Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich begrüße Sie alle sehr herzlich zu unseren heutigen
Beratungen.
Bevor wir in die Tagesordnung einsteigen, erbitte ich
Ihre Aufmerksamkeit für einige kurze Mitteilungen.
Die Kollegin Mechthild Rawert hat ihr Amt als
Schriftführerin niedergelegt. Als Nachfolger schlägt die
Fraktion der SPD den Kollegen Dirk Becker vor. Sind
Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist offenkundig
der Fall. Dann ist der Kollege Becker zum Schriftführer
gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP:
Bundespolitische Folgerungen aus den Vorgängen an der
Rütli-Hauptschule in Berlin
({0})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer,
Markus Kurth, Irmingard Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Hartz IV weiterentwickeln - Existenzsichernd, individuell, passgenau
- Drucksache 16/1124 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({2})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Hänsel,
Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der LINKEN
Die Beziehungen zwischen EU und Lateinamerika so-
lidarisch gestalten - Kein Freihandelsabkommen EU-
Mercosur
- Drucksache 16/1126 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Otto Fricke, Ina Lenke, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Zwangsheirat wirksam bekämpfen - Opfer stärken
und schützen - Gleichstellung durch Integration und
Bildung fördern
- Drucksache 16/1156 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({4})
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
der Vorschriften über die Luftaufsicht und die Luftfahrtdateien
- Drucksache 16/958 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5})
- Drucksache 16/1159 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothee Menzner
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({6})
Übersicht 2
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten
Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 16/1141 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 28 zu Petitionen
- Drucksache 16/1132 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 29 zu Petitionen
- Drucksache 16/1133 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 30 zu Petitionen
- Drucksache 16/1134 -
Redetext
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 31 zu Petitionen
- Drucksache 16/1135 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 32 zu Petitionen
- Drucksache 16/1136 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 33 zu Petitionen
- Drucksache 16/1137 -
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 34 zu Petitionen
- Drucksache 16/1138 -
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 35 zu Petitionen
- Drucksache 16/1139 ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:
Beitrag des Energiegipfels zur Energieversorgungssicherheit und zur Verringerung der Gefahren durch Atomkraft
und Klimawandel
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({15}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Thilo Hoppe,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für ein friedliches Vorgehen im Konflikt über das iranische Atomprogramm - Demokratische Entwicklung unterstützen
- Drucksachen 16/651, 16/1157 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Werner Hoyer
Wolfgang Gehrcke
Jürgen Trittin
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({16}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Keine Wettbewerbsverzerrungen für Landwirte durch die
Umsetzung der EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren
in nationales Recht
- Drucksachen 16/590, 16/1142 Berichterstattung:
Abgeordente Dr. Peter Jahr
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Hirsch,
Dr. Petra Sitte, Volker Schneider ({17}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Anforderungen an die Gestaltung eines europäischen und
eines nationalen Qualifikationsrahmens
- Drucksache 16/1127 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({18})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard ScheweGerigk, Josef Philip Winkler, Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Menschenhandel bekämpfen - Opferrechte weiter ausbauen
- Drucksache 16/1125 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({19})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll - so-
weit erforderlich - abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 25 a und b sollen abgesetzt
werden. Es wird allein über den Antrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen - Tagesordnungspunkt 25 c -
beraten. Außerdem soll der Tagesordnungspunkt 34 - da-
bei handelt es sich um die Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung zum Antrag auf Einsetzung eines
Untersuchungsausschusses - unmittelbar im Anschluss
an die Wahl einer Vizepräsidentin aufgerufen werden.
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen nun zur Tagesordnung. Ich rufe die
Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 h auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Weitergeltung der aktuellen Rentenwerte ab 1. Juli 2006
- Drucksachen 16/794, 16/1004 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({20})
- Drucksache 16/1078 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Anton Schaaf
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({21}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Volker Schneider ({22}), Klaus Ernst,
Katja Kipping, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN
1-Euro-Jobs aus der Berechnungsgrundlage
für die Rentenanpassung herausnehmen
- Drucksachen 16/826, 16/1078 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Anton Schaaf
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({23}) zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates zur Verbesserung
der Portabilität von Zusatzrentenansprüchen
({24})
KOM ({25}) 507 endg.; Ratsdok. 13686/05
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
- Drucksachen 16/150 Nr. 2.265, 16/1155 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß ({26})
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Keine Rentenversicherungspflicht für geschäftsführende Alleingesellschafter einer
GmbH
- Drucksache 16/966 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({27})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über
die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den
künftigen 15 Kalenderjahren ({28})
und
Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2005 und zum Alterssicherungsbericht 2005
- Drucksache 16/905 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({29})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
f) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Ergänzender Bericht der Bundesregierung
zum Rentenversicherungsbericht 2005 ({30})
und
Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2005 und zum Alterssicherungsbericht 2005
- Drucksache 16/906 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({31})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationaler Strategiebericht Alterssicherung
- Drucksache 15/5571 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({32})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
h) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über
die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den
künftigen 15 Kalenderjahren gemäß § 154
SGB VI ({33})
und
Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2004
- Drucksache 15/4498 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({34})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundesregierung dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Herrn Franz Müntefering, das Wort.
({35})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Menschen müssen und sollen Vertrauen in die sozialen Sicherungssysteme haben. Deshalb haben wir in diesen Tagen entschieden, dass die Alleingeschäftsführer
von GmbHs, die keine Beschäftigten haben, nicht rentenversicherungspflichtig werden. Das war eine wichtige, nötige und schnelle Entscheidung.
({0})
Es gab ein einsames Urteil des Bundessozialgerichts
dazu und es gab bei über 500 000 davon Betroffenen
große Sorgen. Sie müssen nicht einzahlen und sie müssen
vor allen Dingen auch nicht nachzahlen. Das haben wir
schnell miteinander klargestellt.
Zentrale Themen heute sind der Rentenversicherungsbericht und der Alterssicherungsbericht. Damit
verbunden sind natürlich auch die Entscheidungen zu
dem speziellen Gesetz über die Weitergeltung der aktuellen Rentenwerte ab 1. Juli 2006. Dazu will ich zunächst ein paar Worte sagen.
Dieses Gesetz über die Weitergeltung der aktuellen Rentenwerte ab 1. Juli 2006 ist von uns veranlasst
und auf den Weg gebracht worden, weil lange Zeit unklar war, ob zum 1. Juli 2006 eine Kürzung der Renten
gemäß der geltenden gesetzlichen Regelung erforderlich
werden würde. Mit dieser Initiative haben wir klargestellt: Die große Koalition will, dass die Renten nicht gekürzt werden - nicht in diesem Jahr und auch in den
kommenden Jahren nicht. Es war aber lange Zeit nicht
ganz klar, wie die Grundvoraussetzungen für die Entscheidung sein würden.
Ihnen ist bekannt, dass sich die Erhöhung der Renten
nach der Entwicklung der Einkommen der aktiv Beschäftigten richtet. Das Ergebnis ist nun, dass wir inzwischen wissen, dass die Zunahme der anpassungsrelevanten Einkommen der aktiv Beschäftigten im Westen
0,2 Prozent beträgt, während es im Osten minus 0,4 Prozent sind. Wir wissen auch, dass die Renten nicht ganz
so stark erhöht werden, wie die Einkommen steigen,
sondern dass sich die Erhöhung um die Riester-Treppe
und um den Nachhaltigkeitsfaktor reduziert. Das sind
etwa 1,1 Prozent. Wenn man dies abgezogen hätte, dann
hätte es auf beiden Seiten eine Kürzung gegeben. Aber
es gibt drei Schutzklauseln: Die Rente darf wegen der
Riester-Treppe nicht sinken; die Rente darf wegen des
Nachhaltigkeitsfaktors nicht geringer werden; die Rente
darf sich in den neuen Bundesländern nicht schlechter
als in den alten Bundesländern entwickeln. Das heißt unter dem Strich: Es bleibt bei null. Die Tatsache, dass wir
dies mit einem Gesetz regeln und dafür keine Verordnung erlassen - das wäre sonst der Fall gewesen -, hat
auch den positiven Nebeneffekt, dass die Deutsche Rentenversicherung Bund nicht 20 Millionen Bescheide an
die Rentnerinnen und Rentner verschicken muss, sondern dass mit dem vorliegenden Gesetz die Situation geregelt wird und damit Rechtsverbindlichkeit eintritt.
Aus den Erkenntnissen der letzten Wochen ziehen wir
folgende Konsequenz: Wir werden dafür sorgen - die
nötigen Vorbereitungen dazu laufen -, dass die 1-EuroJobs in Zukunft nicht mehr in die Lohnentwicklung eingerechnet werden.
({1})
Diese haben die Berechnungsgrundlage in erheblichem
Maße verzerrt. Wir möchten, dass die 1-Euro-Jobs in
Zukunft nicht mehr in den Schnitt der Lohnentwicklung
einbezogen werden.
Bei dem Rentenversicherungsbericht und dem Alterssicherungsbericht hat es Vorlauf gegeben. Der Alterssicherungsbericht - ihn gibt es in jeder Legislaturperiode
nur einmal - macht deutlich: Angesichts der demografischen Entwicklung in unserem Land besteht Handlungsbedarf. Dazu gehört ganz entscheidend, dafür zu sorgen,
dass die älter werdende Generation nicht so früh aus dem
Erwerbsleben gedrängt wird oder dass sie in den Fällen,
in denen sie ausgeschieden ist, wieder in das Erwerbsleben einsteigen kann.
({2})
Auf dem letzten Treffen des EU-Ministerrats ist unter
Hinweis auf die Lissabonstrategie vereinbart worden, zu
erreichen, dass bis zum Jahre 2010 50 Prozent der
55-Jährigen und Älteren in Europa in Beschäftigung
sind. Davon sind wir in Deutschland noch weit entfernt.
42 Prozent der 55-Jährigen und Älteren sind berufstätig,
58 Prozent nicht. Das hängt damit zusammen, dass
50 Prozent der Unternehmen in Deutschland niemanden
beschäftigen, der älter als 50 Jahre ist. Diese Tendenz ist
schlecht. Diese Mentalität hat dazu geführt, dass in
Deutschland - nicht in allen Unternehmen, aber in vielen; manche sind auch vorbildlich - 55-Jährige und Ältere als nicht mehr zu gebrauchen angesehen werden.
Das ist falsch. Diese Generation kann noch etwas und sie
wird auch gebraucht. Wir in dieser Koalition wollen dafür sorgen, dass sich diese Erkenntnis durchsetzt und
dass die Chancen dieser Generation auf dem Arbeitsmarkt besser werden. Deshalb haben wir die Initiative
50 plus gestartet.
({3})
Das geht nicht schnell und einfach. Aber diese Schritte
wollen wir gehen.
Damit verbunden wird das faktische Anheben des
Renteneintrittsalters. Es liegt heute im Schnitt, wenn
man die Erwerbsminderungsrente hinzunimmt, bei
60 Jahren und mehr, das heißt bei 39 Lebensarbeitsjahren. Mit 21 Jahren steigt man in den Beruf ein und mit
60 Jahren und einem bisschen scheidet man aus. Da wir
länger leben - das ist gut; wir hoffen, Sie alle sind bei
guter Gesundheit mit dabei; das ist das Schöne an der
demografischen Entwicklung -, bedeutet das aber auch,
dass wir deutlich länger Rente zahlen müssen als noch
vor Jahrzehnten. Daraus wiederum resultiert angesichts
der aktuellen Bevölkerungsstruktur, dass sich die Zahl
der beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
bezogen auf die Rentnerinnen und Rentner, immer weiter verschiebt.
Das Verhältnis betrug einmal 8 : 1; in den 50er-Jahren
kamen auf einen Rentner acht Beschäftigte. Heute beträgt das Verhältnis etwa 1 : 3,2 bis 3,5; also 3,5 Beschäftigte auf eine Rentnerin oder einen Rentner. Im
Jahre 2030/40 wird das Verhältnis bei etwa 2 : 1 liegen.
Zwei Arbeitnehmer müssen also Steuern oder Sozialversicherungsbeiträge zahlen, um einen Rentner zu finanzieren. Das zeigt die Notwendigkeit, diese Gesellschaft
darüber zu informieren. Wir müssen klar machen, dass
wir hier etwas tun müssen. Das Erste, das getan werden
muss, ist, mit der Initiative 50 plus dafür zu sorgen, dass
die Menschen mit 50 Jahren und mehr nicht aus dem Job
gedrängt werden, sondern dass sie länger arbeiten können und sie dann, wenn sie keinen Job mehr haben, wieBundesminister Franz Müntefering
der eine altersgerechte Arbeit aufnehmen können. Das
wollen wir erreichen.
({4})
Wir werden die hier vorbildlichen Betriebe auszeichnen. Immer mehr haben längst begriffen, dass ein vernünftiger Altersmix im Betrieb wichtig ist. Die Alten
laufen nicht mehr so schnell wie die Jungen; aber ihr Erfahrungswissen ist ein hohes Gut.
Damit verbunden wird die Entscheidung - in diesem
Herbst wird das gesetzlich fixiert -, dass das Renteneintrittsalter von 65 Jahren auf 67 Jahre steigt. Damit ist das
Alter gemeint, von dem an die Rente ohne Abschläge
bezogen wird. Es gibt kein festes Renteneintrittsalter
und damit keine Fixierung auf einen bestimmten Tag, an
dem jemand aus seinem Job ausscheiden muss; das kann
er früher oder später tun. Dies ist bereits heute so geregelt. Es gibt einen Korridor zwischen 60 und 65, in dem
jemand aus dem Erwerbsleben ausscheiden kann. Wenn
er dies mit 60 mit einem Abschlag in Höhe von
0,3 Prozent im Monat tut, entspricht das 18 Prozent bezogen auf die fünf Jahre bis 65.
Der Korridor von 60 bis 65 wird sich bis zum Jahr
2029 auf 63 bis 67 verschieben. Dabei werden diejenigen, die auf 45 Rentenversicherungsjahre kommen,
ihre Rente unverändert mit 65 ohne Abschlag bekommen. Die anderen werden bis zum Alter von 67 Jahren
zu arbeiten haben oder vorher mit einem Abschlag in
Rente gehen können, wie es auch heute üblich ist.
Es ist keine leichte Entscheidung; aber wir sind der
Meinung, dass dies rechtzeitig deutlich gemacht werden
muss, damit sich die Menschen in ihrer persönlichen
Biografie - und übrigens auch die Tarifparteien - rechtzeitig darauf einstellen und entsprechende Entscheidungen treffen können.
Eines ist sicher: Die gesetzliche Rentenversicherung bleibt das Kernstück der Alterssicherung in diesem
Land. Bei allen Einsparungen macht sie auch weiterhin
einen beträchtlichen Anteil der Alterssicherung aus.
Aber sie muss um zusätzliche private Vorsorge ergänzt
werden. Diese besteht insbesondere aus den beiden Säulen betriebliche Altersvorsorge und Riesterrente. In
beiden Bereichen ist ein starker Zuwachs zu verzeichnen. Inzwischen sind mit steigender Tendenz insgesamt
15,7 Millionen Menschen - einschließlich der Beschäftigten im öffentlichen Dienst - an einer Form der betrieblichen Altersvorsorge beteiligt.
Ich begrüße sehr, dass die Tarifparteien sehr darauf
bedacht sind; denn wir haben in diesem Bereich eine
Chance, etwas zu erreichen, was auf anderem Wege
nicht so einfach ist: nämlich dass auch diejenigen mit
niedrigem Einkommen in die betriebliche Vorsorge mit
einbezogen werden. Denn bei der Riesterrente, von der
inzwischen schon 5,6 Millionen Menschen Gebrauch
machen, gibt es das Problem, dass sich diejenigen aus
unteren Einkommensgruppen zu stark zurückhalten. Wir
müssen ihnen Hilfe geben und dafür werben. Es muss in
Deutschland selbstverständlich sein - sowohl innerhalb
der Familien als auch in der Gesellschaft insgesamt -, in
jungen Jahren, also frühzeitig, damit zu beginnen, sich
über die gesetzliche Rentenversicherung hinaus über zusätzliche private Vorsorgeinstrumente zu versichern. Das
ist auch möglich. Wir werden dafür sorgen, dass der
Insolvenzschutz für Betriebsrenten noch verbessert
wird. Dies wird zusätzliche Sicherheit schaffen.
Ich möchte mich abschließend auf eine Kabinettsentscheidung beziehen, die wir gestern getroffen haben,
auch wenn sie nicht unmittelbar mit dem Thema zu tun
hat. Seitens der Bundesregierung wurde ein 6-Milliarden-Euro-Programm für Forschung, Entwicklung
und Innovation beschlossen, die in den nächsten Jahren
sehr gezielt gefördert werden sollen. Dabei soll versucht
werden, die Wirtschaft mit einzubeziehen und deutlich
zu machen, dass wir diesen Weg einschlagen müssen,
um ein Wohlstandsland zu bleiben.
Wer eine dauerhafte Alterssicherung will, muss ein
Interesse daran haben, dass der Wohlstand in Deutschland mindestens auf dem derzeitigen Niveau erhalten
bleibt. Wenn er im Jahr 2030 dem heutigen Stand entspricht, dann werden die Alten und die Jungen in Wohlstand leben können. Dann muss man allenfalls über ein
paar Prozentpunkte streiten.
Wenn der Wohlstand zurückgeht, dann wird es - was
auch immer wir gegenwärtig in die Gesetze aufnehmen weniger zu verteilen geben. Wenn man aber Wohlstand
will, dann muss man berücksichtigen, dass wir heute einen gehörigen Teil der Investitionen in die Wirtschaft, in
die Herzen und Köpfe der jungen Menschen investieren
müssen. Was wir in Vorschule, Schule, Ausbildung,
Qualifizierung und Weiterbildung investieren, bildet die
entscheidende Grundlage für eine vernünftige Alterssicherung auch in der Zukunft. Das ist das Wichtigste, was
es in diesem Land zu tun gibt.
({5})
Es ist nicht immer leicht, entsprechend zu argumentieren, weil man im Grunde denen, die heute auf Leistungen hoffen, die sie auch verdient haben und die wir ihnen geben möchten, sagen muss, dass ein gehöriger Teil
dessen für andere Zwecke genutzt werden muss, um dafür zu sorgen, dass die Rente auch für die kommenden
Generationen noch sicher ist.
Der Rentenniveausatz sagt wenig aus, wenn man
nicht sicher ist, dass der gleiche Wohlstand, den wir
heute haben, auch in die Zukunft transportiert wird. Deshalb verbindet sich an dieser Stelle das Thema „Rente
und Zukunft der Alterssicherung“ in der eben geschilderten Weise mit dem Thema „Bildung, Ausbildung und
Qualifizierung“.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Altersvorsorge ist ein ebenso wichtiges wie sensibles
politisches Feld. Die Menschen in unserem Land erwarten zu Recht - und sie vertrauen darauf -, dass sie nach
einem langen Arbeitsleben eine ausreichende Versorgung im Alter aus den drei Säulen gesetzliche Rentenversicherung sowie private und betriebliche Vorsorge
haben. Ich glaube, wir sind uns in diesem Hause einig,
dass die gesetzliche Rentenversicherung weiterhin den
Kern der Altersvorsorge bilden wird.
Wichtig ist dabei Verlässlichkeit. Deswegen möchte
ich Ihnen, Herr Minister Müntefering, für Ihre Ankündigung danken, der Forderung im FDP-Antrag auf Bundestagsdrucksache 16/966 zu folgen und Geschäftsführer einer GmbH, die zugleich Gesellschafter sind, von
der Rentenversicherungspflicht freizustellen. Damit
bewegen Sie sich nach einigem Zögern nun doch bei einem Problem, das für zahlreiche mittelständische Unternehmer zu einem K.-o.-Kriterium hätte werden können.
Sie sind an dieser Stelle nicht der Versuchung erlegen
- das ist zu begrüßen -, Kasse zu machen, und das wohl
auch deswegen nicht, weil ganz offensichtlich die zu erwartenden Mehreinnahmen in einem krassen Missverhältnis zu dem erwartenden volkswirtschaftlichen Schaden gestanden hätten. Vielen Dank dafür.
({0})
Die heutige umfassende Diskussion über die Rente
sollte man mit einer nüchternen Bestandsaufnahme beginnen. Die Lage der Rentenkasse ist kritisch. Das ist,
Herr Minister, kein Schlechtreden, sondern es ist ein notwendiger realistischer Blick auf die Verhältnisse. Wir
haben seit Jahren aufgrund einer schleppenden konjunkturellen Entwicklung und eines schon dramatisch zu
nennenden Verlustes an sozialversicherungspflichtiger
Beschäftigung ein jährliches Defizit der gesetzlichen
Rentenversicherung in einer Größenordnung von
4 Milliarden bis 5 Milliarden Euro. Das hat im Ergebnis
dazu geführt, dass trotz des Zuschusses aus den Einnahmen der Ökosteuer an die Rentenversicherung, der Anhebung des Beitragssatzes in der Rentenversicherung auf
19,5 Prozent, der Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze, bislang zwei Nullrunden für die Rentner - so wie
es aussieht, kommt noch eine dritte hinzu -, des Verkaufs der Gagfah, also des Immobilienvermögens der
Rentenversicherung, sowie der Verbeitragung der
Direktversicherung und der Zusatzversorgung - was die
Betroffenen 2 Milliarden Euro jährlich kostet - am Ende
des letzten Jahres die Nachhaltigkeitsrücklage - früher
nannte man sie Schwankungsreserve; seitdem sie nachhaltig sein soll, ist sie beileibe nicht mehr so tragfähig
wie vorher - mit gerade einmal 1,8 Milliarden Euro den
unteren Sollwert von 3 Milliarden Euro nicht erreicht
hat. Nur durch Inanspruchnahme der Bundesgarantie
konnte unterjährig die Auszahlung der Renten gesichert
werden. Ein ebenso einmaliger wie bemerkenswerter
Vorgang!
Angesichts dessen muss man eines festhalten, Herr
Müntefering: Ohne eine Wende am Arbeitsmarkt, ohne
den Aufbau neuer sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse und ohne eine Zunahme der
Zahl der Beitragszahler wird die Zukunft der Rente unsicher bleiben und werden Spielräume für nennenswerte
positive Rentenanpassungen nicht entstehen.
({1})
Aufgabe und Leitlinie der Politik muss es daher sein,
alles zu tun, was eine Wende zum Besseren begünstigt,
und alles zu unterlassen, was eine positive Entwicklung
gefährdet. Deswegen ist es fatal, wenn Sie, wie geplant,
am 1. Januar des kommenden Jahres die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte anheben; denn das wird eine
deutliche Dämpfung der konjunkturellen Entwicklung
zur Folge haben.
({2})
Statt mit entschiedenen Reformen die Voraussetzungen für mehr Wachstum und Arbeitsplätze zu schaffen,
kurieren Sie an den Symptomen. Eine - allerdings sehr
begrenzte - Entlastung erfährt die Rentenkasse in diesem Jahr durch das Vorziehen der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge. Faktisch 13 Monatsbeiträge
werden im laufenden Jahr 9,6 Milliarden Euro mehr an
Liquidität in die Rentenkasse spülen. Aber um welchen
Preis, Herr Minister! Der Wirtschaft und vor allem den
mittelständischen Betrieben werden in der Summe
20 Milliarden Euro Liquidität entzogen. Das ist ein
gigantisches Konjunkturdämpfungsprogramm, das das
zarte Pflänzchen Aufschwung massiv bedroht. Hinzu
kommen ein erheblicher Umstellungsaufwand sowie ein
ebenfalls erheblicher laufender Aufwand für die monatlichen Vorabschätzungen der Beitragsschuld, der die Unternehmen selbst dann noch drücken wird, wenn der Entlastungseffekt dieser Maßnahme längst nicht mehr
besteht.
Ich sage Ihnen voraus: Die Koalition schießt sich an
dieser Stelle in das eigene Bein. Genauso wenig wie die
Rechnung der Vorgängerregierung bei der Tabaksteuer
wird diese Kalkulation aufgehen. Das Vorziehen der Fälligkeit kostet Arbeitsplätze und wird die Probleme der
Rentenversicherung verschärfen. Sie handeln so kurzsichtig wie ein Bauer, der in einer Hungersnot das Saatgut zum Brotbacken verwendet. Eine nachhaltige Politik
ist das jedenfalls nicht.
({3})
Ohnehin haben Sie die nächste Anhebung des Beitragssatzes in der Rentenversicherung auf 19,9 Prozent am 1. Januar 2007 beschlossen. Das soll 4 Milliarden Euro zusätzlich bringen. Aber selbst dann muss - im
Bundeshaushalt 2008 - mit 600 Millionen Euro ausgeholfen werden, um erkennbare Löcher in der Rentenversicherung zu schließen. Eine geordnete Rentenpolitik
sieht anders aus.
Nun versuchen Sie, Herr Müntefering, den aus der beschriebenen Entwicklung entstandenen Vertrauensschaden zu begrenzen, indem Sie vollmundig ankündigen, es
werde wenigstens in dieser Legislaturperiode keine Rentenkürzungen geben.
({4})
Das mag gut gemeint sein; aber es ist sachlich falsch.
Was glauben Sie denn, wie die Rentner in diesem Lande
es empfinden müssen, wenn die Rente nicht erhöht wird,
sie aber ab dem 1. Januar 2007 eine um 3 Prozent höhere
Mehrwertsteuer zahlen müssen? Von der in Aussicht gestellten Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge profitieren diese Menschen ja überhaupt nicht
mehr. Ich kann Ihnen sehr deutlich sagen: Diese Menschen empfinden das als eine Dreistigkeit; sie empfinden
es als eine weitere deutliche Kürzung ihrer verfügbaren
Renten. Es ist unehrlich, zu behaupten, es gebe keine
Rentenkürzung, wenn man sie in Wahrheit doch längst in
Koalitionsrunden beschlossen hat.
({5})
Es ist auch nicht das erste Mal, dass dies geschieht.
Schon zweimal haben die Rentner Nullrunden hinnehmen müssen und wurden gleichzeitig zusätzlich belastet:
mit dem vollen Pflegeversicherungsbeitrag, mit dem Zusatzbeitrag zur Krankenversicherung und mit der Verbeitragung der Zusatzversorgung/Direktversicherung. Herr
Müntefering, es kann vor diesem Hintergrund nicht
wirklich verwundern, dass das Vertrauen der Rentner in
Ihre Politik nachhaltig gestört ist.
Weil das so ist, macht es keinen Sinn, sozusagen zur
Bestärkung einer behaupteten Nichtkürzungsabsicht das
heute hier vorliegende Gesetz über die Weitergeltung der
aktuellen Rentenwerte zu beschließen. Hier soll den
Rentnern ein X für ein U vorgemacht werden. Die
schmerzliche dritte Nullrunde in Folge soll den Betroffenen jetzt sogar noch als Erfolg und als Wohltat verkauft
werden. Ich sage sehr deutlich: Eine Absenkung der
Renten nach der Rentenformel ist 2006 auch ohne dieses
Gesetz nicht zu befürchten. Auch die Regierung selber
ging nie von einer negativen Lohnentwicklung aus, wie
sich im Rentenversicherungsbericht zeigt. Die nun vorliegenden offiziellen Zahlen bestätigen das.
Es ist daher heute das erste Mal, seit ich diesem Hohen Haus angehöre - das sind jetzt immerhin schon
15 Jahre -, dass der Bundestag ein Gesetz beschließen
soll, dessen Regelungsgegenstand zum Zeitpunkt der
zweiten und dritten Lesung weggefallen ist. Ich finde
das - ich sage es deutlich, Herr Müntefering - unzumutbar. Hier soll Regierungshandeln vorgetäuscht werden,
wo Regierungsversagen festzustellen ist.
({6})
Wie auch der Sozialbeirat fordere ich Sie auf, dieses Gesetz zurückzuziehen, weil es inhaltsleer ist. Es ist ein
Nullum. Das „Handelsblatt“ hat vollkommen zutreffend
geschrieben: „Koalition führt Rentner hinters Licht.“
Die Regierung verhindert öffentlichkeitswirksam eine
Rentenkürzung, die ohnehin nicht gekommen wäre. Dem ist nichts hinzuzufügen.
({7})
Nach alledem kann das Vorgehen der Bundesregierung bei der Aufstellung des Rentenversicherungsberichtes nicht mehr wirklich überraschen. Ich will hier gar
nicht mehr auf die zeitlichen Aspekte eingehen, sondern
mich ganz auf den Inhalt konzentrieren. Dessen Bewertung lautet: Um den Korridor des Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetzes mit seinen Niveau- und
Beitragszielen einhalten zu können, wird die Entwicklung der Jahre bis 2019 - also der mittelfristige
Bereich - systematisch überschätzt. Der Sozialbeirat hat
hier von sehr ambitionierten Annahmen gesprochen.
Herr Müntefering - er hört jetzt nicht zu; aber er wird
es hoffentlich nachlesen -, ich finde es in der Tat sehr
mutig, wenn im Durchschnitt dieses Zeitraums 2007 bis
2019 ein Lohnwachstum von 2,5 Prozent angenommen
wird, wo wir doch im Schnitt der letzten zehn Jahre gerade einmal 1 Prozent Wachstum der Löhne und Gehälter hatten, wenn im Durchschnitt dieses Zeitraums 2007
bis 2019 eine Beschäftigungszunahme von jährlich
0,6 Prozent unterstellt wird, wo wir im Schnitt der letzten fünf Jahre einen Rückgang um durchschnittlich
1,6 Prozent per annum hatten, und wenn im Durchschnitt dieses Zeitraums ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes angenommen wird, wo wir im Durchschnitt der letzten fünf Jahre nur 0,8 Prozent, im
Durchschnitt der letzten zehn Jahre gerade einmal
1,4 Prozent hatten. Mit konkreter Politik unterlegt wurden diese sehr positiven Annahmen über die Wirtschaftsentwicklung bisher nicht. Es regiert allein das Prinzip
Hoffnung. Es ist mehr als fraglich, ob alles das Realität
werden kann, was Sie hier niedergeschrieben haben.
Aber Papier ist bekanntermaßen geduldig.
Doch nur mit diesen „mutigen“ Annahmen, der angekündigten Anhebung des Renteneintrittsalters auf
67 Jahre und dem angekündigten Nachholfaktor - ob das
alles so kommt, wird man sehen müssen - wird es überhaupt möglich sein, im Korridor des Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetzes zu bleiben. Das zeigt:
Auch mittelfristig ist die gesetzliche Rentenversicherung
auf Kante genäht. Es muss schon einiges richtig gut laufen, damit die Naht hält.
Gerade weil das so ist, dürfen die betriebliche und die
private Vorsorge nicht vernachlässigt werden, sondern
müssen weiter ausgebaut werden. Der Sozialbeirat hat in
seinem Gutachten daher zu Recht gefordert, dass die
abgabenfreie Entgeltumwandlung nicht 2008 ausläuft.
Die Regierung plant aber genau dies. Wir, die FDP-Bundestagsfraktion, fordern die Verlängerung der sozialabgabenfreien Entgeltumwandlung über das Jahr 2008 hinaus, weil sie sich bewährt hat.
({8})
Die Rente wird in diesem Haus sicher auch in Zukunft ein wichtiges Thema sein. Entscheidend ist, dass
man mit einer nüchternen Bestandsaufnahme der Verhältnisse beginnt. Die Regierung hat bisher versagt, weil
sie am Arbeitsmarkt keine Weichenstellung zugunsten
von mehr Beschäftigung und mehr Beitragszahlern vorgenommen hat.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute abschließend über den Entwurf eines
Gesetzes über die Weitergeltung der aktuellen Rentenwerte ab 1. Juli 2006. Die Bundesregierung hat diesen
Entwurf vor zwei Monaten auf den Weg gebracht, um
frühzeitig klarzustellen: Es wird für die Rentner in diesem Jahr keine Rentenkürzung geben, so wie wir es im
Koalitionsvertrag festgelegt haben. Die große Koalition
hält, was sie verspricht.
({0})
Wir haben dieses Gesetz vorsichtshalber in der Tat
frühzeitig eingebracht. Wir stehen für Vertrauen und für
Verlässlichkeit. Wir werden die beitragsfinanzierte gesetzliche Rentenversicherung als wichtigste Säule der
Alterssicherung in Deutschland erhalten. Die Rentner
können sich darauf verlassen, dass sie ihre Altersbezüge
weiter erhalten.
Das bedeutet nicht - das wissen auch alle hier im
Hause -, dass wir etwa die gesetzliche Rentenversicherung unter Naturschutz stellen wollen. Es gehört zur
Wahrheit, festzustellen, dass die heute Jungen den Lebensstandard durch die gesetzliche Rente allein im Alter
nicht sichern können. Für sie ist eine kapitalgedeckte
Ergänzung der gesetzlichen Rente durch betriebliche
und private Altersvorsorge unerlässlich.
Umgekehrt gilt aber auch, dass sich die heutigen Rentenbezieher trotz langjähriger Beitragszahlung nicht nur
mit Rentenansprüchen in Höhe des Sozialhilfeniveaus
begnügen müssen. Die finanziellen Lasten der Alterung
müssen zwischen den Generationen fair und gerecht verteilt werden. Genau das ist die Maxime, die Richtschnur
aller Entscheidungen der großen Koalition in der Rentenpolitik. Diese Entscheidung ist richtig.
({1})
Wir haben dies mit einem rentenpolitischen Maßnahmenpaket verbunden. Vor vier Wochen haben wir dieses
Paket mit der Vorlage des Rentenversicherungsberichts
2005 mit Zahlen untermauert. Wir beschreiten mit diesem Zahlenwerk den Weg in die Realität. Lassen Sie
mich dies an einem Beispiel deutlich machen: Im letzten
Rentenversicherungsbericht der rot-grünen Bundesregierung ging man noch davon aus, dass die Renten bis zum
Jahr 2018 um gut 30 Prozent steigen. Schön wärs gewesen. Nach unserem Bericht liegt der vergleichbare Wert
bei 17 Prozent. Das ist zwar weniger, aber es ist ein realistischer Wert. Die Zeit der Schönfärberei ist vorbei.
Die große Koalition geht mit realistischen Zahlen an die
Lösung dieser Probleme heran.
({2})
Wahr ist natürlich auch: Wir werden den Rentenversicherungsbeitrag im nächsten Jahr von heute 19,5 Prozent auf 19,9 Prozent anheben. Ich habe noch keinen seriösen Vorschlag gehört, wie wir darauf verzichten
können. Ich will daran erinnern: Wir werden gleichzeitig
den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte senken. Das bedeutet: Unter dem Strich werden Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei den Sozialabgaben entlastet. Im nächsten Jahr sinkt der Gesamtsozialversicherungsbeitrag auf unter 40 Prozent. Das ist das
erste Mal seit dem Jahr 1995. Das ist ein beachtlicher Erfolg der Konsolidierungspolitik dieser großen Koalition.
({3})
Gleichzeitig werden wir - auch das geht aus den Berichten hervor und ist politisch klar geäußert worden die Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre beschließen. Auch dazu gibt es, wie wir wissen, keine seriöse Alternative. Klar ist auch: Das muss mit besonderen
Anstrengungen für die Verbesserung der Beschäftigungschancen Älterer einhergehen. Diesen Weg werden wir beschreiten. Wir legen hier ein Gesamtkonzept
vor.
Es hätte die Möglichkeit bestanden, dass auch die Opposition hier einmal ihr Konzept darlegt.
({4})
Stattdessen betreiben die Oppositionsfraktionen nichts
als Rosinenpickerei. Es ist klar: Die Linken stellen den
Antrag, die 1-Euro-Jobs bei der Rentenberechnung nicht
zu berücksichtigen. Dieser Antrag ist völlig überflüssig,
weil die 1-Euro-Jobs in die Rentenberechnung bisher gar
nicht einfließen.
({5})
Wir werden sie auch in Zukunft nicht einbeziehen. Das
ist politisch klar.
Nun wundert es mich nicht, wenn ein solcher Antrag
von den Linken kommt, aber ich muss schon sagen, Herr
Kollege Kolb: Ich mache mir Sorgen um die FDP und
um die Seriosität Ihrer Politik.
({6})
Sie beantragen hier allen Ernstes, wir sollten unseren
Gesetzentwurf über die Weitergeltung der aktuellen
Rentenwerte zurückziehen. Was ich hier in Händen
halte, Herr Kollege Kolb, ist die erste von 17 Seiten der
Verordnung der vorigen Bundesregierung aus dem letzten Jahr, in der festgelegt wurde, dass es im Jahr 2005
keine Rentenerhöhung gibt. Dies wollen Sie durch dieses Papier hier ersetzen und das soll dann, wie der
Minister schon gesagt hat, 20 Millionen Mal verschickt
werden, um das den Leuten mitzuteilen. Das ist Ihr Beitrag zum Bürokratieabbau. Es kann doch wohl wirklich
nicht Ihr Ernst sein, Herr Kollege Kolb, dass Sie uns das
hier auch noch als seriöse Alternative verkaufen wollen.
Ich verstehe es wirklich nicht.
({7})
Herr Kollege Kolb, wir haben vor zwei Tagen Professor Ruland verabschiedet. Ich habe bei der Gelegenheit
einmal mit Norbert Blüm gesprochen und ihn gefragt:
Wie war das denn eigentlich mit dem Herrn Kolb, der ja
einmal Staatssekretär war? Ich habe gedacht, er würde
mir sagen: Der war immer gegen CDA-Politik, ein ganz
schwieriger Fall. - Das hat Norbert Blüm aber gar nicht
zum Ausdruck gebracht, sondern er hat gesagt: Mit dem
Herrn Kolb konnte man sehr gut zusammen regieren.
Das war ein sehr guter Mann.
({8})
Herr Kolb, Sie können es doch eigentlich. Von daher
bitte ich Sie wirklich: Gehen Sie von diesem unseriösen
Kurs ab! Wir brauchen in diesem Land eine seriöse liberale Opposition, die seriöse Anträge stellt und nicht solche, die Sie, meine Damen und Herren, nur stellen können, weil Sie wissen, dass Ablehnung gesichert ist.
Gehen Sie von diesem Weg ab, liebe Kolleginnen und
Kollegen!
({9})
Ähnliches gilt für Ihren Antrag zur Rentenversicherungspflicht für geschäftsführende Alleingesellschafter. Den haben Sie nicht eingebracht, weil Ablehnung
gesichert war. Den haben Sie am 15. März vorgelegt, als
Erfüllung schon gesichert war, lieber Herr Kolb.
({10})
Hierbei geht es in der Tat um ein ernstes Problem. Ich
bin dem Kollegen Max Straubinger aus unserer Fraktion
dankbar. In den regelmäßigen Gesprächen, die wir in der
Koalition haben, hat er als Erster dieses Thema angesprochen und darauf gedrungen, dafür eine Lösung zu
finden.
({11})
Ich kann erfreut feststellen: Unsere sozialdemokratischen Partner
({12})
sind für unsere guten Argumente meistens offen, so auch
in diesem Fall. Deshalb sind sie unseren Argumenten gefolgt. Wir haben uns vor Wochen auf diese Regelung
verständigt. Nachdem das politisch klar war, haben Sie
diesen Antrag gestellt in dem Wissen, dass das sowieso
passiert. Das ist keine seriöse Oppositionspolitik, liebe
Kolleginnen und Kollegen!
({13})
Weil ich gerade dabei war, wollte ich eigentlich auch
noch etwas Unfreundliches zu den Grünen sagen,
({14})
musste aber feststellen: Wir beraten die Tagesordnungspunkte 3 a bis h, aber Sie von den Grünen haben leider
überhaupt nichts vorgelegt. Es liegt kein Gesetzentwurf,
kein Antrag, nicht einmal ein Entschließungsantrag von
Ihrer Fraktion vor.
({15})
Es ist wirklich sehr bedauerlich, dass es von Ihnen keinen Beitrag zu dieser Debatte gibt. Deswegen muss ich
Sie heute leider aussparen. Vielleicht kommt von Ihnen
in der Zukunft wieder etwas, wenn Sie mit Ihren internen Problemen fertig sind.
({16})
Ich komme zu dem Konzept der Rentenpolitik der
großen Koalition zurück.
({17})
Wir werden die Maßnahmen sinnvoll aufeinander aufgebaut fortführen. Im nächsten Jahr wird es eine moderate
Erhöhung des Rentenbeitragssatzes geben. Wir werden
die in diesen Jahren nicht durchgeführten Rentenkürzungen durch den Einbau eines Nachholfaktors in der Rentenanpassungsformel nachholen, weil die Jungen auf
Dauer nicht allein die Lasten tragen können.
({18})
Vielmehr muss jede Generation ihren Beitrag leisten.
Darum werden wir das so machen.
({19})
Alle diese Maßnahmen gehen mit einem moderat steigenden Bundeszuschuss an die Rentenkasse einher.
Wenn man sich die Mühe macht, die Zahlen aus dem
Bundeshaushaltsplanentwurf 2006 mit denen der letzten
Jahre zu vergleichen, wird man feststellen: Der Anstieg
des Bundeszuschusses ist heute deutlich geringer als in
der Vergangenheit. Zur Ehrlichkeit gehört dazu, auch zu
sagen: Ohne eine solche moderate Steigerung geht es
nicht. Neben den Beitragszahlern und den Rentnern
muss auch der Steuerzahler seinen Beitrag zum Erhalt
des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung leisten.
Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass
uns das Thema Rente in der gesamten Wahlperiode begleiten wird. Das gilt für die gesetzliche Rente genauso
wie für die kapitalgedeckte Altersvorsorge.
Lassen Sie mich, weil das angesprochen worden ist,
noch ein Wort zur sozialabgabenfreien Entgeltumwandlung bei der betrieblichen Altersvorsorge sagen.
Es ist doch völlig klar, dass man es, wenn man in Zeiten
von 5 Millionen Arbeitslosen, leeren Rentenkassen und
einer geringen Quote von Menschen - etwa jeder siebte
bis achte -, die die Riester-Förderung in Anspruch nehmen, die Regierungsgeschäfte übernimmt, mit Zielkonflikten zu tun hat. Aber ich finde, es ist selbstverständlich, dass man bei den Dispositionen, die man trifft,
von der geltenden Rechtslage ausgeht. Die Rechtslage
ist ganz klar die, dass diese sozialabgabenfreie Entgeltumwandlung, die die Sozialkassen an anderer Stelle eine
Menge Geld kostet, im Jahr 2008 ausläuft. Jeder, der
seine Dispositionen verantwortlich trifft, wird erst einmal von dieser bestehenden Rechtslage ausgehen.
({20})
Wir haben uns gleichwohl vorgenommen, vor dem
Hintergrund der positiven Entwicklung seit dem InKraft-Treten des Alterseinkünftegesetzes im vergangenen Jahr bis zum nächsten Jahr zu prüfen, wie die Entwicklung weiter verläuft. Im Jahr 2007 werden wir dann
entscheiden, welche Maßnahmen wir zur weiteren Förderung der betrieblichen und privaten Altersvorsorge
ergreifen. Damit ist im Jahr 2006 das zu diesem Thema
gesagt, was dazu zu sagen ist.
({21})
Wir werden die Entscheidungen vor dem Hintergrund
der Erkenntnisse, die wir bis zum nächsten Jahr gewonnen haben, verantwortlich treffen.
Damit wird insgesamt deutlich, liebe Kolleginnen und
Kollegen: CDU/CSU und SPD stellen sich den Problemen in der Rentenversicherung. Wir haben beim Thema
Rente wichtige Entscheidungen getroffen. Wir betreiben
keine Rosinenpickerei wie die Opposition, sondern wir
haben ein in sich geschlossenes, wenn auch nicht populäres Konzept, das es nunmehr in Gesetzesform zu gießen gilt. Das haben wir uns für die Zukunft vorgenommen. Jeder ist herzlich eingeladen, dabei konstruktiv
mitzuwirken.
({22})
Vielen Dank.
({23})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Ernst von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Guten Morgen, Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Man soll ja positiv denken. Ich möchte das
heute einmal versuchen, auch wenn es mir angesichts
des Rentenberichts der Bundesregierung äußerst schwer
fällt. Aber das Positive zuerst: Man nimmt richtigerweise künftig die 1-Euro-Jobs aus der Berechnung des
Rentenwertes heraus.
({0})
Das ist wichtig und gut. Es freut mich, dass Sie unsere
Anregung aufgenommen haben.
({1})
Zum Zweiten. Es geht um ein Gesetz über die Weitergeltung der aktuellen Rentenwerte, das die Bundesregierung eingebracht hat. Jetzt hören wir, dass dieses Gesetz
eigentlich überhaupt nicht notwendig sei,
({2})
weil die Renten gar nicht sinken würden, da nämlich die
Lohnerhöhung offensichtlich doch noch so hoch sei,
dass es für eine Nullrunde reiche und keine Rentensenkung vorgenommen werde. Jetzt frage ich mich natürlich: Warum macht die Bundesregierung ein Gesetz, das
eigentlich überflüssig ist?
({3})
Wenn man sich diesem Gedanken nähern will, dann
ist es hilfreich, ab und zu im „Handelsblatt“ zu blättern.
Dort heißt es:
Da liegt nicht nur der Verdacht nahe, dass sich die
Politik mit einer Shownummer brüsten will. Ganz
nebenbei spart sie sich per Gesetz auch die Information der Ruheständler über die Entwicklung ihrer
Bezüge, auf die diese eigentlich ein Anrecht haben.
Meine Damen und Herren, ich glaube, es geht sogar
noch um ein bisschen mehr. Jeder weiß, dass diese Bundesregierung den Rentnern in unerträglicher Weise an
die Wäsche geht.
({4})
Jeder weiß, dass die gesetzlichen Maßnahmen, die geplant sind, zu massiven Einschnitten bei den Rentnern
führen würden. Wenn man jetzt ein Gesetz veröffentlicht, über das die Presse schreiben kann, dass die Bundesregierung diejenige ist, die die Rente eigentlich
sichert, dann deutet das darauf hin, dass sich die Bundesregierung damit möglicherweise einen Imagevorteil verschaffen will. Das ist ein Etikettenschwindel genau wie
vor der Bundestagswahl, Herr Müntefering. So betreiben
Sie hier in diesem Hause Politik.
({5})
Nun kommen wir zum eigentlichen Punkt, nämlich
zum Rentenversicherungsbericht. Alte und neue Bundesregierung haben seit Jahren ihre Finger in den Geldbörsen der Rentner. Da wird das Sicherungsniveau auf
46,3 Prozent reduziert. Es gibt von 2005 bis 2009 faktisch Nullrunden. Herr Müntefering, eigentlich sind es
keine Nullrunden. Denn Sie wissen ganz genau, dass wir
gleichzeitig Inflation und dass wir gleichzeitig eine
Mehrwertsteuererhöhung haben. Wenn man dies über
vier Jahre summiert, dann ergibt sich in den nächsten
vier Jahren real eine Rentenkürzung von mindestens
8 Prozent.
({6})
Wenn Sie glauben, dass das sozialdemokratische Politik
ist, dann glauben Sie auch, dass Zitronenfalter Zitronen
falten, Herr Müntefering.
({7})
Wenn Sie gleichzeitig auch noch den Bundeszuschuss
senken, wenn Sie gleichzeitig die Heraufsetzung des
Renteneintrittsalters auf 67 Jahre einführen wollen, dann
kann ich nur sagen, dass das mit einer vernünftigen
Sozialpolitik überhaupt nichts mehr zu tun hat. Die
Schwankungsreserve ist inzwischen aufgebraucht; sie ist
eigentlich gleich null. Reden Sie also nicht mehr von
Schwankungsreserve! Was nicht mehr vorhanden ist,
kann doch auch nicht mehr schwanken. Das ist doch
weg, meine Herren und Damen.
({8})
Auch dieser Etikettenschwindel wird von der Bundesregierung betrieben.
Sie denken darüber nach, wie Sie in dem Ausmaß, in
dem die Renten in diesem Lande aufgrund Ihrer Berechnungsmethoden sinken, die Diäten für die Abgeordneten
nach einer anderen Berechnungsmethode erhöhen könnten.
({9})
Das würde dazu führen, dass ein Abgeordneter 1,3 Prozent mehr Diäten bekommen soll. Das kann zwar uns als
Abgeordnete freuen. Aber draußen versteht das kein
Mensch mehr.
({10})
Hier wird eine Politik betrieben, die immer andere betrifft, aber die eigenen Taschen füllt. Das ist verwerflich
und nicht zu akzeptieren, Kolleginnen und Kollegen.
({11})
Herr Müntefering, bei Ihren Berechnungen bauen Sie
auf Sand. Die Zahl der Arbeitslosen, so lese ich in Ihrem
Bericht, soll von 2005 bis 2009 um 650 000 sinken. Wie
wollen Sie dies, bitte schön, erreichen? Die Vorschläge,
wie Sie die Arbeitslosigkeit reduzieren wollen, bleiben
Sie schuldig. Jeder weiß, dass Ihre Politik eher dazu führen wird, dass die Arbeitslosigkeit weiter zunimmt.
Diese Milchmädchenrechnung, die Sie hier aufmachen,
glaubt Ihnen doch keiner mehr. Woher nehmen Sie beispielsweise Ihre Annahme, dass die Entgelte ab 2010
statt um 3 Prozent immer noch um 2,5 Prozent steigen
sollen? Ich habe den Eindruck, Sie haben sich zum Kaffeesatzlesen getroffen und dann Ihren Bericht veröffentlicht.
Mit Ihrer Politik zerstören Sie die Grundlagen dieses
Sozialstaats. Sozialstaat ist nämlich nicht nur Armenküche, Sozialstaat ist nicht nur die Verteilung von Suppen an Bedürftige. Sozialstaat hat auch etwas mit Organisation zu tun. Wenn man eine Versicherung hat, dann
entsteht ein Rechtsanspruch auf eine bestimmte Leistung
dadurch, indem man einzahlt. Sie haben aber letztendlich vor, dieses Niveau so weit nach unten zu drücken,
dass jeder, der irgendwann in seinem Leben ein
Hartz-IV-Empfänger wurde und nicht privat vorsorgen
konnte, an die Armutsgrenze gedrückt wird. Das ist
keine Sozialpolitik, sondern eine gezielte Verarmung
künftiger Generationen.
({12})
Um es noch einmal deutlich zu machen, will ich jemanden zitieren, der zumindest in der CDU noch bekannt sein müsste, auch wenn es einigen von Ihnen
schwer fällt, sich an ihn zu erinnern. Er hat nämlich gesagt:
Wenn Armutsvermeidung zur Hauptaufgabe des
Sozialstaates wird, verwandelt sich dieser in eine
Bedürfnisprüfungsanstalt, weil er - bevor er Hilfe
leistet - ständig fragen muss: „Bist du reich, bist du
arm?“
Das war Ihr Herr Blüm, der das gesagt hat.
({13})
Wo er Recht hat, hat er Recht, auch wenn Sie ihn heute,
wie Herrn Kirchhof, am liebsten wegsperren würden. So
ist doch die Realität.
({14})
Die Rente hat schon jetzt ein Niveau erreicht, von
dem viele nicht mehr vernünftig leben können. Sie machen Politik nicht für die Menschen, sondern offensichtlich für Zahlen. Ihr oberstes Ziel ist die Beitragssatzstabilität. Aber Sie vergessen dabei, wie es den Leuten
geht, die von ihrer Rente letztendlich leben müssen.
({15})
Ihr Ziel ist übrigens - das ist der nächste Etikettenschwindel - nicht Beitragssatzstabilität. Sie können es
noch so oft behaupten: Das glaubt Ihnen kein Mensch
mehr. Denn die einzige Gruppe, für die der Beitragssatz
tatsächlich stabil bleibt, sind die Unternehmen. Aber für
die Arbeitnehmer bleibt der Beitragssatz nicht stabil,
wenn sie privat vorsorgen müssen.
({16})
Private Vorsorge bedeutet, dass zwar die Arbeitgeberbeiträge auf unterem Niveau eingefroren werden, dass aber
gleichzeitig die Arbeitnehmer durch ihre private Zusatzversicherung, die sie abschließen müssen, weniger in der
Tasche haben als vorher. Beitragssatzstabilität findet nur
für die Arbeitgeber statt, aber nicht für die Bevölkerung
und nicht für die Versicherten. Deshalb sage ich: Wenn
Sie das so machen, ist das, was Sie der Bevölkerung suggerieren, Etikettenschwindel. Sie entlasten die Arbeitgeber, ohne dass es einen Effekt hat.
Ich sage Ihnen: Die eigentliche Ursache für die Probleme in der Rentenversicherung liegt darin, dass die
Löhne in diesem Lande nicht mehr steigen. Sie steigen
unter anderem deshalb nicht, weil Sie durch Ihre Politik
dazu beigetragen haben, dass die Gewerkschaften in einer Art und Weise geschwächt werden, dass Lohnerhöhungen kaum noch durchsetzbar sind. Ein Arbeitslosengeld-II-Empfänger weiß, was er bekommt. Diejenigen,
die noch keine Arbeitslosengeld-II-Empfänger sind, die
noch in Arbeit sind, wissen, was ihnen blühen würde,
wenn sie Arbeitslosengeld II bekommen würden. Deshalb ist es natürlich so, dass die Widerstandskraft in den
Betrieben bzw. bei den Beschäftigten gesunken ist. Deshalb haben wir Nullrunden und letztendlich auch ein
Problem in der Rentenversicherung. Weil es inzwischen
6 Millionen Menschen gibt, die mit prekären Arbeitsverhältnissen, mit Billigjobs abgespeist werden, wird unzureichend in die Sozialkassen eingezahlt. Wenn Sie das
ändern, würden Sie das Übel tatsächlich an der Wurzel
packen und nicht permanent die kleinen Leute schröpfen, Herr Müntefering.
({17})
Ich komme damit zum Schluss. Sie haben gesagt: Die
Menschen sollen Vertrauen haben. Herr Müntefering,
worin denn? Ihrer Politik zu vertrauen ist so, als würde
man den Würger von Boston um eine Halsmassage bitten. Das wäre genau dasselbe.
({18})
Wer Ihnen traut, hat künftig dafür zu sorgen, dass er irgendwie über die Runden kommt. Mit der Rente wird es
jedenfalls bei dieser Politik der Bundesregierung nicht
mehr klappen. Die Rente wird von dieser Regierung kaputtgemacht.
({19})
Das Wort hat nun die Kollegin Irmingard ScheweGerigk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Ernst, ich beneide Sie: Es ist schön, wenn
man ein so einfaches Weltbild hat, wie Sie es haben. Da
kann man sich zufrieden zurücklehnen.
({0})
Wir diskutieren heute über eine Reihe rentenpolitischer Vorhaben. Ich beginne mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Weitergeltung der aktuellen Rentenwerte. Ziel
dieses Gesetzentwurfes war es, mögliche Rentenkürzungen aufgrund niedriger Lohnsteigerungen zu vermeiden. Dieses Ziel hat meine Fraktion voll und ganz unterstützt. Da das Ministerium selbst jetzt aber bestätigt,
dass es aufgrund der Lohnentwicklung nicht zu einer
Rentenkürzung kommen wird, ist dieser Gesetzentwurf
absolut überflüssig.
({1})
Man kann es auch anders ausdrücken: Stell dir vor, die
Regierung macht ein Gesetz und keiner braucht es.
Herr Minister Müntefering, man sollte die Sauerländer nicht unterschätzen: Sie sind ein Fuchs. Sie haben
vor den Landtagswahlen den Robin Hood der Rentner
und Rentnerinnen gespielt und ihnen gesagt, dass Sie
Rentenkürzungen per Gesetz ausschließen. Die Menschen sind froh und akzeptieren scheinbar dankbar eine
neue Nullrunde. Doch nun, da Sie wissen, dass die Renten nicht gekürzt werden müssen, fordere ich Sie auf:
Ziehen Sie den Gesetzentwurf zurück!
({2})
Machen Sie keine Symbolpolitik mit einem Gesetz, das
niemals zur Anwendung kommen wird!
({3})
Ich komme zum nächsten Punkt, zu den Rentenversicherungsberichten 2004 und 2005. Was die Menschen
bei der sozialen Sicherung und gerade bei der Rente
dringend brauchen, sind Vertrauen und Verlässlichkeit.
Ich glaube, dass Ihre Annahmen bezüglich der Lohnentwicklung und des Wirtschaftswachstums viel zu optimistisch sind. Ich erinnere an die Fehlprognosen von
1995. - Herr Kollege Brauksiepe, 1995 gab es leider
noch keine rot-grüne Bundesregierung.
({4})
Natürlich wünsche auch ich mir, dass die Gewerkschaften endlich wieder bessere Tarifabschlüsse durchsetzen können; denn das ist gut für die Beschäftigten, die
Binnennachfrage und letztendlich auch für die Renten.
Aber ein Rentenversicherungsbericht ist nun einmal kein
Wunschkatalog. Wir brauchen eine realistische Vorschau
auf die nächsten 15 Jahre.
Die gesetzliche Rente hat in den letzten Jahren durchaus schmerzhafte Reformen durchlebt. Niveausenkungen und der Nachhaltigkeitsfaktor sind in diesem Zusammenhang nur zwei Stichworte. Aber dadurch ist sie
zukunftsfähig geworden. Durch sie werden die meisten
Menschen vor Armut geschützt. Sie wird aber nicht ausreichen, um den Lebensstandard im Alter zu sichern. Private und betriebliche Vorsorge tut zusätzlich Not.
Der ehemalige Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, Franz Ruland, der
„Rentenpapst“, hat am 3. April dieses Jahres in einem
Interview mit der „FAZ“ die Einschätzung vertreten:
Was im Rentensystem kürzbar war, ist gekürzt worden.
Ich schließe mich dieser Einschätzung explizit an und
erweitere sie um die Bemerkung: Innerhalb des bisherigen Umlagesystems der gesetzlichen Rentenversicherung sind alle Reformen durchgeführt worden, die vertretbar sind. Die schrittweise Heraufsetzung des
Renteneintrittsalters, die noch zu verabschieden ist,
schließe ich in diese Bemerkung ausdrücklich ein. Herr
Minister, wir unterstützen Sie bei der Heraufsetzung des
Renteneintrittsalters; denn das ist eine logische Konsequenz des längeren Lebens. Heute beziehen die Menschen 17 Jahre lang Rente, 1960 waren es zehn Jahre
weniger. Ich fordere Sie aber auf, bei der Umsetzung
nicht zu stümpern.
({5})
Die Erhöhung des Renteneintrittsalters und die Beschäftigung Älterer in den Unternehmen sind wie ein
Gespann. Beides muss parallel und im gleichen Tempo
laufen; ansonsten geht es schief. Hier ist die Wirtschaft
in der Verantwortung. Ohne Arbeitsplätze für Ältere ist
die Rente mit 67 eine Rentenkürzung und das lehnen wir
ab.
({6})
Es wird gern verschwiegen, aber wir haben ein strukturelles Problem bei den Einnahmen der Rentenversicherung. Diese Schwierigkeit ist nicht kurzfristiger Natur. Sie wird in den nächsten Jahren andauern, wenn wir
nicht an den Ursachen ansetzen. An dieser Stelle ist die
große Koalition blind; denn sie ignoriert die Analyse
namhafter Experten. Bereits im Gutachten zum Rentenversicherungsbericht 2004 hat der Sozialbeirat auf die
Probleme bei der Entwicklung der Beitragseinnahmen
aufmerksam gemacht. Er hat die Diskrepanz zwischen
dem gestiegenen Bruttoinlandsprodukt und sinkenden
Einnahmen der Rentenversicherung benannt. Die Ursachen liegen auf der Hand: gedämpfte Lohnentwicklung,
weniger sozialversicherungspflichtige Erwerbstätige,
weniger Pflichtversicherte, mehr Selbstständige, mehr
geringfügig Beschäftigte und mehr Arbeitslose mit einem niedrigeren Beitrag. Doch obwohl CDU/CSU und
SPD das Gutachten bekannt war, haben sie keine adäquaten Konsequenzen daraus gezogen, sondern die
Schlussfolgerung im Koalitionsvertrag ins Gegenteil
verkehrt. Im Gutachten zum Rentenversicherungsbericht
2005 bewertet der Sozialbeirat die Annahmen zur kurzund mittelfristigen Beschäftigungs- und Entgeltentwicklung an mehreren Stellen als ambitioniert. Offensichtlich
wollte sich der Sozialbeirat diplomatisch ausdrücken
und die positiven Konjunkturerwartungen nicht dämpfen.
Schauen Sie aber in die neueste Studie „Prognos
Deutschland Report 2030“. Darin steht, dass in den
nächsten 25 Jahren mit einem massiven Rückgang von
Arbeitsplätzen im traditionellen Industriebereich zu
rechnen ist. Daneben wird von einer starken Zunahme
der Zahl der Selbstständigen gerechnet. Aufgrund der
letzten Jahre wissen wir, dass Selbstständigkeit in vielen
Fällen eine selbst gewählte Notlösung ist, um der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Sorge bereiten uns vor allem
jene Selbstständige, die nicht in der Lage sind, sich ausreichend sozial abzusichern.
Herr Minister Müntefering, in der Haushaltsdebatte
der letzten Woche haben wir Ihnen vorgeworfen, dass
Sie den Bundeshaushalt zulasten der Versicherten sanieren, zum Beispiel durch die Erhöhung der Sozialabgaben für Minijobs. Ihr Sozialbeirat wird da sehr viel
deutlicher - ich zitiere -: „Die Erhöhung von Sozialbeiträgen mit dem ausdrücklichen Ziel, den Bundeshaushalt
zu entlasten, ist verfassungsrechtlich problematisch.“
({7})
Als Beispiel für diesen verfassungsrechtlich bedenklichen Eingriff in die Finanzierungsgrundlagen der Rentenversicherung wird im Gutachten die Halbierung des
Mindestbeitrags von 78 auf 40 Euro für Langzeitarbeitslose kritisiert. Während jede Existenzgründerin und
jeder freiwillig Versicherte den Mindestbeitrag von
78 Euro entrichten muss, macht der Bund in seinem eigenen Gestaltungsbereich selbstherrlich Ausnahmen. Ich
empfinde das als Politik nach Gutsherrenart.
Ich komme zu den Betriebsrenten. Wer ein Gesamtrentenniveau erreichen will, das den Lebensstandard sichert, muss rechtzeitig auch privat und betrieblich vorsorgen. Gerade durch die Entgeltumwandlung hat sich
die Betriebsrente enorm etabliert. Wir begrüßen daher
den Entwurf der europäischen Richtlinie zur Portabilität von Zusatzrentenansprüchen.
({8})
- Ich komme gleich darauf, Herr Kollege. - Moderne
Arbeitsmärkte fordern auch mobile Beschäftigte. Deshalb muss die betriebliche Altersvorsorge flexibler werden. Sie darf nicht als Finanzierungsmasse der Arbeitgeber verwendet werden und muss stärker vor Insolvenz
geschützt werden.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Weiß?
Herr Kollege Weiß, es ist mir eine Freude.
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, es ist mir eine Freude,
dass ich Ihnen heute Morgen eine Freude machen kann.
({0})
Sie haben soeben ausgeführt, dass die Grünen die Betriebsrenten in Deutschland stärken und weiter ausbauen
wollen - was, wie ich glaube, die Zustimmung des ganzen Hauses findet - und dass die Entgeltumwandlung
eine sehr gute Grundlage bildet. Das ist vollkommen
richtig. Dann haben Sie aber einen Schlenker zu der
europäischen Richtlinie zur Portabilität von Zusatzrentenansprüchen gemacht. Ich weiß nicht, wie das zusammenpassen soll, Frau Kollegin Schewe-Gerigk. Alle Experten des Betriebsrentensystems in Deutschland sagen
uns: Wenn wir diese EU-Richtlinie, so wie sie ist, akzeptieren würden, würde dadurch das System der Betriebsrenten in Deutschland keinen Aufschwung erleben, sondern zusammenbrechen. Viele Betriebe würden sich aus
dem Betriebsrentensystem verabschieden. Die Zusatzversorgung für Angehörige des öffentlichen Dienstes
wäre am Ende. Deswegen kann ich nicht verstehen, wie
das zusammenpassen soll. Erklären Sie uns einmal, wie
diese EU-Richtlinie mit ihren negativen Auswirkungen
für das Betriebsrentensystem zu Ihrer Aussage passen
soll, dass Sie die Betriebsrenten fördern wollen!
Wir haben gesagt, dass wir die Entgeltumwandlung
nicht weiter sozialversicherungsmäßig und steuerlich
fördern wollen. Denn in dem betreffenden Gesetz wurde
eine Laufzeit bis 2008 beschlossen. Dazu kommt, dass
diese Maßnahme die Sozialkassen ziemlich plündert. Sie
war als Anschubfinanzierung vorgesehen und dieses Ziel
hat sie erreicht.
Bei der EU-Richtlinie handelt es sich doch ganz eindeutig darum, dass diejenigen, die mobil sind, junge
Menschen, nicht erst ab einem Alter von 30 Jahren, sondern bereits ab 21 Jahren geschützt werden sollen. Es
gibt junge Leute, die ins Ausland gehen und ihre Rentenansprüche mitnehmen wollen. Sie möchten ferner, dass
das nicht erst nach einer Betriebszugehörigkeit von fünf
Jahren möglich sein soll, sondern bereits nach zwei Jahren. Das ist doch eine wichtige Sache. Ich finde, eine
Maßnahme, die steuerlich begünstigt ist und von der die
Arbeitnehmer auch etwas haben, gehört in das Eigentum
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wenn solche
Zusagen vorliegen. Es ist absolut richtig, dass diese Ansprüche mitgenommen werden können und sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch zustehen.
Aber ich werde darauf gleich in meiner Rede noch intensiver eingehen, Herr Kollege.
Ich habe dank Ihrer Zwischenfrage meine Redezeit
noch etwas verlängern können.
Wir wollen aber auch, dass Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen die betriebliche Altersvorsorge bei einem
Wechsel des Arbeitgebers generell und uneingeschränkt
weiterführen können. Bereits bestehende Ansprüche für
ausscheidende Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen
müssen dynamisiert werden, damit sie sich nicht mit der
Zeit entwerten.
Was tut die Regierung? Jetzt komme ich auf die Stellungnahme der Bundesregierung zu dieser EU-Richtlinie zurück; wir haben es gestern im Ausschuss diskutiert. Da sagt die große Koalition: Eigentlich wollen wir
uns von der EU gar nichts sagen lassen.
({0})
Ich dachte immer, wir seien ein Mitgliedsland der Europäischen Union. Aber Sie meinen: Eigentlich hat die EU
in diesen Dingen nichts zu sagen. Die Stellungnahme der
Bundesregierung ist sehr einseitig an den Interessen der
Arbeitgeber ausgerichtet. Auch wir wollen, dass die betriebliche Altersvorsorge für die Arbeitgeberinnen und
Arbeitgeber interessant bleibt. Aber aus lauter Arbeitgeberfreundlichkeit die Flexibilisierung der betrieblichen
Altersvorsorge gleich ganz abzulehnen, das wäre unseres
Erachtens ein kapitaler Fehler. Damit schaden Sie der
betrieblichen Altersvorsorge.
({1})
Ich komme zum Schluss. Betrachte ich die Rentenpolitik der großen Koalition - wir haben darüber ja in den
letzten Wochen und Monaten viel gehört und hier diskutiert -, dann kann ich nur sagen: Der Zickzackkurs geht
weiter. Sie machen jeden Tag neue Vorschläge, die Sie
dann wieder zurücknehmen; ich nenne nur: die Erhöhung des Bundeszuschusses im nächsten Jahr mit
600 Millionen Euro, die Reduzierung der Rentenbeiträge
ab dem Jahre 2014 - wo Sie genau wissen, dass da gerade die Babyboomer in Rente gehen - und viele andere
Dinge, etwa die Ausnahmeregelung bei der abschlagfreien Rente, bei der Sie sagen: Die Dachdecker müssen
eigentlich schon früher in Rente. Im Rentenversicherungsbericht findet man davon überhaupt nichts wieder.
Dann wenden Sie sich den Betriebsrenten zu und sagen:
Hier wollen wir Einschnitte vornehmen. - Am nächsten
Tag ist das alles wieder nicht richtig. Es ist ein Hin und
Her und da fällt auf: Von der Kanzlerin ist in diesem Zusammenhang überhaupt nichts zu hören. Haben Sie von
der Kanzlerin mal etwas zur Rentenpolitik gehört, zu
dem wichtigsten Thema, das wir derzeit diskutieren?
