verwaltungen und weniger eine Verfassung für Menschen ist.
Sie ist letztendlich auch dort gescheitert, wo sie den Bürgerinnen und Bürgern in Europa begegnet ist. Den Ernstfall haben wir in Frankreich und in den Niederlanden gesehen: Dort ist die Verfassung in einem Referendum
abgelehnt worden.
Wir können diesen Zustand nur ändern, wenn wir
kleine Schritte gehen. Die FDP hat Ihnen hier einen solchen kleinen Schritt vorgeschlagen, indem sie beantragt
hat, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der
Kommunen zu erleichtern. Wir alle wissen, dass die
Grenzregionen in Europa ein wesentlicher Faktor sind,
um den europäischen Integrationsprozess voranzubringen. Die Bürger in den Grenzregionen erleben, wie Europa etwas vor Ort regeln kann.
Ich will das an einem kleinen Beispiel erläutern. Der
Zweckverband auf der Insel Usedom kann sein Abwasser in Zukunft nicht mehr entsorgen, weil die Kapazitäten ausgeschöpft sind. In der Stadt Swinemünde gibt es
ausreichende Klärwerkskapazitäten. Um eine Zusammenarbeit zwischen dem Zweckverband auf der einen
Seite und der Stadt Swinemünde auf der anderen Seite
zu ermöglichen, bedarf es zwischenstaatlicher Übereinkommen, die derzeit nicht geschlossen werden können.
Ein solches Modell gibt es aber. Das ist das Karlsruher Übereinkommen von 1996, damals geschlossen
zwischen der Schweiz, Frankreich, Luxemburg und
Deutschland. Das hat Modellcharakter. Wir brauchen
dieses Modell nur umzusetzen. Das ist ein kleiner
Schritt, wenn es darum geht, die Integration in Europa
gerade in den Grenzregionen nach vorn zu treiben und
damit auch den Verfassungsprozess neu zu beleben, aus
dem einfachen Grund: Wenn die Menschen anhand konkreter Beispiele endlich erleben, wie die europäische Integration auch bei ihnen vor Ort wirkt, dann kommen
wir dem Ziel ein Stück näher, dass die Verfassung nicht
nur in den Parlamenten Aussicht auf Erfolg hat, sondern
dass sie auch in den Köpfen der Menschen verankert
wird und wir am Ende einen erfolgreichen Verfassungsprozess erleben.
({0})
Wenn wir diesen Weg gehen und Sie den Antrag unterstützen, dann ist das einer der Schritte, die wir brauchen, um den Gesamtprozess wieder zu beleben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Henning Otte
für die CSU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
WDR hat in dieser Woche anlässlich des Europatages zu
einem Forum in Berlin mit dem Thema „Europas ungewisse Zukunft“ eingeladen. Auch dieses Forum hat verdeutlicht, dass die Zukunft Europas nicht von sich aus sicher ist, sondern aktiv gestaltet werden muss. Europa
braucht dazu mehr Vertrauen.
Die Politik muss noch stärker für die Akzeptanz Europas werben. Sie muss Entscheidungen transparenter
machen, damit der europäische Gedanke einen festen
Platz im Bewusstsein der Bürger erlangt. Dafür brauchen wir ein europäisches Wir-Gefühl, das Bewusstsein für eine große gemeinsame Aufgabe. Herr Gysi, zu
Ihrer Neiddiskussion kann ich nur sagen: Sie haben diese
gemeinsame Aufgabe, dieses europäische Wir-Gefühl
noch immer nicht verstanden.
({0})
Wir müssen die Menschen mitnehmen und ihnen die
Vorzüge Europas gerade für unser Land, aber auch für
Europa insgesamt deutlich machen. Die Menschen sind
kritisch. Die Menschen wissen aber auch um die Notwendigkeit und Bedeutung Europas. Das zeigt sich insbesondere darin, dass nach einer jüngsten Forsa-Umfrage 50 Prozent der befragten Bürger der Meinung sind,
Europa sei für sie im vergangenen Jahr wichtiger geworden. Über 60 Prozent halten eine EU-Verfassung für notwendig.
Wir alle, meine sehr verehrten Damen und Herren, ob
in den nationalen Parlamenten und Regierungen oder in
den EU-Institutionen, sind aufgefordert, die Sorgen der
Menschen ernst zu nehmen und sie mit einem vernünftigen Konzept zu überzeugen.
({1})
Wir müssen ihnen verdeutlichen, dass die EU-Bürger
mit Europa in eine Win-win-Situation kommen.
Lassen Sie mich das an drei Beispielen festmachen:
an der Erweiterung, an der Energiepolitik und an der
Strukturförderung.
({2})
Vor zwei Jahren hat die EU die größte Erweiterungsrunde ihrer Geschichte vollzogen. Heute können wir zu
Recht sagen: Das war ein wichtiger, ein richtiger Schritt
und ein Erfolg. Wir haben nicht nur die Vollendung der
Vision Europas maßgeblich vorangebracht, sondern
auch die Teilung Europas endgültig überwunden.
({3})
Nach einer Studie des Deutschen Industrie- und Handelskammertages sind in Deutschland durch die EU-Erweiterung 80 000 neue Stellen geschaffen worden.
5,5 Millionen deutsche Arbeitsplätze werden durch den
Export in europäische Nachbarstaaten gesichert.
Wir dürfen angesichts der anstehenden Erweiterung
aber nicht vergessen: Nur eine funktionierende EU kann
den neuen Beitrittskandidaten die Unterstützung geben,
die sie erwarten.
({4})
Vorfestlegungen und einen Beitrittsautomatismus darf es
nicht geben.
({5})
Wir werden insgesamt nicht darum herumkommen,
uns auf Grenzen festzulegen und Wege zu entwickeln,
die abgestufte Modelle beinhalten. Folglich müssen
- hier denke ich an Bulgarien und Rumänien - die Aufnahmekriterien erfüllt werden. Nur wenn wir auf der Erfüllung der Beitrittsbedingungen bestehen und die Beitrittskandidaten auch wissen, dass wir diese Vorsätze
ernst nehmen, kann Europa zu einem Markenzeichen
nach innen wie nach außen gedeihen.
({6})
Ich erwarte, dass die Kommission ehrlich mit dem
Fortschrittsbericht umgeht und entsprechend reagieren
wird. Das gehört dazu, wenn eine Win-win-Situation
entstehen soll, und nur das schafft Vertrauen in Europa.
({7})
Die Energiepolitik wird in den nächsten Jahren eines
der zentralen und bestimmenden Themen sein. Die Versorgung eines Landes bestimmt die künftige Entwicklung, die Zukunftschancen, aber auch die Wettbewerbsfähigkeit. Die Energiepolitik in der Europäischen Union
muss mittel- und langfristig zu einer Verringerung der
Rohstoffimporte und zur Bekämpfung der globalen Klimaveränderung beitragen.
Aber sie muss auch einen Beitrag zur Lissabonstrategie leisten. Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum können nur mit einer wettbewerbsfähigen Energie und wettbewerbsfähigen Energiepreisen geschaffen werden. Hier
müssen wir auch die deutschen Interessen in der Energiepolitik verdeutlichen: Wir wollen die weitere Liberalisierung und Öffnung der Märkte für Strom und Erdgas
und wir müssen unsere Versorgungssicherheit gewährleisten sowie Energieeinsparung und den Ausbau erneuerbarer Energien, aber auch Innovation und Forschung
vorantreiben. Das hat die Frau Bundeskanzlerin in ihrer
Regierungserklärung ganz deutlich gesagt. Frau Künast
war anscheinend nicht im Bilde, als die Regierungserklärung dazu abgegeben worden ist.
({8})
Das war ein eindeutiger Schwerpunkt, den Frau Merkel
hier gesetzt hat.
({9})
Insgesamt setzen wir in Deutschland auf eine Zieltrias
aus Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und
Umweltverträglichkeit, und das im europäischen Kontext. Das ist die Win-win-Situation, die wir in Deutschland brauchen, die Vertrauen schafft und die die Menschen von Europa überzeugt.
Die Strukturhilfe im Rahmen der Zielförderung sowie die Mittel für die Gemeinschaftsaufgaben stellen einen weiteren Bereich dar, an dem wir deutlich sehen,
was Europa für uns leistet. Seit der Einigung des Ministerrates am vergangenen Freitag steht fest, dass die Ziel-1Förderung für die neuen Bundesländer, aber auch für den
so genannten alten Regierungsbezirk Lüneburg und damit für meinen Wahlkreis Celle-Uelzen ab 2007 bereitstehen wird.
({10})
In einer beispielhaften Zusammenarbeit von Kommission, Europäischem Parlament, Bundesregierung,
Bundestag sowie den Ländern und Kommunen konnte
hier ein hervorragendes Ergebnis erzielt werden. Dazu
gehört: Die private Kofinanzierung wird möglich sein.
Die Anrechenbarkeit der nicht erstattungsfähigen Mehrwertsteuer ist gesichert. Die gewerblichen Investitionen
können gefördert werden, ohne dass dies zu Abwanderungen führen wird. Das ist ein großer Erfolg für unsere
Region.
({11})
Wir müssen nun gemeinsam am Ball bleiben, damit
die Ausgestaltungen der Förderprogramme wirkliche
Strukturverbesserungen vor Ort erzielen. Denn das,
meine sehr verehrten Damen und Herren, wird ein Gewinn für die Menschen vor Ort sein. Sie werden diese
europäische Strukturförderung nutzen und damit wird
die Akzeptanz für Europa weiter steigen. Das ist Ausdruck der Win-win-Situation vor Ort.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
uns gemeinsam um Vertrauen für ein gemeinsames
Europa werben. Wir wollen dieses gemeinsame Europa
weiterbauen. Nicht mies machen, sondern anpacken, die
Chancen für Deutschland und für Europa nutzen - das ist
das, was die Menschen von uns erwarten.
({12})
Kollege Otte, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Herzliche Gratulation und alles Gute für Ihre
weitere Arbeit!
({0})
Ich erteile nun Kollegen Diether Dehm, Fraktion Die
Linke, das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Botschaft des französischen und holländischen Referendums ist doch klar: Die Leute - auch die Mehrheit der
Deutschen, die Sie per Volksabstimmung zu Wort kommen zu lassen höchst vorsorglich nie gewagt haben wollen keine Verfassung, vor der sie in Deckung gehen
müssen, und keinen ungehemmten Wettbewerbskannibalismus
({0})
- natürlich! - über die Sozialbindung des Eigentums in
unserem Grundgesetz hinweg. Sie wollen keinen Verfassungsvertrag, der dem neoliberalen Sozialdumping,
dem Lohndumping und dem Mittelstandsruin die Tore
sperrangelweit öffnet.
({1})
Die Leute wollen auch keine verfassungsmäßig legitimierten EU-Eingreiftruppen rund um den Erdball. Die
Mehrheit der Europäer und auch wir wollen nicht keinen, sondern einen anderen Verfassungsvertrag. Wir
wollen einen - ich zitiere aus unserem Entschließungsantrag -, der „die Grundintention eines sozialen, friedfertigen und demokratischen Europas im Geiste seiner
Gründer und Gründerinnen und im Einklang mit dem
Willen der Bevölkerungsmehrheit in den EU-Mitgliedstaaten widerspiegelt“. Die Verfassung ist nicht das Problem. Die Politik dahinter ist der Kern der hausgemachten so genannten Verfassungskrise.
({2})
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben deswegen wohl
auch vor einem Schnellschuss gewarnt, um den selbst
mit aufgebauten Erwartungsdruck hinsichtlich der deutschen EU-Präsidentschaft 2007 jetzt etwas zu dämpfen.
Hören Sie also auf, große Worte wie „neue Ostpolitik“
zu tönen und damit Willy Brandt wieder einmal zu verhunzen!
In der Tat: Da fehlen für die deutsch-polnischen und
deutsch-tschechischen Grenzregionen nach wie vor die
Abkommen, die die grenzüberschreitende Bekämpfung
der Geflügelpest oder ähnlicher Katastrophen ermöglichen. Wir finden den dazu vorliegenden Antrag der FDP
sehr viel konkreter als Ihre großen Worte.
({3})
- Ich danke Ihnen, Herr Löning.
({4})
- Unsere Zustimmung ist doch selbstverständlich, wenn
wir etwas vernünftig finden. Da sehen Sie einmal, wie
undogmatisch die Linken sind.
Laut „Spiegel online“ vom 9. Mai 2006 fordern Sie,
Frau Merkel, dass sich - ich zitiere wörtlich - „EU-Staaten nicht gegenseitig die Rohstoffe wegnehmen“. Frau
Merkel, warum eigentlich nur „EU-Staaten“? Was versteht die Bundesregierung laut „Die Welt“ vom 18. April
unter „Offensive in Richtung Kaukasus“? Was meint
Herr Jung mit einer Einbeziehung der Energieversorgung in eine „vernetzte Sicherheitspolitik“? Was ist von
einem Verteidigungsminister zu halten, dessen Verteidigungsbegriff so ungefähr alles umfasst, was angeblich
Deutschland und der EU nützt? Deutschland auf den
Spuren des Terrorexperten im Weißen Haus und seiner
Energiesicherung im Irak und im Iran?
Frau Merkel, dass Sie sich den größten Brecher des
Völkerrechts der letzten zwei Jahrzehnte am 14. Juli
nach Stralsund in Ihren Wahlkampf holen, ist schon ein
bemerkenswerter Schulterschluss. Helfen Sie Mecklenburg-Vorpommern lieber wirtschaftlich, statt solche
zweifelhaften Showeffekte zu initiieren!
({5})
Heute und in den nächsten drei Tagen werden Tausende von überwiegend jungen Menschen nach Wien
fahren. Sie werden dies nicht tun, um das Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur zu bejubeln, mit dem die großen Agrarunternehmen in Lateinamerika noch größer werden und die Kleinbauern um
ihre Existenz gebracht werden können. In unserem Antrag zur EU-Lateinamerikapolitik haben wir ausführlich
begründet, warum wir den Verzicht auf ein Freihandelsabkommen fordern. Wir sollten aus dem Verhandlungspaket jene Teile aus den Titeln „Dialog“ und „Kooperation“, die bereits ausverhandelt sind, herausnehmen und
unabhängig von den anderen Teilen umgehend in Kraft
setzen.
Linke und andere Globalisierungskritiker werden in
Wien sein, um den Aufbruch des jungen, des modernen
Lateinamerikas - in Bolivien, in Venezuela und in anderen Ländern - gegen die undifferenzierten Vorverurteilungen und die Drohgebärden der EU-Kommission und
der US-Regierung zu unterstützen und zu stärken.
({6})
Gerade jetzt, wo die bolivianische Regierung den Gasreichtum ihres Landes nicht mehr zum Nulltarif ausplündern lässt, sondern nationalisiert! Glaubt denn hier
irgendjemand, der ökonomische Unsinn bei uns in
Deutschland mit der Privatisierung der Bahn, der Post,
der Wasserversorgung und der Krankenhäuser sei das
Wesen, an dem die Welt genesen soll?
({7})
Dagegen stellen wir heute unseren Entschließungsantrag als klare zukunftsfähige Alternative zur Abstimmung. Nur ein soziales, solidarisches und friedfertiges
Europa - nach dem Beispiel der Abwahl Berlusconis
und dem Sieg der französischen Jugend über ihren
Ministerpräsidenten - kann ein Partner der Völker sein.
Der Gegengipfel in Wien morgen trägt den Titel „Alternativen verbinden“ „Eine andere Welt ist möglich!“. In
Europa ist die andere Welt auf dem Weg. In Venezuela,
Bolivien und bald in ganz Lateinamerika hat sie schon
angefangen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Axel Schäfer, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben heute Donnerstag; es ist Alltag. Also lassen Sie
uns deshalb über die Alltagsfragen unserer Europaarbeit
reden, auch wenn wir natürlich im Hinblick auf den
Europatag am 9. Mai auch darüber sprechen müssen,
was wir bisher erreicht haben.
Der erste Punkt ist: Allen denjenigen, die Europaskepsis verbreiten, die immer genau wissen, was nicht
geht, und als selbstverständlich annehmen, was gelungen
ist, sei gesagt: Europa war bisher eine Erfolgsgeschichte.
All das, was wir bisher voranzubringen versucht haben,
ist, wenn auch über viele Schritte, gelungen. Das sollten
wir deshalb in den Mittelpunkt unserer Arbeit stellen,
wenn wir über die Probleme reden, die wir noch zu lösen
haben.
({0})
Wir haben an einem ganz wichtigen Beispiel gesehen,
wie Europa funktioniert und es zu funktionieren hat:
über eine stärkere Parlamentarisierung. Viele wichtige Inhalte konnten durchgesetzt werden - es wurde
schon von der Dienstleistungsrichtlinie gesprochen -,
weil es im Europäischen Parlament im Rahmen einer
großen Kooperation vor allem zwischen Christdemokratinnen und Christdemokraten sowie Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zu einem Sachkompromiss
gekommen ist, Dinge vorangebracht wurden, die von der
Kommission völlig anders gesehen wurden, und Probleme gelöst wurden, was die Regierungen allein nicht
hinbekommen hätten. Uns als Parlamentarierinnen und
Parlamentarier gerade hier im Bundestag sollte es ein
Stück selbstbewusst machen, dass wir daran in außergewöhnlicher Weise mitwirken konnten. Denn wir haben
uns rechtzeitig eingeklinkt. Wir haben das neue Verhältnis zwischen dem Europäischen Parlament und dem
Deutschen Bundestag schon praktiziert. Genau darauf
wird es in Zukunft verstärkt ankommen.
({1})
Wenn das aber gelingen soll, dann brauchen wir auch
ein neues parlamentarisches Verständnis.
({2})
Wir brauchen - liebe zu unterstützende Regierung - ein
neues Verständnis für die Zusammenarbeit von Parlament und Exekutive.
({3})
Das, was im Koalitionsvertrag zu Recht steht, nämlich
dass zwischen Bundestag und Bundesregierung eine
Vereinbarung getroffen wird, die auf Parlamentsfreundlichkeit basiert, werden wir auch umsetzen. Dafür werden wir uns alle miteinander anstrengen.
({4})
Das heißt auch, deutlich zu machen, dass manche ein
Stückchen Abschied von der Vorstellung nehmen müssen, dass Europapolitik in besonderer Weise Außenpolitik ist; das ist Europapolitik immer auch. Aber Europapolitik ist heute in überwiegendem Maße Innenpolitik.
Das ist unsere Domäne und muss auch so bleiben. Es ist
eine Selbstverpflichtung, und zwar nicht nur sozusagen
exklusiv für die Mitglieder im Europaausschuss, sondern
auch inklusive aller anderen 23 Ausschüsse in diesem
Parlament, die sich stärker europäisieren müssen.
({5})
Die Europäisierung beinhaltet auch die Frage, wie wir
in dieser Gemeinschaft agieren. Wenn Europäerinnen
und Europäer über europäische Fragen reden, dann ist
das eine europäische Angelegenheit und keine Sache,
die zwischenstaatlich abläuft oder eine Einmischung in
innere Angelegenheiten bedeutet. Deshalb sage ich an
dieser Stelle ganz deutlich: Ich freue mich, wenn eine
Partei, die zum Verfassungsbogen gehört - also von
Christdemokraten und Liberalen über die Grünen bis zu
den Sozialdemokraten -, in einem europäischen Land
gute Wahlergebnisse erzielt. Ich freue mich natürlich
ganz besonders, wenn Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gewinnen. Es ist aber wichtig, dass wir uns
in jedem Land, in dem über Europapolitik diskutiert
wird, öffentlich gegen Rechtspopulisten und Europafeinde aussprechen. Das gehört zu einer solchen Debatte
im Deutschen Bundestag.
({6})
Deswegen formuliere ich etwas deutlicher, als die Regierungsmitglieder es können: Den Vergleich, den der
polnische Verteidigungsminister vorgebracht hat - Stichworte „Gaspipeline“ und „Molotow-Ribbentrop-Pakt“ -,
ist in jeder Hinsicht unakzeptabel. Deshalb sollten wir
das in diesem Haus gemeinsam zurückweisen. Das ist
keine europäische Haltung, sondern widerspricht der
historischen Wahrheit und ist das Gegenteil all dessen,
was wir auf dem Gebiet der Europapolitik in diesem
Haus bisher gemeinsam vorangebracht haben.
({7})
Auf der anderen Seite sage ich ganz klar: Ich freue
mich, dass nach dem hochgeschätzten Christdemokraten
Carlo Ciampi in Italien Giorgio Napolitano zum Präsidenten gewählt worden ist,
({8})
der zu unserer Parteifamilie gehört.
({9})
Axel Schäfer ({10})
Ich freue mich besonders darüber, weil er im Europäischen Parlament Vorsitzender des Verfassungsausschusses war und weil er in Italien ein Garant für Europapolitik ist. Er ist ein Gegenbild zu gewissen Separatisten, die
es in der bisherigen italienischen Regierung auch gab.
Das muss an dieser Stelle einmal von Parlamentarierinnen und Parlamentariern des Deutschen Bundestages gesagt werden.
({11})
Diese Bundesregierung ist natürlich verpflichtet, die
Ratspräsidentschaft vorzubereiten. Das tut sie, genauso
wie auch wir uns einbringen. Allein der Respekt vor denen, die zurzeit in der Verantwortung stehen, nämlich
vor unseren finnischen Freunden, die sich jetzt an die
Ratifizierung des Vertrages machen, und vor Österreich,
das zurzeit die Ratspräsidentschaft inne hat, gebietet es
aber, dass wir uns heute noch nicht festlegen. Wir wissen
schließlich noch nicht, wie weit wir am Ende des Jahres
gekommen sein werden. Uns muss aber bewusst sein,
dass gegenüber Deutschland eine große Erwartungshaltung besteht, Europa voranzubringen und entscheidend
zur Problemlösung beizutragen.
Es ist gut, dass die Bundeskanzlerin auf die Kontinuität hingewiesen hat. Die letzte deutsche Ratspräsidentschaft, im ersten Halbjahr 1999, war, das sagen heute die
Historiker, eine der erfolgreichsten. Es ist gut, dass wir
daran anknüpfen wollen. Das ist gut für Angela Merkel
und gut für Frank-Walter Steinmeier.
({12})
Ich erlaube mir aber, auf Nuancen hinzuweisen. Wir
dürfen es uns nicht zu einfach machen und beispielsweise sagen: Wenn über schwierige Kommissionsvorlagen nach zwei Jahren noch nicht entschieden wurde,
können sie verfallen. - Ich erinnere nur daran, dass die
Vredeling-Richtlinie schon 1970 - Arbeitsminister war
damals Walter Arendt, SPD - auf den Weg gebracht
wurde. Erst 1994 haben sich der Rat und das Europäische Parlament über die Einrichtung europäischer Betriebsräte geeinigt - Arbeitsminister war Norbert Blüm,
CDU. Dieser lange Weg war notwendig, um dieses Vorhaben im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer voranzubringen. Wir sollten darum nicht leichtfertig über bürokratisch festgelegte Verfallsdaten
sprechen.
({13})
Subsidiarität darf nicht zu einem Wettlauf dergestalt
ausarten, dass wir uns in dem überbieten, was wir alles
nicht machen. Beim Thema Subsidiarität müssen wir
darüber diskutieren, was wir machen, um Europa gemeinsam voranzubringen. Wir bringen es gemeinsam
voran. Bertolt Brecht hat das einmal unübertrefflich formuliert - das entspricht dem deutschen Verständnis -:
Und weil wir dies’ Land verbessern, lieben und beschirmen wir’s, und das Liebste mag’s uns scheinen, so wie anderen Völkern ihrs …
An diesem gemeinsamen Europa, das Jean Monnet auf
der Basis der „Solidarität der Tat“ aufgebaut hat, wollen
wir in diesem Haus weiterbauen.
Vielen Dank.
({14})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Thomas
Silberhorn, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden
hier über eine Akzeptanzkrise der Europäischen Union,
vielleicht die tiefste, die sie in ihrer Entwicklung hat.
Just in dem Moment, in dem die Europäische Union mit
dem Verfassungsvertrag und der Erweiterung ihre ambitioniertesten Projekte auf den Weg gebracht hat, schwindet das Vertrauen der Bürger in die europäische Integration. Ich glaube, das gebietet uns, innezuhalten und nach
den Gründen zu fragen, die sicher vielschichtig sind.
Nach meiner Auffassung gehört dazu aber auch, dass die
Anliegen der Bürger und die europapolitische Agenda
nicht immer zusammenpassen. Die Europäische Union
beantwortet Fragen, die sich für die Bürger nicht stellen,
und umgekehrt ist die Europäische Union nicht in der
Lage, auf die drängenden Zukunftsfragen der Bürger
ausreichende Antworten zu geben. Das halte ich für eine
der tieferen Ursachen der Akzeptanzkrise, in der wir stecken.
Die Europäische Union beschäftigt sich zum Beispiel
mit einer Richtlinie über optische Strahlung, bei der
gottlob der Sonnenschein ausgenommen werden konnte.
Ich bin der dritte Redner, der das heute ansprechen muss.
Man kann nicht oft genug betonen, dass durch solche
Dinge das Vertrauen der Bürger in die europäische Integration nachhaltig beschädigt wird, weil niemand einsehen kann, dass das Fragen sind, die man auf europäischer Ebene behandeln muss.
({0})
Die Europäische Union befasst sich mit der Daseinsvorsorge, bei der für jedermann einsichtig ist, dass sie in
erster Linie auf kommunaler Ebene angesiedelt bleiben
muss. Ganz aktuell befasst sich die Europäische Union
mit der Einrichtung einer europäischen Grundrechteagentur, obwohl Europa seit Jahrzehnten den weltweit
dichtesten Grundrechteschutz hat. Dafür möchte man
mehr als hundert Beamte einstellen und weit mehr Geld
zur Verfügung stellen, als der Europarat zur Verfügung
hat, um Grundrechte zu schützen, und das für eine Behörde, die von dem gerichtlichen Grundrechtsschutz,
den wir in Europa seit Jahrzehnten haben, weit entfernt
ist. Das alles sind keine Beiträge zum Bürokratieabbau
({1})
oder dazu, dass Bürger wieder neues Vertrauen in die europäische Integration fassen können.
({2})
Wir müssen uns die großen Zukunftsfragen stellen
und darauf Antworten finden: Was tun wir gegen die
Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland? Was tun
wir, um wieder mehr Wachstum und Beschäftigung in
Europa zu entfalten, und was tun wir, um unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit in Zeiten der Globalisierung zu erhalten? Das sind die Zukunftsfragen, auf die
wir Antworten finden müssen.
Es genügt bei der Beantwortung dieser Zukunftsfragen nicht, dass wir unsere Vision von der europäischen
Integration an der Nachkriegsgeschichte orientieren.
Denn wir können die Zukunft nicht mit alten Lösungen
gewinnen. Wir müssen unsere Zukunftsvision von der
europäischen Integration an den Problemen orientieren,
vor denen wir stehen. Dazu gehört aus meiner Sicht, dass
wir eine Vision der europäischen Integration entwickeln, durch die wir die wirtschaftliche Dynamik in der
Europäischen Union wieder entfalten können, durch die
wir internationale Wettbewerbsfähigkeit gewinnen,
durch die wir innere Sicherheit angesichts der neuen Bedrohungen gewährleisten können und durch die wir eine
Europäische Union schaffen, die einen Beitrag zur Sicherheit und zur Stabilität in der Welt leistet. Das ist
meine Vision der europäischen Integration.
Dazu gehört auch, dass wir ganz pragmatische Antworten finden: Was tun wir denn konkret, um den Binnenmarkt, der immer noch nicht vollendet ist, endlich zu
vollenden? Was tun wir konkret, um Bürokratie abzubauen? Was tun wir konkret, um Bildung und Forschung
zu stärken? Ich glaube, wir müssen die Balance zwischen unserer Vision von der europäischen Integration
und den pragmatischen Antworten auf die Fragen, die
sich den Arbeitnehmern, den Unternehmern, den Menschen in Europa heute stellen, neu austarieren.
({3})
Wir müssen uns zum Ziel setzen, dass wir im Inneren
der Europäischen Union die Attraktivität wiedergewinnen, die die Europäische Union nach außen, insbesondere für die Beitrittskandidaten, hat. Wenn es uns gelingt, dass wir im Inneren so attraktiv bleiben und
werden, wie wir es nach außen sind, dann können wir
mit gutem Grund den Anspruch vertreten, dass wir den
Prozess der Globalisierung mitgestalten können, und
zwar nach unseren europäischen Wertvorstellungen. Das
muss die Zielsetzung sein.
Es ist heute schon mehrfach angemahnt worden
- auch von der Bundeskanzlerin -, dass die Politik ihre
Gestaltungskraft zurückgewinnen muss. Ich glaube, dass
wir selbst eine ganze Menge dafür tun können, und
möchte zwei Punkte herausgreifen.
Zum einen geht es mir um die aus meiner Sicht zwar
historisch verständliche, aber heute anachronistische Situation, dass neue Initiativen in der Europäischen Union
fast nur von der Europäischen Kommission auf den
Tisch gelegt werden können. Damit haben wir uns fast
vollständig in die Hände von Beamten begeben. Kein
gewählter Politiker kann auf europäischer Ebene eine
Initiative ergreifen, selbst dann nicht, wenn er Handlungsbedarf sieht. Die Menschen fragen uns, was wir
konkret tun. Wir können aber gar nicht selbstständig
handeln, sondern wir sind darauf angewiesen, dass die
Beamten der Europäischen Kommission Vorschläge auf
den Tisch legen.
({4})
Dieser Anachronismus ist schlichtweg unhaltbar. Wenn
wir die Gestaltungskraft der Politik zurückgewinnen
wollen, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass Vorschläge für neue Initiativen auf europäischer Ebene
von den gewählten Politikern eingebracht werden können.
({5})
Deswegen fordere ich, dass wir hier tätig werden. Natürlich weiß ich, dass so etwas in einen Vertrag gegossen
und ratifiziert werden muss; aber wir müssen einen solchen Prozess doch einmal anstoßen, damit die gewählten
Politiker - ich meine unsere Kollegen im Europäischen
Parlament - in die Lage versetzt werden, aus parlamentarischem Interesse heraus Initiativen für die konkrete
Europapolitik zu ergreifen.
({6})
Ich begrüße die Forderung, den Grundsatz der Diskontinuität, der im Bundestag gilt, auch auf europäischer Ebene einzuführen, damit wir Vorschläge, die die
Kommission eingereicht hat, die aber keine Zustimmung
finden, auch wieder loswerden können. Allerdings müssen Vorschläge auch von den demokratisch gewählten
Politikern formell eingebracht werden können. Nur so
gelingt es, politische Handlungsmacht und politische
Verantwortung miteinander zu verknüpfen. Es ist einfach untragbar, dass die Abgeordneten, die die politische
Verantwortung tragen und von den Bürgern politisch
verantwortlich gemacht werden, keine Handlungsmöglichkeiten haben, da diese bei den Beamten liegen, die
wiederum sich den Wählern nicht stellen müssen und
nicht politisch verantwortlich gemacht werden. Das
passt nicht zusammen.
({7})
Zur Frage, wie die Politik ihre Gestaltungskraft zurückgewinnen kann, möchte ich noch einen zweiten
Punkt ansprechen: Auch wir als Deutscher Bundestag
müssen darüber nachdenken, wie wir unsere Gestaltungskraft in Fragen der Europapolitik stärken können.
Wenn man sich die Präsenz in diesem Saal anschaut
- bitte gestatten Sie mir diese Bemerkung -, dann könnte
man durchaus den Eindruck gewinnen, dass die AkzepThomas Silberhorn
tanzkrise der Europäischen Union auch die Abgeordneten des Deutschen Bundestages erfasst hat;
({8})
dafür habe ich sogar Verständnis.
Wir müssen in diesem Hause für Fragen der Europapolitik mehr öffentliche Aufmerksamkeit erzeugen.
({9})
Das beginnt damit, dass wir diesbezüglich besser von
der Bundesregierung unterrichtet werden müssen, als es
bisher der Fall ist. Es ist doch Unfug, dass der Bundesrat
viel umfangreicher von der Bundesregierung unterrichtet
wird als die gewählten Mitglieder dieses Hauses.
({10})
Wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages werden
auf informellem Wege von den Beobachtern und Vertretern der Bundesländer in Brüssel - das sage ich aus voller Überzeugung und kann es bei Bedarf auch gerne
beweisen - besser über die deutsche Europapolitik informiert als von der Bundesregierung. Dieser Zustand ist
unhaltbar. Wir müssen uns, was das Ausmaß der Unterrichtung durch die Bundesregierung angeht, mindestens
auf Augenhöhe mit dem Bundesrat bewegen.
({11})
Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass ihre
Europapolitik nicht nur hinter verschlossenen Türen von
den Beamten in den Ministerien gemacht wird, sondern
dass sie auch von den Abgeordneten mitgetragen werden
kann. Das ist die erste Voraussetzung, um auch in der
Öffentlichkeit wieder Vertrauen in die europäische Politik zu gewinnen.
({12})
Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung: Die Bürokratie in Brüssel, die wir oft beklagen, wird nicht nur
von den Brüsseler Beamten, sondern auch von den Regierungen der Mitgliedstaaten verursacht. Es ist einfach
unbefriedigend, dass die Positionen, die der Bundestag
vertritt, für die Bundesregierung völlig unverbindlich
sind. Es gibt sogar die Praxis, dass Beamte der Bundesregierung in den Verhandlungen in Brüssel Parlamentsvorbehalte einlegen. Damit machen sie von einem Mittel
Gebrauch, das uns Abgeordneten de jure gar nicht zur
Verfügung steht. Wir werden lediglich im Nachhinein
davon in Kenntnis gesetzt. Das bedeutet, dass der Bundestag von den Beamten der Bundesregierung instrumentalisiert wird. Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang.
({13})
Ich bitte um Nachsicht dafür, dass ich das hier so offen
ansprechen muss: Dies betrifft nicht diese Bundesregierung allein; es betrifft vielmehr jede Bundesregierung.
Es ist eine Frage, die das Parlament als Ganzes angeht.
Wir müssen dafür sorgen, dass der Deutsche Bundestag,
wenn er in europäischen Fragen Position bezieht, bei der
Bundesregierung Gehör findet. Das bedeutet: Stellungnahmen des Bundestages müssen einen höheren Grad an
Verbindlichkeit erhalten, als das bisher der Fall ist.
({14})
Ich formuliere diesen Anspruch als Einladung an die
Bundesregierung, das Parlament einzubinden und es mit
dafür zu nutzen, in europäischen Fragen Transparenz
und die nötige öffentliche Aufmerksamkeit zu schaffen.
Diesen Beitrag können und wollen wir leisten, und ich
glaube, dass uns das gelingen kann. Wenn wir die Akzeptanz für die europäische Politik verstärken wollen
und neues Vertrauen gewinnen wollen, müssen an erster
Stelle die Abgeordneten dieses Hauses mitgenommen
werden.
Vielen Dank.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-
antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1413.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen des Hauses mit Ausnahme
der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Tagesordnungspunkte 3 b und 3 c. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/456
und 16/528 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? -
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c so-
wie Zusatzpunkt 3 auf:
4a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Norbert Röttgen, Dr. Michael Meister,
Laurenz Meyer ({0}), weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Olaf Scholz, Ludwig Stiegler,
Dr. Rainer Wend, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates
- Drucksache 16/1406 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Wolfgang Thierse
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Laurenz Meyer ({2}), Veronika Bellmann,
Klaus Brähmig, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Rainer Wend, Doris Barnett, Klaus Barthel,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes
zum Abbau bürokratischer Hemmnisse insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft
- Drucksache 16/1407 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Zeil, Rainer Brüderle, Paul K. Friedhoff, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Statistikpflichten zurückführen - Bürokratiekosten senken
- Drucksache 16/1167 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Innenausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Dr. Max Stadler, Jörg van Essen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Schlanker Staat durch weniger Bürokratie
und Regulierung
- Drucksache 16/119 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Norbert Röttgen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({6})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Jahre 1969 hat der damalige Bundeskanzler
Willy Brandt zum ersten Mal für eine Regierung das Ziel
proklamiert, Bürokratie abzubauen.
({0})
Dies hat seither jede Bundesregierung wiederholt. Von
jeder politischen Konstellation, die es seither gegeben
hat, ist angekündigt worden, Bürokratie abzubauen.
({1})
- Nichts ist geschehen!
({2})
In den letzten 30 Jahren hat es am Ende jeder Legislaturperiode nicht nur nicht weniger, sondern sogar mehr
Bürokratie gegeben als zuvor. Die Geschichte des Abbaus von Bürokratie - dem wichtigen Ziel, Bürger und
Unternehmen von Kosten und Freiheitsbeschränkungen
zu befreien - ist eine Geschichte des politischen Scheiterns
({3})
Wir wollen und werden dies ändern. Wir trauen uns
zu, dieser Geschichte des Scheiterns mit einem neuen
Ansatz ein Ende zu bereiten. Weil die Erfahrungen der
vergangenen Jahrzehnte so negativ sind, ist Skepsis sicherlich angebracht. Deshalb will ich begründen, wie
wir das Ziel, das uns alle in diesem Hause verbindet, erreichen wollen: Der neue Ansatz der Koalitionsfraktionen ist nicht theoriegeboren, sondern er besteht darin, etwas auf unser Land zu übertragen, das in anderen
Ländern mit Erfolg praktiziert wird. Das heißt, wir wollen die positiven Erfahrungen, die andere Länder gemacht haben, nutzen. Diese anderen Länder sind insbesondere die Niederlande, Großbritannien - Tony Blair -,
Dänemark und weitere europäische Länder. Ich möchte
die Methode schildern, die Inhalt unseres Gesetzentwurfes ist. Drei Elemente machen den neuen Ansatz aus.
Das erste Element ist die Einführung und Anwendung
einer Methode, um durch Bürokratie entstehende Kosten zu messen.
({4})
Es ist möglich, die durch Gesetze verursachten Bürokratiekosten zu erfassen, zu messen. Dazu gibt es eine objektive Methode, bezogen auf einen bestimmten Bürokratiebegriff, die schon angewendet wird und akzeptiert
ist.
Diese Methode werden wir anwenden, so wie das
schon in anderen Ländern gemacht wird, und zwar flächendeckend auf alle Gesetze, alle Rechtsverordnungen
und alle Verwaltungsvorschriften. So werden wir erfassen können, wie hoch die Kosten sind, die durch Gesetze
verursacht werden. Wir werden sehen, wie viel Bürokratie, die durch Gesetze veranlasst wird, kostet.
In den Niederlanden lag der Wert bei 3,6 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes. Die niederländische Regierung
konnte, nachdem sie gesehen hat, welche Kosten Bürokratie verursacht, Abbauziele vereinbaren und hat festgelegt, diesen Stand in einer Legislaturperiode um
25 Prozent senken zu wollen; das hat die Bundeskanzlerin heute Morgen aufgenommen. Das haben die Niederländer dann gemacht. Die Vierjahresfrist ist noch nicht
abgelaufen, aber sie haben schon 18 Prozent erreicht.
Für die Niederlande bedeuten Bürokratiekosten in
Höhe von 3,6 Prozent des BIP ein Einsparvolumen von
4 Milliarden Euro. Davon haben sie schon drei Viertel
erreicht. Das ist die Wirklichkeit. Eine solche Kostenentlastung gab es für die Adressaten von Bürokratie. Wenn
wir das auf das deutsche Bruttoinlandsprodukt beziehen
und genauso erfolgreich sind wie die Niederländer - dort
ist es nicht Fiktion, sondern Realität -, dann wäre das in
Deutschland eine Entlastung der Unternehmen bei Bürokratiekosten von 20 Milliarden Euro.
({5})
Ich komme auf 20 Milliarden Euro, indem ich die Erfahrungen der Niederlande auf Deutschland übertragen
habe.
Wir kündigen nicht an, dass es diese Entlastung in
Höhe von 20 Milliarden Euro auch tatsächlich geben
wird. Fest steht: Durch die Umsetzung dieser Methode
können die Unternehmen bei ihren Kosten so stark entlastet werden, wie es mit kaum einem anderen Projekt
möglich wäre. Denn es kostet uns nichts. Der Staat hat
keine Einnahmeausfälle zu verkraften, wenn er auf Bürokratie verzichtet. Es gibt also erneut nur Gewinner.
Eine solch enorme Kostenentlastung der Unternehmen
könnten wir auf absehbare Zeit mit keinem anderen Instrument der Politik und der Gesetzgebung realisieren.
({6})
Zum zweiten Element, das die Niederlande anwenden
und das wir übertragen wollen: In den Prozess der Entstehung von Recht, von Gesetzen muss mit Blick auf den
Abbau und die Vermeidung von Bürokratie eine unabhängige Kontrolle eingebaut werden. Denn Bürokratie
fällt nicht vom Himmel, sondern wird durch Gesetze,
Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften staatlich erzeugt. Das hängt mit der bestimmten Art der expertenhaften Organisation von Gesetzgebung zusammen. Die Experten haben ihr kleines Planquadrat vor
sich, das sie beherrschen und zusammen mit Interessengruppen gestalten. Sie erklären der Politik, dass es an
dieser Stelle unbedingt notwendig ist, diese Regulierung
vorzunehmen. Das kennen alle, die sich schon einmal intensiv mit der Entstehung von Rechtsvorschriften befasst
haben.
Darum brauchen wir in dieser Phase, implementiert in
der Exekutive, eine Kontrollinstanz, eine unabhängige
Instanz, die weisungsunabhängig ist und die nicht mit
Politikern oder weisungsabhängigen Beamten besetzt
wird, sondern mit unabhängigen Sachverständigen, die
intervenieren können. Diese Institution heißt Normenkontrollrat. Der Normenkontrollrat ist kein politischer
Zensor. Er sagt dem Parlament nicht, was der politische
Wille eines Gesetzes sein soll, sondern er stellt fest, ob
für das durch die Politik festgelegte Ziel dieses Maß an
Bürokratie erforderlich ist. Er kann das in seiner Stellungnahme kritisieren.
Die Erfahrungen aus den anderen Ländern zeigen,
dass die Regierungen ihre Gesetzesvorschläge verändern. Das müssen sie von Rechts wegen nicht. Aber
wenn eine solche Stellungnahme des Normenkontrollrates erfolgt, gerät die Regierung, die mit dieser Rechtsvorschrift Bürokratie verursachen will, in Rechtfertigungsdruck. Das ist der Mechanismus. Sie muss sich für
die Verursachung von Bürokratie rechtfertigen - und das
ist richtig.
({7})
Wir wollen, dass Bürokratieverursachung in unserem
Land zu einem rechtfertigungsbedürftigen Verhalten
wird. Denn das kann Bürokratie reduzieren.
Drittes Element. Wir schaffen für dieses Ziel des Bürokratieabbaus eine parlamentarisch-gesetzliche
Grundlage. Bislang wurde immer gesagt: Das macht die
Exekutive allein. - Wir brauchen, wenn wir das Ziel Bürokratieabbau erreichen wollen, die Exekutive. Aber wir
werden das Ziel nur gemeinsam erreichen; die Exekutive
allein schafft das nicht. Vielmehr müssen das Parlament,
der Gesetzgeber, und die Exekutive zusammenwirken.
Dazu gibt es ein Gesetz; es entstammt der Mitte des
Bundestages und wurde von den Koalitionsfraktionen
formuliert. Das gibt dem gesamten Vorhaben eine parlamentarische Grundlage. Wir als Gesetzgeber involvieren
und engagieren uns bei diesem Thema und machen es
zum Maßstab auch unseres Verhaltens. Wir wollen beteiligt werden und wollen uns an der Bearbeitung dieses
Themas beteiligen.
({8})
Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. Nach allen
Erklärungen verbindet uns das Ziel des Bürokratieabbaus bzw. des Bürokratiekostenabbaus. Ich habe die Dimensionen geschildert, um die es geht. Es ist ein Thema,
das mit Kosten, aber auch mit Freiheit zu tun hat. Es verbindet uns alle. Ich möchte eine letzte Erfahrung aus den
Niederlanden schildern und das mit einer Bitte und einem Appell verbinden. Im niederländischen Parlament
ist dieses Thema, von ganz links bis zum anderen Ende
des politischen Spektrums, nicht streitig. Man geht das
Thema gemeinsam an. Ich möchte alle Fraktionen dazu
einladen, mitzuwirken und sich konstruktiv zu beteiligen, damit wir zusammenwirken bei der Verfolgung eines gemeinsamen Zieles und so als Gesetzgeber in der
Sache gemeinsam etwas erreichen. Diesen Schlussappell
möchte ich an alle richten und verbinde ihn mit der Bemerkung: Wir sind selbstverständlich bereit, Korrekturen und Verbesserungen anzunehmen; wir wollen einen
Diskussionsprozess. Was wir anstreben, ist, dass dieses
Ziel gemeinsam, auf breiter Grundlage, getragen wird.
Denn so kann es umso erfolgreicher realisiert werden.
Danke.
({9})
Ich erteile das Wort Kollegen Martin Zeil, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man gewinnt manchmal den Eindruck, als wäre
Bürokratie etwas, das unser Land gewissermaßen ohne
unser Zutun befallen hätte, und als bräuchten wir möglichst viele externe Gremien, um ihr abzuhelfen. Es ist
aber wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen - Herr
Röttgen hat es ebenfalls erwähnt -, dass wir selbst als
Gesetzgeber, die Regierungen und Verwaltungen in der
EU, im Bund und in den Ländern die Quelle der Bürokratie sind, niemand sonst. Den Bürgern müssen wir sagen: Wer für jedes neue Problem eine Regelung fordert,
der fordert auch mehr Bürokratie.
Es geht also letztlich auch um unser Staatsverständnis. Dass wir als Liberale uns dabei etwas leichter tun als
andere, liegt auf der Hand: Für uns ist das Loslassen seitens des Staates kein schmerzhafter Prozess wider Willen, sondern ein Freiheitsthema schlechthin.
({0})
Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die zahlreichen Entbürokratisierungsinitiativen unserer Fraktion,
die unter Federführung der Kollegin Homburger in den
letzten Jahren gestartet wurden.
Es ist gut, wenn die schwarz-rote Regierung nun endlich erste, zaghafte Schritte in die von uns seit langem
vorgezeichnete Richtung unternimmt.
({1})
Nach langem Hin und Her haben Sie jetzt das Gesetz
über den Normenkontrollrat vorgelegt. Über die Namensgebung lässt sich streiten; wir hätten uns den umfassenderen „Bürokratiekosten-TÜV“ gewünscht. Es ist
auch kein gutes Omen, dass im Namen des Bürokratieabbaus erst einmal Stellenmehrungen vorgenommen
wurden.
({2})
Der Entwurf weist auch inhaltliche Mängel auf: Der
Begriff der Bürokratiekosten wird auf die „Informationspflichten“ reduziert.
({3})
Dabei wissen auch Sie es besser, nämlich dass der weitaus größere Teil der Kosten den Unternehmen durch die
Umsetzung anderer Rechtsvorschriften und vor allen
Dingen durch die hierfür erforderlichen Investitionen
entsteht.
({4})
Ferner möchte ich erwähnen: Die Kontrollaufgabe des
Rats darf sich nicht nur auf Initiativen der Regierung beziehen. Das Modell der Messung der Bürokratiekosten
entspricht unseren Vorschlägen. Aber eines dürfen wir
nicht vergessen: Auch das modernste Fieberthermometer
ist noch keine Therapie gegen die Krankheit selbst.
({5})
Die spannendste Frage aber ist - auch dazu haben Sie
nichts gesagt -: Wer wird nun Mitglied dieses Rats? Die
Zusammensetzung ist noch geheimer als die endgültige
Nominierung unserer WM-Mannschaft. Der Bundestrainer wird sein Geheimnis am 15. Mai lüften. Wir dürfen
als Parlament gespannt sein, wann nun endlich konkrete
Vorschläge seitens der Regierung kommen werden.
({6})
Entscheidend ist, dass dort unabhängiger Sachverstand
und Praxiserfahrung einziehen und keine Frösche zur
Trockenlegung des Sumpfes nominiert werden.
({7})
Wir bedauern, dass die Besetzung allein Sache der Exekutive ist und das Parlament außen vor bleibt.
Beim Mittelstandsentlastungsgesetz haben Sie von
einer Entfesselungsoffensive gesprochen. Ja, es enthält
einige verdienstvolle Ansätze. Es ist auch gut, dass man
sich dem herausragenden Problem der Deklaration von
Altholz widmet. Sie wissen im Grunde aber selbst, dass
Sie mit diesem Entwurf viel zu kurz springen. Es hat
auch schon aus den eigenen Reihen Kritik gegeben.
({8})
Wir werden Ihnen im Gesetzgebungsverfahren gerne
helfen, vielleicht doch noch zu einer echten Entfesselung
zu kommen.
({9})
Meine Damen und Herren von der Koalition, viel
schlimmer als diese Trippelschritte ist aber etwas ganz
anderes: Während Sie hier vollmundig von Mittelstandsentlastung reden, haben Sie in Ihrer kurzen Amtszeit
schon selbst neue bürokratische Belastungen zu verantworten. Ich nenne nur das Vorziehen der Fälligkeit
der Sozialversicherungsbeiträge,
({10})
die neue Zwangsversicherung für Kleinbetriebe bei der
Lohnfortzahlung, die Fahrtenbuchführung bei Geschäftswagen für Selbstständige und - als neuesten Sündenfall - das neue Antidiskriminierungsgesetz, dessen
Bestimmungen von jedem Normenkontrollrat, der seine
Aufgabe ernst nimmt, sofort beanstandet werden müssten.
({11})
Es ist dieses völlig widersprüchliche Verhalten, das
Ihrer Politik die Glaubwürdigkeit nimmt. Die „Wirtschaftswoche“ hat es so beschrieben:
… die Augen vor der Realität verschließen, konsequent am Sachverstand der Wissenschaft vorbeihören und schamlos die Bedenken gegen das eigene
Tun verschweigen.
Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Solange Sie
so weitermachen, lösen Sie keine Probleme, sondern
sind selbst Teil des Problems. Dabei kann es so einfach
sein:
Bürokratieabbau kostet nichts, steigert das Bruttoinlandsprodukt und macht populär,
so der Vorsitzende des niederländischen Normenkontrollrats.
Wenn Sie auf diese Weise Popularität suchen, wenn
Sie den großen Worten endlich Taten folgen lassen, haben Sie die FDP-Fraktion an Ihrer Seite.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Wend, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Kein Staat kann ohne Recht, kein Recht ohne Staat
bestehen.
Max Weber hat gesagt: „Eine Verwaltung“, die dieses
Recht durchsetzen will, „ist entweder bürokratisch oder
dilettantisch“.
Was ich damit sagen will, ist: Bürokratie ist auch Bestandteil eines Rechtsstaates. Ohne Bürokratie kann
Willkür herrschen. Deswegen geht es bei unserem Vorhaben heute in Wahrheit nicht um einfache und pauschale Deregulierung, sondern um eine richtige und effektive Regulierung.
In unserer Republik haben sich aber über Jahrzehnte
bürokratische Regeln verselbstständigt und führen für
Bürgerinnen und Bürger, aber auch für Unternehmer zu
Belastungen.
Ich möchte ein Zitat von Ralf Dahrendorf anführen,
der gesagt hat:
Wir brauchen Bürokratien, um unsere Probleme zu
lösen. Aber wenn wir sie erst haben, hindern sie
uns, das zu tun, wofür wir sie brauchen.
Wenn es so ist, wie der Kollege Röttgen gesagt hat,
({0})
dass die Belastungen der Bürokratie so groß sind, und
auch die Erkenntnis von Dahrendorf und anderen die ist,
dass diese Belastungen riesig sind, stellt sich natürlich
die Frage: Warum haben wir es alle nicht geschafft
- Herr Röttgen hat Recht damit -, diese Dinge zu regeln? Sie, Herr Kollege von der FDP, sagen: Es ist alles
ganz einfach. Wenn alles ganz einfach ist, stellt sich die
Frage, warum die Partei, die in unserer Republik am
längsten mit in der Regierung saß, das nicht schon längst
geregelt hat, was dort zu regeln ist.
({1})
Von daher scheint es vielleicht nicht ganz so leicht zu sein.
Ich darf ein etwas ironisches Zitat bringen. Wernher
von Braun hat gesagt:
Bei der Eroberung des Weltraums sind zwei Probleme zu lösen: die Schwerkraft und der Papierkrieg. Mit der Schwerkraft wären wir fertig geworden.
({2})
Ich glaube, daran sieht man: So pessimistisch muss
man nicht sein, wenn man die Ursachen dafür erkennt,
warum wir Bürokratieabbau bisher nicht erreicht haben.
Es gibt mehrere Ursachen. Ich will zwei benennen, weil
sie mir wichtig sind. Mit unserem Gesetzgebungsvorhaben versuchen wir, genau diese Dinge zu umschiffen und
zu vermeiden.
({3})
Die erste Ursache ist: Die FDP - wenn ich jetzt bösartig wäre, würde ich vielleicht auch einige unserer neuen
Freundinnen und Freunde von der CDU/CSU mit einbeziehen,
({4})
aber das tue ich nicht - sagt „Bürokratieabbau“ und
spricht anschließend über den Kündigungsschutz, die
Tarifautonomie, das Betriebsverfassungsrecht, die Umweltstandards und das Antidiskriminierungs- oder, so
heißt es jetzt, das Gleichstellungsgesetz.
({5})
Wohlgemerkt: Selbstverständlich kann man über jeden
dieser Punkte inhaltlich diskutieren. Man tut dem Thema
Bürokratieabbau aber einen Tort an, wenn man diese inhaltlichen Themen unter der Überschrift „Bürokratieabbau“ subsumiert. Damit erreichen Sie nämlich, dass bei
uns eine Art Reflex entsteht, nachdem immer dann,
wenn Bürokratieabbau gesagt wird, der Verdacht entsteht, dass Kündigungsschutzabbau gemeint ist.
({6})
Deswegen sage ich Ihnen an dieser Stelle: Wenn Sie
wirklich Bürokratieabbau wollen, dann ist es ein Fehler,
dies mit materiellen Dingen, über die man diskutieren
kann, zu verknüpfen.
({7})
Die zweite Ursache, die ich für diese Problematik
sehe, ist auch schon angesprochen worden. Ich meine
das nicht bösartig, aber es ist natürlich wahr, dass sich
der Beamtenapparat und die Behörden verselbstständigen. Ich glaube, dass ihrem Verhalten im Regelfall hehre
Motive zugrunde liegen. Natürlich sitzen der Abteilungsleiter X und der Referatsleiter Y seit vielen Jahren
an einer Thematik. Sie sind zutiefst überzeugt davon,
dass der Zweck, dem sie seit Jahren oder Jahrzehnten
dienen, nicht mehr in der bisherigen Perfektion erreichbar ist, wenn man die Vorschrift X oder Y auch nur modifiziert.
({8})
Das muss man respektieren.
Ich wiederhole es: Es ist noch nicht einmal Bösartigkeit, als wollten sie dabei nur für ihre Pfründe sorgen.
Darum geht es nicht. Es geht darum, dass sie in ihrer jahrelangen Arbeit und Tätigkeit gefangen sind und deswegen um Normen kämpfen und sie nicht hinterfragen, die
in Wirklichkeit veränderungswürdig sind. Das ist der
zweite Grund, warum wir uns beim Thema Bürokratieabbau so schwer tun.
Jetzt möchte ich Ihnen gerne sagen, warum ich
glaube, dass wir diese beiden Dinge mit unserem Gesetzentwurf, der heute hier vorliegt, umschiffen und in
den Griff bekommen: Bei der Einrichtung des Normenkontrollrates und bei diesem Gesetz geht es eben nicht
darum, den gesetzgeberischen Zweck im Kündigungsrecht oder wo auch immer zu hinterfragen, sondern es
geht ausschließlich - von mir aus können Sie in Klammern „nur“ dahinter schreiben - darum, Dokumentations- und Berichtspflichten zu messen.
Ich möchte das an einem praktischen Beispiel der
Bauindustrie verdeutlichen, damit wir uns einmal vor
Augen führen, was das eigentlich heißt. Es gibt eine Vorschrift, wonach die Unternehmen der Bauwirtschaft ihre
Hochbauleistungen monatlich in Form einer Statistik dokumentieren und staatlichen Stellen übermitteln müssen.
Unterstellen wir einmal, dass in einem Unternehmen ein
Mitarbeiter vier Stunden im Monat damit beschäftigt ist,
der über den Daumen gepeilt 30 Euro für jede dieser
Stunden verdient. Wenn wir das einmal ausrechnen
- 30 Euro pro Stunde mal vier Stunden mal zwölf, weil
es ja zwölf Monate sind -, dann kommen wir zu dem Ergebnis, dass dieses Unternehmen aufgrund dieser Statistik eine Kostenbelastung von 1 440 Euro im Jahr hat.
Das hört sich wie Peanuts an.
Rechnen wir jetzt aber einmal weiter: In der Bauwirtschaft gibt es gut 300 000 Unternehmen. Wenn wir diese
1 440 Euro mit 300 000 multiplizieren, dann kommen
wir auf eine Größenordnung von 432 Millionen Euro,
die die gesamte Bauwirtschaft nur diese eine Pflicht zur
Erstellung einer Statistik im Jahr kostet. Damit sind wir
nicht mehr bei Peanuts.
Warum ist es unter Aufrechterhaltung des gesetzgeberischen Zwecks denn nicht möglich, zu sagen, dass diese
Verpflichtung nicht zwölfmal im Jahr, sondern beispielsweise nur noch viermal im Jahr, also alle drei Monate,
besteht? Ich habe ausgerechnet, dass das eine erhebliche
Ersparnis von 288 Millionen Euro im Jahr bedeuten
würde. An dieser Stelle erkennen wir: Nur durch eine
Reduzierung von Dokumentations- und Berichtspflichten, ohne materiell in Recht, Gesetze und Ansprüche eingreifen zu müssen, entlasten wir die Wirtschaft in unserer Republik erheblich. Das ist eine gute Sache.
({9})
Ich möchte die gesamtvolkswirtschaftlichen Zahlen
aus den Niederlanden nennen. Dort wurde errechnet,
dass die Dokumentationspflichten die Wirtschaft mit
etwa 19 Milliarden Euro belasten. Davon sollen 25 Prozent, fast 5 Milliarden Euro, eingespart werden. Wenn
wir diese Zahlen auf das Bruttoinlandsprodukt in
Deutschland übertragen, würden Kosten von etwa
80 Milliarden Euro entstehen. Wenn wir diese wie in den
Niederlanden um 25 Prozent reduzieren würden, ergäbe
das nach Adam Riese 20 Milliarden Euro, um die die
Wirtschaft in unserer Republik entlastet würde.
Viele sagen - sie haben Recht -: Wir sind aber nicht
die Niederlande; denn wir sind ein föderaler Staat. Viele
dieser Dokumentationsverpflichtungen gehen nicht vom
Bund, sondern von den Bundesländern aus; das ist wahr.
Aber das ist kein Grund zur Resignation, sondern dies ist
eher ein Grund, die Länder zu motivieren. Wir müssen
ihnen sagen: Steigt in den Wettbewerb ein! Zeigt, wer
beim Bürokratieabbau, beim Messen von Dokumentations- und Berichtspflichten und der anschließenden Reduzierung dieser Pflichten am besten ist.
Ein Wettbewerb zwischen den Ländern sowie dem
Bund und den Ländern, der in diese Sache Bewegung
bringt, ist richtig und gut. Deswegen stellt der föderale
Staat zwar auf den ersten Blick ein Problem dar, aber auf
den zweiten Blick könnte er eine Chance dafür sein, eine
Dynamik zu entfalten. Denn kein Bundesland will - das
hoffe ich jedenfalls - bei diesem Wettbewerb das
Schlusslicht sein und beim Bürokratieabbau am schlechtesten abschneiden. Auch da ist Wettbewerb gut.
({10})
Von Herrn Röttgen ist - das finde ich völlig richtig die Frage aufgeworfen worden: Wer macht eigentlich
mit? Herr Kollege Zeil, Sie haben mich ein bisschen enttäuscht. Sie haben uns vorgeworfen, auf diesem Gebiet
nicht genug getan zu haben. - Erstens. Die Opposition
muss so etwas tun, sonst wäre sie keine Opposition.
({11})
Zweitens. Sie könnten in Teilen sogar Recht haben; dazu
sage ich gleich noch etwas. Wir befinden uns in einem
Gesetzgebungsverfahren, in dem wir vieles noch besser machen können. Aber dann habe ich die Bitte, dass
Sie nicht nur erklären, die Regelungen gingen offensichtlich in die richtige Richtung, und uns ansonsten
Versagen vorwerfen. Vielmehr müssen Sie sich Ihrerseits Mühe geben, konkrete Vorschläge zu unterbreiten,
({12})
die dann aber nicht wie beim Antidiskriminierungsgesetz irgendwo stehen bleiben. Beim Thema Bürokratieabbau müssen diese Vorschläge konkret werden und sie
dürfen keine materiellen Ansprüche in unserer Gesellschaft betreffen.
Wir haben ein weiteres Gesetz zum Thema „Entlastung des Mittelstandes“ eingebracht. Mit diesem Artikelgesetz werden wir 16 Gesetze und Verordnungen ändern: das Bundesdatenschutzgesetz, das Gesetz über die
Lohnstatistik, die Abgabenordnung, das Umsatzsteuergesetz, die Gewerbeordnung und das Chemikaliengesetz.
Viele meinen, das seien nur Kleinigkeiten. - Das ist
wahr. Aber diese Kleinigkeiten summieren sich zu eiDr. Rainer Wend
nem großen Vorschlag, der unter dem Strich Substanz
hat. Ich sage aber gleich dazu: Das muss in diesem Gesetzgebungsverfahren noch nicht das Ende der Fahnenstange sein.
({13})
Vielleicht fallen uns weitere Dinge ein, die wir einarbeiten, sodass wir am Ende sagen können: Dieses Gesetz ist
im Laufe des Verfahrens noch besser geworden, als es
zum Zeitpunkt der Einbringung gewesen ist.
Eine abschließende Bitte. Nicht nur wir müssen sagen: Wir müssen versuchen, diese Regelungen einmütig
zu beschließen. Vielmehr ist dies auch ein Appell an die
Ministerien und die Beamten. Wir brauchen sie. Die Bürokratiemessung und der Abbau der Bürokratie sind
ohne die Bürokratie selbst schlichtweg nicht möglich.
Sie darf den Normenkontrollrat nicht als eine Instanz
auffassen, die ihr etwas Böses will. Der Rat ist vielmehr
eine Instanz, die ihre Aktivitäten begleitet, Anregungen
gibt und gegenüber dem Parlament deutlich macht, wie
der Prozess der Entbürokratisierung vorangehen soll.
Der Normenkontrollrat soll keine Konkurrenz sein und
auch niemanden überwachen.
({14})
Er soll ihre Arbeit begleiten sowie für die Ministerien
und für das Parlament eine Hilfe von unabhängigen
Fachleuten sein, die sich in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft auskennen. Wenn wir das auf
den Weg bringen, dann ist das in der Tat ein neuer Ansatz. Dann ist es der Versuch, aus der Erstarrung der Bürokratiediskussion der letzten Jahre herauszukommen.
Lassen Sie uns alle gemeinsam diesen Versuch unternehmen. Er kann sich für unser Land lohnen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({15})
Ich erteile das Wort Kollegin Sabine Zimmermann,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Herr Röttgen, Sie werden
mir immer sympathischer.
({0})
Ich habe mit Freude gehört, dass Sie alle Gesetze beleuchten wollen. Damit meinen Sie sicherlich auch das
Monster Hartz IV. Das sollten wir tatsächlich als gemeinsames Ziel sehen; darin bin ich mit Ihnen einer
Meinung.
In Ihrem Plan zum Bürokratieabbau gibt es Punkte,
die wir im Großen und Ganzen mittragen können.
({1})
Das betrifft beispielsweise die Änderungen beim Chemikaliengesetz, beim Fahrlehrergesetz oder bei Teilen des
Umsatzsteuergesetzes. Es betrifft aber nicht die Änderungen beim Datenschutz. Hierüber hätten Sie sich mehr
Gedanken machen können. Kleine Betriebe zu entlasten,
indem der Datenschutz ausgehöhlt wird, ist keine verantwortungsvolle Politik. Eine solche Politik bedenkt
auch die gesellschaftlichen Folgen von Demokratie-,
von Bürokratieabbau. Dafür stehen wir als Linksfraktion.
({2})
- Man kann sich versprechen. Ich denke, Sie haben dafür
Verständnis.
Das eigentlich Problematische an den Vorschlägen
der großen Koalition ist, dass Sie an den wirklichen Problemen der kleinen und mittleren Unternehmen völlig
vorbei gehen. Erst letzte Woche sprach ich mit einer Unternehmerin aus Sachsen, die eine Initiative gegründet
hat. Die Vorschläge der Bundesregierung zum Bürokratieabbau ernten vor Ort nur Hohn und Gelächter. Der
Frust beim Mittelstand ist enorm. Wir fragen uns, ob Sie
eigentlich mit den Unternehmen vor Ort - vor allen Dingen mit den kleineren Unternehmen - reden. Ich zitiere
aus dem Brief der Geschäftsführerin eines Unternehmens an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales:
Sie sollten mit dem Wort „Bürokratieabbau“ sehr
vorsichtig umgehen, da in den letzten Jahren die
Bürokratiebelastung für die kleineren Unternehmen
geradezu explodiert ist und sich auch nicht durch
schöne neue Namen verschleiern lässt.
Ich denke, mit diesem Satz hat sie den Nagel auf dem
Kopf getroffen.
Sie bat mich, folgenden Punkt anzusprechen: die vorgezogene Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge.
Wir haben das Thema bereits im Ausschuss behandelt.
Eine verfehlte Wirtschafts- und Sozialpolitik hat die Sozialversicherungssysteme in die Krise geführt. Mit einer
vorzeitigen Fälligkeit der Sozialabgaben ist dieser Krise
nicht zu begegnen. Die bürokratischen Belastungen sind
jedoch - vor allem für die kleineren und mittleren Unternehmen - enorm hoch. Der Steuerberaterverband und
die betroffenen Unternehmen haben angeboten, die Fälligkeit auf den dritten bis fünften Tag des Folgemonats
zu legen. Die Regierung hat dies ignoriert. Nun hat die
Unternehmerin an den Petitionsausschuss geschrieben
und von einem Abgeordneten einer Koalitionsfraktion,
nämlich dem Abgeordneten Günter Baumann von der
CDU/CSU-Fraktion, am 15. Februar 2006 folgende Antwort bekommen:
Ich bin mit Ihnen einer Meinung, dass es sich bei
der vorgezogenen Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge um einen hohen bürokratischen Aufwand handelt …
Soll ich mehr dazu sagen oder spricht diese Aussage für
sich? Sieht so Ihr Bürokratieabbau aus?
Ich fasse zusammen: Ihre Vorschläge zum Bürokratieabbau bringen in der Praxis wenig und laufen in die falsche Richtung. Ihre Flickschusterei an den Sozialversicherungssystemen führt gerade für die kleineren
Unternehmen zu neuer Bürokratie.
Das eigentliche Problem des Mittelstands ist die
schwache Binnenwirtschaft. Das bestätigen alle Experten landauf, landab. Sie aber legen mit der angekündigten Erhöhung der Mehrwertsteuer ein Antiwachstumsprogramm auf, das vor allem die sozial Schwachen, die
kleinen Unternehmen, den Mittelstand und die Selbstständigen belasten wird. Denn diese profitieren nicht
von der Senkung der Sozialversicherungsbeiträge.
Die Regierung will zur Verringerung der Bürokratiekosten einen Normenkontrollrat einrichten. Wie der
Kollege Röttgen von der Union sagt - das Zitat ist sehr
interessant; Herr Röttgen, wir beide werden vielleicht
doch noch Freunde -,
({3})
soll dieser ein „Wachhund sein, der laut bellt, wenn das
Bürokratieabbauziel nicht erreicht wird“.
({4})
Die Linke hat erhebliche Zweifel, ob der Hund immer an
der richtigen Stelle bellen wird. In den Niederlanden gibt
es dieses Verfahren bereits. Dort zählten die jährlichen
Umweltberichte der Unternehmen bislang zu den unnützen bürokratischen Belastungen. Wie wird es denn bei
uns sein? Weitere Fragen sind offen. Warum soll der
Normenkontrollrat seine Stellungnahme nicht öffentlich
abgeben dürfen? Warum sollen Verbraucher, Gewerkschafter und Sozialverbände nicht Mitglieder dieses Rates stellen dürfen? Zumindest diese Fragen sind zu beantworten.
Die Regierung hat noch weitere Maßnahmen zum Bürokratieabbau angekündigt. Die Linke ist aber misstrauisch, wenn die Bundesregierung von Bürokratieabbau
redet. Herr Bundesminister Glos hat in seiner ersten
Amtshandlung unser Misstrauen bestätigt. Gegen seinen
Plan, das Gaststättengesetz abzuschaffen, haben Gemeinden, Gaststättenverbände und Verbraucherschützer
zu Recht protestiert. Ginge es nach dem Minister, hätte
jeder ohne Erlaubnis eine Kneipe an jeder Ecke aufmachen können. Der Schlamperei wären Tür und Tor geöffnet worden. Die Überprüfung der Einhaltung der
Vorschriften betreffend den Brandschutz und die Fluchtwege sowie des Lebensmittelrechts und der Hygienevorschriften wäre unter den Tisch gefallen. Der Plan ist zum
Glück in der Schublade verschwunden. Ich hoffe, dass er
dort bleibt.
Ein anderes Beispiel: Die große Koalition will dafür
sorgen, dass Bauvorhaben schneller umgesetzt werden.
Der Politik muss es aber um die Menschen in diesem
Land gehen. Der Bund für Umwelt und Naturschutz kritisiert, dass bei den Vorhaben von Union und SPD die
Investoren bevorzugt, die betroffenen Anwohner jedoch
benachteiligt werden.
Die Linke hat zum Thema Bürokratieabbau eine einfache Haltung. Wir sind gegen Gesetze und Vorschriften,
die die Menschen belasten. Demzufolge müsste die Bundesregierung als Erstes - das sprach ich eingangs an das bürokratische Monster Hartz IV abschaffen. Sie
wollen aber zu Hartz IV noch ein Fortentwicklungsgesetz beschließen. Den Betroffenen muss dieser Name eigentlich Angst machen. Kleinste Auskünfte bis ins Detail! Diese Bürokratie gehört bekämpft.
({5})
Die Bundesregierung spricht zwar von Bürokratieabbau zugunsten von Wirtschaft und Bürgern. Aber Letztere kommen bei Ihnen leider kaum vor. Das Streichen
von noch so vielen Vorschriften wird nichts an der Auftragslage der kleinen Handwerker und Dienstleister
ändern, wohl aber zu einem weiteren Verfall sozialer und
ökologischer Standards führen. Wir hingegen setzen hier
auf ein öffentliches Investitionsprogramm, das vor allem
die Binnennachfrage nachhaltig stärken soll.
Gesetzliche Auflagen belasten große Unternehmen in
der Tat weniger als kleine. Aber der Marktmacht der
Großunternehmen tritt man nicht gegenüber, indem
man dereguliert, sondern indem man dafür sorgt, dass
Steuern gezahlt werden. Dafür brauchen wir ein Mehr an
staatlicher Kontrolle; denn Steuerhinterziehung ist zu einem Hobby der Konzerne geworden. Fast 11 Milliarden
Euro haben die Betriebsprüfer im letzten Jahr bei Großunternehmen eingetrieben. 11 Milliarden Euro! Mit diesen Steuereinnahmen könnte der Staat endlich wieder Investitionen tätigen. Die öffentlichen Aufträge würden
dem Mittelstand mehr helfen als eine gestrichene Vorschrift.
Wenn Sie bei der Steuerfahndung so viel Kraft und
Energie einsetzten wie bei Hartz IV, dann könnten Sie
sich wesentlich mehr Geld holen als bei den Langzeitarbeitslosen in diesem Land.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Matthias Berninger,
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin
dem Vorredner Rainer Wend dankbar, dass er beim
Thema Bürokratieabbau darauf hingewiesen hat, dass es
in diesem Land sehr viele Regelungen gibt, die aus einer
Verwaltung ein effizientes Instrument machen, das dafür
sorgt, dass die Bürgerinnen und Bürger in etwa wissen,
woran sie sind, und dass die Alternative häufig Willkür
ist. Dazu hat Max Weber eine Menge geschrieben, wiewohl er den Übergang von einer eher monarchisch geprägten Verwaltung, über die sich schon Bismarck aufgeregt hat, in die Weimarer Republik beobachtet hat.
Selbst wenn wir uns alle darauf verständigen, dass es
nicht darum geht, die Bürokratie abzuschaffen, sondern
dass es darum geht, sie effizienter zu machen und zu
schauen, wo Unsinn geschieht, sollte man immer im
Auge haben, dass sie notwendig ist, sie für Bürgerinnen
und Bürger, aber auch für Unternehmen wichtig ist, weil
sie ihnen Sicherheit gibt, dass es ein Korsett von Regelungen in diesem Lande gibt, und dass sie ein Teil des
demokratischen Rechtsstaates ist. Das geht manchmal in
der Debatte unter. Ich war ganz froh, dass Sie das angesprochen haben.
Die Koalitionsfraktionen haben einen Gesetzentwurf
zur Einführung eines Normenkontrollrates ausgearbeitet. Darüber ist zum Teil belustigt nach dem Motto geschrieben worden: Neue Bürokratie zum Bürokratieabbau. Der Normenkontrollrat knüpft an Erfahrungen an,
die in Großbritannien und Holland gemacht wurden, und
an die Feststellung, dass die Entscheidung, in eine solche
Richtung zu gehen, tatsächlich Belastungen abgebaut
hat. Deswegen halte ich es für falsch, zu glauben, das
werde es nicht bringen.
Der Kollege Röttgen hat darüber hinaus den Oppositionsfraktionen das Angebot gemacht, bei dem Normenkontrollrat mitzuarbeiten, das heißt, diesen Gesetzentwurf der großen Koalition mitzutragen. Ich kann Ihnen
für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sagen,
dass unsere Mitarbeit davon abhängt, ob er an zwei Stellen, die mir sehr wichtig erscheinen, substanziell verändert wird. Zunächst zur ersten Stelle. Ich halte nichts davon, dass sich der Normenkontrollrat auf Vorschläge
aus der Regierung beschränkt. Wir sind das Parlament.
Die Bürgerinnen und Bürger, die uns hier zuschauen, besuchen den Gesetzgeber. Wir sind nicht der Gesetzentgegennehmer. Ich denke, dass es richtig wäre, den Zuständigkeitsbereich des Normenkontrollrats auf Gesetze aus
dem Parlament zu erweitern.
({0})
Das sage ich auch deshalb, weil der Normenkontrollrat
die Freiheit hat, zu entscheiden, ob er ein Gesetz für so
relevant hält, dass er sich mit ihm befasst. Ich denke,
dass eine solche Regelung das Selbstbewusstsein des
Parlaments zum Ausdruck bringen würde.
({1})
Das ist für uns eine wichtige Voraussetzung, um diesem
Vorhaben zuzustimmen.
({2})
Der zweite Punkt bezieht sich auf die Zuständigkeit,
das heißt auf die engere Definition, was Bürokratie ist.
Da wird die große Weide der Bürokratie durch einen hohen Zaun umgrenzt. Der Normenkontrollrat soll sich
nämlich nur auf solche Themen beschränken, die mit
Berichtspflichten zu tun haben. Ich bin ein sehr pragmatischer Mensch. Es ist richtig, dass man anhand von
Berichten genaue Berechnungen anstellen kann. Eine
Rechnung, wie Bürokratiekosten entstehen und wie sie
letzten Endes darstellbar sind, hat der Kollege Wend aufgemacht. Insofern kann man hier anhand konkreter Zahlen Risiken und Nebenwirkungen eines Gesetzes abschätzen. Ich denke, dass der Normenkontrollrat die
Freiheit haben sollte, auch andere bürokratische Belastungen, wenn er sie für relevant hält, in den Blick zu
nehmen. Ich will ein Beispiel nennen. Es ist immer noch
nicht möglich, Sozialversicherungsbeiträge online zu
zahlen. Das Verfahren ist eine monatliche Routine für
große und kleine Unternehmen und es ist mit enormem
Aufwand verbunden. Warum soll der Normenkontrollrat
nicht bei einer Änderung im Sozialbereich darauf hinweisen, dass eine kleine Modifikation am Gesetz den
Unternehmen in Deutschland erhebliche Kosten sparen
könnte? Der Normenkontrollrat soll ja gleich einem Fieberthermometer in der Lage sein, solche Kosten zu messen.
({3})
Deswegen lautet mein Vorschlag: Lassen Sie uns diesen Zaun in dem Gesetz abbauen! Lassen Sie uns dem
Normenkontrollrat das Vertrauen entgegenbringen, dass
die Experten, die in ihn berufen werden, schon wissen,
welche Gesetze ihnen besonders wichtig sind. Lassen
Sie uns in der Begründung darauf hinweisen, dass in anderen Ländern mit den Informationspflichten ein besonderer Erfolg erzielt wurde! Wenn wir uns bei diesen
beiden Punkten entgegenkommen können, dann hat jedenfalls meine Fraktion keine Bedenken, einem solchen
Vorhaben zuzustimmen.