({2})
Herr Müntefering, manchmal tun Sie mir ja auch etwas Leid; denn Ihre Fraktion hat sich in dieser Frage
vollkommen weggeduckt. Ich finde, das ist keine verantwortliche Politik. Hier müssen Sie endlich den Menschen verlässliche Konzepte vorlegen, damit sie sich
darauf einstellen können. Denn gerade diejenigen, die
kurz vor der Rente stehen oder die schon im Rentenbezug sind, können doch in ihrem Leben nichts mehr verändern; sie sind auf Verlässlichkeit angewiesen. Sie wollen im Alter eine auskömmliche Rente und ein Leben in
Würde haben.
Vielen Dank.
({3})
Jetzt hat das Wort der Kollege Peter Friedrich für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir diskutieren heute über die Weitergeltung
der aktuellen Rentenwerte und den Rentenversicherungsbericht 2005. In der Debatte wurde die Generationengerechtigkeit mehrfach angesprochen. Ich bin dankbar, dass ich als jüngerer Abgeordneter die Möglichkeit
habe, für meine Fraktion ein paar Anmerkungen dazu zu
machen.
Erste Anmerkung. Es ist das Verdienst und die Verantwortung einer realistischen Reformpolitik, dass die
Bewältigung der demografischen Entwicklung nicht im
Konflikt zwischen den Generationen stattfindet. Ein
Krieg der Generationen findet in Deutschland nicht statt.
({0})
Die Bürgerinnen und Bürger aller Generationen sind zu
einem solidarischen Beitrag bereit.
({1})
Wir haben Korrekturmechanismen in das System eingebaut, die der veränderten Altersstruktur der Bevölkerung Rechnung tragen. Diese würden kurzfristig zu Rentensenkungen führen. Malen Sie sich einmal aus, was
das für die Menschen bedeuten würde: Das hätte einen
gravierenden Vertrauensverlust in die gesetzliche Rente
zur Folge, den kein Mensch ernsthaft wollen kann; es sei
denn - das ist der einzige Grund, diesen Vertrauensverlust in Kauf zu nehmen -, er hofft darauf, dass Alterssicherung ein rein privates, persönliches Risiko wird.
({2})
Wer aber glaubt, Generationengerechtigkeit durch weniger Solidarität zu erreichen, der irrt, Herr Kolb.
({3})
Deshalb ist der Entwurf eines Gesetzes über die Weitergeltung der aktuellen Rentenwerte richtig.
Die Anstrengungen, die wir jetzt im Bereich Rente
unternehmen, müssen von Reformen der anderen großen
solidarischen Sicherungssysteme flankiert werden. Wir
stehen gegenüber den Menschen in der Verantwortung,
ihnen eine längere reale Lebensarbeitszeit zu ermöglichen. Das gilt - das wurde schon angesprochen - für das
Ende des Erwerbslebens, das heißt, dass die Menschen
das Renteneintrittsalter tatsächlich im Erwerb stehend
erleben müssen. Das gilt aber auch für den Anfang des
Erwerbslebens. Die Gesamtarbeitszeit der Menschen
muss zunehmen.
Wir müssen auch die Auswirkungen der Demografie
auf die anderen Sicherungssysteme berücksichtigen. Deshalb diskutieren wir momentan über die Frage, wie die
Gesundheitsreform weitergehen kann. Wer glaubt - wie
das mehrfach in die Diskussion geworfen wurde -, man
könne eine Reform auf höhere Zu- und Aufzahlungen
gründen, der irrt. Das hieße nämlich nichts anderes, als
dass wir von den Rentnerinnen und Rentnern an der Apotheke das zurückfordern, was wir ihnen vorher gegeben
haben. Das hieße, die Kranken müssten mit den Gesunden solidarisch sein. Auch das können wir nicht wollen.
Zweite Anmerkung. Bei der Rentenfrage muss man
nicht über zwei, sondern über drei betroffene Generationen sprechen. Wir diskutieren viel und emsig über die
Beitragszahler und die Leistungsempfänger. Generationengerechtigkeit ist aber mehr als eine reine Zahlungsbilanz. Es geht auch um die Frage, in welchem Zustand
sich die Solidargemeinschaft befindet, in die zukünftige
Beitragszahler hineingeboren werden, in der sie aufwachsen. Daher sind für die zukünftige Struktur der
Rente folgende Fragen von Bedeutung: Wie schaffen wir
nachhaltiges Wachstum? Wie schaffen wir eine dauerhafte Steigerung der Qualität unseres Bildungssystems?
Wie schaffen wir die Integration zugewanderter Bürgerinnen und Bürger? Wie ist der Wohlstand zwischen den
Generationen und innerhalb einer Generation verteilt?
({4})
Herr Ernst, in Ihrer Rede spielten all diese Themen
keine Rolle. Deshalb möchte ich mir einen Hinweis
nicht verkneifen: Wer in der Debatte immer wieder betont, man müsse den Wohlhabenden endlich einmal an
den Kragen, um das finanzieren zu können - in dieser
Verbalität tragen Sie das vor -, und gleichzeitig Vorschläge zur Vermögensteuer auf den Tisch legt, die eine
Besteuerung ab 300 000 Euro vorsehen, der sollte einer
Eisenbahnerwitwe, die sich zum Beispiel in Radolfzell
am Bodensee - meinem Wahlkreis - zusammen mit ihrem Mann in Eigenarbeit ein Häuschen gebaut hat, erklären, was das für sie bedeuten würde. Die Häuser haben einen Wert, der weit über diesen Beträgen liegt.
Wollen Sie tatsächlich über die Vermögensteuer von dieser Frau Solidarbeiträge einfordern?
({5})
Das steht tatsächlich in Ihrem Konzept. Sie sollten einmal schauen, wen Sie damit eigentlich treffen und welche Leute Sie für die Wohlhabenden dieses Landes halten.
({6})
Kollege Friedrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ernst?
Ja.
Herr Friedrich, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass bei unseren Vorschlägen zur Vermögensteuer
ein Häuschen im Wert von 300 000 Euro unter den Freibetrag fallen würde?
({0})
Herr Ernst, ich nehme das zur Kenntnis. Allerdings
stelle ich Ihnen anheim, zur Kenntnis zu nehmen, dass
Sie in meinem Wahlkreis für 300 000 Euro wahrscheinlich kein Häuschen finden werden. Das ist das Problem.
Die Leute sehen ihr Eigenheim als Altersvorsorge an. Es
ist für sie mehr als nur in Haus. Trotzdem wollen Sie
- so steht es in Ihrem Konzept - da heran.
({0})
Meine dritte Anmerkung: Der wichtigste Beitrag zu
einer erfolgreichen Rentenpolitik in Zukunft ist eine erfolgreiche Familienpolitik. Natürlich können wir nicht
binnen weniger Jahre die Ergebnisse einer seit Jahrzehnten laufenden gesellschaftlichen Entwicklung korrigieren. Aber so zu tun, als sei Demografie gottgegeben und
ein Naturgesetz, bedeutet, sich vor der politischen Aufgabe zu drücken. Deutschland braucht mehr Kinder. Es
kommt häufig der Einwand, diese Kinder müssten dann
ja auch Arbeit haben und Beiträge zahlen, um der Rente
überhaupt zu nutzen. Der Einwand ist natürlich richtig.
Aber es heißt, den ersten Schritt vor dem zweiten zu tun.
Kinder sind mehr als nur persönliches Glück. Sie sind
auch ein Wachstumsimpuls für die Gesellschaft und für
die Wirtschaft eines Landes. Damit wir mehr Kinder bekommen, brauchen wir in Zukunft für die Menschen die
Verlässlichkeit, dass die Betreuung der Kinder gewährleistet ist und dass Beruf und Familie dauerhaft miteinander vereinbar sind.
({1})
Vierte Anmerkung: Ebenso wie Geld eine zentrale
Ressource für die Rente ist, ist Vertrauen eine zentrale
Ressource für die Rente. Deswegen ist meine Bitte an
alle hier im Haus, insbesondere an die, die an den Rändern sitzen: Hören Sie auf, bei den Menschen bezüglich
der Rente Ängste zu schüren. Hören Sie damit auf! Hören Sie auf der einen Seite damit auf, den Beitragszahlern Angst zu machen, sie würden überfordert, und hören
Sie auf der anderen Seite auf, ihnen Altersarmut einzureden und den Systemkollaps zu propagieren.
({2})
Dies beschreibt nicht die Realität der Rente in Deutschland. Sie wissen ganz genau, dass wir bei der Altersarmut so gut dastehen wie noch nie zuvor.
({3})
Wenn Sie dies nicht berücksichtigen, machen Sie den
Menschen Angst. Sie treiben sie aus einem solidarischen
Sicherungssystem. Mit dieser Propaganda verringern Sie
die Solidarität in unserer Gesellschaft.
({4})
Deswegen ist es gut, dass die große Koalition für die,
die darauf angewiesen sind, dass ein solidarisches Sicherungssystem existiert und für sie da ist, wenn sie es brauchen, eine verlässliche Grundlage schafft und sich nicht
aus populistischen Gründen vor der Verantwortung
drückt.
Herzlichen Dank.
({5})
Kollege Friedrich, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation und alle guten
Wünsche für Ihre weitere Arbeit!
({0})
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Peter Weiß,
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wir führen ja manchmal eine eher kurzatmige Rentendebatte über viele Einzelfragen. Die Oppositionsredner
verstehen es meisterhaft - zumindest versuchen sie es -,
noch ein paar zusätzliche Kampfschauplätze aufzumachen
({0})
und sich an Einzelpunkten festzuklammern. Man fragt
sich: Was soll das Ganze, was Sie hier vorführen, eigentlich? „Bild“ und „Super Illu“ machen das auch. Sie sprechen von einer Schrumpfrente und machen den Leuten
schlichtweg Angst, was ihre Sicherheit im Alter betrifft.
Ich finde, dass solche Debattenbeiträge, die den
eigentlichen Kern des Themas vermeiden, nur dafür sorgen, dass Rentnerinnen und Rentner wie auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusätzlich verunsichert
werden. Aber die Menschen in unserem Land wollen
keine hysterischen Schlagzeilen, sondern sie wollen wissen, wie es um ihre Altersversorgung wirklich bestellt
ist. Das wird im Rentenversicherungsbericht und im Alterssicherungsbericht der Bundesregierung in aller Klarheit dargelegt. Darüber sollten wir miteinander reden.
Deswegen steht im Koalitionsvertrag: Mit der großen
Koalition wird es selbst dann, wenn sich die Löhne
schlecht entwickeln, keine Rentenkürzung geben. Übrigens wird es, Herr Kolb, auch keine Rentenkürzung
durch die Hintertür geben. Sie haben ja nicht über diese
Legislaturperiode gesprochen, sondern über die vergangene Regierung; Ihre Rede war sehr rückwärtsgewandt.
({1})
Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land können
sich darauf verlassen, dass wir dieses Versprechen einlösen. Ein Gesetz, wie wir es heute beschließen, ist die
stärkste Form der Einlösung unseres Versprechens. Es
gibt mit Schwarz-Rot keine Rentenkürzung. Das ist
Fakt.
({2})
Bei all diesem Gerede, das nichts anderes als Verunsicherung schafft, muss man einfach noch einmal klar
und deutlich sagen: Grundsätzlich gilt für die Rente zuallererst die Mathematik. Wer Adam Riese außer Kraft
setzen will, wird bei der Rente eine Bauchlandung erleben.
Die Veränderungen im Altersaufbau unserer Gesellschaft, die Zunahme der Zahl älterer Mitbürgerinnen und
Mitbürger und die steigende Lebenserwartung, zwingen
uns dazu, mit unserer umlagefinanzierten Rentenversicherung auf diese Herausforderung zu antworten, allerdings nicht mit Wehgeschrei, sondern mit einem
Ausgleichsmechanismus, der für eine solidarische
Generationengerechtigkeit sorgt. Darum geht es bei
der gesetzlichen Rentenversicherung.
Das war auch schon das Kennzeichen aller bisherigen
Rentenreformen, angefangen von Norbert Blüm im
Jahr 1992. Wären diese Reformen nicht durchgeführt
worden, würde der Beitragssatz zur Rentenversicherung,
den die jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
unserem Land im Jahr 2030 voraussichtlich zahlen
müssten, zwischen 36 und 41 Prozent liegen. Das würde
für die jungen Leute das endgültige Aus der Solidarität
bedeuten. Genau das wollen die Linken:
({3})
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland noch mehr Geld von ihrem sauer verdienten Lohn
wegnehmen.
Peter Weiß ({4})
({5})
Das, was die Linken wollen, bedeutet unter dem Strich:
Alle werden gleich arm gemacht.
({6})
Um eine solidarische Generationengerechtigkeit herzustellen, müssen wir konsequenterweise auch die
Regelaltersgrenze schrittweise auf 67 Jahre erhöhen.
Im Rentenversicherungsbericht wird deutlich, dass es
gelingen kann - das ist unser Wille -, den Beitragssatz
zur gesetzlichen Rentenversicherung bis zum Jahr 2030
unter 22 Prozent zu halten. Ein Beitragssatz von 22 Prozent ist wesentlich geringer als ein Beitragssatz von
36 bis 41 Prozent. Das könnte die junge Generation noch
tragen.
Am Dienstag dieser Woche ist der „Papst“ der deutschen Rentenversicherung, Professor Ruland, offiziell in
den Ruhestand verabschiedet worden. In einem Interview mit der „FAZ“ vom 3. April dieses Jahres hat er
noch einmal trotz des bestehenden Reformbedarfs die
große Anpassungsfähigkeit und die Krisenfestigkeit des
Umlagesystems hervorgehoben.
Man kann, so glaube ich, heute in der Tat feststellen:
Die gesetzliche Rentenversicherung bleibt auch in Zukunft das wesentliche und prägende Element der Altersvorsorge in Deutschland. Aber die Botschaft an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und vor allem an die
junge Generation muss lauten: Die gesetzliche Rentenversicherung allein reicht zur Sicherung des Lebensstandards im Alter nicht mehr aus. Sie muss zwingend um
die betriebliche und die private, kapitalgedeckte Altersvorsorge ergänzt werden, wenn man nicht in Altersarmut
geraten will.
({7})
Deshalb ist die politisch spannende und zentrale Aufgabe, die vor uns liegt, eigentlich nicht so sehr die Frage,
wie es mit der gesetzlichen Rente aussieht, sondern:
Schaffen wir es, dafür zu sorgen, dass möglichst jeder
Arbeitnehmer eine betriebliche und eine private Altersvorsorge aufbaut?
({8})
Die Finanzwirtschaft vermeldet, dass mittlerweile
5,6 Millionen Riesterverträge abgeschlossen wurden.
Das ist schön. Aber das sind noch immer viel zu wenige.
Deswegen müssen wir uns bemühen, die Attraktivität
der privaten Altersvorsorge zu steigern. Wir tun das, indem wir noch in diesem Jahr ein Gesetz beschließen
werden, durch das selbst genutztes Wohneigentum in die
Förderung der Riesterrente aufgenommen wird. Darüber hinaus werden wir den Betrag, mit dem der Staat
Familien mit Kindern fördert, deutlich erhöhen.
An dieser Stelle will ich noch Folgendes erwähnen:
Es ist bereits heute möglich, dass eine Familie mit zwei
Kindern, die einen jährlichen Eigenbetrag von 64 Euro
in eine Riesterrente einzahlt, zusätzlich 336 Euro vom
Staat geschenkt bekommt. Ich finde, das ist ein großzügiges Angebot des Staates, um die Menschen zur privaten Altersvorsorge zu motivieren. Das wollen wir als
große Koalition sogar noch verbessern. Deswegen bin
ich überzeugt: Wenn wir nicht schlecht über das Thema
Altersvorsorge reden, sondern den Leuten erklären, was
in diesem Land möglich ist, dann werden wir es schaffen, dass in ausreichendem Maße private und betriebliche Altersvorsorge betrieben werden, sodass das Gesamtversorgungsniveau der Menschen im Alter nicht
sinkt, sondern zumindest so hoch bleibt, wie es gegenwärtig ist. Der Alterssicherungsbericht der Bundesregierung zeigt: Wenn es uns gelingt, die Kombination aus
gesetzlicher Rente, betrieblicher Altersvorsorge und
Riesterrente für alle so attraktiv zu machen, dass sie sie
nutzen, steigt das Alterseinkommen in Zukunft sogar.
Deswegen sage ich: Wir brauchen kein Untergangsgeschrei, wie es hier zum Teil aufgeführt wird, sondern
Planbarkeit und Verlässlichkeit - dann bleibt Altersarmut in Deutschland auch in Zukunft ein Fremdwort.
Vielen Dank!
({9})
Ich erteile das Wort Kollegen Anton Schaaf, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
schon bei der letzten rentenpolitischen Debatte in diesem
Hause gesagt: Wir haben es mit einer Gemengelage zu
tun: zwischen gnadenlosem Populismus auf der einen
Seite
({0})
und gnadenloser Klientelpolitik auf der anderen Seite.
({1})
Auf der linken Seite dieses Hauses hat sich nicht viel geändert, auf der rechten Seite ist allerdings gnadenloser
Populismus hinzugekommen; das muss man in aller
Deutlichkeit feststellen.
({2})
- Herr Kolb, ich bin gerne bereit, den Nachweis anzutreten. Sie haben gerade gesagt, wir würden den Rentnerinnen und Rentnern mit verschiedensten Instrumenten
massiv in die Tasche greifen,
({3})
also real Rentenkürzungen vornehmen. Ich gebe unumwunden zu, dass es in den letzten Jahren zusätzliche
Belastungen für die Rentnerinnen und Rentner gegeben
hat - als ihr Solidarbeitrag zum Erhalt der sozialen Sicherungssysteme,
({4})
insbesondere bei der Gesundheitsvorsorge - und dass die
Mehrwertsteuererhöhung nicht kompensiert werden
kann.
({5})
Das gestehe ich Ihnen zu.
({6})
Aber jetzt will ich den Menschen draußen im Lande
mal sagen, was Sie vorschlagen: Die FDP schlägt vor,
den Rentenversicherungsbeitrag nicht von 19,5 Prozent
auf 19,9 Prozent zu erhöhen, sondern ihn sogar abzusenken: auf 19 Prozent.
({7})
Im Klartext geht es um 5 bzw. 9 Milliarden Euro. Sie sagen aber nicht, wer das finanzieren soll. Das heißt, es
geht um Kürzungen bei den Rentnerinnen und Rentnern.
So steht es in Ihrem Konzept: reale Kürzungen.
({8})
Das wollen wir den Menschen nicht zumuten. Und Sie
werfen uns vor, dass wir den Rentnerinnen und Rentnern
in die Tasche greifen! Das ist unlauter, um das ganz
deutlich zu sagen.
({9})
Herr Kolb, in all Ihren Papieren betonen Sie, dass die
gesetzliche Rentenversicherung auch in Zukunft die zentrale Säule der Altersversorgung sein wird. Dieser Überzeugung bin auch ich, und wir müssen alles dafür tun,
damit das auch in Zukunft so bleibt. Aber dann liest man
in einem mir vorliegenden Papier der Jungen Liberalen
- die hoffentlich nie in die Verantwortung kommen -,
dass die Julis die umlagefinanzierte Versicherung abschaffen wollen. Das ist die Realität in der FDP. Und Sie
stellen sich hier hin und klagen laut über das, was die
Vorgängerregierung getan hat und die große Koalition
tut, um die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest zu
machen!
({10})
Das ist die Gemengelage.
Herr Kollege Schaaf, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Aber selbstverständlich.
Herr Kollege Schaaf, würden Sie mir zustimmen,
dass Sie jetzt demselben Denkfehler unterliegen wie in
der letzten Legislaturperiode bei der Tabaksteuererhöhung, als Sie die Steuersätze erhöht haben und dann erleben mussten, dass unter dem Strich sogar geringere Einnahmen erzielt werden? Können Sie sich vorstellen, dass
niedrigere Rentenbeiträge zu mehr sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und damit zu mehr Beitragszahlern führen können und dass das am Ende der wirksamere
Weg ist, um die Rentenkasse und die Rentenzahlungen
zu stabilisieren?
Mit Ihrer Politik der permanenten Mehrbelastung der
Menschen durch permanente Beitragserhöhungen beschreiten Sie den falschen Weg: Sie haben mit Ihrer Politik den massiven Verlust von anderthalb Millionen Arbeitsplätzen in fünf Jahren zu verantworten; das sage ich
besonders an Sie als SPD-Kollegen gerichtet. Höhere
Beiträge sind der falsche Weg. Beitragssenkungen und
der Aufbau von Beschäftigung, das ist die Lösung des
Problems. Da sollten Sie mir doch eigentlich zustimmen,
oder?
({0})
Herr Kolb, wir haben diese Diskussion an anderer
Stelle schon geführt. Ich sage Ihnen noch einmal: Der
Widerspruch liegt bei Ihnen. Auch ich war der Meinung,
dass man die Mehrwertsteuer nicht erhöhen sollte.
({0})
Aber man kann das tun, wenn damit die Lohnnebenkosten gesenkt werden. Genau da widersprechen Sie sich
doch, wenn Sie jetzt fordern, dass die Mehrwertsteuer
nicht erhöht wird.
Also, wir haben uns auf den Weg gemacht und einen
schwierigen Kompromiss gefunden: um die Lohnnebenkosten abzusenken, um die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler zu entlasten und übrigens auch - das sage ich
an die FDP gerichtet -, damit private Vorsorge überhaupt
möglich wird. Was private Vorsorge angeht, argumentieren Sie ja gerne, die Arbeitslosengeld-II-Empfänger hätten bei der Riesterrente ja gar keine Chance und deswegen drohe Altersarmut. Da liegen Sie aber falsch. Die
drohende Altersarmut resultiert daraus, dass die Menschen keine Arbeit haben, und nicht daraus, dass sie
nicht privat vorsorgen können.
({1})
Unser Interesse muss also zunächst einmal darin liegen,
dass die Menschen in Brot und Arbeit kommen. Das ist
doch die entscheidende Frage. Die Argumentation auf
Ihrer Seite würde ich also noch einmal sehr deutlich
überprüfen.
Herr Kolb, lassen Sie mich noch etwas zur Sozialabgabenfreiheit bei der Entgeltumwandlung sagen.
Auch das ist natürlich ein Punkt, über den man diskutieren kann. Ich weise nur darauf hin: Wenn uns die Einnahmen aus diesem Bereich in der gesetzlichen RentenAnton Schaaf
versicherung fehlen, dann trifft das im Nachgang im
Wesentlichen die, die nicht privat vorsorgen konnten.
Das ist eine ganz einfache Geschichte. Diese Einnahmen
werden im sozialen Sicherungssystem, in der Rentenversicherung, fehlen.
({2})
Von daher muss man sehr genau hinschauen, was man an
der Stelle tun will.
Noch einmal an die linke Seite des Hauses gerichtet:
Ich halte es für eine Verkürzung der Diskussion, wenn
man sagt, die Anhebung des Renteneintrittsalters auf
67 Jahre bedeute eine massive Rentenkürzung. Wenn
man sich die Historie der gesetzlichen Rentenversicherung anschaut, dann erkennt man, dass es eine gigantische Steigerung bei der Rente gab. Als wir die gesetzliche Rentenversicherung eingeführt haben, betrug die
durchschnittliche Bezugsdauer der Rente acht Jahre;
mittlerweile sind wir bei 18 Jahren. Wenn man das eine
so nicht fassen möchte, dann kann man es aus meiner
Sicht andersherum auch nicht fassen. Wir reden hier aus
meiner Sicht nicht über eine Rentenkürzung, sondern
darüber, dass die Lebensarbeitszeit länger sein muss als
bisher, damit die sozialen Sicherungssysteme auf Dauer
erhalten werden können.
({3})
Kollege Schaaf, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst?
Nein, danke.
Lassen Sie mich noch drei inhaltliche Punkte sagen.
Erstens. Wir haben gesagt, dass mit der Gesetzesinitiative zur Anhebung des Renteneintrittsalters auf
67 Jahre ein Programm für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer über 50 Jahre einhergehen muss. Es kann
nicht sein, dass viele Betriebe in unserem Lande ältere
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor dem Hintergrund, dass sie relativ teuer und eventuell nicht mehr so
leistungsfähig sind, entlassen und das Problem in die
Verantwortung der Allgemeinheit stellen. Für die Beschäftigung der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tragen auch die Unternehmer in diesem Land
ihre Verantwortung.
({0})
Es kann nicht sein, dass die Unternehmen im Lande nach
Ingeneurinnen und Ingenieuren rufen, während gleichzeitig 20 000 Ingenieure arbeitslos sind. Die Verantwortung für Qualifizierung und Weiterbildung liegt hier bei
den Unternehmen, nicht bei der Allgemeinheit. Diese
Verantwortung muss man noch einmal in aller Deutlichkeit zuweisen.
({1})
Der zweite Punkt ist die Altersteilzeit. Wenn wir
meinen, dass die Menschen später in Rente gehen sollen,
dann sollten wir allerdings auch über flexible Modelle
dafür miteinander diskutieren können. Wir wissen ja,
dass die Förderung der Altersteilzeit 2009 ausläuft. Wir
sollten uns noch einmal Gedanken darüber machen. Ich
halte es eigentlich für unsinnig, dass es zwei große Brüche im Leben gibt, nämlich einmal den, wenn wir von
der Schule in den Beruf gehen, und einmal den, wenn
wir aus dem Beruf in die Rente gehen. Wir sollten diese
Übergänge flexibler gestalten und Möglichkeiten dafür
suchen, dass die Menschen flexibler mit diesen Übergängen umgehen können, damit es keine Brüche mehr
sind.
({2})
Der dritte und letzte Punkt, den ich noch ansprechen
möchte, ist die Frage der Erwerbsminderung. Wenn
wir sagen, dass die Menschen länger arbeiten sollen,
dann müssen wir sicherlich auch individualisierte Instrumente für diejenigen haben, die nicht mehr oder nicht so
lange arbeiten können. Deswegen bitte ich, in den Debatten, die wir jetzt zu führen haben, insbesondere auch
noch einmal die Frage der Erwerbsminderung auf die
Agenda zu nehmen. Eine Überlegung wäre zum Beispiel, das Alter, ab dem die Möglichkeit eines abschlagsfreien Zugangs besteht, nicht gleichzeitig mit dem Renteneintrittsalter auf 67 Jahre zu erhöhen, sondern es bei
63 Jahren zu belassen. Ich denke, das ist ein überlegenswerter Ansatz.
Meine Damen und Herren, ich will mit einem Satz
schließen, der da lautet: Auch in Zukunft ist die Rente sicher - sicher die zentrale Säule der Altersvorsorge. Wir
Sozialdemokraten werden uns darum bemühen.
Danke schön.
({3})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Klaus Ernst.
({0})
Herr Schaaf, ich möchte Ihnen nur zur Kenntnis geben - ich gehe davon aus, dass Sie das nicht wussten -,
dass das Leben eines Gerüstbauers in der Bundesrepublik im Durchschnitt nach 64 Jahren endet. Wenn
der Plan der Bundesregierung, ihn bis 67 Jahre arbeiten
und erst dann in Rente gehen zu lassen, zur Umsetzung
gelangt, wird er drei Jahre vor Rentenbezug ableben. Das nur als Hinweis!
({0})
Kollege Schaaf.
Das ist genau das, was ich mit „gnadenlosem Populismus“ meine. Man kann damit zwar auf die erste Seite
der „Bild“-Zeitung kommen, aber mit Sicherheit keine
seriöse Debatte führen.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Fuchs,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Ernst, ich
kann nur sagen: Man kann Sie nicht ernst nehmen.
({0})
Ihrem Namen machen Sie überhaupt keine Ehre.
({1})
Ihre Rede hatte mit dem, was heute Thema ist, nichts zu
tun.
Gerade Ihrer Partei verdanken wir doch einen Großteil der Misere in unserem Land.
({2})
Es ist die SED gewesen, die Vorgängerpartei der PDS,
die im gesamten Osten, einem großen Teil unseres Landes, den Karren in den Dreck gefahren hat. Wir sind
nunmehr bemüht, dies mit den Gesetzen, die wir machen, zu korrigieren.
({3})
Es ist Ihnen Gott sei Dank nicht gelungen, in den alten
Bundesländern Fuß zu fassen. Ihre Partei ist bei den letzten Landtagswahlen kläglich gescheitert. Das wird so
weitergehen, weil man Sie weiterhin nicht ernst nehmen
kann. Das, was Sie hier machen, ist Klamauk; nichts anderes.
Lieber Herr Kollege Kolb, von Ihnen hätte ich allerdings etwas anderes erwartet.
({4})
Ich war von Ihrer Rede ziemlich entsetzt. Kennen Sie eigentlich das Märchen von dem berühmten Wettlauf zwischen Hase und Igel?
({5})
Mir kommt es langsam so vor, als sei die FDP der Hase,
der erratisch über das politische Feld in Berlin rennt und
nicht weiß, wohin. Dabei drückt er sich in die Furche
und fällt in die Stacheln des Igels. Ich will Ihnen genau
erklären, warum.
({6})
Ich bin ein wenig enttäuscht darüber, dass Sie immer
wieder Anträge stellen, die sich im Prinzip schon von
selbst erledigt haben.
({7})
Halten wir einmal Folgendes fest: Unser Bundesarbeitsminister hat hervorragende Arbeit geleistet. Wir
haben ihn vor drei Wochen angeschrieben und ihn gebeten, klarzustellen, dass die Geschäftsführer einer „RegelGmbH“ keine Scheinselbstständigen sind. Noch bevor
Ihr Antrag vorlag, hatte er - das konnten Sie in der Zeitung nachlesen - reagiert. Sie brauchen keine Sorge zu
haben, dass diese Regierung schläft. Sie brauchen uns
auch nicht zu helfen. Wir handeln schnell. Dafür bin ich
dem Bundesarbeitsminister ausgesprochen dankbar.
({8})
Herr Kollege Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kolb?
Darauf freue ich mich.
Bitte schön.
Heißt das, Herr Kollege Fuchs, dass Sie unserem Antrag heute zustimmen werden? Wenn Sie das nicht tun,
frage ich Sie: Wo ist denn Ihr Antrag, mit dem das
Problem, wonach GmbH-Gesellschafter durch Sozialversicherungsbeiträge in fünfstelliger Größenordnung
bedrückt werden können, gelöst wird? Solange Sie nur
davon reden, ist es notwendig und richtig, dass die FDP
Sie mit konkreten Anträgen und auch Gesetzentwürfen
treibt. Davon werden wir uns auch in Zukunft nicht abbringen lassen, Herr Fuchs.
({0})
Es ist Ihr gutes Recht, Herr Kollege Kolb, dass Sie
versuchen, uns zu treiben. Aber gehen Sie bitte davon
aus, dass wir das gar nicht nötig haben; denn wir reagieren schon vorher.
({0})
Diese Treibjagd werden Sie genauso verlieren, wie Sie
auch jetzt mit Ihrem populistischen Ansatz verlieren
werden. Der Bundesarbeitsminister hat bereits klargestellt, dass eine solche Regelung - wie von Ihnen befürchtet - für die GmbH-Geschäftsführer nicht gelten
wird.
({1})
- Erst einmal reicht eine solche Klarstellung. Anschließend werden wir im Sozialgesetzbuch - Herr Bundesarbeitsminister, ich denke, das sehe ich richtig - die entsprechenden Änderungen vornehmen. Dafür brauchen
wir Ihre Hilfe nicht.
({2})
Wir halten es für dringend notwendig, dass die Selbstständigen geschützt werden und sie die Chance haben,
eine private Altersvorsorge abzuschließen.
({3})
Das ist für uns selbstverständlich. Das sieht die Regierung ganz genauso.
Das Beispiel zeigt, dass die Regierung gerade die Aspekte der mittelständischen Unternehmen - im Wesentlichen betrifft es die Mittelständler - im Auge hat. Deren
Probleme nehmen wir ernst und wir werden ihnen auf
diese Art und Weise schnell und ordnungsgemäß helfen.
Es ist nun einmal so: Vor Gericht und auf hoher See ist
man in Gottes Hand. Das Urteil des Bundessozialgerichts betrifft aber einen Einzelfall - auch von den Rentenversicherungsträgern wird das so gesehen - und wird
nicht dazu führen, dass sofort etwas passieren muss.
Aber jetzt zum eigentlichen Thema. Wir sind schon
so weit, dass wir 32,5 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts für Soziales ausgeben.
Die Sozialleistungsquote beträgt mittlerweile
32,5 Prozent und ist damit unglaublich hoch. Der Zuschuss zur Rentenversicherung aus dem Bundeshaushalt
beträgt 77,4 Milliarden Euro. Das ist gut so. Wir müssen
das Rentensystem auf diese Weise stabilisieren. Wir wissen aber auch, dass das hohe Belastungen für den Bund
bedeutet. Deswegen ist es richtig, dass der Bundesarbeitsminister - auch hierfür möchte ich ihn loben - gesagt hat, wir steigen mit der Rente ab 67 in den Umbau
der Rente ein. Das war notwendig. Wenn Sie meinen,
Herr Ernst, hier mit Populismus, wie Sie ihn eben bewiesen haben, Klamauk treiben zu können, dann geht das an
der ernsten Problematik dieses Themas völlig vorbei.
Ich finde es traurig, dass es darüber keinen Konsens
gibt. Wir können doch nicht so tun, als wäre die demografische Entwicklung an diesem Land komplett vorbeigegangen. Sie hat sich nun einmal so ergeben. Der
Kollege Schaaf hat völlig Recht, dass früher bei Rentenbeginn die Lebenserwartung noch maximal acht Jahre
betragen hat, während es heute durchschnittlich 18 Jahre
sind. Dass das nicht auf die gleiche Weise finanziert werden kann, ist selbstverständlich. Es kommt heute vor,
dass jemand mit 29 oder gar 30 Jahren nach dem Studium endlich ins Berufsleben einsteigt und mit 52 in
Frührente geht. Da kann man ja kaum noch von verschiedenen Gruppen reden.
Herr Kollege.
Wie wollen wir die Rentenversicherung finanzieren,
wenn sich die Lebensarbeitszeit so verkürzt hat? Das ist
doch nur über eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit
möglich. Ich denke, es ist völlig richtig, dass wir an dieser Stelle angesetzt haben.
({0})
Herr Kollege Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Seifert von der Linksfraktion?
Gerne.
Lieber Herr Kollege, Sie sprechen - wie auch der
Vorredner schon - zum wiederholten Mal davon, dass
sich die Rentenbezugsdauer insgesamt erhöht hat. Ich
gehe davon aus, dass Sie sich darüber genauso freuen
wie ich und einige andere im Hause auch.
({0})
Aber warum reden Sie nie davon, dass sich in derselben Zeit die Produktivität in unserem Lande viel stärker
erhöht hat als die Rentenbezugsdauer insgesamt und
dass die Produktivität der entscheidende Faktor ist?
Entscheidend ist doch nicht, wie viele Rentner zu finanzieren sind, sondern wie viel Produktivität in diesem
Land besteht, um den Mehrwert zu erzeugen, damit wir
auch den Rentnerinnen und Rentner angemessene Leistungen bieten können. Warum äußern Sie sich dazu gar
nicht? Warum blenden Sie das völlig aus und bezeichnen
uns als Populisten?
({1})
Ohne diese Produktivität wären wir nicht in der Lage,
die Renten zu finanzieren. Nur aus diesem Grund können wir sie noch finanzieren. Wir haben doch eben vom
Bundesarbeitsminister gehört, welche Entwicklung sich
ergeben hat, nämlich dass sich die Finanzierung der
Rentner auf viel weniger Köpfe verteilt als früher. Das
sollten wir zur Kenntnis nehmen. Das spielt doch auch
beim Produktivitätszuwachs eine Rolle.
({0})
Dennoch müssen wir bei den Lohnzusatzkosten vorankommen. Mittlerweile zahlen nur noch 26,2 Millionen
Menschen in die Sozialversicherungssysteme ein, denen
aber 72 Millionen Leistungsempfänger gegenüberstehen. Hierbei ist es die zentrale Aufgabe unserer Politik,
dafür zu sorgen, dass es weniger Leistungsempfänger
und mehr Einzahler in die Sozialversicherungssysteme
gibt. Nur dann, wenn wir es hinbekommen, zusätzliche
sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zu
schaffen, werden wir auch in der Zukunft in der Lage
sein, die gesamten Systeme zu finanzieren. Deswegen
muss sich unsere Politik daran orientieren.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an unseren
Koalitionsvertrag, in dem klar und deutlich steht:
Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist zentrale Verpflichtung unserer Regierungspolitik. Wir wollen
mehr Menschen die Chance auf Arbeit geben.
Deswegen ist es auch richtig, dass wir nächstes Jahr gemeinsam erste Ansätze verfolgen, die Lohnzusatzkosten
zu senken. Deswegen ist es richtig, im nächsten Jahr die
Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte zu senken. Wir müssen auch alle anderen zusätzlichen Wege beschreiten, um dieses System zu verbessern. Dazu hätte ich gerne konkrete Vorschläge, aber sie
dürfen nicht populistisch sein. Denn wir können uns
weitere Kürzungen nicht leisten. Deswegen werden wir
daran arbeiten und gemeinsame Vorschläge vorlegen.
Wir müssen auch über das Thema Altersarbeitszeit
sprechen. Ich finde es völlig richtig, was der Minister
eben gesagt hat, nämlich dass wir älteren Menschen
Chancen bieten müssen, im Arbeitsleben zu bleiben oder
wieder hineinzukommen. Dazu müssen sämtliche Regelungen - zum Vorruhestand etc. - auf den Prüfstand. Es
ist auch eine Aufgabe der Tarifpolitik, dafür zu sorgen,
dass Menschen nicht so schnell frühverrentet werden.
Das darf nicht mehr möglich sein. Regelungen zur Frühverrentung wie die 58er-Regelung müssen schnell abgeschafft werden. Ansonsten werden wir unser gemeinsames Ziel nicht erreichen, das System zu erhalten.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, habe ich das
Vergnügen, sehr angenehme Gäste zu begrüßen. Auf der
Ehrentribüne haben soeben die Mitglieder des Präsidiums der Assemblée nationale Platz genommen. Herr
Präsident Debré, ich begrüße Sie und Ihre Delegation
sehr herzlich im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
des Deutschen Bundestages.
({0})
Wir freuen uns sehr, dass Sie unserer Einladung zur
diesjährigen gemeinsamen Präsidiumssitzung und zu der
Verleihung des zweiten Deutsch-Französischen Parlamentspreises in Berlin gefolgt sind. Die beiden Präsidien
haben soeben, einer bewährten Tradition folgend, in einer gemeinsamen Sitzung die hervorragenden bilateralen
Kontakte unserer beiden Parlamente und die intensive
Zusammenarbeit - auch bei europäischen Themen - erörtern und vertiefen können.
Herr Präsident Debré, liebe Kolleginnen und Kollegen der Assemblée nationale, es freut uns, dass Sie trotz
des dichten Programms heute Gelegenheit finden, unserer Debatte kurz beizuwohnen. Wie ich weiß, werden Sie
und auch einige deutsche Kolleginnen und Kollegen
gleich zur Verleihung des zweiten Deutsch-Französischen Parlamentspreises erwartet.
Wir wünschen Ihnen noch einen angenehmen Aufenthalt in Berlin. Herzlichen Dank für Ihr Kommen.
({1})
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
über die Weitergeltung der aktuellen Rentenwerte ab
1. Juli 2006. Das sind die Drucksachen 16/794 und
16/1004. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/1078, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der drei anderen Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in
der zweiten Beratung angenommen worden.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 3 b. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/1078 die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf der Drucksache
16/826 mit dem Titel „1-Euro-Jobs aus der Berechnungsgrundlage für die Rentenanpassung herausnehmen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD
und FDP gegen die Stimmen der Linkspartei und des
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
({2})
Tagesordnungspunkt 3 c. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung über einen Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verbesserung der Portabilität von Zusatzrentenansprüchen,
Drucksache 16/1155. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, die Unterrichtung zur
Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses geVizepräsident Wolfgang Thierse
gen die Stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU
und SPD gegen die Stimmen der FDP, der Linken und
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 3 d bis h. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/966,
16/905, 16/906, 15/5571 und 15/4498 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
4 Beratung des Antrags der Fraktion der LINKEN
Für Selbstbestimmung und soziale Sicherheit Strategie zur Überwindung von Hartz IV
- Drucksache 16/997 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Markus Kurth, Irmingard ScheweGerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Hartz IV weiterentwickeln - Existenzsichernd,
individuell, passgenau
- Drucksache 16/1124 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 1 ¼ Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Katja
Kipping, Fraktion Die Linke, das Wort.
({5})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
hier eine kleine Broschüre, die den Titel „Hartz IV Menschen in Arbeit bringen“ trägt. Im Dezember 2004
diente sie zur Information. Inzwischen taugt diese Broschüre nur noch für die Märchenstunde. Denn von
„Menschen in Arbeit bringen“ kann leider nicht allzu
viel die Rede sein. Man muss sich nur die aktuellen Verlautbarungen der Bundesagentur anhören, um deutlich
mitzubekommen: Die Realität spricht eine andere Sprache.
({0})
So war in den aktuellen Mitteilungen der Bundesagentur
zu lesen, nach dem Saisonbereinigungsverfahren errechne sich für März eine Zunahme der Arbeitslosenzahl
um 30 000.
Erwerbslose erleben immer weniger wirkliche Hilfe
bei der Suche nach einem Job, sondern leider zunehmend Demütigungen. In meinem Wahlkreis hat mich
neulich ein über 50-jähriger Mann angesprochen, der
sein Leben lang gewohnt war, von seiner Hände Arbeit
zu leben, und zwar im Baubereich. Ihm hatte man nun
einen 1-Euro-Job gegeben. Seine Tätigkeit bestand darin, Unkraut zu jäten, allerdings im Winter. Was haben
die 1-Euro-Jobber gemacht? Sie haben - mir wurden
diese Bilder gezeigt - erst den Schnee weggeschippt, um
dann zu versuchen, in dem gefrorenen Boden Unkraut zu
jäten.
({1})
Meine Damen und Herren, noch vor einigen Jahren hätte
man gedacht, das seien Geschichten aus Absurdistan,
das seien Geschichten aus der Kategorie Schildbürgerstreiche. Aber nein, das ist leider die traurige Realität mit
Hartz IV. Hier muss sich etwas ändern.
({2})
Doch nicht nur die Erwerbslosen gehören zu den Verlierern von Hartz IV. Wohlfahrtsverbände haben errechnet, dass die Zahl der Kinder, die in Armut leben, mit
Hartz IV um 500 000 zugenommen hat. Frauen erleben
eine zivilisatorische Rückwärtsrolle. Neulich erst bei einer Montagsdemo in Weißenfels hat mich eine Frau angesprochen. Sie war es immer gewohnt, auf eigenen Beinen zu stehen. Nun ist sie arbeitslos und hat das Pech,
dass ihr Mann nur wenige Euro über der Bemessungsgrenze verdient und sie keinerlei Anspruch auf eigene
Leistungen hat. Sie muss nun zu ihrem Mann gehen und
die Hand aufhalten.
({3})
Das ist für sie eine unzumutbare Demütigung.
({4})
Aber auch die Beschäftigten gehören zu den Verlierern von Hartz IV. Die Erpressbarkeit hat zugenommen.
({5})
Vielleicht ist auch Ihnen der Bericht einer Arbeitsgerichtsdirektorin zu Ohren gekommen, die beispielsweise
von einem dreifachen Vater berichtet hat, der ohne Widerspruch von heute auf morgen eine Lohnreduzierung
um 20 Prozent akzeptiert hat. Diese Arbeitsgerichtsdirektorin meinte, es sei die Existenzangst, die Leute dazu
zwinge, auf ihre Rechte zu verzichten.
({6})
Die Liste der Verlierer geht weiter. Handwerk und
Handel klagen über fehlende Binnenkaufkraft. In meinem Wahlkreis
({7})
gibt es in einer früher florierenden Ladenstraße immer
mehr leere Schaufenster, weil wieder einmal ein Frisör
Pleite gemacht hat, weil die Leute sich die Produkte und
Dienstleistungen nicht mehr leisten können.
Das Fazit ist: Kinder, Frauen, Handwerker, Beschäftigte und Erwerbslose gehören zu den Verlierern von
Hartz IV. Es ist höchste Zeit, dass sich hier etwas ändert.
({8})
Hartz IV folgt grundsätzlich der falschen Ideologie.
Das können kosmetische Schönheitskorrekturen nicht
ändern. Wir meinen also: Hartz IV muss grundsätzlich
überwunden werden. Das Arbeitslosengeld II in seiner
jetzigen Form muss dabei durch eine soziale Grundsicherung ersetzt werden, die repressionsfrei erfolgt, die
diesen Namen verdient und die gesellschaftliche Teilhabe wirklich ermöglicht.
({9})
Die 1-Euro-Jobs müssen durch sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse ersetzt werden. Das Motto
könnte lauten: Ordentliche Schulsozialarbeiter statt viel
zu kurze und schlecht bezahlte 1-Euro-Jobs.
({10})
Auch die Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I muss
länger werden. Wir schlagen hier vor: Für jedes Jahr
Beitragszahlung hat man Anspruch auf einen Monat Arbeitslosengeld I. Natürlich gibt es da auch für uns eine
Mindestfrist.
({11})
Das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft sollte im
21. Jahrhundert endlich überwunden werden. Die gegenseitige finanzielle Inhaftnahme innerhalb einer Familie
erhöht nur die Anzahl der negativen Aspekte, nämlich
ökonomische Abhängigkeit. Wir meinen, es ist Zeit, einen Individualanspruch einzuführen.
({12})
Wir meinen auch: Schutz vor Wohnungslosigkeit
muss gewährleistet werden. Uns allen wird immer schön
warm ums Herz, wenn wir in der Weihnachtszeit Berichte im Fernsehen darüber sehen, wie Obdachlosen geholfen wird. Aber Wohnungslosigkeit, die sich durch
Hartz IV wahrscheinlich verschärfen wird, ist eben nicht
nur zu Weihnachten ein Problem, sondern das ganze Jahr
über. Deswegen sagen wir: Das Menschenrecht auf
Wohnen muss gewahrt werden.
({13})
Um das zu finanzieren, ist natürlich eine Neuausrichtung in der Steuerpolitik notwendig. Die Großzügigkeit
gegenüber Vermögenden und Unternehmen mit Gewinnen können wir uns tatsächlich nicht mehr leisten.
({14})
Wer also Augen hat, um zu sehen, und Ohren, um zu hören, der kann feststellen: Hartz IV muss gekippt werden.
Nun kann ich verstehen, dass es Ihnen, meine Damen
und Herren von der SPD, schwer fällt; es ist immerhin
einmal Ihr Referenzprojekt gewesen. Es gibt einige Probleme, vor denen auch Sie die Augen nicht verschließen
können. Meine Damen und Herren von der SPD, es gibt
einige Verbesserungen, die müssten Sie mit uns jetzt
endlich gemeinsam in Angriff nehmen können. Ich empfehle Ihnen die aktuellen Untersuchungen der Caritas zur
Lektüre. Diese Untersuchungen besagen: Der Krankenversicherungsschutz ist das Mindeste, was für jeden Erwerbslosen gewährleistet sein muss.
({15})
Die heutige Situation sieht so aus, dass Frauen, die in
einer eheähnlichen Gemeinschaft leben - das betrifft
auch Männer; aber in den meisten Fällen sind doch eher
die Frauen betroffen, weil die Männer mehr verdienen und die das Pech haben, dass das Einkommen ihrer Partner nur wenige Euro über der Beitragsbemessungsgrenze
liegt, keinerlei Anspruch auf eine gesetzliche Krankenversicherung haben. Versuchen Sie einmal als Frau über
50, sich bei einer privaten Krankenversicherung zu versichern! Dafür sind Beträge nötig, die ein Arbeitsloser
nicht aufbringen kann.
({16})
Auch Ihnen muss doch verständlich sein, dass es nicht
angeht, dass das Pflegegeld und die EU-Renten für Behinderte bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II
berücksichtigt werden.
({17})
Vor einer Sache kann man die Augen nicht verschließen: Widersprüche gegen belastende Bescheide müssen
endlich eine aufschiebende Wirkung haben. Das ist
zum einen ein Gebot des Rechtsstaates. Wir sehen doch,
dass es bei der Bearbeitung der Widersprüche tatsächlich
enorme Probleme gibt. Ich habe neulich in einer Runde
von Erwerbslosen gesagt: Ja, ich weiß, auf die Bearbeitung mancher Widersprüche wartet man schon seit sechs
Monaten. Da bin ich ausgelacht worden und die Leute
haben gesagt: Wir warten leider schon seit einem Jahr
darauf, dass unser Widerspruch bearbeitet wird.
({18})
- Das ist schöne Theorie, was Sie sagen. Die Praxis sieht
leider anders aus.
Wir haben uns in den einzelnen Kommunen umgehört. Fast überall ist bisher erst jeder zweite Widerspruch
bearbeitet worden. Die Tatsache, dass von den bearbeiteKatja Kipping
ten Widersprüchen mindestens jedem dritten Widerspruch stattgegeben worden ist, zeigt doch, dass es notwendig ist, dafür zu sorgen, dass Widersprüche eine
aufschiebende Wirkung haben.
({19})
Ansonsten werden Menschen Leistungen unrechtmäßig
vorenthalten. Wir reden dabei nicht von Menschen, die
ein Polster haben, sondern von Menschen, die ohnehin
schon wenig haben.
Die Probleme, die Menschen mit Hartz IV haben,
sind so ernst, dass wir als Gesetzgeber reagieren müssen.
Wir können es uns nicht mehr leisten, uns einfach mit
Märchenstunden zu begnügen.
Meine Damen und Herren, wenn Sie unserem Antrag
aus Prinzipienreiterei nicht zustimmen wollen, so nehmen Sie unseren Antrag wenigstens zum Anlass, um
über die dringend notwendigen Veränderungen bezüglich Hartz IV mit uns gemeinsam zu beraten.
Besten Dank.
({20})
Ich erteile das Wort Kollegen Gerald Weiß, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Man muss eigentlich nicht um Worte streiten,
Frau Kipping, aber manchmal lohnt es sich schon, um
Begriffe zu streiten. Wir reden hier nicht über Hartz IV
- das ist Ihr Kampfbegriff -; wir reden über das
Sozialgesetzbuch II und die Grundsicherung für Arbeitsuchende. Das und nicht Hartz IV ist das Thema.
({0})
Von Ihnen, Frau Kipping und Genossen, brauchen wir
auch keine Belehrung des Inhalts, dass wir die Reform
auf dem Sektor des Sozialgesetzbuches II fortsetzen
müssen. Wir haben das mit einem ersten Änderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II zur Beseitigung schwerer
Fehlanreize in diesem Gesetz bereits begonnen. Das war
die erste Reformstufe. Jetzt kommt die zweite Reformstufe - die Grundlagen dafür hat der Minister gestern im
Ausschuss dargelegt -, ein Optimierungsgesetz für das
Sozialgesetzbuch II, für die Grundsicherung, mit dem
wesentliche weitere wichtige Reformschritte umgesetzt
werden sollen. Wir brauchen weder Ihre Belehrungen
noch Ihre Rezepte, Frau Kipping.
({1})
Natürlich wäre es das Beste, wir könnten das
Arbeitslosengeld II abschaffen. Das würde nämlich bedeuten, dass es uns gelungen wäre, die Langzeitarbeitslosigkeit in Deutschland zu überwinden.
({2})
Aber solange es nicht so ist, brauchen wir Hilfen für die
betroffenen Langzeitarbeitslosen, für die betroffenen
Menschen. Hilfe muss vor allem natürlich darin bestehen - das ist richtig -, Brücken zur Arbeit und zur wirtschaftlichen und sozialen Selbstständigkeit, zur Autonomie des Einzelnen zu bauen.
({3})
Ihr Gesellschaftsbild, Ihr Weltbild ist ein völlig anderes. Sie wollen die Menschen in monetärer Abhängigkeit
vom Staat, von der Gemeinschaft halten. Statt die Kräfte
des Einzelnen und die Kräfte seiner Familie zu fördern,
({4})
was Ihre Verantwortung ist, wollen Sie das Kollektiv heranziehen. Das ist eine ganz falsche Vorstellung; jedenfalls haben wir eine deutlich andere Vorstellung von der
Subsidiarität unserer Staats- und Gesellschaftsordnung.
Wie Sie sich von der Knappheit der Ressourcen lösen,
wie Sie die Kanne der Großzügigkeit ausgießen und
Wohltaten mit nicht vorhandenem Geld austeilen wollen,
das nötigt schon Bewunderung ab. So kann man keine
verantwortliche Politik machen.
({5})
Man muss die Begrenztheit der Ressourcen im
Auge behalten und man muss die knappen Mittel zielgerichtet einsetzen. Minister Müntefering hat es gestern erläutert. Eine Politik, die die Grundsicherung effektiver
und effizienter gestaltet, wird auch sinnvolle Einsparungen möglich machen. Die beiden Reformschritte der Koalition werden in diesem Jahr Ersparnisse in Höhe von
300 bis 400 Millionen Euro und im nächsten Jahr in
Höhe von 1,2 Milliarden Euro ermöglichen. Das sind
Gelder, die wir sinnvoller, an der richtigen Stelle, und effektiv einsetzen müssen. Wir müssen den Sozialstaat
zielgerichteter ausgestalten. Das ist der Sinn der Reform, die wir uns vorgenommen haben.
({6})
Mit dem SGB II ist Neuland betreten worden. Es ist
eine große und auch komplizierte Reform. Hilfe aus einem Guss für alle Langzeitarbeitslosen, das ist ein richtiger Ansatz. Wenn man sich jetzt in der Praxis ansehen
muss, dass es Fehlentwicklungen und Fehlanreize gibt,
dann muss doch die Konsequenz sein: Das SGB II muss
sozusagen ein lernendes System sein.
({7})
Wenn es das nicht ist, muss es ein lernendes System werden.
({8})
Gerald Weiß ({9})
Das heißt, es gilt, aus der Praxis zu lernen und
Folgerungen aus den Fehlentwicklungen zu ziehen. Ich
sagte schon: Den ersten Schritt haben wir mit dem
SGB-II-Änderungsgesetz getan.
Jetzt kommt die zweite Reformstufe. Da brauchen wir
weder Peitschenknallen noch Stinkbomben von der Opposition. Wir werden auch diese zweite Reformstufe bis
zum Sommer umsetzen.
({10})
In der Erkenntnis, dass Reformbedarf besteht, gibt es
Übereinstimmung. Das ist aber ein Minimalkonsens.
Schon darüber, wie sich dieser Reformbedarf definiert,
gibt es ganz erhebliche Divergenzen, Frau Kipping, zwischen Ihnen, aber auch den Grünen und uns. Die Linke
will zum Beispiel die Sanktionen praktisch abschaffen,
denen jemand unterworfen ist, der eine angebotene Arbeit nicht annimmt. Wenn Sie das machen, dann machen
Sie ein ganz wichtiges Steuerungsmittel gegen ungerechtfertigte Inanspruchnahme des Sozialstaates kaputt.
Wir brauchen dieses Steuerungsmittel. Wir müssen fördern und fordern. Das Fördern steht am Anfang.
({11})
Dieses Steuerungsmittel trifft die Minderheit der Ungerechten. Wer eine angebotene Beschäftigung ablehnt, der
muss auch gerechten Sanktionen unterworfen sein.
({12})
Wir können keine Ausbeutung zulassen, indem wir
knappe Steuermittel, für die die Unternehmer, die Selbstständigen und die Arbeitnehmer arbeiten müssen und für
die auch die kommenden Generationen über die Staatsverschuldung einstehen müssen, bedenkenlos ausschütten.
({13})
Da haben wir ein wesentlich anderes Menschen- und Gesellschaftsbild.
Wir müssen in dem genannten Optimierungsgesetz
im Grunde vier Ziele realisieren: erstens größere Zielgenauigkeit bei den Leistungen, zweitens notwendige
Klarstellungen in der Verwaltungspraxis, wo es heute
Rechtsunklarheiten gibt, drittens bessere Vorbeugung
gegen den Leistungsmissbrauch und viertens Verwaltungsvereinfachung. Das sind die vier Kernziele, um die
sich die Reformen, die wir uns vorgenommen haben,
ranken müssen.
Ich sehe nur zum Teil - ich habe heute meinen höflichen Tag - übereinstimmende Ansätze in den Anträgen
der Linken und der Grünen und uns. Der Handlungsbedarf tritt deutlich zutage, zum Beispiel bei den eheähnlichen Gemeinschaften. Wir sind dafür, dass die Partner
in einer solchen Verantwortungsgemeinschaft weiter füreinander einstehen. Aber wir wissen doch, welch ein
Kontrollaufwand nötig ist und welche Probleme beispielsweise im Zusammenhang mit der Frage erwachsen, ob es sich tatsächlich um eine eheähnliche Gemeinschaft handelt oder nicht. Den Weg, das zu klären,
müssen wir vereinfachen. Das wäre ein Aspekt.
({14})
Ähnliches gilt für den Aspekt der Vermögensbeiträge.
Die Koalition hat sich vorgenommen, die Schonbeträge
für die Alterssicherung anzuheben. Selbst wenn wir im
Gegenzug die Freibeträge für das übrige Vermögen senken müssten, wäre es ein sinnvoller Schritt, Altersvermögen in einem machbaren Rahmen als Schonvermögen
freizustellen, wobei wir uns allerdings nicht so weit von
den Finanzierungsgrundlagen emanzipieren können, wie
es die Caritas vorschlägt. Sie fordert einen Betrag ein,
den man nicht realisieren kann. Aber der Vorschlag geht
in die richtige Richtung.
Lassen Sie uns über diesen qualitativen Reformbedarf
reden und entsprechend handeln. Dann werden wir unseren Dienst an den Menschen erfüllen.
Herzlichen Dank.
({15})
Ich erteile das Wort Kollegen Heinrich Kolb, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
muss zunächst einmal feststellen - ich befinde mich da
sicher in Übereinstimmung mit dem Kollegen
Brauksiepe -, dass die Idee von Fordern und Fördern,
die hinter dem Sozialgesetzbuch II steht, ein absolut
richtiger und notwendiger Ansatz ist.
({0})
Aber das SGB II hat, wie wir heute feststellen müssen,
noch zahlreiche Konstruktionsfehler. Es sollten ja eine
schnellere Vermittlung in Beschäftigung, eine bessere
Betreuung von Arbeitslosen und eine deutliche Kostensenkung erreicht werden. Aber keines dieser gesteckten
Ziele konnte bisher realisiert werden.
({1})
Das lag nicht daran, dass wir etwa zu wenig Geld in die
Hand genommen hätten. Denn im Haushaltsentwurf,
über den zurzeit beraten wird, werden in diesem Jahr
30 Milliarden Euro - darunter fallen direkte Transfers,
das Wohngeld, der Wohngeldzuschuss des Bundes und
die Mittel für die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in Ansatz gebracht. Das zeigt, am Geld kann es sicherlich nicht liegen.
Wir haben gestern gelesen und auch vom Minister im
Ausschuss gehört, dass derzeit eine dramatische Entwicklung zu beobachten ist. Die Wohnungskosten für
Empfänger von Arbeitslosengeld II liegen im ersten
Quartal 2006 um 25 Prozent über den Kosten im vergleichbaren Vorjahreszeitraum. Die vorläufige Zahl der
Bedarfsgemeinschaften, die ALG II beziehen, stieg im
März auf 3,92 Millionen. Das sind 600 000 mehr als im
Januar 2005. Wenn sich diese Entwicklung verfestigt,
dann wird es erneut ein böses Erwachen mit Blick auf
den Haushaltsvollzug geben.
Es besteht kein Zweifel: Die handwerkliche Umsetzung von Hartz IV war mangelhaft. Es gab vielfältigen
Wildwuchs und auch Mitnahmeeffekte. Ich nenne beispielsweise den rapiden Anstieg der Zahl der Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaften. Auch der gleichzeitige
deutliche Anstieg der Zahl der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen unter 25 Jahren seit Beginn des letzten Jahres
ist weder Zufall noch gottgegeben, sondern er entstand
aufgrund von Fehlanreizen. Hier hätte schnellstens gegengesteuert werden müssen. Sie sind unserem Vorschlag aber nicht gefolgt, auch jetzt noch im Rahmen der
alle sechs Monate stattfindenden Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen, ob die Ein-PersonenBedarfsgemeinschaften nach Möglichkeit wieder in die
Familie eingegliedert werden können.
Frau Kipping, Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass
von Telefonbefragungen abzusehen sei. Ich will einmal
festhalten, dass bei den zwischen Juli und September
2005 stattgefundenen Telefonbefragungen 45 Prozent
der Arbeitslosengeld-II-Empfänger nicht erreicht werden konnten. Teilweise lag das an falschen Telefonnummern. Bei 10 bis 30 Prozent der erfolgreich durchgeführten Telefonate ergab sich ein weiterer Klärungsbedarf.
Aber - jetzt kommt es - bei den seit Januar 2006 durchgeführten Telefonbefragungen hat sich bei 4,1 Prozent
der Fälle eine Änderung beim Status der Arbeitslosigkeit
ergeben, bei den unter 25-Jährigen sogar in 9,8 Prozent
der Fälle. Frau Kipping, das zeigt doch, dass die von der
FDP geforderte Meldepflicht keine Schikane, sondern
ein Instrument gegen massiven Missbrauch ist.
({2})
Ich denke auch, Frau Kipping, das Prinzip des Forderns und Förderns wird von der breiten Mehrheit der
Bevölkerung nicht infrage gestellt. Das Gleiche gilt auch
für das Solidarprinzip. Wer die solidarische Hilfe der
Gemeinschaft in Anspruch nehmen möchte, der muss
auch bereit sein, zumutbare Arbeit und Qualifikationsangebote anzunehmen.
({3})
Ich sage sehr deutlich: Der von Ihnen vorgelegte Antrag ist schädlich. Dadurch schaffen Sie keine zusätzlichen Arbeitsplätze, sondern gefährden vorhandene sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.
({4})
Der Antrag geht von falschen Voraussetzungen aus. Arbeitsplätze werden nämlich von Unternehmen geschaffen und nicht aufgrund von Anträgen oder Beschlüssen
des Deutschen Bundestages.
({5})
Wenn man damit das Problem der Arbeitslosigkeit lösen
könnte, hätte sich dafür sicher schon eine Mehrheit gefunden.
Die Politik ist verantwortlich dafür, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es den Unternehmen ermöglichen, zu investieren und sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung zu schaffen. Nur eine gut funktionierende
Wirtschaft sorgt dafür, dass die sozialen Sicherungssysteme überhaupt unterhalten werden können.
({6})
Das haben wir auch bei der Debatte über den vorangegangenen Tagesordnungspunkt sehr deutlich gesagt.
Wir wollen - ich sage auch: wir müssen - die Menschen zurück in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bringen. Das ist das Ziel jeder Arbeits- und
Sozialpolitik. Dazu braucht man eben auch einen funktionierenden Niedriglohnsektor, in dem die Anreize zur
Aufnahme einer Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt
gesetzt werden.
Ihre Forderung, die Grundsicherung auf 420 Euro zu
erhöhen, ist angesichts der Summen, die schon heute für
das Arbeitslosengeld II aufgewendet werden, absurd.
Ebenso fatal ist auch die Forderung nach Einführung eines Mindestlohns. Ich sage Ihnen noch einmal sehr deutlich: Gesetzliche Mindestlöhne führen zur Verdrängung
von Arbeitsplätzen, insbesondere im Bereich der geringer Qualifizierten.
({7})
Man könnte noch viel zu diesem Antrag sagen, der
ein ganzes Sammelsurium von Maßnahmen enthält.
Schon der darin enthaltene Ansatz ist verkehrt. Dieser
Antrag wird in den Beratungen wahrscheinlich nicht in
eine vernünftige Form zu bringen sein. Wir werden
gleichwohl im Ausschuss über ihn beraten. Aber man
muss hier eine Ablehnung am Ende wohl schon in Aussicht stellen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Gerd Andres.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen auf der linken
Seite,
({0})
ich hätte es gut gefunden, wenn die Verfasser des vorliegenden Antrages die Broschüre „Hartz IV - Menschen
in Arbeit bringen“ nicht nur erwähnt, sondern sie auch
gelesen hätten.
({1})
Wer Ihren Antrag nämlich liest - ich habe ihn gelesen
und ihn mit vielen Anmerkungen versehen; ich finde,
man sollte ihn sich wirklich aufheben -, stellt fest, dass
er an vielen Stellen fachlich falsch und schlecht ist.
({2})
Er unterschlägt an einer ganzen Reihe von Stellen gesetzliche Regelungen. Er ist nach einem „Wünsch-dirwas-Populismus“ gestrickt. Wenn ich ihn aus finanzpolitischer Perspektive betrachte, komme ich zu dem Ergebnis: Er ist verheerend.
({3})
- Ich kann Ihnen das gerne beweisen. Ich sage Ihnen:
Wenn man die Leistungsverbesserungen, die Sie vorschlagen, also Verbesserungen beim Kindergeld und
Ähnliches, zusammenzählt, kommt man überschlägig
auf eine Summe von 35 Milliarden Euro. Wer sagt, das
sei bei der gegenwärtigen Haushaltslage einigermaßen
seriös - Sie haben gestern den Haushalt beraten -,
({4})
blendet die Leute. Sie können zwar ab und zu Ihren
Weltökonomen Lafontaine von der Kette lassen; der erklärt dann, wie man das alles macht. Aber wie man Arbeit schafft - verehrte Frau Kipping, Sie haben ja gesagt,
es werde keine Arbeit geschaffen -, steht nicht in Ihrem
Antrag.
({5})
Die Erfahrung, die wir über viele Jahre gemacht haben, ist: Wir haben den Leuten zu viel Geld gezahlt und
sie zu wenig gefordert. Die Erfahrung, die wir mit der
Sozialhilfe gemacht haben, war: Wir haben den Leuten
die Sozialhilfe gezahlt und sie aus dem Arbeitsmarkt
ausgegrenzt.
({6})
In einem Konzept eines aktivierenden Sozialstaates
muss man sich Gedanken darüber machen, wie die Balance von Transferleistungen, Arbeitsanreizen, Anstrengungen, Menschen in Arbeit zu bringen und sie bei der
Arbeitssuche zu unterstützen, vernünftig geregelt werden kann.
Herr Andres, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Gerne, Herr Präsident.
Bitte, Frau Kipping.
Herr Andres, da Sie so großen Wert auf das Prinzip
des Förderns legen, möchte ich Sie fragen, ob Sie nicht
zumindest einen Aspekt unseres Antrages bestätigen
können. Es handelt sich um Folgendes: Das Problem ist,
dass Personen, die erwerbslos werden, aber keinen Anspruch auf eine geldliche Leistung haben, weil ihr Partner zu viel Geld verdient, in der Praxis leider keinerlei
Arbeitsförderung mehr nach SGB III erfahren. Wir
fordern die Bundesregierung auf, ihre Dienstaufsicht
wahrzunehmen und dafür Sorge zu tragen, dass auch
Personen, die erst einmal keine Kosten verursachen, in
den Genuss von Arbeitsförderungsmaßnahmen kommen. Ist das nicht ein Punkt, zu dem Sie sagen müssten:
„Ja, das hätten wir als Bundesregierung längst tun müssen. Danke, dass Sie uns darauf hingewiesen haben!“?
({0})
Frau Kipping, darf ich Ihnen in aller Freundlichkeit
etwas sagen? Sie werden es nicht glauben: Die Bundesregierung teilt Ihre Position und hat sie, lange bevor Sie
sie formuliert haben, eingenommen.
({0})
Es geht im SGB II darum, festzustellen, ob jemand
bedürftig ist. Es geht darum, ihn so schnell wie möglich
aus dem Bedarf herauszubringen. In dem von Ihnen geschilderten Fall, wenn also jemand Arbeit hatte, dann arbeitslos wird und er aufgrund des Partnereinkommens
oder deswegen, weil die Bedarfsgemeinschaft gut ausgestattet ist, keine Leistung bekommt, hat er dennoch ein
Anrecht darauf, beraten zu werden, bei der Arbeitssuche
unterstützt zu werden und bestimmte Maßnahmen
durchzuführen. Das steht sogar im Gesetz, verehrte Frau
Kipping. Wir brauchen nicht Sie dazu, um das festzustellen.