Das Ziel, Bürokratie abzubauen, ist ohnehin das Ziel
der meisten Regierungen. Ich habe mir das in den Ländern angesehen, egal wer dort regiert hat, ob das eine Alleinregierung wie in Bayern war oder - man möchte es
kaum glauben - eine Regierung wie Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen. Landauf, landab haben Landesregierungen das Ziel, Bürokratie abzubauen. Das ist in den
letzten Jahren Gegenstand jeder Regierungserklärung
von neu gewählten Kanzlern und der Kanzlerin gewesen. Es gibt also einen großen Konsens im Parlament. Es
ist schon darauf hingewiesen worden, dass wir es beim
Bürokratieabbau mit der Ministerialbürokratie zu tun
haben, einem relativ mächtigen Partner, der häufig zu jeder Lösung ein Problem findet
({4})
und uns genau sagt, dass es nur eine ganz bestimmte Lösung für ein Problem gibt, die häufig mit Bürokratie verbunden ist, also Sachzwänge erzeugt. Ich denke, dass
das richtig ist. Die meisten Kolleginnen und Kollegen
haben Erfahrungen sammeln können. Ich selbst habe Erfahrungen auf beiden Seiten des „Bauzauns“ machen
können; schließlich war ich früher Staatssekretär.
Zur Debatte gehört schon, festzustellen, dass wir Parlamentarier auch nicht ganz ohne sind. Nach einem
Skandal, beispielsweise nach einem Brand in einem
Flughafengebäude, sind wir Parlamentarier die Ersten,
die sagen: Die Brandschutzvorschriften müssen enorm
verbessert werden. So ist es nach dem Brand auf dem
Düsseldorfer Flughafen geschehen. Wenn infolge hoher
Schneebelastungen Turnhallendächer einstürzen, dann
wird zuerst darüber geredet, ob man nicht die Vorschrif2922
ten verändern muss. Nach einem Lebensmittelskandal
- zuletzt hatten wir einen Gammelfleischskandal; es
wurde so manche Sau durchs Dorf getrieben - schienen
geradezu bergeweise neue Vorschriften die einzige Lösung der Probleme zu sein.
Man wird mit diesem Gesetz nur dann Erfolge erzielen, wenn das Parlament an bestimmten Stellen den Mut
hat, auf Regelungsdichte zu verzichten.
({5})
Dazu bedarf es in der Tat der Mitwirkung von Opposition und Regierung. Die Regierung allein kann das nicht
schaffen.
Die Kollegin Zimmermann hat den Datenschutz, das
Umweltrecht und verschiedene andere Standards genannt, die ihr wichtig sind. In diesem Sinne hat sich auch
der Kollege Wend geäußert. Auch ich stehe auf diesem
Standpunkt. Für mich ist das heutige Datenschutzrecht
allerdings nicht sakrosankt. Das Datenschutzrecht dient
dazu, die Bürgerinnen und Bürger und auch Unternehmen elementar zu schützen. Das enthebt uns aber nicht
davon, dafür zu sorgen, dass dieses Recht effizient ist. Es
nutzt dem Datenschutz überhaupt nichts, das Datenschutzrecht von Veränderungen auszuklammern, indem
wir sagen: Das ist ein Heiligtum; wir reden nicht darüber, ob auf diesem Gebiet etwas besser werden kann.
Der Datenschutz ist unser gemeinsames Anliegen; da
sind wir uns einig. Wir wollen durch Bürokratieabbau
keine Bürgerrechte beseitigen. Daher sollten wir selbstverständlich auch Themen wie Datenschutz, Umweltrecht bearbeiten.
Ich glaube im Übrigen nicht, dass sich die Qualität
von Umweltschutz an der Anzahl der Seiten von Vorschriften messen lässt. Ich bin daher sehr froh, dass es
ein Umweltgesetzbuch geben soll, in dem die Umweltschutzvorschriften neu zusammengefasst werden.
An dieser Stelle möchte ich eine kleine Nebenbemerkung machen. Wenn wir mit der in den nächsten Wochen
anstehenden Föderalismusreform dafür Sorge tragen,
dass jedes einzelne Bundesland dieses Umweltgesetzbuch mit Einzelvorschriften umgehen kann, dann laufen
Investoren Amok, weil sie glauben, dass sie bestimmte
Investitionen nach Prüfung von deren Rechtmäßigkeit in
einem Bundesland auch in einem anderen tätigen können, und anschließend feststellen müssen, dass es erhebliche rechtliche Unterschiede gibt.
Ich halte es für wichtig, an dieser Stelle nicht den
Fehler zu machen, Föderalismusreform mit der bürokratischen Verkomplizierung unseres Rechtssystems zu
verwechseln. Mir ist zum Beispiel auch nicht ersichtlich,
warum wir 16 verschiedene Bauordnungen haben,
nachdem man sich zunächst einmal auf eine Bundesbauordnung verständigt hat. So etwas ist keine Stärkung der
Länder, sondern greift das Nervenkostüm vieler Beteiligter an.
({6})
Zwei Beispiele zum Abschluss.
Erstens. Heute steht ein zweites Gesetz auf der Tagesordnung. Durch eine ganze Reihe von Regelungen sollen
kleine und mittlere Unternehmen von Bürokratie entlastet werden. Was kleine Unternehmen angeht, soll die
Bagatellgrenze von 350 000 Euro Umsatz im Jahr auf
500 000 Euro angehoben werden, damit sie es mit einer
geringeren Regelungsdichte zu tun haben. Man setzt etwas fort, was Rot-Grün in der letzten Legislaturperiode
begonnen hat. Das freut mich sehr. Ich habe mir seitens
einer Finanzverwaltung Informationen darüber besorgt,
was es für diese Betriebe bedeutet, wenn wir ihnen auf
diese Art und Weise mehr Freiheiten einräumen wollen:
Entsprechende Vordrucke werden entwickelt, aus denen
die neue Definition der Einnahme-Überschuss-Regelung
für die Betriebe hervorgeht. In der Praxis wird es dadurch komplizierter als zuvor.
Dazu sage ich Ihnen: So kann es nicht funktionieren.
Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die von uns vorgenommenen Änderungen wirkliche Entlastungen für die
Betriebe sind. Es geht nicht an, dass etwa die Steuerverwaltung eines Landes dem mit irgendwelchen Vordrucken entgegenwirkt, sodass am Ende womöglich das Gegenteil von dem herauskommt, was das Parlament
erreichen wollte. Es reicht also nicht, Gesetze abzuschaffen; vielmehr müssen wir berücksichtigen, wie sich etwas in der Realität auswirkt. Bei dem von mir genannten
Beispiel ist es nicht so gut gelaufen.
Zweitens - Stichwort „Gaststättenrecht“ -: das so
genannte Bulettenabitur. Frau Zimmermann, ich war für
Verbraucherschutz zuständig. Ich kann Ihnen eines sagen: Wenn man eine Gaststätte eröffnen will, dann hat
man es mit Regelungen zu tun, die nicht für Verbraucherschutz sorgen, sondern dafür, dass man verzweifelt.
({7})
Ich bin für einen modernen Verbraucherschutz und eine
gute Kontrolle. Regelungen wie die bisherigen müssen
beseitigt werden. Der Bundeswirtschaftsminister hat zunächst die Abschaffung dieser Regelungen angekündigt.
Dann hat er gesagt, er trete doch nicht für deren Abschaffung ein, weil das Ganze im Zusammenhang mit
der Föderalismusreform in die Zuständigkeit der Länder
falle. Wir sollten ein Signal setzen, finde ich, und das
dennoch abschaffen. Wenn einzelne Länder nach der Föderalismusreform der Meinung sind, dass sie das Bulettenabitur doch brauchen, dann sollen sie es meinetwegen
wieder einführen. Die Abschaffung wäre ein richtiger
Schritt. Das ist eine von den Maßnahmen, Herr Kollege
Wend, über die wir vorhin gesprochen haben, die wieder
in diese Vorlage hineinkommen sollten.
Ich habe die Zeit ein bisschen überzogen, danke Ihnen
für die Aufmerksamkeit und hoffe, dass wir gemeinsam
vorankommen.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Hartmut Koschyk,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Berninger, Sie haben durch Ihren konstruktiven Redebeitrag deutlich gemacht, dass sich die große
Koalition bei ihrem Ziel, mit messbarem Bürokratieabbau und wirksamer Mittelstandsentlastung in Deutschland ernst zu machen, in diesem Hause auf eine breite
Mehrheit weit über die Koalitionsfraktionen hinaus abstützen kann.
Wir alle sind uns einig, dass vor allem Wirtschaft und
Mittelstand seit Jahrzehnten unter der Last unsinniger
Vorschriften und Regelungen leiden. Wir alle, auch die
Kollegen der Freien Demokraten, sollten die Kraft zur
Selbstkritik haben und einräumen, dass die Bundesregierungen aller Farbschattierungen, auch Wirtschaftsminister - über lange Zeit sind sie von den Freien Demokraten
gestellt worden -, ihren Beitrag dazu geleistet haben.
80 Prozent der Bürokratiekosten tragen Handwerk
und Mittelstand in unserem Land und die entsprechenden Mittel fehlen bei den Investitionen und bei der
Schaffung neuer Arbeitsplätze. Ich bin dankbar dafür,
dass das Bundeswirtschaftsministerium durch das Institut für Mittelstandsforschung einmal hat errechnen lassen, wie hoch die jährlichen Bürokratiekosten sind.
Man schätzt diese Kosten auf 45 Milliarden Euro. Wenn
es uns gelingt, davon auch nur ein Viertel abzubauen,
dann entlasten wir die Unternehmen in unserem Land
um rund 10 Milliarden Euro. Das ist ein Betrag, der jede
Mühe wert ist. Das Beste daran ist: Der Abbau überflüssiger Bürokratie kostet den Finanzminister keinen Cent.
({0})
Wir haben uns für eine Doppelstrategie bei diesen
Maßnahmen entschieden. Wir richten einen Normenkontrollrat ein, der Regierung und Parlament berät und
bei der Aufgabe unterstützt, den Wildwuchs in Gesetzen
und Verordnungen dauerhaft zu bändigen. Herr Kollege
Berninger, wir sind sehr offen dafür, dies nicht auf Gesetzesinitiativen der Bundesregierung zu beschränken,
sondern dies im parlamentarischen Beratungsverfahren
auf Gesetzentwürfe aus dem Parlament auszudehnen.
Auch darüber, ob wir die Kompetenzen des Normenkontrollrats noch um das eine oder andere erweitern können,
wollen wir im Verfahren offen sprechen.
Ich sage sehr deutlich: Es ist gut und richtig, dass die
Einrichtung eines Normenkontrollrats kein bürokratischer Akt ist, den eine Bundesregierung auf dem Verordnungswege erledigt, sondern dass das eine Initiative aus
dem Parlament heraus ist
({1})
und dass dieser Epoche machende Schritt bei der Bekämpfung überflüssiger Bürokratie in unserem Land
vom Parlament getan wird.
Wir beraten und verabschieden mit diesem Entwurf
eines Gesetzes zur Einsetzung eines Normenkontrollrats
auch den Entwurf eines Mittelstandsentlastungsgesetzes, das den Bürokratiekostendschungel mit ersten konkreten Maßnahmen lichtet. Wir sollten uns als Deutsche
immer anschauen - davon ist hier mehrfach gesprochen
worden -, was unsere Nachbarn in dieser Frage besser
machen. Wir haben uns das genau angeschaut. Ich bin
unserem Kollegen Röttgen sehr dankbar, der über lange
Zeit mit Fachleuten gesprochen hat, die in die Niederlande gereist sind und sich das dort genau angeschaut haben. Wir haben uns das auch in Dänemark und in Großbritannien angeschaut. Was sich bei unseren Nachbarn
beim Abbau überflüssiger Bürokratie bewährt hat, das
wollen wir jetzt auch in Deutschland wagen.
({2})
Ich habe von der Doppelstrategie gesprochen. Es
kommt der Normenkontrollrat, aber es kommt auch ein
Mittelstandsentlastungsgesetz. Ich will einige Beispiele
dafür nennen, wo das Mittelstandsentlastungsgesetz
greifen wird. Jährlich fallen in Deutschland 8 Millionen
Tonnen Altholz an. Wenn jemand zurzeit eine Lieferung
von nur 100 Kilogramm erhält, muss er einen zweiseitigen amtlichen Vordruck ausfüllen. Das wird der Vergangenheit angehören. Im produzierenden Gewerbe werden
wir bei der Statistikerhebung die Grenze, von der an
Unternehmen einbezogen werden, von 20 auf 50 Beschäftigte anheben. Damit werden wir 25 000 Kleinbetriebe sozusagen von der Stichprobe und damit auch von
der Meldepflicht befreien. Für Betriebe mit insgesamt
600 000 Beschäftigten wird in dem Jahr 2007 die
Lohnstrukturerhebung ganz entfallen.
Wir wissen, das alles reicht noch nicht. Deshalb werden wir im laufenden Gesetzgebungsverfahren prüfen,
wo wir noch weitere Entlastungsmomente einbringen
können. So wollen wir, dass Existenzgründer in den
ersten drei Jahren von allen Pflichten bezüglich statistischer Auskünfte freigestellt werden. Das wollen wir ins
laufende Gesetzgebungsverfahren einbringen. Ein anderer Punkt betrifft die vielen technischen Möglichkeiten
- Herr Kollege Berninger hat davon gesprochen -, die
uns die moderne Informationstechnik auch bei der Bürokratieentlastung bei Handwerk und Mittelstand bietet.
Wir werden auch in das laufende Verfahren zum ersten Mittelstandsentlastungsgesetz schnell realisierbare
weitere Vorschläge einfügen. Gleichzeitig beginnen wir
mit den Vorbereitungen für ein zweites Mittelstandsentlastungsgesetz, das bereits im Herbst konkrete Gestalt
annehmen soll.
Unsere Fraktion hat über 60 konkret umsetzbare
Punkte genannt, die wir uns für diese Legislaturperiode
vorgenommen haben. Ein Drittel wird umgesetzt; bei einem weiteren Drittel sind wir auf einem guten Weg. Wir
lassen nicht locker, wenn es darum geht, in unserem
Land etwas für mehr Wachstum und Beschäftigung zu
tun.
({3})
Denn wenn ein Unternehmer sich nicht mehr mit der
Meldung für die vierteljährliche Produktionserhebung
im Fertigteilbau beschäftigen muss, dann hat er mehr
Zeit für sein Unternehmen.
({4})
Somit sichert Entbürokratisierung Arbeitsplätze und
schafft neue. Mehr Arbeitsplätze garantieren durch höhere Steuereinnahmen auch die Entlastung, die wir brauchen, um wieder zukunftsnotwendige Investitionen für
unser Land tätigen zu können.
Deshalb freuen wir uns, dass wir schon bei dieser Debatte gespürt haben, dass auch die Freien Demokraten
und Bündnis 90/Die Grünen sich an diesem Gesetzgebungsverfahren und diesen Beratungen in Bezug auf
echten Bürokratieabbau in Deutschland und echte Mittelstandsentlastung konstruktiv beteiligen wollen. Wenn
es uns insgesamt gelingt, mit breiter parlamentarischer
Mehrheit endlich Konkretes auf den Weg zu bringen,
dann werden die Bürgerinnen und Bürger in unserem
Land spüren, dass die Politik aus dem Parlament heraus
Ernst macht, den Dschungel überflüssiger Bürokratie in
Deutschland nachhaltig zu lichten.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Kollegin Birgit Homburger, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
dieser Debatte ist über die Gesetzentwürfe zum Bürokratieabbau schon einiges gesagt worden. Herr Kollege
Röttgen, Sie haben beispielsweise einleitend erklärt,
dass es seit 30 Jahren im Prinzip Ziel jeder Regierung
gewesen sei, Bürokratie abzubauen. Ich muss Ihnen ganz
ehrlich sagen: Diese Meinung teile ich nicht. In den
80er-Jahren, als es Deutschland wirtschaftlich gut ging,
sind in diesem Land einige Bestimmungen beschlossen
worden, die für mehr Bürokratie gesorgt haben und die
den Deutschen Bundestag heute nicht mehr passieren
würden. Es ist nicht so, dass das Ziel seit 30 Jahren dasselbe ist.
({0})
Aber es ist in der Tat richtig - da wende ich mich an
Sie, Herr Dr. Wend, denn Sie haben das gesagt -, dass
die FDP in der Vergangenheit an den Bundesregierungen
beteiligt war.
({1})
Ich sage Ihnen klipp und klar: Wir haben schon Anfang
der 90er-Jahre deutlich gemacht, dass wir in Zeiten, als
wir Verantwortung getragen haben, Dingen zugestimmt
haben, denen wir heute nicht mehr zustimmen würden,
die man damals als richtig empfunden hat und die zu
mehr Bürokratie geführt haben. Wir stehen zu der Verantwortung; aber weil wir das erkannt haben, fordern wir
schon seit Beginn der 90er-Jahre konsequent immer wieder die Reduzierung von überflüssigen Vorschriften in
Deutschland.
({2})
Da sind wir bei den anderen Fraktionen bisher gegen
eine Wand gelaufen. Ich freue mich, dass es jetzt eine
gemeinsame Erkenntnis des ganzen Hauses gibt.
({3})
Ich möchte auch deutlich machen, dass die Landesregierungen, in denen wir vertreten waren bzw. sind, immer wieder Anstrengungen unternommen haben. Ich
nenne beispielsweise entsprechende Zahlen für BadenWürttemberg. Dort wurde im Jahr 2000 eine Initiative
zum Abbau überflüssiger Bürokratie gestartet. Wir haben es geschafft, innerhalb von vier Jahren die Verwaltungsvorschriften in Baden-Württemberg um über 2 000
auf die Hälfte zu reduzieren. Das ist immer noch nicht
genug. Deswegen werden wir die Anstrengungen fortsetzen. Anstrengungen erwarten wir aber auch von der
Bundesregierung.
({4})
Von der Bundesregierung gab es nach der Wahl bisher
nur zahllose Ankündigungen. Es hieß, Bürokratieabbau
werde Chefsache. Auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos wurde dies angekündigt. Man muss allerdings deutlich sagen, dass wir davon bisher nichts gesehen haben.
Jetzt haben wir die erste Lesung eines entsprechenden
Gesetzentwurfs. Was bisher gelaufen ist, ist also wirklich kein Ruhmesblatt für die Koalition.
Ich sage sehr deutlich: Wir begrüßen beide Gesetzentwürfe. Aber ich sage Ihnen auch sehr deutlich: Sie gehen
nicht weit genug. Ich bin der Auffassung, dass wir endlich dazu kommen müssen, in Deutschland über die Befristung von Gesetzen nachzudenken und Verordnungen grundsätzlich mit einem Verfallsdatum zu versehen.
Es soll nicht derjenige sozusagen die Beweislast haben,
der sie abschaffen will, sondern derjenige, der sie weiter
behalten will. Auch das wäre eine strukturelle Maßnahme.
({5})
Wir fordern von Ihnen klipp und klar - ich komme
darauf noch zu sprechen - eine Eins-zu-eins-Umsetzung
der europäischen Richtlinien. Diese haben Sie vollmundig angekündigt. Sie tun es allerdings nicht. Ich nenne in
diesem Zusammenhang beispielsweise das Antidiskriminierungsgesetz. Vor diesem Hintergrund sind natürlich
alle möglichen Bekenntnisse zum Bürokratieabbau nicht
allzu viel wert.
Ähnliches gilt für das Mittelstandsentlastungsgesetz. Es geht zwar in die richtige Richtung; Herr
Röttgen, Sie haben das Gesetz überschwänglich gelobt.
Ihr Kollege, Herr Fuchs, hat als mittelstandspolitischer
Sprecher Ihrer Fraktion aber öffentlich geäußert, dieses
Gesetz sei bei weitem nicht ausreichend und müsse an
entscheidender Stelle überarbeitet werden.
({6})
Wo Herr Fuchs Recht hat, hat er Recht.
({7})
Wir können ihm nur zustimmen.
({8})
Ich möchte Ihnen sehr deutlich sagen: Wenn durch das
Mittelstandsentlastungsgesetz für kleine und Kleinstbetriebe ein paar Regelungen verändert werden - beispielsweise durch eine vereinfachte Statistik -, dann ist
das lobenswert.
({9})
Aber wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie
endlich an die Hauptkostenblöcke geht. Es wurde schon
das Institut für Mittelstandsforschung zitiert, das jährliche Kosten in Höhe von 46 Milliarden Euro allein aufgrund bürokratischen Aufwands für die Betriebe festgestellt hat.
Was sind die großen Kostenblöcke? Ein zu kompliziertes Steuerrecht, ein zu kompliziertes Sozialversicherungsrecht, ein zu kompliziertes Arbeitsrecht, ein zu
kompliziertes Umweltrecht und viel zu viel Statistiken.
Das ist das Ergebnis der Studie, die im Auftrag des Wirtschaftsministeriums durch das Institut für Mittelstandsforschung durchgeführt wurde. Was aber machen Sie?
Fehlanzeige! Wenn Sie nicht bereit sind, auch an die
großen Kostenblöcke heranzugehen, dann werden Sie in
der Zukunft keine Entlastung im Bereich der Bürokratiekosten erreichen.
({10})
Das zeigt sich beispielsweise auch an dem Vorziehen
der Fälligkeit für die Abgabe der Sozialversicherungsbeiträge; die entsprechende Regelung gilt seit Januar.
Das bedeutet Zusatzbelastungen in Höhe von 3 Milliarden Euro. Herr Röttgen, wenn Sie sagen, zusätzliche
Kosten müssten zukünftig gerechtfertigt werden, dann
sind Sie schlicht und ergreifend unglaubwürdig. Sie hätten im Januar die Chance gehabt, dieses unsinnige Gesetz rückgängig zu machen. Sie haben dies nicht gewollt
und haben sehenden Auges 3 Milliarden Euro zusätzliche Kosten für die Betriebe und für die Krankenkassen,
die jetzt zweimal eine Abrechnung machen müssen, in
Kauf genommen. Trotzdem erklären Sie heute, dass Sie
zukünftig die Bürokratiekosten gerne reduzieren wollen.
({11})
Das ist nicht akzeptabel.
Unser Vorschlag zum Antidiskriminierungsgesetz
- Herr Dr. Wend, Sie haben dies angesprochen - ist ganz
einfach: Gehen Sie über eine Eins-zu-eins-Umsetzung
der Europäischen Richtlinien nicht hinaus.
({12})
Wenn Sie jedes Mal bei der Umsetzung einer solchen
Richtlinie weitere Kriterien draufsatteln, dann wird das
nur dazu führen, dass Sie mehr Bürokratie und mehr
Kosten in diesem Land provozieren. Das lassen wir Ihnen als Opposition nicht durchgehen.
Frau Kollegin Homburger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wend?
Gerne.
Frau Kollegin Homburger, könnten Sie mir freundlicherweise erklären, was die Frage, ob in Zukunft auch
Behinderte in den Schutzbereich des Antidiskriminierungsgesetzes genommen werden sollen, mit dem
Thema Bürokratie zu tun hat?
Das will ich Ihnen gerne erklären. Wir haben in
Deutschland eine ganze Reihe von Regelungen, die eine
Diskriminierung verhindern. Wir alle - ich glaube, da
sind wir uns in diesem Hause völlig einig - sind gegen
eine Diskriminierung sowohl von Behinderten als auch
von alten Menschen wie auch gegen eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung. Wir haben
aber klare Regelungen in Deutschland, die das schon
jetzt verhindern.
({0})
Wenn es jetzt auf europäischer Ebene zusätzliche Richtlinien gibt, die in Deutschland umgesetzt werden müssen, dann werden sie - das sagen wir als Rechtsstaatspartei FDP - auch umgesetzt.
({1})
Aber wir sagen Ihnen sehr deutlich: Dass Sie jetzt anfangen, im Zivilrecht Kriterien einzuführen, wonach es
sanktioniert werden kann, wenn zwei Menschen sich
dazu entscheiden, keinen Vertrag miteinander zu schließen, ist schlicht und ergreifend falsch.
({2})
- Moment, ich bin gerade dabei, das zu erklären. - Das
Wesen des Zivilrechts besteht darin, Herr Kollege
Dr. Wend, dass zwei Menschen selber entscheiden können, ob sie einen Vertrag schließen oder nicht.
({3})
Wenn dem einen die Nase des anderen nicht gefällt, dann
braucht er keinen Vertrag abzuschließen, auch wenn Ihnen das nicht passt. Das ist das Wesen des Zivilrechts.
Wenn Sie jetzt hier Kriterien einführen und anfangen,
dies zu ändern, dann führt das nur zu einem: dass zukünftig in diesem Zusammenhang auch im Bereich des
Zivilrechts Klage eingereicht wird und dadurch zusätzliche Bürokratie und höhere Kosten entstehen. Das ist
kontraproduktiv für Deutschland. Wir brauchen dies
nicht, um Diskriminierung zu verhindern. Was Sie jetzt
vorhaben, ist eine überflüssige Vorschrift und überflüssige Bürokratie.
({4})
Deswegen lehnen wir Ihren Vorschlag ab. Ich kann nur
darauf verweisen, dass Frau Dr. Merkel, die heute Bundeskanzlerin ist, das noch vor wenigen Monaten, vor der
Bundestagswahl, genauso gesehen hat wie wir.
({5})
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Unter Schwarz-Rot ist Bürokratie wie eine Hydra.
Schon für jede Ankündigung der Abschaffung einer Vorschrift kommen zwei neue hinzu. Deswegen werden wir
als FDP-Bundestagsfraktion alles daransetzen, Sie auch
zukünftig beim Thema Bürokratieabbau zu treiben, damit es wirklich zu Bürokratieabbau kommt und Kosten
reduziert werden. Die Republik ächzt in diesem Zusammenhang unter Kosten von jährlich 46 Milliarden Euro
und Sie kommen nicht vorwärts. Das muss ein Ende haben, und zwar so, dass wir in diesem Lande mehr Freiheit und damit mehr Chancen insbesondere für mehr Arbeitsplätze haben.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegen Michael Bürsch, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle reden
von Bürokratieabbau. Der Beitrag der Kollegin
Homburger hat aber gezeigt, dass es sehr unterschiedliche Vorstellungen zu diesem Thema gibt. Das gibt mir
Anlass zu ein paar Klarstellungen.
Erste Klarstellung. In diesen Tagen wird heftig über
den Staat diskutiert: Brauchen wir einen starken Staat?
Brauchen wir - das ist das FDP-Modell - einen schlanken Staat? Um es gleich sehr deutlich zu sagen: Das ist
nicht unser Thema, wenn wir über Bürokratieabbau reden.
({0})
Den Ruf nach Bürokratieabbau mit der Forderung nach
einem schlanken Staat gleichzusetzen, bringt uns auf
den Holzweg. Den schlanken Staat bzw. einen Staat zu
wollen, der sich möglichst weit zurückzieht und vielleicht nur noch hoheitliche Aufgaben wahrnimmt, bedeutet nicht, Bürokratie abzubauen, liebe FDPler. Das ist
ein Abbau von Staatsaufgaben. Das mag zwar das neoliberale Verständnis von Bürokratieabbau sein. Aber das
ist nicht unser Verständnis und steht auch nicht zur Debatte.
({1})
Wenn wir von Bürokratieabbau reden, dann meinen
wir gerade nicht den schlanken Staat. Wir meinen damit
nicht den Rückzug aus den staatlichen Aufgaben. Denn
die Auffassung der Sozialdemokraten ist: Wir brauchen
einen starken Staat. Wir brauchen einen Sozialstaat, der
seine Fürsorgepflichten gegenüber seinen Bürgerinnen
und Bürgern wahrnimmt. Der Ruf nach einem schlanken
Staat ist sehr populär. Denn es wird vielfach unterstellt,
dass nur der schlanke Staat zu einer starken Wirtschaft
führen kann, dass ein starker Staat und eine starke Wirtschaft einander ausschließen. Diese Rechnung geht nicht
auf. Wenn Sie eines Beweises dafür bedürfen, sollten Sie
nach England schauen und sehen, was Maggie Thatcher
dort angestellt hat. Das ist die Widerlegung des Staatsmodells „schlanker Staat“.
Die Diskussion um Bürokratieabbau setzt dort an, wo
es darum geht, wie der Staat seine Aufgaben wahrnimmt. Genau an dieser Stelle müssen wir natürlich immer wieder prüfen, wie die öffentliche Hand möglichst
effizient arbeiten kann. Das heißt, wir müssen prüfen,
wie sie Ressourcen schonen und mit möglichst geringer
bürokratischer Belastung der Wirtschaft und der Bürgerinnen und Bürger arbeiten kann.
Zweite Klarstellung. Wenn wir über Bürokratieabbau
reden, dann sollten wir dies bitte schön unter dem Gesichtspunkt tun, es handele sich um ein Gesamtkunstwerk von Staat, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Ich
nenne Ihnen dazu Beispiele: Die Kritik an bürokratischen Regelungen und Verfahren sollte nicht unterschlagen, dass viele Exzesse nicht staatlichen Ursprungs sind,
zum Beispiel die Vorgaben der Berufsgenossenschaften,
das im Gesundheitswesen bzw. zwischen Krankenkassen
und kassenärztlichen Vereinigungen bestehende Regelwerk oder die verschiedenen nationalen und internationalen Normgremien. Die allgegenwärtigen DIN reichen
von der einheitlichen Kennzeichnung von Lineaturen in
Schulheften über Prüfnormen für den Knieschutz bis
zum IT-Management. Das Europäische Komitee für
Normung, CEN, hat im März 2006 stolz verkündet, den
zehntausendsten europäischen Standard verabschiedet
zu haben. Hinzu kommen immer mehr EU-Normen, die
kompliziert und unübersichtlich erscheinen.
Die Wirtschaft sollte sich an ihre eigene Nase fassen.
Es gibt wunderbare Beispiele dafür, wie bürokratisch die
Wirtschaft - das ist die Domäne der FDP - selber verfährt und jede Menge interne Regeln aufstellt. In der
„Zeit“ wurde darüber vor kurzem ein Artikel veröffentlicht. Ein Beispiel: Die Mitarbeiterin eines Chemiekonzerns wollte etwas Gutes tun. Sie schlug vor, zehn
veraltete Computer nicht einfach wegzuwerfen, sondern
an eine Schule abzugeben. Was ist passiert? In allen Abteilungen wurde geprüft, ob das möglich ist. Die Buchhalterin sagte schließlich, das geht nicht, ich kann das
nicht verbuchen. Im Ergebnis landeten die Computer auf
dem Sondermüll. So sieht die Bürokratie aus, die uns die
Wirtschaft vorlebt. Wenn die Wirtschaft mit dem Finger
auf die Politik zeigt, zeigen drei Finger auf sie zurück.
Dritte Klarstellung zu den Möglichkeiten des Gesetzgebers unter dem Gesichtspunkt, dass es nicht um das
Staatsmodell geht, sondern darum, wie wir ressourcenschonend vorgehen und Gesetze besser machen können.
Es geht um eine kosten- und zeitsparende Gesetzesanwendung. Ein Beispiel für eine bessere Gesetzgebung ist
die Vereinfachung und Zusammenführung von Vorschriften. Eine große Hilfe wäre beispielsweise die Zusammenführung der Normen, die das Arbeitsrecht regeln
- sie sind bisher auf viele Einzelgesetze verstreut -, in
einem Gesetz. Ein weiteres Beispiel ist die Vermeidung
von Doppelzuständigkeiten, die wir immer noch zuhauf haben. In Deutschland gibt es - das wissen viele
nicht - zwei Meldewesen, nämlich über das Standesamt
und über das Einwohnermeldeamt. Muss das denn sein?
Viele Länder haben überhaupt kein Meldewesen. Die
USA sind vielleicht nicht das beste Beispiel. Ob wir aber
zwei Meldewesen brauchen, stelle ich infrage. Solche
Beispiele können sie rauf- und runterdeklinieren. An
dieser Stelle können wir ansetzen.
Zu dem heute vorliegenden Gesetzentwurf sage ich:
Das Standardkostenmodell ist der richtige Weg, weil
zum ersten Mal auf der Basis von Zahlen und Fakten mit
den vier Grundrechenarten belegt werden kann, wo man
ansetzen kann. Man darf allerdings nicht zu viel erwarten. Die Informations- und Berichtspflichten, die hiermit
ins Visier genommen werden, machen in der Tat gerade
einmal 5 bis 10 Prozent des bürokratischen Aufwands
aus. Es ist aber immerhin ein richtiger Schritt auf dem
Weg, bei den Kosten Transparenz herzustellen und - das
ist neu - bei den Beteiligten ein Kostenbewusstsein zu
schaffen. Man muss in der Tat bei der Verwaltung anfangen.
Vierte Klarstellung. Das, worüber wir reden, ist eine
Domäne der Bürgerinnen und Bürger. Fassen wir uns
doch einmal an unsere eigene Nase! In Deutschland leisten auch wir, die Bürgerinnen und Bürger, einen erheblichen Beitrag zum Bürokratieaufwand, weil wir bei allen
Entscheidungen der Verwaltung auf Einzelfallgerechtigkeit pochen. Bei finanziellen Ansprüchen ist es sehr beliebt, für den eigenen Fall bis auf zwei Stellen nach dem
Komma Gerechtigkeit zu verlangen, sie notfalls vor Gericht einzuklagen. Das ist eine Aufforderung an uns alle
und an die Organisationen, die im gesellschaftlichen
Sektor tätig sind.
Ich weise darauf hin, dass sich der Deutsche Beamtenbund dieses Themas dankenswerterweise annimmt.
({2})
Er will dafür sorgen, dass in der Verwaltung ein anderes
Bewusstsein, eine andere Mentalität Einzug hält. Die
Verwalter müssen allerdings bereit sein, Ermessen auszuüben. Wir brauchen einen Kulturwandel. Wir brauchen einen Verwalter, der nicht die buchstabengetreue
Verwaltung der Vorschriften anstrebt, sondern bereit ist,
zu gestalten und Verantwortung zu übernehmen. Wenn
der Beamtenbund und andere Organisationen bei diesem
Kulturwandel mitmachen, sind sie herzlich willkommen.
Also: Wir gehen an die Arbeit. Das Werk wird uns
mindestens noch 25 Jahre lang beschäftigen. Viel Vergnügen!
({3})
Ich erteile der Staatsministerin Hildegard Müller das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In Deutschland haben wir - das ist bereits gesagt
worden - ein zu enges Geflecht von Gesetzen und Verordnungen. Viele Vorschriften, Auflagen und Meldepflichten schränken die Spielräume der Menschen, Unternehmen ein und lähmen ihre Initiativen. Deshalb ist es
notwendig, zu überlegen, ob wir unsere Kräfte nicht viel
besser für die Freisetzung innovativer Kräfte nutzen sollten.
({0})
Wir beschneiden die Freiheit und damit die Kreativität
der Menschen und Unternehmen in unserem Land.
Wir alle haben dazu beigetragen. Es wurden bereits
gute Beispiele genannt. Kollege Berninger hat auf das
große Sicherheitsbedürfnis hingewiesen. Wann immer
irgendetwas passiert, wird sofort gefragt: Warum hat die
Politik das nicht geregelt? Warum gibt es Regelungslücken? Warum wurde etwas abschließend nicht so geregelt, dass alles hundertprozentig abgedeckt ist?
Es hat auch viel versteckten Protektionismus aus der
Wirtschaft heraus gegeben. Die Wirtschaft hat ihre Verantwortung mitzutragen und kann sich daraus nicht zurückziehen. Oftmals geht es um den Schutz von Produkten, die Sicherung von Nischen oder vieles andere.
Natürlich hat auch die Verwaltung selber ein Bestreben,
alles perfekt zu machen, und damit hat sie zu den Problemen beigetragen. Das heißt, einfache Schuldzuweisungen nützen uns nichts.
Die Ursache liegt vielleicht darin, dass in den letzten
30 Jahren immer wieder über dieses Thema gesprochen
wurde, aber am Ende nichts passiert ist.
({1})
Wir müssen Kräfte freisetzen - nicht vorrangig für neue
Gesetze, sondern für neue Ideen, die zugleich neue Freiheiten und damit neuen Wohlstand sichern. Unsere Unternehmen müssen wieder investieren, produzieren und
neue Arbeitsplätze schaffen, statt mit neuen Statistiken
beschäftigt zu werden.
({2})
Mit den heutigen Initiativen und dem Programm der
Bundesregierung für Bürokratieabbau und bessere
Rechtsetzung tragen wir diesen Anforderungen an einen
modernen Bürokratieabbau Rechnung. Ziel ist es dabei,
einen wirkungsvollen und zugleich möglichst schlanken
und kostengünstigen Ansatz zum Abbau von Bürokratie
zu wählen. Hierbei sollten wir - das ist gesagt worden durchaus von guten Beispielen aus dem Ausland lernen.
Wir müssen mehr von anderen Ländern - im Übrigen
auch von unseren eigenen Bundesländern - lernen, in
denen es bereits gute Initiativen zum Bürokratieabbau
gibt.
Die Bundesregierung selber hat vor zwei Wochen einen ersten - ich betone: ersten - entscheidenden Schritt
unternommen. Am 25. April dieses Jahres hat das Kabinett das Programm „Bürokratieabbau und bessere
Rechtsetzung“ beschlossen. Dabei handelt es sich um
eine Gesamtstrategie, die den Anforderungen an einen
modernen Bürokratieabbau Rechnung tragen wird. Ziel
dieser Strategie ist es, nicht nur die Reduzierung bestehender Belastungen zu intensivieren, sondern vor allem
auch bei der frühzeitigen Verhinderung neuer Bürokratie
effektiv anzusetzen. Wir brauchen eine bessere Rechtsetzung. Wir vergrößern damit den Freiraum für Wirtschaft
und Gesellschaft.
({3})
Lassen Sie mich kurz nur einige Maßnahmen dieses
Programms vorstellen. Neu ist, dass sich wirklich die gesamte Bundesregierung, alle Kabinettsmitglieder diesem
Ziel verpflichtet haben. Damit sind sich Kabinett, Ministerien und Verwaltung bei diesem Thema einig und werden gemeinsam vorangehen.
Auch wir sind für die Einführung des Standardkostenmodells. Das ist ein innovativer und für Deutschland
neuer Ansatz. Denn bislang hat es keine Methode gegeben, bestehende Bürokratiekosten zuverlässig zu erfassen. Liebe Kollegen von der FDP, Sie haben bemängelt,
dass sich das nur auf Berichts- und Informationspflichten bezieht. Ihr eigener Antrag vom Januar dieses Jahres
beinhaltete genau diesen Ansatz, die Messung von Berichts- und Informationspflichten.
({4})
Darauf sollten Sie hier ehrlicherweise hinweisen.
Das Standardkostenmodell ist eine wichtige Voraussetzung für die Quantifizierung und damit letztlich die
Rückführung von Bürokratiekosten in Deutschland. Der
einheitliche methodische Ansatz erlaubt es, hier
schnellstmöglich vorzugehen und systematisch zu messen. Wir werden die Belastungen, die auf Berichten, Formularen und Anträgen beruhen, sehr konkret messen. Es
gibt zum Beispiel 62 so genannte Primärstatistikerhebungen, 62 Auskunftspflichten, die teilweise mehrfach
pro Jahr erhoben werden. Dies muss sich ändern.
Auf der Grundlage dieser Messung wird die Bundesregierung ein verbindliches Abbauziel für bestehende,
auf Informationspflichten beruhende Bürokratiekosten
festlegen. So wird Bürokratiekostenabbau transparent,
nachvollziehbar und messbar. Wir werden hier darüber
berichten.
Wir wollen uns aber nicht nur auf das Standardkostenmodell beschränken. Auch weitergehende Instrumente und Verfahren sollen geprüft und durchgeführt
werden. Wir müssen noch neue Techniken entwickeln,
um eine umfassende Bewertung aller Lasten durchführen zu können. Wir haben diese Techniken heute noch
nicht. Die Bundesregierung wird in diesem Bereich eigeninitiativ weiterdenken.
Der Normenkontrollrat ist bereits erwähnt worden.
Die Bundesregierung hat sich in ihrem Programm zum
Bürokratieabbau bereits jetzt verpflichtet, den künftigen
Normenkontrollrat regelmäßig in Anspruch zu nehmen.
Es ist gut, dass wir heute die Einrichtung dieses Bürokratie-TÜV auf den Weg bringen. Ich freue mich schon
jetzt auf eine konstruktive und intensive Zusammenarbeit mit den Experten, die in diesem Gremium sitzen
werden. Er soll eine starke Stimme bekommen. Seine
Macht wird die Öffentlichkeit sein. Aber ich sage auch:
Politische Verantwortung ist nicht übertragbar. Auch wir
müssen zu den Dingen stehen, die wir politisch regeln.
Aber das, was für notwendig erachtet wird, sollte so
schlank wie möglich in Kraft treten.
({5})
Ich habe nicht nur die Überprüfung bestehender Normen im Auge, sondern wir müssen auch grundlegende
Ansätze zu besserer Rechtsetzung mit dem Normenkontrollrat besprechen und praktische Umsetzungsmöglichkeiten finden. Ich bin mir sicher, dass der Normenkontrollrat für uns alle eine Bereicherung sein wird.
({6})
Vor diesem Hintergrund und weil das Initiativrecht
für die Gesetzgebung - das ist bereits gesagt worden nicht allein bei der Bundesregierung liegt, würde auch
ich mich freuen, wenn der Sachverstand der Experten
nicht nur von den Bundesministerien genutzt würde.
({7})
Im Laufe des Verfahrens lassen sich ja vielleicht noch
Änderungen vornehmen.
Insbesondere in der Woche des Europatages muss
darauf hingewiesen werden - auch die Bundeskanzlerin
hat das eben ausdrücklich gesagt -, dass auch die Europäische Union erheblich zur Bürokratie beiträgt. Viele
Rechtsetzungsakte gehen mittlerweile auf europäische
Vorgaben zurück. Daher ist es entscheidend, dass wir die
Bürokratie nicht nur beim Bund, sondern auch auf europäischer Ebene begrenzen und, wo möglich, abbauen.
Wir bieten den anderen europäischen Ländern hier unsere Partnerschaft an. Wir sollten nicht nur die Möglichkeiten nutzen, voneinander zu lernen, sondern uns auch
dem gemeinsamen Ziel des Bürokratieabbaus verpflichten.
Dieser Prozess muss auch auf der Ebene der EU in
einem möglichst frühen Stadium der Gesetzgebung besser als bisher berücksichtigt werden. Ich begrüße, dass
Kommissionspräsident Barroso vorgestern angekündigt
hat, die nationale Ebene bereits bei der Formulierung
von Gesetzentwürfen stärker an der Rechtsetzung mitwirken zu lassen. Auch das ambitionierte Programm von
Vizepräsident Verheugen, das Maßnahmen zur Rechtsbereinigung und Folgenabschätzung von EU-Recht enthält, zielt in die richtige Richtung.
Mittlerweile hat auch die Kommission das Standardkostenmodell für sich entdeckt, für das wir ebenfalls
werben. Ich kündige schon jetzt an, dass dieses Thema
im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft im nächsten Jahr einen unserer Schwerpunkte bilden wird. Wir
wollen innerhalb der Europäischen Union eine bessere
Rechtsetzung erreichen.
({8})
Heute beraten wir aber nicht nur die Einführung des
Standardkostenmodells, sondern auch das erste Mittelstandsentlastungsgesetz. Weitere konkrete Maßnahmen
werden folgen. Seien Sie versichert, dass nicht nur die
Bundesregierung viele weitere Ideen hat. Auch aus der
Mitte des Parlaments, zum Beispiel im Parlamentskreis
Mittelstand der Union - er ist bereits erwähnt worden -,
werden eine Reihe von Maßnahmen entwickelt, wie wir
die Unternehmen ganz konkret entlasten können. Durch
die Anhebung der Buchführungspflichtgrenze auf
500 000 Euro werden zum Beispiel 150 000 Unternehmen entlastet.
Der Bürokratieabbau in unserem Land ist eine dringend notwendige Aufgabe. Er ist überfällig und er wird
sich nur als gemeinsame Kraftanstrengung meistern lassen. Ich setze großes Vertrauen in die große Koalition
und bedanke mich schon jetzt für die Unterstützung der
verschiedenen Ressorts der Bundesregierung. Sie macht
mich zuversichtlich, dass wir bei dieser Aufgabe vorankommen werden.
Ich würde mich freuen, wenn wir bei diesem Vorhaben über die Parteigrenzen hinweg zusammenarbeiten
könnten. Dazu liegen Angebote der verschiedenen Fraktionen vor. Ich werde in dieser Frage auf die Fraktionen
zugehen und ihre Expertise einbeziehen. Aber wir sollten ehrlich sein: In keiner Fraktion ist ein Platz für Heiligenscheine angebracht. Wir sollten uns dazu bekennen,
dass wir alle in den vergangenen Jahren Fehler gemacht
haben. Ich denke nur an eine Fragestunde, in der von der
FDP-Fraktion kritisiert wurde, dass sich die Bundesregierung nicht mehr für die Rückhaltebügel in Omnibussen einsetze.
({9})
Dazu sage ich nur: Auch in der FDP mag es in dieser
Frage den einen oder anderen Hänger gegeben haben.
({10})
Wie gesagt: Das Ziel des Bürokratiekostenabbaus ist unser gemeinsames Ziel.
({11})
Ich bedanke mich für die Diskussion. Als Koordinatorin der Bundesregierung für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung werde ich als Ansprechpartnerin fungieren. Ich lade Sie zur Mitarbeit ein. Ich bin mir sicher,
dass wir mit diesem zukunftsweisenden Konzept gemeinsam einen Erfolg haben werden.
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile das Wort Kollegen Carl-Christian Dressel,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Max
Weber hat Bürokratie als die rationale Form legitimer
Herrschaft definiert. Demnach vollzieht sich bürokratische Herrschaft im Unterschied zu traditionaler oder
charismatischer Herrschaft nach überprüfbaren Regeln.
Der Vorteil einer funktionierenden Verwaltung ist, dass
sie für Legitimität und Transparenz im demokratischen
Staatswesen sorgt. Alles Verwaltungshandeln im demokratischen Rechtsstaat muss sich auf Gesetze zurückführen lassen. Ich bin froh, dass wir in Deutschland über
eine, wie ich glaube, effiziente Verwaltung verfügen.
Wir müssen durch unsere Gesetze dafür sorgen, dass die
Verwaltung auch effizient sein kann.
Nicht nur im öffentlichen Dienst gibt es Bürokratie
- wie Kollege Bürsch schon ausgeführt hat -; aber der
öffentliche Dienst in Deutschland, meine Damen und
Herren von der FDP, ist leider seit Jahren dazu verurteilt,
in regelmäßigen Abständen Ihre Anträge zur Entbürokratisierung, die sich nicht nur sinngemäß, sondern auch
im Wortlaut häufig wiederholen, auf Papier zu drucken,
zu verteilen, zu verwalten und vor allem zu ertragen. Da
tun mir nicht nur die Beamten Leid, da tun mir auch die
Bäume Leid, die für das Papier der Drucksachen sterben
müssen.
({0})
Das meine ich nicht im Spaß. Ihre redundante Antragsflut der letzten Jahre hat dazu beigetragen, dass der Begriff des Bürokratieabbaus häufig zu einer Leerformel
verkommt. Ich möchte bei dieser Gelegenheit einen
sachlichen Beitrag beisteuern.
Vonseiten der FDP höre ich immer wieder, Gesetze
bräuchten ein Verfallsdatum. So schreiben Sie unter
Punkt I. 3 des vorliegenden Antrags:
Wenn ein Gesetz ein Verfallsdatum hat und von
ganz allein aufgehoben wird, wird der Aufwand
schon sehr viel größer sein, es dann doch noch zu
verlängern.
Das halte ich für eine gewagte These. Glauben Sie denn
allen Ernstes, dass sich nach Ablauf der Frist bei der
Überprüfung eines Gesetzes die Normierungsgegner
durchsetzen werden? Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Das ist nicht so. In Bayern laufen kommunale Verordnungen nach 20 Jahren aus. Doch nichts ist einfacher,
die identische Rechtsnorm als gut und bewährt erneut zu
verabschieden. Das Gleiche geht im Übrigen aus einer
Studie der Bertelsmann-Stiftung zum Thema Sunset-Legislation hervor: keine Reduzierung der mit Regulierung
verbundenen administrativen Lasten.
Zweitens möchte ich von Ihnen gerne wissen, wie Sie
festlegen wollen, welche Gesetze befristet sein sollen.
Anders als in Ihrem Antrag haben Sie, Frau Homburger,
selbst gesagt, dass es Grenzen bei der Anwendung der
von Ihnen vorgeschlagenen Befristung geben muss;
Quelle „Financial Times Deutschland“, 10. April 2006.
Wo liegen diese Grenzen? Wie wollen Sie eingrenzen,
welche Gesetze ein solches Verfallsdatum haben sollen?
Es ist so wie immer - Rainer Wend hat das auch schon
festgestellt -: Ihre Vorschläge klingen markig und dynamisch, aber sie sind wenig konkret.
({1})
Das Gleiche gilt für den Bürokratiekosten-TÜV. Mit
Normenkontrollrat und Standardkostenmodell setzen wir
unsere Koalitionsvereinbarung zum Bürokratieabbau
jetzt in die Tat um. Wenn Gesetzesvorlagen auf Effizienz
und Wirtschaftlichkeit hin überprüft werden, werden wir
ordentlich Bürokratie einsparen.
Auch wenn für diese Vorlage das strucksche Gesetz
gilt, muss man eines klar machen: Der Nutzen dieser
Form des Bürokratieabbaus liegt in der kritischen Analyse der bürokratischen Auswirkungen einer Gesetzesvorlage, nicht aber ihrer inhaltlichen Zielsetzung.
({2})
Es wird Ihnen wieder nicht gelingen, damit ein Gesetz
zum Kündigungsschutz zum Scheitern zu bringen,
meine Damen und Herren von der FDP.
In der Rechtsbereinigung, die Sie auch ansprechen,
haben wir in der vergangenen Legislaturperiode im Rahmen der Initiative schon Zahlreiches bewegt; gekrönt
wurde es durch die Einsparung von 217 Gesetzen und
Rechtsverordnungen im Bereich des damaligen Ministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung - der größte
Beitrag zur Rechtsbereinigung in 40 Jahren. Sie ignorieren dies schlichtweg.
({3})
Meine Damen und Herren von der FDP, Sie könnten einen wichtigen Beitrag zum Bürokratieabbau leisten,
wenn Sie die Ministerien und auch den Deutschen Bundestag nicht mehr mit der Forderung, jährlich ein Bereinigungsgesetz vorzulegen, von der Arbeit abhalten.
({4})
Für interessant halte ich es, dass Sie im gleichen
Atemzug fordern, neue Maßnahmen zu ergreifen wie
eine Pflicht, die Gesetzesfolgenabschätzung zu dokumentieren. Das führt zum Aufbau von mehr Bürokratie.
Wenn wir im Rahmen der ZPO-Reform über Dokumentierungspflichten sprechen, sind es doch gerade Ihre
Rechtspolitiker, die sagen: Das ist überflüssiger Bürokratismus. Ich kann Ihnen nur auf den Weg mitgeben: Es
reicht, was in §§ 43 und 44 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien steht; es muss nur umgesetzt werden.
Herr Zeil, Sie haben vorhin das Stichwort Staatsverständnis genannt. Anhand der Äußerungen von Ihnen
und Ihren Fraktionskollegen kann man klar und deutlich
erkennen: Es geht Ihnen nicht um Bürokratieabbau, es
geht um das Staatsverständnis. Wenn Sie von Bürokratieabbau sprechen, dann meinen Sie neben dem Aufbau
von Entbürokratisierungsbürokratien doch nur den Abbau von Schutz- und Beteiligungsrechten der Bürger bis
hin zum Abbau des Sozialstaats.
({5})
Die SPD-Fraktion hat Ihrem Antrag in der 15. Legislaturperiode nicht zugestimmt; sie wird ihm auch in der
16. Legislaturperiode nicht zustimmen.
({6})
Sollten Sie in der 17. Legislaturperiode diesem Hause
noch angehören, dann wird auch bei der dann sicherlich
erscheinenden Neuauflage eine Ablehnung des Wiedergängers seitens unserer Fraktion erfolgen.
Ich danke Ihnen.
({7})
Kollege Dressel, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation und alles Gute
für Ihre weitere Arbeit!
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/1406, 16/1407, 16/1167 und
16/119 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? -
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 n sowie
Zusatzpunkte 4 a bis 4 d auf:
22 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Per-
sonenbeförderungsgesetzes und des Allgemei-
nen Eisenbahngesetzes
- Drucksache 16/1039 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt
- Drucksache 16/1110 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Vizepräsident Wolfgang Thierse
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldenwesens des Bundes ({2})
- Drucksache 16/1336 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für
Arbeit und Soziales und des Bundesministeriums für Gesundheit
- Drucksache 16/1293 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes über
die Bereinigung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
- Drucksache 16/1290 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5})
Innenausschuss
f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und
Beschleunigung von Zulassungsverfahren für
Verkehrsprojekte
- Drucksache 16/1338 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Personenbeförderungsgesetzes
- Drucksache 16/1341 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Grundqualifikation und Weiterbildung der Fahrer im Güterkraft- oder
Personenverkehr
- Drucksache 16/1365 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
i) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über die Besteuerung
des Spieleinsatzes
({9})
- Drucksache 16/1032 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({10})
Sportausschuss
j) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung der
Bundesnotarordnung
- Drucksache 16/1340 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
k) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Rechts
der Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt
- Drucksache 16/1344 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({11})
Innenausschuss
Ausschuss für Gesundheit
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({12}), Patrick Döring, Joachim
Günther ({13}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes - Wettbewerb im öffentlichen Personenfernverkehr zulassen
- Drucksache 16/384 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
m) Beratung des Antrags des Bundesministeriums
der Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 2005 - Vorlage der Haushaltsund Vermögensrechnung des Bundes ({15}) -
- Drucksache 16/1122 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Addicks, Hellmut Königshaus, Dr. Werner
Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Die Entwicklungszusammenarbeit mit Kenia
auf den Prüfstand stellen
- Drucksache 16/965 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({16})
Auswärtiger Ausschuss
Vizepräsident Wolfgang Thierse
ZP 4 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Europäischen Übereinkommen vom 6. November 2003 über den Schutz von Tieren beim
internationalen Transport ({17})
- Drucksache 16/1346 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({18})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Brigitte Pothmer, Volker Beck ({19}), Birgitt
Bender, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Ich-AG
- Drucksache 16/1405 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({20})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Flugticketabgabe jetzt - Entwicklungsfinanzierung auf breitere Grundlagen stellen
- Drucksache 16/1203 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({21})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Kerstin Andreae, Marieluise Beck ({22}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Umsetzung des EU-Stufenplans zur Entwicklungsfinanzierung ({23}) durch
Flugticketsteuer unterstützen
- Drucksache 16/1404 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({24})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Zunächst Tagesordnungspunkt 23 a:
23 a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen über
das Recht der nichtschifffahrtlichen Nutzung
internationaler Wasserläufe
- Drucksache 16/738 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({25})
- Drucksache 16/1419 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Petzold
Dirk Becker
Horst Meierhofer
Lutz Heilmann
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/1419, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen oder Enthal-
tungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist damit einstim-
mig angenommen.
Tagesordnungspunkt 23 b:
b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 17. Juni
1999 über Wasser und Gesundheit zu dem
Übereinkommen von 1992 zum Schutz und
zur Nutzung grenzüberschreitender Wasserläufe und internationaler Seen
- Drucksache 16/739 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({26})
- Drucksache 16/1420 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Petzold
Dirk Becker
Horst Meierhofer
Lutz Heilmann
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/1420, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Auch dieser Gesetzentwurf ist
damit einstimmig angenommen.
Vizepräsident Wolfgang Thierse
Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der FDP
Haltung der Bundesregierung zur Umsetzung
der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinie
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Guido Westerwelle, FDP-Fraktion, das Wort.
({27})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben heute Morgen eine Debatte zur Europapolitik geführt. Die Bundeskanzlerin hat sich in ihrer
Rede dafür eingesetzt - wir finden, das ist anerkennenswert -, dass wir aus Brüssel nicht noch mehr Bürokratie
bekommen. Aber wenn man die Bürokratie aus Brüssel
ablehnt, dann darf man in Deutschland aus dem, was aus
Brüssel kommt, nicht noch mehr Bürokratie machen.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der
Unionsfraktion, an dieser Stelle fehlt Ihr Beifall. Denn
mit Verlaub gesagt: Sie waren diejenigen, die in der letzten Legislaturperiode gemeinsam mit uns dafür gekämpft haben, dass das, was aus Brüssel kommt, eins zu
eins umgesetzt wird.
({1})
Davon ist nicht mehr die Rede.
({2})
Sie setzen nicht eins zu eins um, was aus Brüssel
kommt, sondern setzen den Unfug eins zu eins um, den
Rot-Grün begonnen hat. Das ist das Entscheidende.
({3})
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von
der Union, man sieht Ihnen die Freude über dieses
Gesetz an. Sie haben vor ungefähr einem Jahr eine Bundestagsdrucksache eingebracht, über die wir hier gesprochen haben. Sie trägt den Titel: „Kein weiterer Arbeitsplatzabbau - Antidiskriminierungsgesetz zurückziehen“.
Ihre Haltung gegen das Antidiskriminierungsgesetz, wie
sie in diesem Antrag zum Ausdruck kam, war damals
richtig und wäre heute auch noch richtig. Dann müssten
Sie gemeinsam mit uns gegen das, was jetzt Gleichbehandlungsgesetz genannt wird, kämpfen. Rot-Grün hat
das „Antidiskriminierungsgesetz“ genannt; Sie nennen
es jetzt „Gleichbehandlungsgesetz“. Das ist derselbe Unfug in anderer Färbung und dagegen wenden wir uns mit
aller Entschiedenheit.
({4})
Es ist übrigens auch ein Irrtum, zu glauben, dass irgendeiner Minderheit, irgendeiner zu schützenden
Gruppe damit geholfen werden könnte.
({5})
Wir Freie Demokraten -
Herr Dr. Westerwelle, ich muss Sie bitten, Ihre Rede
kurz zu unterbrechen, damit ich den Kolleginnen und
Kollegen der Linksfraktion deutlich machen kann, dass
dies hier kein Ort für Demonstrationen irgendwelcher
Art ist.
({0})
Das können Sie draußen machen.
({1})
Was wir dagegen hier tun, ist, uns mit Worten auseinander zu setzen und nicht mit Transparenten.
({2})
Deswegen würde ich Sie bitten, die Transparente und die
T-Shirts, die die Funktion von Transparenten haben,
draußen zu zeigen, aber nicht hier drinnen.
({3})
Wenn Sie mir noch die Bemerkung erlauben: Einige
von Ihnen sollten diese T-Shirts nicht tragen. Die sind
bei Ihrer Figur wirklich nicht mehr kleidsam.
({0})
Ich meinte die Herren, damit das gleich klar ist.
({1})
Herr Dr. Westerwelle, ich muss die Sitzung unterbrechen, bis die Kollegen sowohl die Transparente als auch
die T-Shirts nach draußen geschafft haben.
({0})
Frau Präsidentin, bei allem Respekt: Ich bin der Überzeugung, dass Sie das richtig machen und auch für Ordnung sorgen. Aber wozu ich nicht bereit bin, ist: Wenn
vom Präsidium aus eine solche Demo gemacht wird, tue
ich hier nicht so, als ginge das einfach so weiter. Das
mache ich nicht mit.
({0})
Dann unterbrechen wir jetzt hier. Ich würde dann jetzt
beantragen, dass die Sitzung unterbrochen wird.
Herr Dr. Westerwelle, die Sitzung ist im Moment unterbrochen.
({0})
Na, fabelhaft.
({0})
- Ich habe mich selten so gefreut, einen Grünen da oben
zu sehen.
({1})
Ich würde die Sitzung jetzt gern wieder aufnehmen.
Nachher haben wir eine Ältestenratssitzung. Da gibt es
möglicherweise Leute, die das dort thematisieren wollen.
Ich erteile Herrn Dr. Westerwelle also erneut das
Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Wir kommen jetzt
wieder zur Sache zurück. Ich will zu dem Gleichbehandlungsgesetz, das dem ehemaligen Antidiskriminierungsgesetz eins zu eins entspricht und das Sie dem Deutschen
Bundestag vorlegen, noch eine Bemerkung dazu machen, welcher Schutz damit eigentlich erreicht wird. Aus
unserer Sicht ist es eben Unfug, zu glauben, man könne
irgendeiner der zu schützenden Minderheiten hiermit irgendwie helfen. Das Ergebnis dieses Antidiskriminierungsgesetzes wird nicht sein, dass den zu Schützenden
geholfen wird. Die werden zu den Vorstellungsgesprächen gar nicht mehr eingeladen, weil die Firmen befürchten müssen, mit irgendwelchen Verbandsklagen
überzogen zu werden.
({0})
Deswegen bedeutet dieses Gesetz eine Ausweitung
von Bürokratie. Es ist minderheitenfeindlich. Hier wird
keinem Behinderten geholfen; hier wird keinem Schwulen geholfen; hier wird keiner Lesbe geholfen; hier wird
niemandem geholfen, der zu Recht geschützt werden
muss. In Wahrheit ist es ein Gesetz, das den zu Schützenden schadet. Auch das muss klar gesagt werden.
({1})
Wir wollen an dieser Stelle festhalten: Diese Debatte
findet in diesem Hause ja nicht zum ersten Mal statt. Wir
haben das, was jetzt vorgelegt wird, schon einmal gemeinsam verhindert.
({2})
Union und FDP haben im Bundesrat diesen Unfug von
Rot-Grün angehalten. Jetzt kommt er wieder. Wir wissen, dass Ihre eigenen Leute darüber entsetzt sind. Jeden
Tag lese ich von einem Kollegen aus der Unions-Bundestagsfraktion, was das für ein Schrott von Rot-Grün
ist, den sie hier heute durchbringen sollen.
({3})
Ich sage Ihnen dazu: Denken Sie an Ihr freies Mandat.
Mannesmut vor Königinnentreue, das ist hier jetzt angesagt.
({4})
Damit das Ganze korrekt bleibt: Frauenpower selbstverständlich auch.
Wir Freien Demokraten sind der Überzeugung, dass
den Minderheiten hier geschadet wird, weil sie in Wahrheit um Chancen gebracht werden, dass der Mittelstand
mit noch mehr Bürokratie belastet wird, dass deutschen
Interessen durch dieses Gesetz nicht entsprochen wird,
dass sie vielmehr in Europa benachteiligt werden. Wir
können auch auf die Regierungserklärung, die schließlich von Ihrer eigenen Bundeskanzlerin hier abgegeben
worden ist, verweisen. Die Bundeskanzlerin hat hier in
ihrer Regierungserklärung gesagt: Wir haben uns vorgenommen, die EU-Richtlinien im Grundsatz nur noch
eins zu eins umzusetzen. Wenn wir uns zusätzlich zu
dem, was wir in Europa vereinbaren, Lasten aufbürden,
haben wir gegenüber unseren europäischen Mitbewerbern keine fairen Chancen. - Das war richtig, das bleibt
richtig und es ist gut, dass es noch eine Kraft in diesem
Hause gibt, die sich an das erinnert, was Sie früher mit
vertreten haben, nämlich mehr Freiheit und weniger Bürokratie.
({5})
„Mehr Freiheit wagen“ war doch eigentlich die Überschrift Ihres Amtsantritts.
Man ist einigermaßen atemlos darüber, mit welch rasantem Agendawechsel wir es in diesem Hause zu tun
haben. Wir werden darüber mit Sicherheit noch manches
Mal reden. Ich appelliere an die Ministerpräsidenten der
Bundesländer, die diesen Unfug schon einmal mit uns
gestoppt haben, es auch diesmal wieder im Bundesrat zu
tun. Wir werden jedenfalls dann an deren Seite stehen.
Es darf nicht dazu kommen, dass Herr Müntefering mit
seinem berühmten Satz nach der Regierungsbildung
„Schwarz ist auch nur ein ganz dunkles Rot“ Recht bekommt. Das wäre wirklich bedauerlich.
Wir brauchen mehr Freiheit. Wir müssen mehr Freiheit wagen. Das schafft Arbeitsplätze in Deutschland
und nicht diese Bürokratie. Ob sie von Schwarz-Rot
oder von Rot-Grün kommt - sie ist in beiden Fällen Unfug.
({6})
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Jürgen Gehb,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Europäische Kommission hat am 23. Februar dieses Jahres vor dem Europäischen Gerichtshof ein unter dem
Aktenzeichen C-43/05 geführtes Feststellungsurteil erwirkt, das in etwa folgenden Tenor hat: Die Bundesrepublik Deutschland hat ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur
Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beruf und Beschäftigung verletzt, indem sie nicht alle Verwaltungs- und
Rechtsvorschriften erlassen hat, die notwendig sind, um
dieser Richtlinie in Bezug auf bestimmte Diskriminierungsmerkmale nachzukommen.
Warum erwähne ich dieses Urteil? Die Zeit drängt.
Nach diesem Erkenntnisverfahren folgt sozusagen das
Vollstreckungsverfahren,
({0})
mit der Konsequenz, dass eine Strafe in Höhe von
900 000 Euro fällig wird für jeden Tag, den diese Richtlinie nicht umgesetzt ist.
Diese Koalition hat diese Richtlinie nun umgesetzt.
Gestern hat die Bundesregierung einen entsprechenden
Gesetzentwurf im Kabinett verabschiedet.
({1})
Die heutige Aktuelle Stunde gibt mir keinen Anlass
und lässt mir auch nicht Zeit genug, jedes Detail dieses
Gesetzesvorhabens hier darzulegen. Ich möchte damit
auch nicht den einzelnen Lesungen vorgreifen. Deshalb
will ich mich auf zwei oder drei allgemeine Erwägungen
beschränken.
Herr Westerwelle, jede europäische Richtlinie ist in
nationales Recht umzusetzen, ob sie einem nun gefällt
oder nicht.
({2})
Diese europäische Antidiskriminierungsrichtlinie gefällt
mir eher nicht. Dies gilt übrigens auch für viele andere
Richtlinien, zum Beispiel die FFH-Richtlinie, die Vogelschutzrichtlinie, die uns bis aufs Blut drangsaliert.
Lassen Sie mich eine Metapher wählen, damit das
auch diejenigen im Publikum verstehen, die sich nicht
von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang mit dem
Wechselspiel von europäischem und nationalem Recht
beschäftigen:
({3})
Wenn Sie einen lange in der Sonne liegenden und inzwischen übel riechenden Handkäse verpacken müssen,
dann macht es keinen Unterschied, ob Sie diesen in eine
alte Pappschachtel legen oder in einen Parfümflakon
versenken wollen. Das olfaktorische Unbehagen bleibt
mit nur graduellen Unterschieden bestehen.
({4})
Ich mache hier und heute keinen Hehl aus meiner bei
jeder Gelegenheit artikulierten Auffassung: Diese Antidiskriminierungsrichtlinien - ich betone: bereits die
Richtlinien - stellen einen fundamentalen Angriff auf
unsere kontinentaleuropäische und vom Grundsatz der
Privatautonomie geprägte Rechtsordnung dar. Dazu
stehe ich und dabei bleibe ich auch. Dennoch müssen
wir sie umsetzen.
({5})
Deswegen hatte der „Tagesspiegel“ auch vollkommen
Recht, als er vor zwei Tagen geschrieben hat: Wer dieses
Projekt hätte stoppen wollen, der hätte das vor langer,
langer Zeit in Brüssel tun müssen.
({6})
Deshalb liegt das Kind nicht nur nicht erst seit gestern
im Brunnen, sondern dieser Brunnen steht auch nicht an
der Spree.
({7})
Einem weiteren Leitsatz möchte ich frönen: Das
Wünschbare darf nicht zum Feind des Machbaren und,
wie in diesem Fall, auch Erforderlichen werden.
Wünschbar wäre sicherlich - nicht jeder teilt diese Auffassung - eine Alleinregierung der CDU/CSU. Dann
sähe nicht nur dieses Gesetzeswerk anders aus, dann
würden wir uns vielleicht auch eher dem Parfümflakon
nähern.
({8})
Auch wenn unser jetziger Koalitionspartner oder irgendeine andere Fraktion alleine regieren würde, sähe
das Gesetzeswerk anders aus. Freilich würde man sich
dann vielleicht eher in der Nähe zur Pappschachtel befinden. In diesem Hause gibt es seit geraumer Zeit aber
keine Alleinregierung.
({9})
Weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün, noch Schwarz-Rot
sind von der Not entbunden, Kompromisse finden zu
müssen.
({10})
Dieser Kompromiss - nicht mehr und nicht weniger - ist
gefunden worden. Wenn es zur Lesung des Gesetzes
kommt, können wir uns um die arithmetische Umsetzung kümmern. Darüber, ob sie im Grundsatz eins zu
eins, eins zu 1,1 oder eins zu 0,9 beträgt, können wir uns
trefflich streiten. Für heute soll es damit sein Bewenden
haben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Dr. Ilja
Seifert das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Gehb, wenn es in diesem
Lande und auf diesem Kontinent Dinge gibt, die fundamental gegen unser Verständnis von Gerechtigkeit verstoßen, dann ist es die Diskriminierung von Minderheiten und nicht die Umsetzung einer Richtlinie. Ich finde,
Sie haben das Pferd völlig von hinten aufgezäumt.
({0})
Auf Wunsch der FDP reden wir hier darüber, wie sich
die Bundesregierung zur Antidiskriminierungsrichtlinie
verhält. Sie, die FDP, möchten sie am liebsten ganz und
gar verhindern. Herr Westerwelle, Sie versteigen sich
dazu, zu sagen, dass Minderheiten durch diese Richtlinie
eher Schaden als Nutzen haben.
({1})
- Es ist wirklich unglaublich, was Sie hier sagen.
({2})
Wenn es wenigstens so wäre, dass die Regierung die
Richtlinie eins zu eins umsetzte, dann wäre ich ja schon
heilfroh. Schauen wir aber doch bitte einmal nach, worum es überhaupt geht. An einem einzigen Punkt geht
die Regierung ein kleines bisschen darüber hinaus, nämlich bei der Aufzählung der betroffenen Gruppen. Bei
der Aufzählung der betroffenen Gruppen würde noch zusätzlich dadurch diskriminiert, wenn die einen die Guten
und die anderen die Schlechten bzw. die Bösen genannt
würden.
Ein anderer Punkt ist die Überschrift. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob Diskriminierung verboten oder
nur so getan wird, als ob ein allgemeines Gleichbehandlungsgebot eingeführt wird. Wenn man Diskriminierung
wirklich verhindern will, dann muss man gerade ungleich behandeln.
({3})
Weil die diskriminierten Gruppen benachteiligt sind,
muss ihnen eine Chance gegeben werden, diesen Nachteil auszugleichen. Wenn bei ungleichen Verhältnissen
alle gleich behandelt werden, dann wird dadurch nur die
Ungleichheit reproduziert. Das soll aber gerade überwunden werden.
Weil die Regierung der Meinung ist, dass es in diesem
Lande keine Diskriminierung gibt, weil es sie nicht
geben darf, wird das Gesetz auch nicht Diskriminierungsverbot, sondern Gleichbehandlungsgebot genannt.
Schon da fällt sie weit hinter die Richtlinie zurück. Es
wird also nicht im Verhältnis eins zu eins oder eins zu
1,1, sondern im Verhältnis eins zu 0,5 umgesetzt.
Es geht aber noch weiter. Die Antidiskriminierungsrichtlinie der EU besagt nichts anderes als das, was in
Art. 13 des Amsterdamer Vertrages steht, dass nämlich
Diskriminierung verboten ist. Was steht in dem von der
Regierung vorgelegten Gesetz? Diskriminierung ist mit
Ausnahme folgender Punkte verboten. Es folgt unter anderem die Ausnahme, dass es ausreicht, einen so genannten „sachlichen Grund“ geltend zu machen, der
dann wieder zu einer Diskriminierung berechtigt. Ein
sachlicher Grund ist nach allgemeiner Rechtsprechung
in diesem Lande - Herr Westerwelle, Sie sind Jurist genug, um das zu bestätigen - die Angabe, dass die Beseitigung der Diskriminierung zu teuer sei. Die EU-Richtlinie sieht aber nicht vor, dass Diskriminierung erlaubt ist,
wenn ihre Beseitigung nur teuer genug ist.
Ich nenne ein Beispiel. Wenn vor dem Eingang zum
Rathaus drei Treppenstufen sind, dann können die Behindertenorganisationen verlangen, eine Rampe zu
bauen; das ist gerade noch möglich. Wenn aber verhindert werden soll, dass Behinderte ins Rathaus kommen,
dann werden vor dem Eingang zum Rathaus neun Stufen
gebaut; denn dort eine Rampe hinzubauen, wäre viel zu
teuer. Also ist es keine Diskriminierung. Diese Denkweise ist doch absurd.
({4})
Demzufolge ist dieser Finanzierungsvorbehalt, der
sich hinter dem „sachlichen Grund“ versteckt, abzuschaffen. Dieses Gesetz setzt die Richtlinie nicht um,
sondern fällt weit dahinter zurück.
Sie aber, Herr Westerwelle, tun ebenso wie Ihre ganze
Fraktion so - das ist bedauerlich -, als sei das Ganze ein
furchtbares und schlimmes bürokratisches Hindernis auf
dem Weg zur realen Gleichbehandlung von Menschen
mit unterschiedlichen Handicaps. Das Handicap kann
beispielsweise auch aus einem Migrationshintergrund
bestehen.
({5})
- Nein, ich will keine Gleichbehandlung, sondern ich
will Ungleichbehandlung, um am Ende eine Gleichstellung zu erreichen. Das Ziel ist die Gleichstellung, nicht
die Gleichbehandlung.
({6})
Genau darüber reden wir; das dürfen wir nicht verwechseln.
Ich finde diese Aktuelle Stunde sehr wichtig. Der Impetus darf aber nicht sein, dieses Antidiskriminierungsgesetz zu verhindern, sondern der Impetus muss dahin
gehen, dieses Gesetz auszuweiten, sodass Sanktionen
wirklich greifen. Momentan enthält dieses Gesetz keinerlei wirksame Sanktionsmöglichkeiten. Es passiert
doch gar nichts, wenn nichts passiert. Das ist das
Schlimme.
Wenn wir wenigstens erreichen würden, dass in der
Bevölkerung das Bewusstsein entsteht, es sei unanständig, Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung,
({7})
wegen ihrer Behinderung oder wegen ihrer Herkunft zu
diskriminieren, dann hätten wir schon etwas erreicht.
Aber wenn nichts passiert und Menschen trotzdem diskriminiert werden, dann haben wir wenig erreicht. Deshalb muss dieses Gesetz Möglichkeiten zu Sanktionen
enthalten, die bei Verstößen gegen dieses Gesetz zum
Einsatz kommen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Ich danke Ihnen für die Möglichkeit, hier vor diesem
Haus zu reden. Aber ich danke Ihnen überhaupt nicht für
den Impetus, den Sie damit verbinden.
({9})
({10})
Für die Bundesregierung hat das Wort jetzt die Bundesministerin Brigitte Zypries.
({0})
- Das wissen Sie in zehn Minuten. Gedulden Sie sich
noch so lange und hören Sie schön zu!
({0})
Ich muss erst einmal anfangen. Wenn das so weitergeht,
dann sind zehn Minuten schon richtig. Das ist wie mit
der Frage der Umsetzung.
Wird das alles im Protokoll festgehalten?
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt in der Tat Themen in der Politik, bei denen es
schwierig ist, eine sachliche Debatte zu führen, weil die
Vorurteile der verschiedenen Seiten so manifest sind,
dass die Menschen das, worum es im Gesetzentwurf
geht, in der Regel nicht mehr wahrnehmen. Ich erlebe
das in meinem Ressort leider nicht nur bei diesem Gesetz.
Im Urheberrecht gibt es ein ähnliches Problem. Da
hat man sich auf eine bestimmte Weise festgelegt und
meint, es seien Vorschläge im Gesetzentwurf enthalten,
die aber gar nicht drinstehen. Es gibt Interessengruppen,
die immer wieder mit der Behauptung, im Gesetzentwurf seien bestimmte Vorschläge enthalten, öffentlich zu
Felde ziehen. Damit erreichen sie aber das Gegenteil.
Dasselbe Problem stellt sich beim Antidiskriminierungsgesetz, besser gesagt beim Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. In Heft 18/2006 des „Focus“ wird Herr
Wendt, der Chef der gleichnamigen Maschinenbau
GmbH aus Georgsmarienhütte, dem ein zweiseitiger Bericht gewidmet ist, wie folgt zitiert:
Seit das Antidiskriminierungsgesetz gilt, betreiben
wir bei Stellenausschreibungen und Bewerberauswahl einen Riesenaufwand,
({0})
um uns gegen Klagen abzusichern. Denn wir müssen im Zweifelsfall nachweisen, dass wir einen Bewerber nicht diskriminiert haben. Bei Bewerbungsgesprächen sind wir jetzt immer zu dritt.
({1})
Es ist immer wieder dasselbe Phänomen: Es wird eine
Behauptung in den Raum gestellt und die Menschen
denken, dass dies auch zutrifft. Dabei gilt die betreffende
Regelung noch gar nicht. Sie wissen überhaupt nicht,
wovon sie reden.
Insofern danke ich sehr für diese erste Gelegenheit
- es wird noch mehrere geben -, deutlich zu machen,
worum es beim Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz
geht. Das erste, was wir lernen müssen, ist, dass es zwei
verschiedene Regelungsbereiche gibt. Genauer gesagt
gibt es sogar drei. Es gibt erstens eine Antirassismusrichtlinie, die sich auf das Verbot der Diskriminierung
wegen Rasse und ethnischer Herkunft bezieht und die einen sehr tiefen Regelungsbereich hat. Sie gilt sowohl im
Arbeitsrecht als auch im Zivilrecht. Im Zivilrecht greift
sie sogar relativ tief in die Rechtsverhältnisse ein und bewirkt damit das, von dem Herr Gehb gesagt hat, dass wir
es in Deutschland nicht kennen. Wir haben nämlich im
Grundsatz keine Vorschriften, an wen man sich wenden
darf; wir halten die Vertragsfreiheit sehr hoch.
Die Antirassismusrichtglinie regelt außerdem den Zugang zu Bildung, Gesundheit und Sozialleistungen. Das
heißt, der zweite Schwerpunkt liegt im öffentlichen
Recht.
Daneben gibt es zwei Richtlinien, die sich auf das Arbeitsrecht erstrecken und auf die sich das Urteil des
EuGH bezieht. Diese enthalten die Merkmale Religion
und Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexuelle Identität und Geschlecht, Rasse und ethnische Herkunft sind
nicht enthalten; sie sind an anderer Stelle geregelt. Aber
alle anderen Merkmale nach Art. 13 des EG-Vertrages
werden berücksichtigt. Eine Diskriminierung wegen der
in diesem Artikel genannten Merkmale darf in Europa
nicht erfolgen.
Damit wird übrigens auch durch den europäischen
Vertrag dokumentiert, dass es sich bei der EU - Herr
Westerwelle, Sie haben mit dem Zitat von Frau Merkel
zu Recht darauf hingewiesen - nicht nur um eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch um eine Wertegemeinschaft handelt.
({2})
Es ist völlig klar, dass die EU nicht nur die Wirtschaft
schützen will, sondern auch die Werte. Was anderes als
gelebte Menschenrechtspolitik ist denn die Wertepolitik
der EU?
({3})
Wir haben also im Arbeitsrecht eine andere Regelungstiefe als im Zivilrecht. Im Zivilrecht gibt es nur
eine Regelung in Bezug auf das Geschlecht, nämlich die
Vierte Gleichstellungsrichtlinie, sowie eine Richtlinie,
die die Merkmale Rasse und ethnische Herkunft schützt
und deren Regelungstiefe sehr viel weiter geht. Das
heißt, es gibt ein buntes Durcheinander von verschiedenen Regelungsbereichen.
Eines ist aber gegeben, Herr Westerwelle: Im Arbeitsrecht gilt die Gleichbehandlung aller Merkmale. Insofern setzen wir im Arbeitsrecht - das ist unstreitig, wie
Ihnen Ihre Mitarbeiter sicherlich bestätigen werden - die
Richtlinie eins zu eins um.
({4})
Wir machen im Arbeitsrecht nichts anderes als das, was
bezüglich des Geschlechts seit 25 Jahren - beispielsweise in § 611 a BGB - geltendes Recht in Deutschland
ist. Mehr machen wir nicht.
({5})
Die Grünen behaupten nun, wir machten sogar weniger. Wir sagen aber, dass es genauso viel ist. Das klären
wir vielleicht in der ersten Lesung. Erst einmal gilt: Aus
der Umsetzung ergibt sich nicht mehr Bürokratie für die
Arbeitgeber als das, was sie durch den § 611 a seit
25 Jahren kennen. Der einzige Unterschied ist, dass sich
die Regelung nicht nur auf das Geschlecht, sondern auch
auf alle anderen Diskriminierungsmerkmale in Art. 13
des EU-Vertrages bezieht. Meiner Meinung nach ist das
nicht kritikwürdig.
({6})
Beim Zivilrecht gibt es nun unterschiedliche Regelungstiefen und Diskriminierungsmerkmale wie Rasse,
ethnische Herkunft und Geschlecht. Deshalb vertreten
wir die Meinung: Bei Massengeschäften des täglichen
Lebens - das sind solche Geschäfte, bei denen jemand
einer unbestimmten Vielzahl von Menschen eine Vielzahl von Angeboten macht, beispielsweise wenn man im
Kaufhof ein Haarshampoo, bei Karstadt ein paar Unterhosen oder bei Ebay ein Fahrrad im Angebot kaufen
will; also überall dort, wo es dem Verkäufer egal ist, mit
wem er den Vertrag schließt, handelt es sich um ein Massengeschäft - kann es keinen Grund für Diskriminierung
geben, weil wir hier die Wertentscheidung aus Art. 13
des EU-Vertrages anwenden. Mit anderen Worten: Wir
haben hier alle Merkmale aufgenommen. Ich glaube,
dass das Sinn macht.
Natürlich kann man fragen: Warum regelt ihr das
denn? Solche Fälle sind doch in der Vergangenheit in
Deutschland über die Generalklauseln des bürgerlichen
Rechts abgehandelt worden. In §§ 138 und 242 BGB
sind solche Fälle gerichtsfest gelöst. - Das waren für die
Richterinnen und Richter aber immer nur Krücken,
Hilfsmittel. Nun gibt es eine Regelung, die besagt: Wenn
jemand keine Arme hat, weil er als Contergan-Geschädigter geboren wurde, darf er nicht eines Lokals verwiesen werden, weil er nur mit den Füßen essen kann. Warum will man so jemandem verbieten, in einem
öffentlichen Lokal zu essen?
({7})
Warum will man Menschen, die eine Behinderung oder
ein bestimmtes Alter haben, bestimmte Massengeschäfte
versagen? Wodurch ist legitimiert, dass beispielsweise
70-Jährigen, die die notwendigen Sicherheiten bieten,
pauschal kein Kredit gewährt wird?
({8})
Warum sollten wir den Banken in Deutschland eine
solch pauschale Vorgehensweise nicht verbieten, wenn
die individuellen Voraussetzungen - diese dürfen natürlich überprüft werden; das steht ausdrücklich in unserem
Gesetzentwurf - gegeben sind? Verehrte Frau Kollegin,
das ist der Unterschied zwischen öffentlichem Recht und
Zivilrecht: Die Verfassung besagt, dass der Staat nicht
diskriminieren darf. Wir reden hier aber über das Zivilrecht.
({9})
Wir legen fest, dass man in solchen herausgehobenen Situationen im Zivilrechtsverkehr nicht diskriminieren
darf.
({10})
Da dies noch nicht geregelt ist, muss es im Rahmen der
Umsetzung der EU-Richtlinien einfachgesetzlich geregelt werden; das ist nun einmal so.
Da meine neun Minuten Redezeit gleich vorbei sind,
möchte ich zusammenfassend feststellen, dass wir die
EU-Richtlinien sachgerecht umsetzen. Nur bei den Massengeschäften des täglichen Lebens haben wir zusätzliche Diskriminierungsmerkmale eingeführt, ansonsten
werden die EU-Richtlinien eins zu eins umgesetzt. Darüber hat schon Rot-Grün lange gestritten. Herr Bosbach
und Herr Gehb haben den letzten Feinschliff vorgenommen und noch weitere Verhandlungsergebnisse in diesem Sinne erzielt. Ich kann jedenfalls nicht erkennen, wo
die EU-Richtlinien im Arbeitsrecht nicht eins zu eins
umgesetzt werden und wo die Umsetzung über das hinausgeht, was bereits im Betriebsverfassungsgesetz geregelt ist.
({11})
- Das ist ein anderer Punkt. Es ist jedenfalls geltendes
deutsches Recht.
Ich schließe mich den Worten meines Vorredners an
und sage vielen Dank für die Gelegenheit, einmal im Zusammenhang darzustellen, was wir eigentlich regeln. Ich
fände es schön, wenn ein bisschen Sachlichkeit in die
Diskussion einkehrte
({12})
und wenn man zur Kenntnis nähme, dass es nicht darum
geht, Bürokratiemonster aufzubauen, sondern darum, die
EU-Richtlinien umzusetzen, und zwar möglichst schnell
- denn aufgrund des politischen Streits sind wir schon
spät dran -, und dass unsere Regelungen sachgerecht
sind.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland bekommt ein Gleichbehandlungsgesetz und
- um mit den Worten des Berliner Bürgermeisters zu
sprechen - das ist auch gut so. Nach einigem Gezerre hat
sich die Koalition offensichtlich geeinigt und siehe da:
Der Ansatz von uns Grünen hat sich weitgehend durchgesetzt. Das ist ein Sieg der Vernunft, ein Erfolg der besseren Argumente. Das zeigt deutlich: Grüne Politik
wirkt nachhaltig.
({0})
Im Detail werden wir uns noch streiten. Die Koalition
will einige Abstriche machen. Das gefällt uns nicht. Deshalb werden wir den Gesetzentwurf der Regierung auf
Herz und Nieren prüfen. Verwässerungen werden wir
entgegentreten; denn das Gleichbehandlungsgesetz darf
kein Papiertiger werden, es muss einen wirksamen
Schutz vor Ausgrenzung gewährleisten.
Herr Bosbach, Sie haben nach dem Lob gefragt. Ich
will mit Lob nicht geizen,
({1})
obwohl gestern eine große Zeitung schrieb, der größte
Fehler des Gesetzes sei, dass die Grünen es lobten.
({2})
Die Richtung stimmt. Unsere zentrale Forderung war
immer: Das Gleichbehandlungsgesetz darf niemanden
ausgrenzen und
({3})
es muss klarstellen,
({4})
dass niemand wegen seiner ethnischen Herkunft, des
Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer
Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität benachteiligt werden darf. Ich freue mich über den Zuspruch.
({5})
Dieses Ziel ist offenbar erreicht. Behinderte, ältere Menschen, Lesben und Schwule sowie religiöse Minderheiten sind nun auch im Zivilrecht geschützt. Das ist ein
wichtiger gesellschaftspolitischer Fortschritt. Das ist,
wie die Ministerin sagte, die eigentliche Erweiterung
über die Richtlinie hinaus.
Halten wir doch fest: In diesem Hause gibt es nur
noch eine Fraktion, die geschlossen dagegen schäumt,
dass Lesben und Schwule in das Gesetz voll einbezogen
werden. Es gibt nur noch eine Partei, die unbedingt erreichen will, dass behinderte Menschen im Zivilrecht ausgeschlossen bleiben, und diese sitzt hier auf der ganz
rechten Seite.
({6})
Es ist die FDP,
({7})
die weiter Amok gegen dieses Gesetz läuft. Meine Damen und Herren von der FDP, für eine Partei, die sich
angeblich um Bürgerrechte kümmern will - ich kenne
die Aussage noch -, ist Ihre heutige Aufführung wirklich
eine Schande.
({8})
Sie haben einen einseitigen Freiheitsbegriff. Für Sie
zählt nur die Freiheit derjenigen, die etwas besitzen. Sie
stehen für die nackte Ellenbogenfreiheit.
({9})
Wir verstehen Freiheit umfassend. Vertragsfreiheit
gilt immer für beide Seiten, für die Arbeitgeber und die
Arbeitnehmer, für die Anbieter und für die Verbraucher.
Vertragsfreiheit heißt eben auch: Alle Menschen müssen
am Markt teilnehmen können. Keine Person darf ausgegrenzt werden, weil sie eine dunkle Haut hat, weil sie
eine Frau ist oder weil sie angeblich zu alt ist. Wir wollen Freiheit und gesellschaftliche Verantwortung, Freiheit und Gerechtigkeit. Deshalb bedeutet Diskriminierungsschutz mehr Freiheit für die Bürgerinnen und
Bürger.
Auch als Wirtschaftspartei, meine Kolleginnen und
Kollegen von der FDP, sind Sie nicht auf der Höhe der
Zeit. Das Wohl der Wirtschaft hängt doch nicht davon
ab, dass sie Schwule, Lesben und Menschen mit Behinderung diskriminiert.
({10})
Erfolgreiche Unternehmen wissen schon längst, dass Diversity das Erfolgsmodell der Zukunft ist.
({11})
Zurück zum Koalitionsvertrag. Es war sehr merkwürdig, wie die Einigung zustande kam. Ministerpräsident
Stoiber hat eine höhere Vorsteuerpauschale für Landwirte herausgeschachert. Im Gegenzug hat er seinen Widerstand gegen die Aufnahme von Lesben und Schwulen
in das Gesetz aufgegeben. Das war für Stoiber wohl ein
Bauernopfer, diesmal anders herum gesehen. Es wirft
kein gutes Licht auf diese Koalition, dass sie ernsthafte
Bürgerrechtsfragen so verhandelt, als sei man auf dem
Viehmarkt in Vilshofen.
Die Bundeskanzlerin erlebt in den letzten Tagen einen
mittleren Aufstand in den eigenen Reihen. Das ist kein
Wunder. Wer jahrelang die Eins-zu-eins-Umsetzung von
EU-Richtlinien als höchstes Glaubensdogma gepredigt
hat, darf sich nicht wundern, wenn jetzt die aufgehetzten
Fußtruppen irritiert sind.
Das Einlenken der Koalitionsspitze im Ausschuss
zeigt deutlich: Das jahrelange Gezeter von Frau Merkel
und Herrn Stoiber gegen das Antidiskriminierungsgesetz
war absolut unehrlich und das rächt sich jetzt einfach.
Was haben Sie alles für Schauergeschichten über den
Untergang des Abendlandes erzählt! Dabei schafft die
deutsche Bundesregierung lediglich ein Gesetz, wie es
viele andere Länder in Europa längst haben. Ich muss sagen: Die Wirtschaftlichkeit in diesen Ländern ist höher
als in Deutschland.
Mein Appell an die Koalition: Bringen Sie Ihren Gesetzentwurf nun endlich ein! Wir werden darüber sachlich diskutieren und für jeden vernünftigen Ansatz haben
Sie unsere Unterstützung.
Eines möchte ich aber noch festhalten, Herr
Westerwelle: Vor Wahlen versuchen Sie immer den Eindruck zu erwecken, Sie seien für die gleichen Rechte
von Homosexuellen.
({12})
Heute stelle ich fest, dass die CDU schwulen- und lesbenfreundlicher ist als die FDP.
({13})
Ich nehme das so zur Kenntnis und ich freue mich auf
die Debatten, die wir demnächst führen werden.
({14})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt
verschiedene Möglichkeiten, eine parlamentarische
Rede anzulegen.
({0})
Ich versuche es einmal mit einer eher seltenen Variante:
Ich schildere die Dinge einmal so, wie sie sind.
({1})
Dass die FDP diese Aktuelle Stunde beantragt hat,
kann ich verstehen. Das hätte ich an Ihrer Stelle genauso
gemacht. Wenn Sie es nicht gemacht hätten, wären Sie
Ihr Geld nicht wert.
({2})
Herr Westerwelle hat eine feurige Rede gehalten, und
zwar unter vollständigem Verzicht auf eine sachliche Argumentation; deswegen war diese Rede so feurig. Die
Grünen loben die Union und überschreiten damit die
Grenzen des parlamentarischen Anstands.
({3})
Das ist jetzt fast unangenehm.
Herr Kollege, Sie haben aber nicht erwartet, dass ich
deswegen einen Ordnungsruf erteile?
({0})
Nein. Dennoch wäre es gut gewesen.
In der Sache liegen die Grünen nicht ganz richtig;
denn es ist keine Eins-zu-eins-Umsetzung
({0})
- Moment! - dessen, was Rot-Grün wollte, wie gerade
behauptet worden ist,
({1})
es ist keine Eins-zu-eins-Umsetzung des europäischen
Rechts, sondern es liegt dazwischen.
({2})
Ich stelle mich hier nicht hin und sage: Genau so
wollte ich immer die Umsetzung des europäischen
Rechts in nationales Recht. Ich stelle mich auch nicht
hin und sage: Genau so ist der Inhalt vernünftig. Ich
stelle mich aber hier hin und sage: Wir haben einen
Kompromiss gefunden; das ist kein fauler Kompromiss,
sondern ein Kompromiss, den man mit Argumenten gut
begründen kann.
({3})
Ich weiß nicht, ob die Grünen oder die FDP mehr Enttäuschung darüber empfinden, dass die Pläne von RotGrün oder dass die Vorgaben von der europäischen
Ebene nicht eins zu eins umgesetzt worden sind, oder
darüber, dass sich die Koalition in einer schwierigen
Frage tatsächlich geeinigt hat. Ich glaube, dass es zu dieser Einigung gekommen ist, ist Ihre eigentliche Enttäuschung.
({4})
Was beschlossen worden ist, ist nicht die Urfassung
von Rot-Grün; denn Rot-Grün selber hat die Urfassung
aufgegeben. Es gab im Grunde drei verschiedene Gesetzespakete. Es gab das Urvorhaben von Rot-Grün,
({5})
wenn man so will: den besonders streng duftenden Käse.
Diesen Käse hat Rot-Grün selber parfümiert. Rot-Grün
hat sich im Laufe der Debatte selber geändert. Zum Teil
werden heute, im Mai 2006, Dinge angegriffen, die RotGrün schon selber eliminiert hat: keine Arbeitgeberhaftung für Dritte; keine Probleme bei der Auswahl bei der
Erstellung von Sozialplänen wegen des Kriteriums Alter; Vermietung von Wohnraum; es soll möglich bleiben,
sozial ausgewogene Vermietungsstrukturen zu erhalten.
Das alles hatte Rot-Grün schon selber geändert.
Auch die letzte Fassung ist keine Eins-zu-eins-Umsetzung dessen, was Rot-Grün wollte. Wir haben das
Selbstbestimmungsrecht der Kirchen sichergestellt. Wir
haben eine Ausschlussfrist für die Geltendmachung von
Ansprüchen im arbeitsrechtlichen Teil auf drei Monate
vereinbart.
({6})
Inwiefern ist das eine Eins-zu-eins-Umsetzung?
Wenn man das europäische Recht in Bezug auf die Verjährung nach drei Jahren eins zu eins umsetzt, dann muss
ein Arbeitgeber 36 Monate lang Dokumentationspflichten erfüllen. Wer hier laut applaudiert, wenn gefordert
wird, das europäische Recht eins zu eins umzusetzen,
der will die Wirtschaft mit einem erheblichen Aufwand
belasten.
({7})
Das ist die Wahrheit. Wir ändern die Frist von 36 Monaten auf drei Monate ab. Wir entlasten die Wirtschaft zu
einem wesentlichen Teil und Sie sagen: Wir hätten aber
lieber eine Umsetzung eins zu eins gehabt.
Kommen wir zum zivilrechtlichen Teil. Da geht es
um eine politische Bewertung; die muss jedermann für
sich selber vornehmen. Ich gestehe Ihnen sofort zu, dass
wir da über europäisches Recht hinausgehen. Ich sage
Ihnen aber auch, dass mir das Hinausgehen über das europäische Recht jedenfalls an dieser Stelle nicht schwer
fällt.
Im zivilrechtlichen Teil, bei den Massengeschäften
des täglichen Lebens, besteht der europäische Schutz vor
Diskriminierung wegen des Geschlechts, der Rasse und
der Ethnie. Nehmen wir das Restaurantbeispiel, das die
Bundesministerin gerade erwähnt hat. Der Restaurantbesitzer könnte einen Farbigen unter Hinweis auf dessen
Hautfarbe nicht abweisen - richtig so! -,
({8})
aber einen Behinderten. Ein Freier Demokrat kann das
mitmachen;
({9})
ich nicht.
({10})
Ich könnte draußen nicht mit guten Argumenten erklären, warum wir jemanden vor Diskriminierung wegen
seiner Hautfarbe schützen, aber wegen seiner Behinderung nicht.
({11})
Wer eine Umsetzung eins zu eins will, nimmt die Diskriminierung des Behinderten in Kauf.
({12})
Deswegen fällt es mir an dieser Stelle nicht schwer, darüber hinauszugehen.
({13})
Zum Verbandsklagerecht. Nun wird die Ausweitung
des Verbandsklagerechts beklagt. Das Verbandsklagerecht wird nicht ausgeweitet; das Verbandsklagerecht
wird abgeschafft. Wie viele Gespräche und Telefonate
habe ich in den letzten Tagen immer nach demselben
Muster geführt?! Zunächst kam harte Kritik an dem, was
vereinbart worden ist, und drei Minuten später kam die
Bitte, doch einmal den Text zu übersenden, damit man
wisse, was vom Gesetzgeber jetzt tatsächlich geplant sei.
({14})
Ich gebe sofort zu, dass die Unkenntnis eines Sachverhalts die Bewertung des Sachverhalts wesentlich erleichtert.
({15})
Aber spätestens dann, wenn diese Aktuelle Stunde vorbei ist, wenn sich der Pulverdampf verzogen hat, wenn
wir uns in einer sachlichen Debatte mit dem Gleichbehandlungsgesetzentwurf beschäftigen, werden sich viele
Bedenken - nicht alle, aber viele - als gegenstandslos erweisen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir in zwei,
drei Jahren viel ruhiger und sachlicher über den Gegenstand debattieren werden als heute in dieser Aktuellen
Stunde.
({16})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich halte aus dem bisherigen Verlauf der Debatte zunächst einmal fest: Der Entwurf des Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetzes geht unzweifelhaft über das
hinaus, was europarechtlich geboten ist; dafür habe ich
die Kronzeugin Schewe-Gerigk und den Kronzeugen
Bosbach.
({0})
Es ist keine Eins-zu-eins-Umsetzung, und eine zwingende Begründung dafür, warum dieses Mehr erforderlich sein soll, sind Sie, Herr Kollege Bosbach, schuldig
geblieben.
({1})
- Nein! Das war keine zwingende Begründung. Er hat
gesagt, dass er damit leben kann.
Damit stellt sich für mich die Frage, was das Wort der
deutschen Bundeskanzlerin wert ist. Mein Fraktionsvorsitzender hat schon aus der Regierungserklärung zitiert.
Für mich ist auch entscheidend, was Frau Merkel vor der
Wahl gesagt hat. Sie hat direkt nach ihrer Nominierung
als Kanzlerkandidatin in einem Interview mit der „Bild“Zeitung gesagt: „Wir werden als Erstes die Dinge anpacken, die unsere Wirtschaft behindern, an erster Stelle
Bürokratie und Überreglementierung. Beides können
wir sehr schnell umsetzen, weil es nichts kostet. Wir
werden zum Beispiel jede europäische Richtlinie nur
noch eins zu eins umsetzen und nicht wie Rot-Grün noch
draufsatteln“. - Jetzt hören wir von Frau ScheweGerigk: Das AGG ist im Wesentlichen rot-grün. - Das
ist die Wahrheit, meine Damen und Herren!
({2})
Weil Frau Merkel damals Recht hatte, verstehen wir
nicht, warum man jetzt im zivilrechtlichen Teil weit über
die EU-Vorgaben hinausgeht
({3})
und die Liste der Merkmale - nach der Richtlinie müssten das eigentlich nur die Merkmale Rasse, ethnische
Herkunft und Geschlecht sein - um die Merkmale Behinderung, Alter, sexuelle Identität und Weltanschauung
erweitert.
({4})
- Nein! Das ist eben nicht so. Das wird nicht ohne Wirkung bleiben - das ist auch angesprochen worden -,
etwa im Einzelhandel, in der Gastronomie und in der
Versicherungswirtschaft.
({5})
Deswegen ist schon richtig - das muss man Frau Merkel
auch einmal sagen -: versprochen - gebrochen. Sie hat
sich vor der Wahl anders geäußert, als sich das jetzt nach
der Wahl in ihrer aktuellen Politik niederschlägt. Das
kann nicht sein.
({6})
Wenn weiter gilt, was unser Bundespräsident Horst
Köhler in seiner Rede am 15. März 2005 gesagt hat,
nämlich: „Angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt
brauchen wir … eine politische Vorfahrtsregel für
Arbeit“, dann kann dieses Gesetz, wie es vorgelegt worden ist, keine Gesetzeskraft erlangen.
Ich will auf einige Punkte eingehen, die Sie angesprochen haben, Herr Bosbach. Zunächst zu dieser tollen
Verbesserung, dass man die Unterlagen nur noch drei
Monate und nicht mehr 36 Monate aufbewahren muss.
Das Problem ist doch nicht - verstehen Sie das nicht? -,
dass man die Unterlagen irgendwo hinlegt und sie da liegen lässt. Das Problem ist, dass der Arbeitgeber, der eine
Stellenanzeige aufgegeben hat, sich für den Fall einer
möglichen Klage rüsten muss, die er im Voraus überhaupt nicht absehen kann.
({7})
Das ist doch der bürokratische Aufwand, der an dieser
Stelle entsteht.
({8})
Ich sehe auch ein Problem in dem Zusammenspiel des
von Ihnen potenziell zu ändernden Kündigungsschutzgesetzes mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz.
Wenn nämlich zum Beispiel in einem Vertrag eine Verlängerung der Wartezeit enthalten ist, in einem anderen,
beispielsweise dem eines älteren Arbeitnehmers, aber
nicht, ist sehr leicht glaubhaft zu machen, dass hier eine
Diskriminierung vorliegen könnte. Dann hat der Arbeitgeber die Beweislast, dass das nicht der Fall ist. Deswegen müssen Unternehmen sich an der Stelle warm anziehen.
Wir haben auch ein Problem mit - das geht eindeutig
über die Eins-zu-eins-Umsetzung hinaus - dem eigenständigen Klagerecht für Gewerkschaften und Betriebsräte. Hier wird Tür und Tor für neuen Kuhhandel zwischen Betriebsrat und Unternehmensleitung geöffnet,
wie wir ihn aus dem Bereich des Betriebsverfassungsgesetzes leider schon kennen. Dass ich noch einmal erleben muss, dass sich die Union in diesem Haus aktiv für
ein Klagerecht der Gewerkschaften einsetzt, hätte ich,
ehrlich gesagt, nicht gedacht.
({9})
Sie haben, um das vor Ihrer Fraktion zu verbrämen,
einen 16-Punkte-Katalog vorgelegt. Er heißt jedenfalls
offiziell so; wenn man genau hinschaut, sind es nur acht
Punkte. Ein Punkt ist die Verkürzung der Dokumentationszeit; ein zweiter ist, dass die Antidiskriminierungsstelle jetzt in einem unionsgeführten Ministerium angesiedelt ist und nicht mehr, wie vorher, in einem SPDgeführten. Wenn das die Verbesserungen sind, die Sie
erreicht haben, dann gute Nacht! Dass gleichzeitig ein
16-köpfiger Beirat mit 16 Stellvertretern eingeführt worden ist, der Millionen Steuergelder zusätzlich kostet,
({10})
zeigt doch, dass es sich nicht wirklich um einen Fortschritt handelt, sondern um eine Verschlechterung der
ursprünglichen Vorlage.
({11})
Diejenigen in der Union, die noch ein Gespür dafür
haben, was den Mittelstand drückt, haben hier versucht,
etwas zu verändern: der Kollege Hinsken, der Kollege
Fuchs, sicherlich auch der Kollege Rauen, obwohl ich
seinen Namen nicht in der Zeitung gelesen habe. Aber
die Vernünftigen in der Union waren offensichtlich in
der Minderheit.
Deswegen muss man sagen: Die Union vertritt mit ihrer aktuellen Politik nicht länger die Interessen der großen Zahl kleiner und mittlerer Unternehmen in diesem
Land.
({12})
Sie ist zum Wahlverein für eine Kanzlerin mutiert und
nickt eine sozialdemokratisch dahergekommene, ungeschminkte Gesetzesvorlage ohne größeres Murren ab.
Die Ministerin - eine weitere Kronzeugin - hat öffentlich erklärt, es sei im Wesentlichen das, was ursprünglich vorgesehen gewesen sei.
Im Ergebnis steht für mich fest: Das Gesetz ist ein
weiteres Beispiel dafür, wie Schwarz-Rot rücksichtslos
wie eine Dampfwalze über das zarte Konjunkturpflänzchen hinwegrollt.
({13})
Sie haben die Wirtschaft am Anfang des Jahres durch das
Vorziehen der Fälligkeit der Sozialbeiträge mit Bürokratie und Liquiditätsentzug belastet. Sie erhöhen die Mehrwertsteuer um 3 Prozent. Sie verschlechtern durch die
angestrebte Änderung das Kündigungsschutzgesetz. Sie
haben eine ideologisch motivierte Reichensteuer im Visier, bei der das Aufkommen und der Schaden für unser
Land in keinem Verhältnis stehen werden. Das AGG ist
ein weiterer Beweis dafür, dass die deutsche Bundesregierung unter Führung von Angela Merkel offensichtlich
die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt einem Härtetest unterziehen will. Anstatt den aufkeimenden Aufschwung
zu hegen, gibt die Bundeskanzlerin ein ums andere Mal
dem sozialdemokratischen Koalitionspartner klein bei,
und zwar auch da, wo Härte in der Sache gefragt wäre.
Wenn Sie bitte zum Schluss kommen.
Ich fordere die Bundeskanzlerin auf, ihren Amtseid
nachzulesen, den sie vor diesem Haus geleistet hat.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort für die SPD-Fraktion hat die Kollegin
Christel Humme.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Nach der heutigen Debatte hätte ich schon ganz
gerne gewusst, was denn die eigentliche Position der
FDP ist.
({0})
Nach den beiden Wortmeldungen, Herr Westerwelle und
Herr Kolb, ist mir das bei weitem nicht klar geworden.
Denn ich habe erst letzte Woche einer Pressemitteilung
von Ihrem sozialpolitischen Sprecher
({1})
Folgendes entnommen - ich zitiere -:
Menschen mit Behinderungen müssen Chancengleichheit und eine bessere Integration und Teilhabe an der Gesellschaft erfahren.
({2})
Benachteiligungen sind zu beseitigen,
({3})
die Rechte von Minderheiten müssen gestärkt werden.
({4})
So weit kann ich der FDP vollkommen zustimmen.
(Dr. Heinrich L. Kolb ({5}): Ist zwar nicht
von mir, aber trotzdem richtig!
Ein Gesetz alleine schafft natürlich noch keine Toleranz und keinen Respekt. Aber wenn es Ihnen ernst damit ist, die Rechte von Minderheiten zu stärken, dann
müssen Sie diesen Minderheiten natürlich ein Instrument
an die Hand geben, mit dem sie ihre Rechte durchsetzen
können. Nichts anderes machen wir, wenn wir die europäischen Richtlinien in nationales Recht umsetzen.
Ich sage Ihnen auch - das hat die Frau Ministerin dankenswerterweise schon erwähnt -: Wir gehen dabei ganz
bewusst über eine Eins-zu-eins-Umsetzung hinaus. Würden wir Ihren Vorstellungen folgen, wären bestimmte
Gruppen nämlich nicht so geschützt, wie es Ihr sozialpolitischer Sprecher zu Recht fordert. Nicht geschützt wären Menschen mit Behinderung, ältere Menschen,
Schwule und Lesben.
An dieser Stelle sage ich Ihnen auch: Das Gesetz ist
längst überfällig. Es ist der Bevölkerung und den betroffenen Gruppen längst nicht mehr vermittelbar, warum
gerade in Deutschland diese Richtlinien noch nicht umgesetzt worden sind, während alle anderen europäischen
Staaten ausnahmslos gehandelt haben.
({6})
Ich bin über die Reden, die vorhin gehalten worden
sind, sehr froh. Denn sie zeigen: Die große Koalition bewegt etwas im Interesse der betroffenen Menschen. Ich
bin dankbar, dass der gestrige Kabinettsbeschluss möglich war und dass wir ab der nächsten Woche die parlamentarische Beratung erneut aufnehmen und zum Abschluss bringen können. Ich hoffe, dass dies - wie es die
Frau Ministerin gesagt hat - in sachlicher und nicht in
polemischer Form geschieht. Denn es ist ein guter Kompromiss, den wir gemeinsam erzielt haben.
({7})
Aber Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
FDP, fahren immer noch auf die aktuelle Diskussion ab,
in der immer wieder reflexartig Pauschalvorwürfe erhoben und Horrorszenarien beschrieben werden. Ich verfolge die Debatte genau und stelle genauso wie Frau
Schewe-Gerigk fest: Die FDP stellt mit ihrer Argumentation eine Minderheit im Bundestag dar.
({8})
Ich sage Ihnen aber zu, dass wir Sie deswegen nicht diskriminieren werden. Wir werden uns mit Ihren Argumenten ernsthaft auseinander setzen.
({9})
Sie von der FDP haben heute Morgen behauptet, dass
das Hinausgehen über eine Eins-zu-eins-Umsetzung der
Richtlinien zu einem nicht akzeptablen Bürokratieaufbau und damit zu Wettbewerbsnachteilen der deutschen
Wirtschaft führe. Das ist ein Standardargument und für
mich überhaupt nicht belegbar. Ganz im Gegenteil: Wirtschaftwachstum und Schutz vor Diskriminierung sind
meiner Ansicht nach keine Gegensätze. Die befürchtete
Lähmung der Wirtschaft hat weder in Großbritannien
noch in Schweden, in Frankreich oder in den Niederlanden stattgefunden. Dort gibt es schon lange eine Antidiskriminierungskultur und entsprechende gesetzliche Regelungen.
({10})
Für mich ist sehr wichtig: Das Gleichbehandlungsgesetz wird auch einen Beitrag zu mehr Gleichstellung von
Männern und Frauen leisten. Davon bin ich überzeugt.
Frauen wird ein Mittel an die Hand gegeben, mit mehr
Nachdruck für gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit
und für gerechte Aufstiegs- und Karrierechancen im Beruf zu kämpfen. Helfen wird ihnen unter anderem die nationale Gleichstellungsstelle. Ich freue mich, dass diese
Stelle im Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend angesiedelt sein wird. Ich wünsche
dieser Stelle wie auch dem Gesetz den größtmöglichen
Erfolg.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Markus Grübel, CDU/CSUFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Seit rund sechs Jahren stehen die ersten
zwei von vier europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien im Raum. Die rot-grüne Koalition hat fünf Jahre gebraucht, um sich auf einen Kompromiss zu einigen. Wir,
die Koalition aus CDU/CSU und SPD, haben diesen
Kompromiss in fünf Monaten hinbekommen.
({0})
- Das sage ich besonders in Richtung derjenigen, die gelegentlich behaupten, wir hätten zu lange gebraucht; ich
erinnere an die Debatte in der letzten Sitzungswoche.
Dieser Vorwurf fällt auf Sie selber zurück.
Wir haben einen Kompromiss, der - wie das bei
Kompromissen meistens der Fall ist - nicht alle voll befriedigen kann. Das hat die Debatte zweifellos gezeigt.
Ein Hauptproblem besteht darin, dass die EU-Richtlinien viel zu eng gefasst sind und viel zu wenig auf
deutsche Rechtstraditionen Rücksicht nehmen.
Neben dem schon bestehenden Regelungsgeflecht - es
besteht in Deutschland beispielsweise ein sehr enges Regelungsgeflecht im Arbeitsrecht und im Mietrecht - legen
wir ein weiteres Regelungsgeflecht in Form des Antidiskriminierungsgesetzes vor. Nutzen und Schaden einer
Richtlinie müssen künftig viel stärker abgewogen werden. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, von Anfang
an aufzupassen, dass es solche Richtlinien, die dann umgesetzt werden müssen, nicht mehr gibt.
({1})
Es handelt sich hier um ein Erbe der rot-grünen
Regierung. Man könnte auch sagen: Es ist vergossene
Milch. Tatsache ist aber - das sage ich in Richtung FDP -:
Wir müssen die EU-Richtlinien umsetzen, ob wir wollen
oder nicht.
({2})
Im Rahmen der Verhandlungen in der Koalition wurden Kompromisse erzielt. Bekannt ist, dass zusätzliche
Gruppen in den zivilrechtlichen Diskriminierungsschutz
aufgenommen wurden. Aber eines ist und war immer
klar: Der Schutz von Behinderten ist in der Union unumstritten.
({3})
Schwerer fällt mir in der Tat zum Beispiel der Schutz
beim Merkmal Weltanschauung. Die Behinderten sind
eine eng umschriebene Gruppe. Beim Merkmal Weltanschauung ist es schon schwieriger, zu definieren, wer darunterfällt und wer nicht.
({4})
Es besteht eine Grauzone bei Gruppen, die zum Beispiel
verfassungsrechtlich bedenklich sind und jetzt möglicherweise in den zivilrechtlichen Schutzbereich fallen.
Aber die Union hat keine absolute Mehrheit. Von daher mussten wir uns mit unserem Koalitionspartner einigen. Wir haben durchaus Verbesserungen erreicht, die
für die Anwendung eines Gleichbehandlungsgesetzes
wichtig sind. Diese Verbesserungen sind auch von Bedeutung, damit dieses Gleichbehandlungsgesetz künftig
eine hohe Akzeptanz in der Gesellschaft findet; denn das
brauchen wir. Ein Gesetz, das gegen den Willen der Gesellschaft angewendet wird, ist kein gutes Gesetz.
Ich möchte ein paar Beispiele nennen, Herr Kolb, wo
wir Verbesserungen erreicht haben.
({5})
Denn Sie haben offensichtlich nicht alle Beispiele des
Kollegen Bosbach verstanden.
({6})
Denken Sie an das Thema Kontrahierungszwang, an den
Zwang, zivilrechtliche Verträge abzuschließen, zum Beispiel an den Zwang eines Vermieters, mit einem bestimmten Mieter einen Vertrag abzuschließen. Dieser
Kontrahierungszwang soll nicht im Gesetz stehen.
Denken Sie an den Bereich der Kirchen. Kirchen sollen das Personal einstellen können, das sie wollen: die
katholische Kirche Mesner und Hausmeister, die katholisch sind, und die evangelische Kirche eine Sekretärin
oder einen Sekretär im Kirchenbüro, der aus der Kirchengemeinde kommt. Auch da haben wir Verbesserungen erreicht.
Denken Sie an das wichtige Thema „Abtretbarkeit
von Schadenersatz und Entschädigungen“. Diese Forderungen sollen nicht, wie im früheren Entwurf vorgesehen, an Verbände abgetreten werden können. Die Verbände hätten ansonsten ein viel zu großes
wirtschaftliches Interesse daran gehabt, solche Forderungen geltend zu machen.
({7})
Es macht auch einen Unterschied, ob jemand selber als
Kläger auftreten muss oder seine Klage sozusagen an einen Verband abtreten kann und dieser Verband quasi
anonym bzw. abstrakt die Klage führen kann. Die jetzt
vorgesehene Regelung wird eine dämpfende Wirkung
haben. Es wäre ein Problem, wenn das Gleichbehandlungsgesetz eine Prozessflut auslösen würde und manche
dieses Gesetz als Trittbrettfahrer nutzten.
Die Fristen für die Geltendmachung von Ansprüchen
- Kollege Bosbach hat es angesprochen - wurden auf
drei Monate verkürzt.
({8})
- Das ist nicht Pipifax. Denn bei einer Eins-zu-eins-Umsetzung wären es 36 Monate gewesen. Aber eines bleibt:
Auch wenn die FDP die absolute Mehrheit in diesem
Hause hätte, müsste sie die Richtlinien umsetzen und
alle Kröten, die Sie angesprochen haben, schlucken. Daran kann kein Zweifel bestehen.
({9})
Jetzt gilt es für uns, die Richtlinien zügig umzusetzen.
Denn in Deutschland hat kein Mensch Verständnis dafür,
wenn wir Tag für Tag Strafzahlungen in Höhe von
900 000 Euro an die EU leisten müssen. Darum ans
Werk!
Ich komme zum Schluss. Bei aller Kritik an dem jetzigen Kompromiss sollten alle zur Kenntnis nehmen,
dass wir deutliche Schritte zum Bürokratieabbau und zu
einem schlanken Umgang mit den Richtlinien erreicht
haben.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort für die SPD-Fraktion hat die Kollegin
Christine Lambrecht.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ohne
jetzt eine Krise in der Koalition herbeibeschwören zu
wollen, möchte ich an dieser Stelle dem Kollegen
Bosbach ausdrücklich widersprechen.
({0})
Er hat nämlich gesagt, Sie von der FDP seien Ihr Geld
wert. Angesichts der Beiträge aber, die Sie heute abgeliefert haben, ist dies beim besten Willen nicht der Fall.
({1})
Ich höre seit einer Dreiviertelstunde nur, es werde nicht
eins zu eins, sondern über die EU-Richtlinien hinausgehend umgesetzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von
der FDP, es geht nicht nur darum, ob man eins zu eins
oder ein Stückchen mehr oder weniger umsetzt, als in
den Richtlinien vorgesehen.
({2})
Inhaltlich geht es hier vielmehr um Menschen, deren
Würde verletzt wurde und die aufgrund bestimmter
Merkmale diskriminiert wurden. Wir wollen diesen
Menschen ein Instrument an die Hand geben, damit mit
dieser Diskriminierung Schluss ist. Darum geht es, nicht
um die Eins-zu-eins-Umsetzung.
({3})
Es mag ja sein, dass Frau Merkel das irgendwann einmal
anders gesehen hat. Ich habe zu dieser Frage eine ziemlich eindeutige Haltung.
({4})
Herr Bosbach, ich bin froh darüber, dass wir mittlerweile auf einer sehr sachlichen Ebene arbeiten. Wir
unterhalten uns endlich über die Ziele, die mit dem
Antidiskriminierungsgesetz bzw. dem Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetz verfolgt werden: Es geht um
Menschen und um Werte. Ansonsten führen Sie doch
immer gerne eine Wertediskussion. Die Würde des Menschen ist ein Wert.
({5})
Herr Montag, Sie haben vorhin dazwischen gerufen,
das sei schon durch das Grundgesetz geregelt. Das ist es
aber eben nicht. Das Grundgesetz entfaltet keine Drittwirkung. Das heißt, im Grundgesetz kann zwar sehr viel
stehen, trotzdem wirkt es beispielsweise nicht im Verhältnis zwischen dem Gastwirt und einem Gast, der abgewiesen wird, weil er aufgrund seiner Behinderung
- das wurde schon dargestellt - mit den Füßen essen
muss. Diesem Gast bringt es nichts, sich auf das Grundgesetz zu berufen. Deswegen muss Schluss sein mit diesen Sonntagsreden, wenn Sie wirklich etwas gegen Diskriminierung tun wollen.
({6})
Meine Damen und Herren von der Linkspartei, Herr
Seifert, wir haben nicht eins zu eins umgesetzt, sondern
gerade im zivilrechtlichen Bereich draufgesattelt.
({7})
Das finde ich sehr gut und richtig. Davon bin ich voll
und ganz überzeugt.
({8})
Es ist eben nicht ausreichend - Herr Bosbach hat das
ganz interessant dargestellt -, dass jemand wegen seiner
Hautfarbe nicht diskriminiert werden kann, wegen seiner
Behinderung aber schon.
({9})
Herr Seifert, Sie haben vorhin gesagt, es sei nur ein
bisschen verändert worden. Wir haben aufgenommen,
dass Menschen wegen ihrer Behinderung, wegen ihrer
geschlechtlichen Identität oder wegen ihres Alters nicht
diskriminiert werden dürfen. Sie können doch nicht sagen, das sei bloß ein bisschen. Es geht konkret um eine
ganze Menge Menschen, die mit diesem Instrument die
Chance bekommen, sich zu wehren, die das Recht haben, die Achtung ihrer Würde durchzusetzen.
({10})
Ich bin darüber verwundert, dass gerade Sie so etwas sagen und diesen Tagesordnungspunkt zu einer Kundgebung missbrauchen, die mit dem Thema überhaupt
nichts zu tun hat.
Ich hoffe, dass wir in den anstehenden Beratungen ein
hohes Niveau an Sachlichkeit erreichen. Wir müssen uns
darüber unterhalten, worum es eigentlich geht. Es geht
nicht darum, wer von vornherein Recht hatte und wer
sich um wie viele Millimeter bewegt hat, sondern darum,
dass Menschen den Schutz bekommen, den sie verdienen.
Vielen Dank.
({11})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege
Stephan Mayer.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen! Sehr geehrten Kollegen! Zunächst möchte
ich positiv herausstellen, dass es in diesem Haus einen
Konsens darüber gibt, dass jegliche Diskriminierung von
Menschen wegen äußerlicher Merkmale oder Veranlagungen unanständig und unangemessen ist.
({0})
Dieser Konsens entspringt nicht zuletzt dem christlichen
Menschenbild und der christlichen Soziallehre, nach der
die Unverletzbarkeit der Würde des Menschen das
höchste Gut ist, das es zu schützen gilt. Aus diesem
Grund ist es meines Erachtens vollkommen richtig, dass
sich eine Gesellschaft Regeln gibt, um Diskriminierungen zu ahnden.
({1})
An dieser Stelle ist es mit der Gemeinsamkeit aber
auch schon vorbei. Diese Regelungen gibt es in Deutschland bereits. Wir haben eine sehr ausdifferenzierte
Rechtsprechung. Ich verweise beispielsweise auf § 611 a
des Bürgerlichen Gesetzbuches.
({2})
Hier liegt der grundlegende Fehler - das ist der Sündenfall -: Diese vier EU-Richtlinien, die es jetzt in nationales Recht umzusetzen gilt, hätten in dieser Form nie verabschiedet werden dürfen. Der Sündenfall ist nicht in
Berlin, sondern vor langer Zeit in Brüssel passiert.
({3})
Ich möchte das etwas differenzierter ausführen: Diese
vier EU-Richtlinien, die es jetzt in deutsches Recht umzusetzen gilt, entspringen einer Rechtsposition, die der
deutschen Rechtssystematik und Rechtsgeschichte diametral entgegensteht. Skandinavische und angelsächsische Länder haben keine Probleme, diese vier EU-Richtlinien umzusetzen, weil ihr Antidiskriminierungsgesetz
diesen Richtlinien von Hause aus sehr stark ähnelt. Bei
uns in Deutschland ist das anders. An dieser Stelle muss
man, so glaube ich, mit berühmten Worten sprechen:
„Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Wir sind verpflichtet, diese vier EU-Richtlinien umzusetzen. Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der FDPFraktion, ich bin mir sicher, Sie wären die ersten, die uns
als Regierung brandmarken und triezen würden, wenn
wir tägliche Strafzahlungen in Höhe von 900 000 Euro
leisten müssten,
({4})
weil wir diese Richtlinien nicht fristgemäß umgesetzt
haben.
({5})
Der Kompromiss, der jetzt gefunden wurde,
({6})
ist zwar nicht das Ei des Kolumbus, aber es ist auch kein
übler Kompromiss. Viele der Punkte, die jetzt kritisiert
und vor allem von der Wirtschaft vollkommen zu Recht
angeprangert werden, sind - das wurde schon ausgeführt in diesen vier EU-Richtlinien originär enthalten. Ich
denke zum Beispiel an die verschuldensunabhängige
Haftung bei Nichtvermögensschäden oder an die Beweislastumkehr gemäß § 22 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes.
Es ist gelungen, viele Dinge, die ursprünglich im Antidiskriminierungsgesetz angelegt waren, herauszuverhandeln. Ich glaube, deswegen kann man mit Fug und
Recht behaupten: Das jetzt vorliegende Allgemeine
Gleichbehandlungsgesetz ist kein rot-grünes Urprodukt.
Es hat nichts mit dem ursprünglichen Entwurf zu tun; es
ist ein neues Gesetz. Es ist mit Sicherheit nicht das beste
Gesetz, das man sich wünschen würde, aber es ist meines Erachtens ein tragfähiger Kompromiss.
Gleichwohl gibt es mit Sicherheit in vielen Punkten
noch Konkretisierungsbedarf; ich möchte dies in keiner
Weise verhehlen. Es ist einem privaten Vermieter, der
über ein Haus mit drei oder vier Wohneinheiten verfügt,
nicht klar zu machen, dass er mit seinen Vermietungen
ein Massengeschäft betreibt
({7})
und daher behandelt wird wie eine Wohnungsbaugesellschaft oder eine Ferienanlage, die per Internet Wohnungen vermietet. Hier besteht noch Bedarf, die Definitionen zu konkretisieren.
Als positiv möchte ich darstellen, dass der Kontrahierungszwang keinen Eingang in den zivilrechtlichen Teil
des Gesetzes gefunden hat. Der vermeintlich Diskriminierte hat also keine Sanktionsmöglichkeit und keinen
Anspruch darauf, dass der Vertrag zustande kommt.
({8})
Stephan Mayer ({9})
Ebenso möchte ich in aller Deutlichkeit auf Folgendes hinweisen: Entgegen vielerlei Bekundungen gibt es
kein Verbandsklagerecht im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz.
({10})
Es wird keine Branche für vermeintliche Gutmenschen
oder für Berufsquerulanten entstehen, die Deutschland
massenhaft mit Klagen überziehen können.
Genauso ist es gerade für die Arbeitgeber ein erheblicher Fortschritt, dass vermeintlich diskriminierte Arbeitnehmer oder Bewerber nur noch drei Monate Zeit haben,
sich mit einer Klage gegen den Arbeitgeber bzw. möglichen Arbeitgeber zu wenden, und nicht, wie ursprünglich vorgesehen, drei Jahre.
Ich halte es ebenso für positiv, dass die Antidiskriminierungsstelle, die in den EU-Richtlinien ebenfalls als
verpflichtend vorgesehen ist,
({11})
bei dem qualitativ hervorragend dafür geeigneten Bundesfamilienministerium angesiedelt wird.
Es wird mit Sicherheit erforderlich sein, bestimmte
Bereiche noch einmal auf den Prüfstand zu stellen und
ganz leidenschaftslos und ergebnisoffen zu diskutieren,
wie den vorgesehenen Beirat nach § 30 des Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetzes. Aber darüber kann man im
weiteren Gesetzgebungsverfahren beraten.
Das Gesetz ist nicht so schlecht, wie es dargestellt
wird. Man sollte jetzt die Wogen glätten und getrost ins
Gesetzgebungsverfahren übergehen.
Herzlichen Dank.
({12})
Als Nächstes spricht die Kollegin Renate
Gradistanac, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die EU-Gleichbehandlungsrichtlinien werden in
deutsches Recht umgesetzt. So steht es in unserem
Koalitionsvertrag. Mit dem Entwurf für ein Allgemeines
Gleichbehandlungsgesetz wird dieser Auftrag erfüllt und
werden die vier EU-Richtlinien, wie wir meinen, nahezu
eins zu eins in nationales Recht umgesetzt.
Als Frauenpolitikerin begrüße ich ausdrücklich, dass
die Antidiskriminierungsstelle beim Bundesministerium
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend angesiedelt ist.
Es geht hier nicht um die Frage, ob sie zum Verantwortungsbereich der SPD oder der CDU/CSU gehört. Es ist
vielmehr das dafür geeignete Ministerium, Herr Kolb.
Für die Menschen, die sich benachteiligt fühlen, wird
eine unabhängig arbeitende bundesweite Anlaufstelle
geschaffen, die sie unterstützt und berät. Zu den Aufgaben dieser Stelle gehören die Öffentlichkeitsarbeit, die
Durchführung von wissenschaftlichen Untersuchungen
und die Vorlage von Berichten und Handlungsempfehlungen.
Ich freue mich sehr, sogar leidenschaftlich - ich weiß
nicht, warum dieses Wort verpönt ist -, dass sich der
Koalitionsausschuss auf einen Gesetzentwurf geeinigt
hat, in dem sämtliche Merkmale, um die es in dieser Diskussion geht, unter Diskriminierungsschutz gestellt werden. Im Zivilrecht geht er sachgerecht und mit Augenmaß über die EU-Vorgaben hinaus. Das ist, so meine ich,
ein großer Erfolg für uns alle, vor allem aber für die
Menschen, die wir vor Diskriminierung schützen wollen.
({0})
Die Bürgerinnen und Bürger können sich zukünftig besser gegen Benachteiligungen aufgrund ihrer ethnischen
Herkunft, der so genannten Rasse, ihres Geschlechts, ihrer Religion bzw. Weltanschauung, ihres Alters, aufgrund von Behinderungen oder ihrer sexuellen Identität
wehren. Eine Beschränkung auf einzelne Diskriminierungsmerkmale wäre wirklichkeitsfremd. Wie soll es zu
rechtfertigen sein, dass derselbe Mensch - das wurde bereits von Herrn Bosbach erwähnt - beispielsweise aufgrund seiner ethnischen Herkunft nicht diskriminiert und
benachteiligt werden darf, aufgrund seiner Behinderung
aber sehr wohl? Versicherungen werden Menschen mit
Behinderungen in Zukunft nicht mehr ohne Angabe
nachprüfbarer Gründe abweisen können. Lesben und
Schwulen kann künftig nicht mehr der Zutritt zu Hotels
und Gaststätten verwehrt werden; das freut mich als
Tourismuspolitikerin.
Die Europäische Union versteht sich - auch das ist
heute schon gesagt worden - nicht nur als Währungsund Wirtschaftsunion. Sie ist auch eine Werteunion. Zu
ihren Werten zählt auch die Nichtdiskriminierung.
({1})
Ein Gesetz kann zwar nicht immer vor Diskriminierung
schützen. Es zeigt aber auf, welche Werte für eine Gesellschaft wichtig sind.
({2})
Das Gleichbehandlungsgesetz ermutigt Benachteiligte,
sich zu wehren. Es gibt gute Instrumente an die Hand,
gegen Benachteiligungen vorzugehen und sie zu unterbinden. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz
schützt nicht nur die Rechte der benachteiligten Bürgerinnen und Bürger, sondern auch die Menschenwürde
von uns allen; das gefällt mir.
({3})
Es ist höchste Zeit, dass die EU-Vorgaben umgesetzt
werden. Ich wünsche mir eine schnelle Verabschiedung
dieses Gesetzentwurfs. Schließlich haben wir lange Zeit
auf ihn gewartet.
({4})
Aber jetzt können wir stolz auf den Gesetzentwurf sein.
Vielen Dank.
({5})
Als Letzter in dieser Debatte spricht der Kollege
Christoph Strässer, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Gleich zu Beginn eine Klarstellung und ein Bekenntnis: In der letzten Stunde ist häufig erwähnt worden - in formaler Hinsicht völlig zu Recht -, dass es EURichtlinien gibt, die wir umsetzen müssen. Das klingt
nach dem Prinzip: Halb trug man ihn, halb zog es ihn.
({0})
Ich sage Ihnen - ich denke, das gilt für meine gesamte
Fraktion -: Wir müssen diese EU-Richtlinien nicht umsetzen, sondern wir wollen sie umsetzen, weil wir der
Auffassung sind, dass das ein ganz wichtiger Schritt in
die richtige Richtung ist.
({1})
- Darüber bin ich auch froh; denn sonst wären wir uns so
einig, dass wir gemeinsame Veranstaltungen durchführen könnten.
({2})
- So ist es. Deshalb freut es mich, dass deutlich geworden ist, an welchen Stellen wir unsere Schwerpunkte setzen.
Aus meiner Sicht ist es kein Widerspruch, Fragen der
Antidiskriminierung und der Gleichbehandlung in einem
deutschen Gesetz zu regeln. Denn auch an anderen Stellen - § 611 a BGB ist bereits genannt worden - haben
wir bereits klargestellt, was wir tun wollen und wie wir
vorgehen wollen. Die Themen Antidiskriminierung und
Gleichbehandlung gehören im deutschen Arbeitsrecht
zur alltäglichen Praxis. Ich habe noch niemanden getroffen, der mir erklären kann, warum solche Bestimmungen
nicht auch im Zivilrecht - in den Bereichen, die wir in
diesem Gesetzentwurf aufführen - sinnvoll sein sollten.
Das brächte uns einen guten Schritt nach vorne. Dadurch
entsteht keine neue Bürokratie. Im Gegenteil, dadurch
wird die Würde des Menschen gestärkt, insbesondere
derjenigen, die in dieser Gesellschaft benachteiligt sind.
({3})
Ich möchte noch etwas im Hinblick auf die Gewerkschaften sagen. § 611 a BGB - er hat vor einiger Zeit
sein 25-jähriges Jubiläum gefeiert ({4})
spricht hier eine ganz deutliche Sprache; denn in diesen
25 Jahren sind weniger als 200 Fälle vor Gericht gelandet, weniger als 200 Fälle mit einem klaren Hintergrund
und mit der Umkehr der Beweislast zugunsten derjenigen, denen wegen ihres Geschlechts der Zugang zu einer
Arbeitsstelle verweigert wird. Da können Sie nicht behaupten, hier werde Bürokratie aufgebaut. Sie bauen einen Popanz auf.
({5})
- Wir werden das in der Praxis sehen, wie wir es auch im
Hinblick auf § 611 a BGB gesehen haben.
Ihre Auffassung wird auch deutlich an dem, was Sie
in Bezug auf die Gewerkschaften gesagt haben.
({6})
Ich persönlich als einer, der über 20 Jahre als Anwalt tätig war, sage Ihnen: § 611 a BGB wäre in einem viel größeren Umfang angewendet worden, wenn die Gewerkschaften nicht nur bei Aussicht auf Erfolg geklagt hätten.
Wir sollten froh darüber sein, dass die Gewerkschaften
die Möglichkeit zur Klage haben - sie sollen sie auch
behalten -; denn sie gehen, anders als Sie glauben, verantwortlich damit um. Sie machen in der Praxis so davon
Gebrauch, dass alle etwas davon haben und dass es an
dieser Stelle vorangeht.
({7})
Ich möchte auch in meiner Funktion als menschenrechtspolitischer Sprecher unserer Fraktion etwas zu diesem Thema sagen. Ich bin schon erstaunt, wie wenig die
Menschenrechte in unserer Diskussion eine Rolle spielen. Deshalb bin ich froh, dass wir mit diesem Gesetzentwurf endlich die Erklärung zur Würde des Menschen der
Wiener Menschenrechtskonferenz vom Jahre 1993 umsetzen. Darin stehen die Maßgaben, nach denen wir zu
handeln haben: Wir haben die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte zu berücksichtigen und die Freiheitsrechte; an allererster Stelle aber steht das Gleichbehandlungsgebot. Ich finde, es stünde uns gut an, dies, wenn
auch als letztes Land, endlich umzusetzen; denn Menschenrechtspolitik - das haben wir in diesem Hohen
Haus oft genug gesagt - ist nicht teilbar und nicht trennbar und gilt auch nach innen. Deshalb müssen wir dafür
sorgen, dass Menschen, die behindert, homosexuell oder
älter sind, entsprechende Instrumente in die Hand bekommen, um ihre Rechte einzufordern, wie alle anderen.
({8})
Sie sollten sich auch einmal die Entscheidungen des
Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg anschauen,
die in den letzten Wochen und Monaten eine Rolle gespielt haben. In vielen dieser Entscheidungen - ich
bringe sie Ihnen einmal mit, sodass Sie sie durchsehen
können - hat der Europäische Gerichtshof sehr deutlich
gesagt, dass Diskriminierung, auch im Privatrecht, mit
der Würde des Menschen und mit der Werteordnung der
Europäischen Union nicht vereinbar ist. Art. 6 und
Art. 13 des EU-Vertrages besagen dies ganz deutlich.
({9})
Deshalb wollen wir auch den Menschen in Deutschland
endlich Instrumentarien in die Hand geben, die ihnen
helfen, ihre Rechte einzufordern.
({10})
Eine kleine Polemik zum Schluss kann ich mir auch
als ehemaliges FDP-Mitglied nicht verkneifen.
({11})
- Das wissen Sie also. - Ich will ein Wort des bei Ihnen
früher ja sehr geschätzten Fraktionskollegen Joseph
Fischer anführen - ich weiß nicht, wie das heute ist -,
({12})
der einmal im Zusammenhang mit Außenpolitik gesagt
hat: Wenn man einen Muffin aufpustet, ihn in den Backofen stellt und reinsticht, dann kommt nur heiße Luft
raus.
({13})
So ist es, wie diese Debatte entlarvt, mit Ihrer Bürgerrechtspolitik. Schon deshalb hat sie sich gelohnt.
Herzlichen Dank.
({14})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Gisela Piltz, Jens Ackermann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und
Volksentscheid in das Grundgesetz
- Drucksache 16/474 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Wieland, Hans-Christian Ströbele,
Irmingard Schewe-Gerigk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({1})
- Drucksache 16/680 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Petra
Pau, Dr. Gregor Gysi, Dr. Lothar Bisky, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung der dreistufigen Volksgesetzgebung in
das Grundgesetz
- Drucksache 16/1411 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, eine Dreiviertelstunde darüber zu debattieren. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher,
FDP-Fraktion.
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In den Verfassungen aller Bundesländer gibt es inzwischen Elemente, die die direkte Mitentscheidung der Bevölkerung zulassen. Damit hat man in aller Regel gute
Erfahrungen gemacht. In den Kommunen kennt man
diese Elemente sowieso. Der Stand des Grundgesetzes
hierzu ist faktisch aber nach wie vor der von 1949. Die
direkte Beteiligung des Volkes ist nur bei der Länderneugliederung vorgesehen.
Über dieses Thema wurde schon viel diskutiert. Auch
in diesem Hohen Hause gab es immer wieder Ansätze,
das zu ändern. Ich erinnere mich an einen Gesetzentwurf
von Rot-Grün aus der 14. Legislaturperiode, der allerdings so spät vorgelegt wurde, nämlich erst kurz vor deren Ende, dass darüber nicht mehr vernünftig diskutiert
werden konnte. Wir als FDP hatten damals den Versuch
unternommen, einen Kompromiss herbeizuführen. Er
wurde leider abgelehnt. Ich sage offen: Damals habe ich
eher zu den Skeptikern gehört;
({0})
dazu bekenne ich mich. Ich will das gleich begründen.
In der letzten Legislaturperiode hatten wir uns mit einem neuen Thema zu beschäftigen, nämlich mit dem
EU-Verfassungsvertrag. Wir von der FDP haben damals einen Gesetzentwurf vorgelegt mit dem Ziel, einen
Volksentscheid über die EU-Verfassung durchzuführen.
Ich sage heute: Es wäre wichtig gewesen, das zu tun. Es
liegt leider an Ihnen, dass es nicht dazu kam.
({1})
Wir haben das damals vorgeschlagen, weil alles andere
nicht durchsetzbar war. Wir müssen in diesem Haus ein
Stück weit praxisorientierte Politik machen.
({2})
Einiges wurde inzwischen weiterentwickelt. Wir haben Erfahrungen in den Ländern und in den Kommunen,
die wertvoll sind. Gespräche mit Organisationen wie
„Mehr Demokratie“ und anderen haben uns neue Argumente geliefert, die wir natürlich berücksichtigen. Meine
Erfahrung mit der Föderalismusreform, die am Schluss
an zwei oder drei Leuten gescheitert ist, hat mir gezeigt,
dass es in manchen Fällen die Möglichkeit geben muss,
dass das Volk den Parlamentariern, vor allem den Regierungen Beine macht. Deshalb habe ich meine Meinung
geändert. Wenn man zu einer Meinungsänderung
kommt, sollte man das auch umsetzen.
({3})
Wie schon gesagt, hat man in der 14. Legislaturperiode den Fehler gemacht, dass man den Gesetzentwurf am Ende der Legislaturperiode vorgelegt hat. Deswegen haben wir unseren Gesetzentwurf zu Anfang der
Legislaturperiode eingebracht. Damit haben wir den
Stein ins Wasser geworfen. Es freut mich, dass die Grünen und die Linke nachgezogen haben. Auf Initiative der
FDP liegen jetzt drei Gesetzentwürfe vor. Damit können
wir nun arbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns für
ein dreistufiges Verfahren entschieden - darin stimmen
wir alle eigentlich überein -: Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid. Dabei sehen wir ganz unterschiedliche Quoren vor, auf die ich nicht im Einzelnen
eingehen will. Es stellt sich natürlich die Frage, wie hoch
man die Hürden setzt. Die Hürden sollten schon so hoch
sein, dass es nicht jeden Tag eine Initiative gibt. Aber sie
dürfen nicht so hoch sein, dass sie nicht übersprungen
werden können. Deshalb haben wir Quoren gewählt, die
sich aufgrund unserer Erfahrungen als sinnvoll erwiesen
haben, was uns Experten bestätigen.
Eine weitere Frage ist, ob wir Volksentscheide zu bestimmten Themen ausschließen oder ob wir Volksentscheide zu allen Themen zulassen. Wir waren beim Ausschluss von Themen sehr restriktiv. Wenn es aber um
Ausgaben geht, dann soll auch ein Deckungsvorschlag
gemacht werden. Ansonsten - darüber sind wir uns in
diesem Hause weitgehend einig - sind Abgabengesetze
und Haushaltsgesetze ausgenommen.
Ich bitte Sie, auch über folgenden Punkt nachzudenken: Wir haben in unserem Gesetzentwurf vorgesehen,
dass drei Monate vor einer Bundestageswahl kein Volksentscheid eingeleitet werden darf; denn wir wollen nicht,
dass direkte Demokratie dazu missbraucht wird, den
Wahlkampf in eine bestimmte Richtung zu lenken. Das
wäre falsch. Wenn wir darüber reden, dann bitte praxisgerecht und so, dass es nicht durch andere Dinge in ein
falsches Licht gerückt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben den Stein
ins Wasser geworfen. Jetzt geht es darum, dass wir das
sehr ernsthaft betreiben. Ich bitte Sie herzlich: Wir haben
über verschiedene Dinge zu diskutieren, über die Quoren, die Ausnahmetatbestände und anderes. Wir alle sollten - das sage ich für die FDP-Fraktion ausdrücklich
zu - offen in die Beratungen gehen. Wir sollten in der
Debatte auch keine Hürden aufbauen, die man hinterher
nicht mehr überspringen kann. Denn wir wissen: Das
Grundgesetz lässt direktdemokratische Elemente zu,
aber dazu müssen wir das Grundgesetz ändern. Dafür
brauchen wir in diesem Haus eine Zweidrittelmehrheit.
Ich schaue jetzt zu den Kolleginnen und Kollegen von
der Union. Manche von Ihnen haben mit uns gestimmt,
als es darum ging, einen Volksentscheid über die EUVerfassung möglich zu machen. Ich weiß: Auch bei Ihnen gibt es Diskussionen. Wir sollten die Debatte so führen, dass wir nicht von vornherein das Tor zumachen;
vielmehr sollten wir das Tor ein Stück weit öffnen, sodass wir auch aus dem Lager der Union mehr Zustimmung bekommen.
Es geht nicht darum, die Gesetzgebung durch das Parlament zu ersetzen, sondern darum, diese Gesetzgebung
zu ergänzen. Es geht ferner darum, verkrustete Strukturen ein Stück aufzubrechen. Es geht darum, Bürgern
mehr Möglichkeiten zu geben, sich direkt am politischen
Geschehen zu beteiligen. Ich bin ein Anhänger der repräsentativen Demokratie; ich will sie nicht grundsätzlich ändern. Aber ich will sie um das Instrument der
Volksgesetzgebung, der Volksinitiative, des Volksbegehrens und des Volksentscheids, ergänzen. Nach meiner
festen Überzeugung können wir damit unsere Demokratie stärken; nach meiner festen Überzeugung und der
Überzeugung meiner Fraktion können wir damit unsere
Demokratie ein Stück weit aktiver, erlebbarer machen
und bürgerschaftliches Engagement stärken. Deshalb
bitte ich Sie herzlich, mit uns eine offene und unvoreingenommene Diskussion zu führen, damit wir zu einer
gemeinsamen Lösung kommen. Nur darum kann es gehen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort erhält der Kollege Ingo Wellenreuther,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Burgbacher, schon vielfach - das haben Sie zu Recht ausgeführt - hat sich der Deutsche
Bundestag mit dem Thema einer stärkeren Beteiligung
des Volkes an der Gesetzgebung beschäftigt. Die
aktuelle Debatte um Plebiszite ist deswegen zunächst zu
begrüßen, weil diese Frage diesmal weder aus wahltaktischen Gründen und unter Zeitnot noch anlässlich eines
Einzelfalls diskutiert und debattiert wird. Die Einführung von Plebisziten auf Bundesebene ist sowohl eine
verfassungsrechtliche als auch eine politische Grundsatzfrage, die nicht für Wahltaktik missbraucht werden
darf, sondern in Ruhe und vor allem sachlich diskutiert
werden muss. Auch da gebe ich Ihnen Recht.
Aber an der Diskussion, Herr Burgbacher, stört mich,
dass den Gegnern von Plebisziten immer wieder populistisch unterstellt wird, sie hielten die Bevölkerung für
nicht in der Lage, ihre Meinung sachgerecht zu äußern.
({0})
- Das haben Sie nicht getan, aber dieses Argument hört
man öfter.
Außerdem stört mich, dass von den Befürwortern von
Plebisziten der Eindruck erweckt wird, als sei nur die
unmittelbare Demokratie die wahre Demokratie, ein Allheilmittel gegen Politikverdrossenheit und das jetzige
System der repräsentativen Demokratie sei im Gegensatz dazu eine minderwertige Form der Demokratie, ein
geschichtliches Versehen, das endlich korrigiert werden
müsse.
Wer so argumentiert, verkennt, dass uns das mit guten
Gründen gewählte System der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie über 50 Jahre hinweg eine nicht zu
unterschätzende politische Stabilität in Deutschland beschert hat. Lassen Sie mich deshalb sechs Gründe nennen, die gegen Plebiszite und für unsere repräsentative
Demokratie sprechen.
Erstens. Plebiszite bergen die Gefahr des Missbrauchs und der politischen Destabilisierung. Für diese
Bedenken und Vorbehalte gibt es Beispiele aus unserer
deutschen Geschichte. In der Weimarer Republik haben
Volksabstimmungen das Land politisch aufgewühlt und
gespalten
({1})
und letztlich mit zu deren Scheitern beigetragen, Herr
Wieland.
({2})
- Lesen Sie es nach!
({3})
Im Dritten Reich wurden Volksbefragungen dazu missbraucht, die diktatorischen Entscheidungen des Naziregimes nach außen demokratisch legitimiert erscheinen
zu lassen, wie etwa 1933 der Austritt aus dem Völkerbund oder 1938 der Anschluss Österreichs. Der Parlamentarische Rat hat sich daher ganz bewusst und strikt
zur parlamentarisch-repräsentativen Demokratie und gegen Plebiszite bekannt, als er 1948/49 das Grundgesetz
ausgearbeitet hat.
Der zweite Grund gegen Plebiszite sind die immer
komplexer werdenden Fragestellungen unserer pluralistischen Gesellschaft. Um diesen gerecht zu werden, ist ein
ausgewogenes, auf Kompromissbereitschaft basierendes
Entscheidungs- und Gesetzgebungsverfahren erforderlich. Im Gegensatz zu Plebisziten können im parlamentarischen Verfahren verschiedene Interessen, insbesondere
auch die von Minderheiten, berücksichtigt und gewichtet
werden: durch Beratungen im Plenum und in Ausschüssen, Berichterstattergespräche und Sachverständigenanhörungen. Bei Volksentscheidungen ist dieses ausgewogene Verfahren nicht möglich, denn dabei geht es
letztlich nur um die Frage „Ja oder nein?“.
Der dritte Grund liegt darin, dass Plebiszite die verfassungsrechtlich garantierte föderale Grundstruktur unseres Staates beeinträchtigen. Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes garantiert die grundsätzliche Beteiligung der
Länder an der Gesetzgebung. Bei der Volksgesetzgebung bliebe die Beteiligung dieser Länderinteressen außen vor. Die vorliegenden Gesetzentwürfe sehen zwar
die Möglichkeit der Konkurrenzvorlage durch den Bundestag vor, nicht aber durch den Bundesrat. Sie enthalten
zwar eine Länderklausel, aber das ist keine inhaltliche
Mitgestaltung der Länder im Sinne des Grundgesetzes,
sondern eine reine Formalie.
({4})
- Machen wir.
Viertens. Plebiszite bergen die Gefahr der weiteren
Abwertung des Parlaments. Seien wir einmal ehrlich:
Der Deutsche Bundestag hat schon heute kräftig gegen
Bedeutungsverlust zu kämpfen. Dies hängt mit Europa
zusammen, mit der Normenflut der europäischen Institutionen, mit einer Föderalismusreform, bei der der Bund
den Ländern zu Recht weitere Zuständigkeiten überträgt,
und schließlich mit der gestiegenen Neigung, politische
Debatten in Talkshows anstatt im Plenum auszutragen.
Kämen jetzt noch Plebiszite hinzu, sei die Frage erlaubt,
über welche wichtigen Fragen das Parlament überhaupt
noch eigeninitiativ zu entscheiden hätte. Die großen
Stunden des Parlamentes wären Vergangenheit, über die
Schicksalsfragen der Nation würde woanders entschieden, Herr Wieland.
({5})
Fünftens. Durch Plebiszite besteht die Gefahr, dass
sich Parlamentarier ihrer Verantwortung entziehen und
insbesondere unpopuläre und sensible Fragestellungen
einer Entscheidung des Volkes überließen.
Sechstens bergen Plebiszite die Gefahr, dass Sachfragen nicht nach sachbezogenen Gesichtspunkten entschieden werden. Es ist auch zu befürchten, dass sich das
Volk und der Einzelne von Stimmungen und subjektiver
Betroffenheit leiten lassen,
({6})
vor allem deswegen, weil organisierte und öffentlichkeitswirksame Lobbyarbeit noch mehr Einfluss erhalten
könnte als heute schon. Populismus, Stimmungsmache,
schlagwortartige Parolen können die Entscheidung über
Sachfragen zum unsachlichen Abstimmungskampf degradieren.
({7})
Herr Wieland, was Sie gerade dokumentieren, entspricht
genau dem, was ich vorhin gesagt habe und was mich
sehr stört: Sie versuchen, mit Totschlagargumenten
Stimmung zu machen.
({8})
Außerdem können und wollen nur wenige Bürger sich
schon allein aus Zeitgründen mit einer oftmals umfangreichen und fachlich schwierigen Materie intensiv auseinander setzen. In der Gesamtschau sind das alles
Gründe gegen eine Ausweitung der unmittelbaren Demokratie und zugleich ein Plädoyer für unser bewährtes parlamentarisch-repräsentatives System.
Ich will noch zwei der gängigsten Argumente ansprechen und entkräften, die von Anhängern von Plebisziten
immer wieder erhoben, deshalb aber trotzdem nicht
stichhaltiger werden:
Erstens. Angeblich werden mit direktdemokratischen
Verfahren sowohl in anderen Staaten als auch auf Landesebene und kommunaler Ebene positive Erfahrungen
gemacht.
({9})
- Herr Burgbacher, Sie haben es angesprochen. Was andere Staaten anbelangt, ist ein Vergleich wegen gravierender Unterschiede meines Erachtens nahezu unmöglich. Das betrifft sowohl die Größe der Bevölkerung als
auch die jeweilige Tradition von Plebisziten als auch den
Staatsaufbau.
({10})
Was den Vergleich der Bundesebene mit der Landesebene und der kommunalen Ebene angeht - ich kann es
beurteilen; ich sitze auch im Gemeinderat -, ist zu sagen:
Man darf nicht verkennen, dass die politischen Fragen in
den Kommunen und in den Ländern regional und sachlich viel besser überschaubar sowie weniger komplex
sind. Insgesamt hinken diese Vergleiche gewaltig.
Zweitens wird mit Plebisziten angeblich der Politikverdrossenheit und dem Vertrauensverlust der Politiker
entgegengewirkt. Ich warne davor, die Wirkung von Plebisziten insoweit zu überschätzen. Vor allem erscheint
mir dieses Argument geradezu unlogisch. Warum soll
das Vertrauen in Politik und das Parlament eigentlich genau dann gesteigert werden, wenn das Parlament über
wichtige gesetzliche Regelungen nicht mehr selbst entscheiden soll, sondern die Verantwortung abgibt? Das
hat mir bis jetzt noch niemand erklären können.
({11})
Auch eine Steigerung der Beteiligung an Wahlen und
Abstimmungen tritt dadurch nicht ein. Ich weiß, dass
Vergleiche nur schwer möglich sind, aber hier lohnt sich
einmal ein Blick in die Schweiz. Dort liegt die Wahlbeteiligung meist unter 50 Prozent. Sie ist also niedriger als
in jedem anderen demokratischen Land. Das zeigt: Direktdemokratische Elemente können kontraproduktiv
wirken und die Gefahr der Wahlmüdigkeit nimmt sogar
zu. Insgesamt glaube ich, dass es ein Trugschluss ist,
dass die Politikverdrossenheit mit der Einführung von
mehr direkter Demokratie überwunden werden könnte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, oft zeichnen die Befürworter der direkten Demokratie ein unrealistisches
Bild nach dem Motto: In der Mitte des Volkes entsteht
ein Gesetzentwurf, es folgt eine breite gesellschaftliche
sachliche Diskussion, jeder stimmberechtigte Bürger beteiligt sich, wägt alle Argumente intensiv ab und entscheidet auf dieser Grundlage nach objektiven Kriterien,
wobei er das Allgemeinwohl und die Minderheiten ganz
fest im Blick hat. - Ich glaube, mit der politischen Wirklichkeit von direktdemokratischen Entscheidungen hat
dieses Bild nur sehr wenig zu tun.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Ergänzung unserer repräsentativen Demokratie um plebiszitäre Elemente auf Bundesebene, die Sie angesprochen haben,
Herr Burgbacher, würde die Wesenszüge unserer Demokratie meines Erachtens verändern. Ich kann nur raten:
Unterschätzen wir nicht die Gefahr des Populismus, der
in Plebisziten steckt, schätzen wir unsere geschichtlichen Erfahrungen nicht gering und überschätzen wir
nicht deren Bedeutung im Kampf gegen die Politikverdrossenheit.
Deshalb plädiere ich dafür, unser ausgewogenes parlamentarisches Verfahren und unseren starken Föderalismus wertzuschätzen.
Ich danke Ihnen - auch Ihnen, Herr Wieland.
({12})
Als Nächster hat der Kollege Dr. Lothar Bisky für die
Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mehr
direkte Demokratie steht zur Debatte. Herr Burgbacher,
ich bin froh, dass wir in Brandenburg gemeinsam mit der
FDP bereits die direkte, die dreistufige Volksgesetzgebung durchgesetzt haben. Im Übrigen geschah das auch
gemeinsam mit dem damaligen Bündnis 90. Es funktioniert.
Herr Wellenreuther, auch damals hörte ich Reden von
der CDU, in denen die Gefahren beschworen wurden.