({1})
- Vielleicht könnten Sie sich ein bisschen später noch
einmal melden. Ich gestehe Ihnen gerne eine oder fünf
Zwischenfragen zu; denn es macht Spaß, sich auszutauschen und zu diskutieren.
Um in meiner Rede fortzufahren: Ich möchte nicht
missverstanden werden: Da, wo es um inhaltliche Kritik
und um Verbesserungen geht, ist diese Kritik nicht nur
berechtigt, sondern sogar erwünscht.
({2})
Dass wir Defizite bei der Umsetzung des Systems und
dabei haben, Menschen in Arbeit zu bringen, muss uns
keiner sagen. Da müssen wir viel besser werden; das ist
eine völlig klare Sache. Sie müssen mir aber einmal erklären, wie man, indem man überall die Leistungen verbessert, die Menschen unterstützen will, wieder erwerbstätig sein zu wollen.
Wenn man sich Ihren Antrag ansieht, muss man Ihnen
folgenden Vorwurf machen: Sie blenden völlig aus - das
ist eine schiefe Darstellung, die Sie gerne gewählt
haben -, dass die Transferleistung der Grundsicherung
für Arbeitsuchende im Jahr 2005 höher war, als sie es
nach altem Recht gewesen wäre. Dieses Kunststück
müssen Sie mir einmal erklären: Der Staat wendet sehr
viel mehr Mittel auf und Sie sagen, alles sei viel schlechter geworden. Wenn das frühere Hilfesystem fortgeführt
worden wäre, würde es heute vielen Menschen schlechter gehen.
({3})
Zu Ihrem konkreten Beispiel bezogen auf die Krankenversicherung: Die Menschen, die nach altem Recht
im Sozialhilfesystem waren, waren nicht in die Rentenversicherung einbezogen. Manche waren nur über die
Familienversicherung mit krankenversichert oder über
die Krankenhilfe nach dem SGB. Was haben wir gemacht? Mit dem neuen System haben wir die betroffenen Menschen in die sozialen Sicherungssysteme einbezogen.
Sie gehen übrigens auch darüber hinweg, dass wir
Anfang dieses Jahres die Regelleistung für Arbeitslose
im Osten auf 345 Euro angehoben haben. Das interessiert Sie anscheinend nicht mehr. Sie ignorieren auch,
dass wir die Freibeträge für Erwerbseinkommen erst vor
einem guten halben Jahr erhöht haben. Sie schieben völlig beiseite, dass es großzügige Freibetragsregelungen
gibt - ich könnte Ihnen das alles vorrechnen -, einschließlich Hauseigentum, Wohneigentum und einem
Pkw für jeden Betroffenen. Es gibt viele Modellfälle; Sie
können sie gerne nachrechnen.
Ich habe ein weiteres Problem, Frau Kipping. Es ist
richtig, zu sagen: Wir wollen die Menschen fördern, aber
wir müssen sie auch fordern. - Es führt überhaupt kein
Weg daran vorbei, die Menschen auch zu fordern. Bei
der Zahlung von Transferleistungen gibt es aber immer
ein Problem. Dies wird deutlich, wenn man denjenigen,
der sich im Transferleistungssystem befindet, mit dem
vergleicht, der arbeiten geht. Es geht um das Lohnabstandsgebot. Wir haben zum 1. Oktober des vergangenen Jahres die Zuverdienstmöglichkeiten bei Minijobs
verbessert. Wer also einen Minijob hat, darf höhere Beträge behalten. Das hat gemäß unserem System die verrückte Folge, dass in Deutschland angeblich die Armut
steigt. Ich kann Ihnen das erklären: Wenn Sie die Zuverdienstmöglichkeiten verbessern, weiten Sie gleichzeitig
den Kreis der Personen aus, die in das Leistungssystem
fallen.
({4})
Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen: Ein verheirateter Arbeitslosengeld-II-Bezieher mit
zwei Kindern im Alter von acht und zwölf Jahren bekommt für die monatlichen Kosten für Unterkunft und
Heizung zusätzlich 542 Euro. Nebenbei hat er einen
Minijob für 400 Euro; davon darf er - das habe ich vorhin erläutert - 160 Euro anrechnungsfrei behalten. Diese
Familie kommt auf ein durchschnittliches Einkommen
von 1 737 Euro. Wenn er einen Midijob hätte, also zwischen 400 und 800 Euro hinzuverdienen würde, betrüge
das Familieneinkommen sogar 1 817 Euro.
({5})
- Netto. - Im Vergleich dazu erhält ein gering qualifizierter verheirateter Alleinverdiener mit zwei Kindern
im Alter von acht und zwölf Jahren, der als Hilfsarbeiter
im produzierenden Gewerbe arbeitet, einschließlich Kindergeld und Wohngeld durchschnittlich 2 108 Euro. Er
hat damit durchschnittlich nur etwa 290 Euro mehr zur
Verfügung als ein verheirateter Arbeitslosengeld-II-Bezieher mit Midijob.
Bei einer Erhöhung der Regelleistung, wie von Ihnen
vorgeschlagen, auf 420 Euro, würden uns die Wohlfahrtsverbände, die Sie eben benannt haben, schreiben,
dass die Zahl der Bedürftigen und Armen noch weiter
gestiegen ist. Ich weiß auch gar nicht, warum Sie sich da
zurückhalten. Warum fordern Sie nicht gleich 450 oder
500 Euro? Ihr ganzer Antrag verfolgt diese Philosophie.
Das Spannende daran ist, dass, wenn man dies umsetzen
würde, die Zahl der Bedürftigen und Armen in unserem
Land immer weiter steigt. Sie müssen also umgekehrt erklären, warum der Arbeitnehmer für rund 200 Euro mehr
noch arbeiten gehen soll.
({6})
Es gibt doch praktische Beispiele dafür. Die Menschen, die diese Leistungen mit ihren Steuern finanzieren, stellen doch die Frage, warum sie eigentlich arbeiten
gehen, wenn jemand auf dem Flur gegenüber ALG II bekommt und durch die Familienförderung faktisch das
Gleiche herausbekommt. Das müssen Sie diesen Menschen einmal erklären.
Wenn Sie das machen, haben Sie das zusätzliche Problem, ein Problem, mit dem wir uns gerade herumschlagen: Je höher die Leistungen sind, die Sie gewähren,
umso mehr Menschen haben Anspruch auf diese Leistungen. Das heißt, der Hilfsarbeiter, den ich gerade genannt habe, erhält dann auch noch ergänzende Leistungen nach dem SGB II. Denn wenn das unter
Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich um eine Bedarfsgemeinschaft handelt, berechnet wird, kann sich
möglicherweise ein Anspruch auf ergänzende Leistungen ergeben.
Ich komme jetzt zu einer weiteren Position, Frau
Kipping. Ich sage ganz offen: Darüber werden wir uns
streiten; Sie werden auch keine Chance haben, das hier
mehrheitlich durchzusetzen. Das ist das Beruhigende
dabei. Sie sagen, man müsse das alles jetzt repressionsfrei ausgestalten.
({7})
Ja, mein Gott! Sie wollen ferner die Bedarfsgemeinschaften auflösen und es soll einen individuellen Anspruch geben. Das ist ja ganz wunderbar, wenn man sich
das anschaut. Ich halte das alles für Ammenmärchen. Es
ist gnadenloser Populismus, den Sie hier abziehen. Das
Gleiche gilt für die praktischen Beispiele, die Sie bringen. Auch das ist gnadenloser Populismus.
({8})
Dass es Unsinn ist, jemanden bei gefrorenem Boden Unkraut jäten zu lassen, müssen Sie im Bundestag nicht erzählen.
({9})
Wenn Sie mir diesen Fall geben, dann wird das ganz
schnell - ruck, zuck! - abgestellt. Das sage ich Ihnen.
({10})
Dass Sie aber solche Einzelfälle anführen, um den Unsinn zu begründen, den Sie in Ihrem Antrag zusammengeschrieben haben, das müssen Sie uns, glaube ich, nicht
antun.
Ich bitte um Entschuldigung, meine sehr verehrten
Damen und Herren. Ich habe nur noch ganz wenig Redezeit und bin bis jetzt nicht dazu gekommen, mich mit
dem Antrag der Grünen näher auseinander zu setzen. Es
gibt ja auch Menschen, mit denen wir über viele Jahre
zusammengearbeitet haben. Dieser Antrag hebt sich in
seiner Qualität wohltuend von dem Antrag der Linken
ab.
({11})
Darin sind eine Reihe von Vorschlägen enthalten, die ich
sehr spannend finde, insbesondere wenn es um die Betreuung geht. Es gibt aber auch Positionen, zu denen die
Bundesregierung sagt: Da werden wir Ihnen nicht folgen. - Das wundert niemanden. Wir sind gegenwärtig in
einem Prozess, das SGB II weiter zu optimieren. Das
werden wir in den nächsten Wochen tun. Bei einer solch
großen Reform ist es unvermeidlich, dass man nachsteuert. Ich sage noch einmal ganz in Ruhe und voller
Stolz - das sage ich; ich war daran nämlich beteiligt -:
Die steuerfinanzierte Arbeitslosenhilfe und die steuerfinanzierte Sozialhilfe zu einem neuen System zusammenzufassen, dem die Vorstellung des aktivierenden Sozialstaats zugrunde liegt, ist des Schweißes aller Edlen wert
gewesen. Es ist ein großes Verdienst, dass wir das, mit
Ausnahme der FDP und des ganz linken Flügels, durchsetzen konnten, hier und im Bundesrat.
({12})
Dass die Liberalen und die Vertreter des ganz linken Flügels hier gefehlt haben, macht mich nicht traurig. Denn
es gibt eine breite Mehrheit hier im Parlament, die eine
solche Entwicklung für richtig und notwendig hält. Wir
machen bei diesem Prozess weiter. Wir werden einzelne
Punkte optimieren und es weiter vorantreiben. Ich
glaube, dass wir, auch im europäischen Vergleich, den
richtigen Weg eingeschlagen haben.
Herzlichen Dank.
({13})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin
Katja Kipping das Wort.
({0})
Herr Andres, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie
noch einmal auf das Problem der Working Poor, also der
Menschen, die wirklich von früh bis spät arbeiten und
trotzdem in Armut leben, hingewiesen haben. Für mich
ist das allerdings kein Argument dafür, die Sozialleistungen zu kürzen; vielmehr ist es eher ein Argument, das
uns in unserer Absicht bekräftigen sollte, endlich einen
gesetzlich garantierten Mindestlohn einzuführen.
({0})
In einem Punkt gebe ich Ihnen Recht: Die Berechnung der Armut, wenn sie allein prozentual und relativ
erfolgt, kann zu gewissen statistischen Effekten führen,
die nicht unproblematisch sind. Nun ist aber die Art und
Weise, wie Armut berechnet wird, nicht von der Linkspartei erfunden worden; vielmehr ist sie von der Wissenschaft, von der EU-Kommission und auch von der
OECD so festgelegt worden.
({1})
Ich finde, wir sollten die Probleme, die Sie zu Recht genannt haben, zum Anlass nehmen, uns darüber zu verständigen, inwieweit man sich bei der Berechnung des
Regelsatzes allein auf die relativen, prozentualen Zahlen
stützen sollte oder ob man nicht lieber einen Warenkorb,
in dem das Mindeste von dem enthalten sein müsste, was
Menschen brauchen, damit sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, als Grundlage der Berechnung
nimmt.
({2})
Herr Kollege Andres, zur Erwiderung.
Frau Kipping, herzlichen Dank. - Ich will Ihnen nur
sagen: Über Armut reden wir im Rahmen einer anderen
Debatte. Ich glaube nämlich, dass wir das System, wie
wir es im SGB II vorgesehen haben, vorzeigen können.
Dieses System ist bedarfsgerecht; es unterstellt, dass Bedürftigkeit vorliegt und dass es ein solidarisches Einstehen füreinander in der Bedarfsgemeinschaft gibt. All das
sind Prinzipien - Sie beschreiben sie in Ihrem Antrag -,
an denen wir festhalten.
Der gesetzliche Mindestlohn ist ein anderes Problem.
Spannend sind nicht die Fragen ob oder ob nicht und wie
man das konstruiert; spannend ist doch die Frage der
Höhe. Die Umsetzung Ihres wunderbaren Vorschlags
von der Pfändungsfreigrenze würde bedeuten, dass ich
den ganzen Leistungsapparat des SGB II auf diese Höhe
schrauben müsste. Ob die Pfändungsfreigrenze vernünftig ist, lasse ich völlig außen vor.
Sie merken, ich habe sehr viel Spaß an einer fachlichen, sachlichen und vernünftigen Debatte. Das ist überhaupt kein Problem; die können wir gerne führen. Sie
muss aber fachlich und sachlich fundiert sein. - Das eine
hat mit dem anderen nichts zu tun. Man kann nicht einfach Äpfel mit Birnen vergleichen. Beim gesetzlichen
Mindestlohn und der Leistungshöhe nach dem SGB II
muss ich immer beachten, dass es einen Anreiz geben
muss, aus dem System heraus in Arbeit zu gehen. In diesem Land haben wir unglaublich viel Arbeit, die gegenwärtig nicht gemacht wird. Eine Aufgabe dieses Hauses,
des Gesetzgebers, ist es, dafür zu sorgen, dass die in
Deutschland vorhandene Arbeit, die zurzeit nicht von legal in Deutschland lebenden Menschen gemacht wird, in
Zukunft von diesen erledigt wird. Auch das ist ein Problem, dem wir uns stellen müssen.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht
hilft es der Debatte, wenn wir uns in Erinnerung rufen,
was das eigentliche Ziel der Arbeitsmarktreform in der
letzten Legislaturperiode war - Herr Andres hat das zum
Teil angerissen -: Ziel war es, ein Transfersystem, das
die Lebensstandardsicherung in den Mittelpunkt stellt,
abzuschaffen, weil es diesen Anspruch bei wachsender
Massenarbeitslosigkeit nicht mehr erfüllen konnte, die
Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt aber
trotzdem nur am Rande als Aufgabe begriff. Dieses
Transfersystem sollte abgeschafft werden, weil es die
Langzeitarbeitslosigkeit zementiert hat. Es ging darum,
die Chancen von Langzeitarbeitslosen, Zugang in den
ersten Arbeitsmarkt durch umfangreiche Betreuung,
passgenaue Hilfsangebote und eine effektive Vermittlung zu finden, zu verbessern.
({0})
Das war und ist ein richtiges Ziel, das auch in dieser Legislaturperiode verfolgt werden sollte.
Die Umsetzung ist in vielerlei Hinsicht mangelhaft.
Das will ich gar nicht bestreiten.
({1})
Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe
mit dem Ziel der Schaffung einer Grundsicherung war
aber ein erster, richtiger Schritt. Wir haben die entmündigende Sozialhilfe abgeschafft und den entwürdigenden
Verschiebebahnhof zwischen Sozial- und Arbeitslosenhilfe abgeschafft.
Frau Kipping, es muss noch einmal in Erinnerung gerufen werden, dass die Sozialhilfeträger in der Vergangenheit Langzeitarbeitslose in großem Umfang in irgendwelche Maßnahmen geschleust haben, um sie bei
der Bundesanstalt für Arbeit abzugeben. Das war teuer
und für die Betroffenen verdammt schlecht und entwürdigend.
({2})
Sozialhilfeempfänger haben jetzt erstmals einen Zugang zu den Instrumenten der Bundesanstalt für Arbeit
und damit einen Zugang zur Vermittlung in Arbeit und
Ausbildung.
({3})
Wenn man Sie so hört, vor allem, wenn man Ihren Antrag liest, könnte man den Eindruck gewinnen, das alles
sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ihr Fraktionsvorsitzender Oskar Lafontaine hat im Wahlkampf
sogar von „Schandgesetzen“ geredet. Ich finde das in jeder Hinsicht instinktlos.
({4})
Sie rufen „Hartz IV muss weg! Hartz IV muss überwunden werden!“. Die Frage ist, was dabei herauskommen soll. Wohin wollen Sie eigentlich? Vorwärts in die
Vergangenheit? Den Eindruck habe ich, wenn ich Ihren
Antrag lese. Sie versprechen den Menschen eine Erhöhung der Transferleistungen in einer Größenordnung
- das entspricht auch unseren Berechnungen - von ungefähr 35 Milliarden Euro.
Sie machen falsche Versprechungen und versuchen
damit, ihnen den Verzicht auf einen Arbeitsplatz
schmackhaft zu machen. Das ist die falsche Politik.
Sie haben im Wahlkampf Plakate geklebt, auf denen
stand: „Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ - Frau Kipping, ich sage Ihnen mit Blick
auf die Forderungen, die Sie hier heute erheben: Nichts
ist hilfloser als eine Idee, die nicht mehr in die Zeit passt,
weil sie keiner bezahlen kann, aber vor allen Dingen
auch, weil sie an den Problemen vorbeigeht.
({5})
Sie spielen, wie ich finde, immer gern ein bisschen
Klassenkampf. Offen gestanden: Es ist höchste Zeit,
dass Sie Ihre politischen Ideale einmal mit den gesellschaftlichen Realitäten im Jahr 2006 abgleichen. Die
Gesellschaft ist heute ein bisschen komplexer, als Karl
Marx sie noch beschrieben hat. Die „taz“ hat das im letzten Jahr sehr anschaulich dargestellt. Die Frage war
nämlich: Wer ist denn heute das Kapital? Dies wurde am
Beispiel Daimler-Chrysler verdeutlicht: 6,9 Prozent gehören der Deutschen Bank, 7,2 Prozent dem Emirat Kuwait und der Rest ist Streubesitz. 25 Prozent davon werden von Privatinvestoren gehalten und 60,9 Prozent von
institutionellen Investoren. Frau Kipping, wer ist da jetzt
der Boss? Dann noch einmal von der anderen Seite gefragt: Was bedeutet das für die Bürgerinnen und Bürger?
Die Bürger in einem entwickelten Kapitalismus befinden
sich in einem vielfältigen Rollenkonflikt. Als Kunden
profitieren sie von dem gnadenlosen Wettbewerb. Als
Anleger freuen sie sich über Kurssprünge und hohe
Dividenden. Doch als Angestellte sind sie Opfer dieser
Verhaltensmuster, denen sie selbst unterliegen. Das bedeutet stagnierende Löhne und kann auch bedeuten, dass
ihre Jobs bedroht sind.
Frau Kollegin Pothmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehm?
Ja.
Bitte schön.
Schon die SPD-Kollegen haben von mir, als ich noch
in dem Verein war, folgende Frage gehört. Auch Ihnen
stelle ich jetzt diese Frage, weil Sie die Deutsche Bank
als an Daimler-Chrysler Beteiligte erwähnt und gesagt
haben, dass unsere Politik nicht mehr in die Zeit passt,
da sie nicht finanzierbar sei: Wie erklären Sie dann, dass
- auch unter der Ägide von Rot-Grün - die Deutsche
Bank 16 Jahre lang keine Großbetriebsprüfung hatte und
keinen Cent Körperschaftsteuer gezahlt hat? Wären
diese beiden Instrumente nicht eine Möglichkeit - übrigens auch mit einem ähnlichen Ergebnis für DaimlerChrysler -, um sehr viel für die Finanzierung unseres
Sozialstaates zu tun?
({0})
Die Steuerpolitik unter Rot-Grün habe ich nicht in jedem Punkt für richtig gehalten. Das haben wir im Übrigen immer sehr deutlich formuliert. Aber Ihre einfachen
Muster, die sich in Ihren Anträgen widerspiegeln, werden der gesellschaftlichen Realität nicht gerecht. Das
sind ranzige Weisheiten, mit denen Sie hier immer wieder auftauchen. Sie machen es sich verdammt noch mal
zu einfach!
Frau Kollegin, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage der Frau Kollegin Dr. Hendricks?
({0})
Ja.
Bitte.
Frau Kollegin, sind Sie bereit, den Herrn Kollegen
Dehm darauf hinzuweisen, dass nach den in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Bedingungen Konzerne
nahtlos im Anschluss, also etwa alle vier Jahre, für die
vergangenen vier Jahre geprüft werden und dass dazu
selbstverständlich auch ein Bankkonzern gehört?
Ich glaube, das hat der Kollege Dehm jetzt gehört, als
Sie es uns allen hier noch einmal deutlich dargestellt haben.
({0})
Wissen Sie, was ich für das eigentliche Problem
halte? Das eigentliche Problem ist, finde ich, dass Sie es
mit Ihrer Politik dieser Regierung so einfach machen,
weil Sie Ihre Forderungen nicht belegen, weil sie nicht
finanzierbar sind und weil sie deswegen so einfach vom
Tisch zu wischen sind. Dabei braucht diese große Koalition eine Opposition, die ihr Feuer unter dem Hintern
macht.
({1})
Denn diese Koalition ist dabei, auf ihre ganz eigene
Art Hartz IV zu überwinden. Meine Damen und Herren
von Union und SPD, ich darf Ihnen vielleicht noch einmal in Erinnerung rufen: Das Motto von Hartz IV war
„Fordern und Fördern“.
({2})
Es scheint aber so, dass Sie das Prinzip des Förderns
nicht mehr so richtig in Erinnerung haben.
({3})
Seit Ihrem Amtsantritt wollen die Zumutungen, mit denen Sie die Hartz-IV-Empfänger überziehen, kein Ende
nehmen. Mir scheint, Sie folgen nach einer Druckkesseltheorie der Vorstellung: Je mehr Forderungen an die Arbeitslosen gestellt werden und je höher der Leidensdruck
ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die
Menschen in Arbeit kommen. Ich sage Ihnen: Das trägt
nicht gerade zur Motivation bei, einen Arbeitsplatz anzunehmen. Das provoziert vielmehr die Abkehr der Betroffenen von der Gesellschaft.
Mit Ihren elendigen und durch keine Zahlen belegten
Missbrauchsdebatten schüren Sie, wie ich finde, zunehmend ein Klima des Misstrauens und der Stigmatisierung. Dies tun Sie nur, um Rückenwind für die
Durchführung von Leistungskürzungen, die Sie schon
angedeutet haben, zu bekommen. Das ist wirklich ein
schäbiges Vorgehen.
({4})
Aus diesem Grunde haben wir uns entschlossen, einen eigenen Antrag zur Weiterentwicklung von Hartz IV
einzubringen. Aus unserer Sicht enthielt der Hartz-IVKompromiss, der ja im Wesentlichen ein großkoalitionärer war, von Anfang an erhebliche Zumutungen. Aber
ich sage deutlich: Wir haben diese Zumutungen mitgetragen, weil wir der Auffassung waren und im Übrigen
nach wie vor sind, dass Leistungszahlungen mit dem
Ziel der Integration in den ersten Arbeitsmarkt verbunden sein müssen. Allerdings sind wir auch der Meinung, dass sowohl bei den Regelungen zu unterschiedlichen Personengruppen als auch auf einzelnen Feldern
der Arbeitsmarktpolitik nachjustiert werden muss.
Ich will nur einige Punkte unseres Antrags nennen: Es
geht auch uns um eine Entkopplung des Hilfebezugs
vom Partnereinkommen; hier muss im Interesse der
Frauen eine bessere Regelung gefunden werden. Wir
halten es vor dem Hintergrund der Entwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung für dringend notwendig,
das Altersvorsorgevermögen besser zu schützen. Wir
wollen vor allen Dingen die Integration in den ersten Arbeitsmarkt verbessern, indem wir Langzeitarbeitslosen
ermöglichen, ihre gesamten Transferleistungen in ein
Beschäftigungsverhältnis einzubringen. Wir wollen also
Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren. Und wir wollen, dass mindestens geduldeten Ausländerinnen und
Ausländern endlich Zugang zu Eingliederungsleistungen
eingeräumt wird.
Meine Damen und Herren, Hartz IV schafft keine Arbeitsplätze. Das haben zumindest wir Grüne auch nie behauptet. Hartz IV konzentriert sich auf die bessere Vermittlung und Integration von Arbeitslosen. Dass dies in
einer Situation, in der es massenhaft an Arbeitsplätzen
fehlt, nur begrenzt eine Hilfe ist, gebe ich gerne zu. Aber
es wird nicht leichter, wenn Sie zu alten Konzepten zurückkehren, die sich bei der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit seit Jahrzehnten als untauglich erwiesen
haben.
({5})
Lenin soll ja immer als erste und entscheidende Frage
formuliert haben: „Wem nützt das?“ Ich sage Ihnen: Ihr
Antrag nützt weder den Arbeitslosen noch der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Karl Schiewerling von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag der Fraktion der Linken ist im Wesentlichen nichts
anderes als eine Zusammenstellung von Positionen, die
im Parlament auch in der Vergangenheit keine Mehrheit
gefunden haben - und das aus gutem Grund. Sie wollen
das Arbeitslosengeld II und viele andere Leistungen,
zum Beispiel das Sozialgeld, anheben. Doch dazu, wie
Sie das finanzieren wollen, äußern Sie sich in Ihrem Antrag mit keinem Wort; die Größenordnung, um die es dabei geht, hat Herr Andres vorhin erwähnt. Geld auszugeben, ist einfach. Es zu erwirtschaften und es dann
gerecht zu verteilen, ist allerdings schwer. Ich sage Ihnen: Ihre Position ist populistisch und unredlich.
({0})
Der Druck auf dem Arbeitsmarkt, den Sie gleich zu
Beginn in Ihrem Antrag beschreiben, ist keine Folge der
Einführung der Grundsicherung, sondern unter anderem
eine Konsequenz der gesamtkonjunkturellen Entwicklung. Wir wären international nicht so wettbewerbsfähig,
wie wir es sind, hätten wir nicht hoch qualifizierte Ingenieure, Meister und Facharbeiter. Allerdings - das ist
richtig -: Menschen ohne berufliche Qualifikation haben
es schwer. Einen Qualifikationsdruck nach unten, wie
Sie ihn beschreiben, kann ich nicht erkennen.
In Ihrem neun Seiten umfassenden Antrag gehen Sie
mit keinem einzigen Wort auf das Fordern und Fördern
der Menschen ein. Sie zeigen auch keinen Weg auf, wie
Sie Bezieher von Leistungen nach dem SGB II in Beschäftigung bringen wollen.
({1})
Das ist aber der Kern des SGB II.
({2})
Sie behaupten in der Präambel Ihres Antrags, dass das
Arbeitslosengeld II keine soziale Grundsicherung sei.
Diese Behauptung ist schlichtweg falsch: Das Arbeitslosengeld II ist eine soziale Grundsicherung, allerdings
ist es keine Hängematte, sondern ein gespanntes Netz.
Mit dem Optimierungsgesetz wollen wir dieses Netz
überprüfen und weiter straffen, damit es seinen Zweck
als Grundsicherung erfüllen kann.
({3})
Mit dem Prinzip des Forderns und Förderns sind
wir auf dem richtigen Weg. Dieses Grundprinzip des
SGB II trägt dazu bei, dass Menschen ohne Arbeit gefordert werden, ihren Lebensunterhalt möglichst rasch wieder aus eigener Kraft zu bestreiten. Schließlich wollen
wir Menschen in Arbeit bringen und sie somit aus dem
Bezug staatlicher Leistungen herausholen. Von diesem
Ziel steht nichts in Ihrem Antrag; Sie machen dazu keinen einzigen Vorschlag. Sie wollen die Menschen im
Bezug von Transferleistungen nach dem SGB II belassen, ja Sie bestärken sie noch, indem Sie noch mehr
Geld draufpacken wollen. Das entspricht übrigens Ihrem
Staatsverständnis, demzufolge der Staat für alles und jedermann verantwortlich ist. Das aber führt zu Abhängigkeit und Unfreiheit und letztendlich dahin, dass der Staat
finanziell an seine Grenzen stößt - was wir überdeutlich
erleben.
({4})
Wohlgemerkt - damit ich nicht missverstanden werde -:
Wir brauchen einen starken Staat, der die Schwachen
schützt. Aber wir brauchen keinen Staat, der die Menschen entmündigt. Zur Freiheit gehört natürlich der
Schutz, aber auch die Verantwortung eines jeden Einzelnen.
Herr Kollege Schiewerling, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kipping?
({0})
Ja.
Bitte schön, Frau Kipping.
Da hier wiederholt behauptet wird, wir würden uns in
unserem Antrag überhaupt nicht mit dem Bereich Arbeitsmarktpolitik auseinander setzen, möchte ich Sie
einfach fragen, ob Sie unseren Antrag überhaupt bis zur
Seite 5 gelesen haben.
({0})
Dann müsste Ihnen aufgefallen sein, dass wir einen
Punkt 5 in unserem Antrag haben, der da heißt:
Die Arbeitsförderung ist durch zukunftsweisende
Lösungen zu verändern.
Dazu fordern wir die Schaffung eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors und wir machen ganz konkrete
Vorschläge, wie man 1-Euro-Jobs in reguläre sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse umwandeln kann,
und wir schlagen weitere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen vor.
({1})
Frau Kollegin, ich habe nicht nur Ihre ersten fünf Seiten gelesen, sondern alle neun. Ähnliche Allgemeinplätze, wie Sie sie eben benannt haben, durchziehen den
gesamten Antrag.
({0})
- Wollen Sie zuhören? - Sie wissen ganz genau, dass zusätzliche Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor und die
Umwandlung von 1-Euro-Jobs - auch dies sind Jobs, die
im öffentlichen Sektor angesiedelt sind - angesichts der
Gesamtsituation, in der wir uns befinden, keine Lösung
unserer Arbeitsplatzprobleme sind.
({1})
Wenn jemand eine vom steuerzahlenden Bürger - ich
halte das für einen wichtigen Punkt - finanzierte Grundsicherung erhält, dann kann man von ihm verlangen,
dass er eine Gegenleistung erbringt und sich anstrengt;
das hat etwas mit Freiheit und Würde zu tun. Das steht
im Unterschied zu Ihrem Verständnis: Sie lehnen diese
Anforderungen an die Hilfebedürftigen ab. Sie schreiben:
Niemand soll zur Ausübung einer Beschäftigung
gezwungen werden, die für ihn kein existenzsicherndes Einkommen schafft …
Diese Position halte ich rundweg für unsozial: Denn Sie
missachten die Krankenschwester, den Polizisten, die
Friseuse, den Landwirt, alle, die einer Erwerbsarbeit
nachgehen und Steuern aufbringen, um nach Ihrer Definition dem Arbeitslosengeld-II-Empfänger die Freiheit
zu geben, darüber zu entscheiden, ob er arbeiten will
oder nicht.
({2})
Mit Ihrem Staatsverständnis dienen Sie nicht dem
Menschen. „Sozial“ kann nicht daran gemessen werden,
wie hoch die Transferleistungen sind.
({3})
Für uns ist sozial - das sage ich sehr deutlich -, wenn der
Einzelne mit all seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten
mit seiner eigenen Hände und seines eigenen Kopfes Arbeit den Lebensunterhalt für sich und seine Familie verdienen kann. Wenn das nicht ausreicht, dann hat er ein
Anrecht auf Unterstützung. Ich sage das so deutlich:
Personalität, Subsidiarität und Solidarität sind aus
unserer Sicht die entscheidenden Grundlagen unserer
Verfassung: Jeder leistet seinen Teil. Sie sagen, dass niemand einen 1-Euro-Job - sie sind übrigens durchaus begehrt -, der bis zu 160 Euro im Monat zusätzlich bringt,
annehmen müsse. Dies entspricht nicht der notwendigen
Mitwirkung und auch nicht der Stärkung der Eigeninitiative und der Selbstverantwortung.
Nichtsdestotrotz habe ich in dem Antrag der Linken
auch etwas Sinnvolles entdeckt.
({4})
- Ja. - So heißt es in Ihrem Text: „Die Freibeträge für
Altersvorsorge sind … anzuheben“. - Das ist eine prima
Idee. Das haben wir auch schon im Koalitionsvertrag so
festgehalten und das werden wir auch umsetzen. Sie
können sich dem dann ja anschließen.
({5})
Meine Damen und Herren, wir wollen das SGB II optimieren, das heißt: weniger Verwaltung, gezielter Einsatz der Mittel und eine Verbesserung der Eingliederung.
Ich gestehe zu: Hier kann noch mehr geschehen. Davon
steht in Ihrem Papier aber noch nichts.
Ich glaube übrigens auch, dass wir darüber reden
müssen, wie wir präventiv gerade auch den Jugendlichen in Bedarfsgemeinschaften, die einer Familie angehören, die sich in der dritten Generation im Sozialhilfebezug befindet, helfen können, aus dieser Situation
auszubrechen und neue Wege zu finden. Ich halte das für
eine wichtige neue Herausforderung, vor der wir stehen.
({6})
Dafür müssen im SGB II aber die notwendigen Anreize für Arbeitslose geschaffen werden, eine reguläre
Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt anzustreben. Arbeit muss sich lohnen. Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel hat festgestellt:
Kritische Lohnabstände, die eine Vollzeitbeschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt unattraktiv erscheinen lassen, bestehen insbesondere bei ALG-IIBeziehern, die eine geringe Qualifikation aufweisen, Kinder haben und deren Partner nicht erwerbstätig sind. Verstärkt werden diese Anreizprobleme,
wenn ein potenzieller Arbeitsplatz im Dienstleistungssektor … liegt.
Momentan erzielen 34 Prozent der Erwerbstätigen in
den neuen Bundesländern einen monatlichen Bruttolohn von unter 1 600 Euro. Sie zahlen Steuern und finanzieren so einen Mehrpersonenhaushalt, der sich im
Leistungsbezug des SGB II befindet und gegebenenfalls
Anspruch auf passive Leistungen in Höhe von
1 600 Euro bis 2 000 Euro hat. Dass hier ein eigener Anreiz zum Arbeiten fehlt, ist wohl klar. Ich verkenne allerdings auch nicht, dass es Regionen in Deutschland gibt,
in denen die wirtschaftliche Situation insgesamt durchaus problematisch ist und wo sich dies auch auf die Arbeitsplätze auswirkt.
Wir müssen auch der Frage nachgehen - das ist ein
wichtiges Anliegen -, was wir mit den Menschen tun,
die aufgrund ihrer persönlichen Voraussetzungen nicht
weiter qualifizierbar sind. Auch sie sollen ihren Beitrag
leisten können. Es müssen Möglichkeiten geschaffen
werden, dass auch die Menschen, die nicht mehr weiter
qualifizierbar sind oder leichte Behinderungen haben,
für sich selbst sorgen können. Das ist nicht nur eine
staatliche Aufgabe, hier sind auch die Wirtschaft und die
Tarifpartner gefordert. Genau an dieser Stelle wird die
Diskussion um den wie auch immer zu gestaltenden
Kombilohn einsetzen.
Meine Damen und Herren, mit dem Antrag der Linken, der nun vor uns liegt, wollen sich die Linken mal
wieder als Schutzpatrone der ALG-II-Empfänger präsentieren und sie streuen den Menschen doch nichts anderes als Sand in die Augen.
Herr Kollege Schiewerling, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich bin jetzt gleich fertig.
Keine Zwischenfrage.
Nicht die Grundsicherung macht arm, sondern die Arbeitslosigkeit. Wer die Menschen in ihrer Situation belässt und sie nicht fordert, der entmutigt sie. Wir brauchen aber Mut und keinen Sozialneid.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich erteile jetzt dem Kollegen Jörg Rohde von der
FDP-Fraktion das Wort und nutze die Gelegenheit, Ihnen, Herr Rohde, im Namen des Hauses zu Ihrem heutigen 40. Geburtstag zu gratulieren.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 15 Monate nach In-Kraft-Treten von Hartz IV stehen wir heute in diesem Hause vor dem Scherbenhaufen
rot-grüner Arbeitsmarktpolitik. Die Hartz-Gesetze, die
vor einigen Jahren wortreich als moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ins Rennen geschickt wurden, haben sich als Totalausfall erwiesen: Sie haben keine Arbeitsplätze geschaffen, die Arbeitslosigkeit nicht gesenkt
und bis heute auch nicht zu einer besseren Qualifizierung Arbeitsuchender geführt. 5 Millionen Arbeitslose
warten nicht auf Hartz-Reformen, sondern auf Arbeitsplätze und den Wirtschaftsaufschwung - bisher leider
vergeblich.
({0})
Nach wie vor bestehen doppelte Strukturen für die
Verwaltung von Arbeitslosen. Das daraus folgende
Kompetenzwirrwarr, die Zeitverzögerung durch nicht abgestimmte Software und die mangelnde Transparenz
beim Datenaustausch haben die Situation der Arbeitslosen keinesfalls verbessert. Zusätzlich prallen hier zwei
völlig unterschiedliche Verwaltungskulturen aufeinander.
Anstatt aber deshalb heute Vorschläge vorzulegen, wie
die Konstruktionsfehler der Hartz-Gesetze zu korrigieren
sind, richtet sich die Linke in der Arbeitslosigkeit ein und
will aus Hartz IV eine soziale Vollversorgung machen.
Höhere Leistungen, keine Missbrauchskontrollen und
keine Anreize zur Arbeitsaufnahme - dafür ist das
Arbeitslosengeld II nicht gedacht.
Primäres Ziel von Hartz IV ist die individuelle Überwindung des Bezuges von ALG II durch den einzelnen
Arbeitssuchenden hin zur Wiedereingliederung in den
Arbeitsmarkt. Insoweit ist die Überschrift des Antrags
der Linken „Strategie zur Überwindung von Hartz IV“
durchaus berechtigt. Eine Überwindung von Hartz IV in
eine dauerhafte soziale Absicherung ohne das vorrangige Ziel der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt
wäre aber völlig kontraproduktiv.
({1})
Der Grundsatz von Fordern und Fördern ist richtig. Aber in beiden Punkten ist die alte rot-grüne Bundesregierung auf halbem Wege stehen geblieben. Die
Kontrolle des Leistungsmissbrauchs lässt zu wünschen übrig. Mein Kollege Heinrich Kolb hat bereits auf
die erschreckenden Ergebnisse der Telefonumfrage hingewiesen.
({2})
Auch der automatisierte Datenabgleich ist mit Hartz IV
für die Stellen vor Ort nicht einfacher, sondern aufwendiger geworden und Missbrauch damit leichter. Ohne
Fordern ist Hartz IV kein Anreiz zur Arbeitsaufnahme.
Beim Fördern sieht es nicht besser aus. Am besten
funktioniert dieses Instrument bei der Ausnahme, nämlich bei den Optionskommunen.
({3})
Herr Staatssekretär Andres, die FDP hat damals nicht
zugestimmt, weil es bei der Umsetzung bessere Alternativen gibt.
({4})
Die Stadt Erlangen in meinem Wahlkreis macht es
vor. Hier werden bereits über 50-Jährige, welche auf
dem allgemeinen Arbeitsmarkt als kaum vermittelbar
gebrandmarkt sind, erfolgreich in Arbeit vermittelt. Das
erfahrene und motivierte Team vor Ort in Erlangen hat
zum Beispiel mit dem lokalen Projekt „Fifty up“ zusätzliche Fördermittel aus dem Hause von Herrn
Müntefering erhalten und an einem bundesweiten Wettbewerb erfolgreich teilgenommen.
Aber auch aus den 68 anderen Optionskommunen ist
viel Positives zu vernehmen. Das zeigt, dass besonders
die Kommunen in der Lage sind, der Situation der
Langzeitarbeitslosen gerecht zu werden. Sie haben bewiesen, dass sie bei der Arbeitsvermittlung flexible
Wege gehen können. Die Kommunen sind näher an den
Problemen der Betroffenen und können eher passgenaue
und flexible Wege für eine Integration in den Arbeitsmarkt entwickeln als die zentralistisch organisierte Bundesagentur für Arbeit. Die FDP-Fraktion fordert daher
weiterhin, dass die Verantwortung für die Vermittlung
und Integration von Arbeitslosen allein den Kommunen
übertragen wird.
({5})
Dies erfordert jedoch eine Grundgesetzänderung zur
finanziellen Absicherung der Kommunen bei Übernahme der Betreuung der Langzeitarbeitslosen. Hierzu
war Rot-Grün nicht bereit. Auch bei Schwarz-Rot sind
hierfür keinerlei Anzeichen zu erkennen. Vor ziemlich
genau zwei Jahren haben FDP und CDU/CSU in einem
gemeinsamen Bundestagsantrag gefordert,
({6})
das kommunale Optionsgesetz so umzugestalten, dass
auch die optierenden Kreise und kreisfreien Städte tatsächlich Träger der Arbeitsvermittlung sind und die Aufgaben nach dem SGB II in Eigenverantwortung erfüllen
können.
({7})
Herr Kollege Rohde, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kurth?
Ja.
Bitte schön, Herr Kurth.
({0})
Den Hinweis, dass ich Herrn Rohde gratulieren soll,
hätte ich nicht gebraucht. Natürlich gratuliere ich Herrn
Rohde.
({0})
Danke schön.
Lieber Kollege Rohde, Sie fordern, dass den Kommunen die Durchführung der Leistungen aus dem SGB II,
vulgo Hartz IV, und die Eingliederung in den Arbeitsmarkt vollständig übertragen werden. In diesem Zusammenhang haben Sie auch die Optionskommunen genannt.
Nun sind Sie auch behindertenpolitischer Sprecher
Ihrer Fraktion. Ist Ihnen bekannt, dass die optierenden
Kommunen in geradezu sträflicher Weise in den ersten
sechs Monaten des Jahres 2005 die Integration von
Menschen mit Behinderungen verweigert haben, obwohl sie dazu eindeutig einen rechtlichen Auftrag hatten? Ist Ihnen bekannt, dass die damalige rot-grüne Bundesregierung vor den Fakten kapitulieren und diese
Aufgabe an die Bundesagentur für Arbeit zurückgeben
musste - diese macht sie auch nicht so gut, wie sie sie
machen sollte -, weil sich die Kommunen einfach geweigert haben, für Menschen mit Behinderung Angebote
bereitzustellen? Wie kann man vor diesem Hintergrund
behaupten, dass die Kommunen besser befähigt wären,
diese Leistungen alleine durchzuführen?
({0})
Herr Kollege Kurth, uns allen ist bekannt, dass es damals große Probleme bei der Einführung von Hartz IV
gegeben hat. Das bezieht sich auf alle Bereiche, nicht
nur speziell auf den Bereich der Menschen mit Behinderungen.
({0})
Ich kann eben nur aus meiner Optionskommune in Erlangen berichten, dass dort sehr wohl Maßnahmen getroffen worden sind, um die Integration von Behinderten
in den Arbeitsmarkt zu fördern. Ich habe mich dort persönlich vergewissert. Vielleicht kann das nicht auf alle
68 Optionskommunen ausgedehnt werden - an dieser
Stelle können wir gerne noch nacharbeiten -, aber
grundsätzlich halte ich es für besser, vor Ort anzusetzen,
weil dort auch die Behinderten bekannter sind als bei einer zentralen Bundesagentur, die von außen eingreifen
möchte. Ich komme später noch einmal auf diesen Punkt
zurück.
Ich appelliere an die Union, sich an die damals vorgelegten Anträge zu erinnern. Ich denke, wir werden beim
Leistungssystem noch stärker auf die Grundsätze der Sozialhilfe zurückkommen müssen. Fehlsteuerungen müssen beseitigt und die Leistungen auf die wirklich Bedürftigen konzentriert werden.
({1})
Vor allem jugendliche Arbeitslose haben das Gesetz ausgenutzt und sind auf Kosten der Allgemeinheit bei ihren
Eltern ausgezogen. Für die Zukunft wurde diesem Missbrauch nun ein Riegel vorgeschoben. Von einer Haushaltssanierung auf Kosten arbeitsloser Jugendlicher, wie
es die Grünen nennen, kann aber nicht die Rede sein.
Als behindertenpolitischer Sprecher der FDP möchte
ich ausdrücklich auf einen Punkt des Antrags der Grünen
eingehen. In Punkt 9 Ihres Antrages fordern Sie eine
bessere Verzahnung von SGB II und SGB IX, um die
Vermittlung von arbeitslosen Menschen mit Behinderungen in Arbeit zu optimieren. In diesem Punkt stimme ich
Ihnen ausdrücklich zu.
({2})
In Mittelfranken - aber nicht nur dort - ist infolge einer Änderung des SGB IX die bis dahin ausgesprochene
erfolgreiche Vermittlung von Schwerbehinderten ins
Stocken geraten.
({3})
Insbesondere vor dem Hintergrund einer überproportional steigenden Arbeitslosigkeit unter Schwerbehinderten
muss hier schnell gehandelt werden.
Zu Ihrem Zwischenruf: In Mittelfranken gibt es eine
Optionskommune neben vielen anderen; es geht vor allem um die Argen. Das ganze Problem ergibt sich aus
dem SGB IX; es liegt nicht an den Personen, die es vor
Ort ausführen müssen. Ich kann mir gut vorstellen, dass
auch mein Kollege Hubert Hüppe von der CDU, der bereits im Mai letzten Jahres in einer Kleinen Anfrage auf
Probleme bei der Vermittlung behinderter Arbeitsloser
hingewiesen hat, nun als Mitglied der Regierungskoalition schnell Korrekturen einfordern wird.
Ich fasse zusammen: Wenn die Gesetze Hartz I bis IV
so umgesetzt worden wären, wie ursprünglich einmal
von Peter Hartz geplant, dann wären wir den Zielen einer arbeitsmarktpolitischen Reform sicherlich näher gekommen. Es gibt großen Reformbedarf bei der Arbeitsmarktpolitik. Aber die beiden Anträge der Fraktionen
der Linken und der Grünen gehen größtenteils in die falsche Richtung.
({4})
Deswegen muss man beide Anträge ablehnen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner
von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit gut einem Jahr ist die Arbeitsmarktreform
zum SGB II in Kraft. Ganz folgerichtig haben wir es mit
Schwierigkeiten sowohl in der Akzeptanz und der Umsetzung als auch hinsichtlich der spürbaren Wirksamkeit
zu tun. Darum ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass es
weitere Vorschläge neben denen der Regierungskoalition
gibt, den Prozess der Umsetzung des SGB II zu optimieren.
Dass der Schritt der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zur neuen Grundsicherung
richtig war, bestreitet heute kaum noch jemand. Unsere
Zielsetzung orientierte sich an den Bedürfnissen von erwerbsfähigen arbeitslosen Menschen. Es ist für mich
nach wie vor richtig, daran festzuhalten, die Zugangschancen von Langzeitarbeitslosen in Beschäftigung
durch passgenaue individuelle Vermittlung und Angebote zu verstärken, ihren Verbleib in Arbeitslosigkeit zu
verringern und ihnen eine die Existenz sichernde Grundsicherung zu bieten. An dieser Zielsetzung müssen wir
jeden Vorschlag messen, der vorgelegt wird.
Wenn wir als richtig erkannt haben, dass wir gleiche
Chancen für alle Arbeitslosen und eine schnelle und
nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt erreichen
wollen und dass wir Menschen von Betroffenen zu Beteiligten an einem System machen, sie also aktivieren
und ihre Eigenverantwortung stärken wollen, dann
können wir nur den bereits eingeschlagenen Kurs weiterverfolgen, einschließlich aller notwendigen Weiterentwicklungen, die wir aber entschlossen angehen müssen.
In dieser Phase befinden wir uns gerade.
Heute liegen zwei Anträge vor, die wir meines Erachtens unterschiedlich gewichten müssen. Der Antrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sollte uns auch
weiterhin beschäftigen. Ich finde, dass er wichtige und
richtige Ansätze enthält. Das Streiten um gute Lösungen
in den nächsten Wochen wird sich, glaube ich, lohnen.
Lassen Sie mich aber einige Ausführungen zu dem
Antrag der Fraktion Die Linke machen. Ich glaube, dieser Antrag bringt uns mit seinen Vorschlägen in keiner
Weise voran. Vielmehr soll mit ihm der eingeleitete Prozess zurückgedreht werden. Ich habe große Zweifel, ob
die Antragsteller die Dimension der vor uns liegenden
Probleme in ihrer Gesamtheit überhaupt erfasst haben.
({0})
Er liest sich wie ein Wunschzettel, fernab jeder Realität
in unserem Land, kurzum: eine soziale Utopie. Dabei
gebe ich zu, dass sich seit einem Jahr für viele Menschen
Gravierendes verändert hat. Manche Einschnitte sind
schwer zu verkraften. Auf die neue Situation musste sich
jeder erst einstellen.
Ich hätte mir gewünscht, dass wir - genauso wie andere Länder - rechtzeitig auf die veränderte Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage reagiert hätten. Dann
wäre vieles leichter geworden. Aber wir haben geschlafen oder wir hatten nicht den Mut dazu. Letztendlich tragen wir alle die Verantwortung dafür. Andere Länder haben in den 90er-Jahren - ähnlich wie wir - Reformen auf
den Weg gebracht. Ich erinnere nur an Dänemark. 1993
hat die sozial-liberale Regierung Reformen durchgeführt, die sie allerdings mehrmals nachbessern musste.
Auch diese Regierung stand unter sehr hohem Druck.
Ich erinnere nur daran, dass sie 2001 abgewählt wurde.
Das kann passieren. Wenn wir uns aber heute die Erfolge
des Förderns und Forderns vor Augen führen, können
wir eines erkennen: Die Arbeitslosigkeit in Dänemark ist
von 11 auf 5 Prozent gesunken. Die Dänen sind ganz besonders erfolgreich bei der Integration gering qualifizierter Menschen auf dem Arbeitsmarkt und beim Abbau der
Jugendarbeitslosigkeit. Genau das muss auch unser Ziel
sein.
Wir müssen uns mit der Umsetzung der Hartz-Gesetze beschäftigen, sie analysieren und, wo nötig, ändern. Aber Sie werden mir, glaube ich, zustimmen, dass
der uns vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke nicht
geeignet ist, Langzeitarbeitslosigkeit abzubauen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, Ihre
Strategie zur Überwindung von Hartz IV besteht darin,
die Menschen zu verunsichern, wieder einmal Schwarzmalerei zu betreiben und irreale Hoffnungen zu wecken.
Sie beginnen schon mit einer falschen Behauptung,
wenn Sie sagen, Hartz IV sei Armut per Gesetz. Ich erinnere an die Worte von Staatssekretär Andres. Er hat sehr
genau ausgeführt, dass es vielen in dem neuen System
gar nicht schlechter geht. Natürlich hat derjenige Einschnitte hinzunehmen, der vorher eine hohe Arbeitslosenhilfe bekommen hat. Wir haben das nie bezweifelt
und offen ausgesprochen. Aber für die Vielzahl der ehemaligen Sozialhilfeempfänger, die in den letzten Jahren
gar keine Chance auf Arbeitsvermittlung bekommen haben, hat sich die Situation verbessert.
({1})
Nach der neuen Grundsicherung kommt eine Familie
mit zwei Kindern auf einen Grundsicherungsbetrag einschließlich Wohnungskosten in Höhe von 1 759 Euro
netto im Monat. Das ist sicherlich nicht viel Geld. Aber
das ist weiß Gott nicht Armut per Gesetz. Viele Menschen in unserem Land arbeiten für viel weniger. Wenn
ich mir Ihre Vorschläge genauer anschauen, dann stelle
ich fest, dass Sie eigentlich gar keine Überwindung von
Hartz IV wollen. Sie wollen vielmehr eine unendliche
Aufstockung bei Hartz IV. Das mag zunächst einmal
wünschenswert erscheinen. Aber wer die Rechnung bezahlen soll, die hier aufgemacht wird, bleibt offen.
({2})
Wenn man sich nur drei Ihrer Vorschläge genauer anschaut - die Erhöhung der Regelleistung auf 420 Euro,
die Erhöhung der Freibeträge für Vermögen und die Erhöhung des Kindergeldes, den dicksten Brocken in Ihrem Antrag -, dann stellt man fest, dass die Mehrkosten
unter dem Strich 26 Milliarden Euro betragen. Das wird
einfach so dahingeworfen, ohne zu überprüfen, ob das
überhaupt umsetzbar ist. Das spielt bei Ihnen ohnehin
keine Rolle. Diese Kosten müssten andere in diesem
Land mit ihrem Arbeitseinkommen bezahlen. Das sind
Kosten einer sozialen Utopie, die gar nicht mehr aktivieren will. Genau dieser Punkt in Ihrem Antrag macht
mich richtig wütend. Arbeit kommt in Ihren Vorschlägen
kaum noch vor. Ihre vorgebliche Strategie handelt vom
Weg zu einer Vollkaskogesellschaft. Beschäftigung ist
zweitrangig. Das ist der Geist Ihres Antrages.
Wir können gut erkennen, dass die Linke zurück zu
dem Verschiebebahnhof will, den wir früher in der Sozialhilfe hatten,
({3})
nun aber für alle Arbeitslosen, damit wir uns in Zukunft
bloß nicht weiter mit ihren Problemen beschäftigen müssen.
Es gibt einen Punkt, bei dem wir übereinstimmen: Bei
der Umsetzung des SGB II gibt es viel zu verbessern.
Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit!
Danke, Frau Präsidentin. - Vor allen Dingen müssen
wir Verbesserungen für die Menschen erreichen, die Arbeit als Teil ihrer gesellschaftlichen Partizipation sehen.
Für sie müssen wir mehr tun. Ihnen fühle ich mich verpflichtet. Lassen Sie uns das in den nächsten Monaten
tun! Lassen wir uns nicht durch solche utopischen Anträge wie von der Fraktion Die Linke aufhalten!
({0})
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Als Hartz IV an den Start ging, waren große
Erwartungen an ein derartig großes Reformvorhaben geknüpft.
({0})
- Enttäuschung Ihrerseits ist nicht verwunderlich. Sie
sind öfter enttäuscht und werden auch öfter enttäuscht
werden. - Als es dann an Art und Umfang der Umsetzung ging, wurden, wie fast zwangsläufig bei derartigen
Reformprojekten, viele enttäuscht - auch die Linken,
zum Glück. Hartz IV ist heute unverdientermaßen zum
Unwort geworden.
Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen - genau darum ging es im Kern -, war unbedingt notwendig
und seit langem eine zentrale Forderung der Union. Deshalb haben wir vor zwei Jahren dem Reformvorhaben
der damaligen Bundesregierung in Bundestag und Bundesrat zugestimmt. Wie Herr Staatssekretär Andres ausgeführt hat, war es den Schweiß aller Edlen wert.
({1})
Ich habe die Formulierung sehr schön gefunden, weil Sie
auch uns als Edle bezeichnet haben.
({2})
Es war uns wichtig, den Schwerpunkt von der Zahlung des Lebensunterhalts auf die Wiedereingliederung
der erwerbsfähigen Hilfebezieher in den Arbeitsmarkt zu verlagern. Oberstes Ziel musste sein, die Betroffenen wieder aus den Transfersystemen herauszuführen, sei es durch neue Hinzuverdienstmöglichkeiten, sei
es durch eine passgenaue Förderung bei der Wiedereingliederung in Arbeit, sei es durch eine intensivere Betreuung durch einen persönlichen Ansprechpartner.
Dazu gehören auch die unmissverständliche Androhung
und die Durchsetzung von Sanktionen, wenn der Hilfebedürftige die notwendigen Eigenbemühungen nicht
leistet. Nicht umsonst heißt es „fordern und fördern“.
({3})
Das Arbeitslosengeld II steht für uns im Einklang mit
dem Auftrag, den das Grundgesetz dem Staat gegeben
hat: diejenigen zu unterstützen, die sich ohne eigenes
Verschulden nicht aus eigener Kraft helfen können. Das
gibt aber keinem das Recht, auf Kosten der Gemeinschaft zu leben, wenn er eigentlich selbst arbeiten
könnte. Es geht nicht darum, so viel Steuergeld wie
möglich in die Transfersysteme zu pumpen, wie es die
Linksfraktion, ihrem Antrag nach zu schließen, gerne
hätte. Staatssekretär Andres hat eine erschreckende Zahl
genannt: 35 Milliarden Euro würde die Durchführung
Ihres Antrages kosten. Das sind traumtänzerische Zahlen
ohne solide Gegenfinanzierung. Ich hätte von der Linkspartei zumindest eine unsolide Gegenfinanzierung erwartet.
({4})
- Von einer soliden Gegenfinanzierung kann man bei ihr
ohnehin nicht ausgehen.
({5})
Wir haben in der vergangenen Woche einen Haushalt
mit einer dramatischen Neuverschuldung von 38 Milliarden Euro im laufenden Jahr beschlossen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dehm?
Ich würde liebend gern, aber die heutige Sitzung ist
bereits jetzt bis 23.55 Uhr geplant. In Anbetracht der geringen Qualität der zu erwartenden Zwischenfrage verzichte ich darauf.
({0})
Frau Kipping, hier auf der Tribüne ist eine große Anzahl Jugendlicher. Wir zahlen bereits jetzt jeden Tag
100 Millionen Euro Zinsen. Ihr Weg wäre gewesen, die
Verschuldung in dramatischer Weise weiter zu steigern.
Die Generation, die uns von den Tribünen zuschaut,
hätte keinerlei Bewegungsraum mehr, wenn wir Ihren
Weg in die soziale Irre gingen.
({1})
Wer theatralisch den Sozialstaat untergehen sieht und
Hartz IV am sozialen Kältepol verortet, sollte sich einmal den Einzelplan „Arbeit und Soziales“ des
Bundeshaushaltes 2006 ansehen. Wir geben derzeit
mehr als 51 Prozent der gesamten Haushaltsmittel für
soziale Leistungen aus. Allein für das Arbeitslosengeld II sind im Haushalt 2006 24,4 Milliarden Euro angesetzt. Für Eingliederungshilfen sind 6,5 Milliarden
Euro und für Verwaltungskosten 3,5 Milliarden Euro
vorgesehen. Darüber hinaus werden 267 Millionen Euro
für Beschäftigungspakte zugunsten älterer Menschen
veranschlagt. 2006 beteiligt sich der Bund zudem mit
29,1 Prozent an den Unterkunftskosten. Die Kommunen
werden so um 2,3 Milliarden Euro jährlich im Vergleich
zu dem vor dem 1. Januar 2005 geltenden Recht entlastet. Dieses Geld kann in die Betreuung vor Ort investiert
werden, zum Beispiel in Kinderkrippen. Sieht es so aus,
wenn - so schreiben Sie es, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Linksfraktion - „Kosten auf die Kommunen abgewälzt werden“? Beileibe nicht!
Apropos Kommunen: Frau Kipping, Sie haben den
Prospekt „Hartz IV“ vorgezeigt und auf Ihren Wahlkreis
verwiesen. Ich habe mich kundig gemacht: Das Bundestagshandbuch weist aus, dass Sie über die Landesliste
Sachsen in dieses Hohe Haus gewählt worden sind. Ich
gehe davon aus, dass Sie gleichwohl Verantwortung für
die Menschen Ihrer Region tragen wollen.
Ich will Ihnen ein Beispiel aus meinem Wahlkreis
nennen. Mein Wahlkreis Würzburg hat sich 2004 für das
so genannte Optionsmodell entschieden.
({2})
Im Wahlkreis Erlangen des Kollegen Rohde war es ähnlich. Im Laufe des ersten Halbjahres 2005 wurden die
Fälle der Agentur für Arbeit sukzessive übernommen.
Das „Beratungs- und Eingliederungszentrum für Arbeitsuchende des Landkreises Würzburg“ vermerkt für das
gesamte vergangene Jahr, dass trotz schwieriger Ausgangslage 511 Menschen in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden konnten, und das bei 1 300 Arbeitslosen
bzw. 2 230 Bedarfsgemeinschaften. Das ist eine Quote,
mit der wir uns nicht zu verstecken brauchen. Gegenüber
den Jahren 2003 und 2004 mit jeweils etwa 200 Vermittelten ist das ein deutlicher Erfolg.
Frau Kipping, legen Sie Ihren Laptop einmal zur
Seite! Vielleicht können Sie mir einmal etwas lauschen.
({3})
- Das befürchte ich. Alles, was realitätsbezogen ist, ist
für Sie uninteressant.
({4})
Besonders erfreulich ist in diesem Zusammenhang,
dass 26,4 Prozent der im vergangenen Jahr vermittelten
Arbeitnehmer unter 25 Jahre alt sind. Damit dürfte klar
werden, dass die Reformen allmählich zu greifen beginnen.
Bei alledem müssen wir in Rechnung stellen, dass es
sich erst um einen Anfang der Reformen der Arbeitsmarkt- und Sozialgesetzgebung handelt. Viel muss noch
justiert werden. Genau in dieser Phase befinden wir uns
jetzt. Unter anderem mit der Angleichung der ALG-IIRegelsätze in Ost und West auf 345 Euro wollen wir für
mehr Gerechtigkeit im Rahmen des Möglichen sorgen.
Hier sehen wir auch die Grenzen, die uns gesetzt sind.
Diese Angleichung wird bei Bund und Ländern mit
Mehrkosten von 260 Millionen Euro zu Buche schlagen.
Dadurch fehlt Geld an anderer Stelle. Da wir leider nicht
unbegrenzt Geld drucken können und es uns nicht leisten
können, über unsere Verhältnisse zu leben, müssen wir
in Verantwortung vor dem Steuerzahler die knappen sozialstaatlichen Mittel zielgenau einsetzen.
Ich erinnere an Folgendes: Beim ALG II handelt es
sich grundsätzlich um eine bedürftigkeitsabhängige
Leistung, die nur in der Höhe der tatsächlichen Hilfebedürftigkeit gewährt wird. Sie muss das so genannte soziokulturelle Existenzminimum sicherstellen. Es geht
um Hilfe zur Selbsthilfe, die das uneffektiv gewordene
soziale Netz in eine neue Balance bringen soll.
Die überplanmäßigen Ausgaben von mehr als
11 Milliarden Euro, die uns einzelne Kostenblöcke des
Hartz-IV-Gesetzes gebracht haben, können wir uns auf
Dauer nicht leisten. Es geht um den effizienten Einsatz
knapper Mittel. Es geht nicht darum, denen zu helfen,
die das Geld nicht brauchen. Fehlanreize sind deshalb zu
bekämpfen, und zwar im Interesse aller.
Ein besonders prägnantes Beispiel der letzten Zeit ist
der sprunghafte Anstieg der Zahl von Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaften unter 25-Jähriger. Diesen Anstieg
konnten wir vor einigen Wochen in diesem Hohen Haus
mit großer Mehrheit - gegen die Linksfraktion - zum
Glück unterbinden.
({5})
Mit dem SGB-II-Optimierungsgesetz wird die Koalition diese Linie fortführen. Sie hat sich zum Ziel gesetzt,
neue Akzente bei der Ausgestaltung des Schonvermögens zugunsten der Altersvorsorge zu setzen und die Definition eheähnlicher Gemeinschaften zu überprüfen, die
Zuständigkeiten der Arbeitsgemeinschaften und optierenden Kommunen gesetzlich klarzustellen und einiges
mehr.
Wir befinden uns mitten im Reformprozess. Unser
Ziel ist es, Menschen in Arbeit zu bringen. Wir haben
begrenzte Mittel und sind kein Selbstbedienungsladen.
Leben wir über unsere Verhältnisse, leiden am Ende die
ganze Gesellschaft und insbesondere unsere Jugend.
Wer uns bei diesem schwierigen Vorhaben mit konstruktiven Vorschlägen unterstützen will, ist uns herzlich
willkommen. Wer die Bürger mit pathetischem Tonfall,
Bärbeißigkeit und ideologischer Verblendung gegen ihre
eigenen Interessen mobilisieren und notwendige Maßnahmen im Keim ersticken will, ist allerdings fehl am
Platz. Hier würde man den Bock zum Gärtner machen.
Wir sind froh, dass eine große Mehrheit der Vernünftigen die Anträge der Linkspartei zurückweist.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat der Kollege Rolf Stöckel, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
von mir herzliche Glückwünsche, Herr Rohde. Wir wissen jetzt, dass Sie 40 Jahre alt sind - das tut nicht weh;
ich kann mich noch daran erinnern, wie das bei mir damals war -, aber wir wissen leider sehr wenig über die
Optionskommunen,
({0})
über die Qualität der Eingliederungsvereinbarungen, der
aktiven Arbeitsmarktangebote und der Qualifizierungsangebote in den Optionskommunen. Sie wissen das vielleicht in Bezug auf Erlangen. Wir wüssten gerne mehr.
Ich kann Ihnen nur berichten, dass die Arge bei mir im
Kreis Unna einen Spielraum hat, in dem sie auch eigenständig Entscheidungen treffen kann, und dass die Praxis
dort auch nicht unbedingt schlechter ist als in Erlangen;
das Beispiel kenne ich zufällig auch.
Wir haben natürlich ein Interesse daran - das möchte
ich prinzipiell einmal sagen; deswegen spreche ich das
an -, dass die Verhältnisse, was die Qualität, die Sozialstandards, die Qualifizierung und die Vermittlung angeht, in der Bundesrepublik Deutschland nicht zersplittert werden, sondern dass es für eine eigenständige
Praxis in den Arbeitsgemeinschaften vor Ort einen einheitlichen Rahmen gibt, sodass man die Einheitlichkeit
der Lebensverhältnisse für die Betroffenen auch insofern
sicherstellen kann. Das ist eine sozialdemokratische
Position, die wir auch weiterhin vertreten werden.
({1})
„Hartz muss weg“ - so richtig ernst meint die PDS
das auch nicht. Wenn alle Punkte ihres Antrages - es
sind 40 Punkte, die ich hier nicht in sieben Minuten bewerten kann; ich biete an, das einmal zu tun, wenn Sie
Interesse haben - erfüllt würden, hätte die PDS als
Transferleistungsgewerkschaft gar keine Daseinsberechtigung mehr.
({2})
Das ist auch der Grund dafür, dass sie hier im Parlament
sitzt.
Ich sage zu den Kollegen in der Koalition einmal: Das
gilt vielleicht auch für Herrn Rüttgers, der jetzt im Düsseldorfer Stadttor sitzt. Er konnte sich auch nicht klar
entscheiden, ob er sich zu dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses bekennt oder ob er dagegen demonstriert. Da hat er so ähnliche Verhaltensweisen wie Herr
Böhmer an den Tag gelegt. Aber darum geht es nicht.
Wenn wir erreichen wollen, dass erwerbsfähige Menschen nicht mehr dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden - ohne Chancen auf persönliche Hilfen
und Förderung, auf Qualifizierung und auf Kinderbetreuung -, dann darf Hartz IV nicht weg. Es kann erst
dann weg, wenn die Langzeitarbeitslosigkeit - der Kollege Weiß hat das zu Recht gesagt - erfolgreich bekämpft ist. Ich gehörte aufgrund eigener Erfahrung - ich
habe 15 Jahre in der Sozialverwaltung gearbeitet - keinesfalls zu denen, die glaubten, die sagenhafte deutsche
Verwaltung brauchte nur einen Hebel umzulegen, dann
würde schon alles klappen. Niemand kann ernsthaft behaupten - das ist auch schon von mehreren Vorrednerinnen und Vorrednern gesagt worden -, dass die größte Sozialreform der Bundesrepublik nach einem guten Jahr
Praxis bereits optimal läuft.
Ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen, mit einigen
Mythen aufzuräumen, die hier auch schon angesprochen
worden sind. Eine Behauptung ist, dass die Leistungen,
nämlich 345 Euro plus Übernahme der Miet- und Heizkosten, für Einzelpersonen nicht das menschenwürdige
Existenzminimum absichern würden. Es gibt kein Land
der Welt, in dem diese Leistungen höher sind und in dem
die Arbeitslosigkeit erfolgreicher bekämpft worden wäre
({3})
oder mehr Integration geleistet worden wäre dadurch,
dass diese Leistungen höher sind. Die Regelsätze werden auf einer gesetzlichen Grundlage angepasst und
nicht mehr nach einem paternalistischen Warenkorb, der
auch schon bei der damaligen Sozialhilfe nicht dazu beigetragen hat, dass es objektiver oder für die Betroffenen
besser gewesen wäre.
Das ist übrigens nicht nur besser für die ehemaligen
erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger oder für die ehemaligen Arbeitslosenhilfeempfänger, die ergänzende Sozialhilfe bekommen haben; es ist auch besser für die
Kommunen, denen über viele Jahre die Massenarbeitslosigkeit mit allen Konsequenzen sozusagen in die Kasse
geschoben worden ist. Sie sagen in Ihrem Antrag ja
auch, dass Sie die Kommunen entlasten wollen. Als jemand, der aus dem Ruhrgebiet kommt, sage ich Ihnen:
Bitte nicht nur die Kommunen in Ostdeutschland entlasten. Das muss insbesondere für unsere Kommunen im
Ruhrgebiet auch gelten.