Diese sind aber nicht eingetreten. Sie können Ihre Kollegen in der CDU fragen. Natürlich ist das die Landesebene und wir sprechen hier über die Bundesebene. Alle
Gefahren und auch manche Wunder, die sich einige erhofft hatten, sind aber eben nicht eingetreten, sondern es
ist zu einem vernünftigen Umgang der Bürgerinnen und
Bürger und, wie ich denke, auch der Politiker mit diesem
Instrument gekommen. Ich bin froh, dass jetzt drei Fraktionen mehr direkte Demokratie fordern. Wir können in
diesem Parlament gar nicht genug sein. Ich hoffe, dass
uns eine sachliche Diskussion zu einer vernünftigen Lösung bringen wird.
({0})
Wir wollen den Bürgern auf Bundesebene mehr direkte Einflussmöglichkeiten verschaffen. Das richtet
sich eben nicht gegen die parlamentarische Demokratie.
({1})
Ich sehe das als eine untrennbare Einheit und ich möchte
mich nicht weiter auf die Gegensatzdiskussion einlassen.
Ich komme aus einem Land, in dem es eine Zivilgesellschaft, wenn überhaupt, nur marginal gegeben hat,
und ich möchte in einem Land leben, in dem zivilgesellschaftliches Engagement nicht nur geduldet, sondern
auch bewusst gefördert wird.
({2})
Meine Damen und Herren von der FDP und den Grünen,
gerade deshalb wollen wir im Unterschied zu Ihnen nicht
nur Gesetzesvorlagen zum Gegenstand der dreistufigen
Volksgesetzgebung machen, sondern auch politische
Entscheidungen zur Debatte stellen. Es geht zum Beispiel um Fragen der Privatisierung. Die Bürgerinnen und
Bürger müssen nach unserer Auffassung die Möglichkeit
haben, bei wichtigen politischen Fragen mitzureden. Ich
wünsche mir, dass sie in die Lage versetzt werden, deutlicher zu erklären, was sie bei bestimmten Themen politisch wollen.
Natürlich schwächt das nicht die parlamentarische
Demokratie; denn die Antworten, die dort auf bestimmte
Fragen gegeben werden, werden dann ja im Parlament
umgesetzt .Ich will jetzt nicht der Versuchung unterliegen, konkrete Fragen zu nennen; denn dann stellt sich
die Frage, ob man sie positiv oder negativ formulieren
soll. Das ist nach meinem Dafürhalten Aufgabe für Experten. Dafür gibt es Psychologen und Soziologen, die
genau wissen, wie man eine Frage formuliert, damit man
eine gültige und zuverlässige Antwort bekommt.
Dennoch sage ich: Ich bin dafür, den Bürgerinnen und
Bürgern solche Fragen zu stellen, also direkt über eine
politische Sachfrage abstimmen zu lassen. Jede Fraktion
hätte nach unserem Vorschlag die Möglichkeit, den Bürgerinnen und Bürgern eine Sachfrage zur Entscheidung
vorzulegen. Das würde den Wahlkampf revolutionieren. Nicht mehr Versprechungen, an die sowieso immer
weniger glauben, stünden im Vordergrund, sondern die
von den Fraktionen gesetzten Themen würden eine größere Rolle spielen.
Sie und uns wird nicht jedes Ergebnis einer Volksinitiative, eines Volksbegehrens oder eines Volksentscheids
erfreuen. Die Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus kann davon ein Lied singen. Dennoch hat kürzlich
Die Linke gemeinsam mit anderen Fraktionen einen Gesetzentwurf in das Abgeordnetenhaus eingebracht, der
die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten der Berlinerinnen und Berliner erweitert; und das ist gut so.
({3})
Wir haben nicht nur in Berlin erfahren und verinnerlicht, dass jeder Zuwachs an demokratischen Verfahren
die Kluft zwischen politisch Verantwortlichen und dem
eigentlichen Souverän verkleinert. Die Ablehnung der
europäischen Verfassung in Frankreich und den Niederlanden - das ist heute schon mehrfach erwähnt worden und die katastrophal niedrige Wahlbeteiligung in den
vergangenen Wochen - die Wahlbeteiligung in Thüringen am vergangenen Sonntag lag bei nur rund
42 Prozent - zeigen: Wir müssen schleunigst und umfassend handeln. Dazu wurde von drei Fraktionen dieses
Hauses ein Vorschlag auf den Tisch gelegt.
Vor gut 16 Jahren stand ich auf dem Alexanderplatz
und hörte, wie ein späterer Alterspräsident des Deutschen Bundestages erklärte - ich zitiere -:
Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen …
Die Worte waren von Stefan Heym. Er wollte am
4. November 1989 unter anderem den Wunsch ausdrücken, dass Bürgerinnen und Bürger endlich ernst genommen werden, dass vielfältige, auch direkte Mitentscheidungsmöglichkeiten, dass mehr direkte und indirekte
Demokratie in der Gesellschaft Einzug halten.
({4})
- Bei Stefan Heym kenne ich mich ganz gut aus. Lassen
Sie uns heute gemeinsam die Fenster ein Stück weiter
aufstoßen.
Ich bedanke mich.
({5})
Als Nächster spricht der Kollege Maik Reichel, SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute liegen uns drei Anträge vor, die wir in
erster Lesung beraten und die zum Inhalt die Einführung einer dreistufigen Volksgesetzgebung auf Bundesebene haben, nämlich Volksinitiative, Volksbegehren
und Volksentscheid.
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es seit Beginn der Existenz unseres Landes Bestrebungen, eine
solche Volksgesetzgebung einzuführen. 1948 - das ist
gerade genannt worden - hat der Parlamentarische Rat
auf diese Möglichkeit zur direkten Beteiligung im Hinblick auf die deutsche Geschichte bewusst verzichtet.
Stattdessen wurde die repräsentative parlamentarische
Demokratie eingeführt. Ein zweites Mal, 1976, scheiMaik Reichel
terte die Einführung einer größeren Bürgerbeteiligung,
als die dafür eingesetzte Enquete-Kommission dieses
Ansinnen ablehnte. Auch nach der Einheit Deutschlands
zu Beginn der 90er-Jahre war der Versuch, Volksabstimmungen zu ermöglichen, nicht von Erfolg gekrönt. Viele
von Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, haben diesen Prozess begleitet.
Unser Grundgesetz bietet dafür - das haben wir bereits festgestellt und das wird auch in den Anträgen erwähnt - die verfassungsrechtliche Grundlage. In Art. 20
des Grundgesetzes steht der deutliche Satz:
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.
Ergänzend heißt es:
Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt.
Seit nunmehr fast sechs Jahrzehnten hat sich die auf
dem Grundgesetz aufbauende parlamentarisch-repräsentative Demokratie bewährt. Zumindest auf Bundesebene
ist die direkte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger
noch nicht eingeführt, auf kommunaler und Landesebene aber schon.
Wir beklagen gerade in dieser Zeit zu Recht die allmähliche Politikverdrossenheit unserer Bürger, die sich
sehr unterschiedlich darstellt: Teilnahmslosigkeit bei politischen Sachthemen, Desinteresse und - das ist gerade
angesprochen worden; es bedrückt uns alle - die sinkende Wahlbeteiligung. Letztere zeichnet sich seit einigen Jahren deutlich ab. Das zeigen die Bundestagswahlen wie auch die Wahlen auf Landesebene.
In meinem Heimatland Sachsen-Anhalt sank die
Wahlbeteiligung von 71,5 Prozent im Jahr 1998 auf
56,5 Prozent im Jahr 2002 und auf 44,4 Prozent am
26. März dieses Jahres. Wie wir eben gehört haben, lag
die Beteiligung an der Kommunalwahl in Thüringen
noch etwas niedriger; sie ist auf 42 Prozent gesunken.
Demokratie ist nun einmal auf eine aktive, verantwortungsbewusste und vor allem interessierte Mitarbeit von
Bürgerinnen und Bürgern angewiesen. Das Verantwortungsbewusstsein sollte sich nicht nur auf einen Urnengang alle vier Jahre beschränken.
Wenn wir jetzt über eine durchaus sinnvolle Verlängerung der Wahlperiode des Deutschen Bundestages von
vier auf fünf Jahre diskutieren, dann müssten damit auch
stärkere Einflussmöglichkeiten der Bevölkerung einhergehen.
({0})
Ein europaweiter Vergleich zeigt, dass in den meisten
Ländern Volksentscheide mit Volksinitiativen und Volksbegehren eingeleitet werden. Das bekannteste System
hat die Schweiz. Volksabstimmungen gibt es unter anderem auch in Österreich und Italien. Dabei finden wir die
unterschiedlichsten Regelungen hinsichtlich der Mindestbeteiligung, der Quoren. Diese dienen dazu - das
halte ich für besonders wichtig -, dem Missbrauch von
Volksabstimmungen vorzubeugen.
Betrachten wir eine Ebene darunter: Ein Blick auf die
16 deutschen Bundesländer zeigt, dass dort - wenn
auch in unterschiedlicher Ausgestaltung - Volksabstimmungen möglich sind. In den Länderverfassungen zu
verschiedenen Zeiten verankert, stellt diese Form der direkten Demokratie einen wesentlichen Bestandteil demokratischen Umgangs mit den Bürgerinnen und Bürgern dar.
({1})
- Das muss man sagen. - Von dieser Möglichkeit wurde
und wird unterschiedlich rege Gebrauch gemacht, bei
unterschiedlichem Erfolg für die jeweiligen Initiatoren.
Bis zum Jahr 2002 gab es allein in Bayern 40 solcher
Abstimmungen, in Brandenburg 21, in MecklenburgVorpommern 15, in Hessen 14, in Nordrhein-Westfalen
zehn und in Baden-Württemberg nur vier. Diese Aufzählung ließe sich weiter fortsetzen.
Es gibt viele Bürgerbewegungen oder -initiativen auf
kommunaler wie auch auf Landes- und Bundesebene,
die deutlich den Willen der Bevölkerung zeigen, sich aktiv für die Gesellschaft einzusetzen und sie mitzugestalten.
Sie alle, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, haben vor wenigen Tagen Post von der Aktion Volksabstimmung erhalten, die sich für die Einführung von
Volksabstimmungen stark macht. Die heutige Debatte
wird längst nicht mehr nur auf innerparlamentarischer
Ebene geführt.
Ganz allein stehen die außerparlamentarischen Bestrebungen nicht, hat doch bereits die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ des
14. Deutschen Bundestages festgestellt - ich zitiere -:
Bürgerschaftliches Engagement steht in enger Verbindung mit Teilhabe- und Mitgestaltungsmöglichkeiten.
Die Empfehlung der Enquete-Kommission lautete, die
Beteiligungsrechte zu stärken und neue Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen.
In den vergangenen 58 Jahren sind die guten Gründe,
die für eine stärkere Bürgerbeteiligung sprechen, auf unterschiedlicher Ebene in allen Bereichen der Gesellschaft thematisiert und erörtert worden. Ich glaube, dass
eine solche Beteiligung, wenn sie in einem entsprechenden gesetzlichen Rahmen erfolgt, einer sich breit machenden Ohnmacht gegenüber der Politik entgegenwirken kann.
Es sei ein Blick auf die Jüngeren in unserem Land gestattet. Das Desinteresse an Politik und politischem Handeln scheint mir bei ihnen sehr stark ausgeprägt. Andererseits erleben wir aber bei bestimmten aktuellen
Anlässen ein starkes, spontanes Engagement. Gerade
diese jungen Menschen sind es, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten unsere Gesellschaft gestalten werden. Die frühe Einbindung - auch in demokratische
Strukturen - ist dabei ein nicht zu unterschätzender Faktor.
({2})
Der Wunsch der jungen Leute danach ist spürbar. Dafür
müssen entsprechende Formen gefunden werden.
({3})
Ich weiß, dass es in der Frage der Einführung von
Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden
viele Argumente Pro und Kontra gibt. Einige sind bereits
angesprochen worden. Auch ich kann mich mancher Befürchtung nicht entziehen, habe ich selbst doch bereits
zwei solcher Volksentscheide auf unterschiedlichen Ebenen erlebt. Der eine liegt noch nicht lange zurück; es war
vor einem Jahr auf Landesebene - in Sachsen-Anhalt -,
der letzten Endes gescheitert ist.
Wesentlich intensiver und nachhaltiger für mich war
ein Bürgerentscheid auf kommunaler Ebene in meiner
Heimatstadt Lützen, wo ich die Ehre habe, Bürgermeister sein zu dürfen. Im Laufe der Wochen und Monate, in
denen ich diesen Bürgerentscheid mit vorausgegangenem Bürgerbegehren begleitet habe - sozusagen von der
anderen Seite, also von der Seite, die wir alle hier wahrscheinlich einmal kennen lernen werden -, konnte ich
das Für und Wider eines solchen Entscheides erleben.
Ich erkenne mitunter die Bedenken an, die von Kritikern
geäußert werden. Angeführt wird immer - nicht so sehr
hier im Haus, wohl aber außerhalb - die fehlende Kompetenz der Menschen, die sich beteiligen sollen; denn
alle müssen in die Lage versetzt werden, den Hintergrund einer Entscheidung zu verstehen. Überblicken
denn alle Beteiligten das Thema und die Folgen? Wird
der Bürger also richtig und sachlich informiert? Was ist,
wenn sich das Parlament - in diesem Fall der Stadtrat bei einem unliebsamen Thema vor der eigenen Verantwortung drückt? Was geschieht bei fehlenden aufgezeigten Alternativen durch die Initiativen? Ein weiterer Kritikpunkt ist die mitunter mangelhafte Beteiligung der
Wahlberechtigten.
({4})
Dann drängt sich mir der Gedanke auf, dass die bloße
Auswahl zwischen Ja und Nein zu einfach gedacht ist.
Tendenziell wird eine Frage zumeist so gestellt, dass
man sie logischerweise sofort mit Ja beantworten muss.
Ist das immer zielführend? Das alles sind Dinge, die mir
durch den Kopf gegangen sind.
({5})
- Darauf komme ich noch zu sprechen.
Die angeführten Argumente - es gibt sicherlich noch
wesentlich mehr - sprechen für mich jedenfalls nicht gegen die Einführung eines Volksentscheids.
({6})
Es handelt sich vielmehr um Dinge, die es in der Auseinandersetzung mit den Menschen vor Ort zu klären gilt.
Daran sollte meiner Meinung nach - ich spreche hier
ganz sicher auch für meine Fraktion - die Einführung einer Volksabstimmung nicht scheitern. Ich persönlich
habe in meiner Stadt erlebt, dass ein solches Verfahren
das Interesse an der Mitgestaltung des Gemeinwohls
steigen lässt. Die Menschen gehen bewusster mit manchen Entscheidungen um und versuchen, sich einzubringen. Darin liegt eine sehr große Chance, eine höhere Akzeptanz der politischen Entscheidungen zu erreichen und
Politikverdrossenheit, die wir alle täglich erleben, abzubauen. Aber wir müssen auch bereit sein, die Bürgerinnen und Bürger teilhaben zu lassen.
Ich habe auf unterer Ebene Menschen erlebt, die sich
für eine Sache einsetzen, die sich über das normale Maß
hinaus engagieren. Jeder von Ihnen kennt sicherlich genügend Beispiele. Einige der Initiatoren des Bürgerentscheids in meiner Stadt sitzen heute im Stadtrat, einer
davon sogar als mein zweiter stellvertretender Bürgermeister. Er und andere tun mit, und das auf konstruktive
Art und Weise. Ich weiß natürlich, dass man so etwas
nicht einfach auf Bundesebene umsetzen kann. Aber ich
glaube, dass dieses Beispiel Möglichkeiten und Chancen
einer Volksabstimmung aufzeigt.
Uns liegen nun drei Gesetzentwürfe vor. Alle gehen
von einer dreistufigen Volksbeteiligung - Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid - aus. Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hält sich in ihrem
Gesetzentwurf im Wesentlichen an den rot-grünen Gesetzentwurf aus der 14. Legislaturperiode. Das will ich
nicht verhehlen.
({7})
Die Volksinitiative soll den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, eine Gesetzesvorlage einzubringen, über die
dann im Bundestag mit Anhörungsrecht debattiert wird.
Die Zahl der Mindestbeteiligung liegt bei den Grünen
und der FDP bei 400 000 und bei der Linksfraktion bei
100 000 Wahlberechtigten.
Hinsichtlich der möglichen Inhalte solcher Initiativen
- einige sind schon genannt worden - liegen ähnliche
Ansätze vor, ohne dass man genauer darauf eingeht. Ich
glaube, gerade hier gibt es noch gehörigen Klärungsbedarf, was alles im Rahmen einer Volksabstimmung möglich sein darf.
Wenn ich mir alle drei Gesetzentwürfe anschaue,
dann stelle ich fest: Die vorgeschlagenen Beschlussfristen des Bundestages bei einer Volksinitiative reichen von
sechs bis acht Monaten. Auch die vorgeschlagenen Prozentklauseln einer erfolgreichen Beteiligung bei einem
Volksbegehren liegen mit knapp 1,7 Prozent - das ist der
Vorschlag der Linksfraktion - und 10 Prozent deutlich
auseinander. Hier besteht ebenfalls großer Klärungsbedarf. Die vorgeschlagenen Fristen für die Entscheidung
des Bundestages über ein erfolgreiches Volksbegehren
liegen bei drei bzw. sechs Monaten. Auch bei den Quoren für den Volksentscheid gibt es natürlich Unterschiede zwischen den drei Gesetzentwürfen. Bei der
Linksfraktion reicht die Mehrheit der abgegebenen Stimmen ohne Mindestbeteiligung. Bei der FDP und den
Grünen müssen es mindestens 15 Prozent sein. Das ist
die Bandbreite, über die wir noch diskutieren müssen.
Einen Zusatzpunkt enthält der Gesetzentwurf der
Linksfraktion. Dort heißt es in Art. 82 c Abs. 4:
Drei Wochen nach Festlegung des Wahltermins
zum Deutschen Bundestag hat jede Fraktion des
Bundestages das Recht, eine Sachfrage zur Abstimmung am Wahltermin vorzuschlagen. … Der gewählte Bundestag ist für seine Wahlperiode an die
Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger in diesen
Fragen gebunden.
Herr Kollege Bisky, Sie haben darauf hingewiesen, dass
der Wahlkampf dadurch interessanter werde. Ich stelle
mir das auch interessant vor, halte es aber für wenig
durchdacht, das miteinander zu verquicken.
({8})
- Ich habe damit keine Probleme. Das gebe ich doch zu.
Es wird noch einige Diskussionen geben. Ich stelle es
mir sehr schön vor, an einem Wahlsonntag dort zu sitzen,
wenn wir neben der Bundestagswahl - manchmal kommen sogar noch Landtagswahlen oder Kommunalwahlen
hinzu - fünf Abstimmungen über die Vorschläge von
fünf Fraktionen haben. Dann greift die Linksfraktion mit
Art. 82 b in ein fast abgeschlossenes Verfahren ein, indem sie die Möglichkeit eröffnen will, ein bereits beschlossenes, aber noch nicht ausgefertigtes Gesetz durch
die sehr geringe Beteiligung von nur 500 000 Wahlberechtigten wieder zu kippen. Das ist ein unpraktikables
Mittel und führt nicht zum Ziel.
Auch wenn nicht alles, was hier vorgeschlagen
wurde, nutzbringend ist, so wurde doch mit den jetzt eingebrachten Gesetzentwürfen eine neue Grundlage für
weitere Gespräche gelegt. Es wird Diskussionen geben.
Die SPD - das kann ich sagen - ist dazu bereit. Auch die
Kolleginnen und Kollegen unseres Koalitionspartners
werden sich diesen Diskussionen sicherlich nicht verschließen.
({9})
Wenn wir in die jüngere Geschichte zurückblicken, dann
stellen wir fest, dass es bereits verschiedene Anträge aus
allen Fraktionen gab, auch einen, der vor Jahren von der
PDS gestellt worden ist. Heute liegen drei auf dem
Tisch. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und
SPD haben wir uns darauf verständigt, die - ich zitiere „Einführung von Elementen der direkten Demokratie“
zu prüfen. Damit liegen die besten Voraussetzungen vor,
einen gemeinsamen Weg zu gehen. Die Koalition wird
sich auch in dieser Frage ihrer Verantwortung stellen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Herr Kollege Reichel, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Ich beglückwünsche Sie dazu sehr herzlich
und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit alles Gute.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Wieland für
die Fraktion der Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dies ist
- es wurde hier mehrfach gesagt - wahrlich nicht die
erste Debatte über dieses Thema in diesem Hause und es
sind wahrlich nicht nur ganz unbekannte Argumente gewesen, die wir hier gehört haben. Aber, Herr Kollege
Burgbacher, ohne jede Häme: Über Spätbekehrte freut
man sich immer am meisten. Wir freuen uns darüber,
dass die FDP nunmehr fest an der Seite der Befürworter
der direkten Demokratie und der Volksgesetzgebung
steht.
({0})
Wir hätten es sogar noch besser gefunden, wenn die Opposition vorher darüber geredet und eventuell eine gemeinsame Initiative gestartet hätte. Sie haben am Wochenende Ihren Parteitag. Man las, dass Sie dort über
direkte Demokratie reden wollen. Das finden wir gut.
Wir finden, dass es immer nötig ist, Demokratie auf eine
breitere Basis zu stellen.
Das alles jedoch ist für uns nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass es in dieser Legislaturperiode endlich
zu dem überfälligen Schritt hin zur direkten Demokratie
kommt.
Dazu liegt einiges auf dem Tisch. Wir werden eine
Vertrauensfrage der besonderen Art zu behandeln haben. Das letzte Jahr stand im Zeichen einer anderen Vertrauensfrage. Ein Teil von Ihnen wird sich schmerzlich
daran erinnern. Jetzt stellt sich die Frage, welches Vertrauen wir eigentlich in den Souverän, in das Volk haben.
Ihre Antwort darauf, Herr Wellenreuther, war sehr negativ: Sie haben so gut wie gar kein Vertrauen. Das Volk
kann das nicht, es versteht das nicht, es ist Opfer von
Demagogen und von Populisten. Politik ist viel zu komplex geworden, als dass wir sie in Form der Frage „Ja
oder nein“ zur Abstimmung stellen könnten.
Das ist nicht unser Bild. Das ist wahrlich auch nicht
die Erfahrung, die in den Ländern - das wurde zu Recht
von den Kollegen der SPD erwähnt - gemacht wurde.
Das ist vor allem nicht die Erfahrung, die in den Kommunen gemacht wurde. Inzwischen kennen alle Landesverfassungen die Volksgesetzgebung. Inzwischen wird
sie bundesweit mit sehr guten Erfolgen kommunal
durchgeführt. Dennoch stellen Sie sich als - ich darf das
sagen - noch recht junger Mensch hierhin und beschwören wieder einmal die Geister von Weimar. Weimar ist
nicht an der direkten Demokratie gescheitert; Weimar ist
leider an ganz anderem gescheitert.
({1})
Die Volksbegehren, die es dort geben sollte, kamen
wegen zu hoher Quoren nicht zustande; auch das muss
man im Gedächtnis behalten. Es sollte um Fragen wie
Fürstenenteignungen und Militärausgaben - Stichwort
„Panzerkreuzerbau“ - gehen; doch das ist an den Zustimmungsquoren gescheitert.
Ich ziehe daraus einen ganz anderen Schluss: Funktionierbar gemachte direkte Demokratie gibt dem Volk
die Möglichkeit, zu gestalten, und zwar nicht anstelle
oder als Ersatz des Bundestages, sondern ergänzend. Sie
gibt dem Volk das Bewusstsein, etwas in diesem Land
bewirken zu können. Die schlechten Wahlbeteiligungen, von denen Sie gesprochen haben, haben wir doch,
obwohl wir keine Volksgesetzgebung auf Bundesebene
haben. Das sind doch alles Erscheinungen, die schon da
sind. Daher muss klar sein: Wir vertrauen auf den Souverän; wir geben ihm mehr Möglichkeit, mitzugestalten
und mitzureden.
({2})
Wie Sie richtig gesagt haben, Herr Kollege, haben wir
hier den unter Rot-Grün erarbeiteten Gesetzentwurf eingebracht. Obwohl es mit Otto Schily, Herr Kollege
Benneter, nicht immer ganz einfach war, stehen wir zu
jeder Zeit zu unserer rot-grünen Vergangenheit in diesem
Haus. Wir wollen Ihnen auch die Zustimmung zu dem,
was wir vorgelegt haben, erleichtern. Um den etwas dubiosen Satz „Was gestern richtig war, kann heute nicht
falsch sein“ einmal zu variieren: Das, was gestern Ihre
Billigung hatte, kann heute nicht nur deswegen falsch
sein, weil Sie einen noch zu überzeugenden - nach dem,
was wir hier gehört haben, scheint das ein weiter Weg zu
sein; aber wir stehen ja am Anfang dieser Legislaturperiode und haben noch Zeit - Koalitionspartner haben.
Ich gestehe der CDU/CSU-Fraktion auch zu - die
„Bild“-Zeitung schrieb gestern „Schauder-Kauder“ ({3})
- ja, gemeint war der große Bruder von Siegfried
Kauder; die „Bild“-Zeitung differenziert da nicht -, dass
sie diese Woche einige Dinge schaudernd schlucken
musste: das Antidiskriminierungsgesetz - Nachbeben
waren eben noch zu spüren -, die Reichensteuer und
Weiteres. Jetzt werden Sie denken: Und nun sollen wir
auch noch „direkte Demokratie“ schlucken.
Ich mache Ihnen zum Schluss Hoffnung: Da, wo es in
den Kommunen Elemente der direkten Demokratie gibt,
sind die Konservativen, die CDU/CSU oft vorn. Sie haben hier in Berlin gegen die Einführung des Bürgerentscheides auf kommunaler Ebene erbittert gestritten.
Kaum war er gegen Ihren Willen da, waren die CDUler
die Ersten, die Bürgerbegehren gestartet haben.
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Nur noch ein Wort zu Friedbert Pflüger:
Sie sind am Ende Ihrer Redezeit.
Ich bringe wirklich nur diesen Satz zu Ende. - Er unterschrieb gegen die Umbenennung einer Straße in
„Rudi-Dutschke-Straße“, obwohl er nicht unterschriftsberechtigt war. Das Tröstliche ist: Direkte Demokratie
ist lernbar. Diese Anträge sind eine gute Chance, sich damit vertraut zu machen.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Gert Winkelmeier.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir beraten heute über die Bedeutung von Volksabstimmungen in unserer Demokratie. Nach dem Willen der
Oppositionsfraktionen soll das Grundgesetz dahin gehend geändert werden, dass künftig auch auf Bundesebene Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide gesetzgeberischen Einfluss ausüben können.
Knapp 57 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes wird es Zeit, unsere parlamentarisch-repräsentative Demokratie weiterzuentwickeln. Den Bedürfnissen
der Bevölkerung nach mehr direkter Demokratie im
21. Jahrhundert ist Rechnung zu tragen. Diese Weiterentwicklung muss durch neue Beteiligungsrechte geschehen. In Meinungsumfragen befürworten über
80 Prozent der Menschen in Deutschland die Einführung
der bundesweiten Volksabstimmung. Mit dieser Einführung verwirklichen wir auch ein Stück des real verwirklichten Freiheitsbegriffes.
Unter den Abgeordneten sind auch Mitglieder des
Vereins „Mehr Demokratie e. V.“. Einige gehören der
Regierungspartei SPD an. Rot-Grün hat bereits in der
14. Wahlperiode einen Gesetzesentwurf zur Volksgesetzgebung eingereicht. Die Hürden waren aus meiner Sicht
zwar viel zu hoch, doch es war damals ein Schritt in die
richtige Richtung. Wenn die Kolleginnen und Kollegen
der SPD es wirklich ernst meinten, dann wäre jetzt die
richtige Zeit, Einfluss auf ihren Regierungspartner zu
nehmen, damit die CDU/CSU die Volksgesetzgebung
nicht länger blockiert. Es wird allerhöchste Zeit, dass der
Bundestag zu der Einsicht findet, dass Volksabstimmungen ein wichtiges Instrument sind, weil Menschen ganz
direkt Verantwortung für Politik in unserem Land übernehmen wollen.
Damit treten wir auch einer Volksverdrossenheit entgegen. Die Beteiligung an Bundestagswahlen nimmt immer mehr ab. Am 18. September 2005 war sie mit
77,7 Prozent so niedrig wie nie.
Eine kürzlich in Rheinland-Pfalz erstellte Jugendstudie ergab, dass die 14- bis 18-jährigen Jugendlichen eine
große Distanz zu den Parteien haben. Sie favorisieren
lösungsorientiertes Handeln. Drei Viertel der Jugendlichen sind frustriert, weil sie glauben, dass sie keine
Chance haben, Politik real zu beeinflussen. Dieses Bewusstsein können wir durch mehr direkte Demokratie
verändern.
Deshalb dürfen die Hürden nicht so hoch sein. Das
Erfordernis von 100 000 Unterschriften für Volksinitiativen und von 1 Million Unterschriften unter ein Volksbegehren muss auch ein Signal sein, dass es möglich ist,
eine Volksinitiative bzw. ein Volksbegehren durchzuführen. Ein Volksbegehren, das eine Verfassungsänderung
anstrebt, benötigt sogar 2 Millionen Unterschriften.
Beim Volksentscheid bedarf es einer Mindestzustimmung von einem Viertel der Stimmberechtigten.
Wir sollten den Mut zur Volksgesetzgebung und Vertrauen in die Bevölkerung haben. Das ist grundsätzlich
ein guter Politikansatz. Er stärkt zivilgesellschaftliches
Engagement. Das ist unser Interesse.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun für die CDU/CSU-Fraktion der
Kollege Stephan Mayer.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine werten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir Deutsche können
auf die parlamentarisch-repräsentative Demokratie mit
Fug und Recht stolz sein. Die parlamentarisch-repräsentative Demokratie hat uns mittlerweile über 55 Jahre
eine Periode der Stabilität in Deutschland beschert.
Gleichwohl muss uns klar sein, dass Demokratie nicht
gottgegeben ist und dass Demokratie und demokratische
Strukturen auch immer wieder erkämpft werden müssen.
Eines muss uns ebenso klar sein: Demokratie lebt von
der Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger. Es darf uns
alle hier im Hause nicht ruhig lassen, dass die Politikverdrossenheit - vielleicht auch die Politikerverdrossenheit - in Deutschland immer größer wird.
({0})
Vor allem mich als jungen Abgeordneten beschäftigt es
durchaus, wenn ich in einer Umfrage des Emnid-Instituts lese, dass nur noch 3 Prozent der deutschen Bevölkerung Vertrauen in die deutschen Politiker haben. Die
Frage ist nur, welcher Weg der richtige ist, um die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland wieder stärker an
die Demokratie und an die Politik heranzuführen.
Ich habe viele Gespräche mit Bürgerinnen und Bürgern in meinem Wahlkreis und auch bei Veranstaltungen
hier in Berlin. Nie wird mir der Eindruck vermittelt, dass
die Bürger ein Gesetzesinitiativrecht haben wollen, dass
sie sich mit Gesetzentwürfen unmittelbar an den Bundestag wenden wollen. Was die Bürgerinnen und Bürger
in Deutschland wollen und ganz vehement einfordern,
ist, dass wir hier im Hause, aber auch alle anderen politischen Ebenen in Deutschland eine authentische, eine
ehrliche Politik betreiben.
({1})
Wir sind gefordert, meine sehr verehrten Damen und
Herren, uns wieder zum Bürger zu bewegen, und nicht
gefordert, dem Bürger das vermeintliche Angebot zu
machen, sich mit Gesetzesinitiativen an uns zu wenden.
({2})
- Herr Kollege Wieland, es ist eben kein tatsächliches
Angebot; es ist ein Feigenblatt. Wenn ich mir die Entwürfe der drei Oppositionsfraktionen ansehe, komme ich
zu dem Ergebnis, dass dies Etikettenschwindel ist, weil
damit nicht mehr Volksdemokratie ausgelöst wird. Das
Einzige, was Sie erreichen würden, meine sehr verehrten
Damen und Herren, wäre letztlich eine Minderheitendemokratie in Deutschland.
({3})
Es würden sich aktive, engagierte Interessenverbände zu
Wort melden. Glauben Sie denn ernsthaft, dass sich in
Deutschland plötzlich Freundeskreise zusammenfinden
würden, um Gesetzesinitiativen zu starten?
({4})
Nein, die Situation wäre doch die: Verbände, Lobbyisten, Interessenverbände würden versuchen, Partikularinteressen mit einer Volksinitiative zu erreichen.
({5})
Der Antrag der Linken hat, wie ich finde, mit demokratischen Strukturen überhaupt nichts mehr zu tun. Er
beinhaltet, dass schon 100 000 Unterschriften von Wahlberechtigten ausreichen, um eine Volksinitiative zu starten, um einen Gesetzesantrag an den Bundestag zu richten. 100 000 Wahlberechtigte entsprechen gerade einmal
2 Promille der deutschen Wahlberechtigten insgesamt.
({6})
Da kann man wirklich mit Fug und Recht von einem
Feigenblatt sprechen.
Nein, wir als Politiker sind gefordert, unserem Auftrag wieder gerecht zu werden. Sehen Sie ins Grundgesetz. Art. 21 des Grundgesetzes fordert uns als Parteien
auf, an der politischen Willensbildung des Volkes teilzunehmen.
({7})
Wir müssen wieder stärker Bodenhaftung bekommen.
Wir müssen auf die Bevölkerung zugehen und das aufnehmen, was sie uns an die Hand gibt.
Eine Erweiterung von plebiszitären Elementen im
deutschen Grundgesetz wäre mit Sicherheit eine Steilvorlage für eine zusätzliche Stimmungs- und Meinungsmache. Populisten und Demagogen würden sich
auf den Plan gerufen fühlen. Herr Kollege Wieland, ich
frage Sie: Wenn es so ist, dass man durch eine verstärkte
Aufnahme plebiszitärer Elemente in Landesverfassungen oder kommunalen Satzungen das Interesse der
Stephan Mayer ({8})
Bevölkerung an der Politik erhöht, warum ist dann die
Wahlbeteiligung bei vielen Landtagswahlen und Kommunalwahlen - bei den Bundestagswahlen nicht so sehr in den letzten Jahren desaströs eingebrochen? Es ist also
nicht so, dass man durch die Aufnahme plebiszitärer
Elemente in Verfassungen automatisch eine Steigerung
des Interesses der Bevölkerung an der Politik erreicht.
Meines Erachtens ist sogar das Gegenteil der Fall.
({9})
Was Sie vorschlagen, ist ein Feigenblatt. Es besteht
die eklatante Gefahr der Manipulation. Ich bin sehr wohl
der Meinung, dass wir eine aktive Bürgergesellschaft
brauchen, dass wir eine moderne Zivilgesellschaft in
Deutschland erreichen müssen, dass wir die Bevölkerung wieder stärker dazu aufrufen müssen, sich in die
Verantwortung zu begeben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Winkler?
Gern.
Herr Kollege Mayer, ich habe eine Frage, da ich weiß,
dass Sie aus Bayern stammen. Was Sie eben alles aufgezählt haben - Bühne für Demagogen, Populisten usw. -,
würde ja eine Gefahr auch auf Landesebene bedeuten.
Aber Sie haben in Bayern doch selber die Erfahrung gemacht, dass die Möglichkeiten überhaupt nicht in dieser
Art und Weise missbraucht werden, sondern im Gegenteil die Bevölkerung sehr verantwortlich mit diesem Instrument umgegangen ist. Wie stehen Sie denn dazu?
Das ist ja nicht in einen Sachzusammenhang mit dem zu
bringen, was Sie gerade gesagt haben. Oder wollen Sie
vielleicht in Bayern jetzt die Verfassung ändern, damit
dieses Instrument dort herausgenommen wird?
Herr Kollege Winkler, ich habe es ja schon ausgeführt: Die Bürgerinnen und Bürger interessieren sich an
sich nicht für die Möglichkeit, Bürgerbegehren, Volksbegehren zu starten. Wer sich tatsächlich aus reinen Partikularinteressen dafür interessiert, sind nun einmal spezielle Interessenverbände, Aktivistengruppen,
({0})
die dieses Instrumentarium ganz bewusst ausnutzen. Ich
sehe die große Gefahr, dass wir als politische Parteien
und als Parlamentarier insgesamt den Anschein erwecken, dass wir uns aufgrund der Möglichkeit der Volksinitiative, die wir geschaffen haben, nicht mehr selbst
um Gesetzesinitiativen oder das, was das Volk wirklich
bewegt und wirklich interessiert, so stark kümmern;
denn rein formal hätte die Bevölkerung dann von sich
aus die Möglichkeit, Gesetzesinitiativen in den Deutschen Bundestag einzubringen.
Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir
als Parteien sind in der Verantwortung, zu absorbieren,
was die Bevölkerung, was die Bürgerinnen und Bürger
in Deutschland denken und wollen, und das entsprechend in den Deutschen Bundestag einzubringen. Deswegen halte ich, gelinde gesagt, nichts von solchen
Gesetzesinitiativen, wie sie von den drei Oppositionsfraktionen hier eingebracht werden. Wir werden sie
trotzdem in aller Sachlichkeit und Nüchternheit behandeln.
({1})
Wir alle - das möchte ich abschließend noch einmal
festhalten - sind gefordert, uns damit auseinander zu setzen, wie wir die Bevölkerung, die Bürger wieder stärker
an die Politik heranführen können, wie wir sie wieder
stärker zu nachhaltiger und stetiger Verantwortung in
Deutschland bewegen können.
({2})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Punkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/474, 16/680 und 16/1411
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Ich
sehe, das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Investitionszulagengesetzes 2007 ({0})
- Drucksache 16/1409 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Simone Violka, SPD-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wie Sie alle wissen, läuft das Investitionszulagengesetz
2005 zum Ende des Jahres 2006 aus. Trotz der nach wie
vor nicht zufrieden stellenden Lage in den neuen Ländern im Hinblick auf Arbeitsplätze und Produktivität
sollten wir den Blick auf die sichtbaren Erfolge aber
nicht verlieren. Nicht zuletzt durch die so genannte I-Zulage konnten sich in den vergangenen Jahren konkurrenzfähige und innovative Unternehmen ansiedeln und
entwickeln.
Mein Dank gilt den vielen, die bereit waren und auch
weiterhin bereit sind, sich in diesen Regionen so stark zu
engagieren. Dabei wurden viele Arbeitsplätze geschaffen, die auch zukünftig den Menschen dort eine Perspektive bieten. Doch der unglaubliche wirtschaftliche Umwälzungsprozess seit 1989 hat mehr Arbeitsplätze
gekostet, als bisher aufgefangen werden konnten. Deshalb ist eine Fortführung dieses so erfolgreichen Instrumentes unabdingbar und wurde im Koalitionsvertrag bereits festgeschrieben.
({0})
Der heute einzubringende Gesetzentwurf dient der
Schaffung einer Nachfolgeregelung für das auslaufende
Gesetz. Er soll die Investitionszulage auf hohem Niveau
über 2006 hinaus bis Ende 2009 festschreiben. Dabei
können wir nicht unbeachtet lassen, dass die Anforderungen der Europäischen Kommission an die Beihilferegelungen gestiegen sind. Das ist auch gut so; denn es
ist wichtig, die Rentabilität verschiedener Instrumente
von Zeit zu Zeit zu überprüfen. Nur so kann verhindert
werden, dass ein einst durchaus notwendiger Einsatz
verschiedener Mittel und Wege im Laufe der Zeit nicht
nur nutzlos, sondern im Extremfall sogar kontraproduktiv wird. Im Fall der Investitionszulage ist das derzeit
aber nicht der Fall.
Unsere reale wirtschaftliche Situation vor Ort hat sich
doch nicht verbessert, nur weil Regionen, denen es noch
schlechter geht, neu in die Europäische Union dazugekommen sind. Das mag ja in Statistiken abstrakt so darstellbar sein; in der Realität haben die Menschen aber
nichts davon. Daher bin ich sehr froh, dass in diesem
Punkt ein Kompromiss mit der Europäischen Kommission gefunden werden konnte. Mein Dank gilt an dieser
Stelle auch unserem deutschen EU-Kommissar, Günter
Verheugen, der in Brüssel ein verlässlicher Partner ist,
wenn es um die Wahrung deutscher Interessen geht.
({1})
Dennoch: Beihilfen werden von Brüssel generell
misstrauisch beäugt, egal in welchem Land sie gewährt
werden. Deshalb ist es wichtig, vor Ort sehr verantwortungsbewusst mit diesem Instrument umzugehen. Denn
negative Fälle, die auch zu Rückzahlungen führen, werden nur zu gern als Beispiel für die Nichtzweckmäßigkeit dieser Regelungen angeführt. Die Begehrlichkeiten
auf das Geld aus Brüssel sind überall groß. Den Unternehmen bringt es nichts, wenn sie Gelder für Investitionen, die von vornherein als nicht förderfähig gelten, für
sich dennoch in Anspruch nehmen und diese dann wieder zurückzahlen müssen. Dies ist oftmals mit einem
langen Rechtsstreit verbunden, der zusätzliche Kosten
für die betroffenen Unternehmen verursacht. Doch das
sind nur sehr wenige Ausnahmen, die in keinem realen
Verhältnis zu den vielen positiven Beispielen stehen.
Wir brauchen in den neuen Ländern weiterhin die
Investitionsförderung zum Aufbau einer stabilen Wirtschaft. Dieses Anliegen wird auch von vielen gesellschaftlichen Gruppen wie Wirtschaftverbänden und Gewerkschaften massiv unterstützt. Das ist auch gut so;
denn eine verlässliche Wirtschaftsförderung schafft Vertrauen in Deutschland und in die EU. Deshalb soll die
Förderung betrieblicher Investitionen in Betrieben des
verarbeitenden Gewerbes und bestimmter produktionsnaher Dienstleistungen in den Jahren 2007 bis 2009 im
Rahmen dieser Gesetzesinitiative fortgesetzt werden.
Dabei stehen natürlich die eben genannten Bereiche im
Vordergrund.
Ein großer Erfolg ist es aber, dass erstmalig auch das
Beherbergungsgewerbe in den Genuss dieses Förderinstrumentes kommen kann. Für viele Regionen in den
neuen Ländern ist das besonders wichtig, weil sich
durchaus tragfähige Konzepte im Bereich des Tourismus
als Wirtschaftskraft entwickeln lassen. Das gilt meist für
Gegenden, wo es in absehbarer Zeit nicht zu einem Aufbau anderer Wirtschaftsbereiche kommen wird. Damit
sollen die Chancen der geförderten Regionen im Wettbewerb um Ansiedlungen weiter gestärkt und bestehende
Standortnachteile vermindert werden.
Gerade auch in Grenzgebieten ist das nach wie vor
ein wichtiger Punkt. Ich komme aus Sachsen - zwei Außengrenzen zu neuen Mitgliedern in der EU! - und weiß,
wie schwer es in diesen grenznahen Räumen schon jetzt
ist, den Menschen eine wirtschaftliche Perspektive zu
gewähren. Wir brauchen aber positive wirtschaftliche
Entwicklungen, damit Menschen auf der Suche nach Arbeit und einer lebenswerten Infrastruktur nicht ihre Heimat verlassen müssen.
Eines bedingt dabei das andere: Eine Ausdünnung der
Bevölkerung hat zur Folge, dass auch das gesellschaftliche Umfeld abgebaut wird. Schulschließungen, weniger
Kulturangebote, weitere Wege usw. sind dabei häufig die
Folge und machen Regionen unattraktiv. Das hat wiederum zur Folge, dass sich Menschen dort nicht ansiedeln oder weiter weggehen. Daraus folgt, dass dort keine
Unternehmen angesiedelt werden, weil ein Fachkräftemangel herrscht. Diese Spirale muss aufgehalten werden.
Ein Mosaiksteinchen dabei ist das Förderinstrument
der Investitionszulage. Ich weiß, dass durch das Auslaufen des alten Gesetzes bis zum In-Kraft-Treten des jetzt
vorgelegten Entwurfes eine Förderlücke entstanden ist.
Unser Ziel war es daher, eine einvernehmliche Lösung
mit Brüssel zu erreichen, mit der diese Lücke möglichst
geschlossen werden kann. Leider konnte diesbezüglich
nur ein Kompromiss erreicht werden. Immerhin bestand
man nach intensiven Verhandlungen nicht auf der eingetretenen Lücke von zwölf Monaten. Die weitere Förderung ist jetzt bereits vom Tag der Verkündigung des Gesetzes an möglich. Das heißt, je eher dieses Gesetz
verabschiedet wird, umso eher - bereits im Jahr 2006 können wieder Förderungen nach dem Investitionszulagengesetz gewährt werden.
Daher sollten wir diesen Gesetzentwurf so schnell
wie parlamentarisch möglich beraten und gemeinsam
verabschieden. Denn die Investoren stehen weiterhin in
den Startlöchern. Es liegt nun an uns, den Startschuss so
schnell wie möglich abzufeuern.
Vielen Dank.
({2})
Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort der Kollege
Christian Ahrendt.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Auch die FDP-Fraktion wird der Verlängerung
der Investitionsförderung im Rahmen des Investitionszulagengesetzes zustimmen. Ich darf daran erinnern, dass
wir dieses Gesetz 1997 zusammen mit der CDU/CSUFraktion, damals noch in Regierungsverantwortung, auf
den Weg gebracht haben. Dieses Gesetz ist auch heute
noch ein zentraler und vor allem verlässlicher Bestandteil der Förderung vor allen Dingen kleiner und mittelständischer Unternehmen in den neuen Bundesländern.
({0})
Besonders freut mich natürlich, dass die Förderung
des Beherbergungsgewerbes Eingang in das Investitionszulagengesetz gefunden hat. Der Tourismus in den
neuen Bundesländern, besonders aber der Tourismus in
Mecklenburg-Vorpommern ist ein bedeutender Wirtschaftszweig, den es auch in Zukunft nachhaltig zu fördern gilt.
({1})
Wir müssen aber an dieser Stelle die Frage stellen,
warum es nach 16 Jahren deutscher Einheit noch erforderlich ist, über ein Investitionszulagengesetz zu sprechen. Wir können zunächst feststellen, dass sich die Situation der mittelständischen Unternehmen in den fünf
neuen Bundesländern trotz aller Widrigkeiten deutlich
verbessert hat. Die Unternehmen sind heute breiter und
wirtschaftlich robuster aufgestellt. Sie sind innovativ
und für die Zukunft gut gewappnet.
Es gibt aber ein altes Problem - und ein neues Problem ist hinzugekommen -: Nach wie vor ist die mittelständische Landschaft in den neuen Bundesländern von
Klein- und Kleinstunternehmen geprägt. Die Unternehmen sind kurz nach der Wende gegründet worden. Die
Zeit des Aufschwunges haben sie genutzt, um ihre Existenzgründungsdarlehen zurückzuführen. Rücklagen
konnten meist nicht gebildet werden. Dann kam ein langer wirtschaftlicher Abschwung. In dieser Zeit mussten
Rücklagen, die dennoch gebildet werden konnten, für
das wirtschaftliche Überleben eingesetzt werden. Ergibt
sich nach dieser Situation eine neue wirtschaftliche Entwicklung, so fehlt gerade für Ersatz- und Erweiterungsinvestitionen das entsprechende Kapital, weil die Unternehmen aufgrund der kurzen Tradition, die sie haben,
mit einer zu geringen Eigenkapitaldecke ausgestattet
sind. Genau dort setzt die Investitionsförderung an, die
zumindest die Rentabilität dieser Unternehmen über eine
direkte Förderung verbessern kann.
Hinzugekommen ist ein Problem, über das man sich
sehr ernsthaft Gedanken machen muss: Wir haben eigentlich in ganz Deutschland festzustellen - auch wenn
es die Unternehmen in den neuen Bundesländern besonders stark trifft -, dass sich die deutschen Geschäftsbanken nach der wirtschaftlichen Stagnation der letzten
Jahre aus der Finanzierung des Mittelstandes vollständig zurückgezogen haben.
({2})
Die Investitionsförderung ist natürlich kein Ersatz für
die fehlende Finanzierung des Mittelstandes. Sie ist aber
zumindest ein Instrument, um die Kapitaldienstfähigkeit
der kleinen und mittelständischen Unternehmen zu verbessern. Auch deshalb ist es sinnvoll, dem Entwurf des
Investitionszulagengesetzes 2007 zuzustimmen.
Drittens. An dieser Stelle - das muss man leider sagen
- kann man die Regierung nicht besonders loben.
({3})
- Loben reicht schon? Es reicht aber nicht einmal zum
normalen Loben.
({4})
Sie kennen den EU-Haushaltskompromiss, der im
Dezember geschlossen wurde. Die Bundeskanzlerin ist
für den EU-Haushaltskompromiss besonders gelobt worden. Tatsache ist, dass im Zeitraum 2007 bis 2013 in den
neuen Bundesländern 5 Milliarden Euro Fördermittel
fehlen, weil diese Mittel im EU-Fonds für regionale Entwicklung eingespart wurden. Der Bundesverkehrsminister hat in seiner Rede anlässlich der Vorstellung des Jahresberichtes zum Stand der deutschen Einheit verkündet,
dass, wenn 1 Milliarde Euro in den Wirtschaftskreislauf
eingespeist wird, rund 25 000 Arbeitsplätze geschaffen
werden. In logischer Konsequenz heißt das im Grunde
genommen nichts anderes, als dass durch die ausbleibende Einspeisung von 5 Milliarden Euro Fördergeldern
im Zeitraum von 2007 bis 2013 in den neuen Bundesländern 125 000 Arbeitsplätze nicht geschaffen werden
können. Auch vor diesem Hintergrund ist die Investitionszulage als wirtschaftliches Förderinstrument für die
kleinen und mittelständischen Unternehmen wichtig.
Aus diesem Grunde stimmen wir diesem Gesetzentwurf
zu.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nun für die Unionsfraktion der Kollege
Manfred Kolbe.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Koalitionsvertrag haben sich CDU, CSU und SPD
verpflichtet, den Aufbau Ost fortzusetzen und alles zu
tun, damit wir auch im Osten Deutschlands einen sich
selbst tragenden Aufschwung erreichen. Die Reduzierung der Arbeitslosigkeit ist das zentrale Ziel des Aufbaus Ost. Deshalb wollen wir die Investitionsförderung
überall dort fortsetzen, wo es darum geht, bestehende
Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen.
({0})
Diesem Ziel dient auch das heutige Gesetzesvorhaben. Das Investitionszulagengesetz 2005 läuft Ende dieses Jahres aus. Im Koalitionsvertrag haben wir uns deshalb zur
Fortführung der Investitionszulage und ihrer Konzentration auf wachstumsrelevante und arbeitsplatzschaffende Investitionen
bekannt. Deshalb bringen wir heute den Entwurf eines
Investitionszulagengesetzes 2007 ein.
Herr Kollege Hettlich, an dieser Stelle können auch
Sie klatschen; denn die Unternehmer in unserem Wahlkreis Torgau-Oschatz warten auf diese Investitionszulage. Ich bitte um heftigen Applaus!
({1})
Die Investitionszulage ist ausdrücklich zu begrüßen.
Die wirtschaftliche Entwicklung in den östlichen
Ländern - das ist schon teilweise angeklungen - hat
viele Erfolge gezeitigt, verlief in den letzten Jahren aber
teilweise enttäuschend.
Die Wachstumsraten liegen seit 1998 unterhalb des
gesamtdeutschen Durchschnitts. Das wird, folgt man den
jetzigen Prognosen, 2006 bedauerlicherweise nicht anders sein. Die Zahl der Erwerbstätigen ging seit 1998
von knapp 6 Millionen auf knapp 5,6 Millionen zurück.
Die Arbeitslosenquote ist im Schnitt im Osten Deutschlands leider immer noch doppelt so hoch wie im Westen
Deutschlands. Die Abwanderung ist nach wie vor unser
größtes Sorgenkind. Jedes Jahr verlieren die östlichen
Bundesländer im Saldo rund 50 000, zumeist junge
Menschen. Handeln tut Not!
Deshalb bringen wir diesen Entwurf eines Investitionszulagengesetzes 2007 ein. Da nach Art. 87 des EG-Vertrages staatliche Beihilfen an Unternehmen mit dem Gemeinsamen Markt nur ausnahmsweise vereinbar sind,
muss sich das Investitionszulagengesetz 2007 strikt am
europarechtlichen Rahmen orientieren. Dieser Rahmen steht seit dem 4. März dieses Jahres fest. Es sind die
„Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung 2007 bis 2013“. Das Bundesfinanzministerium
hat rasch gehandelt und eine Formulierungshilfe vorgelegt. Wir bringen heute einen Gesetzentwurf ein. Lassen
Sie mich ihn kurz skizzieren.
Fördergebiet sind nach wie vor die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und mit Einschränkungen Berlin.
Begünstigte Investitionen sind Erstinvestitionen, die
mindestens fünf Jahre zum Anlagevermögen eines Betriebes des verarbeitenden Gewerbes, der produktionsnahen Dienstleistungen oder des Beherbergungsgewerbes
gehören. Erstinvestitionen oder Erstinvestitionsvorhaben
- das ist der neue zentrale Begriff der Leitlinien der EU
2007 - 2013 - sind die Errichtung einer neuen Betriebsstätte, die Erweiterung einer bestehenden Betriebsstätte,
die Diversifizierung der Produktion und die Vornahme
einer grundlegenden Änderung des gesamten Produktionsverfahrens. Bei kleinen Betrieben - das sage ich
hier ausdrücklich - kann ein Erstinvestitionsvorhaben
auch die Herstellung oder Anschaffung lediglich eines
einzigen Wirtschaftsgutes sein. Die Investition muss
dann fünf Jahre im Betrieb verbleiben, womit dem
Nachhaltigkeitsfaktor Rechnung getragen ist.
Begünstigte Wirtschaftszweige sind wie bisher das
verarbeitende Gewerbe, die produktionsnahen Dienstleistungen und neu hinzugekommen das Beherbergungsgewerbe. Nicht mehr begünstigt sind Leasingunternehmen.
Das Wirtschaftsgut muss jetzt im eigenen förderfähigen
Betrieb verwendet werden. Das ist sicherlich eine richtige Einschränkung gegenüber dem alten Investitionszulagengesetz.
Investitionszeitraum ist die Zeit nach dem Tage der
Verkündung des vorliegenden Gesetzes - voraussichtlich
wird das, wenn wir uns alle beeilen, Mitte Juli dieses
Jahres sein - bis zum 31. Dezember 2009, also ungefähr
dreieinhalb Jahre. Allerdings sind Erstinvestitionen, mit
denen vor dem Tag der Verkündung begonnen wurde,
auch dann förderfähig, wenn hierfür eine Genehmigungsentscheidung der EU-Kommission vorliegt.
Der Fördersatz beträgt nach wie vor grundsätzlich
12,5 Prozent der Bemessungsgrundlage, in Randgebieten 15 Prozent und bei kleinen und mittleren Unternehmen 25 bzw. 27,5 Prozent.
Das Finanzvolumen ist beachtlich. Die gesamten Investitionszulagen sollen im Jahr 2008 350 Millionen
Euro, 2009 580 Millionen Euro, 2010 ebenfalls 580 Millionen Euro und 2011 noch 230 Millionen Euro betragen. Da der durchschnittliche Fördersatz bei ungefähr
20 Prozent liegt, heißt das, dass wir damit Investitionen
im Osten Deutschlands im Gesamtvolumen von insgesamt 10 Milliarden Euro anstoßen. Das ist keine Kleinigkeit.
Lassen Sie mich abschließend auf die Förderlücke
eingehen, die auch von einer Vorrednerin angesprochen
wurde. Förderlücken liegen in der Natur unserer Investitionszulagengesetze, da diese periodisch für einen bestimmten Förderzeitraum gelten. Natürlich können dann
an den Schnittstellen Förderlücken auftreten. Wir müssen aber, um die Unternehmen nicht zu verunsichern,
ganz genau hinschauen, wo eine Förderlücke besteht und
wo nicht.
Drei Konstellationen sind zu unterscheiden:
Erstens. Unternehmer, die ihr Investitionsvorhaben
noch in diesem Jahr beginnen, können alle bis zum Ende
dieses Jahres beendeten Einzelinvestitionen noch nach
dem Investitionszulagengesetz 2005 geltend machen.
Für sie tritt also keine Förderlücke ein. Allerdings trifft
das nicht für das Beherbergungsgewerbe zu, weil es nur
im neuen Investitionszulagengesetz 2007 begünstigt ist.
Zweitens. Unternehmer, die ihr Investitionsvorhaben
nach dem Tag der Verkündung des neuen Investitionszulagengesetzes 2007 beginnen - ich sagte schon, dass das
etwa Mitte 2006 sein wird -, können alle noch in 2006
beendeten Investitionen nach dem Investitionszulagengesetz 2005 und alle ab 2007 beendeten Investitionen
nach dem Investitionszulagengesetz 2007 geltend machen. Also auch in diesem Fall besteht keine Förderlücke.
Drittens. Eine Förderlücke besteht nur dann, wenn ein
Unternehmer jetzt, noch vor dem Tag der Verkündung
des Investitionszulagengesetzes 2007, mit dem Investitionsvorhaben und den ersten Einzelinvestitionen beginnt
und weitere Einzelinvestitionen erst im Jahre 2007 beendet. Dann sind diese weiteren Einzelinvestitionen im
Jahr 2007 nicht förderfähig, es sei denn, eine Genehmigungsentscheidung der EU liegt vor. Hier gilt der „umgekehrte Gorbatschow“: Wer zu früh investiert, den bestraft das Investitionszulagengesetz! Dies trifft
allerdings nur auf diesen einen besonderen Fall zu. Darauf ist sorgfältig zu achten, um keine Verunsicherung zu
schaffen.
({2})
- Dazu sind wir als nationaler Gesetzgeber allein nicht in
der Lage, verehrter Herr Kollege.
({3})
Aber Sie können uns dabei behilflich sein, den Nachteil
einzugrenzen, indem Sie dazu beitragen, dass wir diesen
Gesetzentwurf möglichst schnell verabschieden können;
({4})
denn die Förderlücke wird umso geringer sein, je zügiger wir diesen Gesetzentwurf verabschieden.
Unser Zeitplan sieht vor, dass die Behandlung im
Ausschuss noch im Mai dieses Jahres stattfindet. Die
zweite und dritte Lesung des Gesetzentwurfs könnte am
1. Juni durchgeführt werden. Der Bundesrat könnte dann
am 7. Juli entscheiden. Die Verkündung des Gesetzes
wäre Mitte Juli 2006 möglich. Wir alle sollten daran mitwirken, dass das gelingt. Wenn auch die Oppositionsfraktionen ihren Beitrag dazu leisten, ist das umso besser.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Roland Claus
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich will mich an einen Grundsatz der alten griechischen Rednerschulen halten, der da heißt: Lobend
beginnen, kritisch ausführen, optimistisch enden. Es ist
bereits darauf hingewiesen worden, dass das Investitionszulagengesetz die Fortsetzung der Investitionsförderungen ab dem Jahre 2007 regelt. Das nützt vorrangig
den neuen Bundesländern. An meinen Vorredner gewandt, kann ich für meine Fraktion ganz ausdrücklich
eine zügige Behandlung dieses Gesetzentwurfes zusagen. In ihm werden neue EU-Vorgaben berücksichtigt.
Das geschieht vor dem Hintergrund - auch das dürfen
wir, wie ich finde, nicht ausblenden -, dass die wichtigsten wirtschaftspolitischen Indikatoren verdeutlichen,
dass die Schere zwischen Ost und West seit dem
Jahre 1997 leider wieder auseinander geht.
Anerkennenswert, lobenswert und gut finden wir Folgendes: Zunächst einmal wird in diesem Gesetz der Förderbedarf im Osten anerkannt. Das ist nicht unwichtig.
Ich habe schon ein bisschen über den Kollegen von der
FDP gestaunt, der das Vorhaben unterstützt hat. Ich
komme nämlich gerade aus den Beratungen des Haushaltsausschusses. Dort stellt Ihre Fraktion, verehrter
Kollege, pausenlos Anträge auf Kürzung der Wirtschaftsförderung Ost. Das können wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
({0})
Das Gesetz zielt - auch das ist unterstützenswert - auf
die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Erhaltung
vorhandener Arbeitsplätze. Dabei geht es insbesondere um die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen. Dabei handelt es sich um einen Rechtsanspruch
und nicht um einen Bewilligungstatbestand. Das ist gerade für kleine Unternehmen, die sich im Förderdschungel oft nicht zurechtfinden, ein wichtiger Schritt. Zudem
ist der Verwaltungsaufwand als relativ gering eingeschätzt worden.
Bemerkenswert finden wir die Aufnahme der - ich
sage das verkürzt - Tourismusförderung. Die rot-rote
Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern hat das
ausdrücklich begrüßt und zum Teil als Erfolg ihres Bemühens um die Förderung dieses Bereichs verstanden.
Darüber hinaus sind wir der Auffassung, dass Sie den
EU-Rechtsrahmen ziemlich weit ausgeschöpft haben.
Das ist, wenn man das optimal machen will, ziemlich
schwierig, wie wir alle wissen. Hier endet das Lob der
Opposition.
Nun zu unserer Kritik: Sie bleiben bei der Pflicht stehen und wagen sich nicht an die Kür. Ihre Pflicht ist es
deshalb, weil Sie sich im Koalitionsvertrag dazu verpflichtet haben. Sie kamen also nicht darum herum, hier
aktiv zu werden, zumal Sie das den Ost-Ministerpräsidenten auf der letzten Ost-Ministerpräsidentenkonferenz
in Halle an der Saale auch versprochen haben.
Gelegentlich ist es nötig, daran zu erinnern, dass Fördermittel nicht von den Bezügen der Minister abgespart,
sondern nach wie vor aus Steuergeldern gezahlt werden.
({1})
Von denjenigen, die Fördersätze von 12 oder 15 Prozent
- zum Teil sind sie noch höher - in Anspruch nehmen
wollen, wird noch immer ein recht hohes Maß an Eigenkapital vorausgesetzt, das, wie wir wissen, gerade in den
neuen Bundesländern nur selten vorhanden ist.
Mit diesem Gesetz führen Sie einen Passus neu ein,
der da heißt, dass auch solche Unternehmen gefördert
werden, die mit Unternehmen verbunden sind, die im
Fördergebiet ansässig sind. Da wird mir um meinen
Wahlkreis Naumburg/Weißenfels nicht bange, weil jeder
die Story von Rotkäppchen und Mumm kennt. Aber
wenn man sich den Regelfall vor Augen führt, muss man
an dieser Stelle einige Bedenken anmelden. Ich will ausdrücklich sagen: Auch wenn wir uns vehement für die
weitere Förderung der Interessen der neuen Bundesländer einsetzen - Mitnahmeeffekte bei der Verlagerung
von Betrieben aus den westlichen in die östlichen Bundesländer unter Vernichtung von Arbeitsplätzen in westlichen Bundesländern stehen nicht auf unserer politischen Agenda und werden von uns kritisiert.
({2})
Wir finden, dass die Industrieforschung fehlt. Wir
werden Sie, wie Sie in den Haushaltsberatungen sehen
werden, weiter mit unserem Vorschlag behelligen, eine
kommunale Investitionspauschale in Höhe von
1,5 Milliarden Euro einzuführen; das ist nicht mit diesem Gesetz zu lösen. Wir finden es bedauerlich, dass unlängst im Ältestenrat unserem Antrag nicht gefolgt
wurde, einen Bundestagsausschuss für die Angelegenheiten der neuen Länder und für strukturschwache Gebiete in westlichen Bundesländern einzusetzen. Wir
möchten Sie daran erinnern, dass Sie sich in Ihrem Koalitionsvertrag unter dem Stichpunkt „Aufbau Ost“ verpflichtet haben, Mitte des Jahres 2006 neue Kreditbedingungen für Risiko- bzw. Wagniskapital zu schaffen, die
den Unternehmen zugute kommen sollen.
Bei aller Anerkennung dieses Gesetzentwurfes muss
ich sagen: Was die Koalition gut und richtig macht, das
macht sie notgedrungen und halbherzig - was Koalition
und Regierung schlecht machen, wie die Erhöhung der
Mehrwertsteuer und die Privatisierung der Bahn, das
macht sie mit sehr viel mehr Power. Wir würden nicht in
Ehrfurcht erstarren, wenn das umgekehrt wäre; aber
schon ein Schritt in die richtige Richtung wäre gut.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun der Kollege Peter Hettlich für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich habe schon vor
einigen Wochen in der Debatte zum Stand der deutschen
Einheit gesagt: Wir halten die Verlängerung der Geltungsdauer des Investitionszulagengesetzes für einen
Fehler und werden den Gesetzentwurf in dieser Form ablehnen. Um der Legendenbildung vorzubeugen - der
Kollege Kolbe hat ja schon angedroht, mich in meinem
Landkreis Torgau-Oschatz anzuschwärzen -: Wir sind
nicht gegen die Förderung von Investitionen in Ostdeutschland; aber wir sind für eine effiziente und vor allem Fehlallokationen vermeidende Investitionsförderung.
({0})
- Manfred, machen wir es später; lass mich erst einmal
anfangen.
Heißt das, dass Sie die Zwischenfrage jetzt nicht genehmigen?
Ich habe fünf Minuten Redezeit; das ist wirklich sehr
knapp.
Das Ziel, das ich eben definiert habe,
({0})
wird mit der Investitionszulage nach dem Investitionszulagengesetz verfehlt; das ist ganz klar. Deshalb können
wir dem Gesetzentwurf in dieser Form nicht zustimmen.
Ich weiß mich damit auf der sicheren Seite, was die
Fachleute angeht. Schauen Sie sich an, was die wirtschaftswissenschaftlichen Institute erklären, schauen Sie
sich die Fortschrittsberichte an, zum Beispiel das Jahresgutachten 2004/05 des Sachverständigenrates - ich zitiere -:
Der Sachverständigenrat hat sich wiederholt für ein
Auslaufen des Investitionszulagengesetzes ausgesprochen … Problematisch ist insbesondere, dass
auf diese Zulage ein Rechtsanspruch besteht und
vergleichsweise hohe Mitnahmeeffekte ausgelöst
werden. Sinnvoll wäre demgegenüber eine einzelfallbezogene und regionalpolitischen Zielen entsprechende Investitionsförderung.
Dem muss ich nichts hinzufügen.
({1})
Dennoch heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfs - ich zitiere -:
Mit der Investitionszulage sollen die Unternehmen
gezielt unterstützt werden, um in Ostdeutschland
neue Investitionen zu tätigen, die dazu beitragen,
die Wirtschaftskraft zu stärken und Arbeitsplätze zu
schaffen, um der Abwanderung und der hohen Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken.
Jetzt frage ich mich: Haben Sie die Gutachten nicht
gelesen? Haben Sie sie nicht zur Kenntnis genommen?
Oder sagen Sie wider besseres Wissen etwas anderes?
Warum soll man über die I-Zulage Unternehmen gezielter fördern können? Das lässt sich für mich nicht nachvollziehen, auch nicht anhand der Begründung in Ihrem
Gesetzentwurf.
Wir sagen ganz deutlich - ich habe es immer wieder
gesagt -: Die Gemeinschaftsaufgabe Ost, „Verbesserung
der regionalen Wirtschaftsstruktur“, ist das bessere Instrument; das bestätigen uns alle wissenschaftlichen Institute. Es ist gezielter, es ist eine regional abgestimmte
Wirtschaftsförderung, es schafft nachweislich mehr Arbeitsplätze - schauen Sie sich die Berichte an - und es
ist vor allen Dingen unproblematisch, was das Beihilferecht der EU angeht, weil es in diesem Korsett bereits
abgesegnet ist. Die Gemeinschaftsaufgabe Ost - das hat
der Kollege Claus eben wieder gesagt - ist jedoch laufend bedroht: Jedes Jahr, in schöner Regelmäßigkeit,
wird darüber diskutiert, wie wir diese Mittel weiter kürzen können; auch dieses Jahr drohte dies wieder am Horizont. In letzter Minute hat man noch einmal die Kurve
gekriegt. Ich kenne jetzt nicht den letzten Stand des
Haushaltsausschusses; aber ich hoffe, dass es zumindest
bei den zugesagten Mitteln bleibt. Die Gemeinschaftsaufgabe Ost, dieses erfolgreiche Instrument, ist immer
wieder bedroht. Wir sollten uns an unsere eigene Nase
fassen und sollten uns an dieser Stelle zu diesem erfolgreichen Instrument bekennen.
({2})
Ich weiß auch, warum das so ist; das wurde eben
schon von einem Vorredner gesagt. Hierbei spielt die
Kofinanzierung durch die Länder eine entscheidende
Rolle. Über die Kofinanzierung müssten wir eigentlich
einmal eine gesonderte Debatte führen. Ich habe Ministerpräsident Böhmer vor sechs oder sieben Wochen gesagt: Bei der Frage, woher die Mittel kommen, bin ich
zu vielen Schandtaten bereit. Aber nur mit der Begründung, man müsse kofinanzieren, ein Gesetz voranzubringen, das aus meiner Sicht wirklich schlechtere Effekte
hat, halte ich nicht für vertretbar und halte ich für unverantwortlich, gerade auch, weil wir Steuergelder effizient
verwenden müssen.
Zum Thema EU-Vorbehalte - dieser Punkt wurde
schon vorhin angesprochen -: Ein Teil des Gesetzes tritt
erst dann in Kraft, wenn die EU die entsprechenden beihilferechtlichen Aspekte überprüft hat. Ich als Verkehrspolitiker, der ich ja auch bin, kann mich sehr gut daran
erinnern, dass wir uns im Zusammenhang mit der LKWMaut mit der Frage der Kompensation für die Logistikunternehmen beschäftigt haben. Bis heute haben wir
hierzu im Prinzip keine Entscheidung getroffen. Das
heißt, dass es, wenn wir dieses Gesetz jetzt mit den bestehenden Vorbehalten verabschieden, durchaus sein
kann, dass wir in den nächsten drei Jahren keine Entscheidung der EU-Kommission bekommen. Was machen Sie dann mit diesem Teil des Gesetzes? Ich finde
das unverantwortlich. Das ist nicht das, was ich unter Investitionssicherheit und vor allem unter Vertrauensschutz für die Unternehmen verstehe, die möglicherweise in den nächsten Jahren Investitionen in
Ostdeutschland tätigen werden. Das Gesetz ist auch in
diesem Punkt nicht der Weisheit letzter Schluss.
Wir fordern daher, dass die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe Ost um die Summe, die im Investitionszulagengesetz eingestellt ist, erhöht werden, also um
etwa 250 Millionen bis 300 Millionen Euro. Das müssen
wir einmal überdenken. Das hat sehr viel Charme; denn
dann müssten wir nur den Haushaltstitel entsprechend
erhöhen, brauchten kein Gesetz zu verabschieden und
hätten das Problem des EU-Beihilferechts bei der Gelegenheit auch noch umgangen.
Ich will noch auf einen weiteren Aspekt zu sprechen
kommen - auch diesen hat der Kollege Claus schon genannt: Es gibt keine Initiativen zu der Frage der Unternehmensfinanzierung, zu der Frage, wie wir Start-ups in
Ostdeutschland finanzieren, oder zu der Frage, wie es
mit dem Risikokapital weitergeht. Das Problem in Ostdeutschland ist, dass viele Unternehmer gar keine Investitionszulage in Anspruch nehmen können, weil sie es
nicht schaffen, die Gründungsphase zu überstehen.
Ich kann abschließend nur sagen: Sie haben versprochen, gezielter zu fördern. Was haben Sie gemacht? Sie
haben aus dem Keller die Gießkanne hervorgeholt. Ich
fordere Sie auf: Räumen Sie diese schnell wieder weg.
Noch ist es nicht zu spät. Wir haben bis zum Sommer
Zeit. Vielleicht sehen Sie es ein und arbeiten gemeinsam
mit uns an der Initiative weiter, die Gemeinschaftsaufgabe zu stärken.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat nun der Kollege Garrelt Duin für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn
folgende Bemerkung machen: Ich habe im „Kürschner“
nachgesehen, woher die Rednerinnen und Redner, die zu
diesem Tagesordnungspunkt sprechen, kommen. Mir ist
aufgefallen, dass ich der einzige Redner bin, der nicht
aus einem der neuen Länder kommt. Lassen Sie uns die
Aufgabe Aufbau Ost bitte auch künftig als gesamtdeutsche Aufgabe begreifen. Sorgen wir dafür, dass dieses
Thema nicht nur einem Teil Deutschlands überlassen
wird und gesagt wird: Seht zu, wie ihr damit fertig werdet. - Es ist und bleibt eine Aufgabe für das gesamte
Haus und für die Vertreter aus allen Regionen.
({0})
In den vergangenen 16 Jahren hat in den neuen Ländern ein umfassender Modernisierungsprozess stattgefunden. Das konnten wir miterleben. Aber wir müssen
feststellen, dass dort trotz aller Anstrengungen noch
nicht eine solche Wirtschaftskraft erreicht wurde, die für
eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung ausreichen würde. Die industrielle Basis ist nach wie vor zu
schwach. Die Investitionsdynamik der ostdeutschen
Wirtschaft lässt nach; das ist von meinen Vorrednern
schon angesprochen worden. Der zentrale Punkt ist:
Noch immer finden zu wenige Menschen Arbeit und zu
viele Menschen haben keine Arbeit.
Nur durch weitere neue Investitionen kann dazu beigetragen werden, neue und sichere Arbeitsplätze zu
schaffen und die Wirtschaft zu stärken. Investitionen
sind deswegen enorm wichtig. Um es anders zu sagen:
Geld in die Hand zu nehmen, ist enorm wichtig. Das
wollen wir als große Koalition machen. Die Ansiedlung
neuer Unternehmen, der Bau von Technologiezentren
und vieles andere mehr - der wirtschaftliche Aufschwung der neuen Bundesländer wäre ohne öffentliche
Gelder so nicht möglich.
Insbesondere die Gewährung von Investitionszuschüssen durch Bund und Länder hat zahlreiche Unternehmensgründungen und damit die Schaffung neuer Arbeitsplätze erst möglich gemacht. Es geht darum, die
ostdeutschen Regionen entsprechend ihrem eigenen Profil wirtschaftlich zu entwickeln. Regionalentwicklung ist
nicht das Resultat, sondern Teil der wirtschaftlichen Entwicklung. Im Mittelpunkt der Politik müssen deshalb die
regionalen Potenziale und Fähigkeiten stehen. Diese gilt
es auszubauen und die regionalen Stärken zu verbessern.
Gerade im Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten kann
sich regionales Selbstbewusstsein entwickeln. Hier muss
die Politik ansetzen. Jede Region hat Stärken, sei es in
der Erzeugung und Verarbeitung landwirtschaftlicher
Produkte, sei es im Maschinenbau, sei es in der umweltfreundlichen Energieerzeugung, sei es im Tourismus, sei
es im Logistikbereich, sei es im traditionellen Handwerk.
Das geltende Investitionszulagengesetz läuft aus. Uns
war aber bewusst: Die Förderung von betrieblichen Investitionen in den ostdeutschen Ländern durch eine
Investitionszulage ist weiterhin dringend nötig. Sie ist
eines der zentralen Instrumente zur Förderung des Aufbaus der ostdeutschen Wirtschaft. Die Fortsetzung der
Geltungsdauer der Investitionszulage haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart; darauf ist schon hingewiesen
worden. In Genshagen haben wir das konkretisiert.
Ganz im Sinne der Europäischen Kommission wird in
diesem Gesetzentwurf die Förderung von kleinen und
mittleren Betrieben im Fördergebiet intensiviert. Erstinvestitionen werden in den Bereichen unterstützt, die die
Konjunktur- und Wachstumsmotoren in den neuen Ländern darstellen. Wir sind froh darüber, dass auch der Bereich des Tourismus hier Eingang gefunden hat. Der
Tourismus hat sich in vielen Regionen Ostdeutschlands
zu einem starken und erfolgreichen Wirtschaftsfaktor
entwickelt. Wir wollen mit der Aufnahme von Hotelleriebetrieben usw. dazu beitragen, das touristische Potenzial Ostdeutschlands weiter zu stärken.
({1})
Herr Hettlich, mit der Investitionszulage und den Investitionszuschüssen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe steht ein insgesamt bewährtes Förderinstrumentarium zur Verfügung. Es geht nicht um ein Entwederoder. Vielmehr brauchen wir einen Mix der verschiedenen Instrumente und nicht nur eines.
({2})
Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Fördermaßnahmen, die nicht investive Zwecke verfolgen, zum Beispiel
die Innovationsförderung und die Förderung der Netzwerkbildung. Auch diese helfen mit, die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und Regionen zu erhöhen.
Es ist schon davon gesprochen worden, dass es von
größter Wichtigkeit ist, das Verfahren hier im Hause und
im Bundesrat jetzt so rasch wie möglich durchzuführen,
damit möglichst zügig Rechtssicherheit für die Investoren geschaffen wird und keine zusätzliche Lücke die nötigen Investitionen in die Wirtschaft der neuen Länder
unterbricht.
Nach dem Beitritt der relativ wirtschaftsschwachen
zehn osteuropäischen Staaten zur EU sind die ostdeutschen Bundesländer zudem in eine schwierige Lage geraten. Es ist wichtig, dass Ostdeutschland in diesem Zusammenhang nicht ins Hintertreffen gerät. Dies hat
Brüssel mit der Gewährung von Beihilfen anerkannt,
trotz großer Widerstände.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, sprechen Sie noch einmal mit Ihren Kolleginnen und Kollegen in Brüssel! Ich selber war dort fünf Jahre, bis zum
Herbst des vergangenen Jahres, Abgeordneter. Der Widerstand, der dort insbesondere von der liberalen Fraktion gegen jede Form von Beihilfe gezeigt wird, ist gerade in diesem Punkt wirklich nicht hilfreich. Beim
Investitionszulagengesetz wäre eine Solidarität, wie wir
sie hier durchaus in Ansätzen erkennen können, in besonderem Maße notwendig.
({3})
Ich will abschließend grundsätzlich sagen, dass staatliche Beihilfe ein Schlüsselinstrument ist, das uns zur
Förderung regionaler Entwicklung sowie echter Konvergenz zwischen den Ländern zur Verfügung steht. Sie bietet wichtige Anreize, wenn es darum geht, öffentliche Investitionen und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung zu
fördern und im Übrigen auch dafür zu sorgen, dass in
den am stärksten benachteiligten Regionen öffentliche
Dienstleistungen erbracht werden. Nur so kann sozialer
und wirtschaftlicher Zusammenhalt in unserem Land
verwirklicht werden. Deswegen wollen wir diesen Vorschlag so einbringen.
Eine letzte Bemerkung. Auch das ist gerade schon angesprochen worden: Wir haben es in Europa mit
Betriebsverlagerungen zu tun. Wir müssen einen Wettlauf um die höchstmöglichen staatlichen Beihilfen verhindern. Herr Staatssekretär Hintze, es ist weiteres Tun
auf der europäischen Ebene notwendig, um den Wettlauf
um möglichst hohe staatliche Beihilfen in Europa einzudämmen. Wir erleben, dass es bei vielen Unternehmensverlagerungen um genau diese Frage geht. Die Menschen in Deutschland haben die Erwartung, dass auf
europäischer Ebene eine entsprechende Antwort gefunden wird. Wenn das nicht gelingt, werden wir bei dieser
Frage unglaubwürdig.
Die große Koalition macht mit diesem Gesetz deutlich, dass die Wirtschaftsförderung in den neuen Bundesländern eine gesamtdeutsche Aufgabe ist. Wir lassen
die Menschen dort nicht alleine, sondern wollen mit
einem handlungsfähigen Staat, der investiert und die
Wirtschaft fördert, weiter zum Gelingen beitragen.
Vielen Dank.
({4})
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat nun die Kollegin Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute beginnt die parlamentarische Debatte über
die Verlängerung der Investitionszulage über den
31. Dezember 2006 hinaus. Gott sei Dank ist es in den
Verhandlungen mit der Europäischen Union gelungen,
neben den schon bisher geförderten Sektoren - verarbeitendes Gewerbe und produktionsnahe Dienstleistungen die Tourismusbranche in den förderungsfähigen Bereich aufzunehmen. Das ist für die neuen Länder gut und
wichtig. Wer die Wachstumsquoten im Bereich Tourismus in den letzten 15 Jahren betrachtet, der sieht hier
Chancen, in den neuen Ländern neue Arbeitsplätze und
weiteres Wachstum zu generieren. Die Gutachten bestätigen immer wieder einen hohen Investitionsstau und ein
Fehlen qualitativer Voraussetzungen in den neuen Ländern. Wir hoffen, mit der Ausweitung der Investitionszulage in diesem Bereich eine Lücke zu schließen.
({0})
Die Verlängerung der Investitionszulage ist schon vor
dem heutigen Tag sehr lange diskutiert worden, sowohl
in der Wirtschaft als auch in der Politik und unter den
Sachverständigen, und zwar bei weitem nicht so einvernehmlich, wie es heute hier geschieht. Während sich
die Unternehmen in den neuen Ländern schnell einig
waren, dass auch über den 31. Dezember hinaus eine
Förderung mit diesem Instrument erforderlich ist, plädieren Wissenschaftler schon seit längerem für ein Auslaufen und gegen eine Verlängerung. Herr Kollege
Hettlich, Sie haben völlig Recht: Wir müssen uns mit
diesen Bedenken beschäftigen. Wir können nicht ignorieren, dass sich sowohl das Institut für Wirtschaftsforschung Halle als auch der Sachverständigenrat gegen
eine Verlängerung ausgesprochen haben.
Die Investitionszulage ist ein breit angelegtes Förderinstrument. Es besteht die Gefahr, dass wegen der gesetzlichen Absicherung starke Mitnahmeeffekte entstehen, dass in Unternehmen investiert wird, die sich
sowieso nicht am Markt halten können, und dass hier
viel Geld für Investitionen, die durchaus auch ohne Fördermittel möglich wären, ausgegeben wird.
({1})
Auch der Sachverständigenrat hat in seinen Jahresgutachten 2004 und 2005 ausdrücklich für ein Auslaufen
der Investitionszulage plädiert und sich für eine einzelfallbezogene und regionalpolitischen Zielen entsprechende Förderung ausgesprochen.
Herr Kollege Hettlich, obwohl ich diese Argumente
ernst nehme, komme ich zu einem anderen Ergebnis als
Sie. Beide Wirtschaftsfachgremien fordern nicht die ersatzlose Abschaffung der Investitionszulage; beide sagen, man solle dieses Instrument aufschlüsseln und der
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ zuschlagen. Unabhängig von diesen
Gutachten tun wir gut daran, die Effektivität erneut zu
prüfen, bevor wir 1,74 Milliarden Euro Steuergelder ausgeben. Wegen des gesetzlichen Anspruchs fällt dies zugegebenermaßen bei der Investitionszulage nicht leicht.
Warum plädiere ich heute trotzdem für den vorliegenden Antrag auf Verlängerung der Investitionszulage?
Warum halte ich die Auflösung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“
nicht für den richtigen Weg? Herr Kollege, Sie haben die
Diskussion über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ lange mitverfolgt. Wer schon ein wenig länger im Deutschen
Bundestag ist, der kennt die Diskussion darüber im
Haushaltsausschuss und weiß, dass die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe immer wieder gekürzt worden sind,
und zwar um fast 30 Prozent in den letzten fünf Jahren.
In jedem Haushaltsjahr haben wir Probleme, die Förderung auf dem bisherigen Niveau zu halten. Zu diesen
Haushaltsvorbehalten kommt hinzu, dass die Gemeinschaftsaufgabe jeweils zur Hälfte vom Bund und von
den Ländern zu tragen ist. Gerade wirtschaftsschwache
Länder können aber häufig den Eigenanteil gar nicht erbringen, sodass auch die Bundesmittel wegfallen. Gerade in diesen Ländern wäre eine Wirtschaftsförderung
ausgesprochen wichtig.
Die Förderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe
kann nur unter Haushaltsvorbehalt gewährt werden.
Trotz der Verpflichtungsermächtigungen kommt es immer wieder zu der Situation, dass den Unternehmen gesagt werden muss: Wenn die Gelder zur Verfügung stehen, kann die Investition gefördert werden. So erhalten
die Unternehmen keine hinreichende Sicherheit für ihre
Investitionen. Deshalb sagt auch der Sachverständigenrat: Aus Sicht der ostdeutschen Länder rechnet sich die
Investitionszulage besser als jede andere Förderung.
Hier bin ich Thüringerin; das sage ich ganz offen.
Als Thüringerin kann ich dem Stopp der Investitionszulage erst dann zustimmen, wenn ich gewiss sein kann,
dass wir mit einer ähnlichen Sicherheit die gleiche
Summe Geldes für den investiven Zweck in den neuen
Ländern bekommen. Diese Sicherheit ist im Moment
nicht gegeben. Ich plädiere mit Ihnen dafür, dass wir
weiterhin versuchen sollten, diese Sicherheit zu erreichen.
Ich bin auch gleichzeitig Mitglied der Föderalismuskommission und es ärgert mich natürlich schon, dass
von 100 Euro Investitionszulage, die ein Unternehmen
in meinem Bundesland erhält, genau 3 Euro thüringische
Steuergelder sind. Die übrigen 97 Euro kommen über
den Länderfinanzausgleich und Bundessonderergänzungszuweisungen. Das führt natürlich dazu, dass jeder
Thüringer auf gar keinen Fall dem Stopp der I-Zulage
zustimmen kann, solange nicht die Zahlung der 97 Euro,
die unter anderem über den Länderfinanzausgleich kommen, in ähnlicher Weise sichergestellt wird.
Ich plädiere dafür, dass wir heute die Zahlungsdauer
der Investitionszulage bis 2009 verlängern. Das gibt uns
Zeit, in der zweiten Runde der Föderalismusreform, die
wir alle miteinander beschlossen haben und bei der wir
uns mit den Finanzbeziehungen beschäftigen werden,
ein Förderinstrument zu finden, durch das die Effektivität und die Treffsicherheit erhöht und den Ländern
trotzdem die Sicherheit gegeben wird, dass dieses Geld
tatsächlich bei ihnen ankommt.
Ich bin gerne dabei und freue mich. Herr Hettlich,
vielleicht haben wir hier ja ein gemeinsames Ziel. Ich
bin froh, dass wir den Unternehmen erst einmal bis 2009
eine Sicherheit geben können. Beim künftigen Gesetzgebungsverfahren werde ich für meine Fraktion für diese
Verlängerung stimmen.
Danke.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/1409 in die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage soll abweichend von der Tagesordnung aus-
schließlich gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an
den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Gibt es
dazu andere Vorschläge? - Ich sehe, das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen ({0})
- Drucksache 16/575 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Stalking-Bekämpfungsgesetzes
- Drucksache 16/1030 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort für
die Bundesregierung der Bundesministerin für Justiz,
Brigitte Zypries.
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Bei dem Thema Stalking gibt es inzwischen einen
breiten Konsens in Deutschland. Das liegt nicht zuletzt
daran, dass diese Problematik durch viele Veröffentlichungen bekannter geworden ist und dass viele Nachstellungen und Belästigungen, die es früher zwischen getrennten Paaren wahrscheinlich auch gab und die nicht
als solche definiert waren, nun auf einmal einen Namen
haben, und das liegt auch daran, dass sich inzwischen
Forschungsgruppen dieses Themas angenommen haben.
In Darmstadt, meinem Wahlkreis, wurde eine Untersuchung vorgelegt, die zeigt, dass überwiegend Männer
stalken, dass es also auch beim Stalking dasselbe Phänomen wie ansonsten bei Gewaltdelikten im Strafrecht
gibt, und dass - das ist besonders bedrückend für die Opfer - Stalkinghandlungen in der Regel circa zwei Jahre
dauern. Das heißt, es ist ein relativ langer Zeitraum, in
dem man beeinträchtigt und belästigt wird und in dem in
einer Weise in das Leben eingegriffen wird, dass man
gut verstehen kann, dass viele der Opfer sagen, sie müssten sich anschließend in psychiatrische Behandlung begeben.
Die momentane Rechtslage ermöglicht es, etwas zu
tun. Sie ermöglicht es den Opfern, sich vom Zivilgericht
eine speziell auf ihren Fall zugeschnittene Verfügung zu
holen. Bei Verstoß gegen diese Verfügung begeht der
Täter eine Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft wird. Das haben wir alle übereinstimmend als zu wenig erachtet. Bei allen Schwierigkeiten
im Hinblick auf die Ausgestaltung war deswegen immer
klar: Der Strafrahmen muss angehoben werden, um diesen besonderen Unrechtsgehalt der Tat deutlich zu machen.
Wie man das ansonsten formuliert, ist beim Stalking
hinreichend schwierig; denn wir müssen genau bestimmen, ob sich jemand rechtmäßig auf öffentlichem
Grund und Boden aufhält. Wenn beispielsweise jemand
jeden Morgen gegenüber der Wohnung des Opfers auf
der Straße wartet, steht er auf öffentlichem Grund und
Boden und darf das zunächst einmal. Wann ist die
Grenze zur Belästigung, zum Nachstellen, zum so genannten Stalking erreicht und wann wird dies strafrechtlich relevant?
Diese Abgrenzung war schwierig. Deswegen hat die
Debatte lange gedauert. Bereits in der letzten Legislaturperiode haben wir die rechtspolitische Diskussion über
die Veränderung des Stalkingparagrafens begonnen. Wir
konnten sie nicht mehr förmlich abschließen, weil die
Legislaturperiode früher endete, als allgemein erwartet.
Die Zeit, die wir dadurch gewonnen haben, haben wir
aber genutzt. Gesetzentwürfe der Bundesregierung und
des Bundesrates liegen vor. In den letzten Wochen haben
wir gemeinsam mit den Rechtspolitikern dieses Hauses
eine Formulierung gesucht, die sowohl vom Bundestag
als auch vom Bundesrat getragen werden kann.
Ich möchte mich an dieser Stelle sowohl bei den Ländern, insbesondere bei Ihnen, Frau Kollegin Merk, als
auch bei den Abgeordneten des Deutschen Bundestages,
die sehr engagiert mitdiskutiert haben, wie auch bei dem
Parlamentarischen Staatssekretär, der in diese Diskussionen involviert war, für diese sehr sachlichen,
sachgerechten und konsensorientierten Gespräche herzlich bedanken.
({0})
Die Schwierigkeit war, das strafrechtlich Wünschbare
und die eigenen Vorstellungen mit dem verfassungsrechtlich Machbaren und Vertretbaren zu verbinden. Es
liegt in der Natur der Sache, dass kein Entwurf ohne auslegungsbedürftige Begriffe auskommt. Gleichwohl muss
eben den Anforderungen des Bestimmtheitsgebotes genügt werden.
Im Entwurf der Bundesregierung war vorgesehen:
Es gibt klar definierte Straftatbestände, die Handlungen
sind als Erfolgsdelikte konzipiert und eine Deeskalationshaft ist nicht vorgesehen. Damit hätten wir unter
verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten mit Sicherheit
jede Problematik ausgeschlossen. Aber im Zuge eines
Kompromisses mit den weiter gehenden Vorstellungen
aus dem Bundesrat haben wir Lösungen entwickelt, die
den Wünschen des Bundesrates ein Stück weit entgegenkommen.
Die vier sehr konkreten Handlungsalternativen, die
wir in unserem Gesetzentwurf benannt haben, nämlich
Verfolgung mittels Telekommunikation, Auflauern und
Ähnliches, werden wir - das wollen wir wenigstens vorschlagen - um „andere vergleichbare Handlungen“ ergänzen. Damit stellen wir sicher, dass keine Strafbarkeitslücken entstehen. Insbesondere stellen wir in
Anbetracht der sich rasant entwickelnden Technik sicher, dass durch die Weiterentwicklung durch Technik
keine Lücken entstehen. Wer hätte vor einigen Jahren
gedacht, dass es ein Stalking mittels SMS überhaupt geben kann?
Durch diesen Auffangtatbestand meinen wir, dem Bestimmtheitsgebot zu genügen, weil wir die Handlungsalternativen zuvor näher konkretisiert haben und dadurch einen Bezug zu diesen konkreten Handlungen
herstellen. Die Rechtsprechung muss dann herausarbeiten, was im Einzelfall eine „vergleichbare Handlung“ ist.
Und: Wir knüpfen bei der Strafbarkeit nicht an eine
potenzielle Gefährdung an.
Auf besonderen Wunsch der Länder und auch der
Union, wenn ich richtig informiert bin, wird es künftig
auch Qualifikationstatbestände mit einem höheren
Strafrahmen für die Fälle geben, in denen der Tod eintritt
oder die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung entweder beim Opfer oder bei Angehörigen des Opfers besteht. Ich hatte eben schon gesagt,
dass der Strafrahmen bisher bei einem Jahr lag. Künftig
sollen dies drei Jahre sein. Bei schwereren, bei Qualifikationstatbeständen können dies künftig bis zu zehn
Jahre werden.
Im strafprozessualen Bereich wollen wir eine Erweiterung für die so genannte Deeskalationshaft erreichen.
In einem Fall, der sich in Berlin zugetragen hat, hätte
überlegt werden müssen, ob nicht die Deeskalationshaft
das sachgerechte Mittel gewesen wäre, um auf diese Art
und Weise einen Mord zu verhindern. Es ging um einen
Fall von Stalking, der vor Gericht verhandelt wurde.
Beim Verlassen des Saales hat der Mann die Frau erstochen. Ich kann den Fall nicht beurteilen, weil ich die
reale Situation nicht kenne. Aber wenn gewaltförmiges
Handeln absehbar ist, dann könnte man künftig in solchen extremen Fällen nach § 112 a StPO die Täter kurzfristig in Haft nehmen.
Ich halte die dazu erreichten Lösungen für einen vernünftigen Kompromiss, der vor allem eine gesetzliche
Regelung ermöglicht. Denn wir sind uns einig - das haben zahlreiche Gespräche mit Vertretern der Polizei bestätigt -, dass eine Regelung im Strafgesetzbuch vonseiten der Polizei für ausgesprochen wichtig gehalten wird.
Das kann aber nicht der einzige Grund sein, weil er die
Länder nicht davon enthebt, auch künftig zu berücksichtigen, dass für die praktische Bearbeitung dieser Fälle
sowohl bei der Polizei als auch bei den Staatsanwaltschaften Fortbildungen durchgeführt werden müssen.
Es kann nicht angehen, dass einem Stalking-Opfer, das
sich bei der Polizei meldet, gesagt wird: „Er liebt Sie
doch. Was wollen Sie denn?“
Ein positives Beispiel in diesem Zusammenhang ist
Bremen, wo sowohl bei der Polizei als auch bei der
Staatsanwaltschaft Schwerpunkteinheiten gebildet wurden, die Fortbildungen durchführen und psychologische
Betreuung anbieten. In Berlin wird das ebenfalls gemacht. In diesen Ländern werden - abgesehen von den
Opferhilfevereinen, die eine große Hilfe sind - Fachleute eingesetzt, die wissen, wie man mit einem Opfer
redet. Aber wenn es um die Verfolgung einer Straftat
geht, ist völlig klar, dass möglichst zügig die Polizei einzuschalten ist, um Schlimmeres zu verhindern. Alle Forschungsergebnisse belegen, dass ein schnelles und kategorisches Nein, mit dem die Grenzen aufgezeigt werden,
das Beste ist, was in solchen Fällen getan werden kann.
Ich würde mich freuen, wenn der Kompromiss, der
zwischen Bund und Ländern ausgehandelt wurde, in diesem Haus einen Konsens finden und das Gesetz möglichst bald verabschiedet würde, damit wir im Interesse
der Opfer zu einer besseren Rechtssituation kommen.
Besten Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat nun für die FDP-Fraktion der Kollege
Jörg van Essen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin, der Appell, den Sie zum Schluss an uns
gerichtet haben, zielt offenkundig in Richtung Opposition. Sie haben innerhalb der Koalition schon einen
Kompromiss gefunden, an dem wohl auch die Länder
mitgewirkt haben.
Ihre Problembeschreibung wird von uns geteilt. Wir
hatten uns nicht zum ersten Mal mit diesem Thema zu
befassen, und zwar zu Recht, weil uns selber durch Zeitungslektüre immer wieder gravierende Fälle von Stalking vor Augen geführt werden und wir das Gefühl
haben, dass wir als Gesetzgeber die Opfer, die zum Teil
schrecklich leiden, nicht allein lassen dürfen.
Wir haben zuerst einen eher zivilrechtlichen Ansatz
gewählt, weil wir davon ausgegangen sind, dass die
schwierigen Abgrenzungsprobleme, die auch Sie aufgezeigt haben, in diesem Bereich leichter zu lösen sind.
Aber auch in dem zivilrechtlichen Gewaltschutzgesetz,
das dann verabschiedet worden ist, ist schon ein strafrechtlicher Teil enthalten gewesen.
Ich denke, dass inzwischen genug Zeit verstrichen ist,
um eine Bilanz ziehen zu können. Wir müssen feststellen, dass die bisherige Rechtslage dem notwendigen
Schutz der Opfer offensichtlich nicht gerecht wird. Deshalb begrüßen wir es, dass wir erneut über dieses Thema
sprechen und dass über die Notwendigkeit eines eigenen
Straftatbestands diskutiert wird.
Ich will nicht verhehlen, dass mir die vom Bundesrat
vorgeschlagene Lösung nicht zusagt. Das Gefährdungsdelikt gefällt mir nicht und die darauf gründende
Deeskalationshaft ist nach meiner Auffassung rechtsstaatlich höchst bedenklich.
({0})
Deshalb begrüße ich es außerordentlich, dass die Verhandlungen zwischen den Koalitionsfraktionen offensichtlich dazu geführt haben, davon Abstand zu nehmen.
({1})
- Ich gehe davon aus, dass das so ist.
({2})
Denn wir haben eine Verpflichtung. Deshalb sollten wir
auf der Grundlage des Gesetzentwurfs diskutieren, der
jetzt von der Koalition vorgelegt worden ist. Ich hoffe
sehr, dass wir sorgfältig beraten; denn es ist notwendig,
dass wir Abgrenzungen zu sozial adäquatem Verhalten
vornehmen.
Ich möchte einen Gesichtspunkt ansprechen, den Sie,
Frau Ministerin, in Ihrer Rede nicht erwähnt haben. Sie
wissen, dass die Medien befürchten, Probleme durch
den zu schaffenden Straftatbestand zu bekommen. Ich
finde, wir sollten die von den Medien geäußerten Sorgen
ernst nehmen. Frau Ministerin, ich habe Ihre Pressemitteilung gelesen. Sie sagen, dass das noch nicht einmal
tatbestandlich sei. Wer sich aber die verschiedenen Recherchemöglichkeiten der Presse anschaut, der weiß,
dass man das nicht ganz ausschließen kann. Wir sollten
daher in den Beratungen diesem Aspekt besondere Aufmerksamkeit widmen. Es darf nicht sein, dass die Presse
in unserem Land Gefahr läuft, strafrechtlich verfolgt zu
werden.
({3})
- Herr Kollege, ich habe mit Ihrer Aufgeregtheit gerechnet.
({4})
Ich will deshalb ergänzend hinzufügen, dass sich
selbstverständlich auch die Medien in unserem Land an
die Gesetze zu halten haben.
({5})
Aber wir haben die verfassungsrechtlich garantierten
Rechte der Medien zu gewährleisten. Hier eine vernünftige Abwägung vorzunehmen, damit sollten wir uns in
den Beratungen besonders beschäftigen. Alles das ist des
Schweißes der Edlen wert.
Ich sage für die FDP-Bundestagsfraktion, dass wir
uns konstruktiv einbringen werden. Wir sind offen für
einen Straftatbestand. Wir sind sehr dafür, dass kein Gefährdungsstraftatbestand, sondern ein erfolgsorientierter
Straftatbestand geschaffen wird; denn mit Letzterem
lässt sich das Entstehen vieler Probleme verhindern. Ich
freue mich jedenfalls auf die Beratungen. Wir sind es
insbesondere den Stalkingopfern schuldig, schnell zu einer rechtsstaatlich einwandfreien Lösung zu kommen.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun die Staatsministerin für Justiz des
Freistaats Bayern, Dr. Beate Merk.
Dr. Beate Merk, Staatsministerin ({0}):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Intensiv und mit großer Ernsthaftigkeit haben
wir uns des Themas Stalking angenommen. Ich freue
mich sehr, dass wir auf der Grundlage der Gesetzentwürfe von Bundesrat und Bundestag einen Kompromiss
gefunden haben. Wir wissen, dass es jeden treffen kann,
und doch wird das Delikt viel zu oft bagatellisiert. Fast
jeder ist schon einmal verlassen worden. Wie oft passiert
es, dass eine angebetete Frau oder ein bewunderter
Mann nichts von ihrem Verehrer bzw. seiner Verehrerin
wissen will! In einer solchen Situation hat man viele
Möglichkeiten. Man kann resignieren, verzweifeln oder
sich jemand anderen suchen.
Was aber tut jemand, der clever ist, der Ausdauer hat
und der absolut davon überzeugt ist, dass dieser andere
Mensch einzig und allein für ihn geschaffen wurde? Er
wird handeln; er wird Stalker. Als Stalker ist man Jäger.
Das Opfer ist Freiwild. Ein Stalker ist ein guter Jäger. Er
sieht, er hört und er ist präsent. Er registriert alles; es
entgeht ihm nichts. Seine Motive mögen irrational sein,
sein Handeln ist dafür umso rationaler. Die begehrte
Frau will ihren Alltag leben. Der Stalker wird ihn analysieren: Wann geht sie morgens aus dem Haus? Wie lange
muss man sie aufhalten, damit sie den Bus verpasst? In
welche Schule geht ihr Kind? Wo kauft sie ein? Zu
Staatsministerin Dr. Beate Merk ({1})
welcher Bank, zu welchem Arzt oder in welches Fitnessstudio geht sie? In welcher Zeitung könnte man ihre Todesanzeige aufgeben oder in welchem Blatt ein Inserat,
in dem sie Telefonsex anbietet? Welche Nachbarn besitzen genügend Zeit und Neugier, um sich die Geschichte
einer enttäuschten Liebe anzuhören und sie dann weiterzuerzählen?
Als Stalker bringt man Disziplin in das Leben seines
Opfers. Geht sie montagabends nicht gerne ins Freibad?
Man muss nur auch dort sein, dann wird das aufhören.
Kauft sie nicht immer gerne in diesem Fachgeschäft ein?
Man muss nur in ihrem Beisein mit der Verkäuferin reden und sie kommt nicht mehr. Hat sie nicht früher oft
über ihren Chef geschimpft? Man sollte es ihm einmal
erzählen. Die betroffene Frau soll nicht ausgehen, nicht
lustig sein, nicht vergessen. Sie soll nur eines: an mich
denken.
Ich habe mit vielen Stalkingopfern gesprochen. Sie
erwarten eine klare, adäquate Aussage der Politik. Ich
weiß, wie sie fühlen. Aber um die ganze Dimension des
Geschehens zu begreifen, muss man sich in den Täter hineindenken. Er allein hat die Fäden in der Hand, nur er
stellt die Weichen. Er hat nicht nur Wut im Bauch, er hat
vor allen Dingen Konzept und System. Die Frau hat es
eilig? Der Stalker hat Zeit. Die Frau scheut Peinlichkeiten? Der Stalker sucht sie geradezu. Die Frau kennt
Freunde, Bekannte und Kollegen? Der Stalker kennt sie
auch. Es ist wie bei Hase und Igel: Wohin auch immer
sich das Opfer auf den Weg macht, der Stalker ist schon
dort. Er ist der Schatten. Er hat keine eigenständige Existenz. Ihm genügt diejenige des Opfers. Und mag das Opfer einfach leben wollen - dem Stalker reicht das Warten. Man muss nicht erst an die tödlich endenden Fälle
denken, um sich klar zu machen: Stalking ist ein massiver Angriff auf einen Menschen in seiner Gesamtheit,
auf seine körperliche und auf seine seelische Unversehrtheit, auf sein ganzes soziales Dasein. Es kann, wie gesagt, jeden treffen.
Warum ist Stalking eine Aufgabe für die Politik? Weil
unsere Rechtsordnung bisher genau das tut, was dem Täter niemals einfiele: Unsere Gesetze lassen das Opfer allein. Wann können Polizei und Justiz eingreifen? Erst
dann, wenn sich der Stalker aus der Deckung wagt, wenn
er offen und sichtbar agiert, wenn er beleidigt, wenn er
schlägt. Aber wer allein darauf reagiert, der kuriert nur
Symptome und nicht die Krankheit. Deshalb ist es essenziell wichtig, dass wir einen Tatbestand bekommen, der
das Stalking als solches zum Ziel hat, der beharrlichem
Nachstellen eigenen Unrechtsgehalt verleiht, und es
muss ein Straftatbestand sein, damit der Staatsanwalt
für das Opfer aktiv werden kann.
Das Gewaltschutzgesetz - Frau Kollegin Zypries hat
es angesprochen - war ein wichtiger Schritt, das Kontaktverbot eine richtige Idee. Aber wer ein Leben zwischen Furcht und Scham führt, der tut sich mit dem
Gang vor ein öffentliches Gericht sehr hart.
Besonders wichtig ist mir die von uns in die Diskussion gebrachte Deeskalationshaft; denn Stalking bedeutet Steigerung. Es lebt von der Intensivierung. Der Täter
muss die Schraube anziehen, die Kreise enger drehen.
Früher oder später gehört dazu physisches Handeln. Will
man diese Bedrohungsspirale rechtzeitig durchbrechen,
muss man dazu auch physisch eingreifen dürfen. Es darf
nicht länger Fälle geben, in denen die Strafverfolgungsbehörden quasi hilflos zusehen müssen, bis es zur Katastrophe kommt. Umso mehr freut es mich, dass wir hier
auf einem guten Weg sind. Wir als Länder hätten uns sicher noch mehr gewünscht. Aber alles deutet auf einen
tragfähigen Kompromiss hin, auch zur Deeskalationshaft.
Mir ist bewusst, dass das ein schweres Geschütz ist.
Aber als Justizministerin eines Landes kenne ich unsere
Richter und ich weiß, dass sie dieses Instrument mit Umsicht gebrauchen werden. Außerdem ist die Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr keine neue
Erfindung, sondern sie ist schon lange in der Strafprozessordnung enthalten. Unser Vorschlag passt in das vorhandene System. Stalking trägt die Wiederholungsgefahr
schon seiner Definition nach in sich. Das Gesetz sieht
diese Form der Haft bevorzugt für Sexualdelikte vor.
Wir wissen alle, dass Stalking in aller Regel einen sexuellen Hintergrund hat. Die Deeskalationshaft wird zudem nur für die besonders schweren Fälle eröffnet, etwa
wenn der Täter die Gesundheit seines Opfers schwer bedroht oder wenn er es gar in Lebensgefahr bringt. Gerade deshalb sind die Qualifikationstatbestände wichtig, die wir vorschlagen. Der neue Tatbestand soll nicht
nur den Anfängen wehren, er soll auch eine Antwort für
massive Formen des Stalkings enthalten.
Mir ist bewusst, dass wir nicht jeden schrecklichen
Fall verhindern können. Absoluten Schutz kann kein Gesetz gewährleisten. Aber wir brauchen ausreichende
Rechtsgrundlagen. Mir ist auch bewusst, dass Strafrecht
kein Allheilmittel ist. Es ist viel zu tun, um das Stalking
in den Griff zu bekommen. Ich gebe Frau Kollegin
Zypries vollkommen Recht: Wir brauchen Fortbildung
für die Strafverfolger, wir brauchen Forschung durch die
Psychiatrie, auch Therapie der Täter mit ihren ganzen
Besonderheiten. Aber wenn uns eine effektive Lösung
im Strafrecht gelingt, dann kann die große Koalition das
Zeichen setzen: Wir lassen die Opfer nicht allein. Ich
bitte Sie, setzen Sie dieses Zeichen.
Es stimmt: Unser Vorhaben ist diffizil. Wir haben es
uns damit aber auch wirklich nicht leicht gemacht. Deswegen sollten wir anfangen, es den Tätern schwer zu
machen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun die Kollegin Sevim Dagdelen von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In einem sind wir uns alle einig: Der
Schutz von Opfern beharrlicher Nachstellungen, des so
genannten Stalkings, muss verbessert werden. Ich begrüße es hier ausdrücklich, dass wir über den Bundesratsgesetzentwurf anscheinend nicht mehr zu sprechen
brauchen, da die inhaltlichen Mängel dieses Gesetzentwurfs meines Erachtens so groß sind, dass man darüber
überhaupt nicht zu diskutieren braucht.
Kommen wir also zum Entwurf der Bundesregierung.
Dieser hat zwar den Vorteil, dass er wahrscheinlich nicht
verfassungswidrig wäre; dafür weist er aber andere
Schwächen auf. Im Gegensatz zum Bundesratsgesetzentwurf beschreibt der vorgesehene neue Straftatbestand
§ 241 b StGB abschließend besonders häufig auftretende
Verhaltensweisen von Stalkern und stellt dieselben unter
Strafe. Die Strafbarkeit soll dabei - das ist hier oft zum
Ausdruck gekommen - vom Erfolg der kausalen schwerwiegenden und unzumutbaren Beeinträchtigung der Lebensgestaltung abhängen.
Fraglich ist hier allerdings, ob das Ziel der Gesetzesinitiative so überhaupt erreicht wird. Das Ziel ist der Opferschutz, und zwar vor allem die bessere Betreuung durch
die Strafverfolgungsbehörden zu einem Zeitpunkt, da das
Opfer sich dem Psychoterror noch nicht durch Einschränkung der Lebensumstände gebeugt hat. Ein Ansetzen zu
diesem Zeitpunkt wird durch den Gesetzentwurf jedoch
nicht geregelt. Das Opfer soll erst schwerwiegend und unzumutbar beeinträchtigt sein, bevor die Schwelle zur
Strafbarkeit überschritten wird. Den Bedürfnissen der Betroffenen wird er somit nicht gerecht. Diese sind primär
nicht am repressiven Handeln des Staates interessiert, sondern an der präventiven Tätigkeit der Behörden und an
Unterstützung.
({0})
Erforderlich sind daher unseres Erachtens eine Sensibilisierung der Strafverfolgungsbehörden und eine konsequente Unterstützung der Opfer durch geschulte Kräfte.
Was die Opfer wollen, ist auch eine Unterbrechung
der Gewaltspirale des Täters, um bereits jetzt strafbare
Handlungen wie Körperverletzung zu verhindern. Eine
aus Sicht der Opfer vielleicht wünschenswerte vorbeugende Haft ist in einem demokratischen Rechtsstaat wegen der schweren Form des Eingriffs in die Handlungsfreiheit und in die Freiheit der Person nur unter
restriktiven Bedingungen möglich; vergleichen Sie dazu
§ 112 a StPO. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung würde im Gegensatz zum Entwurf des
Bundesrats hieran zu Recht nichts ändern.
Stellt sich somit die Frage, ob eine Ergänzung des Gewaltschutzgesetzes um bisher nicht erfasste, nach wissenschaftlichen Untersuchungen aber verbreitete Verhaltensweisen nicht hilfreicher wäre. Zudem sollte unseres
Erachtens der Normverletzung nach § 4 Gewaltschutzgesetz der Anschein eines Bagatelldelikts genommen
werden. Die Polizeikräfte sollten darüber hinaus dazu
angehalten werden, die Opfer von Straftaten allgemein
und die Opfer von Stalking ernst zu nehmen und entsprechend zu betreuen.
Dem grundsätzlichen Anliegen, eine bessere Verfolgbarkeit der Stalker durch die Strafbewehrung zu erreichen und damit den Opfern zu helfen, wird man durch
die vorliegende Fassung dieses Gesetzentwurfs nicht gerecht. Ich hoffe, wir werden bei den Beratungen im Ausschuss darauf hinwirken können, dass die Regelung zu
dem Zeitpunkt, wo die Opfer die Hilfe benötigen, greift.
Ich danke Ihnen.
({1})
Nun hat das Wort der Kollege Jerzy Montag von der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin, wir reden heute
über eine mögliche neue Strafvorschrift gegen beharrliches Nachstellen, Stalking genannt. Frau Justizministerin Merk aus Bayern hat in ihrem Redebeitrag die Vielfalt der möglichen Lebensgestaltungen geschildert und
uns klar gemacht, welch eine unglaubliche Belastung
dies für die Opfer jeweils darstellt.
Es ist richtig: Stalking ist eine ganz erhebliche Beschneidung der Freiheit der Lebensführung von Menschen. Stalking ist ein Verhalten von Tätern, das den Opfern nicht nur psychisch, sondern auch physisch
erhebliche Schäden zufügt. Trotzdem sollten wir uns
noch einmal klar machen, dass eine neue Strafvorschrift
im Strafgesetzbuch kein Allheilmittel gegen diesen Zustand ist.
({0})
Die Untersuchung, die der Weiße Ring hat durchführen lassen und auf die die Bundesjustizministerin zu
sprechen gekommen ist, hat ergeben, dass in 70 Prozent
der Fälle die Polizei überhaupt nicht begriffen hat, was
die Opfer ihr sagen wollten; in 80 Prozent der Fälle haben die Opfer erklärt, dass sie sich durch das Verhalten
der Polizei überhaupt nicht geschützt gefühlt haben.
Das liegt nicht daran, dass es zurzeit keinen eigenen
Straftatbestand des Stalkings gibt. In der gleichen Studie
wird gesagt, dass es in 40 Prozent aller Fälle zu Körperverletzungen gekommen ist, in weiteren 20 Prozent zu
gefährlichen und schweren Körperverletzungen, dazu zu
Beleidigungen, Bedrohungen und auch noch anderen gefährlichen Straftaten. Trotzdem reagiert die Polizei in
der Regel immer noch nicht. Das hat damit zu tun, dass
die Polizei - und auch die Justiz - auf dieses Phänomen
des Stalkings immer noch nicht genügend vorbereitet
und nicht entsprechend geschult ist. Deswegen ist es
Aufgabe der Länder, da noch viel zu tun.
Unter dem Strich sage ich für uns Grüne: Wir sind der
Auffassung, dass es eines neuen Straftatbestandes gegen
das Stalking bedarf. Wir sollten uns jetzt in der ersten
Lesung den Entwürfen nähern, die es dazu heute gibt.
Die große Koalition hat heute - wie gestern zum
Steuerchaos - ein bisschen zum Rechtsstaatschaos beigetragen. Wir reden heute nämlich über einen Gesetzentwurf des Bundesrates, den es offensichtlich nicht mehr
gibt, und über einen Gesetzentwurf der Bundesregie2974
rung, den es offensichtlich auch nicht mehr gibt. In der
Öffentlichkeit wird über einen Gesetzentwurf von Bayern diskutiert, der nie eingebracht worden ist. Meine
Vorrednerinnen und Vorredner haben über irgendeine Einigung geredet, die wir nicht kennen, jedenfalls nicht in
Form einer Gesetzesvorlage hier. Aber wir sind ja in der
ersten Lesung des Gesetzes.
Es ist kein guter Stil, dass wir heute um halb drei eine
Presseerklärung des Bundesjustizministeriums bekommen haben, in der erstens steht, dass der Bundestag
heute in erster Lesung über zwei Gesetzesvorschläge beraten hat - jetzt ist es halb fünf! -, und in der uns zweitens ein völlig neuer Gesetzentwurf mit neuen Fallgestaltungen vorgelegt wird, den wir so nicht kennen.
({1})
Ich habe keine Zeit, im Rahmen meines jetzigen Beitrags zur Debatte zu den einzelnen Punkten des nicht
vorhandenen Gesetzentwurfs Stellung zu nehmen. Aber
wir sichern Ihnen zu, dass wir uns im Gesetzgebungsverfahren mit Ihrem Vorschlag einer Deeskalationshaft und
mit vielen anderen Vorschlägen befassen werden, mit
Vorschlägen, von denen das Bundesjustizministerium
bisher behauptet hat, sie seien verfassungswidrig, während es nun der Meinung ist, das sei hinnehmbar. Ein
solches Verhalten ist nicht hinnehmbar.
({2})
Dem werden wir im parlamentarischen Verfahrensgang
noch nachspüren.
Danke schön.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 16/575 und 16/1030 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, Dr. Gesine
Lötzsch und der Fraktion der LINKEN
Gesetzliche Regelung für frühere Mitglieder
der Bundesregierung und Staatssekretäre zur
Untersagung von Tätigkeiten in der Privatwirtschaft, die mit ihrer ehemaligen Tätigkeit
für die Bundesregierung im Zusammenhang
stehen
- Drucksache 16/846 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Koppelin, Dr. Max Stadler, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Verhaltenskodex für ausscheidende Regierungsmitglieder
- Drucksache 16/677 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({2}), Monika Lazar, Jerzy Montag, Silke
Stokar von Neuforn und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Berufstätigkeit von ausgeschiedenen Mitgliedern der Bundesregierung regeln
- Drucksache 16/948 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist auch dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Dr. Gesine Lötzsch von der Fraktion Die Linke das
Wort.
({4})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor kurzem haben wir hier in einer Aktuellen Stunde über den
Wechsel ehemaliger Bundesminister und Staatssekretäre
in die Wirtschaft gesprochen. Dabei ging es nicht um
Einzelfälle, sondern um eine bisher ungekannte Massenflucht des politischen Personals in die Wirtschaft.
({0})
Zwei Beispiele zur Erinnerung: Altkanzler Gerhard
Schröder ging nach seiner Abwahl in den Aktionärsausschuss der Nordeuropäischen Gaspipelinegesellschaft.
Jahreseinkommen 250 000 Euro. Noch zum Ende seiner
Amtszeit wurde von der Bundesregierung über eine gewaltige Kreditbürgschaft für Gasprom entschieden. Herr
Schröder will angeblich nichts davon gewusst haben.
({1})
Anderes Beispiel: Exfinanzstaatssekretär Cajo KochWeser geht als Vice Chairman zur Deutschen Bank. Vorher war er in der Bundesregierung für die BankenaufDr. Gesine Lötzsch
sicht zuständig. Er war an der Abwicklung eines Schuldendeals beteiligt, in den auch die Deutsche Bank
involviert war.
Wissen Sie, ich habe gar kein Problem, wenn zum
Beispiel der ehemalige Staatssekretär Rezzo Schlauch
von den Grünen die Seiten wechselt und jetzt Kernkraftwerksbetreiber EnBW berät, wie man den von SPD und
Grünen beschlossenen Atomausstieg wieder rückgängig
machen kann. In der Diskussion vor einigen Wochen im
Bundestag wurde deutlich, dass niemand etwas dagegen
hat, wenn Politiker so in die Wirtschaft wechseln, wie es
Herr Schlauch gemacht hat. Er muss das nur mit seiner
Partei und, wenn vorhanden, mit seinem Gewissen vereinbaren. Es ist aber ein unhaltbarer Zustand, wenn Politiker in ihrer Amtszeit Entscheidungen treffen, die Unternehmen begünstigen, zu denen sie dann später
wechseln wollen, und das noch gut dotiert.
({2})
Das ist noch nicht strafbar. Für mich ist das eine Form
der nachgelagerten Bestechung nach dem Motto „Erst
liefern, später zahlen“. Diese Praxis muss gesetzlich ausgeschlossen werden.
({3})
Leider hatten wir den Eindruck, dass die Bundesregierung denkt, wenn sich die erste Aufregung gelegt
habe, gebe es keinen Handlungsbedarf mehr. Da haben
Sie aber die Rechnung ohne die Wählerinnen und Wähler gemacht. Auch wir werden das nicht akzeptieren. Darum haben wir Ihnen den heute in Rede stehenden Antrag vorgelegt.
Wir fordern die Bundesregierung darin auf, eine gesetzliche Regelung auszuarbeiten, die eine Karenzzeit
von fünf Jahren für ehemalige Regierungsmitglieder
vorsieht.
({4})
Jeder Regierungsbeamte muss vor einem Wechsel in ein
Unternehmen die Genehmigung seines Dienstherrn einholen. Das gilt noch fünf Jahre nach dem Ausscheiden
aus dem Staatsdienst. Laut Beamtengesetz muss der
Dienstherr die Beschäftigung untersagen, wenn die Gefahr besteht, dass dadurch dienstliche Interessen beeinträchtigt werden. Warum, frage ich Sie, soll diese Regelung, die für Staatsbedienstete schon lange gilt, nicht
auch für ehemalige Regierungsmitglieder gelten? Das
Motto „Erst regieren, dann kassieren“ darf nicht weiter
Schule machen.
({5})
Ich finde, meine Damen und Herren, es ist nicht gut
für unser Land und für die Demokratie, wenn der Eindruck erweckt wird, dass bestimmte Herren ihren Eid
auf das Grundgesetz bei ihrer Entlassung an der Garderobe des Bundespräsidenten abgeben. Darum bitte ich
Sie, unseren Vorschlag zu übernehmen oder, wenn Sie
einen besseren haben, diesen vorzulegen.
({6})
- Einigkeit der Opposition in dem Fall, verehrter Kollege Niebel, wäre ja nicht schlecht. Aber ob Ihr Vorschlag wirklich besser ist, werden wir in den Ausschüssen sorgfältig beraten. Es geht darum, die Mehrheit des
Hauses einzubeziehen.
Sie sollten also nicht auf die Vergesslichkeit der Wählerinnen und Wähler hoffen. Das wäre der falsche Weg.
Sie werden Sie am nächsten Wahltag daran erinnern.
Vielen Dank.
({7})
Nun erteile ich dem Kollegen Helmut Brandt für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Auf Verlangen der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen fand am 16. Februar 2006
eine Aktuelle Stunde unter dem Titel „Übernahme ehemaliger Regierungsmitglieder in Vorstände und Aufsichtsräte deutscher Energiekonzerne“ statt. Ausgangspunkt für diese Aktuelle Stunde war der in der
Öffentlichkeit vielfach negativ diskutierte Wechsel des
früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder in den Aufsichtsrat des deutsch-russischen Konsortiums Nordeuropäische Gaspipeline. In der Diskussion wurde bereits damals zu Recht darauf hingewiesen, dass es bei dieser
Frage eben nicht um ein energiepolitisches Thema gehe,
sondern dass über das Thema unter grundsätzlichen Gesichtspunkten zu diskutieren sei.
Nunmehr diskutieren wir über drei Anträge der Linken, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen. Diese
Anträge haben eines gemeinsam: In ihnen wird ein Verhaltenskodex bzw. eine gesetzliche Regelung gefordert,
ohne aber zu präzisieren, wie eine solche Regelung inhaltlich ausgestaltet sein soll. Aber genau hierin liegt das
Problem.
Die drei Anträge unterscheiden sich im Wesentlichen
darin, dass die Linke eine fünfjährige Karenzzeit fordert,
während die FDP eine solche von zwei Jahren für ausreichend hält. Bündnis 90/Die Grünen fordert ohne Festlegung auf eine Karenzzeit von der Bundesregierung, eine
verfassungsfeste Lösung zu präsentieren.
({0})
- Ich komme noch auf diesen Punkt, Herr Kollege
Niebel. - So weit zum Ausgangspunkt der heutigen Debatte.
Es erscheint mir wesentlich, über dieses schwierige
Thema mit großer Sensibilität und Sachlichkeit zu diskutieren. Alles andere würde nur dazu führen, dass in der
Öffentlichkeit der falsche Eindruck entsteht, dass bei
Politikern nach dem Ausscheiden aus ihrem Amt ein direkter Wechsel in die Wirtschaft an der Tagesordnung
ist. Ein solcher Eindruck würde nur zu weiterer Politikverdrossenheit führen. Wir haben heute schon an anderer
Stelle über diese Problematik diskutiert.
Tatsächlich muss zunächst einmal festgestellt werden,
dass wir in der Bundesrepublik Deutschland von 1949
bis heute, also immerhin mehr als 56 Jahre, ohne eine
solche Regelung ausgekommen sind. Es stellt sich daher
schon die Frage, ob man aufgrund bestimmter Einzelfälle, die sicherlich fragwürdig und kritikwürdig sind,
auf die Notwendigkeit einer generellen Regelung schließen muss. Außerdem muss man sich darüber im Klaren
sein, dass eine solch konkrete Regelung nur äußerst
schwer generalisiert werden kann. Dafür spricht schon,
dass es in sämtlichen Anträgen der drei eben genannten
Fraktionen ganz offensichtlich bewusst unterlassen
wurde, einen bestimmten Text vorzugeben.
Betritt man Neuland, so empfiehlt es sich immer, über
den Tellerrand hinauszuschauen. Dabei stellt man sehr
schnell fest, dass es höchst unterschiedliche Regelungen
und Auffassungen zu dem hier diskutierten Thema gibt.
Beispiel USA: Hier gibt es eine Wartezeit von einem bis
zwei Jahren, wobei dort auf den Einzelfall abgestellt
wird. Das Gleiche gilt in etwa auch in Großbritannien. In
Frankreich demgegenüber ist ein schneller Wechsel in
die Wirtschaft völlig üblich und gilt dort nicht als ehrenrührig. Auf europäischer Ebene gilt seit dem Jahr 2000
eine Karenzzeit von einem Jahr. Das ist die so genannte
Lex Bangemann. In unseren Bundesländern gibt es nach
meinem Wissen nur im Land Nordrhein-Westfalen eine
Regelung, die sich an die Regelung für Beamte anlehnt.
Diese Beispiele zeigen, dass eine wie auch immer geartete gesetzliche Regelung nicht per se als notwendig
angesehen werden kann.
Immer wieder werden zu Recht die Forderung und
auch der Wunsch geäußert, dass wir mehr Politiker mit
Berufserfahrung außerhalb der Politik benötigen und es
nicht erstrebenswert sein kann, künftig nur noch Berufspolitiker zu beschäftigen. Wenn man diese Forderung
ernst nimmt, so muss man sowohl den Wechsel von einer beruflichen Tätigkeit in eine politische Tätigkeit ermöglichen wie auch umgekehrt nach Beendigung des
Mandates bzw. nach Ausscheiden aus dem Amt den
Wechsel in eine wirtschaftliche Betätigung ermöglichen.
Dies sollte ohne Diskriminierung geschehen. Im Übrigen würde das Verbot einer Tätigkeit, wenn es rigoros
gelten würde, eindeutig gegen Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes verstoßen.
Was ist die rechtliche Situation heute? Da muss man
zunächst auf Art. 66 des Grundgesetzes verweisen. Hier
wird den Mitgliedern der Bundesregierung eine gleichzeitige Erwerbstätigkeit praktisch untersagt. Näher ausgestaltet ist dieses Verbot im Bundesministergesetz.
Wenn das Grundgesetz diese Betätigungs- und Zugehörigkeitsverbote nur aktiven Mitgliedern der Bundesregierung auferlegt, so kann man hieraus sicherlich auch
den Schluss ziehen, dass eine gewisse Grundentscheidung des Grundgesetzgebers dahin gehend vorliegt, dass
vor und nach einem Regierungsamt eine sonstige berufliche Tätigkeit möglich sein soll.
Dabei ist auch zu beachten, dass die Anlehnung an
das Beamtenrecht, wie es von einigen gefordert wird,
schon deshalb problematisch ist, weil die Mitglieder der
Bundesregierung in einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis zum Bund stehen und keine Beamte im staatsrechtlichen Sinne sind. Die Amtszeit eines Mitgliedes
der Bundesregierung ist zeitlich begrenzt und nicht wie
das Dienstverhältnis eines Beamten auf Lebenszeit ausgerichtet.
Darüber hinaus finden sich im Strafgesetzbuch Vorschriften wie § 331, die Vorteilsannahme, und § 353 b,
die Verletzung von Dienstgeheimnissen. Diese Vorschriften haben Auswirkungen nicht nur während der
Mitgliedschaft in der Bundesregierung, sondern nach
Auffassung der Rechtswissenschaft auch noch danach,
wenn nämlich die Aufnahme einer Tätigkeit und die damit verbundene Vorteilsannahme in unmittelbarem Zusammenhang mit der früheren Tätigkeit als Mitglied der
Regierung stehen sollten. Man kann deshalb nicht sagen,
dass es in diesem Bereich keine Regelungen gibt.
Fasst man alles zusammen, so ist sicherlich die Frage
berechtigt, ob überhaupt eine Regelungslücke besteht.
Jedenfalls kann man nach meiner Meinung aus dem Vorhergesagten sicherlich den Schluss ziehen, dass es einer
zusätzlichen gesetzlichen Regelung nicht zwingend bedarf.
({1})
Reden wir mithin über einen Verhaltenskodex, dem
sich jedes Regierungsmitglied einschließlich der Parlamentarischen Staatssekretäre zu unterwerfen hätte. Unter
Kodex versteht man zunächst ungeschriebene Verhaltensregeln. In der Formulierung solcher Regeln, will
man sie schriftlich fixieren, liegt das Problem. Will man
mithin den Wechsel von der beruflichen Tätigkeit aus
der Wirtschaft in die Politik und umgekehrt nicht unnötig behindern, sondern im Gegenteil grundsätzlich fördern, so müssen Regeln gefunden werden, die auf die
Besonderheit der Tätigkeit eines Staatssekretärs, Ministers, eines Bundeskanzlers oder einer Bundeskanzlerin
Rücksicht nehmen. Denn nur wenn die Gefahr besteht
und der äußere Anschein erweckt wird, dass die beruflich übernommene Tätigkeit in einem nachträglichen
Zusammenhang mit der früheren Tätigkeit und mit bestimmten aus dieser Tätigkeit sich ergebenden Entscheidungen in Zusammenhang steht, ist die Selbstbeschränkung geboten und dann allerdings auch zu fordern.
Eine weitere Schwierigkeit bietet aber auch die Frage,
wem es dann obliegt, die Einhaltung einer solchen Regelung zu überprüfen, und welche Sanktionen damit verbunden sein könnten. Es kommt hinzu: Fasst man die
Verhaltensregeln zu weit, so wäre die zwangsläufige
Folge, dass man zu grundgesetzwidrigen Berufsverboten
gelangen würde. Fasst man die Formulierung zu eng, so
ist nicht auszuschließen, dass ein Wechsel zwischen
Politik und Wirtschaft in zulässiger Weise erfolgt, wobei
dann ein fader Beigeschmack bleibt oder das Ganze
- wie die Schwaben sagen - ein Geschmäckle hat.
Mir scheint, dass die Vielzahl möglicher Interessenkollisionen kaum abstrakt zufriedenstellend geregelt
werden kann. Dennoch sollten wir alles tun, um künftig
einen möglichen Schaden für das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland und der Politik insgesamt zu verHelmut Brandt
meiden. Schön und nach meiner Auffassung die beste
Lösung wäre es, wenn die betroffenen Regierungsmitglieder sich selbst eine Art freiwillige Beschränkung
auferlegen würden. Solange dies nicht der Fall ist, bedarf
es weiterer Diskussionen, um zu einem für alle befriedigenden Ergebnis zu gelangen.
Ich freue mich in diesem Sinne auf eine unpolemische
und nicht populistische Diskussion im zuständigen Fachausschuss.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Herr Kollege Brandt, nach meinen Informationen war
das Ihre erste Rede in diesem Haus.
({0})
Ich gratuliere Ihnen dazu sehr herzlich und wünsche Ihnen für die weitere Arbeit alles erdenklich Gute.
({1})
Nun erteile ich das Wort zur Geschäftsordnung dem
Kollegen Beck.
Das ist eine wichtige Frage, die vor allen Dingen die
Bundesminister interessieren muss. Es schmerzt mich
schon sehr, dass bei dieser Debatte kein Minister anwesend ist.
({0})
- Lediglich einer, Herr Seehofer. - Ich meine, der Wirtschaftsminister sollte angesichts der Tatsache, dass es in
seinem Haus einen aktuellen Fall zu dem in Rede stehenden Thema gibt, anwesend sein. Deswegen beantragen
wir die Herbeizitierung des Ministers Glos.
({1})
Herr Küster, bitte sehr.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Hoch geehrter Herr Kollege Beck, man kann natürlich
immer wieder versuchen, durch solche Anträge ein bisschen Wirbel in das Plenum hineinzubringen und für ein
bisschen Aufhellung zu sorgen. Ich halte das für absolut
überflüssig. Erstens haben Sie Herrn Minister Seehofer
übersehen.
({0})
Zweitens war die Staatsministerin da. Auch zwei Staatssekretäre sind anwesend.
({1})
- Herr Beck, lassen Sie den Kinderkram doch bitte einmal außen vor und bleiben Sie einigermaßen ernsthaft!
Ich merke ja, dass Sie sich wahnsinnig amüsieren. Das
kann man sich ja wünschen.
Wir wollen eine geordnete Debatte führen. Wir waren
mitten in der Debatte. Jetzt unterbrechen Sie die Debatte
und versuchen eine Abstimmung über eine Sache, die
ich für absolut überflüssig halte, herbeizuführen. Bei
dieser Gelegenheit muss ich sagen: Ein bisschen mehr
Ernsthaftigkeit kann nicht schaden.
({2})
Sie werden erleben, dass Sie jetzt und bei jeder folgenden Gelegenheit den Kürzeren ziehen.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Koschyk.
Verehrter Kollege Beck, bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundeswirtschaftsminister im Plenum anwesend ist.
({0})
- Sie haben die Nichtanwesenheit eines Vertreters des
Bundeswirtschaftsministeriums angemahnt. Ein Vertreter ist aber anwesend.
({1})
Der Herr Bundesminister hat wichtige andere Termine.
({2})
Er war heute den ganzen Morgen im Plenum anwesend.
Herr Kollege Beck, wir haben uns im Kreise der Parlamentarischen Geschäftsführer und im Ältestenrat oftmals ernsthaft darüber unterhalten, was im Umgang miteinander geboten ist. Sie sollten Ihren Antrag
zurückziehen. Ich appelliere an Sie, mit dem Instrument
der Herbeizitierung von Ministern nicht leichtfertig umzugehen, insbesondere wenn der Parlamentarische
Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und
Technologie anwesend ist.
({3}) [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Die Regierungsbank ist leer! -
Dirk Niebel [FDP]: Ich sehe keinen Staats-
sekretär!)
Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen.
Herr Kollege Beck, erhalten Sie Ihren Antrag aufrecht, auch wenn der Herr Parlamentarische Staatssekre2978
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
tär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie
anwesend ist?
({0})
- Herr Kollege Niebel, Sie haben gesehen, dass er zuerst
auf der Regierungsbank saß und immer noch im Plenarsaal ist.
Noch einmal zur Geschäftsordnung, Herr Küster.
({1})
Herr Beck, Sie kennen die Geschäftsordnung genauso
gut wie ich. Also werden Sie nicht erwarten, dass ich
noch einmal in die bereits abgeschlossene Debatte über
diesen Punkt einsteige. Ich stelle den Antrag, dass wir in
dem üblichen Verfahren, also durch Auszählen, über die
Frage, um die es hier geht, abstimmen. Das heißt, wir
machen jetzt einen schönen Hammelsprung.
({0})
Dann schauen wir einmal, ob der Antrag von Herrn Beck
eine Mehrheit findet.
Der Antrag steht. In unserer Geschäftsordnung ist das
Procedere klar geregelt.
Zunächst einmal wird ohne Auszählung der Stimmen
über den Antrag abgestimmt. Ich bitte diejenigen, die
dem Antrag des Kollegen Beck auf Herbeizitierung des
Wirtschaftsministers zustimmen wollen, um das Handzeichen. ({0})
Wer ist dagegen? ({1})
Wir sind uns im Präsidium nicht einig. Deshalb müssen
wir noch einmal abstimmen.
({2})
Ich bitte diejenigen, die dem Antrag zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer lehnt den Antrag ab? ({3})
Wir im Präsidium sind der Meinung, dass das Ergebnis unterschiedlich interpretiert werden kann. Der Sitzungsvorstand ist sich über das Ergebnis der Abstimmung auch nach der Gegenprobe nicht einig.
Daher kommen wir zur Abstimmung über den Geschäftsordnungsantrag des Kollegen Beck und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen durch Auszählung
der Stimmen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, jetzt
den Saal zu verlassen, und ich bitte, die Türen zu schließen.
Die Abstimmung ist eröffnet.
Ich schließe die Abstimmung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz
zu nehmen. Wir erwarten das Ergebnis der Auszählung
durch die Schriftführerinnen und Schriftführer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz
zu nehmen, damit ich das Ergebnis der Abstimmung bekannt geben kann.
Mit Ja haben 102 Kolleginnen und Kollegen gestimmt,
({0})
mit Nein haben 254 Kolleginnen und Kollegen gestimmt,
({1})
kein Kollege und keine Kollegin hat sich enthalten.
({2})
Damit ist der Antrag abgelehnt.
Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort erhält der
Kollege Niebel.
({3})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nachdem der Kollege Beck mir ein ausreichendes Publikum besorgt hat, freue ich mich, dass wir die
Debatte fortsetzen können. Es ist nämlich eine wichtige
Debatte. Denn es geht um das Ansehen der Politiker und
das Vertrauen in die Unabhängigkeit staatlichen Handelns in der Bundesrepublik Deutschland.
({0})
Wir alle - auch diejenigen, die da herumstehen und
reden - müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Schamlosen und die Ungenierten nicht nur ihren eigenen Ruf ruinieren, sondern - wie es im wirklichen Leben bei allen
gesellschaftlichen Gruppen der Fall ist - auch diejenigen, die ihre Arbeit ernst nehmen, mit einem schlechten
Ruf überziehen. Deswegen haben wir gesagt: Wir brauchen einen Verhaltenskodex für das berufliche Engagement von ehemaligen Regierungsmitgliedern.
({1})
Wir sind ganz ausdrücklich gegen ein gesetzliches
Berufsverbot, weil unser Bild vom hauptamtlichen Politiker nicht das eines berufslosen Politikers ist. Vielmehr
ist es das von gestandenen Persönlichkeiten, die Lebenserfahrung haben, die wissen, wie man sich im wirklichen
Leben durchschlägt, und die ihre Erfahrungen in die
politische Tätigkeit einbringen.
({2})
Deswegen haben wir schon 2003 gefordert, einen entsprechenden Verhaltenskodex einzuführen, wie ihn auch
die Europäische Union hat. Glauben Sie mir: Es waren
leidvolle Erfahrungen, bis die Europäische Union dahin
gekommen ist. Es ist jetzt wieder notwendig, dieses
Thema auf die Tagesordnung zu setzen; denn gerade bei
der abgewählten rot-grünen Bundesregierung gibt es
eine deutliche Häufung von Fällen, die zumindest ein
Geschmäckle haben.
({3})
Kollege Niebel, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche.
Solange Sie die Zeit anhalten, jederzeit.
Ja. - Ich möchte Ihre Redebedingungen verbessern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie an dieser
Debatte nicht teilhaben wollen, bitte ich Sie, die dringenden Gespräche doch vor der Türe fortzusetzen, sodass
die Kollegen, die sich hier mit dem Kollegen Niebel austauschen wollen, die Chance dazu haben.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich warne bloß davor,
dass dann hier wieder nur zehn Abgeordnete der Regierungsfraktionen sitzen. - Ein bisschen disziplinierter
müssen Sie schon sein, wenn Sie groß sein wollen.
({0})
In der abgewählten Regierung gibt es eine gewisse
Häufung von Fällen, von denen man sagen könnte, dass
sie ein Geschmäckle haben. Eine Interessenvermischung
ist zumindest möglich.
Wenn der ehemalige Wirtschaftsminister Müller, der
aus der Energiewirtschaft kam und als Parteiloser ein
Ministeramt übernommen hat, in die Energiewirtschaft
zurückgeht, mag noch ein gewisses Maß an Toleranz geübt werden. Wenn aber ein Staatssekretär, der für diesen
Minister eine Ministerentscheidung durchgesetzt hat,
ebenfalls in den Vorstand eines der begünstigten Energieunternehmen geht, dann wird es schon kritisch. Wenn
ein ehemaliger bayerischer Wirtschaftsminister erst die
Verhandlungen dieser vermeintlich großen Koalition im
Verkehrsbereich führt und unmittelbar im Anschluss daran in den Vorstand der Deutschen Bahn wechselt, dann
darf man schon hellhörig werden.
({1})
Das Gleiche gilt für einen ehemaligen Staatssekretär
im Finanzministerium, der nicht nur ein Schuldengeschäft eingefädelt hat, sondern auch für die Bankenaufsicht zuständig war und offenkundig an der Gewährung
einer relativ großen Bürgschaft mit beteiligt war, von der
in der letzten Regierung offenkundig keiner gewusst hat,
und der dann in ein Unternehmen geht, das von all diesen Geschäften profitiert hat. Spätestens dann muss die
Hellhörigkeit doch noch etwas präziser werden.
({2})
Es schlägt dem Fass den Boden aus, wenn ein Altbundeskanzler zum Gasmann wird, also faktisch auf einen
Posten wechselt, den es ohne sein politisches Handeln
niemals gegeben hätte.
Ich habe drei Kinder. Ich versuche ihnen deutlich zu
machen, dass es bestimmte Dinge gibt, von denen man
weiß: Die tut man nicht. Es gibt auch bestimmte Dinge,
die sich nicht wegprozessieren lassen. Es ist eine Frage
von Ethik und Moral, von Anstand und Common Sense,
über die wir hier diskutieren. Ich bin der festen Überzeugung: Wenn sich Menschen in einem öffentlichen Amt
engagieren, haben sie auch nach dem Ausscheiden ein
Stück weit Sorge dafür zu tragen, dass dieses Amt und
alle Nachfolgerinnen und Nachfolger in diesem Amt
nicht beschädigt werden. Gerade von einem Altkanzler,
der - wie ich finde, zu Recht - sein Leben lang mit öffentlichen Aufgaben betraut wird und auch deswegen
richtigerweise in einem ausreichenden Maße alimentiert
wird, hat man eine größere Sensibilität zu erwarten als
von einem ehemaligen grünen Wirtschaftsstaatssekretär,
der zu einem der größten Atomenergieerzeuger in
Deutschland geht - obwohl er doch eigentlich gegen die
Atomenergie ist.
Ich glaube, es ist richtig, dass wir uns mit der Frage
auseinander setzen, was man tut und was man nicht tut.
Einen gewissen inneren Kompass für das zu haben, was
anständig ist, steht einem Parlament durchaus gut an.
Deswegen fordern wir kein gesetzliches Berufsverbot
- Staatssekretäre und Minister sind keine Beamten und
Soldaten, es gilt nicht das Lebenszeitprinzip -, aber einen Verhaltenskodex. Wir selbst sollten uns Gedanken
darüber machen, welches Ansehen wir in der Öffentlichkeit genießen, dass Fehlverhalten Misstrauen in die Unabhängigkeit politischer Entscheidungen wecken kann.
Die Bürgerinnen und Bürger können von uns erwarten,
dass wir wenigstens so weit gehen, uns diese Gedanken
zu machen. Deswegen lade ich Sie alle ein, unseren Weg
zu gehen: kein gesetzliches Berufsverbot, aber ein Stück
weit mehr Sensibilität für das, was sich gehört, und das,
was man nicht tut.
Vielen herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Martin Gerster.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Aktuelle Stunde im Februar dieses Jahres,
die Bundestagsdebatte im Dezember, aber auch die heutigen Beiträge zeigen: In der Tat gibt es immer wieder
Fragen und Unklarheiten, wenn ehemalige Angehörige
der Bundesregierung sehr schnell in die Wirtschaft
wechseln. Oft wird über Nacht - ruck, zuck! - der Vorwurf der Vorteilsnahme erhoben, auch wenn das Verhalten rechtlich einwandfrei ist. Medien und Opposition
spielen dabei einander in die Hände, skandalisieren vorschnell die Vorgänge. Es geht oft nur um Theater, wie es
auch der heutige Vorgang, der von den Grünen initiiert
wurde, zeigt.
({0})
Hauptsache, das Image der Politiker, das Ansehen der
Entscheidungsträger ist schnell ruiniert. Ich glaube, am
Ende nehmen unsere Demokratie und unsere Gesellschaftsordnung Schaden, wenn wir vorschnell ein Urteil
über andere fällen, die sich viele Jahre in der Sache verdient gemacht haben.
({1})
Ich glaube, dass eine Versachlichung der Debatte notwendig ist. Es stünde uns allen gut an, gerade in diesem
Zusammenhang auf Polemik und Fingerzeige zu verzichten. Art. 66 Grundgesetz verbietet Ministern eine
anderweitige Tätigkeit, allerdings nur, solange sie im
Amt sind. Das Bundesministergesetz beinhaltet viel zu
den Rechten und Pflichten ehemaliger Bundesminister,
kennt aber kein Berufsverbot.
({2})
Ich sage: Das ist auch gut so.
({3})
Kollege Brandt hat schon vor einer halben Stunde darauf
hingewiesen. Aus meiner Sicht brauchen wir in der Politik mehr Quereinsteiger aus der Wirtschaft und aus der
Wissenschaft. Das ist meines Wissens eine Forderung,
die von allen Parteien aufgestellt wird. Wer dies fordert,
muss im Umkehrschluss natürlich auch sagen, dass wir
für den Fall, dass jemand aus der Politik wieder in die
Wirtschaft oder in die Wissenschaft möchte, den Wechsel dorthin weiterhin ermöglichen müssen.
({4})
Zweifelhaft wird der Wechsel aus meiner Sicht allerdings dann, wenn ein Mitglied der Bundesregierung politische Entscheidungen offensichtlich nicht zum Wohle
des Volkes trifft, sondern um sich damit für die Zeit nach
der Regierungsverantwortung womöglich einen Posten
in einem Unternehmen zu sichern. Es ist aus meiner
Sicht nicht nur legitim, sondern auch dringend notwendig, hierüber zu diskutieren. Ich finde es auch gut, dass
diese Debatte hier heute erneut stattfindet.
Deswegen bin ich auch dankbar für die Denkanstöße,
die aus den drei Fraktionen gekommen sind. Entschuldigung, aber mehr als Denkanstöße sind es aus meiner
Sicht an dieser Stelle leider nicht. Wenn Ihre Anträge
wirklich so ernst gemeint sind, dann hätte ich eigentlich
schon erwartet, dass sie nach all den erhitzten Diskussionen in den letzten paar Monaten fundierter und auch genauer ausgearbeitet sind.
({5})
Mir liegt viel daran, dass sich die Bundesregierung
tatsächlich auf den Weg macht, eine Selbstverpflichtung einzugehen und sie vielleicht auch öffentlich zu
präsentieren. Herr Niebel, ich glaube aber, dass sie in der
Tat kein Patentrezept bzw. Allheilmittel ist und erst recht
kein wirksamer Schutz davor, dass ein Wechsel aus der
Regierung in Spitzenpositionen der Wirtschaft womöglich ein Geschmäckle nach sich zieht. Hier also so zu
tun, als ob das die Patentlösung sei, ist sicher verfehlt.
({6})
Herr Brandt hat schon auf die Frage hingewiesen, wer
letztendlich über Verstöße urteilen soll. Wer soll überhaupt Sanktionen verhängen? Welche Sanktionen sollen
an dieser Stelle überhaupt greifen? Ehrlich gesagt: Von
einem solchen Ehrenkodex verspreche ich mir nicht
allzu viel.
Interessant ist auch der Beitrag des Präsidenten des
Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, der in
der „Leipziger Volkszeitung“ im Dezember gesagt hat
- ich zitiere -:
Von dem Erlass eines normativen Regelwerks in
Fragen des politischen Anstands rate ich ab. Das
Meiste sollte sich von selbst verstehen.
Für jeden denkbaren Einzelfall lasse sich ohnehin keine
Vorabregelung treffen. Weiter sagte er:
Jeder muss sich für seine Entscheidungen vor sich
selbst und vor der Öffentlichkeit rechtfertigen.
Kurzum, Herr Niebel: Ein Ehrenkodex ist gut gemeint,
aber gut gemeint ist eben meistens nicht gut gemacht.
({7})
- Herr Niebel, wir haben auch in diesem Hause in der
Vergangenheit reichlich über diese Fälle diskutiert. Ich
denke, irgendwann muss man auch einmal mit Blick in
die Zukunft diskutieren. Ansonsten können wir noch
einmal von vorne beginnen und alle Fälle, angefangen
bei Herrn Bangemann, noch einmal durchdiskutieren.
({8})
Ich komme jetzt zu den einzelnen Anträgen, die hier
auf dem Tisch liegen.
({9})
- Ich komme auch zu Ihrem Antrag. Um diese geht es
heute hier in unserer Debatte ja. - Zum Antrag der Fraktion Die Linke. Es soll eine Regelung geschaffen werden, die es - so wörtlich früheren Mitgliedern der Bundesregierung und ihren Staatssekretären untersagt, in den ersten fünf
Jahren nach ihrer Tätigkeit in Regierungsverantwortung eine Tätigkeit in der Privatwirtschaft aufzunehmen, die im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit in Regierungsverantwortung steht.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich, dass ich zwei Probleme
damit habe:
Erstens. Beamtete Staatssekretäre können Sie entgegen Ihrem Wortlaut ja wohl nicht meinen; denn dafür
gibt es ja bereits eine Regelung, nämlich eine beamtenrechtliche. Deswegen sage ich: Ihr Antrag ist handwerklich einfach nicht gut zusammengeschustert worden.
Zweitens. Ich halte es auch für sehr schwierig - hier
teile ich die Ansicht vom Kollegen Niebel -, ein teilweises Berufsverbot für fünf Jahre zu verhängen, während
das Übergangsgeld keinesfalls länger als drei Jahre bezogen werden kann. Sie haben hierbei nämlich offenbar
vergessen, dass laut Arbeitsrecht Konkurrenzverbote nur
dann wirksam sind, wenn eine entsprechende Entschädigung gewährt werden kann. Dies ist hier nicht der Fall.
Deswegen muss Ihr Antrag leider schon allein aus handwerklicher Sicht zurückgewiesen werden.
({10})
- Jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Wieland. Warten Sie es
doch ruhig ab. Ich glaube, weniger Aufgeregtheit tut uns
allen gut.
Ich habe mir auch das Papier vom Bündnis 90/Die
Grünen angeschaut. Sie fordern eine verfassungsfeste
Lösung, die die Bundesregierung hier vorlegen soll.
({11})
Dabei ist ganz interessant, dass Sie in Ihrem Antrag auf
§ 69 a des Bundesbeamtengesetzes verweisen und dies
gleich mit dem Hinweis versehen, dass es dabei ja verfassungsrechtliche Probleme gibt. Ich frage Sie: Wie
passt das zusammen? Auf der einen Seite fordern Sie
von der Bundesregierung, eine verfassungsfeste Lösung
vorzulegen. Auf der anderen Seite weisen Sie in Ihrem
eigenen Antrag auf verfassungsrechtliche Probleme hin.
Irgendwie - Entschuldigung - passt das überhaupt nicht
zusammen.
({12})
Ich fasse zusammen: Ich gestehe Ihnen zu, dass Ihre
Initiativen aus meiner Sicht wichtige Beiträge für eine
absolut notwendige Debatte sind. Aber der Königsweg
ist ganz sicher nicht dabei. Mein Wunsch an die Fraktion
von Bündnis 90/Die Grünen ist: weniger Polemik und
mehr Sachlichkeit. Das würde uns allen gut tun und uns
in der Sache einen großen Schritt voranbringen.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat der Kollege Volker Beck.
Herr Kollege Gerster, ich habe nicht verstanden, welches die Position der SPD-Fraktion ist. Wollen Sie nun,
dass etwas getan wird, oder wollen Sie alles so lassen,
wie es ist? Das wird immer wieder zu solchen Debatten
wie nach dem Wechsel von Herrn Schröder zu Gasprom
führen. Ich will gar nicht sagen, dass seine frühere Position in einem direkten Zusammenhang zu seiner jetzigen
Tätigkeit steht. Aber es gibt kein Verfahren, in dem geprüft wird, ob dieser Zusammenhang besteht und ob
diese Tätigkeit zulässig ist. Das schadet nicht nur der
Wirtschaft, sondern auch den Betroffenen. Deshalb brauchen wir klare Regelungen.
Lieber Herr Kollege, in der Europäischen Union gibt
es eine Regelung, die nach dem Fall Bangemann, dem
früheren EU-Kommissar der FDP, eingeführt wurde, als
er unmittelbar nach seinem Ausscheiden aus der Kommission, wo er für das Telekommunikationsgeschäft zuständig war, zu einem Telekommunikationsunternehmen
gewechselt ist. Das hatte genau wie jetzt bei Herrn
Schröder ein Geschmäckle, der in diesem Sinne sozusagen der Bangemann der SPD ist.
({0})
Leider gibt es dazu eine Reihe von Diskussionen. Es
schadet dem Ansehen der parlamentarischen Demokratie, der Bundesregierung und der politischen Klasse,
wenn wir das nicht in Ordnung bringen. Einige Beispiele: Herr Müller ist zur RAG gewechselt, Herr Tacke
arbeitet inzwischen für die STEAG und Herr KochWeser ist nun für die Deutsche Bank tätig. Herr Wiesheu
verhandelt erst in der Koalition über die Bahn und die
Verkehrspolitik - so hört man - und entschwindet dann
zur Deutschen Bahn AG, nachdem er lange Zeit Verkehrsminister in Bayern war. Das hat einen komischen
Beigeschmack. Wenn dann auch noch die Deutsche
Bahn erklärt, gerade wegen seiner Beteiligung an den
Bahnreformen habe sie Herrn Wiesheu angeheuert, dann
muss man sagen: Man weiß nicht, wie die Zusammenhänge sind, aber man hat ein ungutes Gefühl.
Volker Beck ({1})
Auch in der Öffentlichkeit entsteht der Verdacht - dem
will ich entgegentreten -, Regierungsmitglieder fällten in
ihrem Amt Entscheidungen, die sich hinterher für sie direkt oder indirekt auszahlten, weil sie sich Unternehmen
gewogen gemacht hätten. Diesen Verdacht müssen wir
ausräumen, indem wir klare und transparente Regelungen
festlegen.
Zur Lösung dieses Problems gibt es zwei Ansätze.
Der eine Ansatz orientiert sich an § 69 a des Bundesbeamtengesetzes, der für Beamte gilt. Dabei werden mutatis mutandis die versorgungsrechtlichen und die statusrechtlichen Verhältnisse von Bundesministern und
Staatssekretären angepasst. Der andere Ansatz ist der
Verhaltenskodex der Europäischen Union für ehemalige Kommissionsmitglieder.
Ich bin dafür, dass wir uns zusammensetzen, um zu
klären: Was können wir aus diesen beiden Regelungen
lernen, um so zu einer Lösung zu kommen? Ein Vorschlag: In einem festgelegten Verfahren meldet das ausgeschiedene Mitglied die Tätigkeit an. Danach untersucht
ein Ethikrat oder ein Gremium, ob es einen Konflikt zur
früheren Tätigkeit gibt. Dann wird entschieden, ob die
Tätigkeit innerhalb der Karenzzeit aufgenommen werden
darf oder ob bis zum Ende der Karenzzeit gewartet werden muss.
({2})
Dieses Verfahren ist klar und transparent. Es dient dazu,
das Ansehen der politischen Klasse zu stärken, und vermeidet jeden Anschein von Korruption und Makeleien
anderer Art.