({4})
Ist es linke Politik - das habe ich mich gefragt, als ich
den Antrag gelesen habe -, ist es menschenwürdig, wenn
Menschen dauerhaft zur Passivität, zur Ausgrenzung
vom Arbeitsmarkt und zur Abhängigkeit von staatlichen
Transferleistungen verdammt werden? Die klare Antwort von uns Sozialdemokraten ist: Nein. Ich frage Sie:
Ist es linke Politik, wenn sich Großunternehmen auf
Kosten der Solidargemeinschaft, nämlich mithilfe hoher
und langer Arbeitslosenhilfezahlungen, massenhaft von
ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, aber auch
von ihrer sozialen Verantwortung verabschieden können,
wie das jahrelang passiert ist? Die klare Antwort von uns
lautet: Das ist keine linke Politik.
({5})
Es wird behauptet - das hat der Parlamentarische
Staatssekretär Andres hier bereits aufgenommen -, dass
mit der zunehmenden Zahl der Bedarfsgemeinschaften
und der Kinder in Bedarfsgemeinschaften die Armut
steigt. Dieser Vorwurf, auch der Armutskonferenz in der
letzten Woche, ist absurd. Wenn Leistungen verbessert
werden - ich sage es hier noch einmal - und der Berechtigtenkreis ausgeweitet wird, dann ist das ein Beweis dafür, dass die Armutsbekämpfung im deutschen Sozialstaat weitgehend funktioniert.
Ich nenne Ihnen eine Zahl aus dem Armuts- und
Reichtumsbericht: Wenn es diese Leistungen nicht gäbe
- sowohl die beitragsfinanzierten als auch die steuerfinanzierten Sozialleistungen einschließlich der Grundsicherung -, dann wären nicht 13,5 Prozent der Menschen vom Armutsrisiko bedroht - das sind vor allen
Dingen Ausländer, Alleinerziehende und Familien mit
mehr als zwei Kindern -, sondern 41 Prozent. Das heißt,
der Sozialstaat funktioniert bei der Armutsbekämpfung.
Er ist weiterzuentwickeln; denn er ist verbesserungswürdig.
({6})
Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten verteidigen auch die Rechtsansprüche der Betroffenen an
unseren Sozialstaat. Ein großer Teil der Kostensteigerungen ist nicht durch Missbrauch verursacht worden,
sondern resultiert aus der legalen Inanspruchnahme von
Rechten und gesetzlichen Regelungen. Wir Sozialdemokraten wollen keinen Almosenstaat; wir wollen keine
Gesellschaft, in der letztendlich die Armenspeisungen
im Vordergrund stehen. Ich glaube, dass wir insofern
klar positioniert sind.
Deshalb sage ich auch ganz klar: Ich halte es für linke
Politik, wenn wir einen präventiven, aktivierenden
Sozialstaat des Förderns und Forderns entwickeln. Nach
Überzeugung der sozialen Wissenschaften und Praxis
- seit über 25 Jahren vollziehe ich das nach - ist dieses
Prinzip dem Prinzip des konservativen, nachsorgenden
und vor allem Problemlagen konservierenden Wohlfahrtsstaates weitaus überlegen. Das zeigen alle internationalen Vergleiche.
({7})
Mir ist es völlig unverständlich, warum PDS und
WASG, die sich Linke nennen, mit ihren Sozialstaatsvorstellungen so konservativ und weit entfernt von emanzipatorischen Ansätzen agitieren und so tun, als würden
sie damit auch noch die Interessen der Betroffenen am
besten vertreten.
({8})
Das Gegenteil ist der Fall, meine Damen und Herren.
Wem der Erhalt des Sozialstaats und nicht nur kurzsichtige populistische Parteitaktik am Herzen liegt, der
muss mithelfen, diesen Sozialstaat umzubauen
({9})
und zukunftsfest zu machen. Das ist allein deshalb unabdingbar, weil soziale Ängste weit verbreitet sind und
weil es Vertrauensverluste gegenüber der Demokratie,
der Marktwirtschaft und dem Rechtsstaat gibt. Sie beschreiben das ja in Ihrem Antrag. Ich befürchte nur, dass
Sie die Lehren aus der Weimarer Republik, vor allen
Dingen aus dem Ende der Weimarer Republik nicht richtig verstanden haben und das auch gar nicht wollen.
({10})
Herr Kollege Stöckel, Sie müssen zum Ende kommen.
Eine moderne linke Sozialpolitik, die einen wirklich
emanzipatorischen Anspruch hat, kann Sozialpolitik
nicht ohne eine nachhaltige, die Demografie und Globalisierung einbeziehende Wirtschafts- und Zukunftspolitik denken. Wir haben mit der Agenda 2010 die ersten
Weichenstellungen in die richtige Richtung vorgenommen und dafür viel Prügel eingesteckt. Ich versichere Ihnen: Wir werden diesen Weg mit der großen Koalition
erfolgreich weitergehen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
dem Drucksachen 16/997 und 16/1124 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 16/997, Tagesordnungs-
punkt 4, soll zusätzlich an den Ausschuss für Kultur und
Medien sowie an den Haushaltsausschuss überwiesen
werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 f sowie
Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:
32 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Artikel-10-Gesetzes
- Drucksache 16/509 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
21. April 2004 betreffend Übernahmeangebote
({1})
- Drucksache 16/1003 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Vertrag vom 27. Mai 2005 zwischen dem
Königreich Belgien, der Bundesrepublik
Deutschland, dem Königreich Spanien, der
Französischen Republik, dem Großherzogtum Luxemburg, dem Königreich der Niederlande und der Republik Österreich über die
Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration
- Drucksache 16/1108 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Vertrags vom 27. Mai 2005 zwischen
dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik
Deutschland, dem Königreich Spanien, der
Französischen Republik, dem Großherzogtum Luxemburg, dem Königreich der Niederlande und der Republik Österreich über die
Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des
Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration
- Drucksache 16/1109 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes und des Rinderregistrierungsdurchführungsgesetzes
- Drucksache 16/1023 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({5})
Innenausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Winfried Hermann, Peter Hettlich,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Notschleppkonzept an gestiegene Herausforderungen anpassen
- Drucksache 16/685 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 3 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN-
KEN
Die Beziehungen zwischen EU und Lateiname-
rika solidarisch gestalten - Kein Freihandels-
abkommen EU-Mercosur
- Drucksache 16/1126 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Otto Fricke, Ina Lenke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Zwangsheirat wirksam bekämpfen - Opfer
stärken und schützen - Gleichstellung durch
Integration und Bildung fördern
- Drucksache 16/1156 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkt 33 a bis 33 f sowie
Zusatzpunkte 4 a bis 4 j auf. Es handelt sich um
Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 33 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des patentrechtlichen Einspruchsverfahrens und des Patentkostengesetzes
- Drucksache 16/735 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({8})
- Drucksache 16/1153 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/1153, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Mir ist das Abstimmungsverhalten der Fraktion der Linken nicht klar. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU
und FDP bei Enthaltung der Fraktion der Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. 2630
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit mit demselben Stimmenverhältnis wie in der
zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen von 2001 über die zivilrechtliche
Haftung für Bunkerölverschmutzungsschäden
- Drucksache 16/736 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({9})
- Drucksache 16/1154 Berichterstattung:
Abgeordnete Marco Wanderwitz
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/1154,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Ölschadengesetzes und anderer schifffahrtsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 16/737 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({10})
- Drucksache 16/1160 Berichterstattung:
Abgeordnete Marco Wanderwitz
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/1160, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 d:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
8. Dezember 2004 über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der
Republik Zypern, der Republik Lettland, der
Republik Litauen, der Republik Ungarn, der
Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zu dem Übereinkommen über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von
Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen
- Drucksache 16/914 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({11})
- Drucksache 16/1143 Berichterstattung:
Abgeordneter Manfred Kolbe
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/1143,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 33 e:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 2. März 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
der Republik Jemen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von Luftfahrtunternehmen
auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen
- Drucksache 16/915 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({12})
- Drucksache 16/1144 Berichterstattung:
Abgeordneter Manfred Kolbe
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/1144, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Tagesordnungspunkt 33 f:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung und Bereinigung des Lastenausgleichsrechts
- Drucksachen 16/916, 16/955 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({13})
- Drucksache 16/1145 Berichterstattung:
Abgeordneter Manfred Kolbe
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/1145, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Zusatztagesordnungspunkt 4 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung der Vorschriften über die Luftaufsicht und die Luftfahrtdateien
- Drucksache 16/958 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({14})
- Drucksache 16/1159 Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothee Menzner
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/1159, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Fraktionen der Linken, der
SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung der
Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit mit dem Stimmenverhältnis wie in der zweiten
Beratung angenommen.
Zusatztagesordnungspunkt 4 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({15})
Übersicht 2
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 16/1141 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Zusatztagesordnungspunkt 4 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 28 zu Petitionen
- Drucksache 16/1132 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 28 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Zusatztagesordnungspunkt 4 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 29 zu Petitionen
- Drucksache 16/1133 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 29 ist ebenfalls mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Zusatztagesordnungspunkt 4 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 30 zu Petitionen
- Drucksache 16/1134 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 30 ist mit den Stimmen
der SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Grünen angenommen.
Zusatztagesordnungspunkt 4 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 31 zu Petitionen
- Drucksache 16/1135 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 31 ist damit mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Zusatztagesordnungspunkt 4 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 32 zu Petitionen
- Drucksache 16/1136 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 32 ist damit mit den
Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
und der Linken angenommen.
Zusatztagesordnungspunkt 4 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 33 zu Petitionen
- Drucksache 16/1137 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 33 ist mit den Stimmen
der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Zusatztagesordnungspunkt 4 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 34 zu Petitionen
- Drucksache 16/1138 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 34 ist mit den Stimmen
der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/
CSU bei Gegenstimmen der FDP und der Linken angenommen.
Zusatztagesordnungspunkt 4 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 35 zu Petitionen
- Drucksache 16/1139 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 35 ist mit den Stimmen
der Koalition bei Gegenstimmen der Fraktionen der Linken, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP angenommen.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
Beitrag des Energiegipfels zur Energieversorgungssicherheit und zur Verringerung der Gefahren durch Atomkraft und Klimawandel
Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat diese
Aktuelle Stunde beantragt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte
der Koalition zu diesem Energiegipfel als prominentem
Ereignis gerne Glückwunsch gezollt. Als ich ans Pult
ging, hieß es: Jetzt bekommen wir bestimmt Lob. - Ich
muss der Ehrlichkeit halber sagen: Lob bekommen Sie
allenfalls für die mediale Inszenierung. Die Ergebnisse
waren aber doch eher dünn, falls es neben der Gründung
von Arbeitsgruppen überhaupt Ergebnisse gab.
({0})
Es war ein Gipfel der Aussparung, eine Art Spiegelbild
des Minimalkonsenses innerhalb der Koalition. Man
könnte auch sagen: Sie sind als Gipfelstürmer angetreten, aber irgendwo im märkischen Sand stecken geblieben.
({1})
Ich könnte auch sagen: Das war ganz im merkelschen
Sinne.
Der Gipfel hat eines gezeigt: viel Wind, aber wenig
erneuerbare Energien. Die Gästeliste verwundert einen
dann auch nicht. Vertreten waren die Besitzstandswahrer
der Energiewirtschaft, die vier großen Monopolisten,
aber wenige Verbraucher und überhaupt keine Umweltgruppen. So macht man keinen der Zukunft zugewandten Energiegipfel.
({2})
Sie sind die energiewirtschaftlichen Fragen nicht angegangen. Dabei geht es um die Fragen: Wie kann unsere Energieversorgung langfristig sicher sein? Wie kann
man sie langfristig wirtschaftlich gestalten und nicht nur
am Tropf halten? Wie kann man sie nachhaltig gestalten? - Dazu ist gar nichts gesagt worden. Sie haben auch
die Kernthemen des Energiebereichs vollkommen außen
vor gelassen. Wie kann man eigentlich behaupten, einen
Energiegipfel zu veranstalten, wenn man nicht über den
Verkehr diskutiert?
({3})
Das heißt doch: Sie haben das halbe Problem schlicht
und einfach ignoriert. Der Löwenanteil unserer Erdölimporte wird nämlich im wahrsten Sinne des Wortes verfahren. Wir machen hier vollkommen unsinnig Gebrauch von einer limitierten und teuren Ressource. In
keinem anderen Bereich sind wir so abhängig vom Erdöl
wie im Verkehr und Sie machen einen Energiegipfel,
ohne über dieses Thema zu reden!
({4})
Wenn sich an dieser Stelle nichts bewegt, bewegt sich
demnächst auch im Verkehr nichts mehr. Stattdessen haben Sie auf diesem Gipfel ein gefährliches Spiel mit der
Debatte über den Ausstieg aus der Atomenergie getrieben. Der Dissens, den Sie so munter zwischen den
Koalitionsfraktionen pflegen, stellt mittlerweile eine
Blockade für Innovationen und dringend nötige Investitionen in Deutschland, zum Beispiel im Mittelstand, dar.
({5})
Ich frage mich auch: Was ist jetzt eigentlich mit dem
Koalitionsvertrag? Gilt er nur ein bisschen oder nur bis
zu einem bestimmten Punkt? Das riecht mir verdammt
nach: Wir sind ein bisschen schwanger. - Genau so agieren Sie bei diesem Thema. Im Ergebnis tun Sie nichts für
die Schaffung von Arbeitsplätzen und für Innovationen
in diesem Land. Mit Ihrem Gerede auf dem Gipfel haben
Sie allenfalls den Kraftwerksbetreibern geholfen, große
Profite zu machen. Sie haben aber mittelfristig nicht einmal einem Verbraucher in diesem Land geholfen und
dazu beigetragen, dass er auf seiner nächsten Stromrechnung sieht, dass die Kosten sinken und nicht weiter steigen.
({6})
Sie lassen sich durch vermeintliche Investitionszusagen zu Zugeständnissen bringen. Was wir in Wahrheit
brauchen, ist eine Regierung, die sich nicht erpressen
lässt, gerade beim anstehenden Thema „Emissionshandel und Zertifikate“. Was Ihnen da an Geldern angeboten
wird, ist das statistische Mittelmaß dessen, was sie sowieso investieren müssen. Wir brauchen etwas anderes.
Wir brauchen einen Anschub, der zu Überkapazität und
neuen Akteuren auf dem Markt führt, damit Wettbewerb
entsteht, zugunsten einer anderen Zukunft und zugunsten der Verbraucherhaushalte.
({7})
Man muss jetzt umsteuern; man darf das nicht wieder
vertagen. Man muss jetzt einsteigen beim Primat der
Energiepolitik in eine Zukunft der Einsparungen. Wir
wissen, dass die meisten Industriestaaten, wenn sie eine
gute Strategie verfolgen, mit der besten verfügbaren
Technologie problemlos 20 bis 30 Prozent des jetzigen
Energieverbrauchs einsparen könnten. Dann brauchen
Sie aber ehrgeizige Anforderungen, in Bezug auf den
Wärmeschutz bei Neubauten, Höchstverbrauchstandards
für Klima- und Lüftungsanlagen, und Sie brauchen Verbote für Stand-by-Geräte in der Unterhaltungselektronik.
Wir können bis 2020 unseren Verbrauch quasi halbieren.
Der Energiegipfel hat uns eines gezeigt: Sie haben
keine Ziele; Sie arbeiten weiter für die großen Anbieter.
Ich sage Ihnen ganz klar: Wir werden dem ein grünes
weiterentwickeltes Energieszenario entgegensetzen.
({8})
Daran werden wir Sie messen. Wir werden Sie beim
Emissionshandel
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.
- ich bin beim letzten Wort - fragen: Wie vergeben
wir Zertifikate? Ich sage Ihnen eines: Die 10 Prozent
müssen wirklich versteigert werden. Wir dürfen eines
nicht tun: uns von den großen Wirtschaftsunternehmen
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.
- erpressen lassen.
Danke.
({0})
Herr Kollege Beck, zur Geschäftsordnung, bitte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Keiner
der für dieses Thema, Energie, zuständigen Minister ist
hier anwesend. Ich verstehe ja, dass man sich angesichts
des Outputs dieses Energiegipfels hier im Parlament
nicht stellen will. Ich habe Verständnis bei Herrn Glos:
Er ist in den USA; wenn er kommen sollte, wäre das ein
bisschen schwierig. Aber der Bundesumweltminister ist
im Haushaltssausschuss.
({0})
Ich meine, das geht nicht. Bei einem so wichtigen
Thema muss die Bundesregierung auch durch Minister
hier im Plenum vertreten sein.
({1})
Wenn sie so nicht vertreten ist, ist das eine Missachtung
des Parlaments. Wir beantragen die Herbeizitierung des
Bundesumweltministers.
({2})
- Es gehört sich, dass beim Thema Energiegipfel auch
der zuständige Minister hier spricht oder dass er, wenn er
nichts zu sagen hat, wenigstens hier anwesend ist und
sich eine solche zentrale Debatte des Parlaments anhört.
({3})
Frau Kumpf, bitte.
Herr Kollege Beck, ich glaube, Ihr Einwand und Ihr
Antrag sind eine Farce. Es ist ein sehr bekannter, sehr
ausgewiesener Experte auf der Regierungsbank anwesend, der dieses Thema exzellent für uns vertreten wird.
({0})
- Ich rede von unserem Kollegen Michael Müller, der
den Minister vertritt. Er ist ein ausgewiesener Fachmann
({1})
in der Angelegenheit.
({2})
Dass Minister Gabriel vor dem Haushaltsausschuss vorstellig werden muss, ist das höchste Recht und auch ein
parlamentarisches Recht des Haushaltsausschusses. Das
ist auch Ihnen sehr wohl bekannt. Ich denke, es ist genügend Kompetenz auf der Regierungsbank vertreten.
({3})
Daher ist Ihr Antrag abzulehnen.
({4})
Ich lasse über den Geschäftsordnungsantrag des Kollegen Beck abstimmen. Wer für die Herbeizitierung des
Ministers ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Letzteres war die Mehrheit. Deshalb, Herr
Kollege Beck, ist Ihr Antrag abgelehnt.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Hartmut Schauerte.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Um es gleich vorweg zu sagen: Ich bin zweimal
dankbar, einmal dafür, dass die Bundeskanzlerin diesen
Energiegipfel organisiert und durchgeführt hat, und zum
Zweiten dafür, dass die Grünen diese Aktuelle Stunde
beantragt haben. Denn so können wir hier erklären, worum es wirklich geht.
Dieser Energiegipfel war absolut notwendig. Das haben alle Beteiligten auch so gesehen. Was die Beteiligten
angeht, Frau Künast: Es waren natürlich Vertreter der
Solarenergiewirtschaft, Klaus Töpfer und weitere Personen aus dem entsprechenden Bereich anwesend.
({0})
Der Kreis war also intelligent und der Sache angemessen
zusammengesetzt. Ein Energiegipfel ist auch kein KleinKlein, kein Hin-und-Her und kein Springen von einem
Thema zu anderen. Denn er sollte ein strategischer Neuanfang sein. Schließlich haben wir seit vielen Jahren
nicht mehr über die Energiepolitik und die Lage der
Energiewirtschaft in Deutschland geredet,
({1})
jedenfalls nicht umfassend und im Rahmen eines gesamtstrategischen Konzepts. Damit sollte auf diesem
Energiegipfel begonnen werden. Das ist unter volkswirtschaftlichen, internationalen und technologischen Gesichtspunkten nötig. Das ist eine absolut runde Angelegenheit.
Sie haben uns vorgeworfen, wir hätten nichts zum
Verkehr gesagt. Ich will nur ein Beispiel nennen: Die
Brennstoffzelle ist eine ganz wichtige technologische
Antwort auf die vor uns liegenden Herausforderungen.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Sie während Ihrer Regierungszeit Entscheidendes für die Brennstoffzelle geleistet hätten.
({2})
Wir legen ein Forschungsprogramm mit einem Volumen
von 155 Millionen Euro und einer Laufzeit von drei Jahren auf. Eine so massive Forschungsförderung hat es in
diesem Bereich noch nicht gegeben. Wir begrüßen, dass
wir das gemeinsam beschließen können. Frau Künast,
unter Ihrer Regierungsverantwortung wurde ein solches
Programm nicht aufgelegt.
({3})
Eine Diskussion über die strategische Ausrichtung
unserer Energiepolitik ist notwendig. Sie kann einen
Beitrag zur Verbesserung der Energieversorgungssicherheit anstoßen. In diesem Zusammenhang sind Fragen der
Wirtschaftlichkeit, der Umweltverträglichkeit, der internationalen Sicherheit und der Versorgungssicherheit zu
berücksichtigen. Es lohnt, über grundsätzliche Fragen zu
reden.
Frau Künast, in der Energiepolitik brauchen wir vor
allen Dingen Rationalität, ein Wissen über die Fakten
und Zusammenhänge sowie möglichst wenig Ideologie.
Von den ideologischen Ansätzen grüner Energiepolitik
haben wir uns auf diesem Gipfel verabschiedet. Das
wird Deutschland ausgesprochen gut tun.
({4})
Mit dem Statusbericht, den Bundesminister Glos zusammen mit Bundesminister Gabriel vorgelegt hat, haben
wir eine gute Grundlage für die Neuorientierung und die
Versachlichung der Energiepolitik gelegt.
Energiepolitische Entscheidungen müssen immer die
drei energiepolitischen Ziele im Blick haben: Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit, Versorgungssicherheit sowie Umweltverträglichkeit. Ich habe die Wirtschaftlichkeit bewusst an den Anfang gestellt. Gerade
auf diesem Gebiet wurden in der Vergangenheit schwere
Fehler gemacht.
({5})
Der grüne Ansatz bei der Wirtschaftlichkeit, den die
Bürger heute teuer bezahlen, war: Energie kann ruhig
teuer sein; denn nur, wenn Energie teuer ist, gehen die
Bürger sparsam damit um. Das war ein Kern Ihrer Energiepolitik, der natürlich enorme Auswirkungen auf die
Entwicklung der Energiepreise in Deutschland hatte.
({6})
Aufgrund der hohen Kosten für Energie in Deutschland haben wir erhebliche wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Probleme. Die Kosten für Energie in Deutschland wurden von Ihnen aus ideologischen, aus so
genannten pädagogischen Gründen kraftvoll erhöht. Bei
der Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit des Energiepreises - Sie haben den Energiepreis nicht mehr ernst
genommen - haben wir eine erhebliche Korrektur vorgenommen. Ich hoffe, dass sie sich mittelfristig auf den
Standort Deutschland im Wettbewerb der Nationen positiv auswirkt.
({7})
Wir müssen in aller Sachlichkeit immer wieder analysieren, ob die angestrebten Ziele auch tatsächlich erreicht
werden. Auch das soll ein Ergebnis der verstärkten Diskussion über unsere energiepolitische Ausrichtung sein.
Der Energiegipfel ist als Auftakt einer Debatte über
die mittel- und langfristige Energiepolitik gedacht. Kein
laufendes Projekt wird gestoppt. Es gibt keinen Stillstand. Insofern können wir uns die Zeit nehmen, gründlich darüber nachzudenken. Alle Projekte, die sich jetzt
in der Pipeline befinden, werden weitergeführt. All das,
was im Energiewirtschaftsgesetz festgelegt ist - die notwendigen Neujustierungen, die Aufstellung der Netzagentur -, läuft unbeeinflusst weiter. Die Ergebnisse des
Energiegipfels zeigen langfristige Planungsansätze auf,
sie zeigen, wie wir uns energiepolitisch in der Zukunft
aufstellen sollten.
({8})
Wir werden - das haben Sie den Medien entnommen drei Arbeitskreise einrichten. Einer beschäftigt sich mit
den internationalen Aspekten, einer mit den nationalen
Aspekten und einer mit Forschung und Energieeffizienz.
Diese drei Arbeitskreise sollen Vorlagen erarbeiten.
Dann soll ein weiteres Spitzentreffen stattfinden. Ziel
dieses Prozesses ist die Erarbeitung eines Gesamtkonzeptes, das die Bundesregierung in der zweiten Hälfte
des Jahres 2007 vorlegen will. Diese Zeit nehmen wir
uns. In der Zwischenzeit wird das getan, was aktuell anliegt. Es herrscht also kein Stillstand. Wir arbeiten konkret in den aktuellen Bezugsfeldern und erstellen gleichzeitig eine mittel- und langfristige Strategie.
Die praktische Energiepolitik geht weiter und die Ergebnisse und Erkenntnisse fließen in das Gesamtkonzept
ein. Mit einfließen sollen auch die Ergebnisse der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und der G-8-Präsidentschaft im Jahr 2007. Wir wollen das international
aufstellen. Frau Merkel hat ja bekanntlich die Energiepolitik als einen der drei Schwerpunkte der deutschen
EU-Ratspräsidentschaft genannt. Wir bereiten uns darauf vor und hoffen, daraus Erkenntnisse für die strategische Ausrichtung der deutschen Energiepolitik zu gewinnen.
Wichtig ist natürlich der Energiemix, für den wir auch
Erkenntnisse gewinnen wollen. Wie können wir ihn optimieren? Dabei fallen als erstes die Kohle und die fossilen Brennstoffe ins Auge. Wir wollen neue Ansätze in
Technik und Forschung entwickeln bis hin zum CO2freien Kraftwerk. Dafür nehmen wir richtig Geld in die
Hand. Wir schließen nichts aus. Wir wollen möglichst
breit auch unter dem Gesichtspunkt der Energiesicherheit aufgestellt sein.
Wir begrüßen ausdrücklich die beim Energiegipfel
gegebenen Zusagen der Energiewirtschaft zu umfangreichen Investitionen in Kraftwerke und Stromnetze.
({9})
Frau Künast, das hat es in Ihrer Zeit auch schon einmal
gegeben, aber sehr vage, unbestimmt und nicht belastbar. Man wollte 20 Milliarden Euro in ein Investitionsprogramm investieren. Dieser Gipfel hat dazu geführt,
dass aus den 20 Milliarden Euro 30 Milliarden Euro geworden sind. Er hat eine neue Sicherheit in die Gespräche gebracht. Ich halte die Zusagen, die jetzt gemacht
worden sind, für belastbarer als das, was vorher hin und
wieder einmal erörtert worden ist. Wir sind also auch
hier ein gutes Stück weitergekommen.
({10})
- Ja, das wird sich zeigen. Haben Sie ein bisschen Geduld! Das ist sicher eine Tugend, die Ihnen ziemlich abgeht. Üben Sie sie einmal ein bisschen.
({11})
Bei uns geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Bei Ihnen
war und ist das offensichtlich immer noch umgekehrt.
Wir wählen den anderen, den seriöseren Weg.
({12})
Die erneuerbaren Energien sind wichtig. Das haben
die Teilnehmer des Energiegipfels einhellig unterstrichen. Sie sind ein wichtiger und wachsender Teil des
Energiemixes. Lassen Sie mich dazu zum Abschluss
noch ein paar Zahlen vortragen, weil ich glaube, dass sie
beeindruckend sind. So etwas hat es in der Energieforschungspolitik bisher nicht gegeben. Für rationelle Energieumwandlung haben wir im Jahr 2005 104 Millionen
Euro ausgegeben; für das Jahr 2009 planen wir 203 Millionen Euro ein. Das ist fast eine Verdoppelung und das
sind 36 Prozent der Finanzmittel, die wir für die Energieforschung und -optimierung ausgeben. Bei den erneuerbaren Energien gibt es ebenfalls eine Erhöhung von
135 Millionen Euro Ist in 2005 auf 154 Millionen Euro
in 2009. Wir sind also in diesen Bereichen gut drauf. In
keinem Bereich des Haushalts ist ein solcher Aufwuchs
zu verzeichnen wie in diesem forschungs- und energierelevanten Bereich. Ich meine, wir sind intelligent aufgestellt. Der Energiegipfel war gut. Wir bedanken uns für
die Gelegenheit, mit Ihnen hier im Plenum des Deutschen Bundestages eine Stunde darüber diskutieren zu
können.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und
Damen! „Gut drauf“ ist die Bundesregierung - Herr
Staatssekretär, das nehmen wir gern zur Kenntnis. Wahrscheinlich hat der Energiegipfel dazu beigetragen. In
Wahrheit aber war er ein selbsttherapeutischer Gesprächskreis und ohnehin ein Milliardenpoker. Mehr hat
er nicht gebracht. Substanz kann ich wirklich nicht erkennen.
({0})
Ich muss Sie daran erinnern: Wir haben gestern im
Wirtschaftsausschuss versucht, auszuloten, wie sich die
33 bis 40 Milliarden Euro, die Sie an Investitionen im
Bereich der erneuerbaren Energien zugesagt haben, zusammensetzen und woher sie kommen, also wie belastbar diese Summe ist. Sie konnten uns nicht erläutern,
wie sich diese Summe zusammensetzt. So klar scheint
den Regierungsteilnehmern also nicht zu sein, was eigentlich passieren soll.
({1})
Die notwendigen Investitionen in Kraftwerke und
Netze haben Sie angesprochen; sie sind in der Tat wichtig und richtig. Aber die Unternehmen investieren nur,
wenn sie wissen, wie die Rahmenbedingungen aussehen.
Auch hierzu haben Sie manche Fragen völlig offen gelassen: Welche Vorgaben machen Sie mit Blick auf den
Nationalen Allokationsplan II? Was kommt hier auf uns
alle, auf die Verbraucher wie auf die Unternehmen, zu?
Diese Fragen haben Sie sträflich vernachlässigt.
In Vorbereitung dieses fulminanten Gipfels habe ich
Ihren Statusbericht gelesen. Darin stellen Sie die Frage:
Wird es für die auslaufende Stromerzeugung aus Kernenergie qualitativ ausreichend und wirtschaftlich vertretbar Ersatz geben? Diese Frage haben Sie gestellt, ohne
bemerkt zu haben, dass Sie in diesem Zweierkanon den
dritten Aspekt, die Umweltverträglichkeit, völlig außer
Acht gelassen haben. Sie haben sich nicht gefragt, ob das
unter umweltpolitischen Gesichtspunkten passt. Ich
finde, das ist entlarvend; denn daran wird deutlich, dass
Sie nicht genau genug hinschauen.
In Ihrem Statusbericht gehen Sie davon aus, dass
- den Ausstieg aus der Kernenergie unterstellt - in circa
zehn bis 13 Jahren der Fokus auf einer vermehrten Kohlenutzung, auf einer Verdopplung des Gasverbrauchs
und auf einer Verdoppelung des Einsatzes erneuerbarer
Energien liegen wird. Sie müssen natürlich auch die
Frage beantworten, wie Sie das Thema Klimaschutz
- ich habe es bereits angesprochen - in diesem Mix berücksichtigen wollen. Was die erneuerbaren Energien
betrifft, ist das okay. Auch wir wünschen uns in diesem
Bereich eine Förderung, und zwar nach einem differenzierten Mengenziel, das wir festzulegen haben. Sie lassen das aber offen.
Es fehlt ein energiepolitisches Gesamtkonzept, für
dessen Erarbeitung Sie sich jetzt noch fast zwei Jahre
lang Zeit lassen wollen.
({2})
Ich finde, diese Zeit haben wir nicht mehr. Wir sind gebeutelt von Arbeitslosigkeit, von höchsten Energiekosten und von Rahmenbedingungen, die weit entfernt sind
von dem, was wir uns unter Wettbewerb und Markt vorstellen. Daran hat natürlich auch die frühere rot-grüne
Bundesregierung ihren Anteil. Die neue rot-schwarze
Regierung setzt diese Politik im Augenblick schlicht
fort. Ich kann in diesem Bereich keine neuen Entwicklungen feststellen.
({3})
Die Fragen, um die es geht, liegen auf dem Tisch und
die Antworten sind nahe liegend. Aber Sie geben sie
nicht. Sie streiten sich untereinander und schieben sich
gegenseitig die Karten zu. Sie wollen nachdenken und
strategische Überlegungen anstellen. Dabei müssten Sie
dringend Antworten geben, und zwar solche, die Sie im
Konsens gefunden haben.
Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben in dieser Woche ein energiepolitisches Grundsatzpapier verabschiedet, das zukunftsweisend ist. Darin befassen wir uns mit
der internationalen Energiepolitik, beleuchten den gesamten Energiemix ohne ideologische Vorgaben,
({4})
und behandeln Umweltschutz, Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und die Minderung von Importabhängigkeiten als gleichrangige Ziele. Wir stellen also
weder bestimmte Ziele in den Vordergrund noch rücken
wir andere Ziele in den Hintergrund.
({5})
Ich empfehle Ihnen dringend, sich ausgiebig mit unserem energiepolitischen Grundsatzpapier zu befassen.
({6})
Denn, Herr Staatssekretär Schauerte, wir haben nicht die
Zeit, zwei weitere Jahre in Arbeitskreisen zu diskutieren.
Sie wissen ja: Wenn man nicht mehr weiter weiß, dann
gründet man einen Arbeitskreis. Sie gründen sogar drei
Arbeitskreise. Handeln Sie! Treffen Sie Ihre Entscheidungen! Wir brauchen energiepolitische Leitlinien, in
denen die Energiepolitik als das dargestellt wird, was sie
ist: als Standortpolitik.
Wirtschaftsminister Glos hat neulich gesagt,
({7})
die Energiepolitik sei nach seinem Verständnis die
Hauptschlagader der gesamten Wirtschaftspolitik.
({8})
Wenn das so ist - auch wir sind dieser Meinung -, dann
handeln Sie bitte auch dementsprechend und verlieren
Sie sich nicht in endlosen Diskussionszirkeln.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Michael Müller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Energiepolitik ist ein Schlüsselthema dieses Jahrhunderts, dessen Bedeutung weit über ökonomische Fragen
hinausreicht. Hierbei handelt es sich um den Schlüssel
zur Sicherung des Friedens in der Welt und zur Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen. Weil das so ist,
ist es bei diesem Thema unangebracht, parteipolitische
Spielchen zu beginnen; dafür ist es viel zu ernst. Ich
halte nichts davon, aus umfangreichen Berichten einen
einzigen Satz herauszugreifen und daran die Kritik festzumachen, Frau Kopp. Wenn Sie ehrlich gewesen wären,
hätten Sie ansprechen müssen, dass der Statusbericht
über lange Passagen den Klimaschutz zum Thema hatte.
Wenn das nicht Umweltpolitik ist, dann weiß ich nicht,
was Umweltpolitik ist.
({0})
Dieses Thema ist nicht dazu geeignet, die Schlachten
von gestern zu schlagen. Es gibt eine Mahnung der
beiden großen Aufklärer Theodor Adorno und Max
Horkheimer, die immer wieder die Frage gestellt haben,
ob die europäische Gesellschaft noch die Kraft in sich
hat, Fortschritt und Entwicklung möglich zu machen.
Aus meiner Sicht ist ihre Mahnung, dass in jeder modernen Gesellschaft immer auch der Keim des Rückschritts
steckt, richtig.
Es gibt kaum einen Bereich, in dem die Weichen so
neu gestellt werden müssen wie in der Energiepolitik.
Die Grundfrage in der Energiepolitik, die wir klären
müssen, ist: Welches Verständnis von Zeit haben wir? Es
gibt nämlich zwei völlig unterschiedliche politische
Strategien, je nach dem Verständnis von Zeit: Wenn wir
in der Energiepolitik zu dem Ergebnis kommen, dass wir
uns den aktuellen Zwängen anpassen müssen, kommen
wir zu anderen Schlussfolgerungen, als wenn wir vor allem von den großen Zukunftsherausforderungen ausgehen und versuchen, frühzeitig Antworten zu geben. Ich
plädiere für das Zweite, weil ich glaube, dass die Veränderungen, die in den nächsten Jahren auf uns zukommen,
so gewaltig sind, dass kurzfristige Anpassungen wenig
bringen werden. Wir müssen die Energiepolitik aus ökologischen, aus ökonomischen und aus friedenspolitischen Gründen neu ordnen, sonst wird sie immer mehr
zur Achillesferse der modernen Gesellschaft.
({1})
Lassen Sie mich das an drei Punkten deutlich machen: Erster Punkt. Im Augenblick nutzen 1,3 Milliarden
Menschen ungefähr drei Viertel der kommerziellen
Energie und Rohstoffe. Nehmen wir an, dass Länder wie
China, Indien und Brasilien - die bevölkerungsreichsten
Schwellenländer - in 35 Jahren das Wohlstandsniveau erreichen, das heute Ungarn hat, dann bedeutet das eine Verdreifachung des Weltsozialprodukts. Wenn man gleichzeitig andere Entwicklungen berücksichtigt - Wachstum der
Industrieländer, der anderen Länder, Bevölkerungswachstum - ist es eine Verfünffachung. Es ist eine Illusion, zu glauben, dass diese Herausforderung mit der
heutigen Energieversorgung lösbar ist - es ist schlicht
eine Illusion. Im Gegenteil: Die Länder, die auf diese
Herausforderungen frühzeitig eine Antwort geben, werden in der Zukunft am besten dastehen.
({2})
Die zweite große Herausforderung ist der Klimawandel. Wir wissen in der Zwischenzeit, dass die größten
Veränderungen im Klimasystem nicht in den tropischen
und subtropischen Breiten - obwohl es da schlimm genug ist -, sondern in den nordpolaren Regionen stattfinden; dort ist die Klimasensibilität am höchsten. Beispielsweise beträgt die Erwärmung im Weltdurchschnitt
etwa 0,7 Grad, aber über Grönland erreicht sie schon fast
3 Grad. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass
die Erwärmung bis zum Ende dieses Jahrhunderts im
Durchschnitt 2,5 Grad beträgt. Das bedeutet in der Konsequenz: Über Grönland wird eine Erwärmung von mehr
als 12 Grad zu befürchten sein. Was das wegen der Veränderungen in den Meeressystemen bedeutet, kann man
sich gar nicht ausmalen!
({3})
Die Konsequenz daraus kann nur ein Umbau des Energiesystems sein; darüber ist intensiv zu reden. Das wiederum ist eine Frage unseres zeitlichen Verständnisses.
({4})
Dritter Punkt: Die Zeit der billigen Energie ist vorbei.
Es sind Leute wie James Schlesinger und Henry
Kissinger, die uns vor drohenden Ressourcenkriegen
warnen, wenn nicht vor allem die Industrieländer einen
anderen Umgang mit Energie pflegen. Das sind doch die
Herausforderungen der Zukunft, denen wir uns stellen
müssen!
Deshalb geht es um unser zeitliches Verständnis von
Energiepolitik. Ein Teil dieses Hauses kennt nur die Anpassung an aktuelle Zwänge. Aber das kann nicht die
Lösung sein. Energiepolitik muss heißen, die Infrastruktur der Zukunft möglichst früh zu entwickeln. Energie
sparen: Effizienzsteigerung und erneuerbare Energien.
Das sind die Antworten, die von der großen Koalition
gemeinsam gegeben werden.
({5})
Ich will auf einen interessanten Punkt hinweisen: Es
waren im Wesentlichen die Fraktionen von CDU/CSU
und SPD, die 1990 das große Klimaschutzziel 25 Prozent weniger CO2-Ausstoß entwickelt haben.
Ich sage: Ganz egal, wie man die Koalition einschätzt, sie ist verpflichtet, erfolgreich zu sein, weil das
schon aufgrund der Konstellation notwendig ist.
({6})
- Ja, doch. Man sollte über den Tellerrand hinausschauen. Für die Demokratie ist es wichtig, dass diese
Koalition erfolgreich ist. - Wenn wir es schaffen - gerade in der Energiepolitik -, ein Zeichen nach vorne zu
setzen und eine Entwicklung einzuleiten, die überall in
der Welt vorbildlich ist, dann hat sich diese Koalition gelohnt. Dafür setzen wir uns ein.
({7})
- Liebe Renate Künast, dazu möchte ich einmal etwas
Deutliches sagen: Es ist ja schön und gut, dass sich die
Grünen immer um das Thema erneuerbare Energien gekümmert haben - übrigens nicht allein -,
({8})
aber es wäre sehr viel schöner gewesen, wenn sich die
Grünen beispielsweise auch sehr viel mehr des Themas
Effizienz angenommen hätten. Hier war nämlich die
große Schwachstelle. Reden wir also darüber. Das wisst
ihr doch auch ganz genau.
({9})
- Auch beim Emissionshandel hätten wir manche Weichen anders stellen können.
({10})
Auch das weiß Jürgen Trittin besser, als er es hier sagt.
({11})
- Wenn ich darauf hinweisen darf: Er war in den letzten
drei Jahren nicht in der Regierung. - Lasst uns bitte nicht
die Schlachten von gestern schlagen.
({12})
Ich will, dass diese Zukunftsherausforderungen im
Zentrum stehen. Die Reaktion der Grünen scheint mir
eher die zu sein, dass sie Angst haben, ein Thema zu verlieren.
({13})
Das scheint mir der Punkt zu sein. Das ist diesem Thema
nicht angemessen. Lasst uns bitte gemeinsam in die Zukunft schauen.
({14})
Ich glaube, dass es vor allem um vier zentrale Punkte
geht:
Erstens. Der Austausch von Energieträgern als Energiepolitik ist nicht ausreichend. Die entscheidende Frage
ist, unter welchen Rahmenbedingungen wir so schnell
wie möglich mehr einsparen sowie eine höhere Effizienz
schaffen und schneller erneuerbare Energien entwickeln
können.
({15})
Genau diese Fragen müssen ins Zentrum rücken und
nicht der Austausch eines Energieträgers durch den anderen. Die Frage lautet: Wie können diese Ziele optimal
erreicht werden? Das geschieht nicht durch immer mehr
Energieeinsatz, sondern der intelligente Einsatz von
Energie ist die entscheidende Herausforderung.
Zweiter Punkt: unser Vorangehen beim Klimaschutz.
Das ist die zentrale Zukunftsherausforderung. Die Welt
schaut dabei auf Europa. Was in Europa geschieht, wird
die Welt prägen.
Dritter Punkt. Wir müssen die Energiepolitik immer
mehr als Energieaußenpolitik begreifen. An der Frage
des Energieeinsatzes wird sich die Sicherheit der Welt
entscheiden. Auch hier ist entscheidend, was Europa tut.
Der Gedanke, das technologisch starke Westeuropa mit
dem Rohstoffriesen Russland im Sinne einer intelligenten Kooperation für die Welt zusammenzubringen, ist
eine große Vision, die wir voranbringen sollten. Ich
finde, auch hier war die Diskussion in den letzten Wochen im Verhältnis zur großen Bedeutung dieses Themas
kleinkariert. Ich glaube nicht, dass uns das voranbringt.
({16})
Lassen Sie mich noch den vierten Punkt nennen. Wir
müssen auch den historischen Fehler überwinden, zu
meinen, dass sich die Stärke eines Landes vor allen Dingen an der Arbeitsproduktivität orientiert. Energie- und
Ressourcenproduktivität sind zentrale Wettbewerbsfaktoren in der Zukunft. Dadurch wird der Fehler überwunden, dass bei einem schwächer werdenden Wachstum
immer mehr Menschen durch Technik ersetzt werden.
Wir schaffen eine Produktivität, durch die auch mehr Arbeit möglich wird.
Das sind vier Herausforderungen, die wir mit der
Energiepolitik verbinden. Lasst uns deshalb nach vorne
schauen. Wir führen nicht die Schlachten der Vergangenheit, sondern wir sehen vor allem die Herausforderungen
der Zukunft und wir wollen Antworten geben, die umweltverträglich, wettbewerbsfähig und kostengünstig
sind.
Vielen Dank.
({17})
Als Nächster hat der Kollege Hans-Kurt Hill von der
Linken das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der hinter uns liegende Winter wird
für uns alle teuer. Der Verbraucher zahlt bis zu 500 Euro
mehr für das Heizen und den Strom. Das ist für viele
Haushalte ein halbes Monatsgehalt. Und was tun die
Energiekonzerne? Bei immer weniger Mitarbeitern verkünden sie für das letzte Jahr natürlich Rekordgewinne.
EnBW und RWE haben insgesamt 14 000 Mitarbeiter
entlassen. Andere Konzerne veranstalten Übernahmen
mit riesigen Summen: 29,1 Milliarden Euro will Eon für
die spanische Endesa berappen. Bezahlt wird das Ganze
aus den Taschen der Verbraucher.
({0})
- Natürlich auch der Verbraucherinnen. - Weitere Beispiele: 6 Milliarden Euro pro Jahr steckt das Stromoligopol im Rahmen des Emissionshandels in die eigene Tasche. 18 Milliarden Euro zahlen die Kunden jedes Jahr
allein für die Nutzung der Stromnetze; aber nur 2 Milliarden Euro fließen davon in die Netze zurück. Alles in
allem kann man sagen: Die Energiekartelle ziehen den
Bürgerinnen und Bürgern ungeniert das Geld aus der Tasche.
Und was macht die Bundesregierung? Erstens. Sie erhöht die Mehrwertsteuer um noch einmal 3 Prozentpunkte. Zweitens. Sie lädt die Energiebosse zum Gipfel
ein, auf dass alles besser werde. Ich bin der Meinung,
das ist den Menschen im Land nicht mehr zu vermitteln.
({1})
Der Energiegipfel bei Bundeskanzlerin Merkel am
Montag letzter Woche hat das Bild abgerundet. Man sitzt
gemeinsam im sicheren Boot und lässt die Verbraucherinnen und Verbraucher schwimmen. Mein Respekt gilt
an dieser Stelle Edda Müller vom Verbraucherzentrale
Bundesverband. Sie vertrat als Einzige die 39 Millionen
privaten Haushalte mit Bravour.
({2})
Machen wir uns nichts vor: Die Gästeliste spiegelt wider, wohin die Reise geht, nämlich zurück in die fossilatomare Steinzeit. Wenn die Kanzlerin keine andere
Energiepolitik will, dann sollte sie uns das sagen und
nicht so einen Zirkus veranstalten.
Die Investitionszusage der Konzernbosse ist unserer
Meinung nach eine Mogelpackung. Die 30 Milliarden
Euro waren schon lange vor dem Energiegipfel fest eingeplant, und zwar für die Ersetzung der maroden Kohleblöcke bzw. für die Neubauten, die von Umweltminister Gabriel über den Emissionshandel subventioniert
werden.
Hinzu kommt: Kein einziger Arbeitsplatz wird geschaffen. Die neuen Kraftwerke ersetzen zwar die alten
Dreckschleudern, werden aber nur mit einem Viertel des
Personals betrieben. Das bestätigen sogar die RWE-Betriebsräte. Dass die Großen der Branche die Investitionen nur in Aussicht stellen, darf sicherlich als Drohkulisse für die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken
verstanden werden; denn da kann man richtig verdienen:
300 Millionen Euro zusätzliche Einnahmen pro Jahr beschert die Verlängerung der Laufzeit eines einzigen
Atomkraftwerkes.
Die Branche der erneuerbaren Energien leistet als
Einzige einen echten Beitrag für eine zukünftige Energieversorgung. Der Anteil von Energie aus Sonne, Wind,
Wasser, Biomasse und Erdwärme soll in den nächsten
14 Jahren auf 20 Prozent steigen. Das bedeutet: Durch
den steigenden Anteil dieser heimisch erzeugten Energie
nimmt die Versorgungssicherheit zu. Mehr erneuerbare
Energien entlasten die Geldbeutel der Verbraucher. Sie
fangen die hoch drehende Preisspirale bei Öl und Gas
auf. Die CO2-Einsparung wird jährlich 270 Millionen
Tonnen betragen. Bis 2020 werden 330 000 neue Arbeitsplätze entstehen.
({3})
Es ist aber zu fragen, ob sich die erneuerbaren Energien tatsächlich durchsetzen können. Zurzeit werden sie
vom Energiekartell behindert, sei es beim Anschluss ans
Netz, sei es durch unzureichenden Ausbau der Stromtrassen, um zum Beispiel Windstrom einzuspeisen. Die
CDU/CSU stimmt in diesen Chor kräftig mit ein. Die
erste Strophe des Liedes lautet, das EEG müsse abgeschafft werden. Die zweite Strophe - wen wundert’s 2640
heißt, Atomkraftwerke müssten länger laufen. Eine
derart ideologische Polemik hat nun wirklich nichts mit
einer vernünftigen Energiepolitik zu tun.
({4})
Für eine bezahlbare, klimafreundliche und sichere
Energieversorgung müssen Sie schon etwas mehr tun:
erstens Energieeinsparung durch einen klaren ordnungsrechtlichen Rahmen, zweitens Umschalten auf erneuerbare Energien und drittens schnellstmöglicher Ausstieg
aus der gefährlichen Atomwirtschaft.
Unser Fazit: Die Energiewende fällt wegen Stillstands
aus und die Zeche zahlen die Bürgerinnen und Bürger.
Das ist der Gipfel!
Danke.
({5})
Das Wort hat der Kollege Franz Obermeier, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte nahtlos an die Rede des Parlamentarischen
Staatssekretärs Müller anschließen.
({0})
Denn er hat den Kern der gesamten Problematik exakt
getroffen, indem er die Analyse der globalen Herausforderung der vergangenen Jahre noch einmal erläutert und
uns deutlich gemacht hat, was wir in Zukunft in Europa
am globalen Energiemarkt zu erwarten haben.
Im Kontrast dazu stand die Rede der Kollegin Künast,
die den Blick wieder auf eine rein nationale Diskussion
der Fragen verengt hat, die wir schon in den vergangenen Jahren mit fatalen Folgen für das Land aus einer nationalen Betrachtungsweise hin- und hergewendet haben. Sie haben von einer Blockade gesprochen, Frau
Künast. Das stimmt, es gab eine Blockade Ihrerseits für
Investitionen in die richtige Richtung. Es gab aber unsererseits keine Blockade bei den erneuerbaren Energien,
speziell bei der Windkraft.
Die Politik hinsichtlich der gesamten Energieversorgung in der Bundesrepublik Deutschland ist durch die
grüne Ideologie in eine völlig falsche Richtung gegangen.
({1})
Jetzt kommt es durch die Initiative der Bundeskanzlerin
Gott sei Dank zu einer Diskussion, die in erster Linie
von Ideologiefreiheit geprägt ist.
({2})
Diese ist auch dringend notwendig, um unsere Ziele zu
erreichen.
({3})
Frau Künast, Sie haben die Verbraucher angesprochen. Was die Energiekosten für die Verbraucher angeht,
waren es doch die Grünen, denen die beim Endverbraucher anfallenden Kosten nicht hoch genug sein konnten.
Diese Linie haben Sie immer verfolgt. Jetzt aber präsentieren Sie sich als die großen Heilsbringer.
({4})
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung, Frau Künast.
Sie haben den mangelnden Wettbewerb in Deutschland
angesprochen. Warum haben Sie in den vergangenen
Jahren nichts unternommen, um nach 1998 den Wettbewerb im Stromsektor zu erhalten? Er ist nämlich deshalb
nicht erhalten geblieben, weil Sie die Gesetzgebung
nicht entsprechend nachjustiert haben.
({5})
Noch ein Punkt, Frau Künast: In der Tat - darin stimmen wir zufällig überein - kann der Energieverbrauch in
der Bundesrepublik Deutschland halbiert werden. Darin
gebe ich Ihnen Recht. Aber das geht mit einer Deindustrialisierung und dem Abbau von Arbeitsplätzen in der
Bundesrepublik Deutschland einher. Dann haben Sie Ihr
Ziel erreicht. Ihre Politik scheint mir nämlich nach wie
vor in eine Richtung zu führen, durch die Arbeitsplätze
verloren gehen und noch mehr profitable Industrieunternehmen aus Deutschland vertrieben werden.
({6})
Was mit dem Energiegipfel eingeleitet wurde, deutet
einwandfrei in die richtige Richtung. Es ist längst ein
Generalkonzept für die Bundesrepublik Deutschland und
Europa mit Blick auf die globale Entwicklung überfällig.
Deswegen sollten wir der Bundesregierung danken, dass
sie die Dinge jetzt in die Hand genommen hat.
({7})
Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt hinweisen.
Bei allen Entwicklungen der vergangenen Jahre war
nicht alles falsch. Aber der ökologische Aspekt wurde
nicht im gleichen Maße wie der ökonomische und der
soziale Aspekt berücksichtigt.
Vor dem Hintergrund der globalen Herausforderung
({8})
muss jetzt beispielsweise beim Zertifikatehandel zur
CO2-Minderung ein globaler Ansatz verfolgt werden.
Wir als CDU/CSU-Fraktion werden uns weiter für eine
effiziente CO2-Minderung dergestalt einsetzen, dass wir
unsere Mittel weltweit möglichst effizient zugunsten des
bestmöglichen Abbaus von Emissionen verwenden.
({9})
Die Blockade eines grünen Umweltministers, was JI und
CDM im Allgemeinen betrifft, gehört Gott sei Dank der
Vergangenheit an.
Ich bedanke mich bei der Bundeskanzlerin dafür,
({10})
dass sie die Initiative ergriffen hat. Sie wird mit Sicherheit Erfolg haben, wenn wir im Laufe dieses Jahres bzw.
Anfang nächsten Jahres in die Diskussion eintreten werden.
Herzlichen Dank.
({11})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege
Hans-Josef Fell.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Staatssekretär Müller, Sie wollen die Herausforderungen Klimaschutz und Versorgungssicherheit
in den Mittelpunkt stellen; das ist richtig. Aber bislang
reden Sie nur davon. Haben Sie noch nicht gemerkt, dass
Sie in der Regierung sind, dass Sie Antworten liefern
müssen und nicht nur Fragen stellen können?
({0})
Warum haben Sie die zentralen Fragen, die Sie zu Recht
gestellt haben, nicht in den Mittelpunkt des Energiegipfels gestellt? Das ist Ihr Versäumnis.
({1})
Wir müssen Antworten geben, und zwar andere als
die auf dem Energiegipfel. Stattdessen schieben Sie uns,
den Grünen, die wir in der letzten Wahlperiode eine erfolgreiche Energiepolitik gemacht haben, noch etwas in
die Schuhe, was nichts anderes als eine falsche Behauptung ist. Sie sagen, wir hätten die Effizienz nicht gesteigert. Wer hat denn die von uns ständig gestellten
Anträge auf Erhöhung der Mittel für das Altbausanierungsprogramm sowohl im Haushaltsausschuss als auch
im Plenum des Bundestages abgelehnt? Sie von der
SPD.
({2})
Ich bin gespannt, ob Sie in Zukunft den Anstieg der Gewinne der Energiekonzerne durch kostenlose Emissionszertifikate endlich stoppen werden und den Mut haben,
in ein Versteigerungsverfahren einzusteigen, anstatt wie
bisher die Zertifikate zu verschenken. Wir warten gespannt auf Ihre Antworten.
({3})
Der Energiegipfel ist ein Gipfel der verpassten Chancen. Statt Antworten zu geben, haben Sie von der SPD
an der klimaschädlichen Kohle und Sie von der Union an
der problematischen Kernenergie festgehalten.
({4})
Wo sind Ihre Antworten auf die gesellschaftlich relevanten Fragen, etwa wie man in Zukunft seine Wohnung bezahlbar beheizen kann - das ist für sozial Schwache inzwischen zu einem zentralen Problem geworden - oder
wie man den vielen Menschen in den ländlichen Räumen
helfen kann, die bald nicht mehr die Kosten für die Autofahrt zu ihrem Arbeitsplatz aufbringen können, weil
die Rohölpreise ständig steigen? Wir haben keine Antworten gehört.
({5})
Sie haben nur über Strom geredet, nicht aber über Heizoder Treibstoffe.
Oder die steigenden Strompreise: Alle wissen - die
Spatzen pfeifen es bereits von den Dächern -, dass der
durch die Energiekonzerne verhinderte Wettbewerb die
Strompreise ständig weiter nach oben treibt.
({6})
Sie sind auch hier Antworten schuldig geblieben und haben weiterhin Konzernpolitik gemacht.
Oder wo geben Sie Antworten, wenn es um die steigenden Ausgaben und die fehlenden Einnahmen im
Bundeshaushalt geht? Wir haben nichts von Ihnen dazu
gehört, wie Sie die Kohlesubventionen reduzieren wollen, um den Haushalt zu sanieren.
({7})
Wir haben von Ihnen nicht gehört, dass Sie endlich ökologisch schädliche Subventionen abbauen wollen. Wo
sind denn Ihre Antworten auf die Fragen nach einer
Flugbenzinbesteuerung, einer Schiffdieselbesteuerung
und einer Besteuerung der Rückstellungen für die Atomkraftwerke? Wenn Sie über fehlende Haushaltseinnahmen sprechen, dann schlagen Sie plötzlich eine Besteuerung der Biokraftstoffe vor. Dabei sind diese Kraftstoffe
eine der großen Zukunftshoffnungen auf bezahlbare
Energiepreise für die Bürger und Gewährleistung der
Versorgungssicherheit durch heimische Energieträger.
({8})
Mit der von Ihnen geplanten Mehrwertsteuererhöhung
werden Sie stattdessen den Bürger mit etwa 120 Euro für
Strom, Heizung und Treibstoffe pro Haushalt stärker
belasten. Meine Damen und Herren von der großen Koalition, das sind keine Antworten auf die gestiegenen
Energiepreise.
({9})
Außerdem sind Sie eine Antwort auf den Atomstreit
schuldig geblieben. Kanzlerin Merkel hat ihn einfach
weitertreiben lassen, obwohl im Koalitionsvertrag alles
klar festgelegt ist. Das ist ein großes Problem; denn
diese Hängepartie beim Atomausstieg wird weitergehen.
Sie wird ein Investitionshemmnis sein. Wir werden nach
2009 möglicherweise noch immer nicht wissen, wie es
weitergeht, ob die Branche der erneuerbaren Energien
ihr Versprechen halten kann, in den nächsten 15 Jahren
200 Milliarden Euro zu investieren.
({10})
Denn wenn Sie an der Atomenergie festhalten und es zulassen, dass neue fossile Kraftwerke gebaut werden,
dann wird das Volumen für den Ausbau der erneuerbaren
Energien und die Nutzung von Effizienzmöglichkeiten
verringert. Dann wird zu viel Strom auf dem Markt sein
und Chancen für die Schaffung von Arbeitsplätzen und
für Investitionen werden nicht mehr gegeben sein.
({11})
Dagegen hängen Sie sich an die uralten Versprechungen der Stromwirtschaft, die da 20 Milliarden Euro in
fossile Kraftwerke zu investieren verspricht. Das hatte
sie schon lange versprochen. Auch die 10 Milliarden
Euro für die Netze sind nichts Neues.
Kommen wir zum Schluss noch zur Forschung.
2 Milliarden Euro mehr wollen Sie für die Energieforschung ausgeben. Ich bin gespannt, ob Sie dieses
Versprechen zwischen der ersten Beratung des Bundeshaushaltes und der zweiten Beratung durch Änderungsanträge von Ihnen in den Ausschüssen und im Plenum
einhalten. Wenn nicht, dann wäre das ein leeres Versprechen. Denn was jetzt im Haushalt steht, das wissen wir.
Wenn die 2 Milliarden Euro neues Geld sein sollen, dann
müssen sie auch auftauchen. Dabei müssen wir auch
wissen, wofür das Geld ausgegeben wird.
({12})
Heute wird in der „FAZ“ Bundesministerin Schavan
zitiert. Sie hat angekündigt, dass im Atombereich nicht
nur für Sicherheits- und Endlagerforschung bezahlt werden soll, sondern auch für die Erforschung notwendiger
Energiegewinnung aus Kernkraftwerken. Damit ist die
Katze aus dem Sack: Sie wollen neue Atomkraftwerke in
diesem Staat. Das werden wir zu verhindern wissen.
({13})
Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann, SPDFraktion.
({0})
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Herr Fell, man muss irgendetwas haben, wogegen man kämpfen kann. Deswegen haben Sie jetzt die
Mär von den neuen Atomkraftwerken erfunden. Aber
wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen. Weder
die CDU/CSU noch die SPD hat ein solches Ziel formuliert. Es steht auch nicht auf einer „hidden agenda“. Sie
können sich gerne politische Gegner suchen. Aber jedenfalls an dieser Stelle ist das fehl am Platz.
({0})
Meine Damen und Herren, die Grünen haben diese
Aktuelle Stunde zum Energiegipfel gefordert. Sie haben
- das ist aus den Wortbeiträgen deutlich geworden große Erwartungen an diesen Gipfel geknüpft, die jetzt
offenbar enttäuscht worden sind. Wir dürfen diese großen Erwartungen als Kompliment empfinden. Wir selbst
haben so große Erwartungen, dass nämlich sofort, auf einen Schlag und an einem Tag Lösungen präsentiert werden, nie gehabt.
({1})
Das war eine eher naive und insofern - ich unterstelle Ihnen ja nicht Naivität - vorgeschobene Erwartung.
({2})
Es geht darum, einen Auftakt zu organisieren - das ist
gelungen -, einen Prozess hin zu einem Energieprogramm. Man muss eingestehen: Das haben wir beide zusammen jedenfalls nicht zustande gebracht.
({3})
Dieser Auftakt ist gelungen.
Eben ist behauptet worden, es seien nur die Energieversorgungsunternehmen eingeladen worden. Das ist natürlich völliger Unsinn. Genauso sind auch die energieverbrauchende Seite, die Wissenschaft und eigentlich
alle, die mit Energiewirtschaft oder -verbrauch oder
überhaupt mit der breiten Verbraucherschaft zu tun haben, eingeladen worden. Ich glaube, das kann man
durchaus an den Ergebnissen und an den Diskussionsthemen ablesen.
({4})
Es ist eben nicht nur über Versorgungssicherheit gesprochen worden. Es ist auch über Umweltverträglichkeit
und über Preiswürdigkeit gesprochen worden - wie gesagt, nicht mit unmittelbaren Ergebnissen bei allen Themen.
Unsere Fraktion begrüßt die Investitionsankündigungen sowohl für den konventionellen Kraftwerkspark als
auch für die erneuerbaren Energien und für die Netze.
Ich diffamiere das nicht, wie es einige Redner getan haben. Es ist auch Unsinn, wenn Sie, Herr Fell, behaupten,
dass Investitionen in konventionelle Kraftwerke dazu
führten, dass Investitionen in erneuerbare Energien unRolf Hempelmann
terblieben. Immerhin sind für beide Bereiche Ankündigungen auf dem Gipfel erfolgt. Sie werden nicht behaupten, dass die Ankündigungen der Unternehmen im
Bereich erneuerbarer Energien unseriös gewesen seien.
({5})
Diese Investitionsankündigungen sind schon deshalb zu
begrüßen, weil sie die Knappheit im Energie- und gerade
auch im Stromangebot verringern werden. In erster Linie
Knappheit verursacht hohe Preise und nichts anderes.
Jenseits dieser Investitionsankündigungen ist es notwendig, dass der Prozess hin zu einem Energieprogramm jetzt auch unter Beteiligung der Fraktionen organisiert wird. Es wird Zeit, dass wir sozusagen mit an
Bord kommen. Außerdem ist wichtig, dass die Politik
die notwendigen Rahmenbedingungen schafft, damit
diese Investitionen keine Ankündigungen bleiben, sondern tatsächlich stattfinden.
Wir brauchen sehr bald ein Planungsbeschleunigungsgesetz - es ist in Arbeit und wir werden es auch
vorlegen -, das diesen Namen verdient.
({6})
Wir brauchen zügig die Einigung zum NAP II - das ist
auch ein Stück weit Appell an die beiden Ministerien -,
damit wir als Parlament unseren Beitrag leisten können.
Nach der Sommerpause brauchen wir natürlich auch die
Verordnung zur Anreizregulierung; denn nur über mehr
Wettbewerb - das ist das Ziel der Anreizregulierung werden wir letztlich das Ziel erreichen, zu sinkenden
Strom- und Energiepreisen zu kommen.
Es ist wunderbar, ein Feindbild zu haben. Es ist wunderbar, immer auf den großen Unternehmen herumzuhacken. Zum Teil haben sich diese Unternehmen die Kritik
ehrlich erarbeitet. Manchmal trifft man durchaus die
richtigen dabei. Aber es ist eine grobe Vereinfachung, so
zu tun, als wenn allein die Beschimpfung der Großen
oder der eine oder der andere Nadelstich an der einen
oder an der anderen Stelle die Realität hoher Energiepreise verändern würde. Wir werden sie nur durch mehr
Wettbewerb verändern.
({7})
Da sind insbesondere die von uns gegründete Bundesnetzagentur und natürlich auch die Politik in Form des
Verordnungsgebers Bundesregierung - die Federführung
liegt beim Wirtschaftsministerium - gefordert.
Ich bin optimistisch, dass wir die notwendigen
Schritte gehen. Ich verstehe die Ungeduld der Grünen,
die daraus resultiert, dass sie schnelle Ergebnisse wünschen. Aber auch wir haben eine gewisse Zeit für das
Energiewirtschaftsgesetz und für die Installation dieser
Behörde gebraucht. Jetzt sollten wir in der Lage sein, so
viele Monate zu warten, wie gebraucht werden, um
Wettbewerb zur Realität zu machen.
Vielen Dank.
({8})
Als Nächstes spricht Katherina Reiche, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem Energiegipfel hat die Bundesregierung den
Startschuss zur Erarbeitung eines energiepolitischen Gesamtkonzepts gegeben. Das Ziel ist, eine bezahlbare,
eine sichere, eine wettbewerbsfähige und eine umweltfreundliche Energieversorgung bis zum Jahr 2020 sicherzustellen.
({0})
Die Betonung liegt auf „bis zum Jahr 2020“. Das heißt,
wir planen weit über diese Legislaturperiode hinaus.
In meinen Augen war der Energiegipfel ein Erfolg;
denn es ist gelungen, in einen sachlichen Dialog über die
Energiepolitik in unserem Land einzusteigen.
({1})
Herr Fell, das ist das Gegenteil von dem, was zu Zeiten
Ihrer Regierungsbeteiligung passiert ist.
({2})
Alte Grabenkämpfe, also das Ausspielen eines Energieträgers gegen den anderen, das Ausspielen von Umwelt gegen Wirtschaft, von Erzeuger gegen Verbraucher,
haben bei diesem Gipfel Gott sei Dank keine Rolle gespielt. Ich finde, das ist ein gutes Zeichen und es ist eine
gute Grundlage für die weitere Arbeit.
({3})
Die Investitionszusagen, die auf dem Energiegipfel
gemacht wurden, finde ich sehr begrüßenswert. Wie wir
wissen, reichen Zusagen allein nicht aus. Diese Zusagen
implizieren natürlich auch die Pflicht, Investitionen folgen zu lassen. Wir haben einen Investitionsstau zu verzeichnen, sowohl im Kraftwerksbereich als auch bei den
Netzen. Der Kraftwerkspark in Deutschland ist ein wenig in die Jahre gekommen. Er muss modernisiert werden. Wenn wir tatsächlich die effizientesten und
modernsten Kraftwerke entwickeln wollen, dann ist der
anstehende Erneuerungsbedarf nicht zu übersehen.
Aber es geht nicht nur darum, alte Kraftwerke zu ersetzen, sondern auch darum, neue zu bauen. Wir brauchen zusätzliche Stromkapazitäten im Markt, damit die
Preise bezahlbar bleiben und damit der dringend notwendige Wettbewerb gestärkt wird.
Das Ganze ist aber keine Einbahnstraße. Wenn wir
von der Wirtschaft erwarten, dass sie investiert, dann erwartet die Wirtschaft von uns zu Recht Verlässlichkeit,
Katherina Reiche ({4})
also eine Energiepolitik, die es ihr gestattet, wettbewerbsfähig zu bleiben.
({5})
Ich freue mich, dass auf dem Energiegipfel Investitionszusagen für die erneuerbaren Energien gemacht
wurden. Das ist ein ganz wichtiges Signal dafür, dass
sich die Förderung der erneuerbaren Energien für den
Wirtschaftsstandort Deutschland auszahlt. Bei den erneuerbaren Energien liegt - das ist heute mehrfach betont worden - ein enormes Innovations-, Wachstumsund Beschäftigungspotenzial. Sie werden uns mit Sicherheit helfen, unsere Importabhängigkeit langfristig zu
verringern. Sie leisten einen positiven Beitrag zum Klimaschutz.