Ich bitte Sie wirklich, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der großen Koalition: Überlegen Sie noch einmal,
ob Sie nicht mit uns, den Oppositionsparteien, zusammen zu einer Regelung kommen wollen.
Wir wollten Ihnen eigentlich den Vortritt lassen. Wir
hatten ursprünglich in einer Geschäftsführerrunde vereinbart, etwas zu warten, bis sich die Bundesregierung
entscheidet, ob sie aus eigener Kraft etwas vorlegen will.
Ich hätte das besser gefunden, weil es mir kein Anliegen
ist, uns bei solchen Themen als Oppositionspartei zu
profilieren. Aber ich finde, dass wir in diesem Bereich
für Klarheit sorgen müssen. Das erwarten die Bürgerinnen und Bürger draußen im Lande von uns und das sollten wir uns als Demokratinnen und Demokraten auch
selber schuldig sein.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/846, 16/677 und 16/948 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Verbraucherinformation
- Drucksache 16/1408 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Horst Seehofer für die Bundesregierung.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute wird zum dritten Mal innerhalb der letzten
fünf Jahre versucht, ein bundeseinheitliches Verbraucherinformationsgesetz mit einem Recht der Verbraucher auf
Zugang zu Behördeninformationen durchzusetzen. Diese
Koalition wird den dritten Versuch zum Erfolg führen.
({0})
Ich glaube, nach einem langen Anlauf wird das Gesetz zu einem Meilenstein für die Verbraucherrechte in
der Bundesrepublik Deutschland, der gut in unsere Zeit
passt,
({1})
weil nach unserer modernen Verbraucherpolitik ausreichende Verbraucherinformationen zum Bild des mündigen Verbrauchers gehören. Wir machen eine moderne
Verbraucherpolitik, die - das kann man nicht oft genug
betonen - der Schlüssel für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik ist. Beides gehört zusammen.
({2})
Deshalb ist dieses Gesetz jetzt notwendig. Es steht
auch in Einklang mit dem anderen großen politischen
Ziel dieser Regierung, unser Land zu entschlacken und
unbürokratischer zu gestalten.
({3})
Denn nicht jeder Paragraf bedeutet Bürokratie. Beim
Verbraucherinformationsgesetz geht es vielmehr darum,
den Bürgern eine Dienstleistung anzubieten. Die Bürger
bekommen vor allem ein Recht auf Zugang zu Informationen, die ohnehin bei den Behörden vorhanden sind.
Deshalb trägt dieses Gesetz nicht zu zusätzlicher Bürokratie bei; vielmehr schafft es eine zusätzliche Dienstleistung der öffentlichen Hand zugunsten der Menschen.
({4})
Das Gesetz insgesamt ist äußerst schlank.
({5})
Ich habe wenige Gesetze mitbeschlossen, die so übersichtlich, klar lesbar und hinsichtlich ihres Volumens so
kompakt waren wie das Verbraucherinformationsgesetz,
sodass wir mit Fug und Recht davon reden können, dass
dieses Gesetz schlank und unbürokratisch ist und deshalb nicht im Widerspruch zu unseren Entbürokratisierungsbemühungen in Deutschland steht.
({6})
Das Gesetz umfasst drei wesentliche Inhalte: Der
erste Punkt ist eine Konsequenz aus den Fleischskandalen des letzten Jahres, Stichwort „Gammelfleisch“ bzw.
„Ekelfleisch“. Das geltende Recht hat zu der eigenartigen Situation geführt, dass der Name einer Firma nicht
mehr öffentlich genannt werden durfte, wenn ein verdorbenes Produkt bereits verkauft und im Regelfall schon
verzehrt war, dass aber dann, wenn das Produkt noch auf
dem Markt war, der Name genannt werden durfte. Sie
können keinem logisch denkenden Menschen erklären,
warum der Hersteller eines Produkts, das aufgrund der
besonderen Energie seitens des Herstellers bereits verkauft wurde und nicht mehr auf dem Markt ist, nicht namentlich genannt werden darf, während der schläfrige
Produzent, der noch nicht alles verhökert hat, genannt
werden darf. Es ist dringend notwendig, diese Gesetzeslücke zu schließen.
({7})
Denn die Namensnennung ist eine sehr wichtige Präventionsmaßnahme. Ich glaube, dass die Nennung des Namens desjenigen, der gegen das Lebensmittelrecht verstoßen hat, mehr präventive Wirkung hat als das
Ordnungswidrigkeiten- oder das Strafrecht. Es geht
schließlich immer um die wirtschaftliche Existenz einer
Firma.
Der zweite Punkt ist ebenfalls schwer zu erklären.
Aber es war und ist Realität, dass die eine Ebene des
Staates, die Strafverfolgungsbehörden, zwar Ermittlungen wegen Verstößen gegen das Lebensmittelrecht
durchführt, aber die andere Ebene des Staates, die für
Lebensmittelüberwachung zuständigen Behörden,
nicht unterrichtet. Die eine Ebene des Staates hat also
Erkenntnisse und die andere Ebene des Staates hält sich
unwissend. Dies hat gerade im Süden der Republik konkrete Auswirkungen gehabt. Deshalb ist ein zentrales
Element des Gesetzentwurfs die Verpflichtung der Strafverfolgungsbehörden, die für Lebensmittelüberwachung
zuständigen Behörden über Ermittlungsverfahren zu unterrichten.
({8})
Ein dritter wichtiger Punkt ist, dass Firmen, die selber
feststellen, dass ihre Produkte nicht in Ordnung sind,
und die Öffentlichkeit informieren wollen, nicht länger
nur auf Eigeninitiative angewiesen sind, sondern von
den Behörden Unterstützung bekommen können. Die
Behörden können nun öffentlich vor den entsprechenden
Produkten warnen und Hinweise ins Internet einstellen.
Das ist ein wichtiger Fortschritt, eine Konsequenz aus
den letzten Monaten.
Der vierte und zentrale Punkt ist: Erstmals in der bundesdeutschen Geschichte wird den Bürgern ein Anspruch auf Behördeninformationen eingeräumt. Wenn
die Bürger diesen wahrnehmen, müssen sie für die entsprechende Dienst- bzw. Serviceleistung Gebühren zahlen und Auslagen ersetzen, wenn beispielsweise umfangreiche Studien kopiert werden müssen. Aber es ist
ein Meilenstein, ein verbraucherpolitischer Durchbruch,
dass die Bürger unseres Landes gegenüber den Behörden
erstmals einen Anspruch auf Information über die Zusammensetzung und die Gefahren von Lebens- und Futtermitteln sowie Bedarfsgegenständen haben. Sie können nun beispielsweise erfahren, wie hoch die
Pestizidbelastung von Erdbeeren oder bestimmten Gemüsesorten ist.
Wenn wir landauf, landab vom mündigen Bürger reden - das tun fast alle Politikerinnen und Politiker -,
dann gehört es dazu, dass der mündige Bürger das Recht
erhält, dass ihm die Behörden im Falle des Falles die ohnehin vorhandenen Informationen mitteilen; das ist ein
großer Fortschritt. Darüber bin ich sehr glücklich.
({9})
Nun ist es gerade in Deutschland objektiv unmöglich
- hier mache ich mir keine Illusionen -, politische Entscheidungen zu treffen, ohne dass man dafür kritisiert
wird. Das gehört sicherlich zu einer lebendigen Demokratie. Aber die Kritik sollte sich zumindest an der
Wahrheit orientieren, insbesondere bei denjenigen, deren
Existenz durch Steuergelder mitfinanziert wird. Auf einer heute stattfindenden Demonstration wird ein Flugblatt verteilt, in dem es heißt: Das Gesetz hat gravierende Lücken. Es fehlen klare Regeln, die verhindern,
dass Gesetzesverstöße weiter als Betriebsgeheimnisse
unter Verschluss bleiben.
({10})
Dazu kann ich nur sagen: Das hat mit der Realität nichts
zu tun; denn nach unserem Gesetzentwurf sollen Gesetzesverstöße ausdrücklich nicht unter den Schutz von Betriebsgeheimnissen fallen.
({11})
Auf Deutsch: Niemand kann sich auf den Schutz von
Betriebsgeheimnissen berufen, wenn Rechtsverstöße begangen wurden. Nichtsdestotrotz werden unwahre Kritikpunkte in der Öffentlichkeit verbreitet, obwohl sie mit
der Absicht des Gesetzgebers nicht in Einklang stehen.
Ich habe nichts gegen Diskussionen. Aber sie sollten fair
und an der Wahrheit orientiert geführt werden.
Natürlich kann man über die Ausgestaltung eines Gesetzes endlos diskutieren. Aber dafür gibt es ein parlamentarisches Verfahren. Wir werden in den Expertenhearings völlig offen gegenüber der technischen
Ausgestaltung des Gesetzes sein. Das ist ja der Sinn des
parlamentarischen Verfahrens. Das oberste Ziel muss
bleiben, dass wir nach fünfjährigen Bemühungen um
eine verbesserte Verbraucherinformation in der Bundesrepublik Deutschland die Vorschläge, die wir heute vorlegen, nicht mit der Folge zerreden, dass am Ende nichts
kommt. Wir sollten vielmehr das, was möglich ist, jetzt
verabschieden. Dann sollten wir einen zweijährigen
Praxistest machen. Nach Ende dieser zweijährigen
Periode, die wir in der Koalition vereinbart haben, sollten wir uns ansehen, wie das Gesetz in der Praxis gewirkt hat. Geben wir dem Gesetz in der Praxis eine
Chance! Machen wir es nicht umgekehrt, nämlich so,
dass es vor lauter Theoriediskussion nicht zur Anwendung in der Praxis kommt.
({12})
Wir werden nicht zulassen, dass der Erfolg von vornherein klein geredet wird. Ich möchte zum Schluss ein
schönes Sprichwort bringen: Wir sind niemals am Ziel,
sondern immer auf dem Weg dorthin.
Machen wir uns also auf zum Ziel!
({13})
Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann
für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zum Schluss haben Sie, Herr Minister, gesagt,
dass Sie auf einem Weg sind. Dieser Weg ist für uns
nicht erkennbar. Dieses Gesetz ist nicht schlank,
({0})
sondern es ist schlicht und ergreifend inhaltsarm. Dieses
Gesetz hat keine Substanz und es wird zusätzlich dadurch verwässert - da sollten wir sehr ehrlich miteinander umgehen, Herr Seehofer; Sie nehmen die Worte
Wahrheit und Klarheit häufig in den Mund -, dass es ein
interessantes parlamentarisches Verfahren gibt. Auf der
einen Seite gibt es den Gesetzentwurf, auf der anderen
Seite gibt es einen, wenn auch heute noch nicht im Parlament zu behandelnden, aber immerhin im Verfahren steckenden Entschließungsantrag. Wenn man den Gesetzentwurf mit dem Entschließungsantrag vergleicht, dann
ist man schon sehr darüber überrascht, dass auf der einen
Seite im Gesetzentwurf Versprechen gemacht werden,
die auf der anderen Seite im Entschließungsantrag zum
großen Teil rückgängig gemacht werden. Insofern ist
dieser Koalitionskompromiss, der hier auf dem Tisch
liegt, schwach und er ist in Sachen Klarheit als absolut
minderwertig zu beurteilen.
({1})
Es gibt auch die Qualifizierung „bedingt tauglich“, aber
dieser Gesetzentwurf ist minderwertig, das heißt im
Nahrungs- und Genusswert erheblich herabgesetzt.
({2})
Zu diesem Gesetz muss man sagen: Sie betreiben Etikettenschwindel. Ihr Gesetz ist unübersichtlich, es reihen
sich zahlreiche unüberschaubare Ausnahmetatbestände
aneinander, es wird von vornherein ein viel zu enger Anwendungsbereich angelegt und die Kostenregelung zulasten des Verbrauchers führt dazu, dass Sie den Verbrauchern Informationsrechte rauben. Da helfen auch
keine Presseerklärungen der Kolleginnen Heinen und
Klöckner oder des Kollegen Bleser, die von einer Stärkung der Verbraucherrechte sprechen.
Ich habe den Eindruck, dass bei Ihnen ein hohes Maß
an Verwirrung herrscht.
({3})
Im Gesetz wollen Sie Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse grundsätzlich schützen. Verwirrung schaffen Sie
aber schon durch die problematische Formulierung,
„wettbewerbsrelevante Informationen, die in ihrer Bedeutung für den Betrieb mit einem Betriebs- und Geschäftsgeheimnis vergleichbar sind“, sollten ebenfalls
geschützt werden. Was sind denn wettbewerbsrelevante
Informationen? Wer hat denn das zu klären? Soll das
eine Behörde entscheiden oder soll das möglicherweise
sogar ein Beamter entscheiden? Nein, es gehört Klarheit
in das Gesetz und diese Klarheit fehlt dem Gesetz ganz
eindeutig.
({4})
Eine andere Frage ist, wie es sich mit dem direkten
Informationsanspruch gegenüber einem Unternehmen verhält. Sie wissen, dass gerade kleine und mittelständische Unternehmen mit diesem Anspruch, der zum
Teil von Verbraucherorganisationen erhoben wird, erhebliche Probleme haben. Ich hatte in der letzten Zeit
während Beratungen mit Kollegen der CDU/CSU, zum
Beispiel im Vermittlungsausschuss, den Eindruck, dass
wir uns in dieser Frage einig sind.
({5})
- Wenn das so ist, warum bringen Sie dann zusammen
mit der SPD einen Entschließungsantrag in das Verfahren, mit dem Sie durch die Hintertür gerade diesen nach
unserer Auffassung ungerechtfertigten Anspruch des
Verbrauchers gegen Unternehmen einführen? Denn Sie
wollen auf europäischer Ebene eine Initiative entwickeln, um diese Verbraucherrechte über die europäische
Ebene auf nationaler Ebene zur Geltung zu bringen. Das
finde ich unfair und unaufrichtig. Das ist eigentlich eine
Politik nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach
mich nicht nass!
({6})
Sehr geehrter Herr Minister Seehofer, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ich meine, Sie sollten in
diesem Punkt Farbe bekennen. Was sollen diese europäischen Initiativen? Wenn Sie der Meinung sind, dass es
einen Verbraucherinformationsanspruch nicht nur gegenüber der Behörde, sondern auch gegenüber dem Unternehmen geben soll, warum schaffen Sie dann keine
entsprechende Regelung in Ihrem Gesetz?
Ich will noch einen anderen Punkt ansprechen, der
mich sehr beunruhigt: Es geht um die Selbstverpflichtung der Unternehmen zu mehr Verbraucherinformationen. Das ist dasselbe Verfahren: Sie sagen, Sie wollen
zunächst einmal mit den Betrieben ins Gespräch kommen; aber wenn die Betriebe dann nicht so spuren, wie
Sie sich das vorstellen, dann entwickeln Sie europäische
Initiativen, die wiederum dazu beitragen, dass die europäische Ebene das regelt, was Sie aufrichtigerweise ins
nationale Verbraucherinformationsgesetz hineinzubringen nicht bereit sind.
Ich frage mich wirklich: Welche Haltung haben Sie
gegenüber Unternehmen, wenn Sie von Selbstverpflichtung sprechen? Kennen Sie die vielfältigen Aktivitäten
deutscher Unternehmen nicht, die gerade darauf abzielen, die Verbraucherinformationen, die Verbraucherbildung zu verbessern? Kennen Sie nicht das Mitwirken der
deutschen Lebensmittelwirtschaft zum Beispiel in der
Plattform für Ernährung und Bewegung? Wenn Sie das
alles kennen, dann wundere ich mich sehr darüber, dass
wir hier diesen Doppelweg gehen: auf der einen Seite ein
- Sie sagen: schlankes, ich sage: inhaltsarmes - Verbraucherinformationsgesetz und auf der anderen Seite europäische Initiativen, die das regeln, was in Ihrem Gesetz
nicht verankert ist.
Dieses Gesetz muss im Rahmen der Anhörung und im
Rahmen der Ausschussberatungen deutlich verbessert
werden; sonst wird es unseren gemeinsamen Ansprüchen an Verbraucherinformationen und an Verbraucherbildung nicht gerecht.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Drobinski-Weiß für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Wir bringen heute den
Entwurf eines Verbraucherinformationsgesetzes ein.
Erstmals wird damit dem Anspruch der Verbraucherinnen und Verbraucher auf Informationen in einem eigenständigen Gesetz Rechnung getragen und den Verbraucherinteressen der Stellenwert eingeräumt, der ihnen
gebührt und den wir als SPD-Fraktion bereits mehrfach
eingefordert haben.
({0})
Vor dem Hintergrund des Gammelfleischskandals ist
Bewegung in die festgefahrene Diskussion um ein Verbraucherinformationsgesetz gekommen. Wir konnten
uns mit unserem Koalitionspartner auf den heute vorliegenden Entwurf einigen. Er sieht deutliche Verbesserungen für die Verbraucherinnen und Verbraucher vor und
verleiht ihren Interessen mehr Gewicht.
({1})
Ich will aber auch erklären, dass für uns, die SPDFraktion, dies erst der Auftakt ist. Die vorgesehenen
Maßnahmen sind erste Schritte auf dem Weg zu einem
transparenteren Markt, denen weitere Schritte folgen
müssen. Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir die Möglichkeiten und Pflichten der Behörden zur Information
der Öffentlichkeit über Missstände im Lebensmittel-,
Futtermittel- und Bedarfsgegenständebereich ausweiten. Außerdem sollen sich Verbraucherinnen und Verbraucher künftig selbst bei den Behörden informieren
können, auch wenn keine Rechtsverstöße vorliegen.
Aber schon der Dichter Friedrich von Logau formulierte: „Anfang, der nicht Fortgang hat, ist ein Wagen
ohne Rad.“
Wir wollen dafür sorgen, dass dieser Wagen namens
Verbraucherinformation Räder bekommt, damit er fahren kann. Verbraucher und Verbraucherinnen müssen
Zugang zu allen Informationen haben, die ihnen eine bewusste Auswahl von Produkten und Dienstleistungen ermöglichen und eine eigenverantwortliche Marktteilnahme gewährleisten.
({2})
Hier ist auch die Wirtschaft gefordert, Herr Kollege
Goldmann: Die Unternehmen müssen ihrer Verantwortung gegenüber ihren Abnehmern nachkommen und sie
über ihre Produkte und Dienstleistungen informieren.
Verbraucherpolitik ist Wirtschaftspolitik von der Nachfrageseite.
({3})
Nur dann, wenn die Konsumenten und Konsumentinnen
über die Qualität der Produkte informiert sind, kann
Qualität nachgefragt werden und sich am Markt durchsetzen. Diesen Wettbewerbsvorteil gilt es zu nutzen;
denn die Stärke der deutschen Wirtschaft liegt in der
Qualitätsproduktion.
({4})
- Vielen Dank, Herr Goldmann.
Wir werden deshalb im Laufe des Verfahrens einen
Antrag zum Gesetzentwurf einbringen, der - der Herr
Minister hat es schon angedeutet - die Überprüfung
der Erfahrungen mit dem Verbraucherinformationsgesetz vorsieht und weitere Maßnahmen für mehr Markttransparenz aufzeigt.
({5})
Wir müssen auswerten, wie sich die neuen Regelungen
in der Praxis bewähren.
({6})
- Ich finde das gar nicht lächerlich. - Wir wollen wissen,
ob und, wenn ja, wie oft und aus welchen Gründen Informationen verweigert wurden. Damit kann nachvollzogen
werden, ob und gegebenenfalls welche Ausschlussgründe den Informationsanspruch der Verbraucherinnen
und Verbraucher zu stark einschränken.
({7})
Auch die Bearbeitungszeit für die Auskunftsanliegen
und die Kosten für die Anfragenden sollen dokumentiert
werden, damit wir bei Fehlentwicklungen gegensteuern
können.
({8})
Ich sage von hier aus noch einmal ganz deutlich: Wir
erwarten von der Wirtschaft Vorschläge dazu, wie der
Zugang der Verbraucherinnen und Verbraucher zu den
bei den Unternehmen vorhandenen Informationen ermöglicht werden kann.
({9})
Da werden wir nicht lockerlassen; denn die Unternehmen sind die wichtigste Informationsquelle für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Informationen sind die
beste Werbung für Qualitätsprodukte. Kommt hier nichts
zustande, werden wir auf gesetzliche Regelungen drängen.
({10})
Sehr geehrte Damen und Herren, mit unserem Gesetzentwurf machen wir uns endlich auf den Weg zu einem
transparenteren Markt. Auf diesem Markt mit Qualitätsprodukten ist Transparenz ein Wettbewerbsvorteil. Deshalb lade ich Sie ein, uns auf diesem Weg zu begleiten.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Tackmann für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin, es ist mir eine große
Ehre, während Ihrer ersten Sitzungsleitung reden zu dürfen.
({0})
- Das muss sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Mit
dem Verbraucherinformationsgesetz ist es ein bisschen
wie bei dem bekannten Sprichwort: Der Berg kreißte
und er gebar ein Mäuschen.
({1})
Am Ende weiß man nicht, ob man froh darüber sein soll,
dass es wenigstens ein Mäuschen geworden ist.
Entgegen allen wortreichen Bekenntnissen zum Verbraucherschutz wirkt das erste große Gesetzesvorhaben
von Minister Seehofer und den Koalitionsfraktionen
lustlos und wenig ambitioniert,
({2})
vielleicht deshalb, weil das Ergebnis des Kreißens nicht
einmal eine Maus werden sollte, sondern nur ein schwaches Mäuschen, das hoffentlich keinen Ärger macht.
Dabei ist die Aufgabenstellung übersichtlich: Verbraucherinnen und Verbraucher sollen so mit Informationsrechten und Informationszugängen ausgestattet werden,
dass sie sich im Spannungsfeld von Verbraucher- und
Wirtschaftsinteressen souverän behaupten können; denn
natürlich müssen Gesetze die Interessen der Schwächeren gegenüber denen der Stärkeren schützen.
({3})
Das ist, meine ich, alles andere als wirtschaftsfeindlich.
Im Gegenteil: Dort, wo es ein Vertrauensverhältnis zwischen Wirtschaft und Verbraucherinnen und Verbrauchern gibt, profitieren beide Seiten. Vertrauen lässt sich
nur mit Transparenz und Offenheit herstellen.
({4})
Diesem Anspruch wird der vorliegende Gesetzentwurf leider nicht gerecht. Meine Fraktion hat elf Kritikpunkte formuliert. Ich werde mich auf die wichtigsten
konzentrieren.
Erstens. Informationszugänge müssen kostenfrei angeboten werden, damit die Möglichkeit ihrer Nutzung
nicht vom sozialen Status abhängig ist.
({5})
Nun hat Herr Minister Seehofer aber erst kürzlich öffentlich erklärt, dass kostendeckende Gebühren erhoben
werden sollen. Wir halten das für falsch; denn für die immer größer werdende Zahl sozial benachteiligter Menschen stehen oft schon andere Informationsquellen wie
Zeitungen nicht mehr zur Verfügung. Das zusammengekürzte Netz von Verbraucherberatungsstellen wird für
sie immer schwerer erreichbar. Wir werden überall dort
Widerstand leisten, wo Armut auch noch rechtlos macht.
({6})
Zweitens. Wir fordern einen Informationsanspruch
gegenüber privaten Unternehmen. Für uns ist es ein fatales Zeichen, dass diese Diskussion unterschwellig von
dem Gedanken durchzogen wird, Informationsrechte
seien grundsätzlich und vorsätzlich gegen die Wirtschaft
gerichtet. Es kann aber doch nicht Anliegen dieses Gesetzes sein, die Wirtschaft vor den Verbrauchern und
Verbraucherinnen zu schützen. Was spricht eigentlich
gegen diesen Informationsanspruch? Glauben Sie wirklich, dass dann jeder morgens beim Bäcker die Rezeptur
seiner Brötchen verlangt?
Drittens. Wir wollen die Behörden, entsprechend dem
Umweltinformationsgesetz, deutlich stärker in die
Pflicht nehmen. Das heißt zum Beispiel, die Behörden
sollen zur aktiven Information der Öffentlichkeit sowie
zur Hilfe bei der Informationsbeschaffung verpflichtet
werden. Dass nur die bereits vorliegenden Informationen
offen gelegt werden, reicht uns nicht.
Viertens. Wir fordern die Erweiterung des Geltungsbereichs des Verbraucherinformationsgesetzes. Herr
Goldmann hat schon darauf hingewiesen. Für uns ist es
nicht vermittelbar, dass nur der Bereich der Erzeugnisse
im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch geregelt
werden soll,
({7})
aber beispielsweise nicht die berühmten Sicherheitshinweise bei Elektrogeräten.
Fünftens. Wir fordern eine deutliche Reduzierung der
jetzt sehr umfangreichen und weitgehenden Informationsverbote. Das bedeutet, der Verweis auf Betriebsund Geschäftsgeheimnisse darf nicht zum Freibrief für
Informationsverweigerung werden.
({8})
Sechstens. Wir fordern deutlich kürzere Bearbeitungszeiten.
Letztlich wird aber auch ein noch so gutes Verbraucherinformationsgesetz das eigentliche Problem nicht lösen: die strukturellen Ursachen der Lebensmittelskandale. Wo Sozial- und Umweltdumping stattfindet, ist es
oft auch mit der Lebensmittelsicherheit nicht weit her.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Ulrike Höfken für die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das ist jetzt der dritte Versuch eines Verbraucherinformationsgesetzes. Sie hätten noch dazusagen
sollen, Herr Minister, dass die ersten beiden Versuche
hauptsächlich an Ihnen von der CDU/CSU gescheitert
sind.
({0})
Sie haben gesagt, die Nennung des Namens zur klaren
Information habe mehr Wirkung hinsichtlich der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität als alle anderen
Strafgesetzregelungen. Das ist richtig. Aber dann fragen
wir uns natürlich, warum die Latte beim Verbraucherinformationsgesetz diesmal wieder gerissen wird.
Denn wie wir sehen, setzen Sie sich über die vielfache
Kritik von Verbraucher- und Umweltverbänden, von
Wirtschaft und Journalistenverbänden hinweg. Es ist ein
Gesetz voller Anwendungslöcher und bürokratischer
Hürden, das Sie jetzt durch den Bundestag peitschen.
Die Ausschlussgründe sind zu vielfältig, der Anwendungsbereich ist zu klein, die Antwortfristen sind viel zu
lang und die schwarzen Schafe - ich glaube, denen sind
Sie heute schon begegnet - werden weiter geschützt.
Die Bezeichnung „Verbraucherinformationsgesetz“
ist insgesamt völlig irreführend, weil Sie die Verbraucherinformation auf das Lebensmittel- und Futtermittelrecht reduziert haben. Das kann es ja wohl nicht sein.
({1})
Nun liegt ein Konzept für einen Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen vor. Das ist ein merkwürdiger Vorgang: Erst legen die Koalitionsfraktionen
einen Gesetzentwurf vor, nun wollen die Abgeordneten
einen eigenen Entschließungsantrag vorlegen. Das ist
ein sehr interessantes Verfahren.
({2})
Im Herzen bin ich bei diesem Entschließungsantrag. Ich
bin natürlich auch sehr interessiert, zu beobachten, wie
sich dieses Kind entwickelt.
Aber ganz klar ist: Hätten Sie sich an unserem Gesetzentwurf orientiert, den wir damals eingebracht
haben, dann hätten Sie ein wirklich effektives Verbraucherinformationsgesetz bereits im ersten Durchgang vorlegen können.
({3})
Stattdessen sind die Regelungen nahezu gleich inhaltsleer geblieben: keine Informationsherausgabe und Namensnennung bei bestimmten Schadstoffen, zum Beispiel der Druckchemikalie ITX oder Acrylamid.
({4})
- Doch, das stimmt. - Acrylamid - das darf ich einmal
den Kollegen von der CDU/CSU sagen - hat doch in der
vergangenen Legislaturperiode noch eine Bedrohung der
Menschheit dargestellt.
({5})
Hier muss man also eine deutliche Lücke feststellen.
Eine Information über diesen Schadstoff - das können
Sie gerne nachprüfen; wir möchten bei der Wahrheit
bleiben und werden dies weiter überprüfen - werden Sie
nicht bekommen, ebenfalls nicht bezüglich Mehrfachpestizidbelastungen von Obst und Gemüse.
({6})
Sie haben auch keinen Informationsanspruch und
keine Informationspflicht durch die Behörden bei wirtschaftlicher Täuschung, zum Beispiel bei Verschleierung
der Herkunft von Produkten - Frau Tackmann hat das
schon erwähnt - oder bei Umetikettierung von ach so beliebten importierten Billigsportartikeln oder Medikamenten, vorgesehen. Kein Informationsanspruch besteht
auch bei Produkten und Dienstleistungen, zum Beispiel
bei Finanzdienstleistungen. Es gibt auch keinen Informationsanspruch gegenüber Unternehmen sowie im
Hinblick auf wirtschaftlich relevante Informationen.
Dies gilt beispielsweise für den Fall, dass Unternehmen
Kapitalanleger bewusst geschädigt hatten.
Der Gesetzentwurf baut durch unklare Formulierungen - das ist vielleicht das Hauptproblem -, mangelnde
Transparenz, Kosten, bürokratische Vorschriften und zu
lange Antwortfristen einen Schutzwall gegen die Verbraucher. Das finden wir nicht akzeptabel. Die Verbraucher und auch die Presse werden daran gehindert, ihre
Rechte wahrzunehmen. Unternehmen verstecken sich
hinter Betriebsgeheimnissen. Es ist für uns selbstverständlich, dass diese gewahrt bleiben.
({7})
Dieses Gesetz enttäuscht also die Erwartungen.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist eigentlich zu Ende.
Aber Sie können noch auf eine Zwischenfrage der Kollegin Klöckner antworten.
Ich habe eine Frage, Frau Kollegin Höfken. Sie haben
eben gesagt, der Verbraucher habe keinen Anspruch darauf, etwas über Herkunft und Kennzeichnung zu erfahren. Ich weiß nicht, ob Ihnen die aktuelle Version des
Gesetzes vorliegt. Mir liegt sie als Drucksache vor. In
§ 1 Abs. 1 heißt es:
Jeder hat nach Maßgabe dieses Gesetzes Anspruch
auf freien Zugang zu allen Daten über …
3. die Kennzeichnung, Herkunft, Beschaffenheit,
Verwendung sowie das Herstellen oder das Behandeln von Erzeugnissen sowie über Abweichungen
von Rechtsvorschriften über diese Merkmale und
Tätigkeiten …
Haben Sie vorhin gemeint, dass das nicht möglich ist?
({0})
Wir haben lange Zeit darauf verwendet, die einzelnen
Paragrafen dieses Gesetzes zu prüfen und zu bewerten.
Darum sagen wir, dass es eher ein Verbraucherinformationsverhinderungsgesetz ist. Denn normalen Menschen
wird es aufgrund dieses Gesetzes nicht möglich sein,
eine Auskunft zu bekommen.
({0})
Frau Klöckner, Sie vergessen den Anwendungsbereich des Gesetzes. Dieses Gesetz ist auf das Lebensmittel- und Futtermittelrecht reduziert. Aber es gibt auch
den Bereich - Frau Tackmann hat ebenfalls darüber gesprochen - der importierten Sportartikel. Eine Information darüber bekommen Sie trotz aller Nachfragen nicht.
Dieses Gesetz enttäuscht also die Erwartungen. Ich
nehme Sie beim Wort, Herr Minister. Sie haben zugesagt, dieses Gesetz einer Überprüfung unterziehen zu
lassen. Also ein neuer Sprung; die Latte wird neu aufgelegt. Wir werden im Gesetzgebungsverfahren weiter darüber diskutieren.
Danke schön.
({1})
Ich erteile das Wort der Kollegin Mechthild Rawert
von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Wir haben schon gehört: Aus Kindern werden Leute; noch kein Mäuschen
ist klein geblieben. Infolgedessen gilt: Aller guten Dinge
sind drei.
Verbraucherschutz ist ein aktiver und bedeutender
Teil unserer Bürgergesellschaft. Jede Bürgerin und jeder
Bürger ist als Verbraucher davon betroffen. Verbraucherschutz betrifft uns alle. Wir wollen, dass ein umfangreicher Verbraucherschutz der Gesundheit, dem Schutz der
wirtschaftlichen Interessen, der Wiedergutmachung erlittenen Schadens wie auch der Unterrichtung und Aufklärung über Waren und Dienstleistungen sowie die damit verbundenen Gefahren und Missbräuche dient.
Wir sind uns doch alle einig: Der unappetitliche Gammelfleischskandal hat uns gezeigt, dass Gesundheitsrisiken für Verbraucherinnen und Verbraucher durch unsichere Produkte frühzeitig ermittelt und wirksam
bekämpft werden müssen. Zuverlässige Kontrollen,
transparente Qualitätssicherungssysteme, sichere Prognosemethode sowie - darum geht es heute - unabhängige und objektive Informationen sind dabei die wichtigsten Instrumente.
Grundsätzlich stehen beim Verbraucherrecht wirtschaftliche und finanzielle Aspekte im Mittelpunkt.
Wir wollen Verbraucherinnen und Verbraucher dabei unterstützen, solche Waren und Dienstleistungen auszuwählen, die ihnen sowohl qualitativ als auch finanziell
den größten Nutzen versprechen. Wir wollen die Bürgerinnen und Bürger befähigen, dem Marktgeschehen nicht
wehrlos gegenüberzustehen, sondern als sachkundige
und selbstbewusste Akteurinnen und Akteure zu agieren.
({0})
Denn eines ist richtig: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist
besser.
({1})
Dies hat eigentlich jede und jeder von uns schon einmal
gesagt. Für beides, für Vertrauen und sachkundige Kontrolle, sind Transparenz und eine umfassende Information die Voraussetzung.
({2})
Mit dem von der Regierungskoalition vorgelegten
Gesetz ermöglichen wir es den Verbraucherinnen und
Verbrauchern erstmalig, Auskunft von Behörden zu erhalten. Wir wollen die Verbraucherinnen und Verbraucher dazu befähigen, sich über eklatante Verstöße zu informieren, bevor sie ihre Wirkung entfalten können.
Eines ist sicher: Wir betrachten dies als einen ersten
Schritt in Richtung eines verbesserten, modernen Verbraucherschutzes. Ich sage bewusst: Dies ist ein erster
Schritt. Auch meine Kollegin Elvira Drobinski-Weiß hat
von einem Stein gesprochen, der ins Rollen gekommen
ist. Weitere Schritte müssen also folgen. Wir, die SPDBundestagsfraktion, wollen einen transparenten Markt,
der den Verbraucherinnen und Verbrauchern durch Information und Beratung die Möglichkeit bietet, gleichberechtigte Partnerinnen und Partner der Wirtschaft zu
werden.
({3})
Verbraucherschutz kann sich dauerhaft nicht nur auf
Lebens- und Futtermittel beschränken.
({4})
Verbraucherschutz durch Verbraucherinformationen
muss in unser aller Interesse langfristig für alle Produkte
und Dienstleistungen gelten. Selbstverständlich wollen
wir die Verbraucherin und den Verbraucher vor mangelhafter Ware schützen. Effektiver Verbraucherschutz bedeutet daher auch, die Wirtschaft vor ruinösen Wettbewerbsbedingungen, vor einer sowohl qualitativen als
auch preislichen Spirale nach unten zu bewahren. Denn
die Mentalität „Geiz ist geil“ schadet uns allen und nutzt
niemandem. Dagegen ist anzugehen.
Moderner Verbraucherschutz sei die Grundlage einer
erfolgreichen Wirtschaftspolitik, hat Herr Seehofer gesagt. Ich stimme ihm ausdrücklich zu; dies ist richtig.
Aus diesem Grunde werden wir die Wirtschaft weiterhin
sehr genau beobachten. Wir wollen einen ersten Schritt
in Richtung eines transparenten Marktes gehen und das
Leitbild der mündigen Verbraucherin bzw. des mündigen
Verbrauchers stärken. Machen Sie mit! Stimmen Sie zu!
({5})
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 16/1408 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Bei gentechnisch veränderten Pflanzen nationales Recht auf Einfuhrverbote und Schutzmaßnahmen nutzen
- Drucksache 16/1176 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache wiederum eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist auch dies so
beschlossen.
Als erste Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin
Ulrike Höfken von den Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Unser Antrag widmet sich dem
Thema „Zulassung gentechnisch veränderter Pflanzen
und Produkte“. Wir greifen in der aktuellen Gentechnikdebatte ein Thema auf, über das sowohl auf der europäischen Ebene wie auch bei uns auf nationaler Ebene und
in anderen Mitgliedstaaten intensiv diskutiert wird.
Auf der EU-Konferenz Anfang April in Wien ist deutlich geworden, dass die Bedenken im Hinblick auf ökologische und gesundheitliche Risiken, die sich in den Ergebnissen zahlreicher Studien widerspiegeln, inzwischen
von vielen Mitgliedstaaten und der EU-Kommission geteilt werden. Wir sind froh darüber, dass die EU-Kommission eine Verbesserung der Zulassungsverfahren in
Aussicht gestellt hat. Wir werden diesen Prozess mit
Nachdruck begleiten.
({0})
Ich will auf einen sehr interessanten Punkt unseres
Antrages zu sprechen kommen. Zu der gentechnisch veränderten Maislinie MON 810, die von Minister Seehofer
- es war eine seiner ersten Amtshandlungen - Ende letzten Jahres zugelassen wurde, haben wir heute ein
Rechtsgutachten vorgestellt, welches erneut belegt, dass
das Inverkehrbringen der in Deutschland verwendeten
Maislinie MON 810 ungeachtet der Zulassung durch
Minister Seehofer nicht erlaubt ist. Wir fordern Minister
Seehofer daher auf, den gerade gestarteten Anbau von
MON 810 sofort zu stoppen und die Sortenzulassung zurückzunehmen.
({1})
Die Bundesbehörden, die für die Kontrolle und das Inverkehrbringen zuständig sind, fordern wir auf, ihre
Pflicht wahrzunehmen und den gestarteten Anbau zu
stoppen.
Der Anbau findet zu fast 99 Prozent in den neuen
Bundesländern statt. Wir finden es nicht in Ordnung,
dass die Menschen dort zu Versuchskaninchen gemacht
werden. Die Bedenken, die in dem heute vorgelegten
Rechtsgutachten noch einmal zum Ausdruck gebracht
werden, müssen ihren Niederschlag finden: Der weitere
Anbau der Maissorte MON 810 muss sofort gestoppt
werden.
({2})
In dieser Zulassung sehe ich auch insofern einen politischen Skandal, als wir vorher deutlich genug darauf
hingewiesen haben, dass eine Zulassung dieser Maissorte in Deutschland nicht rechtskonform ist. Trotzdem
wurde der Anbau durchgedrückt. Herr Minister
Seehofer, Sie haben die Betroffenen in eine äußerst
schwierige Situation gebracht, und zwar sowohl diejenigen, die gentechnikfrei produzieren wollen, als auch diejenigen, die einen Anbau des gentechnisch veränderten
Maises betreiben wollten bzw. dazu gebracht wurden.
Sie befinden sich jetzt in einer rechtlich außerordentlich
schwierigen Situation. Sie müssen sich an die Hersteller,
Händler und Behörden wenden, um zu klären, wie die
rechtliche Situation aussieht. Ich finde, diese Situation
ist politisch nicht tragbar. Wir fordern Sie daher noch
einmal auf, die Zulassung für den Anbau dieses Produktes sofort zurückzuziehen.
Danke.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Lehmer für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau
Höfken, den in Ihrem Antrag gemachten Feststellungen
zu den Zielen des deutschen Gentechnikrechtes, nämlich
dem Schutz von Mensch, Tier und Umwelt - das ist die
oberste Priorität -, der Wahlfreiheit der Verbraucher und
Landwirte sowie der Koexistenz verschiedener Landwirtschaftsformen, stimmen wir uneingeschränkt zu.
({0})
Wir begrüßen es ausdrücklich, dass hinsichtlich der nationalen Gestaltungsspielräume bezüglich dieser wichtigen Zielsetzungen entsprechende Freiräume bestehen.
Es ist unserer Meinung nach erfreulich, dass es hierzu
vonseiten der EU keine einheitlichen und zwingenden
Vorgaben gibt. Wie mehrfach angekündigt, wird die Regierungskoalition in den nächsten Monaten entsprechende nationale Regelungen zu den genannten Bereichen ausarbeiten und zur Abstimmung bringen.
Im vorliegenden Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen wird verlangt,
erteilte Sortenzulassungen von GVO-Maissorten zu
widerrufen und keine weiteren Sortenzulassungen
zu erteilen
sowie Einfuhrverbote auf EU-Ebene zu unterstützen.
Aktuelle Überprüfungen der im Antrag vorgebrachten
Begründungen - denen Sie, Frau Höfken, eine andere
aktuelle Information entgegensetzen - ergaben folgendes Ergebnis:
Feststellung Nr. 1. Die Voraussetzungen für die Erteilung
der Sortenzulassung für GV-Mais der Linie MON 810 lagen
und - jedenfalls nach meinem gestrigen Informationsstand - liegen weiterhin vor. Eine erneute Bewertung der
Rechtslage im Gesamtzusammenhang des europäischen
Genehmigungsrechtes stützt nicht die angesprochenen
Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Zulassung. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit steht derzeit
uneingeschränkt zu diesen bisherigen Zulassungen.
Feststellung Nr. 2. Gegen die Inverkehrbringungsgenehmigung für MON 863 liegen ebenfalls nach aktuellem Stand der Sicherheitsbeurteilung keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse von rechtlicher Bedeutung vor.
Feststellung Nr. 3. Die Kommission geht davon aus,
dass alle bisher in der EU zugelassenen GVO auch in ihren ökologischen Langzeitwirkungen sicher sind. Die
Kommission wird auch - so die Aussage - im Rahmen
der strengen Gesetzgebung für weitere Zulassungen eintreten. Sie weist ausdrücklich darauf hin, dass nationale
Alleingänge und Verbote nach einer Zulassung vermieden werden sollen. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass Deutschland bei den Abstimmungen
im Umweltrat am 24. Juni 2005 und im Landwirtschaftsrat am 25. Oktober 2005 - beide Male vertreten durch
Jürgen Trittin, im Juni als Umweltminister und im Oktober als geschäftsführender Landwirtschaftsminister ({1})
dem Vorschlag der Kommission auf Zulassung zugestimmt hat.
({2})
Deutschland hat dabei ausdrücklich festgestellt, dass aus
seiner Sicht keine schädlichen Auswirkungen von
MON 863 auf Mensch oder Umwelt zu erwarten seien.
({3})
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höfken zu?
Ich möchte in meinem Konzept weitermachen.
({0})
Feststellung Nr. 4. Im Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion über eine Überarbeitung der EU-Zulassungsregeln - Sie haben sie angesprochen - regt die
Kommission an, bei vorhandenen Zweifeln seitens der
Mitgliedstaaten diese schon während des laufenden Zulassungsverfahrens einbringen zu können. Diese angebotene engere Kooperation mit den nationalen wissenschaftlichen Institutionen bereits in der Phase der
Risikoanalyse selbst ist ausdrücklich zu begrüßen.
Feststellung Nr. 5. Bundesminister Seehofer hat in
diesen Tagen ein Schreiben an die Kommissare für Gesundheit und Verbraucherschutz sowie für Umwelt gesendet und fordert diese zur Klärung auf, welche Konsequenzen aus der Ankündigung der Kommission zu
Änderungen der Entscheidungsprozesse über GVO zu
erwarten sind.
({1})
Außerdem wurde das Bundesamt für Verbraucherschutz
und Lebensmittelsicherheit um Prüfung gebeten, ob aus
einer aktuellen Sicherheitsbewertung heraus Anlass für
zulassungsrelevante Entscheidungen besteht. In diese
Prüfung sollen das Bundesamt für Naturschutz, das
Robert-Koch-Institut, das Bundesinstitut für Risikobewertung und die Biologische Bundesanstalt für Landund Forstwirtschaft eingeschaltet werden. Das Ergebnis
dieser Prüfung ist abzuwarten.
Feststellung Nr. 6. Nationale Einfuhrverbote können
nur im Einzelfall ausgesprochen werden - so lautet EURecht -, und zwar nur dann, wenn neue oder zusätzliche
wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass eine Gefahr
für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt besteht.
Feststellung Nr. 7. Es ist ausdrücklich zu begrüßen,
dass zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten
Einigkeit darin besteht, dass im Hinblick auf die Koexistenz die zwischenstaatliche Zusammenarbeit verstärkt
werden soll. Danach sollen die verfügbaren Informationen allen Mitgliedstaaten zugänglich gemacht werden
sowie Forschungstätigkeiten unterstützt werden. Einigkeit besteht auch darin, dass die Kommission so bald wie
möglich einen Vorschlag für gemeinschaftliche Schwellenwerte für GV-Bestandteile im Saatgut vorlegen soll,
bei deren Überschreitung das Saatgut folgerichtig als genetisch verändert gekennzeichnet werden soll. Jedenfalls
ist zu vermeiden, dass durch unterschiedliche Koexistenzregelungen der Mitgliedstaaten Wettbewerbsverzerrungen entstehen.
Feststellung Nr. 8. Ein Anbaumoratorium bis zum
Erlass von EU-weiten Harmonisierungsmaßnahmen, wie
Sie es vorschlagen, halten wir für nicht erforderlich.
Aus all den genannten Gründen lehnen wir den Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen ab. Wir halten die gestellten Forderungen für nicht zielführend. Vielmehr
bleiben wir bei der geplanten Vorgehensweise. Nach der
erfolgten Umsetzung der Freisetzungsrichtlinie im Februar dieses Jahres erfolgt nun nach einer von Minister
Seehofer breit angelegten Anhörung aller Interessensgruppen die Ausarbeitung der noch offenen, in nationaler Zuständigkeit zu regelnden wichtigen Sachfragen zu
den Bereichen - ich wiederhole -: Koexistenz aller Anbauverfahren, die Haftungsregel, die Ausgestaltung der
guten landwirtschaftlichen Praxis und - das ist ein wichtiger Punkt - die Sicherung der Wahlfreiheit für die Verbraucher. Im Mittelpunkt steht auch künftig die
Forschung zur weiteren Aufklärung und Auffindung relevanter Erkenntnisse für die Bereiche Sicherheit und
Anwendungsregelungen. Ein hoher Stellenwert muss dabei auch in Zukunft der öffentlichen wissenschaftlichen
Forschung zugewiesen werden.
Ein wichtiger Hinweis: Freilandversuche müssen
ohne Behinderung möglich sein. Sie bilden die Basis für
anbau- und ökologierelevante Fragestellungen.
({2})
Leider mussten wir in dieser Beziehung in manchen Regionen gegenteilige Erfahrungen machen.
Zum Abbau vorhandener Bedenken unserer Bürger
gegenüber der Grünen Gentechnik müssen alle Ergebnisse im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten transparent gemacht werden. Alle möglichen Maßnahmen für
eine sach- und fachgerechte Information sind zu nutzen.
Es geht vor allem darum, eine offene und wissenschaftlich fundierte Chancen-Risiko-Abschätzung vorzunehmen. Dazu ist es erforderlich, sich die sich in raschem
Tempo entwickelnden Möglichkeiten gentechnisch veränderter Produkte und ihren Nutzen für den Verbraucher
insbesondere in den Bereichen Lebensmittelqualität,
Energienutzung von Pflanzen und Umweltschutz bewusst zu machen.
Wir wollen niemandem eine Technologie aufdrängen keineswegs. Wir wollen aber sicherstellen, dass die
Chancen der Grünen Gentechnik nach verantwortungsvoller Abwägung aller Vorteile und Risiken auch in
Deutschland genutzt werden können, und zwar von den
Verbrauchern, den Landwirten und der Wirtschaft. Dazu
sind die Regeln so auszugestalten, dass der Markt, also
der Verbraucher durch sein Konsumverhalten, entscheiden kann, wie es auch bei allen anderen Technologien
der Fall war und ist.
({3})
Wir werden in Ruhe, ohne Zeitdruck und - das betone
ich - in vollem Verantwortungsbewusstsein vorgehen.
Alle Aktivitäten, die vornherein die Verhinderung einer
modernen Technologie verfolgen, werden wir sehr kritisch begleiten.
Ich bedanke mich.
({4})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin
Höfken.
Herzlichen Dank. - Da mich der Kollege gerade angesprochen hat, möchte ich seine Auffassung zur Zulassung der Maislinie MON 810 richtig stellen: Die in
Deutschland verwendeten Sorten verfügen nicht über
die erforderliche gentechnikrechtliche Genehmigung.
MON 810 hat zwar auf Grundlage der so genannten
EU-Freisetzungsrichtlinie aus dem Jahr 1990 ein Zulassungsverfahren durchlaufen. Aber die Entscheidung der
EU-Kommission über diesen Antrag bedeutet keinesfalls - das wird auch in der Fachöffentlichkeit manchmal falsch dargestellt -, dass MON 810 genehmigt ist.
Es oblag den französischen Behörden, für die in
Frankreich angebauten Sorten eine Genehmigung zu erteilen. Das haben sie auch getan. Dabei ging es aber
nicht um die Sorten, die vor kurzem in Deutschland zugelassen worden sind und hierzulande angebaut werden.
Von daher besteht für die in Deutschland verwendeten
Sorten seit 1998 eine gentechnikrechtliche Zulassungslücke.
Sie alle wissen, dass das Gentechnikrecht bzw. das
Zulassungsrecht nach dem Moratorium EU-weit deutlich
verschärft worden ist. Seit 2003 dürfen gentechnisch
veränderte Organismen, die für Lebensmittel prinzipiell
verwendet werden dürfen, nur nach einer umfassenden
Lebensmittelsicherheitsprüfung zugelassen werden.
MON 810 ist im Rahmen eines solchen Verfahrens und
anhand der aktuellen Vorschriften bisher überhaupt nicht
geprüft worden.
Zudem sind genehmigte Erzeugnisse nach altem
Recht nur für eine Übergangsfrist bis Ende 2006 zugelassen, und dies auch nur dann, wenn eine ordnungsgemäße Meldung in Brüssel erfolgt ist. Diese Meldung ist,
was MON 810 betrifft, aber nicht erfolgt. Dass es plötzlich eine Meldung in dem entsprechenden Register gegeben hat, ändert daran übrigens gar nichts. Das ist nämlich etwas anderes. Man kann nicht einfach ein
Erzeugnis in ein Register eintragen lassen und dann behaupten, das entspreche einer Zulassung. Das geht nicht.
Aus diesem Grunde darf das Saatgut MON 810 in
Deutschland nicht mehr vertrieben und auch nicht mehr
angebaut werden. Diese Erkenntnis haben wir aus dem
entsprechenden Rechtsgutachten gewonnen. Deswegen
sind wir der Auffassung, dass auch Sie die Konsequenzen aus diesem Rechtsgutachten ziehen müssen.
Danke.
Herr Dr. Lehmer, Sie haben das Wort zu einer Erwiderung.
Frau Kollegin Höfken, ich habe mich über den rechtlichen Hintergrund der Zulassung von MON 810 informiert. Meine Informationen - Stand: gestern - stehen im
Widerspruch zu Ihren Aussagen. Ich kann diesen Widerspruch nicht auflösen. Ich kenne das Rechtsgutachten
nicht, auf das Sie sich beziehen. Mir liegen andere Informationen vor.
({0})
Ich erteile das Wort für die FDP-Fraktion der Kollegin Dr. Happach-Kasan.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zuvor ein Wort zu dem aktuellen Streit: Ich wundere
mich sehr, dass die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen jetzt ein Rechtsgutachten zu diesem Thema eingeholt hat. Warum ist der rechtliche Dissens im Hinblick
auf die Zulassung dieser Sorte nicht thematisiert worden,
als Frau Künast Ministerin war?
({0})
Warum ist eigentlich Abteilungsleiter Schlagheck aus
dem Amt vertrieben worden und warum sind die Sitzungen des Sortenausschusses abgesagt worden, sodass
keine Entscheidung getroffen werden konnte? Dies alles
hätte man vermeiden können, wenn es einen rechtlichen
Grund gegeben hätte, die Sorte nicht zuzulassen.
({1})
Ich bitte Sie, das Rechtsgutachten zur Verfügung zu stellen, damit wir uns selbst eine Meinung darüber bilden
können. Ich denke, wir alle - auch der Kollege Lehmer sind uns darüber einig, dass die Zulassung rechtlich korrekt zu verlaufen hat. Aber ich habe große Zweifel, dass
Ihr Rechtsgutachten standhalten wird.
Kollegin Happach-Kasan, möchten Sie auf Zwischenfragen der Kollegin Höfken antworten?
Ja, gerne.
Ich möchte dazu sagen, dass diese Rechtsauffassung
schon damals bestand und auch belegt worden ist.
({0})
Genau deswegen hat Frau Künast die Zulassung nicht erteilt. Allerdings haben wir jetzt in einem neuen, von der
Fraktion in Auftrag gegebenen Gutachten noch andere
Aspekte herausarbeiten können. Ich stelle dieses Gutachten gerne zur Verfügung.
Frau Kollegin Höfken, diese Äußerung wundert mich
sehr; denn meines Wissens - Sie wissen, dass ich in der
letzten Legislaturperiode ebenfalls Mitglied des Bundestages gewesen bin - hat Frau Künast dies nicht öffentlich
gemacht. Sie hat verhindert, dass der Sortenausschuss tagen und damit die Zulassung aussprechen konnte. Ich
wundere mich, warum ein solcher, an der Legalität vorbeigehender Weg gewählt worden ist, wenn die Sorte einem Rechtsgutachten nach eindeutig nicht zugelassen
werden konnte.
({0})
Das ist für mich ein rechtsstaatlich sehr undurchsichtiges
Verfahren.
({1})
Ich würde auch vorschlagen, dass Sie diesen interessanten Meinungsaustausch zunächst in den Ausschussberatungen fortsetzen und das Ganze nicht weiter als
Zwischenfrage tarnen.
Danke schön, Frau Präsidentin.
Ich möchte an den Anfangspunkt meiner Rede zurückkehren: Es geht nicht nur um MON 810, vielmehr
müssen wir den Antrag der Grünen in den Gesamtzusammenhang stellen: Wir wissen, dass der Anbau von
Kulturpflanzen, die unter Anwendung gentechnischer
Methoden gezüchtet wurden, weltweit eine Erfolgsstory
ist.
({0})
Jedes Jahr vergrößert sich die Fläche - inzwischen sind
es über 90 Millionen Hektar -, auf der solche Pflanzen
angebaut werden. Es gibt eine Studie von Professor
Qaim von der Universität Hohenheim. Er hat herausgefunden, dass gerade die Bauern in den Entwicklungsländern davon profitieren.
({1})
Mehrere Millionen Tonnen gentechnisch veränderte
Soja werden jedes Jahr eingeführt. 95 Prozent der Soja,
die in Deutschland verbraucht werden, sind gentechnisch verändert; die Aufschrift „gentechnisch verändert“
ist inzwischen die Regel. Deutschland hinkt bei der Nutzung der Grünen Gentechnik in der EU hinterher. Wir
haben keine Wahlfreiheit, weil die Verbraucherinnen und
Verbraucher nicht zwischen Produkten, die aus gentechnisch veränderten Pflanzen hergestellt sind, und solchen,
die dies nicht sind, wählen können. Das wollen wir ändern. Wir haben im März die Freisetzungsrichtlinie der
EU umgesetzt und damit eine Altlast von Rot-Grün aus
dem Weg geräumt und drohende Strafzahlungen vermieden. Die EU hat mit dem im Mai 2004 beendeten sechsjährigen Moratorium für die Einfuhr gentechnisch veränderter Lebensmittel gegen internationale Handelsregeln
verstoßen; dies hat das Schiedsgericht der WTO gerade
bestätigt. Das gilt auch für die von Deutschland ausgesprochenen Handelsverbote. Wir als FDP wollen einen
rechtlich sicheren Weg gehen und nicht gegen internationale Handelsbestimmungen verstoßen.
({2})
Die von der Bundesregierung in dem im März verabschiedeten Gentechnikgesetz angekündigte weitere Novellierung ist dringend erforderlich. Minister Seehofer
ist inzwischen leider nicht mehr da.
({3})
- Oh, entschuldigen Sie, Herr Minister, ich nehme zur
Kenntnis: Sie sind da. Ich freue mich, dass Sie mir zuhören. - Herr Minister, wir werden Sie daran messen, ob
Sie nur ankündigen oder ob Sie auch handeln. Erst hieß
es, im Mai gebe es einen Gesetzentwurf. Jetzt sollen im
Juni Eckpunkte vorgelegt werden. Herr Lehmer hat gesagt, der Gesetzentwurf komme in mehreren Monaten.
Wir wollen möglichst bald ein Gesetz. Wir wollen nicht,
dass weiter Nebelkerzen geworfen werden.
({4})
Wir werden den Gesetzentwurf daran messen, ob
durch ihn praktikable Haftungsregelungen geschaffen
werden, ob das Inverkehrbringen neu definiert wird und
ob schikanierende Bürokratielasten abgebaut werden.
Sie, Herr Minister, haben mit der Zulassung fünf transgener Maissorten, deren Wertprüfung schon lange abgeschlossen ist - damit komme ich auf dieses Thema zurück -, den Weg rechtsstaatlichen Handelns beschritten.
Das will ich ausdrücklich anerkennen. Jetzt brauchen
wir eine Novelle des Gentechnikgesetzes, die in
Deutschland einen Innovationsschub bewirken wird.
Liebe Kollegin Höfken, der Antrag der Grünen weist
in die falsche Richtung; das habe ich beim Thema
MON 810 bereits gesagt. Ich will noch hinzufügen: Es
mag sein, dass wir eine neue Freisetzungsrichtlinie haben, aber es gilt: Das Abitur bleibt gültig, auch wenn die
Prüfungsordnung verändert wurde. So ist es auch bei den
Sorten der Maislinie MON 810.
Die Studien zu den Sorten der Linie MON 863 sind
von der EFSA umfassend geprüft worden. Sie kommt zu
dem Schluss, dass der Mais dieser Linie gut ist. Ich
meine, wir können politisch nicht etwas entscheiden,
was von der EFSA bereits richtig entschieden worden
ist.
({5})
Wir sind wie Sie der Auffassung, dass Studien von
unabhängigen Experten geprüft werden müssen. Doch
wer sind unabhängige Experten? Wissenschaftler des
Ökoinstituts, die der Regierung geraten haben, die gute
fachliche Praxis beim Maisanbau an einer russischen
Studie aus dem Jahre 1940 auszurichten? Sind das unabhängige Experten? Oder ist das der Umweltverband, der
mit seiner Genmilchkampagne versucht hat, Verbraucherinnen und Verbraucher zu verunsichern und der ein Unternehmen diskreditiert hat, das hervorragende Produkte
auf den Markt bringt? Ich glaube, das sind keine unabhängigen Experten.
Die Anwendung Grüner Gentechnik zur Verbesserung der Sorten ist eine sehr gute Strategie, von der
keine der Energiepflanzen von vornherein ausgeschlossen werden sollte, auch der Raps nicht. Es ist gut, dass es
dazu Initiativen in Mecklenburg-Vorpommern gibt. Erst
gestern haben wir gemeinsam für eine andere Politik der
Bundesregierung bei Biokraftstoffen protestiert. Wir
sind uns einig, dass Biokraftstoffe in Deutschland eine
Zukunft haben müssen. Dazu brauchen wir die entsprechenden steuerlichen Regelungen, aber auch mehr Effizienz auf dem Acker. Dabei hilft die Grüne Gentechnik.
({6})
Die Grünen haben Erfahrung darin, mit Verboten auf
neue Entwicklungen zu reagieren. Die Petflasche ist dafür ein Beispiel, ich nenne aber auch ihre Haltung zum
Handy oder zum PC. Nun soll es die Terminatortechnologie sein, wissenschaftlich GURT. Es gibt dazu keinerlei Anwendungserfahrung. Jetzt ein Verbot zu fordern, ist Symbolpolitik, nicht mehr. Das gilt im Übrigen
für den gesamten Antrag.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
({0})
Ich komme zum Schluss. - Herr Minister Seehofer,
Sie haben betont, dass Sie das Gentechnikgesetz im
Konsens novellieren wollen. Ich finde, das ist ein guter
Ansatz. Aber ich möchte Sie nur an folgenden Vorfall erinnern: Im April ist in Bayern ein Versuchsfeld durch
Ausbringen von Mineralöl zerstört worden. Für mich ist
das Umweltkriminalität.
({0})
Wie wollen Sie mit Menschen, die die biologische Sicherheitsforschung mit kriminellen und umweltgefährdenden Handlungen sabotieren, im Konsens ein für die
deutsche Forschung und Landwirtschaft wichtiges Gesetz novellieren?
Die Antwort auf diese Frage müssen Sie leider in den
weiteren Beratungen suchen bzw. in der zweiten und
dritten Lesung. Sie haben Ihre Redezeit wirklich weit
überschritten.
Ich bitte Sie: Haben Sie mehr Mut, Herr Minister!
Danke schön.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Drobinski-Weiß von der
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Der Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Bei gentechnisch
veränderten Pflanzen nationales Recht auf Einfuhrverbote und Schutzmaßnahmen nutzen“ hat vor dem Hintergrund derzeitiger Entwicklungen auf EU-Ebene an Aktualität gewonnen. Deshalb sollten wir die Debatte nicht
auf einen Schlagabtausch zwischen Opposition und Regierungsfraktionen reduzieren.
({0})
Einige der angesprochenen Punkte sollten ernsthaft
diskutiert werden. Wir sind uns sicher, dass alle in diesem Haus sich darin einig sind, dass wir die in Brüssel in
Gang gekommene Diskussion um mehr Transparenz
von Entscheidungen über gentechnisch veränderte Organismen und um eine Stärkung des Einflusses der einzelnen Mitgliedstaaten dazu nutzen sollten, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die Interessen der Menschen
in diesem Land zu vertreten.
({1})
Neue Entwicklungen in der EU veranlassen uns, uns
mit einigen der im Antrag aufgeworfenen Fragen auseinander zu setzen. So hat die EU-Kommission gegenüber
der WTO das Zulassungsmoratorium, welches zwischen 1998 und 2004 für GVO-Pflanzen in der EU bestand, unter anderem damit gerechtfertigt, dass es ein begründeter und rechtmäßiger Standpunkt sei,
schädlingsresistente GVO-Pflanzen nicht anzubauen,
bevor alle Auswirkungen auf den Boden bekannt sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den in der EU zugelassenen GVO-Pflanzen geht es um solche Schädlingsresistenzen, nämlich um mithilfe eines Bodenbakteriums erreichte Maiszünslerresistenzen.
Außerdem zitiert die Presse aus dem EU-Kommissionspapier, dass bei der Zulassung von Biotechprodukten die wissenschaftliche und technische Kenntnis oft
unvollständig sei, zumal GVO-Produkte sehr neu sind.
Dies bietet nach meiner Ansicht durchaus Anlass, die
kritisierten Zulassungen und Genehmigungen zu überprüfen. Den Medien habe ich entnommen, dass Minister
Seehofer den Umweltverbänden dies für den MonsantoMais 810 zugesichert hat. Das begrüßen wir ausdrücklich. Herr Minister, da haben Sie unsere volle Unterstützung.
({2})
Weiter ist zu lesen, dass die EU-Kommission Unsicherheit über den Gentransfer zu wild wachsenden Verwandten der gentechnisch veränderten Pflanze einräumt.
In unseren Breiten hat der Raps solche wild wachsenden
Verwandten. Laut Studien ist Raps nicht koexistenzfähig. Daraus sollten wir Konsequenzen ziehen. Gentechnisch veränderter Raps sollte nicht zum Anbau zugelassen werden.
({3})
Sehr zu begrüßen sind die Vorschläge der EU-Kommission, die wissenschaftliche Kohärenz und Transparenz von Entscheidungen über gentechnisch veränderte
Organismen zu verbessern und einen Konsens zwischen
allen Beteiligten herbeizuführen. So sollen die nationalen wissenschaftlichen Einrichtungen demnächst stärker
einbezogen werden und die Stellungnahmen der einzelnen Mitgliedstaaten mehr Gewicht im EntscheidungsElvira Drobinski-Weiß
prozess erhalten. Auch sollen potenzielle Langzeitwirkungen und Fragen der biologischen Vielfalt stärker
berücksichtigt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen sehr genau prüfen, welcher Handlungsbedarf und welche Möglichkeiten sich aus diesen Bewegungen auf der EUEbene für uns auf der nationalen Ebene ergeben. Der
Schutz von Mensch und Umwelt gemäß dem Vorsorgeprinzip ist unser oberstes Ziel. Das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Mit der Grünen Gentechnik
muss vorsichtig und verantwortungsvoll umgegangen
werden, zum einen weil es noch immer wissenschaftliche Unsicherheiten gibt, wie die EU-Kommission selbst
gegenüber der WTO angibt, zum anderen weil wir wollen, dass hier auch weiterhin gentechnikfrei angebaut
und produziert werden kann. Das verlangen 80 Prozent
der Verbraucherinnen und Verbraucher von uns; das verlangen aber auch die deutsche Landwirtschaft und Lebensmittelwirtschaft von uns, für die die Produktion
gentechnikfreier Rohstoffe und Lebensmittel ein Marktvorteil ist.
Das polnische Parlament hat Ende April ein Gesetz
verabschiedet, das den Vertrieb von GVO-Saatgut verbietet. Das Gesetz ist noch nicht vom Präsidenten unterzeichnet. Es sprengt voraussichtlich den EU-rechtlichen
Rahmen und dürfte in Brüssel für helle Aufregung sorgen. Von den 16 polnischen Provinzregierungen haben
sich mindestens 14 - ich denke, das ist die aktuelle Zahl zu gentechnikfreien Regionen erklärt.
({4})
Ich erwähne das deshalb, weil die Hoffnung auf Wettbewerbsvorteile bei diesen Initiativen mit Sicherheit eine
Rolle gespielt hat. So haben diese Regionen eine Erklärung verfasst, in der sie unter anderem die Befürchtung
äußern, der Anbau von GVO schade dem öffentlichen
Ansehen der gesamten polnischen Landwirtschaft, die
für ihre nachhaltige und hochwertige Wirtschaftsweise
bekannt sei.
({5})
Ein nationales Verbot von 16 GVO-Maissorten in Polen ist Anfang der Woche von der EU-Kommission genehmigt worden. Es gibt also durchaus Spielräume, die
zur Wahrung nationaler Interessen genutzt werden können.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Happach-Kasan?
Nein, vielen Dank. Frau Happach-Kasan, wir diskutieren das im Ausschuss immer rauf und runter.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Wir
haben uns in der Koalitionsvereinbarung verpflichtet,
die Forschung im Bereich Biotechnologie zu fördern.
Daran halten wir fest. Die wissenschaftlichen Unsicherheiten in diesem Bereich, welche die EU-Kommission
attestiert, sind nur durch Erkenntnisse aus der Forschung
auszuräumen. Natürlich muss auch die Forschung dem
Vorsorgeprinzip und der Nachhaltigkeit verpflichtet sein.
Die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen nach einem weiteren Zulassungsmoratorium für GVO-Pflanzen
bis zum Erlass EU-weiter Koexistenzregelungen können wir nicht unterstützen. Die EU-Kommission hat im
März beschlossen, sich gegenwärtig nicht mit der Schaffung harmonisierter Koexistenzregelungen zu befassen.
Zwar wollen auch wir EU-weit geltende Koexistenzregelungen; das Fehlen solcher Regelungen können wir jedoch nicht dazu nutzen, ein neues, rechtlich wackeliges
Moratorium zu fordern.
Auch wir hätten gern ein weltweites Verbot der
GURT, auch bekannt als Terminatortechnologie, haben
aber gesehen, wie schwierig es war, die Verlängerung
des Moratoriums für die GURT zu erreichen. Deshalb
halte ich ein weltweites Verbot für derzeit nicht durchsetzbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der grünen
Fraktion, einige Forderungen in Ihrem Antrag lehnen
wir ab, über einige andere Forderungen sollte vor dem
Hintergrund neuer Entwicklungen in Brüssel diskutiert
werden. Ich hoffe, wir alle werden das in den Ausschüssen - fruchtbar und jenseits politischer Grabenkämpfe miteinander angehen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Happach-Kasan.
Liebe Kollegin Drobinski-Weiß, Sie brauchten gar
nicht so angstvoll das Rednerpult zu verlassen. Ich hätte
Ihnen wirklich gern die Frage gestellt, ob Ihnen bekannt
ist, dass in Polen nicht nur ein Verbot von 16 GVO-Sorten, sondern außerdem von 700 konventionell gezüchteten Sorten beantragt wurde. Sicherlich haben Sie doch
im Protokoll der ESA gelesen, dass das Verbot der
16 GVO-Sorten und der 700 konventionell gezüchteten
Sorten damit begründet wird, dass diese Sorten unter den
klimatischen Bedingungen in Polen nicht mehr reif werden. Das heißt, die Begründung ist nicht, dass man gentechnikfrei anbauen möchte, sondern dass die Sorten
nicht reifen. Ich teile Ihre Einschätzung, dass man das
nicht verbieten muss, weil Landwirte sicherlich keine
Sorten anbauen, die nicht reif werden. Wir sollten konkret darauf hinweisen, dass es um 716 Sorten geht, und
uns fragen, ob das insgesamt mit den Interessen des europäischen Binnenmarktes und unserer Pflanzenzüchter
übereinstimmt.
Danke schön.
({0})
Frau Drobinski-Weiß, Sie haben die Möglichkeit zu
einer Erwiderung. - Sie verzichten.
Ich erteile Frau Dr. Tackmann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Wer würde den Maiszünsler
kennen, wenn es nicht die intensive Diskussion über die
Grüne Gentechnik und ihr Für und Wider gäbe? Das
zeigt uns, dass manche politische Debatte durchaus Bildungswert hat. Zur Erinnerung: Der Maiszünsler ist ein
Schädling, der in allen Maisanbaugebieten heimisch ist.
Deswegen ist die Frage: Ergreifen wir Gegenmaßnahmen? Wenn ja, welche?
Wie einige wissen, komme ich aus der schönen Prignitz im Nordwesten Brandenburgs. Die dortige SPD/
CDU-Landesregierung hat meiner Kollegin Carolin
Steinmetzer im November 2005 auf eine Kleine Anfrage
geantwortet, dass es insbesondere in den östlichen Landesteilen Befallsschwerpunkte mit Befallshäufigkeiten
von zum Teil mehr als 50 Prozent gebe. Die Landesregierung kommt dann zum Schluss, dass ein genereller
Einsatz von Bt-Mais - also Gen-Mais - auf allen Befallsstandorten als nicht erforderlich angesehen wird.
Man könne nämlich
… mit den zur Verfügung stehenden ackerbaulichen
Maßnahmen … das Auftreten dieses Schaderregers
unter der wirtschaftlichen Schadensschwelle …
halten.
({0})
Es besteht also berechtigterweise die Frage: Müssen
wir überhaupt die Risiken des Anbaus von Genmais eingehen, um dem Maiszünsler den Garaus zu machen?
Eine ganze Reihe Brandenburger Landwirte hat unterdessen, vielleicht gerade weil diese Frage im Raum
steht, ihre Anbauanmeldungen für dieses Jahr zurückgezogen. Die Skepsis ist berechtigt, denn die Grüne Gentechnik ist eine Risikotechnologie; durch sie eingetretene Schäden sind nicht oder kaum zu beheben.
({1})
Diskussionen auf der Ebene der Totschlagargumente
Technologiefeindlichkeit versus blinder Fortschrittsglaube bringen uns aber nicht weiter. Neben ethischen
Aspekten und der Abhängigkeit von den Saatgutmultis
gehört vor allem die Bewertung der Risiken - auch in
Abwägung möglicher Nutzen - in das Zentrum dieser
Debatte.
Die anfängliche Euphorie bei der Agro-Gentechnik
wird ohnehin zunehmend von nüchterner Skepsis abgelöst. So konnte zum Beispiel in den neuesten Genmaisstudien im Oderbruch wie auch schon in den USA kein
positiver Ertragseffekt nachgewiesen werden. Prinzipiell
ist unsere Gesellschaft bereit, Risiken im Kontext des
Lebensalltags einzugehen. Trotz der Verkehrstoten wird
niemand ernsthaft den Straßenverkehr infrage stellen.
Wenn zum potenziellen Risiko aber auch noch ein sehr
fraglicher Nutzen kommt, dann ist das einfach zuviel.
Die Menschen haben deswegen die völlig berechtigte
Erwartung an die politischen Entscheidungsträger, dass
die ökologischen und die gesundheitlichen Risiken des
Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen mit Abschluss eines Zulassungsverfahrens objektiv geklärt
sein müssen. Es macht mich daher sehr nachdenklich,
dass sich die EU-Kommission jetzt zu tief greifenden
Änderungen des Zulassungsverfahrens veranlasst sieht.
Dabei sind die von den EU-Kommissaren für Verbraucherschutz, Markos Kyprianou, und für Umwelt, Stavros
Dima, vorgeschlagenen Korrekturen alles anderes als
nur Schönheitsreparaturen. Es geht unter anderem um
den Umgang mit divergierenden wissenschaftlichen
Gutachten, die Ablehnung wissenschaftlich fundierter
Einwände und die Klärung spezifischer Protokolle zum
Sicherheitsnachweis.
Dieser Vorgang stellt aus unserer Sicht alle bisher erfolgten Zulassungen ganz grundsätzlich infrage - übrigens auch über die von den Grünen in ihrem Antrag vorgebrachten Argumente hinaus.
Frau Kollegin Tackmann, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höfken zu?
Ja.
Ich habe mich aus wirklich sachlichem Grund gemeldet. Fast alle Ihre Ausführungen kann ich begrüßen.
Ich war gestern in Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern und frage mich, ob Sie als Beteiligte in der SPD/
PDS-Landesregierung bereit sind, diese Auffassung
auch durchzusetzen; denn ich muss wirklich sagen: Die
Versuche, die dort von der Uni Rostock gemacht werden,
gehen an die Grenzen dessen, was man mit der Freiheit
der Forschung im Hinblick auf die Rechte der Menschen
im Umfeld dieser Forschungseinrichtungen - Recht auf
Eigentum, Recht auf freie Berufsausübung und Ähnliches - wirklich noch verantworten kann. Dort wird nämlich gentechnisch veränderter Raps getestet und es werden zudem noch sehr umstrittene Versuche mit einer
Medikamentenkartoffel zum Zwecke der Impfstoffherstellung mithilfe von Choleragenen durchgeführt.
Meine Frage an Sie lautet: Sind Sie bereit, dafür zu
sorgen, dass in diesem Land eine andere Haltung zur
Agro-Gentechnik eingenommen wird?
Vielen Dank, Frau Höfken. - Sie kennen sicherlich
die Meinung von Professor Methling zu diesen Fragen,
der hier ganz dezidiert anderer Meinung ist als beispielsweise der Landwirtschaftsminister Till Backhaus. Sie
kennen auch die Zwänge, in die man in Koalitionen teilweise gerät. Sie können sich sicher sein, dass wir ganz
bestimmt versuchen, Einfluss darauf zu nehmen, dass
auch in Mecklenburg-Vorpommern Vernunft in diesen
Dingen einkehrt.
({0})
Im Übrigen ist natürlich klar, dass Daten, auf deren
Grundlage die Risikobewertung erfolgt, öffentlich zugänglich sein müssen. Das ist selbstverständlich. Auch
die Tatsache, dass in neun Fällen EU-Mitgliedstaaten nationale Schutzmaßnahmen nach § 23 der EU-Freisetzungsrichtlinie erlassen haben, zeigt die Brisanz der Zulassungssituation.
Die Risiken sind also nicht wegzudiskutieren. Deshalb greifen Landwirte inzwischen zur Selbsthilfe und
schaffen gentechnikfreie Zonen. Auch der Wahlkreis
von Minister Seehofer gehört dazu, wie die Zeitungen
schreiben. Unbeirrt davon hält Herr Seehofer aber an
seiner abenteuerlichen Haltung fest, man müsse gentechnisch veränderte Pflanzen anbauen, damit das Risiko bewertet werden kann. Ich halte ein solches politisches
Abenteuer - Freilandversuche mit 88 Millionen Menschen und mit einer unwiederbringlichen Natur - angesichts der vorliegenden bedenklichen Daten für unverantwortlich.
Vielen Dank.
({1})
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. - Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/1176 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der neu gefassten Bankenrichtlinie und
der neu gefassten Kapitaladäquanzrichtlinie
- Drucksache 16/1335 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist auch dies
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin Nina Hauer für die SPDFraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es war ein langer Weg von der alten Regelung des
Baseler Ausschusses für Bankenaufsicht aus dem
Jahr 1988, dem so genannten Basel I, bis heute. Nach
der alten Regelung müssen die Banken 8 Prozent der
Anrechnungswerte für Kreditrisiken in Eigenkapital vorhalten. Das wurde aber nicht nach Bonität entschieden,
sondern es ging danach, welcher Gruppe die Kunden angehört haben. Das Ergebnis war - das wissen Sie -, dass
vor allem eine schlechte Bonität, die zu höheren Zinsen
führte, für die Banken besonders attraktiv war.
Das ist nicht nur für die Banken, sondern auch für die
Volkswirtschaft verheerend, weil Unternehmen mit
schlechter Bonität aus marktwirtschaftlichen Gründen
bevorzugt werden, während Unternehmen mit guter Bonität außen vor bleiben. Diese und andere Defizite waren
der Grund dafür, dass seit 1999 der Baseler Ausschuss
an der Weiterentwicklung seines Regelwerkes gearbeitet
hat. Die Vereinbarung, die uns jetzt vorliegt, ist das Ergebnis dieser Verhandlungen.