({6})
Richtig ist aber auch, dass es noch weiterer Anstrengungen und technischer Fortschritte bedarf, weil die erneuerbaren Energien momentan noch nicht ohne Förderung am Markt bestehen können. Deshalb müssen wir in
Forschung und Entwicklung mehr tun.
Herr Kollege Fell, es ist eine bemerkenswerte Zusage
der Bundesregierung, finde ich, in den Bereichen Forschung und Innovation sowie Energieforschung 30 Prozent mehr auszugeben.
({7})
Wir reden hier immerhin von 2 Milliarden Euro bis
2009. Wenn das kein wichtiges und deutliches Signal ist,
Herr Kollege Fell, dann weiß ich nicht. In Ihrer Regierungszeit zumindest haben wir auf solche Zusagen warten müssen.
({8})
Wir müssen in der Sicherheitsforschung und bei der
Energieeffizienz vorankommen. Wir müssen Ressourcen
und Energie intelligenter nutzen.
Herr Kollege Fell, ich möchte Sie noch ein weiteres
Mal ansprechen. Sie haben gesagt: Angela Merkel hat
den Streit über das Thema Kernkraft beiseite gelassen
und hat dieses Thema nicht aufgenommen. - Das ist
falsch. Sie hat sehr wohl darauf hingewiesen, dass das,
was im Koalitionsvertrag steht, gilt, nämlich dass es einen Dissens gibt.
Erlauben Sie mir den folgenden Hinweis: Wenn der
Kernenergieanteil an der Stromversorgung derzeit
30 Prozent beträgt, dann kann man schlechterdings nicht
ausblenden, dass es so ist, wie es ist, weil wir - da wiederhole ich, was ich am Anfang meiner Rede schon gesagt habe - über die nächsten 25 Jahre reden müssen.
Wenn man die Strategie, die die Bundesregierung verfolgt, auf wenige Worte zusammendampfen müsste,
dann würde sie lauten: Es geht im Kern um fünf Dinge:
um Energiemärkte und Wettbewerb, um Erneuerung bei
den Kernkraftwerken, um Effizienzsteigerung, um Energieforschung und um erneuerbare Energien.
Von Henry Ford soll der Ausspruch stammen: Zusammenkunft ist ein Anfang, Zusammenhalt ist ein Fortschritt und Zusammenarbeit ist der Erfolg. - Das möchte
die Koalition. Das wird diese Bundesregierung unter Beweis stellen.
Vielen Dank.
({9})
Als Nächstes hat das Wort der Kollege Frank
Schwabe, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Ausstoß des
Treibhausgases Kohlendioxid ist im letzten Jahr in
Deutschland leicht zurückgegangen. Das ist gut so.
Weltweit befindet sich die CO2-Konzentration aber auf
einem Rekordniveau. Nur 1987 und 1998 gab es einen
höheren Anstieg der CO2-Emissionen.
Das war vor dem Energiegipfel so. Das ist leider auch
nach dem Energiegipfel so. Dass es aber nicht so bleibt,
war eines der Ziele des Energiegipfels. Deswegen ist es
gut, dass es den Energiegipfel gegeben hat.
({0})
Dass die Grünen natürlich relativ krabitzig Kritik
üben, kann ich nachvollziehen; dass sie versuchen, immer wieder einen Keil zwischen die Regierungsfraktionen zu treiben, ist auch nachvollziehbar.
({1})
Aber glauben Sie mir: Das werden wir mit einer gewissen Gelassenheit hinnehmen, weil wir wissen, für welche Energiepolitik wir eigentlich stehen. Wir werden
auch dafür sorgen, dass ein großer Teil dieser Energiepolitik umgesetzt wird.
Die Bundesregierung will bis Ende 2007 ein energiepolitisches Konzept für die Zeit bis 2020 vorlegen, das
- das ist schon gesagt worden - Versorgungssicherheit,
wettbewerbsfähige Energiepreise und wirksamen Klimaschutz miteinander verknüpft.
Im internationalen Klimaschutz gilt für Deutschland
- die Notwendigkeit hat der Herr Staatssekretär vorhin
schon eindrucksvoll geschildert -, aber auch für die anderen großen Kiotoländer: Wenn wir wollen, dass die anderen folgen, müssen wir weiterhin mit gutem Beispiel
vorangehen. Insbesondere für Deutschland gilt hierbei:
Wenn wir unserer Vorreiterrolle im internationalen Klimaschutz gerecht werden wollen, dann müssen wir uns
ehrgeizige Ziele setzen.
({2})
Deshalb haben sich CDU, CSU und SPD bereits im
Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, eine Reduktion der
CO2-Emissionen um mehr als 30 Prozent bis 2020 anzustreben, wenn sich denn die EU insgesamt zu einer Reduzierung um 30 Prozent verpflichtet. Dabei sollte uns
die von der Energie-Enquete-Kommission des Bundestages in der letzten Legislaturperiode geforderte Reduzierung um 40 Prozent bis 2020 und um 80 Prozent bis
2050 als Wegmarke dienen.
({3})
Auf dem Weg dahin brauchen wir einen Energiemix,
der klimaschonend, sicher und eben auch bezahlbar ist.
Dazu gehören erneuerbare Energien, eine höhere Energieeffizienz, eine stärkere Unabhängigkeit von Energieimporten, aber für eine bestimmte Zeit - Sie müssen
sonst die Frage beantworten, wie das anders gehen soll eben auch eine möglichst effiziente Nutzung der heimischen Stein- und Braunkohle.
({4})
Dabei ist die geplante Erneuerung des Kraftwerksparks
sowohl wirtschaftlich als auch klimapolitisch sinnvoll.
({5})
Allerdings muss die Errichtung solcher neuen Kraftwerke zwingend im Rahmen einer allgemeinen Effizienz- und Einsparstrategie erfolgen.
Es ist, wie es ist. Die Atomenergie ist aus unserer
Sicht nicht notwendiger Teil eines modernen Energiemixes und sie wird auch nicht Teil des zukünftigen Energiemixes sein, solange Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Regierungsverantwortung tragen. Da kann
ich die Grünen beruhigen.
({6})
Allein schon wegen der notwendigen Erneuerung des
Kraftwerksparks macht der vereinbarte Ausstiegsfahrplan Sinn, weltweit gesehen erst recht. Ich finde es geradezu rührend, wie die Chefs der großen Energieversorger, vermeintlich aus Sorge um den Strompreis und den
Klimaschutz, für eine Verlängerung der Nutzung der
Atomenergie eintreten, wohl wissend, dass sie bei beiden Themen ganz andere Schlüssel in der Hand halten.
({7})
Angesichts des minimalen Anteils der Atomenergie am
weltweiten Energieaufkommen wird klar, dass die
Atomenergie jedenfalls die Klimaproblematik nicht einmal im Ansatz lösen wird.
({8})
Apropos Strompreis - dazu ist gerade auch schon etwas gesagt worden -: In diesem Jahr wird uns der Emissionshandel in besonderer Weise beschäftigen. Er muss
so effizient sein, dass wir das Kiotoziel der CO2-Senkung bis 2012 um 21 Prozent erreichen. Es bleibt im
Rahmen des Emissionshandels ein dauerhaftes Ärgernis,
dass der Emissionshandel dazu dient bzw. dazu genutzt
wird, dass die großen Energieversorger sich zulasten von
Bürgerinnen und Bürgern sowie der Industrie die Taschen füllen. Das marktwirtschaftliche Instrument des
Emissionshandels muss im Bereich der Monopolstruktur
der großen Energieversorger eigentlich zwangsläufig
versagen. Es bleibt also unser Auftrag, den Emissionshandel mittelfristig so zu gestalten, dass er dem Klimaschutz dient und Mitnahmeeffekte der großen Energieversorger vermeidet.
({9})
Verehrte Damen und Herren, beim Energiegipfel ging
es um den zukünftigen Energiemix. Dabei ist die Geschichte der erneuerbaren Energien eine besondere Erfolgsgeschichte. Das wird besonders deutlich, wenn man
- ich habe gestern im Umweltausschuss die Gelegenheit
genutzt - noch einmal in den Protokollen von vor
20 Jahren nachliest, was damals bezüglich der Entwicklung der erneuerbaren Energien prognostiziert wurde. Da
haben nämlich viele gesagt, sie würden niemals
Marktreife erlangen. Jetzt sind wir nicht weit davon entfernt.
Dasselbe allerdings - da fand ich die Bemerkung in
Richtung der Grünen richtig - muss uns auch bei der
Energieeffizienz gelingen. Auch das muss eine Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland werden.
({10})
Das ist nicht nur klimapolitisch, sondern in hohem Maße
auch wettbewerbspolitisch geboten. Ein Mehr an Energieeffizienz macht uns günstiger, unabhängiger und innovativer. Gut, dass das jetzt eines der Schwerpunktthemen auf der Arbeitsebene ist.
Zusammengefasst: Der Energiegipfel war besser, als
manche erwartet haben, auch wenn sich einige ärgern.
Nun kommt es auf eine intensive Arbeit in den kommenden Monaten an. Die Voraussetzungen dafür sind jetzt
geschaffen.
Vielen Dank.
({11})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Philipp
Mißfelder das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Der Energiegipfel ist in zweierlei Hinsicht ein großer Erfolg gewesen. Darauf möchte ich in
meinen weiteren Ausführungen eingehen. Zunächst
möchte ich allerdings den Grünen ganz herzlich danken,
dass wir diese Erfolge am heutigen Tage hier deutlich
machen können. Vielen Dank, dass Sie diese Aktuelle
Stunde beantragt haben
({0})
und sie nutzen, damit Sie lernen, wie wir die Energiepolitik der Zukunft gestalten wollen.
Der Energiegipfel ist nicht nur deshalb ein Erfolg,
weil er, wie von meinen Vorrednern ausgeführt, tatsächliche Ergebnisse für die zukünftige Energiepolitik bringt,
sondern auch, weil er sozusagen den Anfang vom Ende
einer ideologiegeprägten Energiepolitik in unserem
Land darstellt. Das war am Montag der Fall.
({1})
Die Entscheidung, einen Energiegipfel an den Beginn
der Legislaturperiode zu stellen, war richtig; denn es war
überfällig, der Energiepolitik in Deutschland wieder eine
verlässliche Basis zu geben und sich damit einer entideologisierten Diskussion zu stellen, die wirklich sinnvoll
ist. Denn tatsächlich ist es das allgemeine Anliegen des
Hauses, auch in Zukunft Energiesicherheit zu gewährleisten. Wir sind unserer Bundeskanzlerin Angela
Merkel dankbar, dass sie als eine ihrer ersten Maßnahmen diesen Energiegipfel einberufen hat. Mit dieser Initiative hat die Bundeskanzlerin bereits am Beginn ihrer
Amtszeit klar gemacht, dass die Energiepolitik eines der
Hauptthemen der großen Koalition ist.
({2})
Das entspricht im Übrigen auch der Lebenswirklichkeit
der Privathaushalte und der deutschen Wirtschaft. Deswegen war es so wichtig, dieses Thema auf die Tagesordnung zu setzen.
({3})
Mit dem Energiegipfel wurde der Grundstein für ein
energiepolitisches Gesamtkonzept gelegt. Ein Ergebnis
des Energiegipfels ist die Einrichtung von Arbeitsgruppen; der Herr Staatssekretär hat es vorhin ausgeführt.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich in
Deutschland die Stimmungslage der Bevölkerung verändert. Die Sensibilität für das Thema Energiepolitik
wächst. Dies ist in erster Linie auf das Steigen der Energiepreise zurückzuführen und zeigt sich in den Diskussionen über dieses Thema innerhalb der Familien.
Dass sich etwas an der Stimmungslage verändert hat,
sieht man an den aktuellen Umfragen. Am Dienstag meldete dpa, dass die Mehrheit der Deutschen inzwischen
eine Verlängerung der Laufzeiten für deutsche Kernkraftwerke befürwortet.
({4})
- Herr Tauss, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie dazwischenrufen; denn genau an dieser Stelle hatte ich Ihren
Zwischenruf in meiner Rede eingeplant.
({5})
- Der Fernsehsender N24 hat eine Emnid-Umfrage in
Auftrag gegeben. Aber unabhängig von den politischen
Konsequenzen, die man daraus ziehen kann, sieht man
an diesen Umfragewerten eindeutig, dass sich im Bewusstsein der Bevölkerung etwas verändert hat. Deswegen muss die Politik Antworten auf diese wichtigen Fragen finden.
({6})
Die Ursachen für die steigenden Energiepreise in
Deutschland - darüber haben wir schon diskutiert - sind
in erster Linie die schwindenden Reserven an herkömmlichen Energieträgern wie Öl, Kohle oder Gas.
({7})
Deswegen ist es richtig, dass wir versuchen, auf Dauer
ausgerichtete Antworten auf die drängenden Fragen zu
finden. Eine Frage ist, wie wir auf den Energiehunger
der aufstrebenden Wirtschaftsmächte China, Indien und
Brasilien in Zukunft reagieren wollen und wie wir Energiesicherheit für die nächsten Jahrzehnte gewährleisten
können. Dabei können und wollen wir uns aber auf
Dauer keinen deutschen Sonderweg leisten. Deswegen
ist es richtig, dass der Energiegipfel Perspektiven bietet,
wie in Zukunft die Energiepolitik aussehen soll.
({8})
Am Ende jahrelanger ideologiebelasteter Diskussion
um Energiepolitik- vor allen Dingen die Grünen haben
sich auf diesem Feld betätigt - wird ein schlüssiges Konzept stehen, das dazu führen wird, dass auch die Industrie in unserem Land endlich verlässlichere Rahmenbedingungen vorfinden wird.
Sie fragen in dem Titel der Aktuellen Stunde nach
dem Beitrag des Gipfels zur Energieversorgungssicherheit. Diese Frage möchte ich Ihnen an dieser Stelle gerne
beantworten. Die Bundesregierung wird als Ergebnis des
Energiegipfels die Mittel für die Energieforschung deutlich aufstocken. So werden wir im Zeitraum von 2006
bis 2009 etwa 2 Milliarden Euro in neue Energietechnologien investieren.
({9})
Die erneuerbaren Energien auch in Zukunft wirtschaftlich sinnvoll zu stärken, ist einer der wichtigsten Punkte,
die wir sehen.
({10})
Der Energiegipfel war ein großer Erfolg. Die Arbeitsgruppen werden jetzt ihre Arbeit aufnehmen. Wir sind
mit dem Ergebnis vom Montag zufrieden und freuen
uns, dass wir heute so ausführlich darüber sprechen
konnten.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Tabillion, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Diese Aktuelle Stunde ist ein guter Auftakt für die Beschäftigung
des Deutschen Bundestages mit energiepolitischen Themen im Vorfeld der Erstellung eines energiepolitischen
Programms, das bis 2015 - oder besser noch: mindestens
20 Jahre - gelten soll.
Das Parlament war in den Gipfel nicht eingebunden.
Umso größer sollte unser Ehrgeiz sein, uns jetzt in die
Diskussion der kommenden Wochen einzubringen. Jeder, der hier vorgetragen und seine Vorstellungen entwickelt hat, ist eingeladen, das auszugestalten, was auf
dem Gipfeltreffen angekündigt worden ist.
({0})
Ich glaube, dass es in diesem Haus eine ausreichende
Grundübereinstimmung bei den energiepolitischen Themen gibt, die in den nächsten vier Jahren im Zentrum der
Beschäftigung des Deutschen Bundestages stehen werden. Das gilt insbesondere dafür, dass wir energiepolitische Rahmenbedingungen schaffen müssen, die weit
über die Legislaturperiode und weit über das, was wir
politisch mit der CDU/CSU vereinbart haben, hinausgehen. Das gilt insbesondere auch für die angekündigten
Milliardeninvestitionen in die Kraftwerks- und die Netzinfrastruktur. Diese Investitionen, auf die wir alle schon
lange warten, werden nur dann fließen, wenn es keine
Hintertür für kurzfristige und ebenso kurzsichtige Profite
ohne Investitionen gibt.
In diesem Zusammenhang war es wichtig, dass Bundeskanzlerin Merkel auf dem Gipfel deutlich gemacht
hat, dass sie zur Vereinbarung zum Ausstieg aus der
Atomenergie steht.
({1})
Ich möchte in Richtung der Grünen deutlich machen: Es
gibt überhaupt keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass
die SPD nicht am Ausstieg aus der Atomenergie festhält.
Sie sollten das Lager derjenigen, die die Atomenergie
ablehnen, nicht durch derartige Reden, wie sie heute gehalten worden sind, versuchen zu spalten.
({2})
Lassen Sie mich einige Anmerkungen zu dem Prozess
machen, der jetzt beginnt und bis ins nächste Jahr andauern wird. Ich glaube, dieses Projekt kann nur gelingen,
wenn wir diejenigen, die mit uns gehen sollen, als Partner betrachten. Die großen Energieversorgungsunternehmen gehören ebenso dazu wie die Regionalversorger, die
Stadtwerke und andere Akteure. Man kann sie nicht ausschließen. Sie sind wichtig, wenn wir uns energiepolitisch auf internationaler Ebene bewegen wollen und
dafür sorgen wollen, dass energie- und unternehmenspolitische Entscheidungen noch in Deutschland fallen.
Deshalb sollten wir sie nicht als Gegner sehen, sondern
sie mit ins Boot nehmen. Wir sollten aber darauf achten
und sie dazu zwingen, dass sie die Dinge, die sie tun,
transparent machen und dass sie sich ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung klar werden.
({3})
Das Wichtigste ist Effizienz; das ist heute schon oft
gesagt worden. Es ist falsch, den Leuten vorzumachen,
die Preise für Energie könnten sinken. Das werden wir in
den kommenden Jahren nicht erleben. Dazu sind die
Rohstoffpreise zu hoch. Sie werden sich deutlich nach
oben entwickeln. Es sind nicht nur die Wettbewerbsstrukturen hier im Land, die dazu beitragen, dass die
Energie teurer wird. Insbesondere die Rohstoffpreise
sind dafür verantwortlich. Deshalb werden wir die Entwicklung nicht stoppen können. Effizienz ist umso wichtiger, als wir über Effizienz dafür sorgen können, dass
unsere Kosten, obwohl die Preise steigen, dadurch, dass
wir aus den Energieträgern mehr herausholen und weniger in die Luft blasen, stabil bleiben oder sogar sinken.
({4})
Deutschland ist Vorreiter beim Klimaschutz und bei
der Entwicklung und Vermarktung der Technologie der
erneuerbaren Energien. Wir sind auch Vorbild beim Einsatz dieser Energiearten in unserem Land. Das wollen
wir auch bleiben.
Es ist in dem anstehenden Diskurs allerdings eine Herausforderung für uns, dafür zu sorgen, dass die volkswirtschaftlichen Kosten, die dabei entstehen, begrenzt
werden. Wir müssen im Rahmen der jetzt zu führenden
energiepolitischen Debatte die Instrumente hinterfragen,
mit denen wir fördern, und die Technologien, die wir
fördern. Das kann nicht ausbleiben; das muss man immer kritisch sehen, etwa die Frage, welche Lehren aus
dem bisherigen Verlauf des Emissionshandels zu ziehen
sind. Auch das muss man hinterfragen, wenn man eine
neue Phase beginnt.
({5})
Eine realistische Beurteilung der Potenziale ist
ebenso wichtig wie eine Risikostreuung im Energiemix.
Wenn wir bis 2020 das ambitionierte Ziel, 25 Prozent
des Strombedarfs regenerativ zu decken - und bis 2050
sogar 50 Prozent oder mehr -, erreichen wollen, dann
können wir die konventionell bereitgestellten Energiearten nicht ausblenden. Denn dann müssen wir noch immer 50 Prozent der Energie konventionell erzeugen.
Deshalb ist es völlig unrealistisch, gleichzeitig aus der
Atomenergie und der Kohle auszusteigen.
({6})
Da ich aus einem Kohleland komme und mich intensiv
und lange mit diesen Fragen befasst habe und weiß, dass
keine andere Subvention für eine Energieart so sehr ge2648
kürzt worden ist wie die für die Kohle, muss ich Ihnen
sagen, dass wir in Zukunft an dem Bodenschatz, den wir
unter unseren Füßen haben und der nach meiner Einschätzung in den kommenden Jahrzehnten deutlich wertvoller werden wird, in einer bestimmten Größenordnung, die wir vereinbaren müssen, festhalten müssen.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich glaube, Energieerzeugung aus Kohle in Verbindung mit der Technik, die Kohle klimaunschädlich zu
verarbeiten und umzuwandeln - sie ist inzwischen vorhanden -, ist verantwortbar.
Herr Kollege!
Deshalb möchte ich darum bitten, dass wir die Kohle
in Zukunft als Teil des Energiemixes betrachten, über
dessen Definition wir uns jetzt unterhalten. Das wäre ein
guter Einstieg dieses Hauses in die energiepolitische
Diskussion. Wir sollten uns daran beteiligen
Herr Kollege, Ihr letzter Satz geht jetzt schon über
fast zwei Minuten.
- und unser Wissen und unser Engagement einbringen, damit es ein gutes Programm wird.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Christoph Pries, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat diese
Aktuelle Stunde beantragt. Als zuständiger Berichterstatter der SPD-Fraktion beschäftige ich mich mit Ihrer
Frage nach dem Beitrag des Energiegipfels zur Verringerung der Gefahren durch Atomkraft.
Die Atomenergie ist noch genauso gefährlich bzw.
genauso sicher wie vor dem Gipfel. Die Positionen der
Beteiligten zur Atomenergie haben sich nicht verändert.
Die Vereinbarung zum Atomausstieg gilt weiterhin.
({0})
Jetzt könnte ich schon zum Schluss kommen. Aber da
alle Kolleginnen und Kollegen der Koalition heute frohe
Botschaften verkünden dürfen, möchte ich natürlich
nicht zurückstehen.
({1})
Zunächst hat die Koalition all diejenigen enttäuscht,
die gehofft hatten, der Streit über die Atomenergie
würde den Gipfel überschatten. Ganz im Gegenteil: Ein
Gipfelteilnehmer kam sogar zu dem Schluss, SPD und
CDU hätten beim Thema Atomenergie Einigkeit demonstriert. So weit würde ich vielleicht nicht gehen. Am
Montag sind aber vor allem die Themen diskutiert worden, die aus unserer Sicht für die Zukunft der Energieversorgung in Deutschland entscheidend sind. Für uns
heißt das: Energieeffizienz, erneuerbare Energien, Erneuerung der Kraftwerke und Emissionshandel.
Es gibt aber noch eine weitere positive Botschaft. Auf
ausdrückliche Nachfrage von Bundesumweltminister
Gabriel haben die Energieversorgungsunternehmen ihre
Vertragstreue im Bereich des Atomausstiegs unterstrichen. Sie werden auch dann mit der Bundesregierung
zusammenarbeiten, wenn es beim Atomausstieg bleibt.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt diese Ankündigung ausdrücklich. Zukünftiges Handeln werden wir an
dieser Zusage messen.
Für die SPD-Bundestagsfraktion ist klar: Eine Übertragung von Reststrommengen von neuen Atomkraftwerken auf alte Atomkraftwerke lehnen wir ab.
({2})
Eine solche Übertragung widerspricht dem Geist des
Atomkonsenses. Sie widerspricht auch dem Geist des
Koalitionsvertrages, der dem sicheren Betrieb der Atomkraftwerke absolute Priorität einräumt.
Worum geht es bei der Forderung nach Verlängerung
der Restlaufzeiten? Ein Artikel in der „Financial Times
Deutschland“ hat das am Montag ganz freimütig auf den
Punkt gebracht:
Für die Antragsteller geht es um Milliarden. Die
Meiler sind längst abgeschrieben, die Betriebskosten gering, und die Gewinnmargen wären sensationell, wenn die Reaktoren länger laufen dürften.
Das Ziel von Unternehmen ist es, Gewinne zu machen.
Das ist legitim. Schön wäre es allerdings, wenn die Energieversorger es in diesem Fall auch offen zugeben würden.
({3})
Die Diskussion über die Laufzeiten der Atomkraftwerke hat leider noch eine andere Folge. Sie vergiftet
das Klima für dringend benötigte Zukunftsinvestitionen
im Energiesektor.
({4})
Wer
- so hieß es gestern in der „Süddeutschen Zeitung“ wagt schon im großen Stil neue Kraftwerke, wenn
er nicht weiß, wie viele der riesigen Reaktoren am
Ende des Jahrzehnts noch billige Konkurrenz machen oder nicht?
({5})
Es wäre geradezu ein Befreiungsschlag für die Energiepolitik in Deutschland, wenn die Betreiber unserer
Atomkraftwerke endlich aufhörten, ständig auf die
nächste Bundestagswahl zu starren. Erweisen Sie sich,
erweisen Sie uns und erweisen Sie vor allem unserem
Land einen Dienst. Begreifen Sie endlich - in parlamentarischen Demokratien verhält es sich wie im Fußball -:
Egal, wie die Bundestagswahl 2009 ausgeht. Nach der
Wahl ist vor der Wahl.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung eines Parlamentarischen Beirats
für nachhaltige Entwicklung
- Drucksache 16/1131 -
b) Beratung der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung
Bericht des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung
({0})
- Drucksache 15/5942 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierfür eine
Dreiviertelstunde Debatte vorzusehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat das Wort
der Kollege Dr. Günter Krings, CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Dieses Haus will heute ein parlamentarisches Gremium aus der 15. Wahlperiode erneut einsetzen, das den Titel „Parlamentarischer Beirat für nachhaltige Entwicklung“ tragen soll. Dieses Gremium - das
sollten wir zu Beginn der Debatte freimütig bekennen ist ein Fremdkörper unter den Ausschüssen des Deutschen Bundestages. Es wird für diesen Beirat auch in der
aktuellen Wahlperiode nicht einfach werden, die Anliegen einer nachhaltigen Entwicklung, der Generationengerechtigkeit und der politischen Zukunftsverantwortung erfolgreich in das eingespielte Räderwerk des
Parlamentsbetriebes einzuspeisen. Nicht von ungefähr
hatten wir uns als Unionsfraktion vor etwas mehr als
zwei Jahren einen Zukunftsausschuss als Alternative zu
diesem Beirat vorstellen können. Dieser seinerzeitige
Vorschlag und der Nachhaltigkeitsbeirat, den wir heute
einsetzen wollen, haben allerdings ihre zentrale Aufgabenstellung gemeinsam: Sie schaffen ein Gremium im
Deutschen Bundestag, das sich explizit als Frühwarneinrichtung für politische Fehlentwicklungen versteht, das
die Interessen künftiger Generationen im Blick behält
und notfalls auch gegen die Interessen der jetzt Lebenden verteidigt.
({0})
Der Bundestag hat über 20 Ausschüsse und zehn Unterausschüsse. Die Mitglieder der allermeisten von ihnen
verstehen sich natürlich auch als eine politische Lobby
für ihr jeweiliges Themenfeld, für ihr Interessengebiet.
Allein den künftigen Generationen fehlt ein solcher
parlamentarischer Fürsprecher.
Die Zukunft ist jedenfalls ohne eine institutionalisierte Lobby im Parlament. Auf diesen Missstand wies
bereits vor einem Vierteljahrhundert der deutsch-amerikanische Philosoph Hans Jonas hin. Der in meiner Heimatstadt Mönchengladbach gebürtige Jonas schrieb in
seinem Epoche machenden Werk „Das Prinzip Verantwortung“ schon 1979:
Die „Zukunft“ aber ist in keinem Gremium vertreten; sie ist keine Kraft, die ihr Gewicht in die Waagschale werfen kann. Das Nichtexistente hat keine
Lobby und die Ungeborenen sind machtlos. Somit
hat die ihnen geschuldete Rechenschaft vorerst
noch keine politische Realität im gegenwärtigen
Entscheidungsprozess hinter sich, und wenn sie sie
einfordern können, sind wir, die Schuldigen, nicht
mehr da.
Das Neue am Thema Nachhaltigkeit ist demnach die
Forderung nach Gerechtigkeit für kommende Generationen, also für Menschen, die noch gar nicht existieren.
Natürlich vermag ein parlamentarischer Beirat die
Gesetzmäßigkeiten der demokratischen Repräsentation
nicht außer Kraft zu setzen. Mit dem Nachhaltigkeitsbeirat erhalten wir indes ein Instrument, mit dem wir die inzwischen weithin anerkannten Ideen der Generationengerechtigkeit und der Nachhaltigkeit in den politischen
Entscheidungsprozess wirksam einbringen können. Die
Arbeit des Nachhaltigkeitsbeirats ist - um noch einmal
mit Hans Jonas zu sprechen - damit zugleich ein Testfall
für die „Kraft der Ideen im politischen Körper“.
Es wird uns aber nur gelingen, die Lücke der fehlenden Vertretung der Zukunft und der künftigen Generationen in der Politik zu schließen, wenn wir die Themen des
Beirates nicht zu eng verstehen. Das hat bereits früh eine
von der UN-Vollversammlung eingesetzte Kommission,
die so genannte Brundtland-Kommission, deutlich gemacht. Laut ihrem Abschlussbericht aus dem Jahre 1987
ist eine Entwicklung dauerhaft bzw. nachhaltig, wenn
sie, wie es in dem Bericht heißt, die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen
können.
Es geht hiernach primär also nicht um die Bedürfnisse
der Natur, sondern um die Bedürfnisse der Menschen,
die, genau wie wir heute, auch in 30 oder 60 Jahren ihren
Lebensstil wählen möchten und nicht die bloßen Objekte
kurzsichtiger Entscheidungen von heute werden dürfen.
Nachhaltigkeit berührt ganz wesentlich auch ökologische Fragestellungen. Fehlen den nachkommenden Generationen schon die natürlichen Ressourcen, so sind
ihnen dadurch wesentliche Entfaltungsmöglichkeiten
unwiderruflich genommen.
Nachhaltigkeit bedeutet aber nicht nur, dass unser
ökologisches Kapital nicht zulasten künftiger Generationen aufgezehrt werden darf, sondern verlangt ebenso
den Erhalt des wirtschaftlichen und sozialen Kapitals.
Der Begriff Nachhaltigkeit hat seit seiner Entstehung
- übrigens in der Forstwirtschaft des 18. Jahrhunderts eine erhebliche Erweiterung erfahren. Moderne Definitionen schließen eine stabile wirtschaftliche Entwicklung und eine generationengerechte Verteilung der Lebenschancen ausdrücklich in seine Anwendungsbereiche
ein. So ist es längst Allgemeingut der Nachhaltigkeitsdebatte geworden, dass die Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft auch in Zukunft auf ein solides Wirtschaftswachstum angewiesen ist.
Von diesem dreidimensionalen Begriff der Nachhaltigkeit muss sich auch der Parlamentarische Beirat für
nachhaltige Entwicklung bei seiner Arbeit leiten lassen.
Die wirtschaftliche, die soziale und die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit gilt es miteinander in Einklang zu bringen. Für den Beirat ist das eine ebenso ambitionierte wie spannende Aufgabe, der wir uns gerne
stellen.
({1})
Der entscheidende Prüfstein für eine generationengerechte und damit nachhaltige Politik ist die Sanierung
unserer maroden Staatshaushalte. Angesichts dramatisch
schrumpfender Geburtenjahrgänge war die Schuldenpolitik der letzten Jahre und Jahrzehnte nicht länger nur
finanzpolitisch unsolide, sondern hat zwischenzeitlich
auch den Charakter eines moralischen Problems erhalten. Mit welchem Recht machen die vergleichsweise
vielen von heute Schulden zulasten der wenigen von
morgen? Wer die Zukunft offen und gestaltbar halten
will, darf es nicht hinnehmen, dass der auf 1,4 Billionen
Euro angewachsene Berg der Staatsschulden weiter
wächst. Die neue Koalition unter Kanzlerin Angela
Merkel und Finanzminister Peer Steinbrück hat endlich
ein Umdenken eingeleitet. Dessen Fortgang und seine
Ergebnisse wird der Nachhaltigkeitsbeirat des Deutschen Bundestages sehr sorgfältig beobachten und beeinflussen.
Um die Sinnhaftigkeit dieses Beirats zu begreifen, ist
es wichtig, festzuhalten, dass unsere Staatsschulden keineswegs gegen die Interessen der Bürger unseres Landes
gemacht worden sind. Der überwiegende Teil rührt aus
einer Politik sozialer Transferleistungen, die mit der Betonung des Sozialstaatsprinzips zugleich einseitig die Interessen der jetzt Lebenden favorisiert hat. Nachhaltige
Politik verlangt im Zweifel den Mut zu unpopulärer
Politik. Wer die Interessen nachrückender Generationen
schützen will, muss im Einzelfall bereit sein, Gegenwartsinteressen zurückzustellen.
({2})
Ein ernstes Hindernis für generationengerechte und
nachhaltige Politik stellen heute nicht nur die 1,4 Billionen Euro direkte Staatsschulden dar. Nach sehr vorsichtigen Schätzungen kommt mindestens der doppelte
Betrag hinzu, der als implizite Staatsschuld in unseren
sozialen Sicherungssystemen schlummert. Eine Rentenund eine Pflegeversicherung, die jeden Tag Ansprüche
begründen, die innerhalb des lohnabhängigen Umlagesystems niemals befriedigt werden können, sind daher
kein Beispiel für Nachhaltigkeit. Die Politik hat sich bis
vor wenigen Jahren kaum darum gekümmert, wie Arbeitnehmer und Arbeitgeber mit diesen Ansprüchen in
Zukunft zurechtkommen. Auch damit wurde das Gegenteil von Generationengerechtigkeit praktiziert. Generationengerecht und nachhaltig ist eine Sozialpolitik nur
dann, wenn sie auch für zukünftige Generationen soziale
Sicherheit gewährleistet.
({3})
Auch hier wartet also eine sehr wichtige Aufgabe auf
den Nachhaltigkeitsbeirat. Hätte es ihn bereits in den
90er-Jahren gegeben, wären die Chancen auf eine solidere Finanzierung der damals neu eingeführten Pflegeversicherung aus meiner Sicht deutlich größer gewesen.
Die jüngsten Beschlüsse der Bundesregierung zur
schrittweisen Hebung des Renteneintrittsalters, aber
auch zur Förderung junger Familien weisen den Weg in
die richtige Richtung.
({4})
Sie werden auch den Mitgliedern des Nachhaltigkeitsbeirats Mut machen, dass wir dem Ziel einer nachhaltigen und generationengerechten Politik im Schulterschluss zwischen Parlament und Regierung Schritt für
Schritt näher kommen.
Eines, liebe Kolleginnen und Kollegen, will ich zum
Abschluss betonen: Es muss im gemeinsamen Interesse
unseres Hauses liegen, die Vorsorge für künftige Generationen als zentrale Politikaufgabe nirgendwo anders als
hier im Deutschen Bundestag zu verankern. So wie die
Parlamente im 19. Jahrhundert das Budgetrecht gegen
die Exekutive erkämpft haben, müssen sie jetzt, im
21. Jahrhundert, dafür Sorge tragen, dass in Fragen der
vorsorgenden Umwelt-, Sozial- und Haushaltspolitik die
entscheidenden Maßstäbe im Parlament gesetzt werden.
Nur die direkt gewählte Vertretung unseres Volkes besitzt die notwendige Legitimationskraft, um von den
jetzt Lebenden den Verzicht auf Konsum zugunsten
nachrückender Generationen verlangen zu können.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Frau Präsidentin, ich wollte gerade meinen letzten
Satz beginnen. - Es ist daher sinnvoll und richtig, dass
es mit dem heute einzusetzenden Nachhaltigkeitsbeirat
nun endlich in der Mitte unseres Parlaments eine Lobby
für künftige Generationen geben wird.
Danke schön.
({0})
Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Michael
Kauch.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachhaltigkeit braucht eine institutionelle Verankerung in
diesem Parlament. Deshalb hat die FDP bereits in der
vergangenen Wahlperiode gemeinsam mit SPD und
Bündnis 90/Die Grünen die Einrichtung eines solchen
Parlamentarischen Beirats - damals gegen den Widerstand der Union - durchgesetzt. Wir begrüßen, dass die
Union ihre Haltung geändert hat und nun auch zu den
Antragstellern gehört.
({0})
Der Parlamentarische Beirat hat trotz seiner eingeschränkten parlamentarischen Rechte in der vergangenen Wahlperiode sehr erfolgreich und konstruktiv gearbeitet. Wir konnten uns fraktionsübergreifend - auch
über die Grenzen von Opposition und Regierung
hinweg - auf gemeinsame Ziele für die Zukunft einigen.
Das ist wichtig, weil die entscheidenden Zukunftsfragen
einen Zeithorizont haben, der weit über den üblichen
Wechsel der Regierungen in einer parlamentarischen
Demokratie hinausreicht.
Einen Grundkonsens herauszuarbeiten, ohne die Unterschiede im Detail zu verwischen, das war die Stärke
des Nachhaltigkeitsbeirates in der vergangenen Wahlperiode. Ich möchte an dieser Stelle den Kolleginnen und
Kollegen aus dem letzten Beirat für die gute Zusammenarbeit ganz herzlich danken.
({1})
Ich erinnere an die gemeinsame Stellungnahme zum
Fortschrittsbericht 2004 der Bundesregierung. Hier
wurde vieles im Konsens beschlossen, so die gemeinsame Forderung nach einer regelmäßigen Erstellung von
Generationenbilanzen und die Einführung eines Nachhaltigkeitschecks in der Gesetzesfolgenabschätzung. Wir
haben in der vergangenen Wahlperiode darüber geredet.
In dieser Wahlperiode kommt es darauf an, die Dinge im
Detail so voranzutreiben, dass wir sie hier im Parlament
umsetzen können.
Aufgrund der Vorarbeiten, die in der letzten Wahlperiode geleistet wurden, kann sich der Beirat nun direkt
dort an die Arbeit machen, wo der letzte Beirat mit seiner Arbeit aufhören musste, nämlich bei den geplanten
Anhörungen zu den Auswirkungen des demografischen
Wandels auf die Infrastruktur und zum Thema Generationenbilanzen.
Denn was bedeutet eine immer älter werdende und
zugleich regional unterschiedlich schrumpfende Bevölkerung für die künftige Infrastruktur? Welche Straßen
und welche öffentlichen Gebäude werden zukünftig
noch oder anders gebraucht? Welche Wohnformen brauchen wir? Was muss sich qualitativ in der Verkehrsplanung ändern? Es stellt sich auch die Frage, ob bei Strom
oder Abwasser weiter flächendeckend in eine Netzinfrastruktur investiert werden soll oder ob regional dezentrale Lösungen möglicherweise eine sinnvolle Alternative sind. Darauf wollen wir mit den Experten in den Anhörungen Antworten finden und dann dem Parlament
Lösungen vorschlagen.
Wir brauchen regelmäßige offizielle Generationenbilanzen für Deutschland, um ein besseres Bewusstsein
für die Auswirkungen des täglichen Handelns und langfristiger Politik für kommende Generationen zu schaffen. Generationenbilanzen verdeutlichen diese Auswirkungen, indem sie auf der einen Seite die Leistungen
und auf der anderen Seite die Belastungen, die heutige
Politik kommenden Generationen hinterlässt, ausweisen.
Wir wollen von den Experten hören, wie solche Generationenbilanzen konkret aussehen können und wer sie erstellen soll.
({2})
Diese Themen sind essenzielle Zukunftsfragen und
haben auch in der neuen Wahlperiode nicht an Bedeutung verloren. Die Bundesregierung wird noch in diesem
Jahr ihren Fortschrittsbericht 2006 zur Nachhaltigkeitsstrategie vorlegen. Vier Jahre nach Verabschiedung der
ersten Nachhaltigkeitsstrategie müssen einige Dinge
grundsätzlich auf den Prüfstand gestellt werden, zum
Beispiel die Indikatoren für die Zielerreichung.
Ein Beispiel: Der Indikator für die Zielerreichung bei
der Inanspruchnahme von Flächen zu Siedlungs- und
Verkehrszwecken konzentriert sich momentan, auf ganz
Deutschland berechnet, auf ein 30-Hektar-Reduktionsziel. Das stellt aber nicht auf die tatsächlich genutzte
Fläche ab, sondern auf die beplante Fläche. Das bedeutet, dass man bei der Renaturierung einer Industriebrache den gemessenen Flächenverbrauch in keiner Weise
senkt, wenn nicht auch der Bebauungsplan geändert
wird. Ob das unter Gesichtspunkten ökologischer Nachhaltigkeit sinnvoll ist, wage ich zu bezweifeln.
({3})
Deshalb müssen wir die Indikatoren auf ihre Zielsicherheit überprüfen. Dabei müssen beispielsweise der Flächenverbrauch, die Zerschneidung von Landschaft, die
Versiegelung von Böden und die regionale Verteilung
der Flächeninanspruchnahme zugrunde gelegt werden.
Nehmen wir das Beispiel Kriminalität: Die Nachhaltigkeitsstrategie misst die Kriminalität in Deutschland
heute anhand der Zahl der Wohnungseinbrüche. Ich erinnere mich nicht daran, dass wir in diesem Parlament in
der letzten Zeit sehr viel über Wohnungseinbrüche diskutiert haben. Wir haben aber beispielsweise sehr viel
über Jugendgewalt diskutiert. Warum also soll dieser Indikator nicht im Hinblick auf diesen zentralen Bereich
des Zusammenhalts unserer Gesellschaft verändert werden? Diesen Fragen müssen wir uns gemeinsam stellen.
Kollege Krings hat es angesprochen: Die maroden
Staatsfinanzen sind einer der größten Angriffe auf die
Generationengerechtigkeit. Die letzte Bundesregierung
hat es abgelehnt, die Staatsfinanzen zu einem Schwerpunkt der Nachhaltigkeitsstrategie zu machen. Ich bin
gespannt, ob Sie mit dem Fortschrittsbericht 2006 umsteuern und die finanzielle Nachhaltigkeit entsprechend
den Ankündigungen des Kollegen Krings tatsächlich zu
einem Schwerpunkt machen. Das wäre den kommenden
Generationen zu wünschen.
({4})
Deutschland muss zukunftsfähiger und generationengerechter werden. Dazu gehört der verantwortungsvolle
Umgang mit den natürlichen Ressourcen, aber auch mit
den finanziellen Ressourcen, also mit unseren Staatsfinanzen und Sozialsystemen. Wir brauchen ein Verständnis von Wohlstand und Lebensqualität, das sich an
langen Zeiträumen und nicht an Legislaturperioden von
vier Jahren orientiert.
In diesem Sinne freut sich die FDP-Bundestagsfraktion auf die Debatten im Parlamentarischen Beirat für
nachhaltige Entwicklung. Wir hoffen, dass seine Aussagen und Empfehlungen auch in der tatsächlichen Gesetzgebung ihren Nachhall finden.
Vielen Dank.
({5})
Als Nächster erhält das Wort der Kollege Dr. Matthias
Miersch, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist, glaube ich, ein sehr positives Signal, dass wir
nach den teilweise hitzigen Debatten, die wir heute Morgen über die Rente und die Energiepolitik - und somit
auch über Fragen der Nachhaltigkeit - geführt haben,
nun fast alle der Meinung sind, dass die Einrichtung des
Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung
wichtig ist.
Mit der Bildung dieses Parlamentarischen Beirats setzen wir einen Weg fort, der von der alten Bundesregierung begonnen worden ist. Bereits im Jahre 1992 hat
sich die internationale Staatengemeinschaft auf der Konferenz der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro zum
Leitbild der nachhaltigen Entwicklung bekannt. Im
Jahr 2002 hat die rot-grüne Bundesregierung unter dem
Titel „Perspektiven für Deutschland“ die nationale Strategie für eine nachhaltige Entwicklung beschlossen.
Auch der Koalitionsvertrag zwischen SPD, CDU und
CSU sieht als Ziel und Maßstab des Regierungshandelns
die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene vor.
An der breiten Unterstützung für die Einrichtung des
Parlamentarischen Beirats wird deutlich, dass wir ein gemeinsames Ziel verfolgen. Ich glaube, das, was meine
Vorredner betont haben, ist richtig: Aus dieser Gemeinsamkeit ergeben sich für dieses Gremium Chancen, sowohl was die Form der Zusammenarbeit als auch was
den Inhalt betrifft.
Wir sitzen alle im selben Boot. Nun haben wir die
Möglichkeit, in diesem Gremium unabhängig von der
Alltagspolitik mittel- und langfristige Politikansätze zu
entwickeln. Diesen gemeinschaftlichen Ansatz sollten
wir in den Mittelpunkt der Arbeit rücken. Bei dieser Arbeit dürfen wir nicht - Herr Kauch hat das zu Recht angesprochen - auf bevorstehende Wahlen schielen.
Ebenso darf sie nicht von plötzlichen Ereignissen geprägt sein, auf die die Politik immer nur reagiert. Wir
müssen in diesem Beirat vielmehr in eine aktive Rolle
kommen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Arbeit muss
so angelegt sein, dass sie auch unter anderen Koalitionsbedingungen fortgesetzt werden kann und nicht von
knappen Mehrheiten abhängig ist; das ist zumindest unser Ziel. Deshalb muss unsere Arbeit darauf gerichtet
sein, die Beschlüsse nach Möglichkeit gemeinsam zu
fällen. Gleichzeitig darf der Begriff der Nachhaltigkeit
nicht zur Worthülse gelangen - wie in manchem Werbeslogan heute. Der Beirat ist insbesondere Anwalt nachfolgender Generationen. Herr Kollege Krings, ich
stimme Ihnen voll zu: Dieser Beirat muss auch unbequem sein, er muss die nachfolgenden Generationen im
Blick haben und kann sich nicht nur an gegenwärtigen
Interessen orientieren.
({1})
Mit der Einsetzung des Parlamentarischen Beirates
im Januar 2004 hat der Deutsche Bundestag erstmals aktiv in diesen Dialog eingegriffen. Ich möchte mich im
Namen der SPD-Fraktion an dieser Stelle ganz herzlich
bei den Mitgliedern des letzten Beirates für ihre Arbeit
bedanken. Diese Arbeit hat den Boden bereitet, auf dem
wir jetzt aufbauen können. Im Bericht des Beirates vom
7. September 2005 wird eine positive Bilanz gezogen,
aber gleichzeitig werden auch Schwächen benannt: zum
Beispiel die fehlende formale Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren oder die geringe Anzahl der Beiratsmitglieder. Die Anzahl der Beiratsmitglieder ist erhöht worden, sodass der Aufbau eines Berichterstattersystems
möglich ist. Die Stellung des Beirats hat sich dagegen
nicht wesentlich verändert. Ich meine, dass wir alle hier
gefordert sind: Der Beirat darf keine Alibiveranstaltung
werden. Die Verzahnung mit den Fachausschüssen ist
vorhanden. Es wird an uns als handelnden Personen liegen, welche faktische Stellung der Beirat erhält.
({2})
Ich habe die Hoffnung, dass die große Bedeutung der
Nachhaltigkeit in diesem Haus allgemein anerkannt wird
und wir keine formale Absicherung dafür brauchen, damit wir tatsächlich Gehör finden.
({3})
Der letzte Beirat hatte sich vor der Ankündigung der
Neuwahlen vorgenommen, wichtige Themen vorzubereiten bzw. anzugehen, zum Beispiel die demografische
Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Infrastruktur oder auch die Frage der Generationengerechtigkeit.
Die Vorbereitungen sind gemacht. Wir sind aufgerufen,
diese Themen nun aufzugreifen und ihre Behandlung
fortzusetzen.
Vier Aspekte sollten aus meiner Sicht Säulen unserer
zukünftigen Arbeit sein. Erstens: der interdisziplinäre
Ansatz. Wir haben in diesem Beirat die Chance, fächerübergreifend Nachhaltigkeitsprinzipien zu entwickeln
und zu vertreten. Gleichzeitig kann dadurch ein ausschussübergreifender Einfluss geltend gemacht werden;
Grenzen einzelner Ressorts können überwunden werden.
Zweitens. Wir können über den Tellerrand hinausblicken und mit den Ländern und den Kommunen und auch
mit den Parlamenten anderer Staaten zusammenarbeiten.
Wir alle wissen: Zur Lösung elementarer Probleme sind
heute häufig globale Strategien gefragt, nicht nur im Umweltbereich. Die Arbeit des letzten Beirats hat gezeigt,
dass man voneinander lernen kann. So verweist der Beirat
zum Beispiel auf Schweden und Finnland, wo mit Generationenbilanzen - Herr Kauch hat es angesprochen - die
Belastungen und Leistungen für nachfolgende Generationen politikübergreifend dargestellt werden können und
so ein Nachhaltigkeitscheck eingeführt werden kann.
Dritte Säule: Teilhabe- und Kommunikationsplattform. Der Dialog mit gesellschaftlichen und politischen
Initiativen außerhalb des Parlaments ist meines Erachtens eine weitere wichtige Säule, die wir nutzen sollten.
Viertens. Letztlich gilt es die Chancen der Nachhaltigkeitsstrategie zu betonen. Es wird an uns liegen, immer
wieder darauf hinzuweisen, dass in einer Nachhaltigkeitsstrategie enorme Chancen liegen, dass Umweltvorsorge
und soziale Gerechtigkeit wichtige Voraussetzungen für
unser Wachstum darstellen und Ökologie, Ökonomie und
Soziales keine Gegensätze sind. In allen drei Bereichen
liegen Bausteine für eine zukunftsfähige Entwicklung unseres Staates. Auf dieser Grundlage sollten wir die Arbeit
aufnehmen. Viel Arbeit liegt vor uns - wir freuen uns darauf.
Vielen Dank.
({4})
Als Nächster hat das Wort der Kollege Lutz
Heilmann, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Über Nachhaltigkeit wird in diesem Haus viel gesprochen. Selbst die Bundesregierung behauptet ständig,
dass ihre Politik nachhaltig ist.
Was aber ist Nachhaltigkeit? Nachhaltigkeit ist ein
Leitbild, eine regulative Idee. Daraus ergibt sich für unser Handeln eine prinzipielle Anweisung, dieses so zu
organisieren, dass wir nicht auf Kosten der Natur, anderer Menschen, anderer Regionen oder anderer Generationen leben.
({0})
Es geht also um eine faire Abwägung der ökologischen
Anforderungen und der sozialen Gerechtigkeit mit den
wirtschaftlichen Erfordernissen und deren gleichberechtigte Berücksichtigung. Dazu gehört auch, die Teilhabe
von Bürgerinnen und Bürgern auszubauen. Die Demokratisierung alltäglicher politischer Entscheidung ist untrennbar mit einer nachhaltigen Entwicklung verbunden.
Erfüllt die Mehrheit dieses Hauses mit ihrer Politik
diesen Anspruch? Ich meine: Wohl kaum. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, der SPD, der
FDP und dem Bündnis 90/Die Grünen, Sie richten sich
mit Ihrer Politik einseitig an den Interessen der Wirtschaft aus. Ökologische und soziale Belange bleiben zumeist auf der Strecke.
({1})
Deswegen ist die Bundesrepublik Deutschland international schon lange kein Vorreiter im Umweltschutz mehr
und nimmt die soziale Spaltung der Gesellschaft stetig
zu. Ich nenne einige Beispiele:
Die geplante Aufweichung des Kündigungsschutzes
führt dazu, dass immer mehr Menschen die Zukunft unsicherer erleben werden. Durch die Agenda 2010 - insbesondere Hartz IV - werden noch mehr Menschen in
Armut gebracht.
({2})
Durch die Kürzung der Renten - wir haben es heute Vormittag diskutiert - wird vielen Menschen ein würdiges
Leben im Alter genommen. Der ohnehin windelweiche
Atomausstieg wird ständig infrage gestellt, obwohl die
Gefahren der Atomkraft nicht beherrschbar sind. Zur Erinnerung: In diesen Tagen jährt sich die Katastrophe von
Tschernobyl zum 20. Mal. Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU: Übernehmen Sie
die politische Verantwortung, wenn es in der Bundesrepublik Deutschland zu einem GAU kommt? Herr
Mißfelder, Ihre Einlassung von eben schreibe ich ganz
einfach Ihrem jugendlichen Alter zu. Mit 22 Jahren unterlag auch ich noch solchen Irrtümern.
({3})
Durch die Föderalismusreform wird im Umweltrecht ein Kompetenzwirrwarr geschaffen, durch den der
Umweltschutz auf das Abstellgleis abgeschoben wird.
Der Naturschutz wird de facto auf dem Altar der Wirtschaft geopfert. Anstatt die Beteiligungsrechte auszubauen, sollen diese durch das Planungsbeschleunigungsgesetz systematisch abgebaut werden. Die Bürgerinnen
und Bürger sowie die Verbände sind in ihren Augen anscheinend lästige Querulanten, die die Arbeit der Behörden behindern.
Das alles geschieht für die Steigerung der Unternehmensgewinne, insbesondere der der großen Konzerne.
Die Linke wird daher auch in Zukunft für eine Politik
stehen, die die Bezeichnung „nachhaltig“ verdient. Auch
im Beirat für nachhaltige Entwicklung werden wir ein
Garant dafür sein, dass die soziale und die ökologische
Frage nicht wie so oft hinten herunterfallen.
({4})
In Sonntagsreden einer nachhaltigen Entwicklung das
Wort zu reden und im Plenumsalltag das Gegenteil zu
tun, geht nicht zusammen. Darauf werde ich und wird
unsere Fraktion die Menschen aufmerksam machen.
Zum Beirat der letzten Legislaturperiode will ich nur
anmerken, dass der neue Beirat sowohl aufgrund der
zahlenmäßigen Aufstockung als auch durch das Ausscheiden der bisherigen Vorsitzenden wirklich ein völlig
neuer Beirat sein wird. Wir können aber nicht einfach da
weitermachen, wo Sie in der letzten Legislaturperiode
aufgehört haben. Ohne alles infrage stellen zu wollen,
beansprucht unsere Fraktion ein Mitspracherecht bei der
Auswahl der künftig zu behandelnden Themen.
Die Rechte, die Sie dem Beirat zugestehen wollen,
reichen nicht aus. Ich befürchte, dass der Beirat erneut
nur ein zahnloser Tiger sein wird. Einen neuen Debattierklub ohne politischen Einfluss braucht dieses Land
allerdings nicht.
({5})
Unser Anspruch ist es, die Politik des Bundes zu beeinflussen, damit sie wirklich nachhaltig wird.
Im Übrigen finde ich es bedauerlich, dass Sie meinten, den vorliegenden Antrag ohne uns einbringen zu
müssen. Dies ist umso enttäuschender, weil es doch das
Prinzip einer nachhaltigen Entwicklung ist, gemeinsam
und im Konsens aller Beteiligten nach Lösungen zu suchen. Diese gemeinsame Suche haben Sie bereits vor
Beginn unserer Arbeit schwer belastet. Trotz seiner beschränkten Rechte unterstützen wir die Schaffung eines
parlamentarischen Gremiums, das sich über die nachhaltige Entwicklung Gedanken macht.
({6})
Daher müssen Sie damit rechnen, dass auch die
„Schweinebande“, wie uns kürzlich der Kollege Grindel
von der CDU/CSU nannte, dem Antrag zustimmen wird.
({7})
Das ersparen wir Ihnen nicht.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege
Winfried Hermann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ganz persönlich und für meine Fraktion möchte
ich sagen, dass wir uns freuen, heute den Parlamentarischen Beirat zum zweiten Mal im Deutschen Bundestag
fraktionsübergreifend einzurichten.
({0})
Ich will mich ausdrücklich bei denen in der Koalition
bedanken, die sich dafür eingesetzt haben; denn es war
nicht selbstverständlich, dass dem Wunsch des Beirates
aus der letzten Legislaturperiode nach Fortsetzung seiner
Arbeit von der neuen Koalition Rechnung getragen wird
und sich dafür wieder eine Mehrheit findet. Ich weiß,
dass einige von Ihnen in Ihren Fraktionen und insbesondere bei Ihren Geschäftsführern dafür kämpfen mussten.
Es war gut, dass Sie das getan haben; darüber freuen wir
uns. Ich sage das ganz ohne Häme, weil ich weiß, dass
wir in den zwei Legislaturperioden zuvor auch mit unserer rot-grünen Mehrheit durchaus Schwierigkeiten hatten, einen solchen Beirat einzurichten.
Warum eigentlich? Der Kollege Krings hat gesagt, ein
solcher Beirat sei in diesem Parlament ein Fremdkörper.
Ich möchte ihn gerne leicht korrigieren und erklären: Er
wird von manchen Geschäftsführern und anderen traditionellen Parlamentariern als ein Fremdkörper empfunden.
({1})
Das ist der Fehler. Auch im Parlament muss ein Bewusstsein dafür entstehen, dass wir im parlamentarischen Verfahren neue institutionelle Formen brauchen,
um die neuen großen Herausforderungen und Querschnittsaufgaben neu und anders anzugehen.
({2})
- Danke schön.
({3})
Das haben wir hiermit angestrebt und erreicht.
Es wäre allerdings schön gewesen, wenn dem
Wunsch entsprochen worden wäre, dem Beirat mehr
Kompetenzen zu geben. Gerade die Vertreter der Jungen
Union haben sich für eine Art Zukunftsausschuss mit
erweiterten Kompetenzen stark gemacht, sodass man
auch die Gesetzgebung der anderen Ausschüsse hätte
kommentieren können. Bedauerlicherweise hat der Geschäftsführer der CDU/CSU dies verhindert, sodass dies
nicht durchgesetzt werden konnte. Wir werden aber gemeinsam mit Ihnen dranbleiben; denn auf Dauer muss
dieser Beirat mehr sein und erweiterte Kompetenzen erhalten.
({4})
Der Beirat hat in der letzten Legislaturperiode - er
hatte nur knapp zwei Jahre Zeit - gezeigt, dass ein parlamentarischer Ort zur Beteiligung an der nationalen
Nachhaltigkeitsstrategie dringend notwendig ist. Zwar
heißt es gemeinhin, dass sich alle Ausschüsse mit Nachhaltigkeit beschäftigen, und es wird gefragt, warum es
überhaupt noch einen Beirat geben muss. - Es hat sich
jedoch gezeigt: Wenn es keine institutionelle Verankerung dieses Themas gibt, dann ist die Gefahr groß, dass
es unter den Tisch fällt.
Wir haben dafür gesorgt, dass in die Nachhaltigkeitsstrategie weitere Themen aufgenommen worden sind,
zum Beispiel die Energieversorgungsstruktur - das haben wir vorher debattiert -, neue Kraftstoffe, neue Antriebssysteme. All das sind Initiativen des Beirats zur
Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung. Ein anderes Thema - das wurde lange unterschätzt - sind die
Potenziale älterer Menschen. Aber auch dieses Thema
ist in die Nachhaltigkeitsstrategie aufgenommen worden. Dies war ebenfalls ein Impuls aus dem Beirat.
Wir haben also tatsächlich auf eine ganze Reihe von
inhaltlichen Punkten aufmerksam machen können. Was
mir auch wichtig ist: Wir haben gezeigt, dass es im Parlament möglich ist, einen inhaltlichen Diskurs zu führen
und sogar hart in der Sache zu streiten, ohne sich ständig
persönlich zu beleidigen. Wir haben darüber hinaus klar
gemacht, dass man bei Zukunftsfragen in einem fraktionsübergreifenden Konsens zu gemeinsamen Positionen kommen kann. Kollege Kauch, Sie haben es gesagt:
Dabei kann man an der einen oder anderen Stelle auch
deutlich machen, dass es Unterschiede gibt. Das soll im
Beirat nicht vertuscht werden.
Zu den neuen Themen. Wir haben vorgeschlagen
- das ist von verschiedenen Rednern und Rednerinnen
aufgegriffen worden -, das Thema demografischer
Wandel und Infrastruktur aufzugreifen, aber eben
nicht in klassischer Form, sondern im Sinne von Generationenbilanzen, also eines sehr grundlegenden Ansatzes.
Wenn Kollege Krings feststellt, die Parlamente hätten
bisher in der Haushalts- und Finanzpolitik zu selten an
die nachfolgenden Generationen gedacht, dann muss
man auch fragen, ob bei der Infrastrukturplanung
richtig und grundlegend nachgedacht wurde. Zum Beispiel stellt sich die Frage, ob die Infrastruktur, die wir
uns leisten, auch in zehn oder 20 Jahren noch bezahlbar
und zukunftsfähig ist. Auch solche Fragen werden wir
aufgreifen müssen.
Das gilt auch für die Indikatoren. Es gibt eine Reihe
von Indikatoren, die sehr traditionell sind und wenig
über die Zukunftsfähigkeit unserer Politik aussagen. Ich
halte es für notwendig, an dieser Stelle weiter zu differenzieren und zu debattieren.
Das richte ich auch bewusst an den Kollegen der
Linkspartei, mit dem ich die Auffassung teile, dass man,
wenn man einen neuen diskursiven Politikansatz wagt,
nicht eine Fraktion ausgrenzen darf. Das muss mit dem
heutigen Tag beendet sein. Was den Antrag angeht, haben wir das noch durchgehen lassen. Ab heute sind Sie
aber in der Debatte mit dabei.
Dann ist allerdings die Erwartung an Sie angemessen,
dass Sie auch Ihre eigene Politik einem Nachhaltigkeitscheck unterziehen und nachfragen, ob Ihre Sozialpolitik
nachhaltigkeitstauglich ist. Auch das muss angegangen
werden.
({5})
Sie sehen, es gibt eine Menge zu tun.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir haben uns einiges vorgenommen. Wir haben Vorschläge zu einem neuen Beirat vorgelegt. Die Grünen
werden sich konstruktiv an diesem Dialog beteiligen.
Darüber hinaus muss aber auch klar sein, dass auf diesen
Dialog eine praktische Politik folgt und dass in diesem
Hause verstärkt nachhaltige Politik gemacht wird.
Vielen Dank.
({0})
Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege
Dr. Andreas Scheuer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass ich es erleben darf, dass der
Kollege Hermann die Junge Union für einen Vorstoß
lobt. Ich bedanke mich ausdrücklich für diese Auszeichnung in diesem Hohen Haus.
Sie haben mir aber auch eine Steilvorlage für die
Fraktion Die Linke gegeben, Kollege Hermann. Bei der
Ausgrenzung kommt es ganz darauf an: Wenn sich die
Linke bei den Themen selbst ausgrenzt - das wurde bei
dieser Rede deutlich -, dann hoffen meine Kolleginnen
und Kollegen von CDU und CSU alle zusammen, dass
die Linksfraktion keine nachhaltige Erscheinung in diesem Hause sein wird. Es wird sich zeigen, ob Sie in diesem Beirat konstruktiv mitarbeiten werden.
({0})
Ein Vorwurf an uns Politiker lautet immer wieder,
dass wir nur in Legislaturperioden bzw. in Vierjahreszeiträumen denken können. Ich denke, die Einsetzung
des Parlamentarischen Beirates ist ein Beweis dafür,
dass wir langfristig denken und über den Tellerrand hinausschauen. In der nächsten Legislaturperiode wird
sich die Wichtigkeit dieses Beirats dadurch erweisen, ob
plötzlich alle Kollegen bei der Besetzung der Ausschüsse und Beiräte als erste Priorität diesem für die
nachhaltige Entwicklung so wichtigen Gremium beitreten wollen. Ich denke, wir können in diesem Hohen
Haus zeigen, dass wir zukunftsfähige und zukunftsfeste
Politik machen.
Ich schließe mich der Formulierung der Jungen
Gruppe der CDU/CSU-Fraktion an, die den Beirat als
Zukunftsausschuss bezeichnet hat. Herr Kollege Kauch,
wir haben uns letztes Mal deswegen nicht beteiligen
können, weil wir einen anderen Weg wählen wollten. Insofern halte ich an dem Begriff „Zukunftsausschuss“
fest.
Der Begriff „Nachhaltigkeit“ ist häufig strapaziert
worden. Ich kann zwar mit dem philosophischen Ansatz
meines Kollegen Krings nicht mithalten,
({1})
rufe aber trotzdem in Erinnerung, dass der Begriff der
Nachhaltigkeit 1713 von Carl von Carlowitz bezogen
auf den Waldbau und die Landwirtschaft eingeführt
wurde.
({2})
Ich erinnere aber auch daran, dass in der Folgezeit in
der Vergangenheit unseres Landes viele nachhaltige politische Entscheidungen getroffen wurden. Ich darf drei
Beispiele nennen. An erster Stelle ist die Nachhaltigkeit
der politischen Entscheidungen unter Bismarck mit der
Einführung der Sozialsysteme zu nennen. Wir sind
jetzt gefordert, die Sozialsysteme so zu reformieren, dass
sie zukunftsfest werden.
Der zweite Punkt ist: Nach dem Zweiten Weltkrieg
hat Ludwig Erhard die Entscheidung für die soziale
Marktwirtschaft getroffen. Sie hat unser Land und unseren Standort geprägt. Nun steht vielleicht eine neue
Ausrichtung der sozialen Marktwirtschaft an. Die Union
hat in den letzten Jahren auf diesem Gebiet schon sehr
viel parteiprogrammatische Arbeit geleistet. Vielleicht
können wir die neue Ausgestaltung der sozialen Marktwirtschaft auch im Parlamentarischen Beirat thematisieren.
Der dritte Punkt ist: Unter der Führung von Helmut
Kohl wurde die Entscheidung für ein vereintes
Deutschland getroffen. Das hat ebenfalls unser Land
geprägt.
Nun stehen wir an einer Wegscheide. Die Auswahl
der Themen im Parlamentarischen Beirat wird für die
Gestaltung der Zukunft durch politische Entscheidungen
wesentlich sein. Ich denke, es handelt sich hierbei um
eine Querschnittsaufgabe. Wir, die Mitglieder des Parlamentarischen Beirats, müssen uns die Frage stellen, wo
Schnittmengen bestehen. Das sollten wir in den ersten
Sitzungen analysieren. Die Vorleistungen in der letzten
Legislaturperiode haben dazu schon einiges beigetragen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang ein paar Beispiele
nennen. Wir müssen uns - das wurde heute noch nicht
vertieft; ich schließe mich grundsätzlich den Plänen, der
Themenauswahl und den Analysen an - mit der gesellschaftspolitischen Frage nach der Abwanderung junger
Menschen in verschiedenen Regionen unseres Landes,
vor allem in den neuen Bundesländern, und mit der
Frage nach der Chancengerechtigkeit für junge Menschen beschäftigen. Wie muss das Leben ausgestaltet
werden, wenn sich die Gesellschaft in den betroffenen
Regionen aufgrund der Tatsache verändert, dass nur
noch Ältere da sind?
In diesem Zusammenhang geht es auch um Innovationen im medizinischen Hochtechnologiebereich. Wie
muss in Zukunft die Betreuung älterer Menschen aussehen, wenn es nicht mehr genügend junge Menschen
gibt? Können wir die Abwanderung stoppen? Unsere
Aufgabe sollte sein, das zu analysieren. Es gibt sehr
viele Sozialraumgutachten, die wir dabei verwenden
können.
({3})
Es werden auch einige Verkehrspolitiker Mitglieder
des Beirates sein. Für sie sind insbesondere Fragen nach
der Infrastruktur und der Mobilität von Bedeutung.
Sicherlich werden wir andere Schwerpunkte setzen als
die Grünen. Wir brauchen aber eine Themenpalette, mit
der alle leben können. Ich pflichte dem Kollegen von
den Grünen bei, dass wir im Beirat die Themen fraktionsübergreifend erörtern sollten. Ich hoffe, dass wir
entsprechende Beschlüsse fassen werden.
Bildung, Forschung und Innovation sind Punkte, die
mir besonders am Herzen liegen. Wer sich - wie ich gestern - das T-Com-Einfamilienhaus in der Leipziger
Straße, das komplett auf Hightech umgestellt wurde, anschaut, der weiß, welche Fragen sich in diesem Bereich
stellen. Wie sehen die neuen Lebensformen und die VerDr. Andreas Scheuer
netzungen aus? Man wird sich auch fragen müssen, vor
welchen neuen Herausforderungen man im Bereich
Bauen und Wohnen steht. Hier wartet sehr viel Arbeit
auf uns.
Ein weiterer Punkt sind die Fragen betreffend die
Integration. Hier werden die Differenzen zwischen den
Fraktionen am größten sein. Wir werden uns anschauen
müssen, welche Fehler gemacht wurden. Wir werden
uns sicherlich mit den Grünen über das Scheitern der
Multikultigesellschaft streiten. Aber ich bin überzeugt,
dass wir zu Ergebnissen kommen werden, die sich sehen
lassen können.