({0})
Ziel der Regelung über die Bankenaufsicht sind die
Stabilität der Banken selber und die Solidität unseres
Finanzmarktes. Natürlich ist das auch für unser Wachstum von Bedeutung. Wem die wirtschaftlichen Begründungen nicht ausreichen, dem nenne ich eine politische
Begründung: Es darf nicht sein, dass die Banken ihre
Gewinne privatisieren, wohingegen die damit verbundenen Risiken im Falle einer Instabilität von der öffentlichen Hand gegenfinanziert werden müssen.
({1})
Wir wollen ein Regelwerk, das für unser Bankensystem gut ist, aber auch die Interessen der kleinen und
mittleren Unternehmen berücksichtigt. Dabei muss insbesondere die Situation im deutschen Mittelstand betrachtet werden. Ich danke der alten Bundesregierung
dafür, dass sie mit dem Verhandlungsführer Jochen
Sanio das, was wir im Deutschen Bundestag mit unseren
zwei Entschließungen aus den vergangenen Jahren auf
den Weg gebracht haben, erfolgreich umgesetzt hat. Vor
allen Dingen die Bedenken und Wünsche in Bezug auf
die Situation mittelständischer Unternehmen wurden
aufgenommen. Wir haben damals die Sorge gehabt, dass
das Basel-II-Abkommen zu einer Gefahr für die kleineren und mittelgroßen Unternehmen bei der Kreditvergabe wird. Mittlerweile ist diese Gefahr dank der guten
Ergebnisse dieser Verhandlungen gebannt.
Die hohe Abhängigkeit von Krediten unserer Wirtschaft hat ihre Vor- und Nachteile. Aber sie darf insgesamt nicht dazu führen, dass Unternehmen Schwierigkeiten haben, in Deutschland Kapital zu bekommen. Das
gilt für die bestehenden Unternehmen genauso wie für
neue Unternehmen mit innovativen Ideen, die Kapital
brauchen, um diese Ideen umzusetzen.
Aus dem Baseler Regelwerk ist eine EU-Richtlinie
geworden. Diese EU-Richtlinie müssen wir nun durch
ein Gesetz in nationales Recht umsetzen. Die neuen
Regelungen sollen die Banken dazu verpflichten, dass
Risiken, die bei der Kreditvergabe entstehen, stärker differenziert und genauer bestimmt werden. Das entlastet
vor allem die kleineren Banken von zu hohen Eigenkapitalanforderungen und bedeutet für die Unternehmen die
Chance, bei ihrer Kreditaufnahme danach zu differenzieren, ob der Kredit für eine Expansion benötigt wird, zum
Beispiel für einen Grundstückskauf, oder ob der Kredit
für Investitionen in die Produktentwicklung oder in die
Dienstleistung gebraucht wird. Das hilft, Kredite zielund passgenauer aufzunehmen, und führt dazu, dass sich
Unternehmen besser entwickeln können.
Basel II sieht vor, dass Kredite an kleinere oder mittlere Unternehmen bis zu 1 Million Euro mit einem um
25 Prozent niedrigeren Risikogewicht belegt werden sollen. Das bedeutet für den Mittelstand, dass er bessere
Kreditbedingungen vorfindet, als das jetzt - nach Basel I der Fall ist. Wir als Abgeordnete kennen die vielen Berichte von Unternehmen aus unseren Wahlkreisen, die
darüber klagen, dass sie keinen Kredit mehr bekommen,
was von der Bank mit Basel II begründet werde. Das ist
erstens sachlich nicht richtig und zweitens wird sich das
ändern, wenn wir die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt haben, weil dann gerade die kleinen und mittleren Unternehmen bessere Bewertungen als bisher bekommen werden - sie werden, wie gesagt, mit einem um
25 Prozent niedrigeren Risikogewicht belegt - und Risiken stärker differenzieren können.
Insofern ist das Vorhaben ein Erfolg. Die Gefahren,
die damit einhergehen konnten, sind gebannt. Zu diesem
Erfolg haben wir als Deutscher Bundestag gemeinsam
beigetragen.
Durch die Neuregelung ändern sich auch die Anforderungen an die Banken. Wer Kunden berät, muss demnächst stärker auf die wirtschaftliche Situation des Unternehmens bzw. auf das Risikomanagement im
eigenen Unternehmen eingehen. Das bedeutet auch, dafür zu sorgen, dass Mittelständler mit dem Risikomanagement umgehen können, statt wertvolle Zeit zu verlieren und gute Ideen zu verschenken, weil sie sich mit
Aufgaben beschäftigen müssen, die letztlich dazu führen, dass sie keinen Kredit erhalten und ihr Unternehmen
nicht weiterentwickeln können.
Die Banken sind demnächst dazu verpflichtet, ihr Risikoprofil transparenter zu machen. Auch das wird dazu
führen, dass Banken verantwortungsvoller mit den bestehenden Risiken umgehen. Für die Genehmigung von
technischen Modellen durch die nationale Aufsicht vom
Ratingverfahren bis zur Umsetzung ist, was die Risikogewichtung in der Bank und im Unternehmen selber angeht, für grenzüberschreitend tätige Unternehmen eine
stärkere Zusammenarbeit der jeweiligen Finanzaufsichten notwendig. Ich denke, dass eine stärkere Notwendigkeit zur Zusammenarbeit unserer europäischen Finanzaufsicht in einem wachsenden Markt insgesamt nur gut
tun kann.
Eine stärkere Differenzierung bei Risiken der Kreditvergabe macht immun gegen konjunkturverstärkende
Effekte - insbesondere nach unten -, weil die Konjunkturabhängigkeit großer Unternehmen weitaus größer ist
als die von kleinen, aber auch, weil besser auf die Situation von Unternehmen eingegangen werden kann. Dadurch werden wir konjunkturunabhängig die Kreditsituation nicht nur für die großen Unternehmen, sondern
besonders für unsere kleinen und mittleren Unternehmen
verbessern, einfach weil wir besser auf Konjunkturschwankungen - auf die wir reagieren müssen, weil uns
der Weltmarkt dazu zwingt - eingehen können.
Insgesamt sind die vorliegenden Regelungen ein Erfolg. Die Bundesregierung hat von den verschiedenen
Wahlrechten Gebrauch gemacht, die wir als unsere nationalen Interessen ausüben können. Ich denke, uns liegt
ein gutes Paket vor, das sowohl den unterschiedlichen
Interessen unserer Kreditinstitute - der Sparkassen auf
der einen Seite und der Privatbanken auf der anderen gerecht wird als auch den Unternehmen entgegenkommt, die Kapital auf dem Finanzmarkt aufnehmen.
Das Gesetz wird insgesamt ein Erfolg werden. Ich bedanke mich für die gute Vorlage, mit der wir jetzt weiterarbeiten werden, damit sie zügig und erfolgreich umgesetzt werden kann.
Vielen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Frank Schäffler,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Basel-II-Umsetzung ist eine Herausforderung für die Unternehmen und die Kreditwirtschaft in
Deutschland. Mit der Novellierung des KWG vollziehen
wir den ersten Schritt der Umsetzung. Der zweite Schritt
mit der Anpassung der Solvabilitäts- sowie der Großund Millionenkreditverordnung wird in diesem Jahr folgen.
Basel II stellt einen Paradigmenwechsel bei der Beurteilung und Klassifizierung von Kreditrisiken für Banken dar. Wir begrüßen, dass sich damit die Eigenkapitalunterlegung der Banken an deren tatsächlichen
Kreditrisiken orientiert. Dies verhindert nationale, aber
vor allem auch internationale Wettbewerbsverzerrungen
auf den Kreditmärkten. Gerade als große Volkswirtschaft
müssen wir für freie Märkte mit gleichen Spielregeln
eintreten.
({0})
Ziel der Basel-II-Vereinbarung sind stabile Finanzmärkte. In Deutschland, aber nun auch mit zweijähriger
Verzögerung in den USA, führte die Diskussion über
Basel II zu heftigen Auseinandersetzungen. Beide Seiten, Europa und die USA, müssen jedoch ein großes Interesse an einer möglichst zeitgleichen Umsetzung haben.
Im deutschen Mittelstand gab es Befürchtungen,
dass sich Kredite nun verteuern würden, da ein höheres
Risiko des Kreditnehmers zu einer höheren Eigenkapitalanforderung führt. Dass nunmehr die Ausfallwahrscheinlichkeit bei Großunternehmen sowie bei kleinen
und mittleren Unternehmen untersucht wurde, begrüßen
wir. Das Ergebnis der Untersuchung ist gerade für kleine
und mittlere Unternehmen positiv; denn während die
Ausfälle bei Großunternehmen besonders stark in dem
Konjunkturverlauf entsprechenden Wellen auftreten,
sind kleine und mittlere Unternehmen diesem Teil des
Kreditrisikos weniger ausgesetzt. Voraussichtlich können die Eigenkapitalanforderungen an mittelständische
Unternehmen um 17 Prozent verringert werden.
Die FDP-Bundestagsfraktion ist dem Mittelstand wie
keine andere Fraktion hier im Haus verbunden.
({1})
Deshalb begrüßen wir im Einzelnen, dass Kredite bis
1 Million Euro wie Retail-Kredite behandelt werden
können. Banken können darüber hinaus für Unternehmen mit einem jährlichen Umsatz von weniger als
50 Millionen Euro ein Segment für kleine und mittlere
Unternehmen bilden. Auch dies führt zu einer Entlastung des Mittelstandes, da hier geringere Eigenkapitalanforderungen bestehen.
Unterm Strich wird die Kreditvergabe für den Mittelstand durch die geringere Eigenkapitalunterlegung der
Banken verbessert. Damit werden rund 90 Prozent aller
deutschen Unternehmen Nutznießer dieser Regelung
sein. Dennoch sind Bankkredite für die Finanzierung
von Unternehmen nur ein Baustein. Deshalb sollten wir
auch andere Formen der Kapitalbeschaffung von Unternehmen fördern. Wir sollten die Private-EquityBranche einladen, zu uns nach Deutschland zu kommen. Vergleiche von Investoren mit Tieren nutzen dem
Standort Deutschland dabei nicht.
({2})
Es passt nicht zusammen, wenn Sie von der SPD Investoren beschimpfen und dann den Einstieg eines PrivateEquity-Fonds bzw. eines Hedgefonds - je nachdem, wie
man das bezeichnen will - bei der Deutschen Telekom
einfädeln.
Unser Augenmerk gilt bei der Basel-II-Umsetzung
auch dem deutschen Bankensektor. Gerade gestern hat
der Chef der BaFin, Jochen Sanio, auf der Jahrespressekonferenz die schlechte Ertragslage der deutschen Banken dargestellt. Unter Renditegesichtspunkten haben die
deutschen Banken weiterhin die rote Laterne. Wichtig
ist, dass der Gesetzgeber den Wettbewerb in der deutschen Kreditwirtschaft nicht verzerrt. Bei der Basel-IIUmsetzung stellt sich das Problem der Nullgewichtung
von Intergruppenforderungen. Die FDP hat dazu eine
Kleine Anfrage hier im Parlament gestellt.
({3})
- Das meinen Sie. - Die Bundesregierung hat in ihrer
Antwort leider kein Problembewusstsein gezeigt.
Es ist nun Aufgabe der BaFin, zu prüfen, ob die Haftungsverbünde, in Deutschland insbesondere die Sparkassen und die Landesbanken, die Voraussetzungen für
eine Nullgewichtung von Intergruppenforderungen erfüllen. Ich erwarte von der BaFin eine unvoreingenommene Prüfung. Es darf keine Vorabzusagen geben. Immerhin wird in diesem Bereich ein Volumen von
8 Milliarden Euro bewegt.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Leo Dautzenberg,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der
heute zur ersten Lesung anstehenden Umsetzung der neu
gefassten Bankenrichtlinie und der neu gefassten Kapitaladäquanzrichtlinie beraten wir über den Abschluss eines Prozesses, den wir alle besser unter dem Stichwort
„Basel II“ kennen. Basel II wird den Basel-I-Akkord aus
dem Jahre 1988 ablösen. Eine zentrale Neuerung von
Basel II besteht darin, dass die Risiken einer Bank bei
der Kreditvergabe und der damit verbundenen Bemessung ihrer Eigenkapitalausstattung und -unterlegung genauer und differenzierter berücksichtigt werden. Das
heißt, künftig muss nicht mehr wie bisher jeder Kredit
pauschal mit einer Eigenkapitalquote von 8 Prozent der
Aktiva unterlegt werden.
Zeitgleich beraten die amerikanischen Parlamentarier
erst die Auswirkungen von Basel II, wohingegen wir uns
in diesen Prozess schon viel früher eingeschaltet haben.
Wir werden deshalb das Einführungsdatum einhalten
können, was immer unser Ziel war. Wir haben unsere
Hausaufgaben gemacht und erreichen mit dem nunmehr
vorliegenden Umsetzungsgesetz die Zielgerade von
Basel II. Mit den heute beginnenden Beratungen stellen
wir sicher, dass Basel II rechtzeitig und mit genügend
Vorlauf zum 1. Januar 2007, dem von Europa vorgesehenen Einführungsdatum, verabschiedet werden wird. Dadurch erhält die Kreditwirtschaft die Zeit, die sie für die
Implementierung braucht.
Dass der Basel-II-Prozess in Deutschland so weit und
positiv fortgeschritten ist, ist das Ergebnis jahrelanger
konsequenter und hartnäckiger Arbeit auf internationaler, europäischer und schließlich nationaler Ebene. Dabei waren mit Basel II auch und gerade bei uns in
Deutschland anfänglich viele Sorgen und Ängste verbunden. Der Mittelstand befürchtete, dass Kredite unbezahlbar würden oder überhaupt nicht mehr an eine bestimmte Klientel vergeben würden. Die Kreditwirtschaft
sorgte sich wegen des hohen administrativen Aufwands
und gravierender Kosten.
Dass die Implementierung von Basel II Geld kostet
und aufwendig ist, ist auch heute noch unbestritten. Bezüglich der anderen Sorgen, die in den vergangenen
Jahren mit Basel II verbunden waren, vor allem hinsichtlich der befürchteten Finanzierungslücken im Mittelstand, können wir mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf Entwarnung geben. Vielmehr ist es an der Zeit,
die positiven Aspekte von Basel II deutlich zu machen:
Erstens. Basel II trägt zu einer größeren Stabilität im
Bankensektor weltweit bei. Zweitens. Basel II wirkt
konjunkturellen Übertreibungen bei der Kreditvergabe
entgegen und stabilisiert somit die Kreditverfügbarkeit
in allen Stadien des Wirtschaftszyklus. Drittens. Basel II
ist in seiner aktuellen Fassung mittelstandsfreundlich, da
Mittelstandskredite besonders behandelt werden. Viertens. Basel II führt mittelfristig gerade bei den kleinen
Kreditinstituten zu erheblichen Entlastungen bei den
Aufwendungen von und für Eigenkapital.
Diese positiven Aspekte von Basel II waren, wie wir
alle wissen, keinesfalls von Anfang an absehbar. Sie sind
vielmehr das Ergebnis eines langen Verhandlungsprozesses, der bereits vor sieben Jahren begann. Erlauben
Sie mir einen kurzen Blick zurück auf diesen Prozess,
der sehr deutlich macht, dass wir den heutigen Gesetzentwurf zu Basel II als einen Erfolg für den Finanzstandort Deutschland bezeichnen können. Sein erstes Konsultationspapier zu Basel II veröffentlichte der Baseler
Ausschuss im Jahre 1999. Vor Augen hatte der Ausschuss damals dabei vor allem die 1997er-Finanzkrise in
Südostasien, als einige größere Banken kollabierten,
nachdem sich riskante und leichtfertig vergebene Kredite als Totalausfälle erwiesen hatten. Mit neuen Eigenkapitalregeln, welche die Risiken besser erfassen und die
die Eigenkapitalvorsorge der Kreditinstitute risikogerechter ausgestalten, sollte, so die Intention des Baseler
Ausschusses, Krisen wie in Asien besser vorgebeugt
werden. Insgesamt sollte die Stabilität in der internationalen Finanzstruktur verbessert werden. Vor diesem Hintergrund war Basel von Anfang an ein internationales
Projekt.
Der Deutsche Bundestag hat die Zielsetzung des Baseler Ausschusses, mehr Stabilität in der internationalen
Finanzstruktur zu schaffen, von Beginn an fraktionsübergreifend unterstützt. Fraktionsübergreifend waren
wir uns von Beginn an auch einig, dass die zunächst vom
Baseler Ausschuss vorgeschlagene Umsetzung nicht
sachgerecht war und eine Gefährdung der gewachsenen
Finanzstrukturen insbesondere in Deutschland bedeutet
hätte. Diese fraktionsübergreifende Einigkeit sowie unser sehr frühzeitiges gemeinsames Engagement in dem
zunächst internationalen, später europäischen Prozess
haben - da bin ich sicher - wesentlich zu positiven Ergebnissen bei Basel II beigetragen.
Bereits im Juni 2000 haben alle Fraktionen gemeinsam einen Entschließungsantrag zu Basel II eingebracht,
in dem wir Folgendes deutlich gemacht haben: Erstens.
Die gewachsenen Finanzstrukturen in Deutschland müssen im Basel-II-Prozess berücksichtigt werden.
Zweitens. Basel II darf nicht zu einer unangemessenen Verteuerung der Finanzierungskonditionen des Mittelstands führen. Drittens. Der regulierungsbedingte
Mehraufwand soll für alle beteiligten Kreditnehmer und
für die Institute so gering wie möglich gehalten und so
einfach wie möglich gestaltet werden.
Die deutsche Verhandlungsführung hat diese Forderungen in die internationalen Gremien eingebracht und
sie hat - wenn auch nach anfänglichem Zögern bei den
Verhandlungsführern; das muss in Erinnerung gerufen
werden - hart verhandelt. Zugute kam ihr dabei, dass sie
stets auf eine breite Rückendeckung hier im Parlament
verweisen konnte. So hat der Baseler Ausschuss dank
der deutschen Einbringung im Juli 2002 diverse Elemente beschlossen, die vor allem, wie schon betont, für
den Mittelstand von großer und vor allen Dingen positiver Bedeutung sind.
Beispielhaft möchte ich hier nur die Einführung eines
einfachen, auf bankinternen Ratings gestützten Standardansatzes anführen ebenso wie die so genannten
Retail-Portfolios. Hinter diesen Portfolios verbergen
sich Kredite an kleine und mittlere Firmenkunden mit einem Gesamtvolumen von weniger als 1 Million Euro.
Diese Kredite können nunmehr von dem Kreditinstitut in
einem Portfolio zusammengefasst und mit einer geringeren Eigenkapitalsumme als bisher unterlegt werden. Wie
schon mehrmals betont worden ist, dürften davon in
Deutschland rund 90 Prozent aller Kreditforderungen an
mittelständische Unternehmen profitieren.
Darüber hinaus wurden - wiederum zugunsten des
Mittelstands - die Methoden zur Minderung des
Kreditrisikos erweitert. So werden nunmehr auch ganz
spezifische und mittelstandstypische Sicherheiten anerkannt, beispielsweise Sicherungsübereignung und Abtretung von Forderungen aus Lieferungen und Leistungen. Das war zuvor so nicht der Fall.
Der Bundestag hat Basel II nicht nur auf internationaler Ebene begleitet, sondern er hat auch - das war für uns
besonders wichtig - die europäische Umsetzung aktiv
flankiert. Dabei hat uns auch das große Engagement unserer Kollegen im Europäischen Parlament geholfen, die
sich für eine möglichst schlanke Richtlinie und diverse
Wahlrechte stark gemacht haben.
Seit Februar dieses Jahres liegt nun die nationale Umsetzung von Basel II in Form des heute zur ersten
Lesung anstehenden Gesetzentwurfs vor. Neben Änderungen im Kreditwesengesetz sind zudem zwei Verordnungen notwendig, welche die technischen Details von
Basel II umsetzen.
Der Gesetzentwurf - das ist eine für mich sehr wichtige Botschaft in dieser ersten Lesung - setzt die EURichtlinien zu Basel II, wie wir es im Koalitionsvertrag
vorgesehen haben, im Grundsatz eins zu eins um. Wir
satteln keine neuen oder weiter gehende Regeln und Regulierungen auf die EU-Richtlinie drauf
({0})
und sorgen damit für gleiche Wettbewerbsbedingungen
wie in den anderen EU-Mitgliedstaaten.
Ebenso - das ist genauso wichtig - kommt der Gesetzentwurf einem zweiten Auftrag des Koalitionsvertrages nach: Er nutzt die von der EU eröffneten Wahlrechte zugunsten des deutschen Standorts. Beispielhaft
seien hier die Wahlrechte angeführt, die der besonderen
deutschen Drei-Säulen-Bankenstruktur Rechnung tragen
und bei Haftungsverbünden unter ganz bestimmten Voraussetzungen eine Nullgewichtung von Intergruppenforderungen vorsehen.
Sie sehen, dass wir dies konsequent umgesetzt haben.
Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf ist sicherlich noch
nicht in sämtlichen technischen und redaktionellen Einzelheiten perfekt. Die nun anstehenden Beratungen werden wir dazu nutzen, auch diese Details zu klären. Im
Grundsatz lässt sich aber glücklicherweise schon heute
sagen: Die kontinuierliche Arbeit bei Basel II, auch die
parlamentarische, hat sich für Deutschland gelohnt.
Vielen Dank.
({1})
Der Kollege Axel Troost, Fraktion Die Linke, hat
seine Rede zu Protokoll gegeben.1)
Als Letzter spricht in dieser Debatte Dr. Gerhard
Schick, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ge-
schichte der Verhandlungen über Basel II zeigt sehr
deutlich, welch immense Bedeutung die Bankenregulie-
rung für die wirtschaftliche Entwicklung hat. Ein wichti-
ger Impuls für die Verhandlungen in Basel war die
Asienkrise. Man hat gesehen, dass eine schwache Ban-
kenregulierung dramatische Auswirkungen für die Real-
wirtschaft haben kann, die sich weit über das jeweilige
Land hinaus erstrecken können. Die Umsetzung in einer
internationalen Vereinbarung ist deswegen richtig. Da-
rüber hinaus haben wir in dem Diskussionsprozess zu
Basel II gemerkt, dass es dann, wenn an ein paar Stellen
zu rigoros, zu dogmatisch geschraubt wird, große Pro-
bleme für die Finanzierung der Unternehmen geben
kann. Deswegen die große Diskussion: Was tut Basel II
für den Mittelstand?
Wenn wir uns heute anschauen, was vorliegt, wie also
die Vorschläge der Koalition zur Umsetzung der Ban-
kenrichtlinie und der Kapitaladäquanzrichtlinie sind,
können wir vom Bündnis 90/Die Grünen sagen, dass wir
da mitgehen können; wir haben das auch bisher schon
zusammen getragen.
Wir finden es richtig, dass zum 1. Januar 2007 mit der
zweistufigen Umsetzung begonnen wird, obwohl in den
USA nicht gleichgezogen wird. In Deutschland haben
sich schon alle, die Banken, aber auch die Unternehmen,
darauf eingestellt. Von daher wäre es falsch, jetzt einen
Rückzieher zu machen.
Wir sind mit der Mittelstandskomponente sehr zufrie-
den. Wir von der rot-grünen Seite haben uns schon in der
letzten und der vorletzten Legislaturperiode sehr dafür
eingesetzt, dass eine starke Mittelstandskomponente hi-
neinkommt. Erlauben Sie mir an der Stelle eine Bemer-
1) Anlage 2
kung: Dieses Pachten des Eintretens für die kleinen und
mittleren Unternehmen durch eine Partei ist da wenig
hilfreich. Es ist gut, dass wir gemeinsam daran arbeiten.
Auch auf die Grünen kann der deutsche Mittelstand,
können die kleinen und mittleren Unternehmen auf jeden
Fall zählen. Das haben wir gerade bei dem Thema gezeigt.
({0})
Die Details zu der Frage, in welchen Bereichen der
Mittelstand in den Verhandlungen gestärkt worden ist,
sind schon genannt worden; darauf will ich jetzt nicht
noch einmal eingehen. Wir können im Endeffekt sagen,
dass es wirklich gelungen ist, das einzulösen, was der
Verhandlungsführer Sanio gesagt hat: In Basel gilt es,
ein Zeichen für den deutschen Mittelstand zu setzen.
Ich will noch auf zwei, drei Aspekte eingehen, die in
der bisherigen Debatte noch nicht genannt worden sind.
Neben den Mindestkapitalanforderungen, der einen
Säule, die im Zentrum der Diskussion stand, geht es natürlich auch darum, dass wir die Bankenaufsicht hinsichtlich des Risikomanagements insgesamt deutlich
modernisieren und effektiver machen. Wir mussten
Druck ausüben, damit überall im Bankensystem ein modernes Risikomanagement Einzug hält. Außerdem geht
es mit neuen Offenlegungspflichten und neuen Handlungsmöglichkeiten für die BaFin ein Stück voran auf
dem Weg zu einer guten Bankenaufsicht.
Wenn wir jetzt in die Beratungen gehen, wird das
Thema Intergruppenforderungen eine Rolle spielen. Von
unserer Seite aus werden auch die Themen Datenschutz
und Verbraucherschutz eingebracht werden. Es geht
um Fragen wie: Wie werden die Daten übermittelt? Gibt
es im Hinblick auf das Scoring - das durch Basel II nicht
neu eingeführt wird, aber dadurch eine größere Bedeutung erhält - eine Möglichkeit, Auskunft über das eigene
Scoring zu erhalten? Gibt es die Möglichkeit, da noch
einmal nachzufragen, damit das nicht nur ein Automatismus ist?
Ich möchte zum Schluss noch sagen: Wenn man sich
den Gang der Verhandlungen anschaut, erkennt man,
dass es sich lohnt, wenn wir uns frühzeitig bei internationalen Verhandlungen einklinken.
({1})
So konnten wir als Parlament für die deutsche Wirtschaft, für die typischen deutschen Strukturen - jedes
Wirtschaftssystem ist ein bisschen anders strukturiert auch international wirklich etwas herausholen. Diese positive Erfahrung sollten wir uns für die nächsten Projekte
merken, zumal wir bei Solvency II das Ganze für die
Versicherungswirtschaft noch einmal in ähnlicher Weise
durchdeklinieren werden.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/1335 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Ausschuss
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut
Königshaus, Dr. Karl Addicks, Christian
Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Aus dem Peer-Review der OECD lernen - die
Empfehlungen zur Umgestaltung der Entwicklungszusammenarbeit umsetzen
- Drucksache 16/963 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Erster Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Hellmut Königshaus, FDP.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Bundesregierung hat einen Peer-Review erhalten. Das
bedeutet, dass die Wirksamkeit ihrer Politik in einem
Teilbereich, in diesem Fall der Entwicklungszusammenarbeit, von der OECD untersucht und bewertet wurde.
Sie, Frau Ministerin, haben dies für die Bundesregierung
als ein nachdrückliches Lob empfunden und so dargestellt. Es ist zu befürchten, dass Sie das auch wirklich
glauben. Davon kann aus unserer Sicht aber keine Rede
sein.
Gelobt wurde einiges; das ist wahr; das wollen wir
auch einräumen. Aber es waren Teile dabei, die wir jedenfalls nicht für richtig halten.
Es ging zum Beispiel darum, dass ein eigenes Ministerium existiere. Das hat, neben einigen Vorteilen, vor
allem Nachteile. Das Nebeneinander mehrerer Ämter
und Ministerien hat notwendigerweise Reibungsverluste
und Kompetenzgerangel zur Folge. Das können wir auch
hier in einigen Bereichen beobachten. Damit stellt es eigentlich eher, anders als Sie es darlegen, einen Teil des
Problems dar, das der Peer-Review im Weiteren übrigens
heftig kritisiert, und nicht einen Teil der Lösung.
Auch die Fokussierung auf die so genannte ODAQuote, die der Peer-Review in der Tat behandelt, ist
nach unserer Überzeugung falsch; denn sie macht den
Mittelabfluss, das heißt das Geldausgeben an sich, zum
Erfolgskriterium und animiert damit letztlich zum Geldverschwenden. Es geht doch wohl weniger darum, dass
wir Geld ausgeben, dass wir Mittel abfließen lassen, sondern vielmehr darum, dass bei den Partnerländern möglichst viel und natürlich vor allem Nutzbringendes ankommt.
({0})
Nicht die Quantität, sondern vor allem die Qualität muss
stimmen. Darüber sagen Quoten gar nichts.
({1})
Aber ich will mich hier vor allem auf diejenigen Vorschläge der OECD konzentrieren, Herr Kollege, die uns
wirklich weiterführen. Da will ich nicht verhehlen, dass
auch wir Liberalen nicht alle Kritikpunkte des PeerReview teilen. Es gibt in dem Bericht aber doch sehr berechtigte Kritik, und das nicht zu knapp. Diese Punkte
will ich hier einmal kurz zusammenfassen.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sei, so
die OECD, zersplittert, nicht kohärent und oftmals nicht
an den Bedürfnissen der Empfängerländer orientiert.
Schlimmer noch: In Teilen sei sie ineffektiv. Vernichtender, meine Damen und Herren, kann das Urteil über eine
Politik, bei der so viel Geld umgesetzt wird, so viel Steuergelder eingesetzt werden, eigentlich nicht ausfallen.
Sie fragen natürlich, wenn wir das so nachdrücklich
kritisieren, was wir, die Liberalen, denn vorschlagen.
({2})
Wir müssen - das ist unsere Antwort - zunächst einmal
die Entwicklungszusammenarbeit auf ihre Zielgenauigkeit und Effizienz hin überprüfen. Das heißt konkret, wir
müssen vor allem das Verhältnis zwischen technischer
Zusammenarbeit und finanzieller Zusammenarbeit überprüfen, mit dem Ziel, die unnötige, teure, lähmende Bürokratie zu verringern.
({3})
Wir müssen die Hilfe besser bündeln, auf weniger
Partnerländer fokussieren. Dabei müssen die Kriterien
Good Governance, Reformbereitschaft und Kooperationswilligkeit, aber auch Bedürftigkeit im Vordergrund
stehen.
Außerdem müssen wir das Ankerländerkonzept zumindest in seiner gegenwärtigen Ausprägung aufgeben.
Das bedeutet nicht Rückzug, sondern verstärkte Mobilisierung von finanziellen Eigenmitteln der Empfängerländer. Wir waren gerade in China und haben die starke
Wirtschaftskraft besonders in den Küstenstädten erlebt.
Was wir dort gesehen haben, waren keine potemkinschen Dörfer, meine Damen und Herren. China ist kein
Disneyland. Die Hochhäuser in Schanghai, Hongkong
und den anderen Küstenstädten drücken echte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aus. Diese müssen wir aktivieren; wir müssen sie den Chinesen abverlangen. Das
zu leisten sind die Chinesen auch bereit. Für die anderen
Schwellenländer gilt nichts anderes.
({4})
Wir müssen die bisherige Praxis der Schuldenerlasse
überprüfen. Es muss sichergestellt sein, dass, wenn wir
einen Schuldenerlass in Betracht ziehen, die Mittel dann
tatsächlich in geeignete Kanäle fließen, dass sie wirklich
für die weitere Entwicklung eingesetzt werden. Wir dürfen nicht ungeeigneten Partnern, die anschließend innerhalb kürzester Zeit wieder neue Schulden in ungeahnter
Höhe aufbauen, Zusagen machen. Ein Schuldenerlass,
weil die Länder dann, ohne Cash zu haben, die ODAQuote auffüllen können, ist einfach Unfug.
({5})
Nicht zuletzt - Frau Präsidentin, ich komme zum
Schluss - müssen wir das Verhältnis zwischen bilateraler und multilateraler Zusammenarbeit überprüfen.
Die Probleme mit dem Europäischen Entwicklungsfonds, auch durch mangelnde parlamentarische Kontrolle, haben wir hier schon mehrfach erörtert. Ich will
das hier aber nicht weiter vertiefen.
Wir müssen all diese Punkte in Betracht ziehen. Der
OECD-Bericht gibt uns an einigen Stellen wertvolle
Hinweise. Wir sollten - damit haben wir schon begonnen - weiter intensiv darüber reden. Die Liberalen sind
dazu bereit, um die Ziele, die wir teilen, zu erreichen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Ruck,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch ich glaube, dass der DAC-Peer-Review
eine gute Einrichtung ist. Wenn uns Kollegen aus befreundeten Ländern ein wenig auf die Finger schauen,
befreit uns das von der Nabelschau, die wir oft betreiben.
Ich danke daher den französischen, kanadischen und den
holländischen Kollegen herzlich.
Der DAC-Peer-Review fällt in eine Zeit, in der die
Probleme der Entwicklungsländer auch zunehmend unsere eigenen Probleme werden und in der die Entwicklungszusammenarbeit und die Entwicklungspolitik unter
Erfolgsdruck und auch Legitimationsdruck stehen. Wir
Entwicklungspolitiker sind schon von Natur aus selbstkritisch und nehmen deshalb die Ratschläge im DACPeer-Review dankend zur Kenntnis. In dem PeerReview ist auch viel Lob für unsere Entwicklungspolitik
enthalten.
An die Adresse meines Vorredners gerichtet muss ich
sagen: Die Eigenständigkeit des BMZ war schon in der
letzten Legislaturperiode ein Streitpunkt zwischen uns.
Wir sind der Meinung, dass wir eine stärkere Stellung
des BMZ brauchen und dass die Entwicklungspolitik im
Kabinett vertreten sein muss. Dabei bleibt es.
({0})
Ein weiterer Punkt. Es wurde ausdrücklich die hohe
Qualität unserer Entwicklungsinstitutionen in diesem
Bericht erwähnt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang
an die Diskussion mit Herrn Manning und auch an die
hohe Qualität der GTZ beispielsweise im Bereich des
Capacity-Buildings, also im Bereich des Aufbaus, der
Staatsverwaltung, der Forschung und anderen Punkten.
Auch in Bezug auf die ODA-Quote ist das Lob im
DAC-Peer-Review gerechtfertigt. Wir haben unser Wort
gegeben und werden es auch einhalten, dass wir diese
Quote erfüllen.
Sie haben natürlich Recht: Bei einer modern aufgestellten Entwicklungsarbeit geht es vor allem um die
Verbesserung der Qualität. Aber bei den gigantischen
Aufgaben, die nach unserer Meinung die Entwicklungspolitik erfüllen muss, geht es natürlich auch um Quantität. Deswegen ist die Koordination zwischen Verbesserung und Erhöhung des Potenzials der
Entwicklungspolitik richtig. Diese Position vertreten
beide Koalitionspartner.
({1})
Wir nehmen natürlich auch die Mahnungen ernst.
Herr Königshaus, die Mahnungen decken sich mit dem,
was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Ich
kann Ihnen die einzelnen Punkte Schritt für Schritt herunterbeten. Im Koalitionsvertrag sind die Ausrichtung
der strategischen Entwicklungspolitik, die Erhöhung der
Effizienz und auch die Reform der Durchführungsorganisationen enthalten. Auch wir sind trotz des guten Rufes, den unsere Organisationen haben, der Meinung, dass
die Notwendigkeit zur Verbesserung, zur Erhöhung der
Effizienz, zur Straffung und zur Hebung von Synergien
besteht. Auch das steht im Koalitionsvertrag. Also keine
Aufregung!
({2})
Ich bin dafür, dass wir diesen Weg gehen, dass wir
das Gutachten einer hervorragenden Institution abwarten
und dass wir diesen Prozess transparent gestalten und
ohne Tricks im Parlament begleiten. Darauf legen auch
wir Wert. Dann können wir erneut diskutieren, ob die gemachten Vorschläge sinnvoll sind.
Ich möchte, dass wir in diesem Zusammenhang auch
an das BMZ und nicht nur an die Durchführungsorganisationen denken. Das gesamte System der entwicklungspolitischen Instrumente muss auf den Prüfstand. Ich
glaube, dass das ein wichtiger Punkt ist.
({3})
Was wird im Peer-Review noch angemahnt? Die Ausrichtung auf die Millennium-Development-Ziele - auch
dies steht im Koalitionsvertrag. Die Steigerung der
Kohärenz und die Konzentration auf sowohl sektorale
als auch regionale Schwerpunkte haben wir ebenso im
Koalitionsvertrag festgehalten. Ich gebe zu: Der Bericht
wurde natürlich im Wesentlichen vor den Koalitionsverhandlungen geschrieben. Aber auch diese Punkte haben
wir abgehakt.
Wir müssen eine ganz sorgfältige Diskussion darüber
führen, wer in Zukunft unsere Schwerpunktpartnerländer sein sollen. Dies muss unter dem Gesichtspunkt
erfolgen, in welchem Land wir am meisten bewegen
können und müssen und wie wir am meisten erreichen.
Auch das ist eine Diskussion, der wir uns laut Koalitionsvertrag stellen müssen.
Genauso halten wir für ganz entscheidend: Es geht
nicht nur um die nationale Arbeitsteilung, sondern vor
allem auch - das ist ebenso ein ganz wichtiger Punkt in
unserem Koalitionsvertrag - um eine Verbesserung der
internationalen Arbeitsteilung, die auch Good Governance einfordert. Gerade das, was Manning angesprochen hat, Good Governance, ist ein schwarz-roter Faden,
der sich durch den Koalitionsvertrag zieht.
({4})
Auch in diesem Punkt ist der Peer-Review abgehakt.
({5})
Nun zur Frage der Entschuldung. Ich gebe Ihnen
vollkommen Recht: Die Entschuldung darf kein Trick
werden, der es erlaubt, die ODA-Quote zu erhöhen. Ich
kann mich gut an meine eigenen Worte erinnern - ich
lasse mich auch gerne daran erinnern -, was den Irak anbelangt. Wir sind der Meinung - wir haben im Obleutegespräch eine Anhörung zu diesem Thema vereinbart;
sie ist schon terminiert -, dass wir eine Entschuldung
wollen, die nicht dazu führt, dass die Katze wieder auf
die alten Füße fällt, sondern die wirklich zu einem Entwicklungsschritt führt. Das müssen wir natürlich sicherstellen. Da geht es um Konditionalität. Wir müssen
gemeinsam dafür sorgen, dass unsere Entschuldungsprogramme zu besseren Ergebnissen führen als bisher.
Auch die bilateralen und multilateralen Instrumente - dies steht ebenso im Koalitionsvertrag - wollen
wir angehen. Nur, wir haben in den Haushaltsverhandlungen gesehen: Wenn wir damit ernst machen, dann
geht es ans Eingemachte. Dies muss man dann trotz Zähneknirschen und Wehklagen der Betroffenen durchsetzen. Irgendeine Gruppe ist immer betroffen. Ich bitte in
diesem Zusammenhang um Tapferkeit und Mut auch seitens der FDP.
Ein wichtiger Punkt ist natürlich die Diskussion um
Schwellenländer und Ankerländer. Das ist ein entscheidender Punkt, der auch in unserer eigenen Fraktion
eine Rolle spielt. Ich glaube, dass wir diese Diskussion
vor dem Hintergrund folgender Fragen führen müssen:
Was ist für uns eine moderne Politik der Zusammenarbeit und Entwicklung? Ist es überhaupt möglich, ganze
Erdteile, die eine rasante Entwicklung durchmachen,
auszuklammern? Ist es nicht so, dass China durch seine
Entwicklung und die gigantische Auseinanderentwicklung ganzer Landesteile in einen bedrohlichen Zustand
versetzt werde könnte, der zu schweren Rückschlägen
mit ungeahnten Folgen auch für unser eigenes Land führen könnte? Müssen wir nicht auch auf unsere Partner,
zum Beispiel auf die Kirchen, hören, die sagen, dass es
für sie weiterhin eine Verpflichtung ist, sich um die Armen in China und in Indien zu kümmern? Das alles sind
Dinge, die wir gut überlegen und über die wir diskutieren sollten. Da komme ich zu anderen Schlüssen als Sie
von der FDP.
Ich möchte diesen Bericht - das sage ich ganz ehrlich nicht wie eine Monstranz vor mir hertragen. In der Diskussion mit Manning haben wir Widersprüche festgestellt. Wir haben gesagt, dass wir in einigen Punkten
nicht einer Meinung mit ihm sind. Aber wir nehmen den
Bericht ernst. Wir sagen: Wir haben schon im Koalitionsvertrag die entsprechenden Weichen gestellt. Diese
werden wir jetzt abarbeiten.
Insofern kann ich nur sagen: Der Antrag der FDP ist
überflüssig. Ihm können wir deswegen nicht zustimmen.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Hüseyin Aydin,
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die FDP fordert in ihrem Antrag mehr Zielgenauigkeit und Effektivität in der deutschen Entwicklungshilfe.
({0})
- Wer würde dem widersprechen? Sie haben Recht. Niemand ist gegen mehr Effizienz.
Sie wollen jedoch den Eindruck vermitteln, als behindere allein die mangelnde Effizienz die Umsetzung der
Millenniumsentwicklungsziele. Das ist Unsinn. Die Millenniumsentwicklungsziele sehen die Halbierung der
Zahl der weltweit Hungernden und extrem Armen bis
zum Jahr 2015 vor. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen
zunächst einmal mehr finanzielle Mittel bereitgestellt
werden. Dazu sagt die FDP aber keinen Ton.
Die Bundesregierung hat sich im Rahmen der EU auf
einen Stufenplan zur Erhöhung der Entwicklungshilfe
auf 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis 2015 verpflichtet. Die Bundesregierung behauptet heute, der erste
Schritt sei getan. Mit 0,35 Prozent sei das Etappenziel in
diesem Jahr sogar übertroffen worden. Das ist Augenwischerei.
({1})
Kollege Raabe, in Wirklichkeit wurde diese scheinbare
Erhöhung nur dadurch erreicht, dass dem Irak und Nigeria Schulden erlassen wurden. Darauf hat Herr Ruck hingewiesen.
({2})
Dieser Erlass wurde auf die öffentlich geleistete Entwicklungshilfe angerechnet.
Die OECD hat festgestellt, dass die deutsche Entwicklungshilfe, bereinigt um die Mittel des Schuldenerlasses und der Wechselkurseinflüsse, zwischen 2004 und
2005 um fast 10 Prozent abgenommen hat. Ich wiederhole: minus 10 Prozent. Das ist nicht meine Berechnung.
Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Wir von der
Linksfraktion sind für die umfassende Entschuldung von
Drittweltländern.
({3})
Viele afrikanische Staaten werden von einer Schuldenlast erdrückt. Entschuldung ist die Voraussetzung für
Entwicklung.
({4})
Kollege Raabe, nehmen wir das Beispiel Mosambik.
Der deutliche Anstieg der Einschulungsrate in Mosambik steht in einem engen Zusammenhang mit der Entschuldung des Landes.
({5})
Doch ohne den Bau neuer Schulen, ohne Mittel für die
Ausbildung von Lehrern wird die Entschuldung nicht
greifen. Entschuldung kann die Bereitstellung echter, frischer Mittel in der Entwicklungszusammenarbeit nicht
ersetzen.
Bundesministerin Wieczorek-Zeul hat offenbar vergessen, dass sie diesem Punkt bis vor kurzem zustimmte.
Im März 2002 hat sich die Bundesregierung im mexikanischen Monterrey darauf eingelassen, Schuldenerlasse
nicht auf die ODA-Quote anzurechnen.
({6})
Leider hält sich die Bundesregierung heute nicht mehr
daran. Sie erklärt das sogar zu einem großen Fortschritt
auf dem Weg zur Erfüllung der gesteckten Entwicklungsziele. Frau Ministerin, ich frage Sie: Ist das der
Preis, den Sie für die große Koalition zahlen müssen?
Der OECD-Bericht kritisiert den mangelnden strategischen Ansatz der deutschen Entwicklungspolitik. Es
geht um die Effektivierung der Armutsbekämpfung. Es
gibt einzelne Länder, vor allem in der Sahelzone, wo die
deutsche Entwicklungszusammenarbeit durch ein umfassendes und zusammenhängendes Konzept zur Armutsbekämpfung überzeugt. Die Frauen und Männer
von der GTZ leisten in einem Land wie Burkina Faso
hervorragende Arbeit. Dort trägt das Programm „Landwirtschaftliche Entwicklung“ zur Sicherung der Ernährungsgrundlagen bei. Hier werden die Folgen der Armut,
die eine unsoziale und ungerechte Weltwirtschaftsordnung immer von neuem erzeugt, unmittelbar bekämpft.
Ich empfinde es als angebracht, an dieser Stelle - ich
hoffe, ich spreche im Namen aller Abgeordneten im
Deutschen Bundestag - den Entwicklungshelfern für ihren Einsatz Anerkennung und Dank auszusprechen.
({7})
Leider ist die deutsche Entwicklungspolitik in ihrer
Gesamtheit aber alles andere als optimal aufgestellt. Der
Anteil der armutsrelevanten Kernbereiche Bildung, Gesundheit und Wasserversorgung betrug 2005 zusammengenommen deutlich weniger als 25 Prozent der Mittel
für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit.
Die FDP kommt mit ihrem Antrag kritisch daher. Sie
fordert die Überprüfung des Verhältnisses „zwischen
technischer und finanzieller Zusammenarbeit“ um „belastende ... Bürokratie zu verringern“. Wer ist schon für
belastende Bürokratie? Selbst die Linke nicht. Wenn die
FDP die Verschlankung des Staates fordert, dann ist der
Stellenabbau nicht weit.
({8})
Wir sagen: Effizient ist das, was den Armen in der Dritten Welt hilft. Wenn eine Fusion von technischer und finanzieller Zusammenarbeit in der deutschen Entwicklungshilfe dem Kampf gegen Hunger, dem Kampf gegen
Aids und dem Bau neuer Abwassersysteme dient, dann
unterstützen wir das.
Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Ich komme zum letzten Absatz.
Der OECD-Bericht merkt kritisch an, Deutschland
möge über Möglichkeiten zur Freisetzung zusätzlicher
öffentlicher Haushaltsmittel für die Entwicklungsarbeit
nachdenken, sprich: nicht nur auf dem Papier, sondern
real die Entwicklungshilfe steigern.
Herr Kollege!
Doch diese Kritik hat die FDP in ihrem Antrag gern
übersehen. Zu einem Antrag, der von Effektivität redet,
aber Abbau der Entwicklungshilfe meint, können wir
nur Nein sagen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Sascha Raabe, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen!
Deutschland verdient Anerkennung für sein Engagement in einer Reihe von Bereichen, die von anderen Gebern eher weniger finanziell unterstützt
werden …
Dieser Satz stammt nicht von mir, sondern er ist ein Zitat
aus eben jenem DAC-Prüfbericht, von dem die Opposition meint, er sei so schlecht ausgefallen. Sie tut sich nun
erkennbar schwer damit, zu begründen, warum das, was
eigentlich gut ist, schlecht sein soll. Diese von mir zitierte Stelle ist nur eine von vielen, an denen der Bericht
die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ausdrücklich
lobt.
({0})
In weiten Teilen fällt der Bericht überaus positiv aus
und erkennt an, dass „die Bundesregierung beträchtliche
Fortschritte bei der Anpassung ihrer Politiken und Ansätze erzielt“. Ich jedenfalls fühle mich durch den Bericht ermutigt und bin durchaus stolz auf das, was deutsche Entwicklungszusammenarbeit in den letzten Jahren
für die Menschen in der ganzen Welt geleistet hat. Denn,
meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihnen
muss bewusst sein, wenn Sie in Ihrem Antrag und, Herr
Königshaus, in Ihren Redebeiträgen davon sprechen,
dass das eine vernichtende Kritik an der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sei, dass das nicht zuletzt
eben jene vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
vor Ort trifft, die sich unter schwierigsten Bedingungen
für die ärmsten Menschen auf dieser Welt einsetzen. Wir
werden nicht zulassen, dass Sie denen vors Schienbein
treten.
({1})
Es ist nicht so, dass wir für konstruktive Kritik nicht
offen wären. Der DAC-Bericht liefert sicher sinnvolle
Hinweise, in welchen Punkten wir unsere Bemühungen
noch forcieren müssen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Königshaus?
Es gibt zwar Dinge, die mehr Vergnügen bereiten,
aber gerne.
({0})
- Sie können gerne noch den Abend im Biergarten mit
ihm verbringen. Das steht Ihnen frei, Herr Kollege.
Herr Kollege, sind Sie bereit, einzuräumen, dass die
Kritik an der Politik der großen Koalition und der Bundesregierung nicht identisch ist mit der Kritik, die Sie
uns unterstellen, nämlich Kritik an denen, die unter dieser schlechten Politik leiden - sie müssen diese Politik
umsetzen, obwohl sie sie nicht gut finden -, und Ihre
Unterstellung somit völlig daneben ist?
Das ist wieder typisch. Sie stellen eine Behauptung in
den Raum. Der DAC-Prüfbericht hat ja nicht nur die Arbeit der Regierung geprüft - Herr Manning hat ja nicht
nur die Frau Ministerin in ihrem Wirken geprüft -, sondern er hat geprüft, wie effizient, wie gut Entwicklungszusammenarbeit vor Ort ist. Sie wird nicht in Berlin am
grünen Tisch gemacht, sondern vor Ort bei den Menschen. Wenn Sie wahrheitswidrig behaupten, dass der
DAC-Prüfbericht ein vernichtendes Urteil über die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ausspricht, dann
sollten sie wirklich einmal mit den Menschen reden, die
vor Ort arbeiten, und auch mit denen, denen geholfen
wird. Sie würden Ihnen sagen, was auch im Prüfbericht
steht: Das ist eine gute Arbeit, die Menschen hier machen eine gute Arbeit. - Das sollte man anerkennen.
({0})
Wir sind auch der Meinung, dass es des Antrags nicht
bedurft hätte - da stimme ich mit meinem Kollegen
Ruck überein -, weil wir die Lehren aus dem Bericht
schon gezogen haben. Wir halten es eher mit Aristoteles:
„Was man lernen muss, um es zu tun, das lernt man, indem man es tut.“ Deswegen haben wir uns die Mühe gemacht, im Koalitionsvertrag viele Dinge aufzugreifen,
die durchaus mutig sind, weil sie in gewissen Bereichen
erst einmal auf Widerstand stoßen. Das ist zum Beispiel
dann der Fall, wenn man sagt, dass man die finanzielle
und die technische Zusammenarbeit enger verzahnen,
also die Arbeit zweier guter Durchführungsorganisationen noch weiter verbessern möchte. All das ist angegangen worden.
Wie Herr Ruck erwähnt hat, haben wir auch ein Gutachten erstellen lassen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Trittin?
Gerne. Herr Trittin läuft ja immer mit mir zusammen
von UdL 50 bis zum Reichstag.
({0})
Davon soll er auch etwas haben.
Herr Raabe, da Sie gesagt haben, dass man Gutes
lernt, indem man Gutes tut, frage ich Sie: Wie stehen Sie
zu dem Vorschlag - er ist wohl von einer Beratungsorganisation des BMZ entwickelt worden -, die erfolgreiche
Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, die GTZ,
künftig einer Bank, der KfW, zu unterstellen, und welche
Folgen erwarten Sie insbesondere vor dem Hintergrund
des erfolgreichen Wirkens der GTZ im Rahmen der technischen Zusammenarbeit?
Herr Trittin, Sie behaupten, bereits einige Auszüge
aus dem Gutachten zu kennen. Ich kenne diese Auszüge
nicht, weil das Gutachten noch nicht vorliegt. Darin werden sicherlich viele Gedankenspiele gemacht. Erinnern
Sie sich einmal an Ihre Zeit als Minister. Damals haben
auch Sie sich nicht immer gefreut, wenn alles, was in Ihrem Ministerium angedacht wurde, an die Öffentlichkeit
gelangte; meistens haben Sie dann gesagt, dass diese
Ideen ganz gewiss nicht von Ihnen kommen. Daran wird
deutlich: Es gibt immer viele gute Ideen, die gesammelt
werden müssen, und es gibt keine Denkverbote.
({0})
Uns Parlamentariern werden dann, wenn das Gutachten vorliegt, mehrere Optionen vorgeschlagen.
({1})
Dann werden wir uns dazu äußern. Aber Sie werden verstehen, dass ich zu einem angeblichen Zitat aus einem
Gutachten, das noch nicht vorliegt, nicht Stellung nehmen werde.
({2})
Herr Kollege, Sie können aber versichert sein, dass wir
uns darüber noch ausführlich unterhalten und dann die
beste Lösung finden werden.
Wie ich bereits sagte, werden auch andere Punkte, die
im DAC-Peer-Review angeregt werden, bereits von uns
bearbeitet. Dabei geht es zum Beispiel um die Konzentration auf weniger Partnerländer, also um die zukünftige Beschränkung der bilateralen staatlichen Zusammenarbeit auf 60 Länder. Das lassen wir im Augenblick
mit wissenschaftlicher Begleitung prüfen. Hier spielen
verschiedene Kriterien eine Rolle, zum Beispiel die Bedürftigkeit und die Bedeutung für den Schutz globaler
Umweltgüter. Auch Good Governance, gute Regierungsführung, ist für die Mittelvergabe mit Sicherheit ein
wichtiger Aspekt.
Ich sage aber auch: Wir dürfen die Menschen, die
nicht das Glück haben, in einem Staat mit guter Regierungsführung zu leben, nicht im Stich lassen.
({3})
- Doch.
({4})
Denn in Ihrem Antrag, Herr Addicks, heißt es, dass wir
uns bei der Länderauswahl, wenn es also um die Konzentration auf weniger Partnerländer geht, daran orientieren sollten, ob dort gute Regierungsführung geleistet
wird oder nicht. Das steht wörtlich so in Ihrem Antrag.
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Sie nicht mehr
wollen, dass wir weiterhin mit Ländern zusammenarbeiten, in denen die Regierungsführung nicht gut ist.
({5})
Dazu sage ich: Natürlich werden wir keinen Despoten
unkontrolliert deutsche Steuergelder anvertrauen; das
haben wir noch nie getan. Dennoch wollen wir in Ländern mit schlechter Regierungsführung die Zivilgesellschaft stärken, für Demokratisierung sorgen und insbesondere durch die Entwicklungszusammenarbeit dazu
beitragen, dass man im Interesse der Menschen zu einer
guten Regierungsführung übergeht. Deswegen können
wir uns hier nicht einfach zurückziehen, wie Sie es vorschlagen.
({6})
An einem Punkt haben Sie den Bericht allerdings
nicht richtig verstanden - das ist zwar nicht nur an dieser
einen Stelle der Fall; hier wird es aber besonders deutlich -:
({7})
Sie haben in Ihrem Antrag ein Zitat aus dem DAC-Prüfbericht angeführt und dann gesagt, dass das Ankerländerkonzept darin kritisiert würde. Das Ankerländerkonzept wird aber nicht kritisiert, sondern lediglich
beschrieben.
Es wäre falsch, dieses Konzept aufzugeben. Wer das
tut, verkennt, dass Ankerländer für die Entwicklungszusammenarbeit eine strategische Bedeutung haben. Ihnen
kommt bei der Bekämpfung der Armut im Rahmen einer
nachhaltigen globalen Entwicklung, bei der Sicherung
von Frieden und Stabilität und beim Schutz öffentlicher
Güter eine Schlüsselrolle zu. Die Mehrzahl der Armen
lebt in Anker- und Schwellenländern. Oft wird allerdings so getan, als würden die Menschen dort schon in
Saus und Braus leben. Man muss sich nur einmal vergegenwärtigen, dass allein in Indien mehr hungernde Kinder als in ganz Afrika leben. Wir dürfen also nicht so
tun, als wäre in diesen Anker- und Schwellenländern
schon alles geregelt und als ob wir uns aus der Entwicklungszusammenarbeit mit diesen Ländern zurückziehen
könnten. Wir wollen dort Maßnahmen ergreifen, die die
soziale Kohäsion nach vorne bringen und die globalen
Umweltgüter schützen. Wir wollen das wirtschaftliche
Gewicht und den Einfluss dieser Länder in der Region
dahin gehend steuern, dass auch andere Länder davon
profitieren können.
Ein gutes Beispiel in diesem Zusammenhang ist
China. Herr Königshaus, Sie sind selbst dort gewesen
- die Kollegin Kofler auch - und haben in Ihrem Bericht
vor dem Ausschuss erklärt, dass es Sinn macht, mit
China eine vernünftige Entwicklungszusammenarbeit zu
pflegen. Denn China hat eine so große Bevölkerung,
dass sich die Millenniumsziele ohne eine Zusammenarbeit mit China überhaupt nicht erreichen ließen.
Wir wollen nicht wieder eine Entwicklungspolitik
nach dem Motto „Der gute Onkel gibt den armen
Menschen etwas Milchpulver und Reis als Entwicklungshilfe“, sondern wir haben ein modernes Verständnis von Entwicklungszusammenarbeit. Deswegen geht
Ihre Kritik daran, dass wir den ärmsten Menschen die
Schulden erlassen, völlig am Thema vorbei - als ob wir
in der Vergangenheit Schulden ungeprüft erlassen hätten.
Nein, anders als es in Ihrem Antrag heißt, ist es so, dass
wir auch in der Vergangenheit nur solchen Ländern einen Schuldenerlass gewährt haben, die nachweislich
Fortschritte bei der Armutsbekämpfung gemacht haben,
die strukturelle Reformen vorgenommen haben. Wir
werden weiterhin Ländern, in denen diese Voraussetzungen gegeben sind, die Schulden erlassen. Dadurch bekommen sie Mittel für die Armutsbekämpfung, die sie
sonst für Zinsen und Tilgung ausgeben müssten.
({8})
Herr Kollege Aydin, Sie haben am Beispiel von Mosambik zu Recht aufgezeigt, wie ein Land in die Lage
versetzt wurde, sich eigenständig zu entwickeln und
Hunger und Armut zu bekämpfen. Warum Sie versuchen, die ODA-Quote mit dem Hinweis, ein Schuldenerlass sollte nicht einfließen, klein zu rechnen, kann ich
nicht nachvollziehen. Man hat sich international zu
Recht darauf geeinigt, dass auch ein Schuldenerlass ein
wichtiger Bestandteil von Entwicklungszusammenarbeit ist. Das lobt auch der DAC-Bericht, insbesondere
lobt er den Aufwuchs unserer Mittel in diesem Bereich
von 0,28 Prozent in 2004 auf 0,35 Prozent unseres BIP.
Ich kann ja verstehen, dass man es als Opposition angesichts eines solchen Anstiegs, wie es ihn in den letzten
zehn, zwanzig Jahren in dieser Größenordnung nicht gegeben hat, in der Debatte schwer hat und seltsamste
Arithmetik bemühen muss, um das schlecht zu rechnen.
({9})
Aber nehmen Sie einfach einen Taschenrechner zur
Hand und tippen Sie die Zahlen ein; wir brauchen dazu
nicht viel zu erklären.
Zum Abschluss möchte ich erwähnen, dass im DACBericht besonders der Kohärenzcharakter der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gelobt wird.
Herr Kollege, der Herr Kollege Addicks möchte eine
Zwischenfrage stellen.
Gerne; aber die Uhr muss gestoppt werden.
Die Uhr habe ich schon immer gestoppt, bei jeder
Zwischenfrage, Herr Kollege.
Herr Kollege Raabe, ich gebe Ihnen gerne Gelegenheit, Ihre Redezeit etwas zu verlängern, wenn Sie mir die
Frage beantworten, wieso ausgerechnet ein Land wie
Nigeria Teil des Entschuldungsprogramms der Bundesregierung geworden ist.
Entschuldungsprozesse haben immer einen langen
Vorlauf: Da wird überprüft, und wenn die Kriterien nicht
mehr erfüllt sind, dann reagieren wir als Parlamentarier
und als Regierung entsprechend. Wir Entwicklungspolitiker sind nicht blind, wenn in einem Land Rohstoffe
vorhanden sind und wir das Gefühl haben, dass die entsprechenden Einnahmen nicht so verwandt werden, wie
wir es wollen. Das ärgert uns; das möchte ich ganz offen
sagen. Sicherlich gibt es in Nigeria wie in einigen afrikanischen Ländern in dieser Hinsicht Probleme; wir haben
ja im Ausschuss eine Anhörung zu diesem Thema. Sie
rennen bei mir offene Türen ein, wenn Sie sagen, dass
man Ländern, die mit ihren eigenen Einnahmen nicht
verantwortungsvoll umgehen, an den Stellen, wo wir
normalerweise helfen, sagen muss: So nicht. Aber die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen und anderen Stellen sollte man natürlich weiterführen; wir wollen ja nicht die Menschen in
diesen Ländern bestrafen. Ganz wichtig, Herr Kollege
Addicks, ist es auch, dass ein Land wie Nigeria gerechte
Handelsbedingungen bekommt. Das ist der Kern. Es darf
nicht nur um Schuldenerlass gehen, die Entwicklungsländer müssen auch gerechte Handelsbedingungen bekommen. Im Bereich globaler Strukturpolitik hat sich
unsere Ministerin dafür seit 1998 sehr stark eingesetzt.
Der DAC-Bericht lobt die Bemühungen Deutschlands
in diesem Bereich ausdrücklich. Dort ist zu lesen:
Zur Förderung der Politikkohärenz im Bereich der
internationalen Handelsagenda hat sich Deutschland 2004 für die Reform der europäischen Baumwollmarktordnung sowie für die Baumwoll-Initiative in der WTO eingesetzt und zu einer baldigen
Reform der europäischen Zuckermarktordnung aufgerufen.
Das wollte ich gerne noch loswerden. Es ist schön, dass
Sie mir das durch Ihre Zwischenfrage ermöglicht haben.
({0})
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Ute Koczy, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir führen auf internationaler Ebene seit geraumer Zeit eine Debatte über die Aufstockung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit und darüber,
wie man bessere Ergebnisse in der Entwicklungszusammenarbeit erreichen kann. Dazu gibt es einige wichtige
Stichworte, die ich Ihnen in Erinnerung rufen möchte:
Qualität der Entwicklungszusammenarbeit, bessere
Abstimmung der Geber und - das betone ich besonders nachvollziehbare, klare Ergebnisse. Das wird im Jargon
Geberharmonisierung und Ergebnisorientierung genannt.
Die OECD-Länder haben letztes Jahr mit der Parisdeklaration eine Vereinbarung zur Verbesserung der Wirksamkeit ihrer Entwicklungszusammenarbeit getroffen.
Kofi Annan hat gerade ein Beratergremium, ein High
Level Panel, eingesetzt, das bis zum Sommer einen Vorschlag zur Reorganisation der Entwicklungszusammenarbeit auf UN-Ebene erarbeiten soll. Die multilateralen
und regionalen Entwicklungsbanken stehen unter
Druck, die Effektivität ihrer Arbeit zu beweisen und zukünftig zu erhöhen.
Jetzt liegt der DAC-Peer-Review vor, der eine umfassende Reform der EZ anmahnt, ich denke, zur richtigen
Zeit. Es ist wichtig, in dieser Debatte zwei Dinge dazu
klarzustellen: Zum einen müssen die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit erhöht werden, zum anderen
brauchen wir eine höhere Effizienz in der Entwicklungszusammenarbeit.
({0})
Beides ist wichtig, wenn wir in Zukunft die Eigenständigkeit der Entwicklungszusammenarbeit erhalten wollen.
Bei einer solchen Qualitätsverbesserung geht es nicht
allein um eine Reform der Durchführungsinstitutionen.
Es müssen auch andere Elemente stimmen, damit wir
tatsächlich eine größtmögliche Effizienz erreichen:
Die Empfängerländer müssen ihre Regierungsführung verbessern - ich nenne das Stichwort Good Governance -, damit die von außen kommenden Gelder eben
nicht auf den Konten von korrupten Beamten und Politikerinnen und Politikern versickern.
Die Eigenverantwortung der Empfänger muss gefördert werden. Dazu müssen die Geber eine größere
Planungssicherheit gewährleisten. Sie müssen die Berechenbarkeit ihrer Mittel verbessern und zu Mehrjahreszusagen bereit sein. Das bedeutet, dass auch wir einiges verändern müssen.
Die Geber müssen versuchen, eine größere Übereinstimmung ihrer Mittelvergabe mit der Politik des Landes
herzustellen, zum Beispiel im Sinne eines Beitrags zur
Umsetzung der nationalen Strategien zur Armutsminderung.
Nun zum DAC-Peer-Review. Der Bericht stellt
Deutschland eigentlich ein gutes Zeugnis aus. Aber wie
es sich für einen guten Bericht gehört, wird in ihm auch
Kritik an der deutschen Entwicklungszusammenarbeit
geübt: Das deutsche EZ-System sei zu unübersichtlich,
es benötige zu viel interne Koordinierung, es überfordere durch seine Aufwendigkeit schlicht und einfach die
Strukturen der Empfängerländer. Insgesamt wird aber
herausgestellt, dass die deutsche EZ gut ist, die technische Zusammenarbeit wird als vorteilhaft beschrieben.
Die EZ erzielt in verschiedensten Evaluierungen vergleichsweise gute Ergebnisse.
In der Debatte müssen wir aber auch die Institutionenlandschaft der deutschen EZ betrachten. Es kommt
natürlich darauf an, wie, wo und mit welchen Institutionen die Mittel verwendet werden sollen. Die Tatsache,
dass das deutsche System einmalig ist, lässt sich historisch begründen, ist aber für die Entwicklung in der Zukunft nicht sehr aussagekräftig. Wir brauchen - das ist
wichtig - Kohärenz zwischen BMZ, Auswärtigem Amt
und anderen Ministerien in der Entwicklungszusammenarbeit, wenn wir gute Entwicklungszusammenarbeit leisten wollen.
({1})
Das BMZ muss seine Fähigkeit beweisen, die Durchführungsorganisationen zu steuern. Es muss daran arbeiten,
das zu verbessern, die strategische Gestaltung der Inhalte in den Vordergrund zu stellen und über die Diskussion der Budgetfinanzierung hinaus Innovationen zu ermöglichen.
Die Frage „KfW oder GTZ?“ wird jetzt vorrangig in
den Medien gestellt. Dieser Frage müssen wir uns offensiv stellen. Ich bin der Meinung, es handelt sich um zwei
Institutionen mit unterschiedlichen Kulturen. Wir müssen sehr sorgfältig prüfen, was wir in diesem Zusammenhang für zukunftsfähig halten.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/963 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende
- Drucksache 16/1410 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Rolf Stöckel, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten bekennen uns bei aller unberechtigten,
aber auch berechtigten Kritik und Diskussion im Detail
zu den von uns eingeleiteten Reformen der Arbeitsmarktpolitik und zu dem notwendigen Umbau unserer
sozialen Grundsicherungssysteme.
Es bleibt menschenunwürdig, wenn Langzeitarbeitslose zwar ausreichende staatliche Transferleistungen erhalten, aber ohne Chance auf Qualifizierung und auf Integration in den Arbeitsmarkt sind und damit vom
gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt bleiben. Es bleibt
richtig, dass wir das ganze Ausmaß der versteckten
Langzeitarbeitslosigkeit und der betroffenen Familien
ans Licht gebracht haben, obwohl wir Prügel für die gestiegene Arbeitslosenstatistik bekommen haben. Es
bleibt auch richtig, dass die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist,
für die alle Akteure in der Wirtschaft - also Kapitaleigner, Arbeitgeber und Gewerkschaften - sowie Beratungsstellen, Verbände und die ausführenden Bürokratien der Arbeitsagenturen und der Sozialverwaltungen in
den Kommunen verantwortlich sind und bleiben.
Wir als Gesetzgeber haben den gesetzlichen Rahmen
dafür weiterzuentwickeln, damit diese Aufgabe fortschreitend besser umgesetzt werden kann. Nennen Sie es
Nachbessern oder lernende Gesetzgebung! Das liegt in
der Natur der Sache und einer modernen Politik. Das ist
sogar der gesetzliche Auftrag des SGB II, den diese
große Koalition ernst nimmt und den wir im Koalitionsvertrag verankert haben.
Niemand von uns hatte damals die Vorstellung, dass
die neue Grundsicherung für Arbeitsuchende alle strukturellen Probleme mit einem Schlag auflöse, die über
Jahrzehnte gewachsen sind und mit der deutschen Einheit, die international ohne Beispiel ist, verschärft wurden, zumal vor dem Hintergrund einer weltweit schlechten Wirtschaftsentwicklung nach dem 11. September
2001. Da hilft auch kein populistisches Wunschdenken;
da helfen keine Parolen. Vor allem den Betroffenen hilft
das keinen Schritt weiter.
Es ist unbestritten, dass es Defizite und Unvermögen
in der Organisation gibt, etwa beim Datenabgleich und
insbesondere bei der Schnelligkeit und Qualität der persönlichen Betreuung und Integration, also beim Fördern
durch die örtlichen Arbeitsgemeinschaften oder auch in
den so genannten Optionskommunen. Die Eingliederungsmittel sind bis heute etwa zur Hälfte in Angebote
umgesetzt worden, von einer bedarfsgerechten ganztägigen Kinderbetreuung in den Kommunen ganz zu schweigen.
Im Gerangel der Leistungsträger, die in alter, gewohnter Manier versuchen, Kosten und Verantwortung auf andere abzuwälzen, am liebsten auf den Bund, werden bewährte Unterstützungsangebote, zum Beispiel in der
Jugendhilfe, der Drogen- und der Schuldnerberatung,
eher ab- als aufgebaut. Die Sparorgie der schwarz-gelben Landesregierung in Nordrhein-Westfalen ist ein besonders unrühmliches Beispiel dafür. Wir Sozialdemokraten werden gemeinsam mit den Betroffenen dagegen
Sturm laufen.
({0})
Wir werden uns aber auch nicht damit abfinden, dass
es sozialdemokratische Bürgermeister gibt, deren Hauptanliegen nicht die effiziente Betreuung der Betroffenen
oder die Schaffung ganztägiger Kinderbetreuung, sondern das Abwälzen von Personal- und Unterkunftskosten auf den Bund ist.
Wir sind nicht einverstanden, wenn die Geschäftsstrategie der Verantwortlichen der BA vorsieht, möglichst
schnell die so genannten Betreuungskunden - schwer
vermittelbare und unqualifizierte Betroffene - aus ihrem
Verantwortungsbereich loszuwerden.
({1})
Es ist wahr, dass es durch organisatorische Mängel
nicht nur infolge der gestiegenen Bedürftigkeit, die wir
auch konstatieren müssen, sondern auch infolge legaler
Mitnahmen Leistungsausweitungen gab. Sie haben die
Kosten für den Bund in die Höhe getrieben, während der
zielgenaue Einsatz der Mittel und die Umsetzung von
Sanktionsmöglichkeiten bis heute mangelhaft sind. Diejenigen, die aufgrund dieser Anfangsprobleme gravierende Leistungskürzungen fordern, etwa Herr Sinn vom
Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, sind auf dem Holzweg.
Die Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums löst keine Probleme, sondern schafft
neue, die der Gesellschaft teuer zu stehen kommen.
({2})
Nur das aktive Fördern sowie die möglichst schnelle und
intensive persönliche Betreuung hilft den Betroffenen,
verhindert missbräuchlichen Leistungsbezug, den es
nach allen Erfahrungen auch gibt, der aber mit Sicherheit nicht dazu führen kann - das wäre völlig falsch und
zynisch -, alle Betroffenen unter Generalverdacht zu
stellen. Ich rate Herrn Sinn und all denen, die so denken
wie er, sich mit den Einnahmeausfällen aufgrund von
Mitnahmen bei den Steuern bzw. mit Steuerbetrug zu
beschäftigen.
({3})
Bei allen verständlichen Debatten dürfen wir eines
nicht übersehen:
({4})
Alle vergleichbaren Staaten, in denen entsprechende Reformen früher eingeführt worden sind und die teilweise
bessere Ausgangsbedingungen hatten, hatten ähnliche
Anfangsschwierigkeiten; sie brauchten ebenfalls drei
bis fünf Jahre, um eine annähernd optimale Praxis zu
entwickeln. Umso mehr geht es uns darum, Kurs zu halRolf Stöckel
ten, einen langen Atem zu haben und sich nicht durch
fundamentale Opposition oder Störmanöver von Vertretern durchsichtiger Einzelinteressen von dieser Verantwortung ablenken zu lassen.
({5})
Es gibt bei der CDU/CSU auf der einen Seite und bei
der SPD auf der anderen Seite verschiedene Schlussfolgerungen aus den Praxiserfahrungen. Wir freuen uns
nicht über alles, was in diesem Gesetzentwurf steht. Wie
könnte es anders sein?
({6})
Der Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung der
Grundsicherung für Arbeitsuchende ist aber keinesfalls,
wie vielfach behauptet wird, nur ein Spargesetz. Er ist
auch viel besser als ein schlechter Kompromiss. Ich
möchte gleich ein paar Beispiele dafür nennen.
In der Tat sollen in den kommenden Jahren Einsparungen, die sich aus der Verbesserung der Verwaltungsabläufe und aus der Bekämpfung von Leistungsmissbrauch ergeben, erzielt werden. Beispiele sind etwa
die Einführung eines flächendeckenden Außendienstes
oder aber das Sofortangebot an Antragsteller ohne vorherigen Leistungsbezug. In 2006 geht es um einen Betrag von 500 Millionen Euro, in 2007 und 2008 um einen Betrag von jeweils 1,48 Milliarden Euro.
Ein vorrangiges Anliegen des Gesetzentwurfes ist jedoch eine verbesserte Betreuung der tatsächlich hilfeberechtigten Arbeitsuchenden aus einer Hand. Die
Arbeits- und Ausbildungsstellenvermittlung wird einheitlich als Pflichtaufgabe der Arbeitsgemeinschaften
und der zugelassenen kommunalen Träger festgelegt.
Weitere vorrangige Anliegen sind die Beseitigung von
Schnittstellen, die klare Regelung der Zuständigkeit für
Personen, die Arbeitslosengeld I und aufstockend Arbeitslosengeld II erhalten, und die Erhöhung des Schonvermögens für die Alterssicherung bei gleichzeitiger Absenkung des freien Vermögens.
Aus unserer Sicht müssen aber auch - das sage ich
den Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU hier
ganz deutlich - die Belange der jüngeren Langzeitarbeitslosen ausreichend beachtet werden. Die Union handelt meines Erachtens widersprüchlich, wenn sie den
Ausbau des geschützten Altersvermögens fordert und
gleichzeitig das Arbeitslosengeld II absenken möchte.
Sie ignoriert die aktuellen Erfordernisse bei der Mobilität und Flexibilität junger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir sind der Meinung, dass die Stärkung des
Förderns, zum Beispiel die Weiterfinanzierung einer
Eingliederungsmaßnahme bei Wegfall der Hilfebedürftigkeit und die schnellere Aktivierung der Arbeitsuchenden, eine bessere Lösung darstellt. Das gilt auch für die
Unterstützung junger Menschen, zum Beispiel durch
Vollfinanzierung der Aktivierungshilfen für erwerbsfähige hilfebedürftige Jugendliche, und für die bedarfsgerechte Ausgestaltung der Leistungen durch einen Zuschuss zu den Wohnkosten für die Bezieher von BAföG
oder Berufsausbildungsbeihilfe.
({7})
- Ja.
Ich kann Ihnen nicht alle Einzelheiten und Details des
Gesetzes vortragen. Wir werden sicherlich an dem einen
oder anderen Punkt in der Debatte darauf zurückkommen. Wir legen einen Gesetzentwurf vor, der die Grundsicherung für Arbeitsuchende fortentwickelt. Wir haben
uns redlich bemüht, die Vorschläge der verschiedensten
Akteure in der Praxis einzuarbeiten
({8})
und wir werden gemeinsam eine ausführliche Anhörung
dazu durchführen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Möller?
Ja, selbstverständlich.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass das Papier von
Herrn Clement zum so genannten Leistungsmissbrauch
keinen wissenschaftlichen Hintergrund hat, sondern dass
nur ausgewählte Einzelfälle zur pointierten Darstellung
für dieses Papier herangezogen wurden?
Ich vermute, dass Ihnen das bekannt ist. Deshalb
frage ich: Warum haben Sie in diesem SGB-II-Fortentwicklungsgesetz einen flächendeckenden Schnüffeldienst eingeführt? Können Sie sich vorstellen, was es für
Menschen mit ALG II bedeutet, wenn sie keine Privatsphäre mehr haben und unter ihre Bettdecke geschaut
wird?
({0})
Kollegin Möller, mir ist nicht nur dieses Papier bekannt, mir sind viele Papiere von Herrn Clement
bekannt. Unabhängig von wissenschaftlichen Untersuchungen kann ich Ihnen aus 15-jähriger Sozialarbeiterpraxis in einem Sozialamt, in dem ich Klienteninteressen zu vertreten hatte, sagen, dass das, was dort
beschrieben ist, sicherlich Einzelfälle sind. Wenn man
aber die gesamte Praxis der Sozialhilfe seit dem Bestehen des Gesetzes betrachtet, also seit ungefähr
45 Jahren, dann sieht man auch, dass es immer auch
Leistungsmissbrauch gab.
Wir beziehen uns in unserer Debatte im Wesentlichen
auf legale Mitnahmen von sicherlich von irgendeiner
Notlage Betroffenen, um die es beim SGB II aber mit Sicherheit nicht geht.
({0})
Zur Ausweitung der Bedarfsgemeinschaften kam es ja
nicht etwa aufgrund des betrügerischen Missbrauchs,
sondern aufgrund legaler Mitnahmen durch Lücken im
Gesetz, also durch Defizite, die damals im Vermittlungsverfahren nicht berücksichtigt werden konnten.
Alle Kolleginnen und Kollegen in der Praxis werden
Ihnen sagen, dass es, egal welches Gesetz wir in diesem
Hause verabschieden, immer den Versuch geben wird,
einen eigenen Nutzen daraus zu ziehen. Ich glaube, dass
wir gut daran tun - natürlich gemeinsam mit den Praktikern -, in einer Fortentwicklung dieses Gesetzes diese
Möglichkeiten zu begrenzen, weil die Mittel, die wir als
Steuerzahler alle gemeinsam dafür einsetzen, möglichst
effektiv denen zukommen sollten, die tatsächlich betroffen sind.