Ich appelliere: Wir sollten fraktionsübergreifend versuchen, die Themen fein säuberlich zu gliedern und die
Kollegen aus den einzelnen Fachbereichen mit guten Argumenten zu versorgen. Ich freue mich jedenfalls auf die
Arbeit.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Zum Abschluss dieser Debatte hat das Wort der Kollege Heinz Schmitt, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist natürlich nicht ganz einfach, als letzter
Redner einer Debatte, in der durchweg Konsens besteht,
etwas Neues zu sagen. Ich freue mich genauso wie
meine Vorredner darüber, dass es uns auch in der
16. Legislaturperiode gelungen ist, den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung einzurichten.
({0})
Lieber Kollege Scheuer, ich möchte die Debatte und
die Arbeit ohne Vorbehalte gegen die Linken und die
Grünen beginnen. Wir sollten uns an der Sache orientieren, bar jeglicher Ideologien und Blicke zurück. Es sollte
ausschließlich um die Inhalte gehen. Egal wer sich konstruktiv beteiligt, wir sollten von vornherein die Zusammenarbeit und nicht die Abgrenzung zum Ziel haben.
Sie alle haben zu Recht darauf hingewiesen, dass
Nachhaltigkeit mehr als Ökologie und mehr als Klimapolitik ist. Sie haben darauf hingewiesen, dass nachhaltige Entwicklung im globalen Dorf wie auch hier bei uns
in Deutschland unverzichtbar ist. Es gibt heute keine Politikbereiche mehr - wenn es überhaupt jemals welche
gab -, in denen man alleine vor sich hin wursteln konnte.
Die Aufgaben heißen Vernetzung, Abschätzung der Folgen und Visionen für die Zukunft. Das alles gehört in einer verantwortungsvollen, also in einer nachhaltigen Politik zusammen. Im Bereich der Medizin spricht man
sehr oft von ganzheitlicher Betrachtung. Wir brauchen
eine ganzheitliche Betrachtung der Erde und unserer
Aufgaben im Zusammenhang dessen, was wir zu beraten
und zu beschließen haben.
({1})
In diesem Sinne wird dieser Beirat Stellung beziehen.
Er wird beraten, anregen, nachhaltige Entwicklung fördern und vorantreiben. Wir brauchen den Erfahrungsaustausch mit anderen Ländern und Volkswirtschaften.
Wir sollen und müssen Menschen und Organisationen
mitnehmen, die sich über die Politik hinaus für die nachhaltige Entwicklung engagieren. Der Beirat wird einen
wichtigen Beitrag dazu leisten, nachhaltige Ziele im parlamentarischen Geschehen zu verankern.
Dabei ist der Beirat selbst, streng genommen, weniger
nachhaltig; denn wenn er erfolgreich arbeitet, wenn sich
also Politik grundsätzlich an den Leitlinien der nachhaltigen Entwicklung ausrichtet, dann macht er sich - ich
sage es einmal positiv - selbst überflüssig. Aber ich
denke, das wird noch eine Zeit lang dauern, bis wir so
weit sind.
Oftmals steht beim Thema „nachhaltige Entwicklung“ das Ökologische noch im Vordergrund. Aber wir
haben es heute schon mehrfach gehört: Nachhaltige Entwicklung geht weit über Ökologie hinaus. Es geht um
gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Belange.
Es geht auch um Bildung - das haben Sie gesagt, Herr
Scheuer - und um die Verbesserung unseres Schulsystems. Es geht darum, mehr Arbeitsplätze für Jugendliche
zu schaffen. Es geht um eine erstklassige Forschung und
Lehre an Hochschulen, lebenslanges Lernen und die
Qualifizierung von älteren Arbeitnehmern. Es geht um
Soziales und Familie. Es geht in einer Gesellschaft, die
immer älter wird, um eine gute Gesundheits- und Altersvorsorge. Es geht darum, junge Familien, die Kinder
wünschen, zu unterstützen. Es geht um Gleichberechtigung und vor allen Dingen auch - ein aktuelles Thema um Integration.
({2})
Es geht um Innovation in der Technik, um neue Arbeitsplätze, um erneuerbare Energien. Es geht auch um die
hohen Zuwachsraten bei nachhaltigen Produkten wie
etwa in der Landwirtschaft.
Es geht um globale Verantwortung. Es geht um
Schonung der Ressourcen, von Energie, aber auch von
anderen Rohstoffen, die zunehmend knapp werden. Es
geht um den Erhalt der biologischen Vielfalt. Unser
Blick muss auch in andere Länder gehen, die andere,
aber keineswegs schlechtere Wege für die eigene Entwicklung finden müssen. Denn wollte die ganze Welt so
leben, wie wir es heute in den Industriestaaten tun,
bräuchten wir vermutlich mehr als zwei Erden, um den
Bedarf zu decken.
Es geht also auch darum, Alternativen zu unserer derzeitigen Lebens- und Wirtschaftsweise zu finden und zu
entwickeln. Nachhaltige Entwicklung ist also auch heute
schon eine pure Notwendigkeit, wenn wir nicht sehenden Auges in große Probleme geraten wollen.
Wir müssen heute die Weichen dafür stellen, wie wir
in Zukunft leben wollen. Noch können wir auf vielen
Gebieten beeinflussen, welches Gleis wir dabei befahren
Heinz Schmitt ({3})
wollen. Darin liegt der eigentliche Reiz unserer Arbeit,
der Arbeit des Beirates für nachhaltige Entwicklung.
Es geht also um große Chancen: wirtschaftliche
Chancen, gesellschaftliche Chancen, vielleicht auch kulturelle Chancen. Denn mancher ist zurzeit auf der Suche
nach neuen Werten, nach einer neuen Leitkultur. Nachhaltigkeit im kulturellen Bereich bietet vielleicht große
Chancen und große Perspektiven.
Nachhaltige Entwicklung muss - das habe ich vorhin
gesagt - natürlich über Parteigrenzen hinweg eine Antwort geben. Deshalb greife ich die Einrichtung des Beirates in dieser Legislaturperiode als ein erfreuliches, ein
positives Signal auf, ein Signal, bei dem wir uns in diesem Hause grundsätzlich einig sind.
Ich freue mich auf Ihre Impulse, auf konstruktive Anregungen, auf viel Arbeit mit den anderen parlamentarischen Gremien. Es wird an uns liegen, welches Gewicht
der Parlamentarische Beirat in Zukunft haben wird. Ich
hoffe, wir bekommen diese Stimme - unsere Stimme oft zu hören. Ich hoffe auf offene Ohren bei allen Kolleginnen und Kollegen des Bundestages. Ich hoffe darauf,
dass wir alle noch skeptische Kolleginnen und Kollegen
mit unserer Arbeit in der Zukunft überzeugen können.
Herzlichen Dank.
({4})
Damit ist die Aussprache beendet.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1131 zur
Einsetzung eines Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist damit
einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 5 b. Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/5942 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Buchpreisbindungsgesetzes
- Drucksache 16/238 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({0})
- Drucksache 16/1118 Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothee Bär
Christoph Waitz
Katrin Göring-Eckardt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Kollegin Dorothee Bär, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte
mich zu Beginn meiner Rede bei allen beteiligten Ausschüssen und bei allen Fraktionen für die sehr gute Zusammenarbeit bei der Änderung des Buchpreisbindungsgesetzes bedanken.
({0})
- Ich möchte mich auch beim Kollegen Tauss persönlich
bedanken. Auch wenn er nicht ganz so involviert war,
hat er sich persönlich angesprochen gefühlt. Herr Tauss,
also auch Ihnen herzlichen Dank!
({1})
Die große Einigkeit in unserem Haus bei diesem
Thema zeigt, wie wichtig und wie wertvoll uns allen eine
hochwertige Ausbildung unserer Kinder ist. Hochwertig
und wertvoll sollen dabei weiterhin die Lehrmittel, in
diesem Fall die Bücher, sein. Dazu waren Änderungen
am bestehenden Buchpreisbindungsgesetz notwendig,
nachdem in einigen Bundesländern das Büchergeld eingeführt worden war.
Die Fraktionen stimmen darin überein, dass eine Neuregelung sinnvoll ist und vor allem möglichst schnell
umgesetzt werden muss. Das ist vor allem deswegen
notwendig, weil das neue Schuljahr in einigen Bundesländern bereits Mitte August beginnt und die Sammelrabatte zum Schuljahresbeginn unabhängig von der Finanzierungsart gewährleistet werden sollen.
Ich halte unsere Änderungen des Buchpreisbindungsgesetzes für beispielgebend, weil durch die Änderung
des Gesetzes aufgrund des Büchergeldes einzelne Fragen geregelt werden, die in der Praxis zu Problemen
oder zu Auslegungsschwierigkeiten geführt haben.
Auf der Regierungsbank ist es etwas unruhig.
({2})
Wir dachten uns, dass es so spannend war. Aber vielleicht können Sie diese Spannung noch ein bisschen für
sich behalten.
Ich glaube, dass die Regierung auch beim Buchpreisbindungsgesetz noch etwas lernen kann.
({0})
Wir haben dem Gesetzentwurf aus der ersten Lesung
drei zentrale Punkte hinzugefügt: erstens die Verhinderung des Missbrauchs bei rabattiertem Verkauf von Mängelexemplaren, zweitens die ungerechtfertigte Rabattierung von Neuauflagen und drittens die Erweiterung der
Nachlassregelung für Schulbücher von Privatschulen.
Besonders auf den letzten Punkt wird meine Kollegin
Rita Pawelski nachher noch ausführlich eingehen.
({1})
Insbesondere die Neuregelungen bei Rabatten auf
Neuauflagen und bei Mängelexemplaren halte ich für
sehr wichtig, weil dadurch vor allem kleine Buchhandlungen geschützt werden, die sich nicht an großen Rabattaktionen beteiligen können.
({2})
- Genau, Herr Tauss: Das war unsere Idee. Das haben
wir gemeinsam großartig zustande gebracht.
({3})
Es ist ganz besonders wichtig, die kleinen Buchhandlungen zu schützen. Sie garantieren uns doch eine Vielfalt und eine besondere Auswahl an Büchern, die die
breit gefächerte Literaturszene in Deutschland ausmacht.
({4})
Der Wert des Lesens und der Wert von Büchern, in
diesem Fall besonders von Schulbüchern, wird - auch
wenn ich es persönlich für schade halte - von einigen jedoch erst dann erkannt, wenn sie dafür selbst zahlen
müssen. Diesem Verfall von Werten müssen wir gerade
in den Schulen entgegenwirken, in denen das Lesen von
Büchern nicht zur alltäglichen Arbeit gehört. Das zeigt
nicht nur die aktuelle Diskussion über die Rütli-Schule
hier in Berlin, sondern das ist auch in sehr vielen vorherigen Diskussionen erkennbar gewesen. Wir wollen dieses Problem aber auf keinen Fall hinnehmen, sondern
setzen uns damit auseinander, weil es uns wichtig ist,
dass das Lesen als Wert in unserer Gesellschaft mehr anerkannt wird und besser geschützt werden kann.
({5})
Dies gilt ganz besonders unter dem Aspekt, dass
Deutschland auch weiterhin, wie wir es ja wohl wollen,
als das Land der Dichter und Denker assoziiert wird.
Deshalb schützen wir die Autoren und die Verlage durch
die Buchpreisbindung und aktualisieren gemeinsam und
stetig dieses Gesetz.
Die Änderungen am Buchpreisbindungsgesetz sind
wieder ein Beispiel für das unkomplizierte und pragmatische Vorgehen. Ein Kollege hat vorhin gesagt: Die
zweite und dritte Lesung finden jetzt schon statt. Da wart
ihr aber recht schnell. - Dass wir das so schnell hinbekommen haben, war auf jeden Fall der großen Einigkeit
geschuldet, die ich mir in diesem Hohen Hause öfter
wünschen würde.
({6})
- Herr Tauss, Sie hätten es auch schon früher haben können. Aber jetzt ist es ja gut. Besser spät als nie.
({7})
- Da waren Sie sich auch schon einig; okay.
Schutz von Literatur und erschwingliche Schulbücher
für unsere Kinder liegen uns allen am Herzen. Deshalb
möchte ich Sie alle ganz herzlich um die Zustimmung zu
diesem Gesetzentwurf bitten und darf mit einem Wort
Gerhart Hauptmanns schließen:
Die Kultur der Menschheit besitzt nichts Ehrwürdigeres als das Buch, nichts Wunderbareres und
nichts, das wichtiger wäre.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Christoph
Waitz.
({0})
Schauen wir mal!
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Rechtzeitig vor dem kommenden Schuljahr
soll die Änderung des Buchpreisbindungsgesetzes vom
Bundestag beschlossen werden. Hintergrund dieser Eile
ist die Sorge einzelner Bundesländer, dass die Voraussetzungen für einen gesetzlichen Rabatt beim Kauf von
Schulbüchern nicht mehr vorliegen könnten. Ursache
dafür ist, dass in Bundesländern wie Bayern, Hamburg,
Niedersachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt Eltern
zukünftig einen Anteil an dem Kaufpreis der Schulbücher leisten sollen, der den öffentlichen Anteil übersteigt.
({0})
- Herr Tauss, da haben Sie eine schöne Aufgabe.
Dazu ist nicht viel zu sagen. Allein, es bleibt festzustellen, dass die schleichende Aushöhlung der Lernmittelfreiheit in diesen Bundesländern fortschreitet. Trotzdem
sehen wir von der FDP-Fraktion keinen Anlass, der vorgelegten Gesetzesänderung in diesem Punkt unsere
Zustimmung zu versagen. Die desolate Lage vieler Länderhaushalte ist vielmehr Grund genug, dieser Gesetzesänderung zuzustimmen, damit mit dem gesetzlichen Rabatt öffentliche Gelder eingespart und hoffentlich besser
investiert werden können.
({1})
Gegenüber dem ursprünglichen Entwurf wurden jetzt
auch die freien Träger allgemein bildender Schulen in
die Rabattklausel aufgenommen. Ich begrüße das ausdrücklich; denn freie Schulen erfüllen in Deutschland
eine ganz wesentliche Funktion: Sie ergänzen das Bildungsangebot unseres öffentlichen Schulwesens. Aktuell
besuchen rund 800 000 Schüler freie Schulen, davon
390 000 Schüler eine Einrichtung in konfessioneller Trägerschaft. Freie Schulen sind daher auch Ausdruck eines
Wahlrechts unserer Bürger. Sie können ihre Kinder mit
einem anderen inhaltlichen Schwerpunkt oder nach einem anderen pädagogischen Konzept unterrichten lassen. Damit stellt das Angebot der freien Schulen auch
den notwendigen Wettbewerb her, der der Qualitätsverbesserung unserer öffentlichen Schulen nur förderlich
sein kann.
Ein weiterer Grund ist in den letzten Jahren für die Eltern hinzugekommen. Viele Eltern wollen ihre Kinder in
Wohnortnähe einschulen und unterrichten lassen. Die
immer kleiner werdende Anzahl von Kindern in unserem
Land führt dazu, dass sich insbesondere die Flächenstaaten aus der flächendeckenden Versorgung mit Schulen
verabschieden. Dies betrifft aktuell mehr Länder im Osten Deutschlands, aber eine vergleichbare Entwicklung
ist auch in den westlichen Bundesländern absehbar. Das
bedeutet für die betroffenen Eltern, dass sie ihre Kinder
zum Teil über beträchtliche Entfernungen in die nächste
Schule bringen müssen oder ihren Kindern mit dem
Schulbus einen zeitlich erheblich längeren Schulweg zumuten müssen. Selbst wenn das Bildungsangebot an diesen Mittelpunktschulen nicht notwendigerweise schlechter sein muss, so ergeben sich doch weitere Nachteile
durch erhöhte Schülerzahlen pro Klasse und eine geringere soziale Kontrolle in den Schulen.
Freie Träger für die von der Schließung bedrohten
Schulen sind eine realistische Alternative, die nur daran
krankt, dass die regionalen Schulämter diese Konkurrenz fürchten und daher bei der Zulassung der Schulen in
freier Trägerschaft ausgesprochen zurückhaltend sind.
({2})
- Sie kommen gleich dran. - Für mich ist es daher ein
schönes Zeichen, wenn in dem neuen Buchpreisbindungsgesetz öffentliche Schulen und Schulen in freier
Trägerschaft gleichberechtigt nebeneinander genannt
werden. Hoffentlich wird diese nötige Gleichbehandlung
der freien Schulen auch auf Länderebene durch die Regionalschulämter umgesetzt.
Vier weitere Änderungen des Buchpreisbindungsgesetzes werden vorgeschlagen. Auch jetzt weiß ich noch
nicht, wie damit die Motive der Bundesregierung, nämlich Stärkung des Kulturgutes Buch und Erhaltung der
Vielfalt der Verlags- und Buchhandelslandschaft, umgesetzt werden sollen.
Aber wir begrüßen die Einführung der Kennzeichnungspflicht für Mängelexemplare; denn der bislang
geltende Wortlaut ermöglichte Spielräume zur Umgehung der Buchpreisbindung. Die neue Regelung dient
dazu, Missbrauch der Mängelexemplarregelung zu unterbinden.
({3})
Wir begrüßen die Einführung einer Räumungsverkaufsklausel, die die Liquidation einer Buchhandlung
erleichtert. Der noch vorhandene Lagerbestand kann so
auf einfache Art und Weise verkauft werden.
({4})
Zukünftig sollen nach dem Gesetzentwurf Bücher
von der Buchpreisbindung ausgenommen werden dürfen, deren Erscheinen länger als 18 Monate zurückliegt.
Es handelt sich hier um eine Kannregelung. Damit werden Situation vermieden, in denen sowohl eine preisgebundene als auch eine nicht preisgebundene Auflage eines Buches auf dem Markt erhältlich sein kann.
Wir hoffen, dass mit dem geänderten Gesetzestext die
Arbeit in der Praxis einfacher wird - auch wenn wir damit das Kulturgut Buch vermutlich nicht stärken werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Als Nächste hat die Kollegin Monika Griefahn, SPDFraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wir in Deutschland können stolz sein,
dass es uns in der Kultur- und Medienpolitik in den letzten Jahren immer wieder gelungen ist, starke Pfosten für
die Kulturförderung einzuschlagen. Das Buchpreisbindungsgesetz 2002 ist dabei ein wichtiger Baustein - Frau
Bär, wir hatten damals dieses Gesetz bereits einstimmig
hier im Bundestag verabschiedet -; denn wir haben damit eine einzigartige Vielfalt von Büchern und eine
große Zahl von Buchhandlungen bewahrt. Das gibt es in
vielen Ländern nicht.
({0})
In dem Film „E-Mail für Dich“ wurde - wer ihn gesehen
hat, weiß das - der Verdrängungskampf großer Buchhandlungsketten in den USA gegenüber kleinen, gediegenen Buchhandlungen, in denen man noch beraten
wird, sehr deutlich. Ich fand immer, der Film war eine
gute Empfehlung, wenn man deutlich machen wollte,
warum es sich lohnt, für das Buchpreisbindungsgesetz
einzutreten; man kann ihn noch heute empfehlen.
({1})
Frau Bär sagte es schon: Wenn wir uns als Volk der
Dichter und Denker bezeichnen lassen wollen, dann ist
es nur konsequent, kulturpolitisch auch die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Ich glaube anders als Sie, Herr
Waitz, dass wir mit dem Buchpreisbindungsgesetz tatsächlich einen Teil dazu beitragen, das Buch als Kulturgut zu schützen. Das Buch kann als sinnlich wahrnehmbares, erlebbares Element, als haptischer Gegenstand
durch ein E-Buch nicht ersetzt werden.
({2})
Ein Buch zum Beispiel im Zug in die Hand zu nehmen
und zu lesen, vermittelt etwas anderes, als dies ein EBuch könnte.
Auch eine Buchhandlung auf dem Lande, wo ich
wohne, hat eine besondere Bedeutung.
({3})
Das ist auch ein Treffpunkt. Dort gibt es Lesungen, da
treffen sich Leute, da wird nebenbei auch beraten, die
Verkäuferinnen und Verkäufer geben die neuesten Empfehlungen. Das gibt es nur in den flächendeckend verteilten kleinen Buchhandlungen und nicht in den Kaufhausketten in den großen Städten oder bei einer
Bestellung über E-Bay oder Amazon. Deswegen sind sie
wichtig.
({4})
Zum ersten Mal kam die Buchpreisbindung auf den
Prüfstand der Europäischen Kommission, nachdem der
österreichische Handelskonzern Libro ein Beschwerdeverfahren angestrengt hatte. Er war nämlich von einigen
deutschen Verlagen nicht mehr beliefert worden, nachdem er Bücher im Internet 20 Prozent unter dem offiziellen Preis angeboten hatte. Ich glaube, wir müssen uns an
diese Geschichte noch einmal erinnern, damit deutlich
wird, warum es sich lohnt, für das Buchpreisbindungsgesetz zu kämpfen.
Wir haben das Buchpreisbindungsgesetz deshalb
2002 wie Frankreich, Österreich und die Schweiz verabschiedet. Wichtig ist, dass unter dieses Gesetz neben Büchern auch Musiknoten, kartografische Produkte und
Produkte, die mit Büchern kombiniert sind, wie zum
Beispiel CD-ROMs und Lernkassetten, fallen. Das wissen viele Leute nicht; aber auch das ist ein notwendiges
Element, gerade im Unterricht.
({5})
Mein Kollege Tauss hat in der ersten Lesung auf die
wichtigen Ziele hingewiesen. Er hat mit eindrucksvollen
Zahlen unterstrichen, wie wichtig das Erreichen dieser
Ziele ist.
Wir wollen die große Vielfalt und die hohe Qualität
des Buchangebots in Deutschland sichern. Schauen Sie
einmal in andere Länder, in denen es kein Buchpreisbindungsgesetz gibt. Da bekommen Sie zwar unter Umständen preiswerte Taschenbücher - im Paperbackformat,
billig gedruckt -, aber es gibt keine aufwendig ausgestatteten Bücher und - auch das muss man bedenken - keine
wissenschaftlichen Bücher zu erschwinglichen Preisen.
Diese Bücher können Sie unter Umständen in Amerika
von Universitätsverlagen nur zu einem sehr hohen Preis
kaufen. Die Quersubventionierung geht nur bei Buchpreisbindung. Auch deswegen ist sie so wichtig.
({6})
Wir wollen in kleinen und mittleren Orten in der Provinz die Buchhandlungen erhalten. Auch dafür braucht
man die Buchpreisbindung. Wir wollen außerdem - auch
das wurde noch nicht gesagt - eine angemessene Vergütung für die Urheber, für die Autorinnen und Autoren
sowie die Übersetzer. Das geht aber nur, wenn man mit
einem Buch einen bestimmten Preis erzielt.
({7})
Im anderen Fall würden die Honorare immer weiter sinken.
Das Schöne an der Buchpreisbindung ist, dass sie von
allen Seiten Zustimmung findet. Die Verleger, die Autoren und die Buchhändler sind der Ansicht, dass es richtig
ist, Bücher nicht mit üblichen Handelswaren gleichzusetzen, sondern sie als Kulturgut zu schützen. Ich
glaube, auf diesen wichtigen Punkt müssen wir hinweisen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang ebenfalls darauf hinweisen, dass wir in der Koalitionsvereinbarung
den ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent für
Bücher festgeschrieben haben.
({8})
Ich glaube, auch dieser Hinweis ist wichtig. Denn viele
wissen nicht, dass Kultur und Medien für diese Regierung eine wichtige Rolle spielen.
Für die Schulbuchfinanzierung ist wichtig, dass die
Schulbücher gemeinsam angeschafft werden, damit weiterhin Rabatt gewährt werden kann. Bisher hieß es, dass
Sammelrabatt für Schulbücher gewährt wird, wenn die
Schulbücher „überwiegend von der öffentlichen Hand
finanziert werden“. Jetzt soll es möglich sein, dass die
ermäßigten Preise auch für die Eltern, die die Bücher
selber bezahlen müssen, gewährleistet sind. Diese wichtige Information, dass wir heute dieses Gesetz verabschieden, sollten die Kolleginnen und Kollegen in ihren
Wahlkreisen weitergeben, damit in den Schulen die Bücher gemeinsam bestellt werden und so die Rabatte in
Anspruch genommen werden können.
({9})
- Genau, das machen wir heute auch noch.
Die Privatschulen, die nach den Schulgesetzen den
Status staatlicher Ersatzschulen haben, sollen diese
Möglichkeit ebenfalls haben. Das finde ich wichtig,
sonst wäre es nicht sinnvoll, dass sie staatlich anerkannt
sind.
Wir haben die Kennzeichnungspflicht bei Mängelexemplaren dahin gehend geändert, dass nur nicht einwandfreie Bücher als Mängelexemplare mit Rabatt verkauft werden können. Auch das ist ein Schutz für die
kleineren Buchhandlungen. Damit stellen wir eine flächendeckende Versorgung sicher, was ebenfalls sehr
wichtig ist.
Im Räumungsverkauf ältere Titel anbieten zu können,
ist auch ein wichtiger Punkt. Häufig gab es die Situation,
dass für eine unveränderte Neuauflage die Buchpreisbindung galt, während die Exemplare der alten Auflage verramscht wurden. Das kann nicht angehen. Wenn eine
Auflage unverändert bleibt, dann fallen auch die alten
Bücher unter die Buchpreisbindung. Auch das ist ein
wichtiger Punkt, um einen Missbrauch zu verhindern.
Dass die Buchpreisbindung für Ausgaben aufgehoben
wird, deren erstes Erscheinen länger als 18 Monate zurückliegt, ist wichtig, damit die Buchhändler weiter planen können, wenn die Verleger ihre Bücher nicht mehr
zurücknehmen. Damit wird das Kulturgut Buch nicht gefährdet. Aber es eröffnet die Möglichkeit, neue Titel aufzunehmen. Das alles sind wichtige Elemente.
Ich glaube, dass die Handelsketten, die einen starken
Verdrängungswettbewerb aufgrund der Masse der verkauften Bücher ausüben, immer wieder darauf hingewiesen werden müssen, dass die Buchhandlungen in der
Fläche wichtig sind und dass der Wettbewerb nicht zu
einer Verdrängung dieser kleinen Buchhandlungen führen darf. Wir werden diese Entwicklung weiterhin begleiten. Wenn Änderungen notwendig sind, werden wir
sie durchführen.
Wir wollen die breite Vielfalt. Eine Buchhandlung, in
der man sich trifft, in der man miteinander spricht und in
der man beim Bestellen eines Schulbuchs nebenbei noch
ein Buch für die Kinder kauft, stellt einen wichtigen kulturellen Beitrag dar, der vor Ort geleistet wird. Deswegen kämpfe ich dafür, dass jede Buchhandlung in der
Fläche erhalten bleibt,
({10})
genauso wie eine Bäckerei oder ein Lebensmittelgeschäft.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Jochimsen, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es scheint im Moment die Stunde der gegenseitigen Belobigungen zu sein.
({0})
Die Fraktionen arbeiten wunderbar. Der Wert des Lesens
wird gewürdigt. Die kleinen Buchhandlungen werden
geschützt und gefördert. Es wird Sie nicht verwundern:
In diesem Zusammenhang kommt natürlich sofort auch
ein Bekenntnis unserer Fraktion dazu, dass wir die
Buchpreisbindung für ein unverzichtbares Instrument
halten, um das Kulturgut Buch allen zugänglich zu machen.
({1})
Im Wissen um den Wert der Bücher für die Bildung und
die Entwicklung eines jeden Menschen und vor allem
der Heranwachsenden haben wir uns stets dafür eingesetzt, Bücher aus der Logik des Marktradikalismus und
der Profitmaximierung herauszuhalten.
({2})
Nun diskutieren wir heute im Grunde gar nicht über
den Wert und die Bedeutung der Buchpreisbindung,
auch wenn wir uns formalrechtlich mit einer Änderung
des Buchpreisbindungsgesetzes befassen. Wir haben uns
vielmehr mit einem bildungspolitischen Thema von
höchster Problematik auseinander zu setzen. Das ist bei
Ihnen nur in Nebensätzen erwähnt worden. Die Kollegin
von der CSU sprach nur allgemein von der Bücherregelung und beschrieb gar nicht, was damit gemeint ist.
({3})
Es geht um die um sich greifende Abschaffung der
Lernmittelfreiheit in unserem Land.
({4})
Ich weiß, dass das in der Verantwortung der Länder
liegt. Bereits fünf Bundesländer haben die Regelung eingeführt, wonach sich die Schüler bzw. die Eltern an der
Bezahlung der Schulbücher in einem Umfang von mehr
als 50 Prozent beteiligen müssen. Dadurch ist die Sammelrabattklausel gefährdet und nur deswegen müssen
wir uns heute im Grunde genommen formalrechtlich mit
der Buchpreisbindungsproblematik befassen. Den Nachlass von 8 bis 15 Prozent für Schulbücher, die nun nicht
mehr überwiegend von der öffentlichen Hand finanziert
werden, wollen wir für Eltern und Schüler erhalten und
retten. Das ist richtig und deswegen setzen wir uns
mehrheitlich für den vorliegenden Gesetzentwurf ein.
Wir müssen aber auch darauf hinweisen, dass mit den
insgesamt für den Kauf von Schulbüchern zur Verfügung
stehenden Mitteln in Zukunft immer weniger Bücher angeschafft werden können; es sei denn, die Eltern und die
Schüler steigen finanziell ein. Wir werden zwar der GeDr. Lukrezia Jochimsen
setzesänderung zustimmen, damit der Preisnachlass bei
Schulbüchern ungeachtet der Höhe und des Umfangs der
privaten Mitfinanzierung erhalten bleibt. Den Eltern und
den Schülern wird jetzt ein geringer Sammelrabatt gewährt. Aber die Frage ist: Werden sie in Zukunft nicht
verstärkt an der Finanzierung der Bücher beteiligt werden? Werden sie nicht verstärkt die Bücher selbst kaufen
müssen? Die Entwicklung, die diese Gesetzesänderung
notwendig macht, ist aus unserer Sicht hoch problematisch, weswegen sich einige Mitglieder unserer Fraktion
bei diesem Gesetzesvorhaben enthalten werden.
Wenn heute bereits in fünf Bundesländern die Eltern
bzw. volljährige Schüler einen Teil der Kosten für die
Schulbücher selbst tragen müssen, dann hat das natürlich
Folgen. Diese Folgen sind: noch größere soziale
Ungleichheiten beim Zugang zur Bildung. Da kann
man dann noch so schöne Worte über den Wert des Buches und des Lesens verlieren. Dies heißt letztlich: eine
noch größere soziale Ungleichheit beim Zugang zur Bildung. Das ist schon heute das Hauptproblem unseres
Bildungssystems. In allen internationalen Vergleichsstudien werden wir davor gewarnt, den Weg der sozialen
Ungleichheit beim Zugang zur Bildung und zu Büchern
fortzusetzen.
({5})
- Die internationalen Studien zeigen auf, dass die Verhältnisse in unserem Land auseinander gehen. Soziale
Bildungsdeterminanten sind dabei sehr wichtig.
({6})
Frau Kollegin Jochimsen, ich würde auf diese Zurufe
jetzt nicht reagieren; denn Sie haben Ihre Redezeit überschritten und müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Schluss. - Eine sozial gerechte Bildung kann nur bei umfassender und ausreichender Finanzierung durch die öffentliche Hand gewährleistet
werden. Die Privatisierung der Bildungskosten - mit
Sammelrabatt oder ohne - führt genau in die falsche
Richtung.
Danke sehr.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Priska Hinz, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es
herrschte schon bei der ersten Debatte über den Gesetzentwurf und auch heute ein großer Konsens darüber,
welche Korrekturen notwendig sind, und über die Regelungen, die getroffen werden sollen. Auch im federführenden Kulturausschuss wurde den vom Bundesrat vorgeschlagenen und von der Bundesregierung ergänzten
Änderungen in großer Einigkeit zugestimmt.
Heute ist wieder deutlich geworden, dass ein ausgeprägtes Bewusstsein für Sinn und Zweck des Buchpreisbindungsgesetzes besteht. Frau Jochimsen, es geht auch
darum, die einzigartige Vielfalt der Verlags- und Buchhandlungslandschaft in Deutschland zu erhalten und
das Buchangebot für eine breite Öffentlichkeit zugänglich zu halten.
({0})
Auch wir, die Grünen, bekennen uns ausdrücklich zu
der dem Buchpreisbindungsgesetz zugrunde liegenden
Idee, wonach das Buch in erster Linie nicht Wirtschaftsgut, sondern Kulturgut ist und wonach der Zugang zu
diesem Medium insbesondere auch in ländlichen Gebieten durch entsprechende Buchhandlungen gewährleistet
werden muss.
({1})
Frau Griefahn, sogar in Großstädten besteht das Problem, dass große Buchhandlungen kleine Buchhandlungen verdrängen. Der Wettbewerb ist in vollem Gange.
Mit dem Buchpreisbindungsgesetz schaffen wir es immerhin, dass in ländlichen Regionen noch ein vielfältiges Angebot vorherrscht. Wir wollen das beibehalten.
({2})
In diesem Sinne gilt es, den gleichberechtigten und breiten Zugang zu kultureller Bildung zu erhalten und damit
Leseförderung zu betreiben.
Ich halte es für richtig, deutlich zu machen, wie wichtig Bücher sind, gerade weil sie Kinder ansprechen.
Wenn man daran denkt, wie Kinder Bilderbücher in die
Hand nehmen, dann erkennt man, dass ein Computer
- Gott sei Dank - nicht mithalten kann. Deswegen ist es
notwendig, dass wir dieses Gesetz beibehalten.
({3})
Allerdings werden nun Änderungen vorgenommen,
damit Rabatte bei Sammelbestellungen von Schulbüchern auch dann möglich sind, wenn mehr als
50 Prozent der Schulbuchkosten von Eltern oder volljährigen Schülern übernommen werden. Es ist leider Tatsache, dass in vielen Bundesländern eine Eigenbeteiligung
eingeführt wird. Frau Jochimsen, wir im Bundestag können - so bedauerlich das auch ist - nichts daran ändern.
Unabhängig von Ihrer politischen Haltung dazu sind
auch wir der Meinung, dass die Lehr- und Lernmittelfreiheit ein hohes Gut ist. Wir sollten es deshalb den Eltern vonseiten des Bundes nicht noch schwerer machen,
sondern ihnen das Leben erleichtern, indem wir diese
Priska Hinz ({4})
Rabattregelung ermöglichen. Deswegen stimmen wir
diesem Gesetzentwurf zu.
({5})
Bliebe die alte Regelung bestehen, könnten mit der gleichen Geldsumme noch weniger Bücher angeschafft werden.
Wir halten es auch für richtig, dass die Privatschulen
in die neue Nachlassregelung einbezogen werden sollen,
weil die Kinder nicht mehr und nicht weniger als Kinder
an staatlichen Schulen wert sind.
Wir halten auch jene Punkte, die die Bundesregierung
in Ergänzung eingebracht hat, für richtig: die Einführung
einer Kennzeichnungspflicht für Mängelexemplare, den
Einbau einer Räumungsverkaufsklausel und die Klarstellung hinsichtlich der Buchpreisbindungsregel bei unverändertem Nachdruck eines Buches.
Wenn der Bundesrat und die Bundesregierung einmal
sinnvolle Vorschläge machen, dann stimmen wir als Opposition gerne zu.
({6})
Es wird wahrscheinlich nicht so oft vorkommen, aber
heute stimmen wir gerne zu.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Rita Pawelski,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Bücher verursachen viele
Wirkungen: Sie bilden, sie regen zum Träumen und
Nachdenken an, sie polarisieren und stacheln auf, sie
können aber auch verbinden: Jung und Alt, Mann und
Frau, Ost und West und neuerdings auch Koalition und
Opposition.
({0})
Das haben die Beratungen des vorliegenden Gesetzentwurfes gezeigt. In seltener Harmonie und Einigkeit
haben wir uns auf das Wichtigste und Wesentlichste
geeinigt. Das Buchpreisbindungsgesetz wird den veränderten Rahmenbedingungen angepasst. Es wird eine gesetzliche Kennzeichnungspflicht für Mängelexemplare
geben; es wird eine spezielle Räumungsverkaufsklausel
eingeführt und es wird die Regelung zur Aufhebung der
Preisbindung klargestellt. Meine Kollegin Dorothee Bär
hat darüber schon ausführlich berichtet.
Die zahlreichen Verlage und Buchhandlungen in unserem Land werden von diesen Maßnahmen profitieren.
Der missbräuchliche Handel mit Büchern wird erschwert
und der Buchmarkt weiter gestärkt. Das ist gut so. Noch
besser ist, dass der Gesetzgeber schnell gehandelt hat,
um Fehlentwicklungen abzuwehren. Besonders wichtig
ist aber: Mit dem Gesetz werden auch die Voraussetzungen der Rabattpflicht bei Sammelbestellungen preisgebundener Schulbücher geändert; das ist § 7 des Buchpreisbindungsgesetzes. Das wurde notwendig, weil sich
einige Bundesländer aus finanziellen Gründen von der
Lernmittelfreiheit verabschieden mussten; übrigens,
Frau Jochimsen, Berlin auch. Rot-Rot hat die Lernmittelfreiheit abgeschafft; auch hier in Berlin müssen Eltern
etwas zuzahlen.
({1})
Herr Tauss, auf Ihren Zwischenruf, falls er denn kommen sollte - er hat sich vorhin schon angedeutet -,
möchte ich sagen:
({2})
Ich würde mit Ihnen gern über die niedersächsische
Schulpolitik diskutieren, nicht über die Schulpolitik dieser, der CDU-geführten Landesregierung, sondern die
der vorhergehenden Regierung.
({3})
Mein Kronzeuge, der ehemalige Ministerpräsident, sitzt
ja hier auf der Regierungsbank. Er wird bestätigen können, was in diesem Bereich damals alles schief gelaufen
ist.
({4})
Durch die wegfallenden Rabatte wären Eltern - das
wurde eben schon sehr gut gesagt - zusätzlich belastet
worden, und das schon ab dem nächsten Schuljahr. Wir
haben das verhindert und das ist prima.
({5})
Neu ist: In den Genuss der Rabatte kommen jetzt
auch die allgemein bildenden Privatschulen, wenn sie
den Status staatlich genehmigter Ersatzschulen besitzen.
({6})
Auch ihnen müssen die Verkäufer Rabatte bei Sammelbestellungen gewähren; in der Regel sind das zwischen
8 und 15 Prozent. Der Bundesverband Deutscher Privatschulen ist erfreut über die fraktionsübergreifende
Zustimmung - endlich Politiker, die schnell agieren und
zupacken. Das herzliche Dankeschön gebe ich an Sie
alle hiermit weiter.
({7})
Meine Damen und Herren, unsere Schulen in freier
Trägerschaft leisten qualitativ hochwertige Arbeit und
sorgen für pädagogische Vielfalt und für Wettbewerb.
Sie sind bei den Eltern und, wie ich höre, auch bei den
Schülern sehr beliebt. Das zeigen die steigenden Schülerzahlen. Es ist schon bemerkenswert, dass sie nach
dem Pisaschock deutlich nach oben gegangen sind: Um
11 Prozent sind die Schülerzahlen bei den Privatschulen
gestiegen.
Was sind Privatschulen? Oft wird gesagt: Das sind
Eliteschulen nur für Reiche. Das stimmt nicht. Es gibt
207 Hauptschulen in diesem Bereich, an denen über
25 000 Jugendliche unterrichtet werden. An diesen
Schulen - wir haben gerade in den letzten Tagen erfahren, wie schlimm die Situation an manchen Hauptschulen ist - wird eine sehr gute, auch sehr gute integrative
Arbeit geleistet. Privatschulen sind integrierte Gesamtschulen; das sind Abendgymnasien, Kollegs; das sind
aber auch Waldorfschulen. An insgesamt 180 Waldorfschulen werden 75 000 Schülerinnen und Schüler unterrichtet. Und: Privatschulen sind auch Konfessionsschulen, die eine sehr, sehr gute Arbeit leisten.
({8})
Sie alle profitieren von der neuen Regelung und erhalten
Schulbücher künftig mit Rabatt.
Ich freue mich, dass wir diese Änderungen gemeinsam und einvernehmlich durchgesetzt haben, und ich
hoffe, dass diese Einigkeit in diesem Hause kein einmaliger Vorgang ist, sondern dass wir an anderen wichtigen
Stellen genauso gemeinsam arbeiten.
Vielen herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Buchpreisbindungsgesetzes auf Drucksache 16/238. Der Ausschuss
für Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/1118, den Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Reinhard Loske, Hans-Josef Fell, Sylvia
Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nie wieder Tschernobyl - Zukunftssichere
Energieversorgung ohne Atomkraft
- Drucksache 16/860 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern hat sich der Umweltausschuss in einer öffentlichen Sitzung mit dem GAU in Tschernobyl vor 20 Jahren befasst. Gäste waren Wissenschaftler, Botschafter
und die ersten Vorsitzenden des damals installierten
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Wissenschaftler differieren trotz ihrer Faktenbezogenheit in ihren Aussagen und Einschätzungen genauso
wie wir Politiker. So zelebrierten sie für uns gestern eine
Auseinandersetzung über die Frage, von wie vielen
Toten man infolge des GAUs tatsächlich reden könnte.
Ich will heute als Erstes sagen, dass ich diesen Streit der
Statistiker müßig und für die politische Bewertung überflüssig finde.
({0})
Die Dimension dessen, was dort passiert ist, macht sich
nicht an der faktischen Anzahl der Toten fest. Für die
politische Bewertung ist auch nicht relevant, ob die
Menschen an den direkten Folgen der Strahlung gestorben sind, ob eine Krankheit, die sie sowieso schon hatten
oder bekommen hätten, durch die Strahlung intensiviert
wurde, oder ob sie Selbstmord begangen haben, weil sie
die persönlichen oder gesellschaftlichen Veränderungen
nicht verkraften konnten. All diesen Menschen wurde
ihr Recht auf Leben durch eine von niemandem gewollte, aber dennoch von Menschen gemachte Katastrophe gravierend beschnitten. Die gesellschaftliche Dimension des Unfalls ist bis heute nicht fassbar. Der
Wirtschaftsattaché der deutschen Botschaft in Minsk,
Wolfgang Faust, hat dazu gestern gesagt, dass dort eine
ganze soziokulturelle Tradition verschwunden ist.
Die für uns entscheidende Frage ist, welche Konsequenzen wir aus dem Unfall von Tschernobyl ziehen.
Hieran scheiden sich die Geister in Wissenschaft wie
Politik. Für manche lautet die Konsequenz, gute
deutsche Technologie so weit wie möglich zu exportieren. Wir Grünen ziehen bekanntermaßen eine andere
Konsequenz. Wir halten es für richtig, dass mit Deutschland ein hoch industrialisiertes Land zeigt, dass man auf
eine hoch entwickelte Technologie verzichten kann,
wenn man das ihr immanente Restrisiko für nicht hinnehmbar hält.
({1})
Das Restrisiko bleibt, auch wenn uns Wissenschaftler heute erzählen, dass die nächste zu entwickelnde Generation von Atomkraftwerken - Zitat von gestern - „katastrophenfrei“ laufen kann. Es sind nicht unbedingt
dieselben Wissenschaftler wie die, die uns vor 20 Jahren
etwas von der Sicherheit der Anlagen außerhalb der damaligen Sowjetunion erzählt haben, aber es sind dieselben Botschaften. Dagegen steht: Harrisburg 1979,
Tokaimura 1999, Paks 2003, Sellafield 2005. Auch bei
uns gab es eine Reihe gravierender Störfälle, bei denen
ein klein bisschen mehr menschliches Versagen zu gravierenden Folgen hätte führen können.
Die Sicherheitslage hat sich seit 1986 nicht entschärft.
Der 11. September 2001 hat eine zusätzliche Dimension
eröffnet, die Proliferationsgefahr hat sich vergrößert.
Den Kollegen, die an dieser Stelle gern sagen, dann hätten wir doch den Sofortausstieg fordern müssen - weil
sie wissen, dass wir dann gar keinen Ausstieg hätten -,
sage ich: Lieber verantworten wir, dass das Restrisiko
Schritt für Schritt verringert wird, als ein endloses Verharren im Risiko.
({2})
Tschernobyl markiert auch 20 Jahre danach den wichtigsten Grund für den Ausstieg aus der Atomkraft. Er
ist nicht zu entkräften. Entkräften kann man dagegen alle
vermeintlich guten Gründe für die weitere Nutzung der
Atomkraft. Weder ist Atomstrom billig - ohne die bis
heute auf über 100 Milliarden Euro angewachsenen Subventionen wäre er unbezahlbar - noch kann er das Mittel
der Wahl gegen den Klimawandel sein. Bei 2,5 Prozent
Anteil am weltweiten Endenergieverbrauch müssten
Tausende neue AKW gebaut werden, um einen spürbaren Effekt zu erzielen.
({3})
So viel Begeisterung und Kapital für AKWs kann man
wirklich nicht erwarten.
({4})
Die Länder, die auf einen Energiemix mit viel Atomstrom setzen, führen uns vor, dass durch den atomstromimmanenten Anreiz zur Stromverschwendung
Treibhausgase gar keine Chance haben, verringert zu
werden.
Zum letzten beliebten Argument: der Versorgungssicherheit. Auch Uran ist endlich. Wirtschaftlich abbaubar steht es der Welt nicht länger zur Verfügung als
Erdöl und Erdgas.
Der Weg zur zukunftsfähigen Energieversorgung sind
die erneuerbaren Energien und Effizienz. Das funktioniert, schafft Versorgungssicherheit und Arbeitsplätze,
ist auf Dauer billiger als jede andere Form der Energieerzeugung und verringert globale Konfliktpotenziale.
Und es ist der Auftrag, den uns Tschernobyl gibt.
Lassen Sie uns diesen Auftrag in diesem Hohen Haus
gemeinsam weiterführen. Ihr Kummer darüber, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dass Sie unserem Antrag heute nicht zustimmen dürfen, ist bekannt.
Bleiben Sie in der Frage des Atomausstiegs standhaft,
dann sehen wir Ihnen das heute nach.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir in diesen Tagen an den Unfall im sowjetischen
Kernkraftwerk Tschernobyl erinnern, so wollen wir zunächst einmal allen Opfern dieses Unfalls unser Mitgefühl aussprechen.
({0})
Gestern im Ausschuss und heute in der Debatte würdigen wir gleichzeitig das umfangreiche bürgerschaftliche Engagement, das es gerade auch in Deutschland
gibt. Es ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten sehr
viel geleistet worden, um den Betroffenen dieses Unfalls
Hilfe zu leisten und den Menschen bei der Bewältigung
der Folgen zur Seite zu stehen. Dafür gebührt all denjenigen Vereinen und Institutionen, die sich in diesem Bereich verdient gemacht haben, unser tiefer Dank. Deshalb sage ich an dieser Stelle, dass unsere Fraktion an
der Seite derjenigen steht, die sich besonders in diesem
Bereich engagiert haben.
({1})
Besonders stark ist das Engagement aus Deutschland.
Nach wie vor werden Jahr für Jahr 10 000 Kinder vor allem aus Weißrussland von Gastfamilien zur Erholung
nach Deutschland eingeladen. Bundesweit existieren fast
1 000 Initiativen, die den Menschen in den betroffenen
Gebieten bei der Minderung der Unfallfolgen helfen.
Seitens meiner Fraktion hebe ich dieses Engagement
noch einmal hervor.
Angesichts des Leids der Opfer, aber auch des Engagements, das viele Menschen in unserem Land zeigen,
möchte ich allerdings meine Verwunderung darüber aussprechen - diese entstand, als ich den Antrag der Grünen
gelesen habe, und auch, als ich Ihre Rede, Frau Kollegin,
gerade gehört habe -, dass Sie den Jahrestag des TscherPhilipp Mißfelder
nobylunfalls zu einer aktuellen politischen Debatte nutzen. Das finde ich nicht in Ordnung.
({2})
Denn am heutigen Tag haben wir im Zusammenhang mit
den Ergebnissen des Energiegipfels bereits über das
Thema Atomenergie gesprochen. Insofern sollte man
Gedenktage wirklich Gedenktage sein lassen und sie
nicht politisch - schon gar nicht parteipolitisch - instrumentalisieren. Das finde ich nicht in Ordnung.
({3})
Der Antrag beschreibt in wenigen Sätzen die Katastrophe, um anschließend seitenweise die längst bekannten Positionen Ihrer Partei zu formulieren.
({4})
Beschäftigen Sie sich an einem Gedenktag doch bitte mit
dem Thema und arbeiten Sie nicht am Thema vorbei.
({5})
Schon allein dieses Vorgehen macht es uns als Fraktion
nicht möglich, Ihrem Antrag zuzustimmen.
({6})
- Allein das ist es.
Wir haben uns gestern im Ausschuss besonders engagiert. Sie haben gesehen, wie engagiert die Kollegen
meiner Fraktion in der Diskussion waren. Gestern haben
wir zu dem Thema deutlich Stellung bezogen und das
Gedenken gewahrt, das ich, wie gesagt, bei Ihnen so
nicht sehe.
Ich möchte auf Ihre Argumente eingehen. Zahlreiche
internationale Studien haben bis heute nachgewiesen,
dass es neben eindeutigen Mängeln an der Konstruktion
des Reaktors selbst in hohem Maße auch am Betriebspersonal gelegen hat, das unzureichend über die Schwächen des Reaktortyps informiert war.
Hinzu kam das mangelnde Sicherheitsbewusstsein
der Betriebsmannschaften. Sie hielten sich nicht an die
bewährte betriebliche und sicherheitsorientierte Verfahrensweise und wussten nicht, welches tatsächliche Risikopotenzial vorhanden war.
Angesichts des Schicksals der Opfer möchte ich auch
auf die Bedingungen unter der sowjetischen Diktatur
hinweisen. Dieser Aspekt spielt für die Bewältigung der
Folgen dieser Katastrophe eine ganz entscheidende
Rolle. Jüngst hat ein Abgeordneter des weißrussischen
Parlaments die Tage nach dem Unfall aus Sicht eines direkt Betroffenen geschildert. Die Politik der sowjetischen Führer in Moskau, Kiew und Minsk ist voller
Feigheit gewesen, gepaart mit einer menschenverachtenden Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden der Bewohner der Städte und Dörfer um den Unglücksreaktor herum.
In den Wochen nach dem Unglück schrieben die sowjetischen Zeitungen von feindlichen Machenschaften,
antisowjetischer Hetze und provokatorischen Gerüchten,
die die Feinde der Sowjetunion verbreiten würden. In
dieser Situation wurden Schulklassen aus der DDR, also
aus Deutschland, nach Kiew geschickt, um die leer stehenden Devisenhotels der ukrainischen Hauptstadt zu
füllen. Ich muss wirklich sagen: Das war absolut verantwortungslos.
({7})
An einem solchen Gedenktag muss man sich auch damit
beschäftigen, was das sowjetische Unrechtssystem vielen Menschen, auch aus Deutschland, zugemutet hat, gerade in den Tagen des Tschernobylunglücks.
({8})
Die Behörden waren vom Ausmaß des Unfalls völlig
überrascht. Ein großer Fehler war, dass die Hilfsmaßnahmen zentral aus Moskau gesteuert wurden. Sie wiesen aus Unkenntnis der konkreten Gegebenheiten, aber
auch aus Ignoranz große Unzulänglichkeiten auf. Erst
36 Stunden nach der Explosion - das haben wir gestern
gehört - wurde als erste Maßnahme die Stadt Pripjat geräumt; die übrige 30-Kilometer-Zone folgte erst nach
mehr als einer Woche. Für die Bekämpfung des Brandes
waren zunächst nur die 100 Betriebsfeuerwehrleute des
Kernkraftwerkes sowie örtliche Feuerwehren vorgesehen, sonst zunächst niemand.
Festzuhalten sind auch die eklatanten Mängel bei den
eingeleiteten Rettungsmaßnahmen. So wurden ungeeignete Brandlöscher wie Blei von Hubschraubern in
den brennenden Reaktor geworfen. Kurz nach dem Unfall in Tschernobyl schrieb der weißrussische Schriftsteller Adamowitsch einen Brief an Michail Gorbatschow;
von Gesprächen mit ähnlichem Inhalt wurde uns gestern
auch im Ausschuss berichtet. Darin forderte er den sowjetischen Parteichef auf, endlich dafür zu sorgen, dass
hinreichende Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung
ergriffen werden. Adamowitsch schrieb in seinem damaligen Brief: Es ist hier nicht bloß eine Anlage explodiert,
sondern der gesamte Komplex an Verantwortungslosigkeit, Disziplinlosigkeit und Bürokratismus. - Auch dieses Problem ist direkt nach dem Unglück entstanden.
Zu den Auswirkungen des Unfalls liegt seit September letzten Jahres eine ausführliche Studie von mehr als
100 Wissenschaftlern vor, die gemeinsam von der Internationalen Atomenergie-Organisation, der Weltgesundheitsorganisation und dem Entwicklungsprogramm der
Vereinten Nationen erarbeitet wurde. Die Zahl der Todesfälle könnte sich demnach auf bis zu 4 000 belaufen.
Bis Mitte 2005 konnten jedoch nur weniger als 50 Todesfälle
direkt auf die Strahlung zurückgeführt werden. Bei ihnen handelt es sich vor allem um Rettungsarbeiter, die
besonders hoher Strahlung ausgesetzt waren. Viele von
ihnen starben innerhalb weniger Monate nach dem Unfall.
Besonders aufschlussreich an dieser Studie ist, dass
Fehlauffassungen und Mythen hinsichtlich der Strahlungsgefahr auch 20 Jahre nach dem Unfall bei der Bevölkerung einen lähmenden Fatalismus verursachen.
Noch immer wissen die Menschen in den betroffenen
Gebieten zu wenig über die Konsequenzen des Unfalls.
Das zu ändern ist eine besondere Aufgabe Deutschlands
und der internationalen Staatengemeinschaft.
({9})
20 Jahre nach dem Unfall scheint es grundsätzlich angebracht, die Sicht auf die betroffene Region zu ändern.
Wir sollten ihre Bewohner nicht länger nur als Opfer betrachten, sondern ihnen die Möglichkeit aufzeigen, zu
Unabhängigkeit und Eigenständigkeit zu gelangen. Das
betrifft auch politische Debatten, die wir in anderen Zusammenhängen führen.
({10})
Wie sind die Folgen der Tschernobylkatastrophe
für Deutschland zu bewerten? Festzuhalten ist, dass
eine radioaktive Wolke Substanzen bis nach Süd- und
Ostdeutschland verteilte. Allerdings wurden die zulässigen Grenzwerte laut Aussage der Strahlenschutzkommission - auch das haben wir gestern gehört - hierzulande selbst im ersten Jahr nach dem Unfall nicht
überschritten. Seitdem nehmen sie kontinuierlich ab.
Das muss man ebenfalls zur Kenntnis nehmen; denn das
sind die Fakten.
({11})
Aus dem Unglück von Tschernobyl müssen Deutschland und die internationale Staatengemeinschaft zwei
wesentliche Lehren ziehen - das Entscheidende an dieser Debatte ist nämlich, nicht Ideologie zu betreiben und
Angst zu machen, sondern konsequent daran zu arbeiten,
die richtigen Lehren zu ziehen -: Zum einen können wir
anderen Ländern nicht vorschreiben, ob sie die Kernenergie nutzen wollen oder nicht. Das ist eben so; daran
kann man nichts ändern, auch nicht, indem wir es hier
beschließen. Deshalb sollten Sie sich in dieser Frage Ihr
unangebrachtes Gefühl moralischer Überlegenheit abgewöhnen; für pragmatisch ausgerichtete Politik bringt das
nichts. Weil wir anderen Staaten hinsichtlich der Nutzung der Kernenergie nichts vorschreiben können, müssen wir von denjenigen Staaten, die die Kernenergie
friedlich nutzen wollen, eine unabhängige und rechtsstaatliche Aufsicht der Anlagen einfordern. Dafür gibt
es Organisationen wie die IAEO, an die der Friedensnobelpreis zu Recht gegangen ist.
({12})
Zum anderen muss in Zukunft die Sicherheit bei der
Kernkraft Vorrang haben. Deshalb ist es richtig, dass
Deutschland sich daran beteiligt, auch zukünftig sichere
Kernkraftwerke weltweit zu garantieren. Es ist richtig,
dass die Bundesrepublik Deutschland trotz Atomausstieg bei Euratom mitmacht und sich an der Forschung
beteiligt, damit die Kernenergie weltweit noch sicherer
wird. Dabei hat Deutschland technologisch immer eine
Vorreiterrolle eingenommen und sollte dies auch zukünftig tun.
Vielen Dank.
({13})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika
Brunkhorst, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
gestern zu diesem Thema durchgeführten Sonderveranstaltung im Umweltausschuss kamen Experten aus den
Bereichen der Medizin, der Strahlenforschung, der
Kerntechnik, der nicht staatlichen Hilfsorganisationen
und der IAEA in der Beurteilung des Status quo, der zukünftigen Folgen und der noch bestehenden Risiken des
Unfalls in Tschernobyl zu überraschend unterschiedlichen Auffassungen und Bewertungen. Dazu muss ich sagen: Die Diskussion über die Anzahl der Opfer führt
politisch nicht weiter: Denn jedes Opfer ist eines zu viel.
({0})
Der Antrag von Bündnis 90/Grüne stellt die Unfallursachen der Katastrophe von Tschernobyl klar dar: dass
es sich um einen ganz speziellen sowjetischen Reaktortyp handelte, den RBMK-Reaktor. Was der Antrag allerdings nicht transportiert, ist, dass die in der EU gängigen
Schwerwasserreaktoren und Leichtwasserreaktoren über
eine ganz andere Sicherheitstechnik verfügen. Hier
sollte man Tschernobyl nicht dazu missbrauchen, ein unrealistisches Angstszenario aufzubauen.
({1})
Aus der der FDP-Fraktion am gestrigen Tag zugeleiteten Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine
Anfrage „Bewertung und Auswirkungen des Reaktorunfalls von Tschernobyl“ kann ich an dieser Stelle nur wenige Antworten der Bundesregierung wiedergeben. Da
heißt es unter anderem:
Diese Reaktoren verfügen über zahlreiche Auslegungsmerkmale, die mit westeuropäischen Technologie- und Sicherheitsstandards nicht vergleichbar
sind.
…
Die für den Unfall in Tschernobyl ursächlichen
Schwächen in der Auslegung des Reaktors und die
in der Vorgehensweise der Betriebsmannschaft offenbar gewordene mangelhafte Sicherheitskultur
sind mit deutschen Standards nicht vergleichbar.
…
In den in Russland und Litauen in Betrieb befindlichen Kernkraftwerken mit RBMK-Reaktoren wurden zahlreiche sicherheitsverbessernde Maßnahmen realisiert …
…
Die Bundesregierung misst der Sicherheit der
Atomkraftwerke in Deutschland höchste Priorität
bei. Im Rahmen der Bundesauftragsverwaltung
wird dafür Sorge getragen, dass die deutschen
Atomkraftwerke auf dem höchstmöglichen Sicherheitsniveau betrieben werden.
Da sind wir ganz auf einer Linie.
({2})
Der Antrag der Grünen kommt über die Bekundung
der Betroffenheit anlässlich Tschernobyls zum eigentlichen Hauptmotiv: die Gefährlichkeit der Kernenergie zu
beschwören, so zu tun, als ob hinsichtlich der sicherheitstechnischen Modernisierung bestehender Anlagen
überhaupt nichts getan worden wäre. Das ist unverantwortlich und erfolgt wider besseres Wissen. Die friedliche Verwendung mittel- und hochangereicherten Urans
mit der Anhäufung waffenfähigen Plutoniums in einen
Topf zu werfen und daraufhin neue, unüberschaubare
Gefahrenpotenziale zu beschwören, ist nicht seriös. Es
ist Ideologie in Reinform!
({3})
Sie scheuen weder eine Attacke auf die Internationale
Atomenergiebehörde - immerhin Inhaberin des Friedensnobelpreises - noch, das Horrorszenario der furchtbaren Anschläge des 11. September 2001 für Ihre Zwecke zu missbrauchen. Das ist Agitation.
({4})
Stellen wir uns doch vielmehr den Realitäten. Weltweit wird die deutsche Reaktortechnik als die sicherste
überhaupt eingeschätzt. Unbenommen, dass andere
Kraftwerkstechnologien und auch die Technologien im
Hinblick auf die erneuerbaren Energien Potenziale haben und sich ihre Anteile am Energiemix erobern müssen und sie auch erhalten werden, so muss man hier doch
einmal die Fakten benennen dürfen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kotting-Uhl?
Nein.
Mit dem Atomausstiegsgesetz steht Deutschland allein in der Welt. Selbst Schweden und die Niederlande
sind aus ihrem Ausstieg wieder ausgestiegen. Schweden
und Kanada haben die Laufzeiten auf 60 Jahre erhöht.
Weltweit werden derzeit 444 Kernkraftwerke in 31 Ländern betrieben.
({0})
23 Anlagen werden derzeit in zehn Ländern gebaut. Bis
2020 sind 38 neue Kraftwerke in Planung. Hören Sie
jetzt bitte gut zu: Sogar in der Ukraine und in Weißrussland erwägen die Regierungen, Kernkraftreaktoren zu
bauen.
({1})
Nehme ich den Auftrag, für Reaktorsicherheit zu
sorgen, auf, dann ist es im Hinblick auf die internationale Situation wichtig - das ist der FDP ein besonderes
Anliegen -, dass wir in Deutschland in Zukunft wieder
möglichst viele Kernphysiker und Ingenieure ausbilden,
die dieses sicherheitstechnische Know-how zur Verfügung stellen können.
({2})
Ich will jetzt hier noch auf einige Ihrer Argumente
eingehen. Sie bestreiten die Wirtschaftlichkeit der Kernkraft.
Frau Kollegin, Sie können höchstens noch auf ein Argument eingehen; denn Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ja, das tue ich. - Dann komme ich gleich zum Schluss
und sage, was wir für wichtig halten.
Es ist wichtig, die Reaktorsicherheit zu garantieren.
Wir müssen die Menschen informieren und dürfen keine
Angst schüren. Wir wollen für alle Energieträger eine
Option einräumen und wir meinen, dass gerade Ihre Bedenken ein Ausbremsen der Forschung im Sicherheitsbereich zur Folge hatten. Damit haben Sie genau das gefährdet, was Sie eigentlich wollen, nämlich nie wieder
Tschernobyl.
({0})
Also bitte!
({1})
Das Wort hat der Minister für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Kollege Mißfelder hat gefragt, was man aus Tschernobyl
lernen könne. Ich glaube, eines kann man lernen, dass
uns nämlich eine Technologie Schwierigkeiten macht,
bei der die Technik und der Mensch immer funktionieren
müssen und bei der Fehler vor allen Dingen nicht bei
beiden - bei Technik und Mensch - zum gleichen Zeitpunkt auftreten dürfen.
({0})
Herr Mißfelder, ich glaube schon, dass man diese Erfahrung aus Tschernobyl ziehen darf.
Vielleicht mache ich mir bei meiner eigenen Fraktion
jetzt nur wenige Freunde, aber ich denke, dass es das
auch schon war, was man für die innerdeutsche
Debatte über Atomenergie aus Tschernobyl lernen
kann. Ich glaube nämlich nicht, dass wir viel weiter
kommen, wenn wir immer nur versuchen, unsere eigene
Energiepolitik anhand eines Reaktorunglücks, das vor
20 Jahren stattgefunden hat, zu definieren. Das wird immer nur dazu führen, dass sich jeder die Argumente aussucht, die ihm gerade in den Kram passen, und wird jedenfalls nicht dazu führen, dass wir einen Schritt weiter
kommen.
({1})
Deswegen bin ich sehr dafür, dass man diese prinzipielle Lehre beachtet. Herr Kollege Mißfelder, diese
Lehre hat auf der linken Seite der Koalition eine praktische Konsequenz. Auf Ihrer Seite hat sie nicht diese
praktische Konsequenz. Ich glaube aber, dass uns die
Vorsicht, die man bei einem zu starken Sich-Verlassen
auf die Technik, den Menschen und vor allen Dingen auf
das Zusammenwirken beider haben sollte, vielleicht
doch zueinander bringen wird. Ansonsten halte ich eine
Menge davon, dass wir uns mit Tschernobyl im
Jahre 2006 auseinander setzen. Ich finde, das wäre der
angemessene Umgang gewesen, den ich in Ihrem Redebeitrag, Frau Kollegin Kotting-Uhl, ein wenig vermisst
habe.
({2})
Man könnte den Eindruck haben, es ginge bei Tschernobyl nur um die Frage, wie wir damit in der deutschen
Diskussion umgehen. In Wahrheit gibt es dort ein massives Problem. Meine Bitte ist, dass Regierung und Bundestagsfraktionen in den Ausschussberatungen gemeinsam überlegen, was unser Beitrag dazu sein kann, die
schleppende Umsetzung der Sicherung des Sarkophages in Tschernobyl zu beschleunigen.
({3})
Das ist ein ernsthaftes Problem. Es steht nicht nur eine
frühere Gefährdung von Menschen durch die Reaktorkatastrophe im Raum, sondern auch eine aktuelle Gefährdung von Menschen.
({4})
Das müssen wir bedenken. Die Bundesrepublik
Deutschland hat sich mit 60 Millionen Euro an der Sicherung beteiligt. Die Gesamtkosten liegen bei 800 Millionen Euro, aktuell bei über 400 Millionen Euro. Die
Auftragsvergabe für Maßnahmen zur Ummantelung des
Sarkophags - das sind wichtige Schritte - verläuft
schleppend. Es sind Risse aufgetreten. Aus meiner Sicht
wird hier politisch hoch gepokert. Ich finde, der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung müssen ein Interesse daran haben, nicht nur Mittel bereitzustellen,
sondern auch dafür zu sorgen, dass die internationalen
Verabredungen eingehalten werden, und zwar sowohl
von der Ukraine wie von der Russischen Föderation. Das
muss unsere Position sein. Das ist der aktuelle Umgang
mit Tschernobyl.
({5})
Die Sicherung verläuft nicht so gut, wie wir uns das
vorstellen. Meine Bitte ist, dass wir darauf in der Diskussion über die Beschlussfassung im Deutschen Bundestag
das Schwergewicht legen. Schließlich wollen wir die
Menschen dort nicht für die innerdeutsche Debatte missbrauchen, sondern wir wollen die Situation für die Menschen vor Ort verbessern. Das ist das humanitäre und
politische Interesse der Bundesrepublik Deutschland.
Darauf - das ist mein Vorschlag - sollten wir Wert legen.
({6})
Wir haben genug Möglichkeiten, über Kernenergie im
Zusammenhang mit anderen Symbolthemen zu streiten.
Aber hier müssen wir unsere Zusagen einlösen, nämlich
die Bereitstellung humanitärer Hilfe und die Sicherung
der Lebenssituation.
Zum anderen möchte ich die heutige Diskussion nutzen, um für die Bundesregierung zu erklären, dass wir
uns für die fast tausend Initiativen in Deutschland bedanken.
({7})
Bis auf den heutigen Tag haben Tausende von Menschen
in Deutschland Patenschaften für Schulen und Kindergärten in der Region übernommen, um ihnen zu helfen
und ihnen zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. Menschen, die zum Zeitpunkt der Reaktorkatastrophe in
Tschernobyl noch nicht geboren waren, haben Kinder in
den Urlaub eingeladen und für medizinische Hilfe vor
Ort gesorgt. All das zeigt: Dieses Land ist bereit, über
20 Jahre ein gewaltiges ehrenamtliches Engagement auf
die Beine zu stellen, das in seiner Wirkung noch viel
größer ist als die Summe, die wir aus Steuergeldern bereitgestellt haben. Für diese Initiativen bedankt sich die
Bundesregierung ausdrücklich.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Name des ukrainischen Ortes Tschernobyl steht für
vieles. Er steht für die größte Reaktorkatastrophe der
Geschichte. Er ist gleichzeitig ein Symbol für den Anfang des weltweiten Widerstands gegen die Atomkraft.
Tschernobyl symbolisiert aber auch die kritiklose
Technikgläubigkeit und die Vertuschungen, die nicht nur
für die Sowjetunion, sondern für den gesamten Ostblock
charakteristisch waren. Dass nicht sein sollte, was nicht
sein darf, war jedoch nicht nur im Kreml und im SEDZentralkomitee die Maxime. Auch bei bestimmten linken Organisationen im Westen, den Bruderparteien, war
dies die Richtschnur. Insofern mussten sich in den vergangenen Jahren viele Mitglieder von PDS und Linkspartei, darunter auch ich, kritische Fragen stellen. Die
Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU müssten
dies aber auch tun; denn ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie damals auch bei uns vieles verschwiegen
wurde. Ich denke, das wird auch heute noch der Fall
sein.
({0})
Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Die Linke
hat aus den grundsätzlichen und unverantwortlichen Risiken der Atomwirtschaft die einzig mögliche Konsequenz gezogen: Wir fordern den schnellstmöglichen
Ausstieg aus der Atomenergie.
({1})
Die Zukunft muss ökologisch und sozial beherrschbaren
Energieformen gehören. Das sind Sonne, Wind, Wasser,
Biomasse und Geothermie statt Uran und Plutonium.
Die Argumente, die gegen die Atomkraft sprechen,
sind im Antrag der Grünen noch einmal aufgeführt. Beispielsweise wird darauf hingewiesen, dass der Brennstoff der AKWs nur noch 40 bis 60 Jahre reicht, dass die
Atomkraft nur einen sehr geringen Beitrag zum Klimaschutz leistet und dass kein einziges deutsches AKW einem Terroranschlag wie dem auf die New Yorker Twin
Towers standhalten würde. Ich muss Sie von den Grünen
in diesem Zusammenhang fragen, welche Verantwortung Sie haben. Es ist merkwürdig, dass die Grünen in
ihrem Antrag die Restlaufzeiten in Deutschland von über
20 Jahren als angemessen darstellen. Das ist für mich
sehr widersprüchlich. Sind wir nun gefährdet - dann
müssen die Atomkraftwerke schnell abgeschaltet werden - oder nicht?
({2})
Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zum viel zitierten IAEO-Bericht. Das Dokument erschien unter
dem Titel „Tschernobyl - Das wahre Ausmaß des Unfalls“. Als ich das Papier gelesen habe, war ich verblüfft
und zornig darüber, wie es die Atomlobby wieder einmal
geschafft hat, die Wahrheit zu verbiegen. Hauptaussage
- vielleicht auch Motivation - des Berichts ist sinngemäß: Es war alles nicht so schlimm und wenn doch etwas passiert ist, dann lag es an der dramatisierenden
Darstellung durch die Medien. Die habe nämlich zu einer psychischen Belastung der Bevölkerung vor Ort geführt, so die seltsame Logik.
Die Autoren meinen tatsächlich, Armut, Lifestylekrankheiten und psychische Probleme seien eine viel
größere Bedrohung für die betroffenen Gemeinden als
die Langzeitverstrahlung.
({3})
- Hören Sie bitte zu! - Zudem zählt das Papier
4 000 Tote als Folge der Katastrophe. Der Bericht ist an
dieser Stelle eine freche Manipulation. Denn warum
sollte der ukrainische Staat sonst an die Angehörigen
von mehr als 17 000 verstorbenen Aufräumarbeitern
Entschädigung zahlen? Es geht dabei durchaus um Zahlen. Ich finde das sehr interessant.
({4})
Die stellvertretende Ministerin der Ukraine für Katastrophenschutz, Tetyana Amosova, erklärte dementsprechend: „Wir können nicht verstehen, was das für Daten
sind.“ Lügen, Halbwahrheiten, Verdrehung von Tatsachen und Unterschlagung von Informationen - das ist
der Stoff, mit dem die Atommafia gearbeitet hat und immer noch arbeitet.
Ich komme zum Schluss. Wir fahren Sonntag nach
Tschernobyl. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass gerade
die Partei, die das „C“ im Namen führt, sieht, was dort
passiert ist. Leider haben Sie sich nicht durchringen können, den Umweltausschuss zu begleiten. Ich werde persönlich den Kolleginnen und Kollegen und den Atomopfern vor Ort das Mitgefühl des Herrn Mißfelder
mitteilen.
({5})
Sie lernen nämlich nichts aus solchen Unfällen.
({6})
Das Wort hat der Kollege Christoph Pries, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Herr Minister Gabriel - lieber
Sigmar -, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte
mit einer kleinen Geschichte beginnen. Nikolai Kalugin
lebte mit seiner Familie in Pripjat unweit des Unglücksreaktors von Tschernobyl. Kurz nach der Katastrophe
wird die Familie evakuiert. Sie darf nichts mitnehmen.
Doch eine Sache kann Nikolai Kalugin nicht zurücklassen: die Haustür seiner Wohnung. Es ist die Tür, auf der
nach alter Tradition die Toten aufgebahrt werden und auf
der seit Generationen Jahr für Jahr das Wachstum der
Kinder mit einer Einkerbung dokumentiert wird.
Nikolai Kalugin hat es geschafft. Mit Hilfe seines
Nachbarn hat er seine Tür an den Sicherheitskontrollen
vorbei aus der Stadt gebracht. Nikolai Kalugin hat seine
Tür noch gebraucht. Einkerbungen musste er nicht mehr
machen.
Ich kenne weder Nikolai Kalugin, noch weiß ich, ob
der Krebs, der seine sechsjährige Tochter getötet hat, mit
Sicherheit auf die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl
zurückzuführen ist. Für den Vater Nikolai Kalugin besteht daran kein Zweifel. Mir persönlich reicht das.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte
den Opfern der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl
im Namen der SPD-Bundestagsfraktion unser Mitgefühl
aussprechen.
({0})
Gleichzeitig möchte ich von dieser Stelle auch den
weltweiten Einsatz zahlloser Organisationen und Initiativen für die Opfer von Tschernobyl würdigen. Dieses
selbstlose Engagement seit nunmehr 20 Jahren verdient
unsere höchste Anerkennung.
({1})
Welche Bedeutung hat die Reaktorkatastrophe von
Tschernobyl heute noch? Sie hat noch immer gravierende Auswirkungen für die unmittelbar betroffenen
Staaten, die Ukraine und Weißrussland. Im September
2005 haben die Vereinten Nationen einen Bericht über
die Folgen der Katastrophe von Tschernobyl vorgelegt.
Der Bericht entstand unter der Federführung der Internationalen Atomenergieorganisation. Er dürfte daher
selbst für glühende Befürworter der Atomenergie akzeptabel sein. Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass
man mit insgesamt 4 000 Todesopfern rechnen muss,
dass bisher 4 000 Kinder an Schilddrüsenkrebs erkrankt
sind, dass 350 000 Menschen infolge der Katastrophe
ihre Heimat verloren haben, dass eine Fläche von mehr
als 200 000 Quadratkilometern kontaminiert wurde und
dass sich der Gesamtschaden der Katastrophe auf mehrere Hundert Milliarden US-Dollar beläuft. Dies sind
wohlgemerkt die Zahlen der Internationalen Atomenergieorganisation. Umweltorganisationen, Experten und
Hilfsorganisationen gehen bei ihren Schätzungen von
weit höheren Opferzahlen aus. Sie kritisieren den Bericht als Verharmlosung.
({2})
Und sonst? Welche Bedeutung hat Tschernobyl sonst
noch für uns? Ganz konkret ist die Bundesrepublik
Deutschland einer der größten Geldgeber bei der Sanierung des baufälligen Sarkophags um den havarierten
Reaktorblock. Dessen Sanierung wird mehr als
1 Milliarde US-Dollar verschlingen. Ganz konkret gibt
das Bundesministerium für Umwelt Jahr für Jahr
70 000 Euro aus, um Wildbret anzukaufen, welches mit
Cäsium 137 kontaminiert ist. Tschernobyl ist das Symbol für die Folgen der Technologiegläubigkeit des
20. Jahrhunderts.
({3})
Tschernobyl ist das Symbol für die Folgen einer Technologie, bei der es trotz der Einhaltung höchster Sicherheitsstandards keine Garantie für ihre Beherrschbarkeit
gibt.
Wir Sozialdemokraten haben daraus die Konsequenzen gezogen. Die Arbeitsgruppe „Umwelt“ der SPDBundestagsfraktion hat diese Konsequenzen in ihrer
Tschernobylresolution nochmals bekräftigt. Wir setzen
auf zukunftsfähige und sichere Technologien. Wir setzen auf den Ausbau der erneuerbaren Energien.
({4})
Wir setzen auf Energieeffizienz und Energieeinsparung. Atomenergie ist für uns - ebenso wie für die
Mehrheit der Bevölkerung - ein Auslaufmodell.
Abschließend möchte ich noch den Fachkolleginnen
und Fachkollegen von der Union für die sachliche Zusammenarbeit in den letzten Wochen danken.
({5})
Wir standen kurz davor, nach 20 Jahren erstmals einen
gemeinsamen Antrag zur Reaktorkatastrophe von
Tschernobyl auf den Weg zu bringen. Dass es nicht dazu
gekommen ist, bedauern wir sehr. Dass Ihrer Fraktionsspitze letztlich der Mut gefehlt hat, unterstreicht nur
allzu deutlich, welche Bedeutung Tschernobyl heute
noch hat, und zwar gerade für Sie.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/860 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Deutsche Nationalbibliothek ({0})
- Drucksache 16/322 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien ({1})
- Drucksache 16/896 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Hans-Joachim Otto ({2})
Katrin Göring-Eckardt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Professor Monika Grütters, CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Friedrich Schiller, unser großer Dichter, Stolz eines ganzen Volkes, beschwor dieses einst mit den Worten:
Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche,
vergebens.
Deutschland ist eben zuallererst Kultur- und dann erst
eine politische Nation. Friedrich Schiller und Johann
Wolfgang von Goethe, die Begründer dieser Art Kulturnation, bezogen sich darauf, dass Deutschland damals
eben keine einige Nation war, sondern seine verschiedenen Stämme nur durch die Kultur als einem einigenden
Band zusammengehalten wurden. Deutschland ist bis
heute in besonderer Weise ein Land der Kultur. Wir sagen nicht ohne Grund: das Land der Dichter und Denker.
Wie können wir Heutigen das schöner und treffender
ausdrücken als durch die Benennung einer Nationalbibliothek? Denn der Gesetzentwurf über die Deutsche
Nationalbibliothek hat durchaus grundsätzlichen Charakter, der über die pragmatische Ausweitung des Sammelauftrags der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am
Main und Leipzig hinausweist.
Hauptzweck der konstitutiven Neufassung des Gesetzes über die Deutsche Bibliothek aus dem Jahre 1969 ist
die Ausweitung dieses Sammelauftrages auf digitale Publikationen. Das ist unstrittig und im Übrigen längst
überfällig.
Widerspruch aber hat sich in einigen Reihen der Opposition nur bei der Änderung des Namens der Deutschen Bibliothek in Deutsche Nationalbibliothek geregt.
Ich frage vor allem Sie von der FDP, wovor Sie da eigentlich Angst haben: vor der Frage nach der Nation, vor
der Frage nach unserem Selbstverständnis, das darin
zum Ausdruck kommt, oder vor der Konkurrenz einer
Deutschen Nationalbibliothek mit ihren großen Schwestern im In- und Ausland?
Schauen wir also erst einmal nach innen. Die Deutsche Bibliothek, die wir künftig Deutsche Nationalbibliothek nennen, ist das Depot des deutschen Schrifttums. Sie ist die zentrale Archivbibliothek und das
nationalbi-bliografische Informationszentrum der Bundesrepublik Deutschland. Ihre Vorläufer aus Leipzig und
Frankfurt wurden im Zuge der Wiedervereinigung zusammengeführt. Sie alleine hat das Pflichtexemplarrecht
für ganz Deutschland und ist im Übrigen mit fast
22 Millionen Einheiten die größte Universalbibliothek
Deutschlands, die darüber hinaus ein vielfältiges Dienstleistungsangebot bereithält.
Vorbehalte aus dem Bundesrat, der auf Antrag von
Bayern und Berlin gegen den Gesetzentwurf votierte,
gründen sich auf die Loyalität dieser Länder mit ihren
großartigen und altehrwürdigen Bibliotheken. Selbstverständlich anerkennen auch wir im Bundestag die Leistungen der Bayerischen und der Preußischen Staatsbibliothek, die auf ihre Bestände von vor 1913, als die
Deutsche Bibliothek gegründet wurde, und auf die Erwerbung der Literatur des Auslands verweisen.
({0})
Die ehemalige Preußische Staatsbibliothek in Berlin,
schon 1661 gegründet, zeichnet sich vor allem durch
ihre Autografensammlung aus. Dort liegen zum Beispiel
Mozarts „Zauberflöte“ und Beethovens „Neunte“. Die
noch früher - 1558 - gegründete Bayerische Staatsbibliothek verfügt über eine beispiellose Handschriftensammlung und ist nach der British Library die zweitgrößte Zeitschriftensammlung der ganzen Welt.
Eine Analogie zum Sammelauftrag der künftigen
Deutschen Nationalbibliothek lässt sich bei allem Respekt vor der Professionalität und jeweiligen Einzigartigkeit der Sammlungstraditionen in Bayern und Berlin
allerdings nicht begründen. Die Deutsche Nationalbibliothek ist die einzige, die mit der vollständigen Publikation in und über Deutschland und übrigens der Herausgabe der Nationalbibliografie Kernaufgaben einer
Nationalbibliothek erfüllt. Wir sind der Meinung, sie gilt
es daher auch den internationalen Partnern gegenüber
mit Namen kenntlich zu machen.
Mit der Benennung zweier Parlamentarier für den
Verwaltungsrat haben wir im Kulturausschuss übrigens
dafür gesorgt, dass der Charakter der Bibliothek als nationaler Einrichtung auch symbolhaft unterstrichen wird.
({1})
Finanziert wird die durch den erweiterten Sammelauftrag notwendige Budgeterhöhung übrigens durch
Umschichtungen im Kulturhaushalt. Auch das, finde ich,
ist ein gutes Zeichen.
Ob auf Papier oder im Netz, Bücher sind ein unverzichtbarer Bestandteil unserer kulturellen Identität.
Bibliotheken sind weit mehr als bloße Büchersammelstellen. Sie sind vielmehr elementare Einrichtungen für
Information und Wissen. Sie sind ein zentraler Baustein
für Demokratie, weil sie den Zugang zur Literatur ermöglichen.
({2})
Der Begriff der Kulturnation erinnert uns gerade hier
an ein kostbares Erbe. Er fordert uns darüber hinaus zu
eigener Kreativität heraus. Mit der Deutschen Nationalbibliothek setzt die Kulturnation Deutschland ein schönes und würdiges Zeichen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat der Kollege Christoph Waitz, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Symbolpolitik ist das
Schlagwort, mit dem sich die ersten Monate der Arbeit
der Bundesregierung am besten charakterisieren lassen.
Es ist eine Politik, die vor allem auf ihre äußere und öffentliche Wirkung setzt, die Probleme aber nicht wirklich grundlegend angeht. Es ist eine Politik, die im besten Falle verändert, aber keine dauerhafte Verbesserung
schafft.
Auch der vorliegende Entwurf eines Gesetzes über
die Deutsche Nationalbibliothek fällt in die Rubrik Symbolpolitik.
({0})
Das ist es, was die Bundesländer, die gesamte Presselandschaft, Herr Tauss, und vor allem die Bibliotheken
- auf die sollten wir hören - fast einhellig kritisieren.
Dabei fällt ein wenig unter den Tisch, dass der Gesetzentwurf ansonsten sehr viel Sinnvolles enthält.
({1})
Bei der Erweiterung des Sammlungsauftrages darf
man sich allerdings fragen, warum die Anpassung an das
digitale Zeitalter erst in den Jahren 2005 und 2006 erfolgen kann. Dieser eigentliche Bestandteil, die Substanz
dieses Gesetzentwurfs, ist zwischen den Fraktionen auch
nicht mehr streitig. Ich möchte mich aber auf das konzentrieren, was wir als das entscheidende Problem dieses
Gesetzentwurfs ansehen: Die Deutsche Bibliothek ist
- bei aller Wertschätzung der unter diesem Namen vereinten Institutionen - nicht die Deutsche Nationalbibliothek.
({2})
Wir Deutschen haben keine Nationalbibliothek.
Frau Professor Grütters, damit komme ich auf Ihre
Frage zu sprechen. Nach den Kriterien der UNESCO
setzt der Begriff Nationalbibliothek voraus, dass es sich
um die führende Groß- und Universalbibliothek eines
Landes handelt, die das wissenschaftliche Schrifttum
weltweit sammelt, das nationale Schrifttum seit Beginn
komplett sammelt, archiviert, bibliografiert und die alle
wesentlichen bibliothekspolitischen Aufgaben für das jeweilige Land durchführt.
Alle Nationalbibliotheken des Auslands - die Österreichische, die Italienische oder Japanische -, also alle
Bibliotheken, die den Namen Nationalbibliothek tragen,
kommen dieser Aufgabenstellung uneingeschränkt nach.
Auf der anderen Seite gibt es bedeutende Bibliotheken wie die British Library oder die Library of Congress,
die das Attribut national überhaupt nicht nötig haben und
trotzdem sehr gut arbeiten. Ich frage Sie, meine Damen
und Herren von der Koalition: Warum sollen gerade wir
Deutschen bei unserer föderalen Verfasstheit die Deutsche Bibliothek, die hervorragend arbeitet, in Deutsche
Nationalbibliothek umbenennen, wenn sie diese Aufgaben gar nicht erfüllt?
({3})
Die Aufwertung einer Bibliothek widerspricht zudem
der gerade im digitalen Zeitalter zunehmenden Entwicklung, dass viele Institutionen in ihrer Vernetzung ein großes funktionsfähiges Ganzes bilden. In der Computerwelt ist man längst abgekehrt von monströsen
Großrechnern und man erreicht dort eine wesentlich höhere Kapazität durch viele vernetzte dezentrale Rechner.
In seiner Stellungnahme spricht der Bundesrat genau
diesen Punkt an - Frau Professor Grütters, Sie haben das
vielleicht gelesen -, wenn er darauf hinweist, dass die
Deutsche Bibliothek gemeinsam mit der Bayerischen
Staatsbibliothek und der Staatsbibliothek zu Berlin zu einer virtuellen Nationalbibliothek zusammengeschlossen
werden kann.
Durch die Umbenennung erhebt die Deutsche Bibliothek zudem einen durch sie allein nicht einlösbaren Anspruch und beschränkt gleichzeitig die Sichtbarkeit der
faktisch durch die Staatsbibliotheken in Berlin und München wahrgenommenen nationalbibliothekarischen Aufgaben.
Wir sollten die von allen Seiten geäußerte Kritik nicht
unberücksichtigt lassen. Die Namensänderung wird die
bisher gute Zusammenarbeit mit den bereits genannten
Staatsbibliotheken in München und Berlin zwangsläufig
erschweren.
({4})
Die Umbenennung provoziert doch geradezu Abgrenzungsaktivitäten der großen Staatsbibliotheken in München und Berlin, die um ein Vielfaches größer und älter
sind als die Deutsche Bücherei Leipzig und die Deutsche
Bibliothek Frankfurt am Main. Was soll also eine solche
Umbenennung, wenn keiner davon profitiert - sie produziert keinen Mehrwert -, noch nicht einmal die Deutsche
Bibliothek selbst?
({5})
Ich bin der festen Überzeugung, Frau Professor
Grütters, dass wir der Deutschen Bibliothek mit der
nicht zu tragenden Bürde, von nun an Nationalbibliothek
zu heißen, keinen Gefallen tun.
({6})
Daher appelliere ich an Ihre Vernunft, Frau Professor
Grütters, Herr Staatsminister Neumann: Lassen Sie diesen Gesetzentwurf so nicht passieren! Stellen Sie nicht
die Fraktions- und Regierungsdisziplin über die Erkenntnis, dass die Umbenennung der Deutschen Bibliothek
widersinnig und nachteilig für die Bibliotheken in
Deutschland ist.
Haben Sie recht herzlichen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Jörg Tauss, SPDFraktion.
({0})
So viel Vorfreude hat es früher nicht gegeben; aber
das ist ja okay.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Waitz, Sie haben sich hier richtig
um das Namensthema bemüht. Ich möchte sagen: Rüsten Sie jetzt einmal ein bisschen ab! Sie können davon
ausgehen: Die deutschen Bibliotheken sind nicht so
kleinkariert, wie Sie es ihnen unterstellen; sie werden
kooperieren.
({0})
Zu dem Namensthema wird mein Kollege Pries einiges sagen. Ich möchte mich dem zweiten Kapitel zuwenden, das bei Ihnen nur nebenbei angesprochen wurde,
zunächst einmal aber meiner Freude Ausdruck verleihen: Bücher haben heute einen tollen Stellenwert in diesem Parlament.
({1})
Nach der Buchpreisbindung haben wir jetzt zum zweiten
Mal ein Thema, bei dem es um Bücher geht, und das alles zu repräsentativen Zeiten und nicht zu nachtschlafender Zeit.
({2})
Ich freue mich sehr, dass wir es als Koalition geschafft haben, an das Werk der letzten Legislaturperiode
anzuknüpfen. Wir diskutieren ja nicht erst seit gestern
über das Thema, das Gegenstand des Gesetzentwurfs ist.
Es geht nicht um ein Gesetz zur Änderung des Namens
- über die Namensgebung ist nur in diesem Zusammenhang diskutiert worden -, sondern es geht um den Entwurf eines Gesetzes über die Deutsche Nationalbibliothek und damit über etwas, was wir bisher in Frankfurt
hatten; es geht aber darüber hinaus.
Die Bibliothek in Frankfurt, lieber Kollege Pries, hat
als Nationalbibliothek fungiert und die Aufgaben wahrgenommen, die andere Nationalbibliotheken ebenfalls
wahrnehmen.
({3})
Sie wurde beauftragt, körperliche Medienwerke wie
Bücher und Tonträger - übrigens seit 1913 - zu sammeln, zu erschließen, zu bewahren und für die Allgemeinheit nutzbar zu machen. Für digitale Publikationen allerdings fehlte ein solcher Auftrag. Es fehlt also
eine systematische Erschließung, Archivierung und
Nutzbarmachung von Veröffentlichungen, die als Netzpublikationen - anders als das beim Buch der Fall ist keinen körperlichen Träger haben. Es setzt die Bedeutung des Buches in keiner Weise herab, wenn wir sagen:
Wir brauchen natürlich auch ein Archiv der Gesellschaft
für Veröffentlichungen, die keinen körperlichen Träger
haben. In der Regel ist Papier der körperliche Träger. In
der Antike war es Papyrus oder wie auch immer. Das ist
heute noch in Museen, auch hier in Berlin, in einer faszinierenden Vielfalt zu besichtigen.
Aber im Gegensatz zur Archivierung auf Papyrus ist
die Archivierung von digitalen Daten bisher nichts, was
über Jahrhunderte und Jahrtausende hält; diese Daten
sind schon nach wenigen Jahren und Jahrzehnten nicht
mehr abrufbar. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass
wir in unserer Wissens- und Informationsgesellschaft
- Frau Präsidentin, wir sprechen immer von der Entfaltung einer Wissens- und Informationsgesellschaft - informationelle Kontinuität gewährleisten. Heute reden
wir darüber, dass der Auftrag der Bibliothek, wie gesagt,
in diesen Bereich hinein ausgedehnt wird.
Nun haben Sie seitens der FDP kritisiert, dass dies relativ spät kommt. Ich stimme Ihnen in einem Punkt zu:
Es gab Leute, die schon einige Jahre früher dafür eingetreten sind. Als ich 1994 in den Bundestag kam, habe ich
mit dem Kollegen Thierse zusammen einen Antrag auf
den Weg gebracht - daran erinnere ich mich gut -, in
dem wir genau diese Themen angesprochen haben.
({4})
Wer hat das damals unter Hohn und Gelächter abgelehnt? Unter anderem die Bundesregierung, die von Ihnen mit getragen worden ist. Damals hat die FDP ihr
Herz für die digitalen Medien noch nicht so recht entdeckt gehabt. Es ist ja okay, wenn dies heute anders ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns nicht
streiten, sondern diesen Gesetzentwurf gemeinsam beschließen! Es ist nicht so - wie gesagt wird -, dass sich
die Bibliotheken kollektiv aufregen. Es gibt natürlich
eine Debatte über diese Frage, aber die gesamte Fachwelt sagt, dass der Gesetzentwurf, den wir heute in zweiter und dritter Lesung verabschieden wollen, ein Gesetzentwurf ist, der der Deutschen Bibliothek, wie sie bisher
heißt, und in Zukunft der Deutschen Nationalbibliothek
Zukunftschancen einräumt, wie wir es wollen, wie es in
anderen Staaten der Fall ist und wie es die UNESCO
auch gefordert hat. Aus diesem Grunde können und sollten wir alle heute zustimmen.
({5})
Das ist kein kampfentscheidender Gesetzentwurf, aber
er gewährleistet ein Stück Zukunft für die Bibliothek
und für die Erhaltung des kollektiven digitalen Gedächtnisses. Es geht um das gesamte archivarische Gedächtnis
unserer Gesellschaft.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir hätten heute über einen guten Gesetzentwurf endgültig beraten können: den Ausbau der Bundesanstalt
„Die Deutsche Bibliothek“ zu einer digitalen Bibliothek der Zukunft. Denn es ist unbestreitbar wichtig und
notwendig, neben dem großen Fundus der Bücher und
Tonträger seit 1913, der in Frankfurt am Main und in
Leipzig gesammelt wird, nun auch digitales Kulturgut zu
bewahren und nutzbar zu machen. So weit, so gut.
({0})
Aber leider wird diese notwendige Zukunftsinvestition im Haushalt des Beauftragten der Bundesregierung
für Kultur und Medien nicht zusätzlich finanziert, wie
sich das für eine neue, vorher nicht zu leistende Aufgabe
gehört,
({1})
sondern durch Einsparungen, wie es ausdrücklich im
Gesetzentwurf heißt, oder durch Umschichtungen, wie
uns bei der Beratung im Ausschuss für Kultur und Medien versichert wurde. Einsparungen oder Umschichtungen - was ist da der Unterschied? Was genau wird umgeschichtet? Wo wird eingespart?
Wir vertreten den Standpunkt: Wenn Kultur Investition in die Zukunft ist, dann muss ein Kulturetat auch zusätzliche Mittel für wichtige Zukunftsaufgaben haben.
({2})
So weit, so schlecht.
Aber es kommt noch schlechter. Im Zuge ausgerechnet dieser Modernisierung bekommt die Bundesanstalt
„Die Deutsche Bibliothek“ nun den altmodischen, pompösen Namen „Deutsche Nationalbibliothek“.
({3})
Ich halte das für eine irreführend großmäulige Bezeichnung im Jahre 2006, eine völlig sinnlose Zumutung.
({4})
Soll damit vielleicht so etwas wie eine deutschnationale
Leitkulturdebatte angestoßen werden?
({5})
In der Rede von Frau Professor Grütters wurde genau
das sehr stark an den Anfang dieser Debatte gestellt.
({6})
Seit der Einheit erfüllt die Deutsche Bibliothek - ich
sage das noch einmal: nicht die Frankfurter oder die
Leipziger, sondern die Deutsche Bibliothek ({7})
ihren Auftrag für das ganze Land, zusammen mit der
Preußischen und der Bayerischen Staatsbibliothek. Warum also jetzt diese Umbenennung? Weder die Nutzer
noch die Mitarbeiter haben das gefordert.
({8})
Das wird jetzt gemacht, weil die Idee in der vergangenen
Legislaturperiode aufkam und nun umgesetzt werden
soll, ohne überzeugende Begründung. Hier ist keine einzige überzeugende Begründung gefallen.
({9})
Die Hinweise auf den internationalen Gebrauch stimmen schlicht und ergreifend nicht. Denn die Namen der
großen internationalen Bibliotheken sind - der Kollege
von der FDP hat das ja gesagt - entsprechend ihrer Geschichte und ihrer Tradition ganz und gar unterschiedlich. Was also sollen die deutschnationalen Bücher?
Dass dann im Gegensatz zum pompösen nationalen Titel im Verwaltungsrat wenig nationale parlamentarische
Repräsentanz aufscheint, ist ein weiterer kritischer Punkt.
Von 13 Mitgliedern werden gerade zwei Personen vom
Deutschen Bundestag entsandt - eine recht schlechte
Quote.
({10})
Ja, es hätte ein gutes Gesetz werden können: Die Umstellung auf das digitale Zeitalter der Bibliothek ist zu
begrüßen. Sie hätte es auch verdient, als wirkliche Zukunftsinvestition finanziert zu werden. Sie hätte bei ihrem guten, eingeführten und durchaus der nationalen
Aufgabe verpflichteten Namen bleiben und in ihrem
Verwaltungsrat mehr Parlamentarier vertragen können.
Nun ist aus diesen letzten drei Punkten leider nichts geworden. Das ist schade und der Grund, warum die Fraktion Die Linke den Gesetzentwurf ablehnen wird.
({11})
Danke schön.
({12})
Das Wort hat der Kollege Kai Gehring, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal möchte ich mich bei den Kolleginnen
und Kollegen der großen Koalition dafür bedanken, dass
sie den rot-grünen Gesetzentwurf zur Einrichtung der
Deutschen Nationalbibliothek so gut wie unverändert
eingebracht haben.
Frau Jochimsen, was Sie hier heute wieder geäußert
haben, finde ich wirklich sehr abenteuerlich. Dazu hat
meine Kollegin in der ersten Lesung eigentlich schon alles gesagt. Der Begriff Deutsche Nationalbibliothek hat
nichts mit Großmäuligkeit und Nationalismus zu tun,
sondern ist ein angemessener Begriff und eine Weiterentwicklung der Deutschen Bibliothek.
({0})
Auch bei der Bezeichnung deutsche Fußballnationalmannschaft denkt doch niemand an Nationalismus. Der
Begriff Deutsche Nationalbibliothek wird sich in den
nächsten Jahren mit Sicherheit einbürgern.
({1})
Die Deutsche Bibliothek ist - das steht außer Frage die zentrale Archivbibliothek in Deutschland. Auch der
Einwand der FDP in der ersten Lesung - und auch heute
wieder -, die Bibliothek habe den neuen Namen Deutsche Nationalbibliothek deswegen nicht verdient, weil
ihre Bestände im Unterschied zu anderen Nationalbibliotheken in Europa nur bis 1913 reichen, kommt mir da
doch reichlich kleinkariert vor.
({2})
Die im heute zu beschließenden Gesetz vorgesehene
Erweiterung des Auftrags der Deutschen Bibliothek auf
die Bewahrung und Nutzung des digitalen Kulturerbes
für Literatur, Wissenschaft und Praxis ist mehr als überfällig.
({3})
Wir leben im digitalen Zeitalter. Es wäre eine kulturpolitische Katastrophe, wenn bedeutsame digital im Netz
publizierte Dokumente der Nachwelt nicht erhalten blieben. Es ist zu begrüßen, wenn hier systematisch ein digitales Archiv entsteht, das unser kulturelles Gedächtnis
für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aber vor
allen Dingen auch für die breite Öffentlichkeit bewahrt.
Gleichwohl sollten wir darauf achten, dass das traditionelle Buch unter diesem erweiterten Auftrag der Bibliothek nicht leidet. Das Buch ist nach wie vor ein wichtiges
Medium. Das Publikumsinteresse bei den Buchmessen,
die Verkaufszahlen im deutschen Buchhandel und die
Nutzungszahlen der vielen kleinen Bibliotheken in
Deutschland beweisen das.
({4})
Außerdem ist uns Grünen wichtig, dass die zunehmende Digitalisierung des Kulturerbes von Maßnahmen
begleitet wird, welche die Medienkompetenz der Menschen erweitert. Gerade ältere Menschen müssen an
Computertechniken oft erst herangeführt werden. Damit
es einen gleichberechtigten Zugang zu Wissen und Kultur gibt, ist die systematische Förderung der Medienkompetenz hier besonders wichtig.
({5})
- Aber die Jungen werden damit groß.
Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zu den organisatorischen und finanziellen Aspekten der Deutschen Nationalbibliothek sagen. Wir finden es erfreulich, dass der
Bundestag nun doch im Verwaltungsrat mit vertreten
sein soll.
({6})
Wie bei vielen anderen Gremienbesetzungen werden
aber sicherlich nur wieder die beiden großen Fraktionen
dort vertreten sein.
({7})
Wir wünschen uns für die Zukunft, dass auch die kleineren Fraktionen hier mehr beachtet werden.
({8})
Was die Finanzierung der durch den erweiterten
Sammelauftrag der Deutschen Nationalbibliothek entstehenden Mehrausgaben angeht, werden wir als Grüne natürlich ganz genau hinschauen, wo die angekündigten
Einsparungen zur Gegenfinanzierung im Haushalt des
Beauftragten für Kultur und Medien vorgenommen werden.
({9})
Wir werden es in den Haushaltsberatungen für 2007
jedenfalls nicht akzeptieren, wenn im Gegenzug bei
wichtigen Kulturförderungen gekürzt wird. Wir erwarten
hier ein klares Wort von der Bundesregierung, woher genau das Geld dafür kommen soll.
({10})
- Nein, es ist noch nicht klar gesagt worden, woher das
Geld für 2007 ganz konkret kommen soll.
({11})
So wichtig und sinnvoll die Einrichtung der Deutschen Nationalbibliothek ist: Wir sollten trotzdem und
gerade deshalb die kleinen Bibliotheken in den Kommunen nicht vergessen. Ihr Erhalt ist wichtig im Sinne
eines gleichberechtigten Zugangs zu kultureller Bildung.
Dass trotz steigender Nutzerzahlen mehrere Hundert Bibliotheken in diesem Land jährlich schließen müssen,
finden wir äußerst besorgniserregend.
({12})
Bevor es zu spät ist, brauchen wir dringend eine konzertierte Aktion von Bund, Ländern und Kommunen für
die Zukunft unserer Bibliothekslandschaft und ihre
wichtige Rolle für die kulturelle Bildung. Ich fordere die
Bundesregierung auf, hier endlich aktiv zu werden.
({13})
Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Kollege Tauss, Sie kommen in meiner Rede auf jeden
Fall vor.
Ich möchte mit einer ernsthaften Bemerkung in Richtung Linkspartei beginnen. Frau Jochimsen, mich wundert nicht, dass Sie Probleme mit dem Begriff Nation haben. Denn die Linkspartei und die WASG haben bisher
noch nie den Eindruck gemacht, als ob sie mit Deutschland oder mit unserer Nation auch nur im Geringsten etwas zu tun haben möchten.
({0})
Aber das ist nicht Gegenstand meiner Rede.
Ich bin, wie Herr Kollege Tauss vorhin schon richtigerweise ausführte, für die Fragen der technischen Neuerungen, die in dem Gesetzentwurf in erster Linie behandelt werden, zuständig und spreche auch dazu.
Ich bin mir sicher, dass dieser Gesetzentwurf - Kollege Gehring hat gerade richtigerweise gesagt, dass dieses Anliegen schon vorher auf den Weg gebracht worden
ist - ein wichtiger Beitrag dazu ist, im digitalen Wettbewerb aufzuholen. Wir sehen, was sich dort im privatwirtschaftlichen Bereich tut - ich nenne das Stichwort
Google - und welche neuen technologischen Planungen
auf die Internetwelt zukommen. Dies muss unsererseits,
seitens des Staates begleitet werden und auch im europäischen Rahmen Berücksichtigung finden. Dazu sollte
die Bundesrepublik Deutschland einen Beitrag leisten,
und zwar aus folgendem Grund: Wir sollten im digitalen
Zeitalter, wenn wir die technischen Möglichkeiten, die
vorhanden sind, tatsächlich nutzen, darauf hinwirken,
unsere kulturelle Identität zu berücksichtigen und zu erhalten.
Das Wissen des digitalen Zeitalters müssen wir verfügbar halten. Gleichzeitig müssen wir zur Kenntnis
nehmen, dass sich zukünftig die Publikationsflut und die
Flüchtigkeit von Informationen erhöhen werden. Deshalb ist die Frage der Medienkompetenz ein entscheidender Schlüssel, um den Zugang und die Teilhabe an
der Wissensgesellschaft zu gewährleisten.
({1})
Dazu wird die digitale Bibliothek ihren Beitrag leisten.
Kollege Tauss hat am 19. Januar dieses Jahres in der
ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes bereits darauf hingewiesen: Jeder kennt die Frage - und stellt sie sich
selbst -, wie das enorme Wissen, das tagtäglich von Universitäten, Akademien, Verlagen oder auch von Privatpersonen in die digitalen Netze gestellt wird, auch für
die nachfolgenden Generationen verfügbar gehalten
werden kann. Deswegen ist der Gesetzentwurf vollkommen richtig.
Eine Innovation von Speichermedien folgt auf die andere. Systeme ändern sich; die Entwicklung auf diesem
Gebiet bleibt rasant. Viele wichtige Erkenntnisse und
wissenschaftliche Publikationen werden ohnehin nur
noch digital und gar nicht mehr in Buchform veröffentlicht. Ich glaube trotzdem - wir haben vorhin eine Diskussion darüber geführt -, dass das Buch und der Druck
an sich auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen werden. Es muss daher keinerlei Besorgnis, wie ich dies in
manchen Veröffentlichungen lese, geben, dass das Buch
durch die Digitalisierung in den Bibliotheksbereichen in
Zukunft infrage gestellt wird. Dies wird es nicht. Die Digitalisierung soll ausdrücklich nur eine ergänzende Funktion haben, um den Zugang von jedem Ort dauerhaft
möglich zu machen. Das ist der entscheidende Vorteil.
Die Bibliothek muss einen Beitrag dazu leisten, dass von
fast jedem Ort aus die Verfügbarkeit über eine Information möglich ist.
Vorhin hatte ich die Frage der in diesem Zusammenhang gebotenen Europäisierung angesprochen. In
Frankreich werden Initiativen ergriffen, den Bestrebungen einer von mir schon genannten Internetfirma entgegenzutreten. Denn niemand weiß, wie sehr bei allem Optimismus, den ich der Internetwirtschaft gegenüber habe,
die kulturelle Identität in Mitleidenschaft gezogen wird,
wenn der Staat sich aus diesem Bereich komplett verabschiedet.
({2})
Deshalb glaube ich, dass unser Gesetzentwurf ein entscheidender Beitrag sein kann, diesem Problem entgegenzuwirken und diese Fragestellungen zu bearbeiten.
Wir sollten uns um dieses Thema und nicht mehr um die
Frage der Umbenennung kümmern. Dies ist gleich nach
der Abstimmung ohnehin entschieden und deswegen
können wir uns getrost auf das konzentrieren, was tatsächlich wichtig ist, nämlich die neuen technologischen
Herausforderungen anzunehmen.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Christoph Pries,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Staatsminister
Neumann! Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich
sehr, dass wir heute gemäß dem Motto „Was lange
währt, wird endlich gut“ einen Schlussstrich unter die
Debatte ziehen können, die nicht erst seit Einbringung
des Entwurfes eines Gesetzes über die Deutsche Nationalbibliothek in den Deutschen Bundestag, sondern bereits seit über 150 Jahren Geist und Gemüt bewegt.
Die Bibliothekswissenschaft hat zahlreiche vergebliche Anläufe dokumentiert, eine Nationalbibliothek in
Deutschland zu etablieren. Ein Beispiel: Karl Christian
Sigismund Bernhardi war 1843, fünf Jahre bevor er als
Abgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlung
gewählt wurde, als Bibliothekar in Kassel beschäftigt. In
diesem Jahr kam es zu der Eingabe des Herrn Bernhardi
an die Preußische Akademie der Wissenschaften, diese
möge sich engagieren, den König von Preußen für den
Gedanken einer Deutschen Nationalbibliothek zu gewinnen.
Der Buchhandel solle je ein Exemplar eines jeden in
Deutschland erscheinenden Buchwerks dieser Bibliothek übergeben. Darauf aufbauend sollte die Bibliografie von Deutschland erstellt werden.
Die Vollständigkeit der Sammlung war Bernhardi besonders wichtig. In seiner Eingabe heißt es:
Wenn nämlich auch in Deutschland, wie dieß in
Frankreich Gesetz ist, Ein Exemplar von Allem,
was gedruckt wird, ohne Ausnahme an eine deutsche Nationalbibliothek eingeliefert werden müßte,
so wäre das der Ort, wo jeder Gelehrte eine vollständige Ergänzung der Bibliotheken finden
könnte, welche ihm in seiner nächsten Umgebung
zugänglich sind.
Schauen Sie nach Frankfurt! Dort sehen Sie genau
das, was sich Herr Bernhardi bereits vor 160 Jahren erträumte: eine Bibliothek, welche die Ansprüche erfüllt,
die an eine Nationalbibliothek zu stellen sind. Hier werden sämtliche Publikationen aus und über Deutschland,
alle in Deutschland veröffentlichten ausländischen Publikationen sowie sämtliche deutschsprachige Literatur
des Auslands gesammelt. Auch erscheint hier mit der
Nationalbibliografie ein Verzeichnis, dem es vergönnt
ist, einen Namen zu tragen, der die Funktion bestens umschreibt. Die Einrichtung in Frankfurt, unter deren Dach
die Nationalbibliografie erscheint, hat die Funktion und
den Charakter einer Nationalbibliothek. Warum sollte ihr
dann ein entsprechender Name verwehrt bleiben?
Die Eingabe von Herrn Bernhardi wurde damals abschlägig beschieden. Der Gutachter kam zu dem
Schluss:
Wozu die übervollständige Anhäufung des Mittelmäßigen und Schlechten?
Mit dieser Frage leitete er die Ablehnung der Eingabe
durch die Akademie ein.
Übrigens, Herr Waitz: Die Wurzeln Ihrer Partei liegen, wie Sie und Ihre Fraktionskollegen gern betonen, in
genau dieser Zeit. Der spätere Nationalliberale
Bernhardi jedenfalls wusste sehr genau, dass eine Einrichtung, die die Aufgaben einer Nationalbibliothek erfüllt, den entsprechenden Namen tragen sollte. 132 Jahre
nach dessen Tod sind die Fakten, die dafür sprechen,
dem Kind einen Namen zu geben, größer denn je. Ich
möchte an dieser Stelle nicht die Argumente, die ich bereits bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfs vorgestellt habe, wiederholen. Vielmehr möchte ich auf einige
andere Aspekte eingehen, die Ihnen verdeutlichen sollen, dass die Umbenennung in „Deutsche Nationalbibliothek“ richtig ist.
Betrachten wir einmal den jetzigen Namen: Die
Deutsche Bibliothek. Dieser Name wirft einige Fragen
auf: Was soll der Artikel „die“ überhaupt aussagen? Soll
jene Bezeichnung vielleicht darauf hinweisen, dass es
sich bei dem Institut in Frankfurt quasi um die Bibliothek aller Bibliotheken in unserem Land handelt? Wenn
ja, würde dies stärker zu dem vom Bundesrat befürchteten Verlust der Bedeutung der Staatsbibliotheken in Berlin und München beitragen, als es die Bezeichnung
„Deutsche Nationalbibliothek“ jemals könnte.
Betrachten Sie einmal die Protokolle der ersten Lesung
zu diesem Gesetzentwurf. Sie werden feststellen, dass
kaum eine Rednerin und kaum ein Redner den richtigen
Namen der Einrichtung in Frankfurt benutzt hat. Das
„die“ wurde allzu gern weggelassen. Auch jene Abgeordnete, welche sich gegen eine Umbenennung ausgesprochen haben, mussten erkennen, dass sich die korrekte
Namenswiedergabe nur schwerlich in einen rhetorisch
einwandfreien Sprachgebrauch einpflegen lässt.
({0})
In meinen Augen macht die bisherige Bezeichnung
keinen Sinn und ist zudem irreführend. Lassen Sie uns
also internationalen Gepflogenheiten folgen und der Bibliothek den Namen geben, der nicht nur ihrer Funktion,
sondern auch ihrer Bedeutung und internationalen Betrachtung entspricht.
({1})
Ich begrüße im Übrigen ausdrücklich die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien.
Zukünftig entsendet der Bundestag zwei Mitglieder in
den Aufsichtsrat der Deutschen Nationalbibliothek.
({2})
Das unterstreicht den Charakter der Bibliothek als unsere Nationalbibliothek.
Im Grunde haben wir bereits eine Nationalbibliothek.
Lassen Sie uns endlich diese auch so bezeichnen!
Danke schön.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über
die Deutsche Nationalbibliothek, Drucksache 16/322.
Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/896, den
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD,
des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU bei Ge-
genstimmen der FDP und der Fraktion der Linken ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist mit denselben Mehrheiten wie in zweiter Bera-
tung auch in dritter Beratung angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Ordnungspolitischer Kompass für die deutsche Energiepolitik
- Drucksache 16/589 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansKurt Hill, Dr. Gesine Lötzsch, Eva BullingSchröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Die zukünftige Energieversorgung sozial und
ökologisch gestalten
- Drucksache 16/1082 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gudrun Kopp.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und
Damen! Wir brauchen in Deutschland endlich eine
Renaissance der Ordnungspolitik im Energiebereich.
Wir führen jetzt zum zweiten Mal eine Energiedebatte an
diesem Tag.
({0})
Das mag die Bedeutung der Energiepolitik auch noch
einmal unterstreichen. Wenn ich mehr Ordnungspolitik
im Energiebereich fordere, dann heißt das, dass im
Rückblick in den letzten acht Jahren - das wurde zwar
schon von Rot-Grün begonnen, wird aber leider von der
rot-schwarzen Koalition fortgesetzt - der Pfad des Dirigismus und der Staatsgläubigkeit beschritten wurde und
weiter beschritten wird. Dagegen sprechen wir uns dezidiert aus.
({1})
Beim Energiegipfel haben wir es gesehen: Die wichtigen Fragen werden ausgespart: Wie sieht der künftige
Energiemix aus? Inwieweit wollen wir mehr Wettbewerb und Markt verwirklichen? Wie wird sich der Emissionshandel gestalten? Es ist ja vorgesehen, dass etwa
10 Prozent der Zertifikate versteigert werden sollen. Wir
stellen uns vor, dass der Versteigerungserlös zum Beispiel zur Senkung der Stromsteuer eingesetzt werden
könnte, damit die Bürger und unsere Wirtschaft entlastet
werden. Wir fordern, dass auf diesem Weg der hohe
staatliche Anteil an den Strompreisen endlich gesenkt
wird. Er beträgt - das wissen Sie alle; wir haben übrigens die zweithöchsten Strompreise in der EU - 40 Prozent. Der Staat muss sich an der Stelle zugunsten von
mehr Markt und Wettbewerb zurücknehmen.
({2})
Wir haben in dem Antrag, den wir Ihnen heute vorlegen und von dem wir hoffen, dass er auch für Sie die
Leitlinien einer künftigen Energiepolitik beschreibt, drei
Grundsätze niedergelegt, die wir Ihnen besonders mit
auf den Weg geben wollen.
Der erste Grundsatz lautet: Die soziale Marktwirtschaft, also die Bestimmung von Preisen, Verbrauch und
Investitionen durch Markt und Wettbewerb, soll auch in
der Energiepolitik endlich eine stärkere Bedeutung erhalten.
({3})
Zweiter Grundsatz: Die Eingriffe des Staates müssen
auf das notwendige Maß begrenzt und marktkonform
ausgestaltet werden.
Dritter Grundsatz: Subventionen dürfen nur ausnahmsweise gewährt werden; sie müssen zeitlich eng befristet und degressiv sowie marktwirtschaftlich ausgestaltet sein.
Von alldem, meine lieben Kollegen und Kolleginnen,
ist derzeit nichts zu spüren, im Gegenteil. Ich erwähne es
noch einmal ausdrücklich: Wenn wir Klimaschutz, Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit von Energie trotz des
immer weiter steigenden Energiehungers in der Welt gewährleisten wollen, dann brauchen wir auch in Zukunft
einen breiten Energiemix. Insbesondere an die CDU/
CSU-Fraktion gerichtet möchte ich sagen: Sorgen Sie dafür, dass der Streit in der Koalition um die künftige Nutzung der Kernenergie endlich beendet wird! Ermöglichen Sie eine Verlängerung der Laufzeiten der
Kernkraftwerke! Denn auf diese Weise können wir für
Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit
von Energie sorgen.
({4})
Denken Sie daran, dass auch in dem Statusbericht
der Bundesregierung mit Blick auf die Zukunft davon
ausgegangen wird, dass, neben den erneuerbaren Energien, Gas und Kohle vermehrt genutzt werden müssen.
Beim Gas soll sich der Bedarf in Zukunft sogar mehr als
verdoppeln.
({5})
- Das steht im Statusbericht der Bundesregierung.
Schauen Sie nach.
({6})
Das heißt, dass Sie den Klimaschutz und die Versorgungssicherheit hintanstellen und die Importabhängigkeit unseres Landes - denken Sie an Gasprom, an Russland - steigt.
Das wollen wir nicht. Wir möchten bei den Kohlekraftwerken neueste Technologien einsetzen und bei den
erneuerbaren Energien verstärkt in Forschung investieren. Wir möchten, dass die Stromerzeugung aus Kernenergie durch eine Verlängerung der Laufzeiten der
Kernkraftwerke möglich bleibt.
({7})
All das ist notwendig, um den Standort Deutschland
zu versorgen. Energiepolitik ist Standortpolitik. Das
kann man gar nicht oft genug wiederholen. Sie ist die
Lebensader unserer Wirtschaft.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegin Kopp, die FDP startet stark mit
ihrem Antrag, in dem sie einen ordnungspolitischen
Kompass fordert und mit dem sie marktwirtschaftliche
Rahmenbedingungen schaffen will. Das finde ich gut.
Das kann ich nachhaltig unterstreichen.
({0})
Sie klagen zu Recht an, dass wir die Gleichgewichtigkeit
der Ziele Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit,
Klimaschutz sowie Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit in der Vergangenheit zu sehr aus den Augen
verloren, dass wir diese Bereiche nicht richtig austariert
hätten. Auch darin stimme ich Ihnen zu.
({1})
In Ihrem Antrag sind aus meiner Sicht aber leider
keine konkreten Handlungsansätze erkennbar. Sie verlieren sich am Schluss Ihres Antrages leider in Allgemeinplätzen. Er endet mehr oder weniger - das muss ich Ihnen schon sagen - als inhaltliche Nullnummer:
Sie fordern, dass wir
die Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft, also
die Bestimmung von Preisen, Verbrauch und Investitionen durch Markt und Wettbewerb …
erhalten, dass sich
staatliche Vorgaben … auf einen Ordnungsrahmen
für energiewirtschaftliches Handeln beschränken,
aber das Handeln anderen überlassen.
({2})
Das sind Allgemeinplätze, denen wir alle hier im Haus
- vielleicht mit Ausnahme der Kollegen von ganz links zustimmen. Wir sind - das will ich gleich hinzufügen auf dem Weg, diese Forderungen umzusetzen. Mit dem
Energiegipfel haben wir in dieser Woche den Startschuss
dazu gegeben.
Der zweite Antrag wurde von der Fraktion DIE
LINKE vorgelegt. Er geht nicht nur haarscharf an den
Realitäten vorbei, sondern meilenweit. Sie sprechen davon, dass unsere Energiepolitik internationale Konflikte
schürt. Im Gegensatz zur FDP schlagen Sie immerhin
Instrumente vor. Sie sind aus meiner Sicht allerdings
abstrus. Sie fordern die Verstaatlichung der Netze, so
genannte Bürgerenergienetze und andere Dinge mehr.
All das sind Instrumente aus der sozialistischen Mottenkiste, die in der Vergangenheit nirgendwo auf der Welt
funk-tioniert haben. Deshalb brauchen wir uns mit diesem Antrag nicht weiter zu beschäftigen.
Was sind die Herausforderungen und wie wollen wir
sie angehen? In der Tat hat unsere Wirtschaft, und zwar
nicht nur die energieintensive Wirtschaft, Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt. Diese Wettbewerbsfähigkeit müssen wir dringend wieder erlangen. Das bedeutet, wir
müssen kurz- und mittelfristig handeln. Kurzfristige
Maßnahmen haben wir mit dem Energiewirtschaftsgesetz eingeleitet. Frau Kopp, dieses Gesetz haben wir im
Vermittlungsausschuss zusammen mit der SPD und den
Grünen - auch das muss man einmal sagen - auf den
Weg gebracht. Mit der zurzeit in Entwicklung befindlichen Anreizregulierung werden wir einen Beitrag dazu
leisten, dass die vorhandenen Potenziale bei den
Netzentgelten gehoben werden. Diese Preissenkung gereicht den energieintensiven Unternehmen zum Vorteil.
({3})
Darüber hinaus sind Ausnahmen bei der energieintensiven Industrie möglich.
Es gibt hier die ersten Antragsteller. In diesem Zusammenhang wurden die Netznutzungsentgelte schon
zwischen 30 und 50 Prozent reduziert. Hier wurde ein
konkreter Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit erreicht.
({4})
- Herr Kelber, dank unserer Vermittlungsbemühungen
ist es Ende Juni letzten Jahres in der Tat ein gutes Gesetz
geworden.
({5})
Ein weiterer Punkt: die Härtefallregelung im Erneuerbare-Energien-Gesetz. Im Koalitionsvertrag wurde die
Aufhebung der Deckelung bei 10 Prozent verabredet.
Das wird jetzt umgesetzt. Sie bringt der energieintensiven Industrie für 2006 immerhin 80 Millionen Euro und
verbessert die Wettbewerbsfähigkeit direkt und nachhaltig.
Ein weiteres Instrument, mit dem wir kurzfristig handeln, ist das Energiesteuergesetz. Einige Branchen werden weiterhin bzw. neu von der Stromsteuer und Mineralölsteuer befreit. Auch das zielt direkt auf die
Wettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen ab.
Ein letzter und ganz entscheidender Punkt, mit dem
wir uns in den nächsten Wochen mit Sicherheit auch hier
im Parlament und in den Ausschüssen befassen werden,
wenngleich der NAP II Aufgabe der Regierung ist, ist
der Emissionshandel. Nicht umsonst haben wir den EUKommissar für Umwelt eingeladen, im Mai zu einer gemeinsamen Sitzung des Wirtschafts- und des Umweltausschusses zu kommen. Der Emmissionshandel muss
zukünftig so ausgerichtet sein, dass die energieintensiven Unternehmen im Wettbewerb nicht mehr benachteiligt werden, dass wir die Einpreisung der Windfall-Profits zukünftig verhindern bzw. rückgängig machen
sollten und so einen wichtigen Beitrag für die energieintensiven Unternehmen leisten.
({6})
Das alles sind Punkte, die ganz konkret nacheinander abgearbeitet werden und dem Ziel der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit bzw. der Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft dienen.
Was aber sind die langfristigen Herausforderungen?
Sie sind in der Tat nicht nur kurz- oder mittelfristiger
Natur. Wir brauchen ein energiepolitisches Gesamtkonzept - das fordern wir schon lange ein; leider gab es das
sowohl in den letzten sieben Jahren unter Rot-Grün als
auch in den 90er-Jahren unter Schwarz-Gelb nicht -, das
die Ziele Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit, Umweltschutz und Klimaverträglichkeit aufeinander abstimmt. Was sind die Herausforderungen? Auf der einen
Seite müssen wir alles für die Energieeinsparung und die
Erhöhung der Energieeffizienz tun. Ich glaube, da sind
wir uns alle hier im Hause einig.
Das EU-Grünbuch sieht hier ein Potenzial von bis zu
20 Prozent, was monetär betrachtet europaweit immerhin 60 bis 65 Milliarden Euro pro Jahr bedeutet, die wir
in diesem Bereich einsparen könnten, wenn wir über alle
Sektoren hinweg konsequent wären. Wir wollen dies und
setzen das mit dem Gebäudesanierungsprogramm - das
ist ein Feld, über das in der Vergangenheit sehr viel geredet wurde, Herr Fell, auf dem aber viel zu wenig getan
wurde - in diesem Jahr erstmalig um, und zwar mit einer
hervorragenden finanziellen Ausstattung und mit weiteren Anreizen, die nicht nur zinsverbilligend wirken, sondern die direkt im Zuschussbereich, also auch im Eigentumsbereich, ihre Wirkung entfalten. Dies wird mit
weiteren Instrumenten ergänzt.
Mit all diesen Bemühungen - der Steigerung der
Energieeffizienz und den Einsparungen - werden wir,
wenn es optimal läuft, um 20 Prozent reduzieren können. Das heißt, wir haben natürlich immer noch den Bedarf an Strom, Energie und Wärme. Auch im Kraftstoffund im Mobilitätsbereich, die selbstverständlich auch zu
einem gesamtpolitischen Energiekonzept zählen, gibt es
weitere Herausforderungen. Wir brauchen einen nachhaltigen Energiemix. Dieser Energiemix - davon bin ich
zutiefst überzeugt - wird allen Energieträgen mit ihren
spezifischen Vor- und Nachteilen in Zukunft einen Platz
bieten.
({7})
Das betrifft die fossilen Brennstoffe, also zum Beispiel die Braunkohle und die Steinkohle. Ich nenne die
Stichworte CO2-Reduktion und CO2-freies Kraftwerk,
das nun von der Vision in die Realisierungsphase gelangt. Das betrifft auch den Gasbereich. Ich will nicht
verkennen, dass ich froh bin, dass wir jetzt von dem Weg
Abstand nehmen, der von den Grünen, insbesondere von
Herrn Trittin, in der letzten Legislaturperiode eingeleitet
wurde. Es schien der vermeintlich einfachste Weg, Investitionen zu generieren und gleichzeitig eine Reduktion des CO2-Ausstoßes zu erreichen. Das funktionierte
aber nicht so. Es wird nötig sein, auch die Kernenergie
im Energiemix zu behalten,
({8})
ob wir dies in Deutschland wollen oder nicht.
Es ist sicher: Die Kernenergie wird für den Energiemix in Deutschland auch in Zukunft eine Rolle spielen.
Ich sage Ihnen auch, warum: Wenn wir einen europäischen Markt, beim Gas den Ausbau der Grenzübergangsstellen, den Ausbau der Kuppelstellen und auf dem
Strommarkt eine Preisbildung auf europäischer Ebene
haben wollen, wird der Verbraucher in Deutschland - ob
Endverbraucher oder Wirtschaft - zukünftig frei entscheiden können, woher er welchen Strom bezieht.
Selbst dann, wenn wir uns, was ich nicht glaube, dafür
entscheiden würden, in Deutschland langfristig auf die
Kernenergie zu verzichten, würde sie über diesen Umweg für den Strommix in Deutschland auf jeden Fall
eine Rolle spielen.
Insofern wird die Diskussion der nächsten Wochen
und Monate, wenn wir sie denn ernsthaft, rational und
sachlich führen - mein Eindruck ist, dass wir das zum
ersten Mal seit Jahren, beginnend mit dem Energiegipfel, schaffen können -, dazu führen, dass wir die Realitäten zur Kenntnis nehmen und uns an ihnen orientieren
und dass wir uns bei der Stromerzeugung um eine breite
Diversifikation bemühen. Zu den Hebungen und den Potenzialen konnte ich leider nichts mehr sagen.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Ich bitte darum.
Dabei geht es um die KWK und hinsichtlich der
Kraftstoffe und der Mobilität um eine Strategie zur Ersetzung der bisherigen Kraftstoffe durch alternative
Kraftstoffe.
Deshalb sehe ich mit Freude den Diskussionen der
nächsten Wochen und Monate entgegen,
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
- in denen mancher die Realitäten der Zeit erkennen
wird. Ich komme für heute gerne zum Schluss, Frau Präsidentin.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Hans-Kurt Hill, Fraktion
Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Lieber Herr Kollege Pfeiffer, wenn etwas
abstrus ist, dann ist es Ihr unbedingtes Festhalten an der
Atomindustrie und den gefährlichen Meilern, die es bei
uns gibt. Das ist wirklich abstrus.
({0})
Die jetzige Energiepolitik der Bundesregierung ist
unsozial und den globalen Herausforderungen nicht gewachsen. Bundesregierung und Energiekonzerne glauben, man könne den nötigen Umbau ohne viel Bewegung bewältigen. Das ist ein Irrtum. Die Aufgabe einer
nachhaltigen Energieversorgung ist kein Wunschkonzert der Energiebosse. Es ist zwingend nötig, die Energiepolitik den veränderten Bedingungen anzupassen.
Anhand von fünf Thesen möchte ich das verdeutlichen:
Erstens. Klimawandel und Ressourcenverfügbarkeit geben den Ton an. Deutschland ist zu drei Vierteln
vom Import fossiler und atomarer Energie abhängig. Der
Hunger nach diesen Rohstoffen wächst. Die Folge:
Schon in 15 Jahren wird das knappe Öl über 100 Dollar
je Barrel kosten. Herr Pfeiffer, dann werden wir es mit
Verteilungskämpfen zu tun haben. Warten wir einmal ab,
was dann geschehen wird.
({1})
Auch auf Kohle allein können wir nicht setzen. Denn der
Klimawandel ist in vollem Gange. Seine Hauptursache
ist der massenhafte Verbrauch von Kohle und Öl. Die
Folgen für Mensch und Umwelt erreichen uns schneller
und in stärkerem Maße als bisher angenommen. Wir
müssen beim Klimaschutz einfach mehr tun.
Zweitens. Der Energieverbrauch muss halbiert werden. Allein die Industrie kann den Stromverbrauch um
30 Prozent senken. Die Heizkosten im Gebäudebestand
könnten um bis zu 80 Prozent reduziert werden.
({2})
Bei einer Halbierung des Energieverbrauchs können
wir sicherlich das Potenzial der erneuerbaren Energien
nutzen, um die drängenden Ziele beim Klimaschutz zu
erreichen. Das wird nur mit einem klaren Ordnungsrecht
gelingen. Dazu gehören das Verbot von Stand-by-Geräten, die Pflicht zum Energiemanagement in der Industrie
und klare Verbrauchsobergrenzen, die auch für die Automobilindustrie gelten müssen.
Drittens. Energie muss bezahlbar bleiben. Die
aktuelle Preissteigerung ist nur teilweise den hohen
Rohstoffkosten geschuldet. Sie ist auch auf Börsenspekulationen und die Profitgier der Konzerne zurückzuführen. Neben der Energieeinsparung ist der Ausbau der erneuerbaren Energien der einzige Garant für stabile
Preise. Ihre Kosten sinken, während sich die Preisspirale
bei Gas und Öl nach oben dreht. In wenigen Jahren
werden Wind, Sonne und Biomasse zum Teil billiger
sein als die fossilen Energien.
Viertens. Die Netze gehören in öffentliche Hand; das
ist eigentlich nichts Neues.
({3})
Wir haben mit der Bundesnetzagentur ein geeignetes
Instrument, wir müssen es nur entsprechend ausstatten,
dann wird es auch funktionieren. Die Netze müssen der
Allgemeinheit dienen und nicht dem Profit weniger.
Meine Damen und Herren von der FDP, 40 Prozent
der Stromrechnung der privaten Haushalte sind so genannte Netznutzungsentgelte.
({4})
Die erneuerbaren Energien schlagen nur mit 2 Prozent
zu Buche.
({5})
Fünftens. Die fossil-atomare Energiewirtschaft hat
keine Zukunft. Atomkraft senkt nicht die Preise, ausschließlich Spitzenlastkraftwerke bestimmen den Marktpreis. Der Klimaschutzeffekt ist null. Laufen Atommeiler
länger, dürfen die Kohleblöcke mehr CO2 produzieren;
das macht der Emissionshandel möglich. Atomkraft
kann keine Brücke zur Einführung neuer Technologien
sein. Clean-Coal-Kraftwerke und Fusionsreaktoren sind
nur teure Theorien. - Es tut mir Leid, meine Stimme
macht nicht mehr mit.
Ich bedanke mich bei Ihnen.
({6})
Herr Kollege, alles Gute für Ihre Stimme, damit Sie
demnächst wieder reden können.
Nächster Redner ist der Kollege Rolf Hempelmann,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das ist nun heute schon die vierte Debatte, die sich auf
die eine oder andere Art und Weise mit der Energiepolitik beschäftigt. Wir haben offenbar einen Tag der Energiepolitik, ja eigentlich sogar - wenn man an den Beginn
der Woche, an den Energiegipfel denkt - eine Woche der
Energiepolitik. Das ist gut so; es zeigt nur den Stellenwert des Politikfeldes, mit dem wir uns beschäftigen.
Am Ende eines solchen Debattentages - den haben
wir ja, was die Energiepolitik angeht, fast erreicht - kann
man eine ganz interessante Feststellung treffen: Die
Situation ist schon etwas seltsam. Auf der einen Seite
haben wir die Grünen, die initiativ wurden und eine
Aktuelle Stunde zum Thema Energiepolitik verlangten
und im Grunde genommen feststellen müssen, dass sie
fast überflüssig werden;
({0})
denn Rot-Schwarz - oder Schwarz-Rot - betreibt eine
Energiepolitik, die mindestens so grün ist wie die Energiepolitik der sieben Jahre zuvor.
({1})
Das führt bei den Grünen natürlich zu ein wenig Nervosität.
Auf der anderen Seite haben wir eine Fraktion, die ein
bisschen die Rolle einnimmt, die man früher den Grünen
zugeschrieben hat. Wir haben gerade Herrn Hill gehört,
der meint, dass es ohne fossile und ohne Kernenergie
geht, mit anderen Worten: Strom gibt es, wenn der Wind
weht. Auch das kann der Weg nicht sein.
Unser Koalitionspartner schließlich hat sich mit uns
gemeinsam auf den Weg gemacht, eine Energiepolitik zu
formulieren, die zukunftsfähig ist und unser Land weiterbringen wird. Lieber Kollege Pfeiffer, ich hätte gerne
am Ende Ihrer Rede applaudiert, aber wir gewöhnen uns
ja alle noch ein bisschen aneinander.
({2})
Deswegen sei Ihnen verziehen, dass Sie am Ende doch
noch einen kleinen Ausrutscher hatten, als Sie sozusagen
„zum Kern“ gekommen sind, auf den Sie immer wieder
gerne zurückkommen. Sie hatten halt das Pech, bei der
Tschernobyldebatte nicht dabei gewesen zu sein; möglicherweise hätten Sie sich sonst die Bemerkung zu diesem Thema verkniffen.
Die FDP hat einen Antrag gestellt
({3})
und bittet um einen ordnungspolitischen Kompass.
Dann gibt es offenbar eine gewisse Orientierungslosigkeit in Ihren Reihen.
({4})
Sie bitten uns, Ihnen da ein bisschen weiterzuhelfen und
Orientierung zu geben. Dazu sind wir natürlich gerne bereit.
({5})
Die Linken wollen Energieversorgung sozial und
ökologisch gestalten. Ich habe immer gedacht: Das ist
genau das, was wir jahrelang gemacht haben. Wir waren
für das Soziale und für das Ökologische gemeinsam zuständig und sind dafür gelegentlich von allen Seiten
- oder fast allen - gelobt worden.
Wie dem auch sei, am Montag fand der Energiegipfel
statt; wir haben heute darüber gesprochen. Ich denke,
dass hier durchaus ein Beitrag geleistet worden ist und in
den nächsten Monaten geleistet werden wird,
({6})
der dem Verlangen nach Orientierung bis ins Jahr 2020
tatsächlich nachkommt: mit einem Energiekonzept oder
Energieprogramm, das im Jahre 2007 das Ergebnis dieses Gipfelprozesses sein soll.
Wir haben heute Morgen gehört, dass bei den Gesprächen auf diesem Gipfel insbesondere die Aspekte
Versorgungssicherheit, Preiswürdigkeit und Umweltverträglichkeit eine Rolle gespielt haben und dass die Ergebnisse - insbesondere die zugesagten Investitionen genau dieser Zieltrias entsprechen. Das ist gut so; das
wird von uns begrüßt. Als Parlamentarier sind wir aber
gebrannte Kinder und wollen mehr als diese Zusagen.
Wir möchten von den zuständigen Ministerien schwarz
auf weiß sehen, was im Einzelnen vereinbart worden ist,
um die Belastbarkeit der Zusagen selber einschätzen zu
können.
({7})
Es lohnt sich durchaus, nicht nur einen Blick nach
vorne, sondern auch einen Blick zurück zu werfen; denn
ich glaube, dass mit der Energiepolitik der letzten Jahre
die Kriterien erfüllt wurden, deren Realisierung uns
heute in diesen beiden Anträgen abverlangt wird. Zum
einen haben wir im letzten Jahr eine Ordnungspolitik
auf den Weg gebracht, die man durchaus mit dem Begriff Paradigmenwechsel umschreiben kann, und zwar
durch Einsatz der SPD, der CDU/CSU und der FDP.