Wir Sozialdemokraten sind der Meinung, dass das für
die Solidargemeinschaft auch kontrollierbar und transparent sein muss. Das ist richtig.
({1})
Wenn wir die Beweislast bei der Frage umkehren, ob es
sich um Lebenswirtschaftsgemeinschaften handelt oder
nicht, dann bedeutet das aus meiner Praxiserfahrung im
Sozialamt heraus eher weniger Schnüffelstaat, weniger
Kontrolle und ein geringeres Herumschnüffeln in den
Schlafzimmern als bei der bisherigen Praxis zumindest
in der Sozialhilfe. Bisher gibt es diesen entwickelten Außendienst ja überhaupt nicht. Insofern weiß ich gar nicht,
auf welche Erfahrung Sie sich hier berufen.
({2})
Ich sage noch einmal: Wir werden gemeinsam eine
ausführliche Anhörung dazu durchführen. Ich denke,
dass die Ausführungen der Experten und Praktiker dort
für uns sicherlich wichtige Aufschlüsse bringen werden.
Wir alle kennen das strucksche Gesetz. Ich persönlich
würde sagen: Nichts ist so gut, dass es nicht noch verbessert werden kann. - Sie sind herzlich eingeladen
- auch Sie, Frau Möller -, eigene konstruktive und realistische Vorschläge zu machen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Niebel, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das hier in erster Lesung zu beratende Gesetz
nennt sich Fortentwicklungsgesetz. Im Vorfeld sprach
die Regierungskoalition immer noch von einem Optimierungsgesetz. Ich denke, es ist bemerkenswert, dass
man ein Gesetz erst einmal fortschreibt, bevor man ein
vorhandenes Gesetz, das Fehler aufweist, optimiert.
Vielleicht ist auch die späte Stunde, zu der die Debatte über dieses Gesetz stattfindet, das sehr viele Menschen in diesem Lande interessiert, ein Fingerzeig dafür,
wie die Regierung miteinander umgeht.
({0})
Auch die Stimmung bei den Koalitionspartnern, die man
jetzt gesehen hat bzw. nicht hören konnte, zeigt ja, dass
es hier intern durchaus unterschiedliche Betrachtungsweisen gibt.
({1})
Bei der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und
Sozialhilfe, die ich nach wie vor für richtig halte, weil es
unwürdig war, dass zwei steuerfinanzierte Transfersysteme teilweise für den gleichen Personenkreis parallel
existiert haben, sind Fehler gemacht worden. Man hat
richtigerweise mit der Zusammenlegung dieser beiden
Leistungen für den gleichen Lebenssachverhalt, dass
man seinen Unterhalt eben nicht mit der eigenen Hände
Arbeit verdienen kann, versucht, Verwaltung zu vereinfachen, Kosten zu minimieren, die Betreuung von Arbeitsuchenden zu verbessern und die Würde der Betroffenen dadurch zu schonen, dass sie ihre intimsten
wirtschaftlichen Daten nicht vor zwei wildfremden Beamten offen legen müssen.
Aber die Situation der Arbeitsuchenden ist nicht verbessert worden, weil in der Grundanlage dieses Gesetzes
entscheidende Fehler gemacht worden sind. Die Union
war übrigens im Vermittlungsverfahren, an dem auch ich
teilnehmen durfte, mit mir der Meinung, dass man keine
doppelten Vermittlungsstrukturen aufbauen sollte,
weil der Verlust des Arbeitsplatzes bei dem Personenkreis der Langzeitarbeitslosen oftmals nur ein Problem
von ganz vielen darstellt und andere Probleme wie Wohnungsverlust, Überschuldung und Suchtprobleme hinzukommen. Für all diese Punkte sind die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit, ohne ihnen Böses zu wollen, nicht ausreichend kompetent und
überhaupt nicht qualifiziert. Deswegen waren wir der
Ansicht, man müsse die kommunale Trägerschaft präferieren. Sie haben das noch im Wahlkampf gefordert.
Sie sind noch nicht einmal so weit gegangen, die Kommunen, die das möchten, in die Lage zu versetzen, sich
um diesen Personenkreis zu kümmern. Das ist ein großer
Fehler.
({2})
Im Vermittlungsverfahren habe ich gefordert: Wer
sich bei der Bundesagentur für Arbeit meldet, muss sofort ein Angebot zu einer Qualifizierung, einer gemeinnützigen Tätigkeit oder einer Zeitarbeit bekommen. Ein
solches Angebot verdeutlicht, dass erstens die Arbeitsbereitschaft vorhanden ist, und führt zweitens dazu, dass
die Arbeitslosigkeit möglichst zügig wieder beendet
werden kann. Das ist aus ideologischen Gründen von einer Seite dieses Hauses abgelehnt worden. Jetzt steuern
Sie nach; das finde ich gut und richtig.
Es geht hier - Herr Stöckel, Sie sind, wie ich gelesen
habe, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Verteilungsgerechtigkeit Ihrer Fraktion - um die Erwirtschaftungsgerechtigkeit; denn die Mittel für das Arbeitslosengeld II werden durch die Steuergelder der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer finanziert. Ohne einen Generalverdacht
aussprechen zu wollen: Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, dafür zu sorgen, dass Möglichkeiten zum Missbrauch in diesem System verhindert werden. Das hätten
wir viel früher haben können. Es ist gut, dass dies jetzt
endlich passiert. Dann lassen Sie es uns aber auch richtig
machen.
({3})
Lassen Sie uns dafür sorgen, dass eine Arbeitslosenpolizei nicht flächendeckend eingeführt werden muss,
sondern dass die Arbeitsgemeinschaften und die Optionskommunen vor Ort, die es möchten und es für notwendig erachten, einen Außendienst einführen können.
Lassen Sie uns dort, wo es vielleicht sinnvoller ist, Stellenakquise zu betreiben, weil der Arbeitsmarkt wie in
Baden-Württemberg ordentlich funktioniert, die Mitarbeiter für die Stellenakquise einsetzen, damit die Arbeitslosigkeit beendet werden kann.
Lassen Sie uns das aber ohne eine weitere Aufblähung des Personalapparates machen. Der Effizienzgrad
der Bundesagentur mit 90 000 Mitarbeitern und einer
Vermittlungsquote von ungefähr 18 Prozent schreit zum
Himmel. Das ist auch einer der Gründe dafür, weshalb
wir über das Thema der Verwaltung der Arbeitslosigkeit
in der Zukunft noch werden sprechen müssen. Sie wissen, wir sind der Überzeugung: Die Agentur ist in dieser
Form nicht reformierbar. Wir wollen die kommunale
Trägerschaft. Frau Engelen-Kefer hat gerade diese Woche in einer Pressekonferenz erklärt, es sei ein Fehler,
doppelte Vermittlungsstrukturen aufzubauen. In dieser
Frage hat Frau Engelen-Kefer Recht. Aber man sollte
die Aufgabe, sich um die Arbeitslosen zu kümmern,
nicht dem Moloch in Nürnberg überlassen. Vielmehr
müssen die Menschen dort, wo sie sind und wo auch die
Arbeitsplätze sind, betreut werden, nämlich vor Ort. Dafür kommt nur die kommunale Trägerschaft infrage.
({4})
Es macht überhaupt keinen Sinn, dass Sie die Durchführung der Ordnungswidrigkeitenverfahren in Kommunen erst ab dem 1. Januar 2007 zulassen wollen. Das
kann man sofort machen, weil das effizient und sinnvoll
ist. Wir unterstützen Sie darin ausdrücklich. Deswegen
glaube ich, dass wir im Verfahren der parlamentarischen
Beratung noch weiterkommen.
Der letzte Punkt sind die Telefonbefragungen. Die
Ergebnisse, die uns zwischenzeitlich aus den Berichten
bekannt geworden sind, zeigen, dass die Telefonbefragungen ein adäquates Mittel sind, Missbrauch aufzudecken und zu beenden, und zwar auf eine Art und Weise,
bei der keiner unter irgendeine Bettdecke schauen muss,
liebe Frau Kollegin Möller. Dies geschieht einfach dadurch, dass allein ungefähr ein Drittel von denjenigen,
die mit der Information angeschrieben worden sind, sie
würden angerufen werden, eine freiwillige Änderung ihres Status bei den Arbeitsgemeinschaften haben durchführen lassen.
Lassen Sie uns die Arbeitsgemeinschaften verpflichten, bei den Telefonbefragungen mitzumachen. Lassen
Sie uns die Telefonbefragungen bei den Arbeitsuchenden verpflichtend machen. Das spart Verwaltung und
auch das Geld anderer Leute, nämlich derjenigen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die es zu finanzieren haben.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist wahr, Kollege Niebel: Wir debattieren dieses
wichtige Thema zu einem sehr späten Zeitpunkt. Den
Schuh müssen wir uns anziehen. Ich kann Ihnen aber
den Grund dafür nennen: Eine vergleichsweise kleine
Partei veranstaltet morgen ihren Bundesparteitag und hat
darum gebeten, dass der morgige Tag sitzungsfrei ist und
wir die anstehenden Themen heute beraten. Ich verrate
nicht, wie die Partei heißt. Es sei nur so viel gesagt: Sie
sind der Generalsekretär der Partei, auf die wir bei der
Planung Rücksicht genommen haben.
({0})
Sonst hätten wir das Thema morgen zu einer besseren
Sendezeit beraten können.
({1})
Aber aus dem genannten Grund steht es heute so spät auf
der Tagesordnung.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
Nein. Da an dem Umstand, den ich bisher geschildert
habe, in politischer Hinsicht nichts streitig ist, erübrigt
sich eine Zwischenfrage dazu.
({0})
Die große Koalition hat sich im Koalitionsvertrag
umfangreiche Maßnahmen vorgenommen, um Fehlentwicklungen im Zusammenhang mit Hartz IV zu korrigieren. Wir haben uns Einsparungen in Höhe von
3,8 Milliarden Euro bezogen auf ein Jahr vorgenommen,
die zum wesentlichen Teil bereits durch das SGB-II-Änderungsgesetz auf den Weg gebracht worden sind.
Wir legen nun einen weiteren Gesetzentwurf zur Korrektur von Fehlentwicklungen im Zusammenhang mit
Hartz IV vor, mit dem wir die anderen umfangreichen
Maßnahmen, die wir uns vorgenommen haben, in Gesetzesform bringen. Wir können dann sicherlich in relativ
kurzer Zeit feststellen, dass wir die Fehlentwicklungen
in diesem Bereich korrigiert haben. Denn bei allem, was
hinsichtlich der Vermarktung schlecht gelaufen ist, war
die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe
grundsätzlich richtig. Im Gegensatz zu dem oft in der
Öffentlichkeit vermittelten Eindruck ist für die Menschen, um die es geht - nämlich die früheren Bezieher
von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe -, nie so viel ausgegeben worden wie seit dem In-Kraft-Treten von
Hartz IV. Das ist die Wahrheit - nicht das Zerrbild von
Verarmung, das von manchen gezeichnet wird.
({1})
Das ändert nichts daran, dass der Regelsatz von
345 Euro für das Arbeitslosengeld nicht sehr hoch ist.
Aber wie jeder weiß, kommen Leistungen für Unterkunft und Heizung hinzu. Das Verfahren ist unbürokratischer als früher. Die Wohngeldregelungen und die Leistungen für Familien tragen mit dazu bei, dass für eine
mehrköpfige Familie insgesamt ein so hoher Anspruch
besteht, dass es nicht einfach ist, durch Erwerbstätigkeit
ein Nettoeinkommen in vergleichbarer Höhe zu erzielen.
Auch das gehört zu den Realitäten, die wir zur Kenntnis
nehmen müssen.
Damit wir denjenigen helfen können, die sozial
schwach sind und der Hilfe bedürfen, bleibt es auch über
das vorliegende Gesetzesvorhaben hinaus eine Daueraufgabe, das zu verhindern, worauf die Bundeskanzlerin
schon in ihrer Regierungserklärung hingewiesen hat,
nämlich dass sich Starke als Schwache verkleiden.
({2})
Wir haben uns mit dem Gesetzentwurf wesentliche
Einsparungen sowohl beim Bund als auch bei den Kommunen vorgenommen. Vorgesehen sind die Erweiterung
des automatisierten Datenabgleichs und die Überprüfung
von Daten in Verdachtsfällen. Das ist völlig richtig und
legitim. Des Weiteren geht es um die Einrichtung von
Außendiensten in allen Arbeitsgemeinschaften, um die
Einführung regelmäßiger Telefonabfragen und auch um
Sanktionen. Selbstverständlich sind gegenüber denjenigen, die sich nicht an die Regeln halten, spürbare Sanktionen notwendig. Das liegt im Interesse der Menschen,
die täglich frühmorgens aufstehen, zur Arbeit gehen und
mit ihren Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen die
Leistungen finanzieren, die die bekommen sollen, die in
diesem Land der Hilfe bedürfen.
({3})
Deswegen verstecken wir das nicht. Wir bekennen uns
vielmehr dazu, dass diejenigen, die sich nicht an die
Spielregeln halten, Sanktionen zu spüren bekommen
müssen.
Wir werden die Beweislastumkehr bei eheähnlichen
Gemeinschaften einführen. Es ist eine pure Selbstverständlichkeit, dass Menschen, die im Leben füreinander
einstehen, auch bei Hilfebedürftigkeit als solche behandelt werden. Das hat nichts mit Bespitzelung zu tun.
Vielmehr werden wir den Gesetzentwurf im Interesse
derjenigen umsetzen, die auf Hilfe angewiesen sind.
Diese Hilfe werden wir ihnen auch zukommen lassen.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Maurer?
Nein.
({0})
- Jetzt mal ganz ruhig mit der Koalition in der Opposition! Ich möchte lieber die einzelnen Punkte im Zusammenhang vortragen.
({1})
Es geht darum, Fördern und Fordern in Einklang zu
bringen. Deswegen machen wir mit dem Gesetz den
Menschen, die erstmalig Leistungen nach dem SGB II
beziehen, ein Sofortangebot zur Integration auf dem Arbeitsmarkt. Es geht darüber hinaus um Maßnahmen zur
Verbesserung der Verwaltungspraxis. Dabei müssen wir
uns eingestehen: Es wird immer Schnittstellenprobleme
insbesondere bei den Arbeitsgemeinschaften geben. Die
Argen tragen alle Züge eines politischen Kompromisses.
Hier findet eine Zusammenarbeit statt, wie es sie vorher
nie gegeben hat. Wir haben uns in den Gesprächen zur
Erarbeitung des vorliegenden Gesetzentwurfs mit jeder
Schnittstellenproblematik beschäftigt und sind zu dem
Ergebnis gekommen, dass es nicht in jedem Falle befriedigende Lösungen geben kann. Aber wir müssen die
Grundlagen dafür schaffen, dass alle, die Verantwortung
tragen, verstärkt zusammenarbeiten, damit die Betroffenen nicht von Pontius zu Pilatus geschickt werden. Alle,
die als Träger zuständig und kompetent sind, müssen
verantwortlich handeln und den Betroffenen die Hilfe
zukommen zu lassen, die sie brauchen.
({2})
Selbstverständlich sind bei einem solchen Gesetz, von
dem wir uns Einsparungen in einem Volumen von etwa
1,2 Milliarden Euro allein beim Bund und mehreren
Hundert Millionen Euro bei den Bundesländern versprechen, verschiedene Dinge abzuwägen. Deswegen nehmen wir keine Kürzungen nach dem Rasenmäherprinzip
vor. Vielmehr ist es immer unser Prinzip gewesen, dass
es selbst dann, wenn generell gekürzt werden muss, die
Möglichkeit geben muss, an Stellen - es geht hier nicht
nur um ein oder zwei -, an denen es sachlich gerechtfertigt ist, zu einem Aufwuchs zu kommen. Die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen, die an den vorbereitenden Gesprächen über diesen Gesetzentwurf
teilgenommen haben, wissen, dass wir an rund einem
Dutzend Stellen zu höheren Leistungen, zu einem Aufwuchs gekommen sind, obwohl wir unterm Strich
1,2 Milliarden Euro einsparen wollen.
So wollen wir - das ist für uns ein wichtiger Punkt das Schonvermögen erhöhen, das der Altersvorsorge
dient; denn wir müssen denjenigen etwas anbieten, die
über Jahrzehnte Beiträge und Steuern gezahlt haben, die
dann unverschuldet arbeitslos geworden sind und die
aufgrund ihres Alters nicht die Möglichkeit hatten, die
Riester-Förderung - diese bleibt geschützt - in Anspruch
zu nehmen. Es kann nicht sein, dass Menschen, die jahrzehntelang fleißig gearbeitet haben, nach kurzer Zeit so
gestellt werden wie diejenigen, die noch nie gearbeitet
haben. Deswegen wird es hier zu einem Aufwuchs kommen.
({3})
Hier gibt es auch keine Widersprüche. Wir sollten uns
die Freiheit nehmen, zu sagen: Es tut uns Leid, aber wir
müssen sparen. Niemand tut das gerne. Gleichzeitig
müssen wir jedoch in der Lage sein, Prioritäten zu setzen. Das werden wir tun.
({4})
Wir werden mit den Bundesländern im Gespräch über
diesen Gesetzentwurf bleiben. Wir wissen, dass wir die
Zustimmung des Bundesrates brauchen. Die Sachverständigen werden ebenfalls ausführlich zu Wort kommen; denn wir sind an einem breiten Konsens interessiert. Klar ist: Wenn das Prinzip „Fördern und Fordern“
funktionieren soll, brauchen wir in diesem Land mehr
Arbeitsplätze. Hartz IV und das SGB II dienten immer
dazu, eine Grundsicherung für Hilfsbedürftige sicherzustellen. Aber es ging nie darum, damit zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Vielmehr sollen Härten für die
Menschen abgefedert werden, die der Hilfe bedürfen.
Wir brauchen vor allem mehr Arbeitsplätze in
Deutschland. Dafür ist eine bessere wirtschaftliche Entwicklung Voraussetzung. Diese hat offensichtlich eingesetzt.
({5})
Alle Daten deuten darauf hin, dass wir auf einem guten
Weg sind. Wenn die wirtschaftlichen Voraussetzungen
stimmen, wird dieses Gesetz den erwarteten Erfolg zeitigen.
Herzlichen Dank.
({6})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen
Niebel das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Der Kollege
Brauksiepe hat mir zugestimmt, dass es bemerkenswert
ist, dass dieses wichtige Thema zu dieser späten Stunde
regelrecht versteckt wird. Er hat allerdings suggeriert,
dass der Grund dafür der ordentliche Parteitag der FDP
am kommenden Wochenende sei.
({0})
Das ist eindeutig falsch. Noch auf der vorläufigen Tagesordnung für die heutige Sitzung war die Debatte über
diesen Gesetzentwurf aufgesetzt. Dann wurde dieser Tagesordnungspunkt abgesetzt und erst am Montag dieser
Woche wieder aufgesetzt. Der Absetzungsgrund bestand, wie wir gehört haben, in Differenzen zwischen
den Regierungsfraktionen.
({1})
Im Übrigen hat der Kollege Brauksiepe offenkundig
nicht verstanden, dass in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die Sitzungswochen immer so festgesetzt wurden, dass die Parteien - das galt für alle Parteien - ihre ordentlichen Parteitage durchführen
konnten.
({2})
Es wundert mich nicht, dass der Kollege Brauksiepe ein
gewisses Problem mit den Umgangsformen zwischen
den demokratischen Parteien hat.
({3})
Das sage ich vor allem vor dem Hintergrund, dass die
SPD aufgrund der Wirren im Zuge des Verlustes vieler
Parteivorsitzender nicht in der Lage war, festzustellen,
dass eine Partei einen ordentlichen Parteitag durchführt,
und im Gegensatz zu den Gepflogenheiten erstmals in
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einen
außerordentlichen Parteitag auf das Datum eines ordentlichen Parteitages einer anderen Bundestagspartei gelegt
hat. Das zeigt, dass die große Koalition nicht nur merkwürdige Umgangsformen untereinander hat, sondern
dass sie offenkundig bereit ist, sich dieses Land zur
Beute zu machen.
({4})
Herr Kollege Brauksiepe, Sie können antworten.
Lieber Kollege Niebel, machen Sie sich um die große
Koalition und deren Umgang miteinander keine Sorgen.
Wir werden am Ende ein gutes Gesetz durch das Parlament bringen. Wir haben selbstverständlich Rücksicht
genommen. Wir waren es, die das kritisiert haben. Wir
haben mit Rücksicht auf Sie diese Zeit gewählt, damit
wir heute die Tagesordnung abwickeln können.
({0})
Das ist in der Tat unter Demokraten selbstverständlich.
({1})
Sie, auf die wir Rücksicht genommen haben, sollten unsere Rücksichtnahme jetzt nicht kritisieren.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Brauksiepe, man will Ihnen Ihre dicken Krokodilstränen,
die Sie darüber vergießen, dass es Ihnen schwer fällt, bei
den Erwerbslosen zu kürzen, nicht so richtig abnehmen,
insbesondere wenn man daran denkt, dass Sie bereitwillig immer wieder in Missbrauchsdebatten einstimmen
und Erwerbslose als Sozialschmarotzer darstellen.
({0})
Ganz unabhängig davon, wie man diesen Gesetzentwurf nennt, wollen wir eines festhalten: Das Einzige,
was hier optimiert wird, ist die Diskriminierung von Erwerbslosen und die Verfolgungsbetreuung.
({1})
Hier soll die zentrale These fortentwickelt werden - das
ist das alte Trauerspiel -, dass Erwerbslose schuld an der
Massenarbeitslosigkeit sind. Damit werden sie zu Sündenböcken gemacht. Wenn das nicht so verdammt traurig für die Betroffenen wäre, dann könnte man fast darüber lachen. Diese Masche ist wirklich nicht neu.
Zwar enthält der vorliegende Gesetzentwurf auch einige kleine Verbesserungen. Das ändert aber nichts daran, dass es im Kern um die Verschärfung von Hartz IV
geht. Von den vielen Sauereien dieses Gesetzes möchte
ich auf drei zentrale Gemeinheiten eingehen. Im Kern
geht es hier um nichts anderes als um die Fortführung einer Verdächtigungskampagne gegenüber Erwerbslosen.
({2})
In den letzten Tagen häufen sich die Meldungen, dass
es zu Kostenexplosionen kommt. Das geht mit der Unterstellung einher, die Ursache dafür sei Missbrauch.
Wir wollten diesen Meldungen auf den Grund gehen und
haben beim zuständigen Bundesministerium nachgefragt, wie hoch die Zahlungen im alten System für Erwerbslose ausgefallen sind, wie viel man für Sozialhilfe,
Wohngeld und Arbeitslosenhilfe ausgegeben hat. Es gibt
eine Berechnung aus Ihrem Haus, Herr Andres, die besagt, dass dann, wenn man das alte System beibehalten
hätte, im Jahr 2005 35,5 Milliarden Euro für Erwerbslose ausgegeben worden wären. Im letzten Jahr sind
nach dem neuen System gerade einmal 1,8 Milliarden
Euro mehr als im alten System ausgegeben worden. Davon sind 1,4 Milliarden Euro auf die Erhöhung der Rentenzahlung zurückzuführen. Im Klartext heißt das: Es
gibt keine Kostenexplosion durch Missbrauch. Das Einzige, was es gibt, ist eine Verschiebung der Zahlungen.
Früher zahlte man Sozialhilfe, Wohngeld und Arbeitslosenhilfe, heute zahlt man Kosten für Unterkunft und
Arbeitslosengeld II. Ihre Unterstellung des Missbrauchs
ist nicht haltbar und nicht durch Zahlen belegt.
({3})
Für die zweite Sauerei
({4})
sorgt der Außendienst, der die Lebenssituation von Arbeitslosengeld-II-Empfängern untersuchen soll.
({5})
Im Clement-Report wurde sehr anschaulich dargestellt,
wie Sozialspitzel losgeschickt werden, um bei allein erziehenden Erwerbslosen nachzuschauen, ob sie nicht
doch einen Freund haben, den man finanziell in Haft
nehmen kann. Einige Sozialspitzel gingen sogar in die
Schlafzimmer, um zu schauen, wie groß die Kuhle im
Bett ist, um nachzuweisen, dass man dort doch zu zweit
geschlafen hat.
({6})
Ich meine, im Schlafzimmer hat der Staat nichts zu suchen. Das ist so und das soll so bleiben.
({7})
- Wir haben die Lehren aus der Vergangenheit gezogen.
({8})
Ich möchte Ihnen sagen: Alle Versuche, die Privatund Intimsphäre von Menschen auszuspionieren, sollten
in Filmen wie „Das Leben der Anderen“ unternommen
werden.
({9})
Mit moderner Sozialpolitik hat die Sozialspitzelei, die
Sie jetzt praktizieren, nichts, aber auch gar nichts zu tun.
({10})
Wir brauchen eben nicht mehr Sozialspitzel, sondern
mehr sorgfältige Beratung und mehr Vermittlung von Erwerbslosen.
({11})
Die dritte zentrale Gemeinheit, die ich ansprechen
möchte, ist die Beweislastumkehr bei den BedarfsgeKatja Kipping
meinschaften. Hier setzen sie den Hebel am Rechtsstaat
an; hier werden rechtsstaatliche Grundsätze geopfert.
Heute gilt: Wer nur ein Jahr zusammen wohnt, der lebt
schon in einer Bedarfsgemeinschaft. Damit wird jede
Wohngemeinschaft zu einer Bedarfsgemeinschaft.
({12})
Beispielsweise in meiner WG leben vier Personen. Was
ist, wenn jetzt einer meiner Mitbewohner arbeitslos
wird? Heißt es dann, einer von uns muss ausziehen, damit er keiner Bedarfsgemeinschaft zugeordnet wird?
({13})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Heute hat ein CDU-Minister in NRW gesagt: Wenn
zwei Personen zusammenleben, von denen eine erwerbslos ist, dann müssen sie beweisen, dass sie kein Liebespaar sind. Ich frage Sie: Wie soll man das beweisen?
({0})
Müssen Erwerbslose in Zukunft Kameras in ihren
Schlafzimmern installieren?
Frau Kollegin, ich möchte Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Ich komme zum Ende. - Ich sage nur noch: Das hat
nichts, aber auch gar nichts mit moderner Sozialpolitik
zu tun. Anstatt die Situation von Bedarfsgemeinschaften
zu verschärfen, brauchen wir eine soziale Sicherung, die
konsequent vom Einzelnen ausgeht.
Frau Kollegin, das wäre ein gutes Ende gewesen.
Diesem Gesetzentwurf muss man Widerstand im Parlament und außerhalb des Parlaments entgegensetzen.
Deswegen können wir allen nur empfehlen, am 3. Juni
zur Demonstration nach Berlin zu kommen, um - ({0})
Frau Kollegin, was Sie im Augenblick machen, finde
ich nicht in Ordnung.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren von der großen Koalition,
wenn man im privaten Leben oder auch als Gesetzgeber
etwas optimieren möchte, was nicht so richtig funktioniert, dann setzt man doch zuallererst an der schwächsten Stelle an. Das ist im Falle des Sozialgesetzbuchs II
immer noch die Komponente des Förderns und des Aktivierens. Hier muss man ansetzen.
({0})
Genau an dieser Stelle weist Ihr Gesetz eine große Leerstelle auf. Schlimmer noch: An manchen Stellen sind
schwere Mängel und auch Mogelpackungen zu sehen.
Anstatt die lokale Handlungsfreiheit der Arbeitsgemeinschaften aufzuwerten und zu verbessern, schränken
Sie sie ein. Sie müssen einmal mit den Praktikern in den
Arbeitsgemeinschaften und in den Jobcentern reden.
({1})
Es ist so, dass der Zugriff der Bundesagentur für Arbeit
sogar noch verschärft wird und dass die Spielräume verringert werden. Es ist zum Beispiel so, dass Sie die so
genannten 1-Euro-Jobs-Arbeitsgelegenheiten jetzt den
ABM und SAM gleichstellen. Die Begründung dafür im
Gesetzentwurf lautet, dadurch werde einfach die Veränderung in der Praxis nachvollzogen.
Ich kann Ihnen sagen, was wir damals, als das SGB II
entworfen wurde, gedacht haben: Wir haben die so genannten 1-Euro-Jobs ausdrücklich als Ultima Ratio, als
letztes Mittel der Förderung an das Ende von § 16
SGB II gestellt. Wir haben die anderen Instrumente der
Weiterbildung, die Eingliederung durch Zuschüsse und
auch die sozialversicherungspflichtige Entgeltvariante
deutlich priorisiert und daher vorangestellt. Sie sorgen
jetzt für eine Gleichsetzung. Das ist der falsche Weg; das
ist kein Fördern.
({2})
Wenn Sie sich mit großem Getöse hier hinstellen und
sagen, wir brauchen jetzt Sofortangebote, dann muss
ich fragen: War denn das vorher nicht möglich? Niemand in den Jobcentern ist doch davon abgehalten worden, ein Sofortangebot einzurichten. Was schreiben Sie
denn für eine platte Tautologie in das Gesetz?
Angesichts der Meldung in der „Welt“ von heute,
dass bislang erst knapp 1 Milliarde Euro aus dem Eingliederungstitel beim SGB II ausgegeben wurde, wird
dieses Reden vom Sofortangebot vollends zur Farce. Beschleunigen wir doch das Ausgeben der zur Verfügung
gestellten Mittel zur Eingliederung!
({3})
Anstatt das Fördern zu verstärken, werden - das hat
auch Frau Kipping beschrieben - auf der Leistungsseite
Einschränkungen gemacht, die zum Teil mehr als fragwürdig sind.
({4})
Die Einkommensanrechnung in Wohngemeinschaften
- dabei soll das Zusammenleben für länger als ein Jahr
bereits ausreichen, um eine so genannte Bedarfsgemeinschaft zu begründen ({5})
ist aus meiner Sicht rechtlich überhaupt nicht haltbar.
Das Verfassungsgericht hat sehr strenge Maßstäbe an so
genannte Einstehensgemeinschaften angelegt.
({6})
Das Bundessozialgericht hat geurteilt, dass ein Zusammenleben von mindestens drei Jahren vorliegen muss,
bevor man vermuten kann, dass es sich um eine Bedarfsgemeinschaft handelt. Sie machen einfach „ein Jahr“
daraus und führen noch zusätzlich eine Beweislastumkehr ein, die so in der Tat kaum zu leisten sein dürfte.
Das ist ein unzulässiger Eingriff in die Lebenssphäre von
Menschen, die in Form von Wohngemeinschaften - das
ist eine mittlerweile durchaus verbreitete Wohnform zusammen wohnen, und ist aus diesem Grunde abzulehnen.
({7})
- Ich will damit an der Stelle schließen.
Auch Ihre Regelungen zum so genannten Altersschonvermögen und zu seiner vermeintlichen Ausweitung sind eine Mogelpackung, weil Sie im gleichen Verhältnis das zulässige so genannte freie Vermögen kürzen.
Selbst Ihr Sozialminister in Nordrhein-Westfalen, Herr
Laumann, hat diese Regelung als unzulänglich bezeichnet und ein Altersvorsorgevermögen von 700 Euro pro
Lebensjahr gefordert. In diese Richtung hätten Sie gehen
sollen.
({8})
Als Roland Koch in Hessen das so genannte EEG gegen
das Sozialgesetzbuch II in Anschlag gebracht hat, haben
Sie in noch viel schärferem Maße das zulässige Altersvorsorgevermögen kürzen wollen. Anstatt in dieser Art
und Weise Dinge vermeintlich zu tun und zu täuschen,
sollten Sie an das herangehen, was man wirklich machen
muss und in das man Energie stecken muss, nämlich an
das Fördern.
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/1410 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage soll abweichend von der Tagesordnung zusätzlich
an den Haushaltsausschuss gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Frank Spieth, Dr. Ilja Seifert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für
apothekenpflichtige Arzneimittel auf 7 Prozent
- Drucksache 16/732 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll, Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diejenigen, die sich gerade die Debatte zu Hartz IV angehört haben, sollten ruhig noch sitzen bleiben; denn
auch das jetzige Thema hat viel damit zu tun.
Wir müssen einfach konstatieren, dass bereits im vergangenen Jahr viele Menschen nicht mehr zum Arzt gegangen sind, weil ihnen die 10 Euro für die Praxisgebühr
zu viel waren. Jeder Hartz-IV-Empfänger und jede
Hartz-IV-Empfängerin muss diese 10 Euro zahlen.
({0})
Sie müssen bei den Arzneimitteln Zuzahlungen leisten.
Das sind Belastungen, die dazu führen, dass medizinische Versorgung nicht mehr in dem Umfang in Anspruch
genommen wird, wie es notwendig wäre.
Wir haben Ihnen einen kurzen Antrag vorgelegt, der
in dieser Richtung zumindest eine kleine Hilfe geben
würde. Wir möchten, dass der Katalog der Waren des lebensnotwendigen täglichen Bedarfs, die nur mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent belegt werden, erweitert wird. Es ist recht und billig, dass neben
Brot, Butter und anderen Dingen wie Hundefutter,
Schnittblumen und Tiermedikamenten
({1})
auch die apothekenpflichtigen Medikamente für Menschen dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegen;
denn es ist steuersystematisch wohl kaum begründbar,
warum Antibiotika für Hunde nur mit 7 Prozent Mehrwertsteuer belegt werden, während Antibiotika für KinDr. Barbara Höll
der, für ältere Menschen, für jüngere Menschen, für jeden, der es braucht, mit 16 Prozent belegt werden.
({2})
Dieses Thema ist nicht neu. Bereits in der
222. Sitzung des Deutschen Bundestages am 5. März
1998, damals noch in Bonn, habe ich einen entsprechenden Antrag in den Bundestag eingebracht, den Sie mit
den damaligen Mehrheiten am 7. Mai desselben Jahres
abgelehnt haben. Es freut mich, inzwischen konstatieren
zu können, dass auch die Bundesgesundheitsministerin
Ende vergangenen Jahres öffentlich darüber nachgedacht und gesagt hat, dass sie Handlungsbedarf sehe und
sich dem Thema widmen werde.
Wir liegen mit unserer Regelung im europäischen
Spitzenfeld; Deutschland hat den vierthöchsten Mehrwertsteuersatz für Medikamente. Viele andere europäische Staaten nutzen die Möglichkeit eines ermäßigten
Mehrwertsteuersatzes bzw. erheben überhaupt keine
Mehrwertsteuer auf Medikamente.
Die Regelung, die wir Ihnen vorschlagen, würde zu
einer kurzfristigen Entlastung des Systems der Krankenversicherungen führen. Die Krankenkassen und die
Bürgerinnen und Bürger könnten im nächsten Jahr unmittelbar um 2,6 Milliarden Euro entlastet werden. Das
wäre möglich, wenn es uns als Politikerinnen und Politiker gelingt, sicherzustellen, dass die Senkung des Mehrwertsteuersatzes tatsächlich an die Krankenkassen und
die Bürgerinnen und Bürger weitergegeben und damit
auch eine Senkung des Beitragssatzes, die Sie ja immer
anstreben, um 0,2 Prozentpunkte ermöglicht wird. So
sagt es der Vorsitzende des Apothekerverbandes Nordrhein. Wir haben hier also eine Möglichkeit, kurzfristig
Druck aus dem System zu nehmen und im Interesse der
Bürgerinnen und Bürger zu handeln.
Wir meinen, das ist auf diesem Feld notwendig; denn
das wäre zumindest ein Schritt in die richtige Richtung,
den Sie nutzen könnten, um ruhiger und gelassener sachlich darüber zu diskutieren, wie die Probleme im Krankenversicherungssystem gelöst werden können. Wir
werden nicht umhinkönnen, weiter über die Notwendigkeit einer Stärkung der Beitragsseite auch der
Krankenversicherung und über die Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze zu diskutieren. Wir müssen die
Krankenversicherung insgesamt gerechter gestalten, sodass die, die sehr viel verdienen, sich nicht privat versichern müssen, sondern in das System der gesetzlichen
Krankenversicherung einbezogen werden können.
Aber der ermäßigte Mehrwertsteuersatz auf apothekenpflichtige Medikamente wäre ein erster kleiner
Schritt, den wir machen könnten und der umso notwendiger ist, als Sie angedroht haben, die Mehrwertsteuer im
nächsten Jahr um 3 Prozentpunkte zu erhöhen. Das
würde im Klartext bedeuten: Haushaltssanierung des
Bundes auf Kosten der Kranken. Denn je kränker die
Bevölkerung ist, umso höher sind die Zahlungen, die die
Kranken über die Mehrwertsteuer leisten müssen. Das
ist inhuman und kann nicht das sein, was wir als Politikerinnen und Politiker erstreben.
Ich danke Ihnen.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Manfred Kolbe,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Antrag, über den wir jetzt zu später Stunde diskutieren, ist einer der klassischen PDS-Schauanträge, die man
Woche für Woche erlebt. Auf der einen Seite erleben wir
immer wieder eine maßlose Überforderung des Sozialstaats. Ich denke da zum Beispiel an den vorhergehenden Tagesordnungspunkt. Sie fordern teilweise eine
Grundsicherung oder Mindestlöhne von bis zu
1 400 Euro monatlich, worüber selbst in Ihren eigenen
Reihen Diskussionen entstanden sind. Als wir beim vorherigen Tagesordnungspunkt dann aber über eine maßvolle Missbrauchskontrolle diskutiert haben, hat Ihre
Rednerin, Frau Kipping, von „Sauereien“, „Gemeinheiten“ und „Sozialspitzeln“ gesprochen.
({0})
Ich zitiere nur; das sind nicht meine eigenen Worte. Auf
der anderen Seite nehmen Sie dem Staat die notwendige
Einnahmebasis weg. Das funktioniert nicht.
Ich komme selbst aus einem Wahlkreis, Frau Höll, wo
noch zu viele Bürgerinnen und Bürger PDS wählen.
({1})
Das verfängt aber auch in Ihrer Wählerschaft immer weniger. Das erlebe ich jede Woche in Bürgersprechstunden. Die Bürgerinnen und Bürger kommen zu uns, weil
sie bei Ihnen ohnehin nichts erreichen; sie wissen, dass
Sie alles versprechen, aber nichts halten können. Das
funktioniert nicht.
({2})
Es fehlt nur noch Mallorca und Freibier für alle und zahlen soll der liebe Gott.
Frau Höll, nachdem Sie eine ganze Reihe von Jahren
im Haushaltsausschuss verbracht haben, sind Sie jetzt
Finanzpolitikerin und wie ich Mitglied des Finanzausschusses. Ich hätte von Ihnen als Finanzpolitikerin zumindest ein Wort darüber erwartet, woher die
3 Milliarden Euro kommen sollen, die uns durch die von
Ihnen vorgeschlagene Maßnahme verloren gehen. Eine
Antwort darauf sind Sie schuldig geblieben. Das ist opportunistisch und leichtfertig und keine seriöse Politik.
({3})
Das macht Sie selbst bei Anträgen wie dem vorliegenden, über den man durchaus diskutieren kann, unglaub3020
würdig. Denn von Ihrer Seite werden keine seriösen Vorschläge zur Finanzierung gemacht.
({4})
Wir lehnen, auch wenn man darüber - wie gesagt durchaus diskutieren kann, Ihren Antrag aus folgenden
Gründen ab:
Erstens. Unsere Arzneimittelpreise liegen trotz des
vollen Mehrwertsteuersatzes im europäischen Mittelfeld. Alle seriösen Studien haben ergeben, dass in unseren Nachbarländern wie etwa in den Niederlanden, in
Dänemark, in der Schweiz, in Irland und in Finnland die
Arzneimittelpreise wesentlich höher liegen.
Zweitens. Eine ganze Reihe von Staaten erheben den
vollen Mehrwertsteuersatz; wir sind nicht die Einzigen.
Dänemark mit 25 Prozent und Österreich mit 20 Prozent
liegen dabei an der Spitze.
({5})
Drittens. Die ermäßigten Mehrwertsteuersätze bringen das Problem der Abgrenzung mit sich. Schauen Sie
sich einmal die fast 30 Seiten Papier an, die für die Beschreibung der Abgrenzung zu den ermäßigten Mehrwertsteuersätzen nötig sind. Diese Bürokratie bedeutet
einen Mehraufwand für die Verwaltung. Sie fordern ja
für apothekenpflichtige Arzneimittel einen ermäßigten
Mehrwertsteuersatz. Das wirft gravierende Abgrenzungsprobleme auf, die anzusprechen Sie nicht für nötig
gehalten haben.
Viertens. Wir können diese Maßnahme im Augenblick nicht finanzieren. Sie wissen, wir haben im Bundeshaushalt ein strukturelles Defizit in Höhe von
50 Milliarden Euro jährlich. Dieses Defizit müssen wir
eingrenzen, um wieder einen verfassungsmäßigen Haushalt verabschieden zu können.
Fünftens. Eine entscheidende Frage wäre, wie man
die Kostensenkung durch die reduzierte Mehrwertsteuer
an die Verbraucher weitergibt. Sie sind eine Antwort
darauf schuldig geblieben, wie Sie das - es ist in der Tat
ein schwieriges Unterfangen - bewerkstelligen wollen.
Wir sind bereit, über die reduzierten Mehrwertsteuersätze zu diskutieren. Ihren Einzelantrag lehnen wir aber
heute ab, weil uns nur eine Gesamtlösung weiterbringt.
Danke.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Wissing, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Mehrwertsteuer zu erhöhen, ist einfach; das Mehrwertsteuersystem zu reformieren, nicht. Es passt deshalb perfekt in das Bild der großen Koalition der kleinen
Schritte. Sie erhöhen die Mehrwertsteuer, schaffen es
aber nicht, das System zu reformieren. Dabei wäre das
bitter nötig.
Wie nötig das ist, hat die Bundesregierung jüngst in
einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion bestätigt. Ich frage Sie: Warum werden
Trüffel subventioniert? Warum gelten für Basilikum und
Rosmarin der volle, für Dill oder Majoran der ermäßigte
Steuersatz? Worin besteht der Zweck, Schlachtnebenerzeugnisse von Bibern, Walen, Schildkröten und Fröschen mit einem ermäßigten Umsatzsteuersatz zu subventionieren?
Auf unsere Anfrage nach circa 20 Produktgruppen,
für die ein ermäßigter Umsatzsteuersatz gilt - die also
subventioniert werden -, konnte die Bundesregierung
nicht in einem einzigen Fall eine schlüssige Begründung
vorlegen. Deutlicher kann man die Absurdität des Systems kaum vorführen.
({0})
Es ist bezeichnend für die Qualität der politischen Arbeit von CDU/CSU und SPD, dass sie nur Steuern erhöhen, sich eine Reform der Systeme aber überhaupt nicht
vornehmen. 140 Seiten benötigt die Bundesregierung,
um wenigstens einen teilweisen Überblick darüber zu
geben, für welche Produkte der ermäßigte und für welche der volle Umsatzsteuersatz erhoben wird. Trotz dieses Kompendiums leiden Verwaltung und Wirtschaft
nach wie vor darunter, dass oftmals nicht ersichtlich ist,
welcher Steuersatz denn nun angewendet werden soll.
Seit fünf Jahren müssen sich jeden Tag mindestens
fünf Unternehmen bei den Zolltechnischen Prüfungsund Lehranstalten erkundigen, wie ihre Produkte besteuert werden. Sind Sie sich eigentlich darüber im Klaren,
welche Bürokratiekosten dieser Umsatzsteuerwahn mittlerweile verursacht? Aber CDU/CSU und SPD können
nur eines: Steuern erhöhen. Allein in der Bundesfinanzverwaltung beschäftigen sich 500 Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter mit Fragen der Umsatzbesteuerung. Die
Bundesregierung erhöht lieber die Steuern, anstatt sich
darum zu kümmern, wie man das Problem im System in
Angriff nehmen kann. Es wäre an der Zeit, das System
für die Bürgerinnen und Bürger, aber auch für die Finanzverwaltung selbst wieder verständlich zu machen.
Aber Sie machen nichts. Sie erhöhen lieber die Mehrwertsteuer und beenden dann die Debatte.
Selbst die Bundesregierung kann nicht sagen, wer in
unserem Land eine verbindliche Auskunft darüber erteilen kann, ob für ein Produkt der ermäßigte oder der volle
Umsatzsteuersatz fällig ist. Auf eine entsprechende Anfrage antwortet das Bundesfinanzministerium - ich
zitiere jetzt aus der Antwort auf die Anfrage -: Bestehen
Zweifel, haben die Lieferer und Abnehmer die Möglichkeit, bei der zuständigen Stelle eine unverbindliche Zolltarifauskunft einzuholen.
({1})
Außerdem können unverbindliche Zolltarifauskünfte
auch bei den Landesfinanzbehörden beantragt werden. Dr. Volker Wissing
Die Auskunft ist unverbindlich. Ich frage mich, wer in
diesem Land eigentlich eine verbindliche Auskunft erteilen kann. Dazu sagt die Bundesregierung nichts, weil sie
es offensichtlich auch nicht weiß. Ihr fehlt der Durchblick beim Umgang mit den eigenen Steuergesetzen. Das
zeigt, wie dringend hier reformiert werden muss.
({2})
Sie sollten anfangen, unsinnig gewordene Ausnahmetatbestände zu streichen.
({3})
- Frau Kollegin, zum Beispiel die Subventionierung von
Trüffeln und Gänsestopfleber.
({4})
Was halten Sie davon? Diese Produkte werden nämlich
in Deutschland mit einem verminderten Umsatzsteuersatz subventioniert. Auch das wäre übrigens ein Thema
gewesen, das die Linkspartei hätte aufgreifen können.
({5})
Ihr Antrag hilft nicht weiter. Hier wird nur ein Aspekt
herausgepickt. Sie betreiben finanzpolitische Flickschusterei. Es geht nicht darum, einen ermäßigten Steuersatz für Medikamente zu fordern. Die Frage ist: Wie
bekommen wir das bei der Umsatzsteuer bestehende
Strukturproblem in den Griff? Fehlanzeige bei der SPD
und Fehlanzeige bei der CDU/CSU!
({6})
- Herr Spiller, Sie haben eine breite Mehrheit und wollen eine große Koalition sein. Sie haben eine historische
Mehrheit
({7})
und bekommen nichts zustande. Ihre Regierung weiß
nicht einmal, welche Umsatzsteuersätze wann anwendbar sind. Dann wollen Sie Lösungen von der Opposition.
Auch so kann man sich, wenn man solche Mehrheiten
auf sich vereint, aus der Verantwortung stehlen.
Die Steuererhöhungspolitik hilft den Bürgerinnen und
Bürgern in Deutschland nicht weiter. Das ist kein Lösungsansatz. Wenn wir über die Mehrwertsteuer reden,
sollte die Strukturfrage im Vordergrund stehen und nicht
die Erhöhung. Diese braucht Deutschland nicht.
Deutschland braucht auch keine finanzpolitische Flickschusterei der Linkspartei.
Vielen Dank.
({8})
Als Nächste hat das Wort die Kollegin Lydia
Westrich, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen zu
später Stunde! Liebe Frau Kollegin Höll, es ist keineswegs vergnügungssteuerpflichtig, zu addieren, wie viele
Anträge von Ihrer Fraktion - Herr Kolbe hat es schon
angesprochen -, die in hohem Maße kostenrelevant sind
und die wir als verantwortungsbewusste Koalition natürlich ablehnen mussten, in den letzten Monaten in den
Bundestag eingebracht wurden. Sie würden den jungen
Menschen, unseren Kindern Milliardenbeträge als Riesenhypothek hinterlassen, falls Ihre Anträge durchkommen würden.
Sie haben in der Aktuellen Stunde gestern Ihr Steuerkonzept erwähnt. Ich bin von Beruf Steuerbeamtin. Ich
habe die Vermögensteuer bearbeitet. Wenn ich denke,
welcher Verwaltungsaufwand für die paar Kröten notwendig ist! Es kommt noch nicht einmal ein Bruchteil
der Summe zusammen, die Sie für die Umsetzung allein
einer Ihrer Anträge brauchen würden.
({0})
- Das ist wahr. Wenn Sie sich mit der Praxis näher beschäftigen, stellen Sie fest, dass das eine ganz logische
Geschichte ist.
({1})
Sie machen eine Politik des reinen Populismus nach
dem Motto: Nach mir die Sintflut.
({2})
Als gewählte Parlamentarierinnen und Parlamentarier
haben auch Sie für die Zukunft unseres Landes Verantwortung übernommen.
({3})
Ihre Politik wird aber anscheinend immer noch vom
Ewiggestrigen bestimmt.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Barbara Höll zulassen?
Da es schon so spät ist, würde ich normalerweise
Nein sagen. Aber, okay.
Dann Frau Dr. Höll, bitte.
Liebe Kollegin Westrich, ich finde, wir sollten uns auf
ein uns zustehendes Diskussionsniveau begeben. Es ist
doch wohl klar, dass der Verwaltungsaufwand für die Erhebung der Vermögensteuer - er mag vielleicht 10 bis
15 Prozent betragen haben - zu keinem Zeitpunkt höher
war als die Einnahmen. Diesen Anschein haben Sie eben
erweckt. Sie werden mir sicher zustimmen, dass wir als
Gesetzgeber die Vermögensbesteuerung durchaus so gestalten können, dass auch tatsächlich Geld in die Kassen
hineinkommt. Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir
- das ist der Knackpunkt - vor dem Hintergrund der zu
erwartenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Erbschaftsbesteuerung sowieso gezwungen
sein werden, eine Neubewertung der Immobilien vorzunehmen. Da diese Aufgabe sowieso ansteht, sollten wir
sie zeitnah angehen.
Zur Erhebung ist zweifelsfrei eine Anschubfinanzierung erforderlich. Stimmen Sie mir zu, dass diese Aufgabe erstens ansteht - sie muss sowieso erledigt werden und es zweitens sehr wohl möglich ist, auf diesem Wege
Geld einzunehmen? Die Erwartungen bezüglich der Einnahmen schwanken. Die Schätzungen - es gibt entsprechende Berechnungen - reichen von 15 Milliarden Euro
bis zu 50, 60 Milliarden Euro. Diese sehr hohen Schätzungen würde ich persönlich nicht vertreten. Eine so
hohe Besteuerung möchte ich nicht. Dazu liegen aber seriöse Berechnungen vor. Daher kann man das nicht so
einfach zur Seite schieben.
({0})
Liebe Frau Kollegin, dem kann ich nicht zustimmen.
Selbst bei penibelster Bewertung aller Goldmünzen- und
Briefmarkensammlungen, aller Gemälde, Teppiche oder
dergleichen ist eine derart hohe Einnahme nicht zu erwarten. In den Jahren, in denen die Vermögensteuer zuletzt erhoben wurde - das muss ich ehrlich sagen -, wurden kaum mehr als 1 oder 2 Milliarden Euro
eingenommen. Der dafür notwendige Verwaltungsaufwand betrug circa 20 Prozent dieser Summe. Der Aufwand, der erforderlich wäre, um die notwendigen Verwaltungsstrukturen wieder aufzubauen, wäre viel zu
hoch. Dies ist im Übrigen nur ein Aspekt.
Ich erinnere an die Vielzahl derartiger Anträge von
Ihnen, die wir in diesem Haus schon behandelt haben.
Das hat mit seriöser Politik überhaupt nichts zu tun. Irgendwann werden wir uns mit Ihrem Steuerkonzept auseinander setzen müssen. Ich kann aber gleich sagen, dass
es etwas realitätsnäher sein müsste als das, was Sie jetzt
vorgelegt haben.
({0})
Ihr heute vorliegender Antrag auf Ermäßigung des
Mehrwertsteuersatzes für apothekenpflichtige Arzneimittel hätte einen Ausfall an Steuergeldern in Höhe von
jährlich sage und schreibe 3 Milliarden Euro zur Folge.
Sie bezeichnen das als überfällige sozialpolitische Komponente im Umsatzsteuerrecht. Sie wissen genau - das
können Sie auch nachlesen -, dass ein ermäßigter
Umsatzsteuersatz als Instrument der Verteilungspolitik
völlig ungeeignet ist. Das ist äußerst zielungenau und erreicht selten die Gruppen, die Sie mit dieser sozialpolitischen Komponente zu fördern versuchen. Ein Gegenfinanzierungsvorschlag taucht mit keiner Silbe auf.
Ich kenne diese Forderung nach dem ermäßigten
Mehrwertsteuersatz für Medikamente aus Schreiben der
pharmazeutischen Industrie, aus Gesprächen mit Apothekern und Großhändlern. Manche Kollegen der FDP
bringen sie vor. Auch einige Verbraucherschützer aus
meiner Fraktion führen sie immer wieder an. Sie haben
aber nicht die bitteren Erfahrungen mit Steuersenkungen
gemacht wie wir Steuerpolitiker. Wir haben das an anderer Stelle bereits erlebt.
In den letzten Jahren haben wir doch sehr deutlich erfahren, dass Steuersenkungen, die wir als Vorleistung erbracht haben, nicht automatisch eine Preissenkung für
die Verbraucherinnen und Verbraucher nach sich gezogen haben. Sie können auch in diesem Fall nicht sicherstellen, dass die Umsatzsteuerersparnis in Milliardenhöhe durch die Anwendung des ermäßigten
Mehrwertsteuersatzes tatsächlich an die Krankenkassen
und Patienten weitergegeben wird.
({1})
Dieser Antrag würde lediglich ein Loch in Milliardenhöhe produzieren, das auf andere Weise wieder gestopft werden müsste. Die sozialpolitische Komponente
erreicht nicht diejenigen, für die sie gedacht ist. Sie hegen doch die gleichen Zweifel. Das machen Sie in Ihrem
Antrag deutlich. Sie fordern nämlich gleichzeitig die
Senkung der Zuzahlungspauschale für apothekenpflichtige Arzneimittel. Was ist denn das für eine Milchmädchenrechnung? Die Senkung der jeweiligen Zuzahlungspauschalen um den durch die Mehrwertsteuerersparnis
erzielten Einsparbetrag, also mehrere Milliarden Euro,
ist eine Mindereinnahme bei den Krankenkassen, die
teilweise durch die Hoffnung aufgefangen werden soll,
dass Medikamente tatsächlich billiger werden könnten,
wenn der Staat auf seine Einnahmen verzichtet. Aber wir
haben das Geld nicht mehr. Statt eines Gegenfinanzierungsvorschlags, wie sich das gehören würde, legen Sie
also noch Milliardenabgaben für die Versicherten oben
drauf. Ich halte das für eine unverantwortliche Politik.
Die von Ihnen gewünschte sozialpolitische Komponente
wird einfach der nächsten Generation in die Schuhe geschoben.
({2})
So einfach ist das für Sie. Das hat mit sozialer Gerechtigkeit überhaupt nichts zu tun.
({3})
Wir, Herr Wissing, haben vor drei Jahren einen sehr
schmerzhaften Diskurs mit vielen Betroffenen geführt,
und zwar mit dem umgekehrten Ziel, nämlich die bestehenden Mehrwertsteuerermäßigungen auf Lebensmittel
- da wäre die Gänsestopfleber dabei; darüber müssen
wir uns noch einmal gesondert unterhalten ({4})
und Kultur- und Druckerzeugnisse zu beschränken und
die anderen auf den Normalsatz anzuheben. Das war
eine sehr schmerzhafte Diskussion und Ihre Partei hat
gut daran mitgewirkt, dass sie so schmerzhaft abgelaufen ist. Das Vorhaben ist, wie Sie wissen, im Bundesrat
gescheitert. Trotzdem halte ich diesen Weg, die Steuerbasis für die öffentlichen Ausgaben besser zu sichern,
immer noch für den richtigen. Wenn Sie dabei mithelfen,
können wir gemeinsam einiges bewegen.
({5})
- Das ist schön.
1968 wurde die Gesamtkonzeption für die Besteuerung der Umsätze im Gesundheitswesen mit Einführung der Mehrwertsteuer entwickelt. Dem gingen langwierige Beratungen voraus und insgesamt hat sich dieses
Konzept bewährt. Sie wissen, dass es umfassende umsatzsteuerliche Begünstigungen gibt, die Sozialversicherungsträgern und Bürgerinnen und Bürgern gleichermaßen zugute kommen. Die Heilberufe und die
Krankenhäuser sind von der Umsatzsteuer befreit. Wir
haben einen ermäßigten Steuersatz für orthopädische
Hilfs- und Fortbewegungsmittel sowie für zahn- und kieferorthopädische Leistungen. Die einheitliche Besteuerung der Arzneimittelumsätze zum allgemeinen Umsatzsteuersatz ist schon zum damaligen Zeitpunkt eingeführt
worden und hat sich seit Jahren eingespielt.
Die zurzeit weit überdurchschnittlichen jährlichen
Ausgabenzuwächse bei den gesetzlichen und privaten
Krankenkassen für die Arzneimittelversorgung haben
mit der Umsatzbesteuerung überhaupt nichts zu tun.
({6})
Uns allen ist klar, dass wir diese Ausgabenzuwächse
wirksam und langfristig begrenzen müssen. Das kann
aber nicht heißen, dass die öffentlichen Kassen von
Bund, Ländern und Gemeinden auf Milliarden von Euro
verzichten, nur in der Hoffnung, dass dann die Medikamente ein bisschen billiger werden könnten. Denn garantieren können Sie das nicht.
Die Fehlentwicklung der immensen Ausgabenzuwächse müssen wir durch Gesetzesänderungen im Bereich des Gesundheitsministeriums angehen. Sie selbst
mahnen ja in Ihrem Antrag eine grundsätzliche, dauerhafte Reform des Gesundheitswesens an. Wir in der
Koalition werden sie in Kürze nach intensiven Beratungen durchführen. Sie sind gerne eingeladen, Ihre Vorschläge dazu einzubringen, allerdings ohne vorher großzügige Steuergeschenke an alle zu verteilen und unsere
finanziellen Möglichkeiten schon im Voraus auszuschöpfen. Sie wissen, dass wir große Aufgaben zu bewältigen haben. Sie wissen, dass an einer Haushaltskonsolidierung überhaupt kein Weg vorbeiführt.
({7})
Ich glaube, dass ich für die meisten Mitglieder der
Koalition in Anspruch nehmen kann, dass die geplante
Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht leichten Herzens beschlossen worden ist.
({8})
Wir haben uns dazu durchgerungen, um die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen sicherzustellen. Das mag
Ihnen, Herr Wissing, vielleicht nicht so wichtig sein.
Uns ist es aber wichtig, weil wir eingesehen haben, dass
selbst ein moderater Ausgabenkurs nicht ausreicht, um
die Lücken der öffentlichen Haushalte zu schließen. Dieser Verantwortung für die Zukunft stellen wir uns in der
Koalition. Wenn Sie sich, Herr Wissing, davon ausschließen, dann muss ich ehrlich sagen, dass ich daran
zweifle, dass Sie den richtigen Beruf gewählt haben.
({9})
Die Leichtigkeit, mit der Sie von der Fraktion Die
Linke in Ihren Anträgen zusätzliche Milliarden Euro
verteilen wollen, können und wollen wir uns als Koalition wirklich nicht leisten, also auch nicht die ermäßigte
Umsatzsteuerbelastung für Arzneimittel mit eventuellen
Milliardengeschenken für Arzneimittelhersteller, wie Sie
von der Linken es wollen.
({10})
Wir lehnen Ihren Antrag auf jeden Fall ab. Ausgeben
ist immer leichter als reales Sparen. Aber ich wäre froh,
wenn wir zusammenarbeiten könnten, um in Brüssel
- hier haben Sie Recht, Herr Wissing - ein besseres Umsatzsteuerkonzept durchsetzen zu können. Das wäre eine
große Aufgabe, der wir uns alle stellen sollten.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat der Kollege Harald Terpe, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Wir führen diese Diskussion vor dem Hintergrund der durch die große Koalition organisierten neuerlichen Defizite bei der Finanzierung des Gesundheitswesens zulasten der Bürgerinnen und Bürger. Ich
verweise auf die beabsichtigte Mehrwertsteuererhöhung
und auf die dadurch forcierte Steigerung der Arzneimittelausgaben. Sie sollten auf die Mehrwertsteuererhöhung
verzichten, meine Damen und Herren von der großen
Koalition.
({0})
Des Weiteren nenne ich die Beseitigung des Steuerzuschusses für versicherungsfremde Leistungen in Höhe
von 4,2 Milliarden Euro zulasten der GKV. Das ist ein
deutlicher Rückschritt auf dem Weg zur Steuerfinanzierung, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Ihr
großkoalitionäres Konklave zur Gesundheitsreform nur
schwarzen Rauch produziert.
Vor diesem Hintergrund kommt der vorliegende Antrag der Linken scheinbar sympathisch daher. Er suggeriert uns eine wirksame Lösung. Aber wie so oft liegt der
Teufel im Detail und damit bei Ihnen, meine Damen und
Herren von der Linksfraktion.
Lassen Sie mich das kurz begründen:
Erstens. Eine gravierende Umsatzsteuersenkung in einem Land wie Deutschland mit freier Preisbildung
schafft Spielräume für Preiserhöhungen bei Arzneimitteln durch die Pharmaindustrie, wovor auch das AVWG
allenfalls zwei Jahre lang teilweise schützt, insbesondere
deshalb, weil Sie es auf apothekenpflichtige Arzneimittel ausgedehnt haben. Deswegen wundert es mich persönlich gar nicht, dass ich vonseiten der Pharmaindustrie
und der Apothekerverbände Ihrem Antrag gegenüber in
den vergangenen Tagen nur Wohlwollen vernommen
habe.
({1})
Das Phänomen der Preissteigerungen lässt sich in den
in der Begründung Ihres Antrags genannten Ländern
- Ländern mit niedrigen Umsatzsteuern - nachweisen.
In Großbritannien zum Beispiel ist zu beobachten, dass
die Einkaufspreise von Arzneimitteln wesentlich höher
sind als in Deutschland, dass also der Gewinn der Pharmafirmen wesentlich größer ist als hierzulande.
Zweitens. Vielleicht unbedacht, vielleicht aber auch,
um zu verschleiern, dass Ihr Antrag krankenkassenzentriert ist - wenn man berücksichtigt, wer diesen Antrag
eingebracht hat, wäre auch das nicht verwunderlich -,
behaupten Sie, die erhofften Einsparungen in voller
Höhe an die Kranken weiterzugeben. Dabei übersehen
Sie aber zweierlei: zum einen, dass von dem Einsparbetrag, den Sie genannt haben, gerade die Bezieher höherer
Einkommen profitieren, zum anderen, dass die durch die
Einsparbeträge reduzierten Einnahmen der Krankenkassen von allen aufgebracht werden müssen, egal ob arm
oder nicht arm.
Drittens. Ihr Antrag würde zu Steuerausfällen in Milliardenhöhe führen, ohne dass Sie einen konkreten Vorschlag zur Gegenfinanzierung unterbreiten.
Nun nehme ich noch den Gedanken meiner Vorrednerin von der SPD auf: Es ist eher zu fragen, ob man Steuersenkungstatbestände abschafft. Das habe ich jetzt allerdings nicht einfach nachgeplappert. Die Fraktion der
Grünen im Schleswig-Holsteinischen Landtag hat darüber bereits Ende letzten Jahres diskutiert und einen
entsprechenden Antrag erarbeitet. Es ist also an der Tagesordnung, darüber nachzudenken, ob reduzierte Steuersätze beispielsweise für Schnittblumen und Hundeund Katzenfutter sinnvoll sind.
({2})
Außerdem sei dahingestellt, ob das Ihre Genossen in den
ostdeutschen Ländern, in denen Sie parlamentarisch vertreten sind oder mit regieren, erfreuen würde.
Alles in allem bedeutet der Antrag der Linksfraktion
eine potenzielle Umverteilung von Steuergeldern zugunsten der Pharmaindustrie und gut Verdienender; wegen dieser Ungerechtigkeit kann er von der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen nur abgelehnt werden.
({3})
Herr Kollege Terpe, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Dazu gratuliert Ihnen das ganze Haus
und wir wünschen Ihnen viel Erfolg.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/732 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 16/887 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Hierfür wäre eigentlich eine Redezeit von einer hal-
ben Stunde vorgesehen. Zu Protokoll gegeben haben ihre
Reden der Kollege Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion,
der Kollege Dirk Manzewski, SPD-Fraktion, Kollegin
Mechthild Dyckmans, FDP-Fraktion, der Kollege
Dr. Ilja Seifert, Die Linke, der Kollege Peter Hettlich,
Bündnis 90/Die Grünen, und für die Bundesregierung
der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach1).
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 16/887 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse sowie an den Ausschuss für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Ute Koczy, Hans-Josef Fell, weiterer
1) Anlage 3
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN
Mit der strategischen Partnerschaft zwi-
schen der Europäischen Union und Latein-
amerika Ernst machen und deutsches En-
gagement ausbauen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heike
Hänsel, Dr. Diether Dehm, Wolfgang
Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN
Die Beziehungen zwischen EU und Latein-
amerika solidarisch gestalten - Kein Frei-
handelsabkommen EU-Mercosur
- Drucksachen 16/941, 16/1126, 16/1441 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Thilo Hoppe
Anette Hübinger
Dr. Karl Addicks
Heike Hänsel
Hierfür war ebenfalls eine Aussprache von einer hal-
ben Stunde vorgesehen. Zu Protokoll gegeben haben ihre
Reden die Kollegin Anette Hübinger, CDU/CSU-Frak-
tion, die Kollegen Lothar Mark und Sascha Raabe, SPD-
Fraktion, der Kollege Karl Addicks, FDP-Fraktion, der
Kollege Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke, und der
Kollege Thilo Hoppe, Bündnis 90/Die Grünen1).
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/1441 zu dem Antrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel
„Mit der strategischen Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika Ernst machen und
deutsches Engagement ausbauen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 16/941 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der
FDP und der Linksfraktion gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
({3})
- Sie haben für den Antrag gestimmt, aber gegen die Beschlussempfehlung; es ist schon alles richtig. Alles ist
richtig, alles wird gut.
({4})
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/1126 mit dem Titel „Die
Beziehungen zwischen EU und Lateinamerika solida-
risch gestalten - Kein Freihandelsabkommen EU-Mer-
1) Anlage 4
cosur“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalition und der FDP bei Gegenstimmen der Linksfraktion und Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Pfändungsschutz der Altersvorsorge und zur Anpassung des Rechts der Insolvenzanfechtung
- Drucksache 16/886 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Hierfür war ebenfalls eine Aussprache von einer hal-
ben Stunde vorgesehen. Zu Protokoll gegeben haben ihre
Reden der Kollege Dr. Günter Krings, CDU/CSU-Frak-
tion, der Kollege Dirk Manzewski, SPD-Fraktion, die
Kollegin Mechthild Dyckmans, FDP-Fraktion, der Kol-
lege Wolfgang Nešković, Fraktion Die Linke, der Kol-
lege Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen, und für die
Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Alfred Hartenbach2).
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/886 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu
gibt es offensichtlich keine anderen Vorschläge. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Leibrecht, Dr. Karl Addicks, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für einen Beobachterstatus Taiwans bei der
Weltgesundheitsversammlung
- Drucksache 16/968 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Ausschuss für Gesundheit
Hier wäre ebenfalls eine halbe Stunde Aussprache
vorgesehen. Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden der
Kollege Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, CDU/
CSU-Fraktion, der Kollege Detlef Dzembritzki, SPD-
Fraktion, der Kollege Harald Leibrecht, FDP-Fraktion,
die Kollegin Monika Knoche, Fraktion Die Linke, und
der Kollege Jürgen Trittin, Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/968 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie
ebenfalls einverstanden. Die Überweisung ist damit so
beschlossen.
2) Anlage 5
3) Anlage 6
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich rufe Zusatzpunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit
Sicherheitsaufgaben ({7})
- Drucksache 16/1364 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Hier wäre wiederum eine halbe Stunde Aussprache
vorgesehen. Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden der
Kollege Ralf Göbel, CDU/CSU-Fraktion, der Kollege
Gerold Reichenbach, SPD-Fraktion, Hartfrid Wolff,
FDP-Fraktion, Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke, und
Silke Stokar, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/1364 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch
hierzu gibt es keine weiteren Vorschläge. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Peter Hettlich, Dr. Anton Hofreiter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Fördergesetz für Dieselrußpartikelfilter baldmöglichst vorlegen
- Drucksache 16/946 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({9})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich habe soeben erfahren, dass ich der einzige
Redner zu diesem Tagesordnungspunkt bin. So habe ich
die Chance, Sie gnadenlos zu beschimpfen; denn Sie
können sich nicht mehr dagegen wehren. Vielen Dank.
({0})
- Natürlich wird es nicht ganz so schlimm für Sie wer-
den, aber ich kann dieses Thema nicht totschweigen,
1) Anlage 7
auch dann nicht, wenn alle anderen ihre Reden zu diesem Punkt zu Protokoll gegeben haben.
Wenn man sich in den Zeitungen und auf der Internetseite des Umweltbundesamtes die Werte für die Feinstaubbelastung ansieht, dann muss man feststellen, dass
in der Bundesrepublik in zahlreichen Städten - nicht nur
in Großstädten -, in Ballungsräumen und überall dort,
wo viel Verkehr ist, vermutlich schon zur ersten Jahreshälfte die Grenzwerte erreicht sein werden, die höchstens am Ende des Jahres hätten erreicht werden dürfen.
Wir erleben in Deutschland also, dass deutsches und europäisches Recht nicht eingehalten werden. Das kann so
nicht weitergehen, zumal wir alle wissen - das wissen
Sie von der SPD-Fraktion genauso wie Sie von der
CDU/CSU-Fraktion -, dass die Belastung mit Feinstaub
viel zu hoch ist und ein hohes Risiko für die Gesundheit
darstellt. Wir müssen alles tun, um diese Werte zu senken.
({1})
Lange waren die Länder und die Kommunen untätig.
Das hat sich inzwischen geändert. Überall werden
Anstrengungen unternommen, zum Teil werden Straßen komplett, zum Teil werden Ortsdurchfahrten auch
nur für LKW gesperrt. Die Kommunen bemühen sich.
Trotzdem sinken die Werte nicht. Warum ist das so? Insgesamt ist die Belastung in Ballungsräumen aufgrund
des hohen Verkehrsaufkommens und aufgrund der vielen
Dieselfahrzeuge ohne Filter zu hoch. Es ist also angesagt, dringend zu handeln und nicht abzuwarten.
Ich will kurz daran erinnern, wie lange wir uns schon
damit beschäftigen: Dieses Parlament hat 2002 beschlossen, die neuen Grenzwerte einzuführen. Diese gelten seit
2005. Wir haben seit 2004 einen Bundestagsbeschluss,
hier etwas zu tun. 2005 hat das Kabinett beschlossen, ein
Fördergesetz zur Einführung des Dieselrußfilters vorzulegen. Inzwischen ist die große Koalition im achten Monat und noch nicht einmal schwanger mit einem solchen
Gesetz. Es ist wirklich zum Mäusemelken. Es ist nicht
nachzuvollziehen, dass nichts geschieht, obwohl alle
wissen, dass bei der Nachrüstung von Dieselfahrzeugen, vor allem von Euro-3- und Euro-4-Fahrzeugen, die
für die Masse der Belastung verantwortlich sind, etwas
getan werden muss.
Neufahrzeuge werden - das wissen wir - inzwischen
aufgrund von Konsumentenverantwortung überwiegend
mit Filtern gekauft. Aber bei den Altfahrzeugen brauchen wir dringend einen Schub. Wir haben dazu einen
Vorschlag gemacht. Er ist in unserem Antrag skizziert.
Ich will ihn angesichts der späten Stunde nur knapp umreißen.
Wir wollen, dass rasch, nämlich noch in diesem Jahr,
zum 1. Juli, ein Fördergesetz eingeführt wird. Vor allen
Dingen sollen Fahrzeuge mit Vollfilter gefördert werden,
und zwar mit 600 Euro. Eine Teilfilterlösung soll nur mit
250 Euro gefördert werden. Warum? Es macht keinen
Sinn, Dieselrußfilter, die nur eine Wirksamkeit von
30 bis 40 Prozent haben, so stark wie voll wirksame, geregelte Filter zu fördern. Die Experten werden dem zustimmen.
({2})
Ich weiß, dass man im Umweltministerium brütet. Ich
weiß, dass man es im Finanzministerium aufhält.
({3})
Aber Sie werden das Thema nicht aufhalten können. Sie
müssen eine Lösung finden. Sie sollten eine differenzierte Lösung finden, die gute Filter stärker fördert als
weniger gute Filter.
Wir meinen, dass die Regelung durchaus aufkommensneutral sein sollte. Wer zukünftig mit einem Dieselfahrzeug ohne Rußfilter fährt, der soll mehr Steuern zahlen. Damit kann die Förderung mitfinanziert werden.
({4})
Meine Damen und Herren von der großen Koalition,
es ist an der Zeit, zu handeln, jetzt und hier einen Gesetzentwurf zur Förderung der Nachrüstung von Dieselfahrzeugen vorzulegen. Warten Sie nicht noch länger!
Sonst bestätigen Sie endgültig das Urteil, dass große Koalitionen nicht nur wenig hervorbringen, sondern dass
das Wenige auch noch ziemlich langsam daherkommt.
Vielen Dank.
({5})
Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben der Kollege
Jens Koeppen, CDU/CSU-Fraktion, der Kollege Mi-
chael Kauch, FDP-Fraktion, die Kollegin Gabriele Fre-
chen, SPD-Fraktion, und der Kollege Lutz Heilmann,
Fraktion Die Linke.1)
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/946 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
allerdings strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD wünschen Federführung beim Finanzausschuss,
hingegen die Fraktionen der FDP, der Linken und des
Bündnisses 90/Die Grünen beim Ausschuss für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Oppositionsfraktionen abstimmen: Federführung beim
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? -
Dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Überweisungsvor-
schlag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD abstimmen: Fe-
derführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für die-
sen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Dieser Vorschlag ist mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenom-
men.
1) Anlage 8
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Bärbel
Höhn, Dr. Anton Hofreiter, Ulrike Höfken, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der
Fahrgastrechte
- Drucksache 16/1146 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Federführung strittig
Hier ist interfraktionell eine halbe Stunde Aussprache
vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Anton Hofreiter, Bündnis 90/Die Grünen.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Fahrgäste wollen sicher und pünktlich befördert und vernünftig informiert werden.
({0})
Nahezu 50 Prozent der Bevölkerung haben keinen regelmäßigen Zugang zu einem PKW. Sie sind auf öffentliche
Verkehrsmittel angewiesen. Was geschieht, wenn diese
Unternehmen, aus welchen Gründen auch immer, kein
vernünftiges Produkt anbieten, das heißt den Fahrgast
nicht pünktlich befördern und unter Umständen nicht
einmal vernünftig über die Verzögerung informieren?
In nahezu allen Fällen hat man als Kunde bestimmte
Rechte. Wenn man eine Waschmaschine kauft, wenn
man irgendeine Dienstleistung in Anspruch nimmt und
dann irgendetwas schief geht, hat man Rechte. Nur der
Fahrgast hat bei Verspätungen keinerlei Rechte. Dies
wollen wir ändern. Deshalb haben wir diesen Gesetzentwurf eingebracht.
({1})
Wir wollen die Regeln des Bürgerlichen Gesetzbuches - eigentlich eine Selbstverständlichkeit - auch für
Fahrgäste in Kraft setzen. Gleiche Kundenrechte für
alle! Wir erreichen damit, dass die Unternehmen pünktlicher werden, dass die Fahrgäste informiert und, falls etwas schief geht, entschädigt werden.
Die DB AG schreit immer herum, die Fahrpreise
würden gigantisch ansteigen, wenn es zu einer solchen
Regelung käme; all das bringe nichts und führe eher zu
Nachteilen für die Kunden. Die Erfahrungen aus dem
Ausland, zum Beispiel aus den Niederlanden, mit entsprechenden Maßnahmen haben ganz klar gezeigt:
Weder steigen die Fahrpreise erheblich an noch kommt
es zu anderen Problemen. Im Gegenteil: In Holland
zeigte sich, dass die Bahnen sogar pünktlicher wurden.
Das heißt: Fahrgastrechte sind ein Gewinn für alle, für
die Fahrgäste, aber auch für die Unternehmen; denn zufriedene Kunden kommen wieder.
({2})
Wir alle kennen die Probleme, die es immer wieder
mit der DB AG und anderen Unternehmen gibt. Deshalb
kann ich nur dazu auffordern, nach den Beratungen unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. Er ist ein Gewinn
für alle, für Unternehmer und Kunden.
({3})
Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben der Kollege
Marco Wanderwitz, CDU/CSU-Fraktion, der Kollege
Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion, Marianne
Schieder, SPD-Fraktion, Heidrun Bluhm, Fraktion Die
Linke, und die Kollegin Rita Schwarzelühr-Sutter, SPD-
Fraktion.1) Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/1146 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Hierbei
ist die Federführung ebenfalls strittig. Die Fraktionen
der CDU/CSU, der SPD und der FDP wünschen die Fe-
1) Anlage 9
derführung beim Rechtsausschuss. Die Fraktionen Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen hingegen möchten
die Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz sehen.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen
abstimmen, der eine Federführung beim Verbraucherschutzausschuss vorsieht. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Dagegen? - Enthaltungen? - Damit
ist der Überweisungsvorschlag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP, der
eine Federführung beim Rechtsausschuss vorsieht, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit
ist dieser Überweisungsvorschlag mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 19. Mai 2006, 8 Uhr, ein.
Genießen Sie die gewonnenen Einsichten! Haben Sie
einen schönen Abend!
Die Sitzung ist geschlossen.