Nachdem zunächst der Bundestag entschieden hatte, haben wir letztlich im Bundesrat eine Einigung über einen
neuen Ordnungsrahmen und ein neues Energiewirtschaftsgesetz erzielt, durch das eine Regulierungsbehörde, nämlich die Bundesnetzagentur, beauftragt
worden ist, für mehr Wettbewerb bei den leitungsgebundenen Energien, also bei Strom und Gas, zu sorgen. Ich
denke, das war ein wichtiger Schritt. Wir sollten ihn
nicht kleinreden, aber auch nicht so tun, als müssten wir
heute damit beginnen, die Ordnungspolitik auf einen
neuen Weg zu bringen.
Richtig ist, dass die Bundesnetzagentur ihre Arbeit
gerade erst aufgenommen hat, sodass man sie noch nicht
beurteilen kann. Sie muss auch noch eine Anreizregulierung konzipieren, die in eine entsprechende Verordnung
zu gießen ist und erst dann wirken kann. Wir alle erhoffen uns davon mehr Wettbewerb. Das ist in der Tat die
beste Möglichkeit, um zu sinkenden Netzentgelten und
auch zu sinkenden Energiepreisen, Strompreisen allemal, zu kommen.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode ein weiteres wichtiges Projekt auf den Weg gebracht, nämlich den
Nationalen Allokationsplan. Dem folgt jetzt für die
zweite Handelsperiode der Nationale Allokationsplan II.
Es ist wichtig - das habe ich heute Morgen schon
betont -, dass sich die Häuser schnell einigen, damit wir
als Parlament diesen Prozess entsprechend begleiten
können. Wir müssen verschiedene Ziele gemeinsam erreichen; das ist keine einfache Geschichte. Auf der einen
Seite wollen wir, dass es zu Investitionen in die Kraftwerke kommt. Dazu muss es im Allokationsplan bestimmte Rahmenbedingungen geben. Auf der anderen
Seite wollen wir, dass die Industrie nicht derart mit Kosten belastet wird, dass wir sie letztlich aus dem Lande
treiben. Das heißt, wir müssen Wege finden, dass die
Unternehmen durch die Einpreisung der Zertifikate nicht
geradezu erdrosselt werden, wie es bisher geschehen ist.
Hier ist die Energiewirtschaft aufgefordert, an Lösungen
mitzuarbeiten. Einfache Lösungen gibt es jedenfalls
nicht.
Im FDP-Antrag gibt es etwas, das bei mir ein Déjàvu-Erlebnis ausgelöst hat. Wir haben ja bei vielen Podiumsdiskussionen zum Thema Energiepolitik zusammengesessen, bei denen immer wieder gesagt wurde: Von
den staatlich induzierten Mehrkosten von 40 Prozent
müssen wir runter. - Ich will ein für allemal sagen, dass
über 34 Prozent dieser Kosten überhaupt nicht geredet
werden kann. Das wissen Sie genauso gut wie jeder andere hier im Hause. Das sind nämlich Kosten, die Sie
selbst anderswo ebenfalls vertreten. Für die Konzessionsabgaben beispielsweise, die an die Kommunen gezahlt werden, werden Sie in Ihren Kommunen genauso
streiten - jedenfalls werden Sie den Eindruck erwecken,
dass Sie dafür streiten -, wie wir uns hier dafür einsetzen. Diese Gelder sind für Leistungen, die die Kommunen erbringen und auf die sie einen Anspruch haben. Es
kann doch keiner ernsthaft erwarten, dass wir, was die
Umsatzsteuer angeht, bei der Energie eine Ausnahme
machen.
({8})
Ich denke, dass die Stromsteuer im Grundsatz nicht
wirklich umstritten ist.
({9})
Es geht also um die relativ geringen Kosten, die durch
das Erneuerbare-Energien-Gesetz verursacht werden.
Da streiten wir am Ende über Nuancen; denn auch das
Erneuerbare-Energien-Gesetz wird jedenfalls verbaliter
von allen Fraktionen unterstützt.
({10})
Deswegen hören Sie auf mit der Mär von den staatlich
induzierten Kosten. Wir müssen mehr Wettbewerb in das
Energiegeschäft einziehen lassen. Das ist der beste Weg,
um die Kosten zu senken und zu niedrigeren Preisen zu
kommen. Diesen Weg werden wir weiter beschreiten.
Vielen Dank.
({11})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes hat das
Wort der Kollege Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Debatte liegen zwei Anträge zugrunde, einer von der FDP
und einer von der Linken. Lassen Sie mich mit dem
FDP-Antrag anfangen.
Frau Kopp,
({0})
Sie formulieren in Ihrem Antrag Leitlinien, die wir
durchaus für richtig halten. Beispielsweise schreiben Sie
in Ihrem Antrag:
Der Wettbewerb ist vor Absprachen, Kartellen und
Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung zu
schützen.
Wo waren Sie denn in den 40 Jahren Regierungsbeteiligung, in denen Sie stets die Wirtschaftsminister gestellt
haben und in denen sich in diesem Land im Energiesektor eine Struktur aufbauen konnte, die von Monopolen,
Oligopolen, Absprachen, Kartellen und von marktbeherrschenden Stellungen dominiert ist?
({1})
Ihre Wirtschaftspolitik hat doch dazu geführt, dass wir
genau das haben, was Sie in Ihrem Antrag ablehnen.
({2})
Ich will die zweite Leitlinie Ihres Antrags zitieren:
Eingriffe des Staates - etwa zum Erreichen von
ökonomischen oder ökologischen Zielen - müssen
marktkonform sein …
({3})
Das unterstützen wir. Auch von Anreizen für ein wirtschaftlich vernünftiges Verhalten ist in Ihrem Antrag die
Rede; das unterstützen wir ebenfalls. Externe Kosten unternehmerischen Handelns, auch solche, die in der Zukunft anfallen, sind zu internalisieren, heißt es hier. Die
Instrumente müssen wettbewerbsorientiert und effizient
sein.
Die rot-grüne Bundesregierung hat seinerzeit damit
begonnen, die Monopole, die Sie geschaffen haben, abzubauen, und zwar mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, das neuen Akteuren überhaupt eine Chance gibt,
mit dem KWK-Gesetz und mit der Ökosteuer. Genau
diese Instrumente wollen Sie jedoch verhindern. Das ist
letztendlich der Grundgedanke Ihres Antrages.
Ich möchte das noch im Detail ausführen. Aber ich
sehe, Sie möchten eine Zwischenfrage stellen, Frau
Kopp, die ich gerne zulasse.
Frau Kollegin Kopp.
Herr Fell, herzlichen Dank, dass Sie die Frage zulassen. - Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
({0})
dass es der frühere Bundeswirtschaftsminister Rexrodt
war, der mit der Liberalisierung des Strommarktes begonnen hat? Bis 1998 konnte durch diese Liberalisierung
ein Gewinn von 7,5 Milliarden Euro erwirtschaftet werden, der kurz danach durch Ihre Regierungsbeteiligung
nicht nur aufgebraucht, sondern ins Gegenteil verkehrt
wurde. Von der Konzentration auf dem Energiemarkt
durch die Erlaubnis der Fusion von Eon und Ruhrgas
will ich einmal schweigen. Bauen Sie hier bitte keinen
Popanz auf, den es so gar nicht gibt.
Frau Kollegin Kopp, Sie haben sicherlich gehört, dass
ich von 40 Jahren Regierungsbeteiligung der FDP und
dem jahrzehntelangen Aufbau dieser Strukturen gesprochen habe.
({0})
Ich will gerne zugestehen, dass am Ende mit der Liberalisierung ein vernünftiger Versuch unternommen wurde.
Aber weil Sie über Jahrzehnte hinweg eine Monopolstruktur im Energiebereich zugelassen und nicht dagegen gekämpft haben, ist es Rot-Grün schwer gefallen,
die Liberalisierung zu Ende zu führen. Das Ergebnis Ihrer jahrzehntelangen verfehlten Wirtschaftspolitik ist
eine starke Monopolisierung und Oligopolisierung.
({1})
Lassen Sie mich auf Ihren Antrag im Detail eingehen.
Sie wollen eine effiziente, marktkonforme und erfolgreiche Förderung auch von erneuerbaren Energien. Darüber freuen wir uns; das ist ein richtiger Ansatz. Aber
ich frage Sie: Warum bekämpfen Sie, wie in diesem Antrag, die effizienten Instrumente? Nur ein Beispiel: Die
Windenergie hat in Großbritannien in den letzten Jahren
ein Volumen von etwa 1 Gigawatt erreicht; in Deutschland beträgt dieses Volumen 20 Gigawatt. Wissen Sie,
warum? In Großbritannien sind die Instrumente, die Sie
für richtig halten - Quoten und Zertifikate -, angewandt
worden. Dadurch wurde diese Energieform ineffizient
und in dem windreichen Land Großbritannien wurden
nur wenige Windanlagen gebaut. In Deutschland hingegen konnten auf diesem Markt neue Akteure Fuß fassen.
({2})
- Genau, kommen wir zu den Kosten. In Großbritannien
kostet die Kilowattstunde Windenergie etwa 13 Cent, in
Deutschland im Durchschnitt etwa 8 Cent. Im Vergleich
ist das Instrument in Deutschland eindeutig kostengünstiger.
Sie beklagen auch, dass die Strompreise insgesamt zu
hoch seien, und schieben dies den erneuerbaren Energien, der KWK und der Ökosteuer in die Schuhe. Dabei
verschweigen Sie, dass die EEG-Mehrkosten nur
3 Prozent des Strompreises ausmachen.
({3})
Die stromintensive Industrie ist von diesen Mehrkosten sogar weitgehend entlastet.
({4})
Insofern können Sie nicht von der falschen Behauptung
ausgehen, dass 600 000 Arbeitsplätze gefährdet seien.
Wie sieht es denn wirklich mit der Ökosteuer aus? Die
Unternehmen werden durch die Ökosteuer beim Arbeitgeberanteil an den Rentenversicherungsbeiträgen und
bei den höheren Energiekosten entlastet. Die stromintensive Industrie hat durch die Ökosteuer keinen Nachteil
- wie Sie behaupten -, sondern einen Vorteil. Das ist
Wirtschaftsförderung, wie wir sie für richtig halten.
Ich gestehe Ihnen zu, dass die stromintensive Industrie durch die steigenden Energiepreise gefährdet ist.
Aber das liegt, wie auch Sie festgestellt haben, an dem
Festhalten am Energiemix. Die Erdgas-, Erdöl-, Kohleund Uranpreise steigen weltweit an. Wenn wir bei diesem Energiemix bleiben, werden wir diese Arbeitsplätze
gefährden. Wir müssen also so bald wie möglich aus den
fossilen und atomaren Energien aussteigen, damit die
Arbeitsplätze gesichert werden. Das ist das Entscheidende.
({5})
Sie haben gesagt, dass Sie andere Wettbewerbsinstrumente anstreben, beispielsweise um den Klimaschutz zu
verbessern. Lassen Sie uns einen Vergleich anstellen.
Die CO2-Vermeidungskosten durch die Windenergie liegen bei 52 Euro pro Tonne CO2. Durch den Emissionshandel betragen die CO2-Vermeidungskosten 1 160 Euro
je Tonne - und Sie sagen, wir müssten uns für dieses Instrument stärker einsetzen. Helfen Sie lieber mit, dass
die Industrie endlich bei der Versteigerung der Zertifikate im Emissionshandel mitmacht, damit die Kosten
gesenkt werden,
({6})
statt Ihre Denkansätze weiterzuverfolgen.
Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zu den Linken. Sie fordern sozial gerechtere Strukturen auch in der
Energiewirtschaft. Das ist notwendig; das will ich gerne
zugestehen. Aber wenn die Einnahmen aus der Ökosteuer mehrheitlich in die erneuerbaren Energien und in
die Energieeinsparung gelenkt würden, wie Sie es wollen, bedeutete das im Klartext - das steht zwar nicht in
Ihrem Antrag, aber das wäre die Folge - eine Anhebung
der Rentenversicherungsbeiträge für alle Bürgerinnen
und Bürger, die in Arbeit sind.
({7})
Wie Sie das als sozial verträglich begründen wollen,
müssen Sie mir einmal erklären. Lesen Sie Ihren Antrag!
Darin ist noch vieles zu verbessern. In der vorliegenden
Fassung können wir ihn sicherlich nicht mittragen. Ich
bin auf die Debatte in den Ausschüssen gespannt.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/589 und 16/1082 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich stelle fest, Sie sind damit einverstanden. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung von
Werkunternehmeransprüchen und zur verbesserten Durchsetzung von Forderungen
({0})
- Drucksache 16/511 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Dr. Peter Danckert für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Wir unternehmen heute gemeinsam mit dem Bundesrat
einen erneuten Versuch, im Interesse der Bauhandwerker
und Bauunternehmer die Zahlungsmoral zu verbessern.
Ich darf an das Bauhandwerkersicherungsgesetz aus dem
Jahr 1993 und das Gesetz zur Beschleunigung fälliger
Zahlungen aus dem Jahr 2000 erinnern. Zwischenzeitlich gab es eine Reihe von Gesetzentwürfen, die aber
nicht realisiert wurden. Heute unternehmen wir einen
weiteren Versuch.
Sie werden sehen, dass es auch in meiner Fraktion
durchaus unterschiedliche Auffassungen bei der Frage
gibt - ich verweise auf meinen Kollegen Dirk
Manzewski, der noch reden wird -, ob das Gesetz geeignet ist, dem Notstand abzuhelfen. Ich meine: Ja. Andere
meinen: Nein. Ich bin der Meinung, dass wir es zumindest versuchen sollten, an dieser Stelle etwas im Interesse der Unternehmer zu erreichen. Es ist nicht zu leugnen, dass es vielfach aufgrund unterschiedlicher Vorgänge zu Zahlungsausfällen kommt. Ob wir dies letztlich durch das Gesetz beseitigen können, kann man
bezweifeln. Aber ich finde, jeder Versuch ist lohnenswert.
Wir haben zwar schon ein breites Instrumentarium;
das wird Herr Staatsminister Mackenroth sicherlich bestätigen. Allerdings wird von diesem nur wenig Gebrauch gemacht. Das liegt an den unterschiedlichen Positionen von Auftraggeber und Auftragnehmer. Die
Möglichkeiten, die unsere gesetzlichen Regelungen vorsehen, werden nicht genutzt, um überhaupt einen Auftrag zu bekommen. Das eigentliche Problem ist also,
dass hier wirtschaftliche Ungleichheit herrscht und dass
viele Handwerker die gesetzlichen Möglichkeiten nicht
nutzen.
Der Kollege Manzewski wird sicherlich andere
Punkte ansprechen. Ich glaube aber, dass im Mittelpunkt
des Gesetzgebungsverfahrens - es handelt sich ja um ein
Artikelgesetz - die Änderung im Bereich der ZPO steht,
die vorläufige Zahlungsanordnung. Sie soll es dem
Kläger in einer bestimmten Prozesssituation ermöglichen, auf Antrag einen Titel zu erlangen, mit dem er die
Vollstreckung betreiben kann. Das ist in § 302 a des Gesetzentwurfs sehr fein ziseliert. Es bedarf eines Antrages, einer mündlichen Verhandlung und einer Einschätzungsentscheidung durch das erkennende Gericht. Mit
hoher Wahrscheinlichkeit wird es in den meisten Fällen
zu einem für den Kläger positiven Endurteil kommen.
Der Beschluss muss kurz begründet werden.
Es gibt Hinweise darauf, dass die Gerichte möglicherweise zusätzlich belastet werden, weil Anwälte massenhaft von diesem Antragsrecht Gebrauch machen, um
Schadenersatzansprüchen ihrer Auftraggeber sozusagen
vorzubeugen. Ich sehe diese Gefahr nicht. Ich glaube,
dass es sich um ein sehr pragmatisches Instrument handelt, von dem man in einer bestimmten Verfahrenssituation, wenn der Prozess beispielsweise durch die beklagte
Seite verschleppt wird, Gebrauch macht. Dadurch wird
das Gericht in die Lage versetzt, eine vorläufige Entscheidung zu treffen. Ich halte das für vernünftig und
sachgerecht.
({0})
Ob es alle Probleme löst, wird man erst sehen, wenn es
in der Praxis ausprobiert wird. Ich finde, wir sollten diesen Versuch gemeinsam wagen.
Heute ist die erste Lesung. Wir werden sehen, ob wir
im Rahmen der weiteren Beratungen möglicherweise zu
einzelnen Verbesserungen kommen. Ich bescheinige
dem Bundesrat auf jeden Fall, dass sein Vorschlag eine
vernünftige Gesetzesgrundlage im Interesse der Bauunternehmer bietet.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun die Kollegin Mechthild Dyckmans,
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der deutsche Mittelstand und insbesondere die deutschen Handwerker haben mit vielen Problemen zu kämpfen. Eines
davon ist die mangelnde Zahlungsmoral. Diese ist nicht
nur bei privaten Auftraggebern anzutreffen. Auch die öffentliche Hand geht hier häufig nicht mit gutem Beispiel
voran.
Wir debattieren heute über den Entwurf eines Forderungssicherungsgesetzes. Bereits der Titel weckt die
Hoffnung, dass aufgrund der in diesem Entwurf vorgesehenen Gesetzesänderungen Unternehmer ihre Ansprüche
sichern und ihre Forderungen leichter und besser durchsetzen. Wie Sie aber wissen, debattieren wir heute nicht
zum ersten Mal darüber. Bereits in der 14. und der
15. Wahlperiode verfielen entsprechende Gesetzentwürfe der Diskontinuität. Das war nicht unbedingt Zufall, sondern lag an den vielen Bedenken, die in den Debatten überdeutlich geworden sind.
Das Bundesjustizministerium macht sich nun einen
Gesetzentwurf zu Eigen, der von den unionsregierten
Bundesländern eingebracht wurde, und propagiert in einer Pressemitteilung von heute „Schneller Geld für
Handwerker“. Ich hätte eigentlich erwartet, dass die
Bundesregierung ein eigenes Forderungssicherungsgesetz vorlegt,
({0})
nachdem wir mehrmals darüber debattiert und die Probleme genau aufgezeigt haben.
({1})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
erinnern Sie sich nicht mehr an Ihre Kritik aus der letzten Wahlperiode? Was hat sich eigentlich seitdem geändert,
({2})
außer dass Sie jetzt in einer großen Koalition mit der
CDU/CSU sind? Für die FDP-Bundestagsfraktion bestehen die Bedenken aus der letzten Legislaturperiode nach
wie vor. Eine Gesetzesänderung erreicht nämlich nur
dann ihr Ziel, wenn sie wirtschaftlich sinnvoll, rechtlich
möglich und zielführend ist.
({3})
Der heute vorliegende Entwurf darf nicht nur als Beruhigungspille für Handwerker dienen.
Beispielhaft eingehen möchte ich heute auf die Einführung der so genannten vorläufigen Zahlungsanordnung; Sie haben sie schon erwähnt, Herr Kollege. Hier
soll ein neues Rechtsinstitut geschaffen werden, das
nicht nur für Bauforderungen, sondern ganz allgemein
gelten soll.
Ihr Anwendungsbereich umfasst
- ich zitiere aus der Gesetzesbegründung alle Zahlungsansprüche einschließlich etwaiger Nebenforderungen, soweit nicht - wie etwa bei Unterhaltsansprüchen … - Sonderregelungen eingreifen.
Dieses Institut soll also im Bereich der Arzthaftung, bei
Schadensersatzansprüchen nach Unfällen sowie bei Mieten und vielem anderen gelten. Abgesehen davon, dass
eine Praxisbefragung durch die einbringenden Landesregierungen gerade nicht stattgefunden hat und die Sachverständigenanhörung im erweiterten Berichterstattergespräch in der letzten Legislaturperiode große Bedenken
an der Praxistauglichkeit dieser Regelung aufgezeigt hat,
es also sehr zweifelhaft ist, ob dieses Institut in der praktischen Umsetzung halten kann, was es verspricht,
scheint mir ein Gesetz zur Sicherung von Werkunternehmeransprüchen nicht der geeignete Ort für die Einführung eines völlig neuen Rechtsinstituts in die ZPO zu
sein.
({4})
Für den Erlass einer solchen Anordnung ist unter anderem notwendig - auch darauf haben Sie schon hingewiesen, Herr Kollege -, dass der zuständige Richter eine
Erfolgsprognose über die Klage „nach bisherigem Sachund Streitstand“ abgibt. Im Gesetzentwurf ist von einer
„hohen Aussicht auf Erfolg“ die Rede. Hier wird eine
neue Begrifflichkeit eingeführt, die der ZPO bisher
fremd ist. In der Begründung ist zu lesen - das muss ich
Ihnen einfach vorlesen -,
({5})
was unter „hoher Aussicht auf Erfolg“ zu verstehen ist:
Das soll der Fall sein, wenn das Gericht sich zu den
einschlägigen tatsächlichen Fragen zwar noch keine
dem Beweismaß des § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO genügende Überzeugung gebildet hat, aber auf der
Grundlage eines fundierten Zwischenergebnisses
bereits eine Prognose über den Verfahrensausgang
treffen kann. Dieser Prognose hat das Gericht seine
Einschätzung zur Entscheidungserheblichkeit dieser Fragen, zum Maß der verbleibenden Unklarheit
und gegebenenfalls zum Beweiswert noch nicht
ausgeschöpfter Beweisangebote zu Grunde zu legen. In diesem Sinne liegt eine „hohe Aussicht auf
Erfolg“ vor, wenn die Klage nach der geschilderten
prognostischen Würdigung Erfolg haben wird.
({6})
Die Praxis wird mit diesem Gesetz sehr großen Erfolg
haben. Die Auslegungsschwierigkeiten sind schon programmiert.
({7})
Zusammenfassend möchte ich sagen: Die FDP unterstützt jede Regelung, die nicht nur Hoffnung für die betroffenen Handwerker weckt, sondern wirkliche Hilfe
darstellt. Denn Hilfe ist dringend geboten; das sehen
auch wir von der FDP.
({8})
Diese Regelungen aber scheinen nur ein Hoffnungsschimmer am Horizont zu sein. Sie bewirken nur, dass
die Ernüchterung bei dem Versuch, sie wirksam anzuwenden, umso größer sein wird.
({9})
Das Wort hat nun der Justizminister des Freistaates
Sachsen, Geert Mackenroth.
Geert Mackenroth, Staatsminister ({0}):
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Der Gesetzentwurf, den Sie heute in
erster Lesung erörtern, wird bei manchen von Ihnen
- davon war eben schon die Rede - einen Déjà-vu-Effekt hervorrufen. In der Psychologie wird dieser Effekt
auf eine Sinnestäuschung im Zustand großer Erschöpfung, im Traum oder gar am Beginn einer Neurose zurückgeführt. Ich darf die Betroffenen beruhigen: Um
eine Sinnestäuschung handelt es sich nicht. Das Forderungssicherungsgesetz, das maßgeblich auf eine Initiative Sachsens zurückgeht, nimmt heute bereits den dritten Anlauf in diesem Hohen Hause. Frau Abgeordnete
Dyckmans hat auf die Geschichte hingewiesen.
Die hinter diesem Entwurf stehende Forderung nach
Maßnahmen zur Verbesserung der Zahlungsmoral insbesondere zur Verbesserung der Situation von Bauhandwerkern ist sogar noch viel älter und reicht weit ins
letzte Jahrhundert zurück. Ich bin der Koalition und der
neuen Bundesregierung dafür dankbar, dass sie dieses
wichtige Vorhaben in guter Zusammenarbeit, sozusagen
im Team mit dem Bundesrat, unterstützt haben. Ich
werbe dafür, dass auch Sie ihm Ihre Zustimmung geben.
Im Laufe seiner langen Entstehungsgeschichte hat der
Entwurf zahlreiche Änderungen erfahren, die vor allem
auf die Arbeit einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter
Federführung des BMJ zurückgehen. In seiner aktuellen
Fassung enthält der Entwurf zunächst einmal kleine,
aber durchaus wirksame Nachjustierungen am geltenden
Werkvertragsrecht. Beispielsweise schreiben wir im
Gesetz fest, dass der Unternehmer auch nach Abnahme
des Werks Sicherheit für seine Vergütung verlangen
kann. Wir stellen klar, dass die Sicherheit auch dann zu
leisten ist, wenn der Besteller Mängel rügt. Anders als
bislang soll die Stellung einer Sicherheit einklagbar sein.
Damit kann der Bauhandwerker in jedem Stadium der
Vertragsabwicklung schnell und effektiv Schutz vor einem Zahlungsausfall seines Auftraggebers erlangen.
Des Weiteren soll künftig der Generalunternehmer
den Subunternehmer nicht nur bezahlen müssen, wenn
der Generalunternehmer selbst Geld vom Bauherrn bekommen hat, sondern auch, wenn der Bauherr das Werk
des Subunternehmers abgenommen hat. Wenn der GU
den Subunternehmer trotz dessen Bitte um Auskunft
nicht über die Abnahme informiert, wird der Werklohn
künftig trotzdem fällig.
Ein weiterer Punkt. Was bei VOB-Verträgen längst
üblich ist, sollen nunmehr auch die BGB-Werkverträge
vorsehen, nämlich einen Anspruch des Bauhandwerkers
auf Abschlagszahlungen. Damit wird sein Vorleistungsrisiko deutlich verringert.
({1})
Staatsminister Geert Mackenroth ({2})
All dies sind Maßnahmen, die dazu beitragen, die Interessen beider Vertragspartner wieder mehr ins Gleichgewicht zu bringen.
({3})
Kernstück des Entwurfs ist die Einführung einer
vorläufigen Zahlungsanordnung. Schon im bereits angesprochenen Beschluss vom 17. März 2000 hat der
Bundesrat ein prozessuales Instrument gefordert, welches dem Richter ermöglicht, „Handwerkern vorab einen Teil der eingeklagten Forderung trotz vorgebrachter
Mängelrügen zuzusprechen“.
Immer wieder müssen wir gerade bei Verträgen zwischen General- und Subunternehmern beobachten, dass
und wie Auftraggeber auf den so genannten Justizkredit
spekulieren, um Zeit zu gewinnen oder nachträglich eine
geringere Vergütung durchzusetzen. Sie wenden gegen
die Vergütungsklage des Unternehmers Mängel ein, die
gar nicht oder nicht in diesem Umfang bestehen. Dadurch verzögert sich der Prozess; denn das Gericht muss
diesem Vorbringen wegen der Verpflichtung zur Erschöpfung des Sach- und Streitstoffes und zur Erschöpfung der Beweisanträge in jedem Detail nachgehen. Das
kann sich - nicht zuletzt wegen der erforderlichen Sachverständigengutachten - über Monate, teilweise über
Jahre hinziehen; auch Richterinnen und Richter fürchten
diese so genannten Punktesachen sehr.
Kleinere Unternehmen mit geringer Eigenkapitaldeckung können gerade bei umfangreichen Gesamtforderungen einen solchen Prozess oft nicht durchstehen. Um
überhaupt Geld zu bekommen, willigen sie trotz berechtigter Ansprüche vielfach zähneknirschend in einen Vergleich ein, der deutlich geringere Zahlungen vorsieht.
Schlimmstenfalls müssen sie Insolvenz anmelden, weil
ihr Betrieb das Ausbleiben der einkalkulierten Zahlung
nicht verkraftet.
Um eine solche Prozessverschleppung zu verhindern
oder sie zumindest zu begrenzen, wird dem Kläger aufgrund dieses Gesetzes eine zusätzliche prozessuale
Waffe in die Hand gegeben: die Möglichkeit, noch während des Prozesses die richterliche Anordnung einer vorläufigen Zahlung oder einer Teilzahlung zu erwirken,
wenn die Klage oder einzelne Teile davon hohe Aussicht
auf Erfolg haben und die Zahlungsanordnung nach Abwägung der beiderseitigen Interessen zur Abwendung
besonderer Nachteile für den Kläger gerechtfertigt ist.
Dieser Begriff „hohe Aussicht auf Erfolg“ ist kein
dem Gesetz fremder Begriff. Wir haben ihn bei der Prozesskostenhilfe implementiert und er ist jeden Tag von
den Gerichten anzuwenden.
({4})
- Ob es nun hinreichende oder hohe Aussicht auf Erfolg
heißt, wird die Gerichte nicht umwerfen.
({5})
Das werden sie schon schaffen.
({6})
Jedenfalls erhält der Handwerker damit die realistische
Chance, bereits vor Prozessende Geld für die Arbeiten
zu erhalten, die er ordnungsgemäß ausgeführt hat, Geld,
welches er womöglich für die Sicherung der Existenz
seines Betriebes und der damit verbundenen Arbeitsplätze dringend benötigt.
Ich bin überzeugt davon, dass sich die vorläufige
Zahlungsanordnung in der Praxis bewähren und von
den beteiligten Kreisen wie auch von der Justiz angenommen werden wird. Die positiven Erfahrungen einiger unserer Nachbarn - Frankreich, England - mit vergleichbaren Regelungen geben zu dieser Überzeugung
begründeten Anlass.
Obwohl die schwierige Lage der Bauhandwerker
Ausgangspunkt für diese Regelung war, dient sie doch
nicht einseitig den Interessen der Bauunternehmer, sondern kommt auch Verbrauchern zugute. Auf alle Zahlungsklagen anwendbar, kann sie zum Beispiel auch Unfallopfern in langwierigen Prozessen gegen die
Versicherung des Schädigers schneller zu Schadensersatz oder Schmerzensgeld verhelfen. Das ist, wie ich
finde, ein umfassender und guter Lösungsansatz.
({7})
Dem Entwurf des Bundesrates ist noch in der vergangenen Legislaturperiode vorgeworfen worden, an den eigentlichen Ursachen der mangelnden Zahlungsmoral
vorbeizugehen. Die tatsächlichen Probleme, so hieß es
und heißt es teilweise noch, seien vielmehr in der unzureichenden Richterausstattung bei den Ländern und in
der Unkenntnis der Handwerker um ihre rechtlichen
Möglichkeiten oder deren marktbedingte Nichtausnutzung zu sehen. Wer so argumentiert, macht es sich,
glaube ich, zu einfach. An der Erkenntnis, dass derzeit
kein effektiver Schutz vor Prozessverschleppung besteht, führt meines Erachtens kein Weg vorbei; der Abgeordnete Dr. Danckert hat darauf hingewiesen. Dies ist
auch einhellige Auffassung der Experten in der genannten Bund-Länder-Arbeitsgruppe gewesen.
Dass die Richterschaft, wie ebenfalls angeführt wurde,
vom Erlass vorläufiger Anordnungen absehen wird, weil
sie sich ohne ein ausführliches Sachverständigengutachten eine Einschätzung der Rechtslage nicht zutraut, befürchte ich ebenfalls nicht. Ich traue den Richterinnen
und Richtern zu, in einem solchen Fall - ebenso wie
sonst im vorläufigen oder einstweiligen Rechtsschutz ({8})
auch ohne ein gerichtliches Gutachten eine solche Entscheidung treffen zu können. Das ist Standard auf den
Gerichten und begegnet keinen Schwierigkeiten.
({9})
Allein der Ruf nach immer mehr Richtern hilft auch
hier nicht weiter, wenn ansonsten das bestehende prozessuale Verzögerungspotenzial unangetastet bleibt.
Staatsminister Geert Mackenroth ({10})
Richtig ist allerdings - das gilt auch heute -, dass sich
Sachsen ebenso wie der Zentralverband des Deutschen
Handwerks für seine kleinen und mittelständischen Betriebe in Teilbereichen noch weiter gehende Lösungen
gewünscht hätte. Noch im ersten Entwurf aus dem
Jahr 2002 waren der verlängerte Eigentumsvorbehalt an
eingebauten Sachen oder die Ausschreibung des Schuldners zur Fahndung enthalten.
({11})
Wir hatten und haben jedoch zu akzeptieren, dass jenseits von allen juristisch-dogmatischen Fragen diese Forderungen nicht durchsetzbar waren und auch derzeit offenbar nicht ohne weiteres durchsetzbar sind. Mit dem
Kompromiss jetzt kann ich leben.
Umso wichtiger ist es daher, ein Forderungssicherungsgesetz, wie es der Koalitionsvertrag fordert, alsbald
zu verabschieden und alles zu unterlassen, was die Umsetzung des Verabredeten gefährden könnte.
Natürlich muss auch die jetzt vorgesehene Regelung
zu gegebener Zeit evaluiert, wieder überarbeitet und daraufhin überprüft werden, ob sie in der Realität im Zielkonflikt zwischen Verbraucher- und Handwerkerinteressen die adäquaten und richtigen Lösungen bietet. Auch
in dieser Zielsetzung weiß ich mich mit unseren sächsischen Handwerken - aber nicht nur mit diesen - einig.
Deutschland kann es sich in seiner jetzigen wirtschaftlichen Lage nicht leisten, dass Arbeitsplätze im
Handwerk und bei den mittelständischen Betrieben vernichtet werden, nur deshalb, weil zahlungsunwillige
Auftraggeber ihren Verpflichtungen nicht nachkommen.
({12})
Das Forderungssicherungsgesetz, das FoSiG, kann mithelfen, einige der jährlich etwa 38 000 Insolvenzen abzuwenden und dringend benötigte Arbeitsplätze zu erhalten. Es wird auch dazu beitragen, dass wir verloren
gegangenes Vertrauen in unseren Rechtsstaat zurückgewinnen. Ich bitte Sie deswegen, den Gesetzentwurf des
Bundesrates im Fortgang der Beratungen tatkräftig voranzutreiben.
Vielen Dank.
({13})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine
Zimmermann, Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir begrüßen die Initiative,
sich der Frage der Zahlungsmoral anzunehmen. Verspätete oder ausbleibende Zahlungen an Handwerksbetriebe
werden als erster Auslöser für Unternehmenspleiten genannt. Dies gilt vor allem für kleinere, aber auch mittlere
Betriebe, die nicht über genügend Eigenkapital verfügen,
um eventuelle Zahlungsverzögerungen und -ausfälle zu
verkraften.
Aber nicht nur 2005, sondern bereits 2002 gab es ähnliche Initiativen. Jedes Mal sind sie dann leider im Wahljahr untergegangen. Dabei ist das ein Problem von äußerster Brisanz. Allein in den letzten zwei Jahren gab es
in Deutschland 77 000 Unternehmensinsolvenzen und
damit verbunden einen entsprechenden Arbeitsplatzverlust.
Gerade weil das Problem eine solche Brisanz hat,
muss jeder Vorschlag sorgfältig geprüft werden, ob damit wirklich Abhilfe geschaffen werden kann. Da muss
man leider sagen: Es ist zu befürchten, dass dieser Gesetzentwurf sowohl in seiner Reichweite wie in seinen
praktischen Konsequenzen unzureichend ist.
({0})
Das Hauptproblem für das einheimische Handwerk
bleibt die lahmende Binnenkonjunktur. Hier gibt es wenig Hoffnung auf Besserung, wenn Sie an Ihrer Politik
der Haushaltskonsolidierung in dieser Form festhalten.
({1})
Sie, meine Damen und Herren von Union und SPD,
wollen hier ein Gesetz auf den Weg bringen, das bezüglich eines dringenden Problems Abhilfe schaffen soll,
das Sie eigentlich selbst zu verantworten haben. Mehr
als jeder dritte Handwerksbetrieb attestiert seinen öffentlichen Abnehmern eine Verschlechterung des Zahlungsverhaltens. Das hat eine Erhebung des Zentralverbandes
des Deutschen Handwerks gezeigt. Die Ursache für die
schlechte Zahlungsmoral der öffentlichen Hand ist
klar: Mit Steuersenkungen für das Großkapital hat die
alte rot-grüne Bundesregierung die öffentlichen Haushalte ruiniert und das müssen nun die kleinen Handwerksbetriebe ausbaden.
({2})
Die Praxis zeigt doch, dass nur die wenigsten Handwerker sich trauen, zur Einforderung der Zahlung den
Rechtsweg zu beschreiten, sei es weil die Zeit oder das
Geld fehlt oder weil sie befürchten, dass sie in Zukunft
den Auftraggeber verlieren werden. Angesichts der
Rolle, die die öffentliche Hand spielt, wundert es nicht,
welche Methoden manche gewerblichen Auftraggeber
praktizieren, indem Handwerksbetrieben zustehende
Zahlungen verspätet oder mit Abschlägen geleistet werden.
Das Problem besteht doch darin, dass es darum gehen
muss, kleine Betriebe mit wenig Eigenkapital vor Generalunternehmern oder großen Bauträgern zu schützen,
die vom Auftraggeber Geld erhalten haben, dieses aber
dem Subunternehmen nicht weiterreichen. Das ist ein offenes Geheimnis; aber es wird nichts getan.
In diesem Zusammenhang komme ich zur Frage des
Verbraucherschutzes. Der Regierung sollte die Kritik
der Verbraucherzentrale eigentlich bekannt sein. Trotzdem sieht sie hier keinen Handlungsbedarf, sodass der
Verbraucherschutz bei den Neuregelungen auf der Strecke bleiben wird. Aber der private Häuslebauer hat ein
Anrecht darauf, entsprechende Mängel an Leistungen
geltend zu machen. Wir fürchten, mit diesem Gesetz
wird sich an der schlechten Zahlungsmoral nicht viel
verändern; aber der Verbraucherschutz wird unter die
Räder kommen.
({3})
Sie könnten die privaten Verbraucher von den Regelungen des Gesetzes ausnehmen. Bevor die alte Regierung von Rot-Grün sich der Überarbeitung angenommen
hat, war das so vorgesehen gewesen. Ist die Bundesregierung nicht nur an einer öffentlichkeitswirksamen Aktion, sondern ernsthaft an einer Verbesserung der Lage
der kleinen Unternehmen und dem Schutz der Verbraucher interessiert, kann sie nicht bei ihrer bisherigen Position bleiben. Wir fordern Sie auf, einen Kurswechsel
vorzunehmen; sonst bleibt dieses Gesetz Makulatur.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat
nun der Kollege Montag das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Forderungssicherungsgesetz 2002, Forderungssicherungsgesetz 2004, Forderungssicherungsgesetz 2006: Herr
Staatsminister Mackenroth, dies ist keine Fata Morgana.
Für mich ist das ein Zeichen der Unbelehrbarkeit derjenigen, die zum dritten Mal versuchen, mit untauglichen
Methoden ein tatsächlich vorhandenes Problem in den
Griff zu bekommen.
({0})
Auch der dritte Entwurf bietet wenig Brauchbares, einiges Unnützes und viel Schädliches, Herr Kollege
Danckert.
Wir hatten zum identischen Gesetzentwurf schon in
der vorletzten Legislaturperiode eine Sachverständigenanhörung mit einem vernichtenden Ergebnis durchgeführt. Beim letzten Mal haben wir es gar nicht mehr zu
einer Sachverständigenanhörung kommen lassen. Im
Rahmen eines erweiterten Berichterstattergesprächs haben wir einige Fachleute gehört. Das Ergebnis hinsichtlich der gemachten Vorschläge war ebenfalls vernichtend.
Die Beschreibung der Situation, dass es in der Bauindustrie in einem großen Umfang Probleme gibt, ist richtig. Aber die Schuldzuweisung, die Sie treffen, indem
Sie von fehlender Moral sprechen - Herr Staatsminister
Mackenroth sprach heute sogar von massenhafter Prozessverschleppung, der zu begegnen sei -, ist, wie ich
finde, völlig falsch. Mit diesen Vorschlägen wollen Sie
das wohltemperierte Verhältnis im Werkvertragsrecht
zulasten der einen Seite, nämlich zulasten der Verbraucher, verschieben.
({1})
Die Werkunternehmer sind eben zu einer Vorleistung
verpflichtet. Erst nach einer mängelfreien Ablieferung
ihrer Leistung ist der Werklohn zu zahlen. Nach Ihren
Vorschlägen wird es dazu kommen, dass Verbraucher
keinen Rechtsschutz mehr gegen Pfusch am Bau haben
werden. Im Übrigen: Als ich das letzte Mal zu diesem
Thema hier eine Rede gehalten habe, hat mir der Kollege
Stünker an dieser Stelle aufrichtig Beifall gezollt.
({2})
Wir müssen uns nun den Gesetzentwurf einmal näher
anschauen. Der Vorschlag, § 641 Abs. 2 BGB in dieser
Weise zu ändern, um den Subunternehmer besser zu stellen, ist brauchbar und richtig.
({3})
Der Vorschlag, § 632 a BGB in dieser Weise zu ändern,
ist absolut unbrauchbar. Das zeigt sich schon daran, dass
gesagt wird, es gebe das Recht auf Abschlagszahlung
nicht und es müsse hier neu eingeführt werden. Das ist
doch falsch. Natürlich gibt es die Möglichkeit der Abschlagszahlung. Aber aus guten Gründen handelt es sich
um eine Abschlagszahlung für abtrennbare und klar definierte Teile des Werks. Sie wollen aber immer dann eine
Teilleistung annehmen, wenn ein bestimmter Leistungsteil in einer nicht mehr entziehbaren Art und Weise übergeben worden ist.
({4})
Das führt zu absurden Ergebnissen. Sie sollten sich das
noch einmal unter rechtlichen Gesichtspunkten überlegen.
Unbrauchbar ist schließlich auch die Einfügung des
§ 302 a ZPO. Es wird so gut wie keinen Richter geben,
der vor Entscheidungsreife eine solche Entscheidung
trifft. Wenn eine Entscheidungsreife gegeben ist, dann
gibt es ein Urteil und nicht irgendeine Zwischenentscheidung.
({5})
Wenn Sie die Stellungnahme der Bundesregierung zu
dem vorliegenden Gesetz lesen, die im Übrigen wortgleich ist zu der Stellungnahme zu dem Gesetz vor zwei
Jahren, dann werden Sie feststellen, dass die Bundesregierung selbst davon gesprochen hat, dass die Schwierigkeiten mit diesem Gesetz nicht zu beheben sind und
dass es keinen Anlass gibt, an der Unzulänglichkeit der
zivilrechtlichen Vorschriften zu zweifeln.
Deswegen meine dringende Bitte an Sie, meine Damen und Herren von der großen Koalition: Kein Pfusch
an der ZPO! Kein Pfusch am BGB!
({6})
Legen Sie endlich ein Bauvertragsgesetz vor, in dem
auch, wie Sie es in Ihrer Koalitionsvereinbarung festgelegt haben, Verbraucherschutzelemente berücksichtigt
werden.
({7})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dirk Manzewski, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren am heutigen Tag über den Entwurf des so genannten Forderungssicherungsgesetzes des Bundesrates, mit
dem dieser meint, das Problem der Zahlungsmoral in
Deutschland wirksam bekämpfen zu können. Um es
gleich deutlich zu sagen: Ich teile diese Auffassung ganz
und gar nicht. Ich habe mich im letzten Jahr - es war ungefähr zur gleichen Jahreszeit - mit verschiedenen Unternehmern getroffen, knapp über 30 Fälle konkret aufgearbeitet und überprüft, inwieweit in diesen Fällen das
Gesetz weitergeholfen hätte. In keinem einzigen dieser
Fälle wäre durch das hier diskutierte Gesetz geholfen
worden.
Man muss mit der Materie ehrlich umgehen: Was
kann ein Gesetz ausrichten, wenn den Betroffenen noch
nicht einmal die bislang bestehenden rechtlichen Möglichkeiten bekannt sind oder wenn sie diese nicht geltend
machen, weil sie zum Beispiel auf Folgeaufträge hoffen?
Das sind die tatsächlichen Probleme, die hinter dem Problem der Zahlungsmoral stehen. Was kann ein Gesetz
ausrichten, wenn sich die Betroffenen - auch der Staatsminister hat dieses Beispiel erwähnt - auf Nachverhandlungen einlassen und in diesem Zusammenhang auf einen Großteil ihrer Forderungen verzichten? Auf die
Justiz und den Gesetzgeber lässt sich dann zwar trefflich
im Nachhinein schimpfen; aber gleichwohl hat es sich
hierbei trotz gegebenenfalls wirtschaftlicher Zwänge
letztendlich um einen freiwilligen Akt gehandelt.
Mich ärgert, dass offensichtlich wieder einmal - das
ist ja nicht das erste Gesetz, das wir zu diesem Thema
verabschieden sollen - keine praxisorientierte Analyse
der Situation gemacht worden ist. Ob nun Handwerkerfrauen vor dem Brandenburger Tor oder die zahlreichen
Briefe von Betroffenen an uns: Man sollte sich einfach
einmal die Zeit nehmen, sich konkret mit diesen Fällen
zu beschäftigen und zu überprüfen, inwieweit durch Gesetze wie dem vorliegenden tatsächlich hätte weitergeholfen werden können. Ich habe da, wie gesagt, meine
Zweifel.
Ich hätte es auch für sinnvoll gehalten, wenn man unser letztes Gesetzgebungsverfahren zum Thema Zahlungsmoral, das Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen, zuvor gründlich evaluiert hätte.
({0})
Mir persönlich fehlen nämlich immer noch gesicherte
Erkenntnisse darüber, warum genau die so genannte
Fertigstellungsbescheinigung, der zentrale Punkt des
damaligen Gesetzes, in der Praxis nicht den erhofften
Erfolg gebracht hat. Stattdessen werden dann einfach
wieder einmal das BGB und die ZPO geändert, als wenn
das nichts wäre.
Nicht unerwähnt bleiben soll auch - auch das muss
man deutlich sagen -, dass, wenn nicht gezahlt wird,
dies nicht immer etwas mit fehlender Zahlungsmoral zu
tun hat. Gerade im Bau ist das Thema „Pfusch am Bau“
zu einem ernst zu nehmenden Problem geworden. Die
Gründe hierfür sind leider vielfältig.
Das Gesetz hat aber weitere Schwächen. Das Kernstück des Gesetzentwurfes ist die vorläufige Zahlungsanordnung.
Herr Kollege Manzewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Manzewski, nach all dem, was hier auch
vom Kollegen Danckert geäußert worden ist, habe ich
die Frage, ob Sie uns mitteilen können, ob Sie die Auffassung des Kollegen Danckert teilen, dass die vorläufige Zahlungsanordnung ein wichtiges und den Handwerkern hilfreiches Instrument darstellen kann.
Lieber Kollege Strässer, ich habe damit meine Probleme.
({0})
Denn ich muss ganz deutlich sagen: Es ist festgelegt
worden, dass das Gericht aufgrund einer fundierten Prognose schon vor Eintritt der Entscheidungsreife - darauf
wurde schon hingewiesen - einen Zahlungsanspruch titulieren soll. Das ist vor allem für die Fälle angedacht, in
denen zum Beispiel durch eine noch notwendige Beweisaufnahme kein Ende des Verfahrens abzusehen ist.
Der Herr Staatsminister hat auch diesen Fall angesprochen.
Man muss deutlich sagen: Das klingt zunächst einmal
nicht schlecht. Nur, was sollen das für Fälle sein, in denen einerseits noch keine Entscheidungsreife vorliegt,
wohl aber andererseits eine hohe Erfolgsaussicht bestehen soll? Welcher Richter wird eine hohe Erfolgsaussicht bei einer noch ausstehenden Beweisaufnahme bejahen? Gerade weil sich der Richter unsicher fühlt, wird
auswärtiger Sachverstand durch einen Gutachter eingeholt. Der Bundesrat meint nun, als Hilfestellung für eine
solch hohe Erfolgsaussicht könne zum Beispiel ein so
genanntes qualifiziertes Privatgutachten dienen, wenn
ein renommierter Wissenschaftler dieses Privatgutachten
gefertigt habe.
({1})
- Ich bin noch nicht fertig.
Herr Kollege, ich mache nur darauf aufmerksam, dass
bei einem ausgeschlafenen Präsidenten auf diese Weise
keine beliebige Verlängerungen der Redezeiten zu erwirken sind.
({0})
Ehrlich gesagt: Ich möchte den Richter sehen, der
sich davon beeindrucken lässt und nur deshalb eine Entscheidung fällt. Wir alle wissen doch, wie problematisch
der Umgang mit Privatgutachten ist.
Eine hohe Erfolgsaussicht soll auch dann bestehen,
wenn zwar ein gerichtliches Gutachten vorliegt, aber
vielleicht gerade deshalb noch die Einholung eines weiteren Gutachtens notwendig ist. Lieber Herr Mackenroth, gerade wenn ein Richter die Einholung eines weiteren Gutachtens für notwendig erachtet, wird er kaum
eine fundierte Prognose für eine vorläufige Zahlungsanordnung treffen. Wie auch!
Wir haben - Kollege Montag hat es angesprochen - in
der letzten Legislaturperiode ein erweitertes Berichterstattergespräch geführt. Wir haben den Deutschen
Richterbund, den Deutschen Anwaltverein, den Deutschen Sparkassen- und Giroverband und renommierte
Wissenschaftler, die sich mit dem Thema Baurecht beschäftigen, eingeladen. Seinerzeit haben alle unisono
dieses Gesetz abgelehnt. Es wurde sogar die Auffassung
vertreten, dass die Anwaltschaft, insbesondere, um nicht
in Regress genommen zu werden, regelmäßig eine vorläufige Zahlungsanordnung begehren wird. Dies würde
sich sogar kontraproduktiv auswirken, weil dann nämlich alle Verfahren länger laufen würden.
Ich äußere mich heute so kritisch, weil mich der Gesetzentwurf nicht überzeugt und ich die Befürchtung
habe, dass wir uns nach seiner Verabschiedung noch in
dieser Legislaturperiode über den nächsten Gesetzentwurf zum gleichen Thema unterhalten müssen.
({0})
Dass diese Befürchtung nicht völlig unbegründet ist, ergibt sich bereits aus der Stellungnahme des Bundesjustizministeriums zum hier debattierten Gesetzgebungsverfahren.
({1})
Dort heißt es nämlich, dass die Bundesregierung die
weitere Befassung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die
sich bereits in der vergangenen Legislaturperiode mit
dem Forderungssicherungsgesetz befasst hat, „mit dem
Zweck einer weitergehenden Überprüfung des Bauvertragsrechts“ unterstützt. Das heißt, all das, was wir jetzt
hier beschließen, ist für das BMJ offensichtlich schon
Makulatur. Ich glaube, mehr braucht man dazu nicht zu
sagen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 16/511 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 11:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, Werner
Dreibus, Petra Pau und der Fraktion der LINKEN
Gegen die Schließung von 45 Standorten bei
der Deutschen Telekom AG
- Drucksache 16/845 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auch
diese Debatte 30 Minuten dauern. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält die Kollegin Petra Pau für die Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
reden über geplante Betriebsschließungen, über drohende Entlassungen, über einen weiteren Arbeitsplatzabbau. Überwiegend geht es um ohnehin strukturschwache Regionen. Vor allem wären Frauen davon besonders
betroffen. Es geht um Pläne eines Konzerns, der noch
vor kurzem ein öffentliches Unternehmen war. Es geht
um ein Unternehmen, bei dem die Bundesregierung
noch immer ein beträchtliches Mitspracherecht hat. Wir
reden über die Deutsche Telekom AG.
Der Konzern hat satte Gewinne erzielt. Trotzdem will
die Konzernführung 32 000 Stellen streichen und bundesweit 45 Standorte schließen. Die Fraktion Die Linke
ist der Meinung: Das ist ein Fall für den Bundestag;
({0})
es ist sogar ein dringender Fall. Deshalb haben wir einen
Antrag, der sich gegen die Schließung der 45 Standorte
richtet, gestellt.
Die Beschäftigten kämpfen verzweifelt um ihre Arbeitsplätze, um ihre Existenz und um ihre Zukunft. Ich
war bereits vor Wochen auf einer Kundgebung von Telekom-Beschäftigten aus Brandenburg und MecklenburgVorpommern hier in Berlin. Es geht aber nicht nur um
den Nordosten oder um Berlin. Betroffen sind die Standorte Lübeck, Flensburg, Stade, Bremerhaven, Heide,
Cottbus, Erfurt, Angermünde, Perleberg, Donauwörth,
Bamberg, Bayreuth, Hof, Ingolstadt, Landshut, Freising,
Erlangen, Deggendorf, Regensburg, Rosenheim, Garmisch-Partenkirchen, Berlin, Aschaffenburg, Braunschweig, Göttingen, Oldenburg, Bad Kreuznach, Darmstadt, Limburg, Hanau, Reutlingen, Kaiserslautern,
Offenburg, Weingarten, Calw, Schwäbisch Hall, Duisburg, Iserlohn und Wuppertal.
In den Medien nennt man so etwas einen Flächenbrand. Ich finde, die Mitglieder des Bundestages, die aus
den Regionen dieser 36 Standorte kommen, dürfen das
nicht einfach hinnehmen.
({1})
Wir sollten parteiübergreifend intervenieren und dafür
kämpfen, dass nicht noch mehr Beschäftigte und vor allem Frauen ins berufliche Aus getrieben werden.
Der zweite Teil unseres Antrages ist grundsätzlicher.
Er wendet sich dagegen, dass immer mehr öffentliche
Unternehmen privatisiert werden; denn dadurch verliert
die Politik, verlieren die Parlamente an Einfluss. Parlamente ohne Einfluss bedeuten immer auch eine Schwächung der Demokratie.
Natürlich muss die öffentliche Hand nicht alles bewirtschaften, was nur irgend möglich ist. Das Land Berlin zum Beispiel hat sich von der Königlichen PorzellanManufaktur getrennt. Ich finde, das war vernünftig; denn
keiner Bürgerin und keinem Bürger kann plausibel erklärt werden, warum seine Steuern dafür herhalten müssen, teure Edelprodukte zu subventionieren.
Es gibt aber auch lebenswichtige Grundbedürfnisse,
die man nicht dem freien Markt oder dem spekulativen
Spiel der Börsen überlassen darf;
({2})
denn der freie Markt ohne Regeln ist sozial taub und die
Börse ist sozial blind.
({3})
Zu diesen Grundbedürfnissen gehören zum Beispiel Bildung, Gesundheit, Wohnen, Mobilität und eben auch die
Kommunikation.
({4})
Weil das so ist, darf die Politik ihren Einfluss bei diesen
Grundbedürfnissen nicht verkaufen und den Aktionären
überlassen.
Es gibt aktuelle Beispiele, die belegen, wohin das
führen kann. In Berlin wurden noch zu Zeiten der großen
Koalition unter Federführung der CDU die Wasserbetriebe teilprivatisiert. Das war ein Geschäft, das spürbar
zulasten der Bürgerinnen und Bürger ging. In Dresden
wurde jüngst der gesamte kommunale Wohnungsbestand
verkauft. Dazu gibt es eine Kontroverse auch in meiner
Partei.
({5})
Inzwischen planen weitere Städte - auch solche, in denen andere Parteien das Sagen haben - Ähnliches, um
den kommunalen Haushalt zu sanieren. Ich halte das für
kurzsichtig - das sage ich durchaus auch den Kolleginnen und Kollegen meiner Partei, die sich daran beteiligt
haben -; denn damit geben diese Kommunen zugleich
ihren Einfluss, zum Beispiel auf die soziale Stadtentwicklung, preis.
({6})
Ich finde, die Politik hat eine soziale Verantwortung.
Um dieser gerecht zu werden, bedarf es öffentlicher Betriebe, die auch durch die Politik bestärkt werden.
Danke.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Jochen-Konrad
Fromme, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Dieser
Antrag ist ausgesprochen populistisch.
({0})
Natürlich ist jeder Arbeitsplatz, der in Deutschland verschwindet, einer zu viel. Deshalb verdient dieser Vorgang auch große Aufmerksamkeit und wir müssen uns
darum kümmern. Aber so, wie der Antrag gestellt ist, ist
er völlig falsch angelegt, und zwar in beiden Teilen.
({1})
Der zweite Teil ist eigentlich noch entlarvender und
schlimmer als der erste Teil.
Zunächst einmal muss man sich mit dem Unternehmen Telekom beschäftigen. Es ist eine Binsenweisheit,
dass die Telekommunikationsbranche eine Branche
ist, in der der Umbruch praktisch stündlich stattfindet
und in der stündlich Entwicklungen stattfinden, die eine
Anpassung der Betriebe erfordern.
Ich kann mich noch gut an die Zeiten erinnern, als wir
die staatliche Post mit dem „Dampftelefon“ hatten, wo
man für jede Telefondose einen eigenen Antrag stellen
und Gebühren zahlen musste. Nach der Privatisierung ist
Belebung in die Landschaft gekommen und diese Branche hat Arbeitsplätze aufgebaut.
({2})
- Herr Ströbele, Sie haben auch noch nicht dazugelernt,
das ist doch völlig klar. ({3})
Wenn es dann wegen des harten Wettbewerbs besonderer
Anpassungen bedarf - man muss natürlich wissen, dass
die Telekom Altlasten mitschleppt und vieles mit auf den
Weg bekommen hat, was Wettbewerber nicht haben -,
dann muss die Telekom in der Lage sein, sich anzupassen.
Es ist richtig, dass in den nächsten drei Jahren Arbeitsplätze umgebaut werden sollen. Das ist eine betrübliche Entwicklung, weil wir dabei auch Arbeitsplätze verlieren. Man muss dabei aber zweierlei sehen:
Erstens. Es ist mit den Betriebsräten vereinbart. Warum ist es mit den Betriebsräten vereinbart? - Weil die
doch auch wissen, dass, wenn man einen Betrieb so laufen lässt, dass er nicht wettbewerbsfähig ist, am Ende
nichts mehr überbleibt. Da stellt sich doch die Frage, ob
es besser ist, wenn man sich anpasst und einige Arbeitsplätze verliert, oder ob es besser ist, wenn man sich nicht
anpasst und alle verliert.
({4})
Nach der Betriebsvereinbarung der Telekom erfolgen bis
2008 keine betriebsbedingten Kündigungen. Das heißt,
dass die Umstellung sozialverträglich, im Einvernehmen
mit den Betriebsräten erfolgt.
Es werden Arbeitsplätze abgebaut, weil man die Callcenter - sie sind eigentlich eine Erfolgsgeschichte der
Telekommunikation; hier wurden in den letzten Jahrzehnten viele neue Arbeitsplätze geschaffen - anders
führen muss, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Wenn die
Wettbewerber größere, wirtschaftlichere Einheiten bilden, dann muss die Telekom nachziehen, weil sie sonst
keine Aufträge mehr bekommt. So einfach ist das. Außerdem geht es darum, die Qualität der Dienstleistungen
für die Kunden zu verbessern.
({5})
Den Mitarbeitern werden im Übrigen andere Arbeitsplätze angeboten.
({6})
- Natürlich ist es einfach, zu sagen, die dürfen nichts
verändern. Das kann sich aber nur eine Partei leisten, die
keine Verantwortung für die Arbeitsplätze von morgen
übernehmen muss.
({7})
Ich sage es noch einmal: Umstrukturierung ist ein
notwendiger Prozess. Wer sich der Umstrukturierung
verschließt, hat am Ende gar nichts mehr.
({8})
Dass Sie, meine Damen und Herren von der Linken,
nichts hinzugelernt haben, zeigt der zweite Teil Ihres
Antrages. Es ist doch völlig klar: Gewinne spiegeln die
Situation von gestern wider und bilden über die Schaffung von Kapital die Basis für die Arbeitsplätze von
morgen; denn ohne Kapital gibt es keine Arbeitsplätze.
Natürlich ärgert es uns, wenn Betriebe Personal über das
wirtschaftlich gebotene Maß abbauen.
An dieser Stelle aber können wir nicht eingreifen. Die
Telekom ist ein privatisiertes Unternehmen. Die Verantwortung für das operative Geschäft liegt beim Vorstand. Dem Vorstand, auch einzelnen Vorstandsmitgliedern, können wir keine Weisungen erteilen. Deshalb ist
Ihr Antrag zum einen rechtlich unzulässig und zum anderen wirtschaftlich unsinnig, weil er zur Totalzerstörung führen würde.
({9})
Sie haben ja viel Erfahrung darin, wie man mit staatlich gesteuerten Betrieben umgeht. Das haben Sie eben
populistisch dargestellt. Wir brauchen nur ein wenig in
Richtung Osten schauen, um zu sehen, wohin das führt.
Die Diskussion, die heute in der Presse geführt wird,
zeigt doch, wie verwoben die Linkspartei mit dem alten
System ist, wie viele von damals Sie heute immer noch
in Ihren Reihen haben. Daran wird auch die vierte Namensänderung nichts ändern. Sie bleiben unterwandert
und infiltriert. Sie bleiben vom falschen Gedankengut
beseelt.
({10})
- Auch ein Stammtisch hat manchmal Recht; denn die
Menschen haben ein gesundes Gespür dafür, was falsch
und was richtig ist.
({11})
Die Menschen begreifen, dass es besser ist, Arbeitsplätze abzusichern.
Einige Unternehmen haben diesen Innovationsprozess nicht erfolgreich bestanden und befinden sich deshalb in einer gefährlichen Schieflage. Schauen wir uns
doch einmal Teile der Automobilindustrie an. Wer die
Anpassung nicht rechtzeitig geschafft hat, hat jetzt unter
Kostengesichtspunkten große Schwierigkeiten. Am Ende
bedeutet das möglicherweise, dass ganze Marken und
damit Tausende von Arbeitsplätzen verschwinden, die
nicht hätten verschwinden müssen, wenn man sich rechtzeitig umgestellt, wenn man sich rechtzeitig wettbewerbsfähig aufgestellt hätte. Das ist der Punkt.
Im zweiten Teil Ihres Antrages zeigen Sie - dieser
Teil ist entlarvend -, dass Sie wieder in die Staatswirtschaft zurück wollen. Ich wiederhole, damit es auch der
Letzte begreift: Sie haben schon einmal einen großen
Teil dieses Landes in die Katastrophe geführt. Die armen
Menschen mussten das ausbaden. Ein Teil der Probleme,
die wir heute haben, sind doch dadurch bedingt, dass wir
uns jetzt damit befassen müssen, das Erbe von fast
50 Jahren Sozialismus aufzuräumen.
({12})
Das ist das Problem. Warum mussten wir denn fast die
ganze ehemalige DDR unter dem Gesichtspunkt des
Umweltschutzes sanieren? Weil Sie eine falsche, menschenfeindliche Wirtschaftspolitik betrieben haben. Das
ist doch die Wahrheit.
({13})
- Die Tatsache, dass Sie so reagieren, zeigt doch auch,
dass ich offensichtlich getroffen habe. Wenn Sie sich
nämlich nicht so getroffen fühlen würden, dann würden
Sie doch eine nüchterne Auseinandersetzung führen und
Argumente vorbringen, anstatt dazwischenzubrüllen. Sie
wollen vernebeln, was Sie angerichtet haben.
Ich sage es noch einmal: Ihr Antrag ist in beiden
Punkten abzulehnen.
({14})
Ihre Politik ist rückwärts gewandt, Sie haben aus den Erfahrungen der Geschichte leider nichts gelernt. Fraktionsstärke haben Ihnen die Unzufriedenen beschert, die
Sie auf populistische Art und Weise eingesammelt haben. Leider haben die nicht genau hingesehen. Sie werden ganz schnell merken, was sie an Ihnen haben. Deshalb werden Sie nicht weiter zum Zuge kommen und bei
der nächsten Wahl die Quittung dafür erhalten.
({15})
Wir müssen uns marktwirtschaftlich so aufstellen,
dass unsere Unternehmen auf Dauer wettbewerbsfähig
sind. Nur dann gibt es überhaupt Arbeitsplätze und können diese in ausreichendem Maße erhalten bleiben. Wir
müssen daran arbeiten, dass das besser wird; denn in den
letzten Jahren sind wir zu weit abgerutscht. Mit einer so
rückwärts gewandten Politik, wie sie in Ihrem Antrag
ausgedrückt wird, werden wir den heutigen Erfordernissen - das ist der Hauptpunkt - nicht gerecht.
({16})
Deshalb werden wir diesen Antrag ablehnen.
({17})
Das Wort hat nun der Kollege Martin Zeil für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Lassen Sie mich vorneweg eines sagen: Von den beabsichtigten Schließungen sind auch
16 Standorte in meiner bayerischen Heimat betroffen.
Wir haben deshalb volles Verständnis für die Situation
der betroffenen Mitarbeiter. Verlagerungen von Arbeitsplätzen gerade aus strukturschwachen Gebieten können
niemanden gleichgültig lassen.
Der hier vorliegende Antrag ist aber leider typisch,
Frau Kollegin Pau, für die Politik der PDS-Linken hier
im Hause. Er strotzt vor Halbwahrheiten, bietet keine
durchführbaren Lösungen und - das ist vielleicht das
Schlimmste - er instrumentalisiert die Sorgen und Nöte
der Menschen für eine kurzfristige Effekthascherei.
({0})
Sie verschweigen zudem die Angebote der Telekom
an die betroffenen Mitarbeiter, Sie unterschlagen, dass
sich die Firma mit den Betriebsräten vor kurzem auf die
künftigen Standorte abschließend geeinigt hat, und Sie
lassen natürlich jegliche Auseinandersetzungen mit den
wirtschaftlichen Argumenten vermissen.
({1})
Aber das wäre vielleicht von patentierten Marxisten zu
viel verlangt.
({2})
Herr Kollege Zeil, darf die Kollegin Pau Ihnen eine
Zwischenfrage stellen?
Aber selbstverständlich.
Herr Kollege, wollen Sie ernsthaft behaupten, dass
das Angebot an allein erziehende Frauen an den von
Schließung betroffenen oder bedrohten Standorten, einen 200 Kilometer oder auch nur 150 Kilometer vom
bisherigen Standort entfernten Arbeitsplatz aufzunehmen, ein ernstes und faires Angebot ist, welches es den
Frauen ermöglicht, sowohl ihren Pflichten in der Familie
nachzukommen als auch ihren Arbeitsplatz zu behalten?
Frau Kollegin, ich will gar nicht bestreiten, dass es
hier im Einzelfall zu Härten kommen kann. Das ist gar
keine Frage. Aber insgesamt ist es so, dass durch diesen
Umstrukturierungsprozess möglicherweise Arbeitsplätze
an anderer Stelle genau für diesen Personenkreis gesichert werden können. Sie müssen sich vielleicht noch
mental daran gewöhnen, dass es sich hier um ein privatisiertes Unternehmen und nicht mehr um ein Staatsunternehmen handelt.
({0})
Ihr Antrag gibt über den konkreten Anlass hinaus Gelegenheit, über grundlegende Fragen zu diskutieren.
Wollen wir soziale Marktwirtschaft oder wollen wir
Planwirtschaft? Sind Politiker oder Verwaltungen die
besseren Unternehmer? Wollen wir entscheiden, was der
bessere Standort, der beste Tarif und das beste neue Produkt sind? Da sagen wir als Liberale: Wer die soziale
Marktwirtschaft will, kann die letzte Frage nur ganz klar
mit Nein beantworten.
({1})
Unsere Aufgabe ist es hingegen, Rahmenbedingungen zu setzen, Frau Kollegin, die es den Unternehmen
ermöglichen, Arbeitsplätze zu erhalten und neue zu
schaffen. Die Rahmenbedingungen müssen, zum Beispiel durch mehr Wettbewerb, auch dem Wohl der Verbraucher dienen. Hier vertreten wir als Fraktion nach
wie vor den klaren Kurs einer umfassenden marktwirtschaftlichen Erneuerung.
Diesem Kurs entspricht es auch, die Privatisierung im
Telekommunikationsbereich, die insgesamt, vor allem
aber auch aus der Sicht der Verbraucher, positiv zu bewerten ist, fortzusetzen. Vergegenwärtigen Sie sich einmal, insbesondere aus der Sicht der Verbraucher, dass
ein nationales Ferngespräch, für das die Post Mitte der
90er-Jahre 30 Cent pro Minute kassiert hat, heute beim
billigsten Anbieter gerade einmal 1 Cent pro Minute
kostet. Bei den zehn wichtigsten Auslandszielen betragen die Entgelte nur noch 3 Prozent des Betrages, den
das damalige Staatsunternehmen berechnet hat.
In diesem Zusammenhang ist auch Folgendes wichtig: Ein Blick auf die Erwerbstätigenstatistik zeigt,
dass es 1995, in dem Jahr der Privatisierung der Telekom, in der IT-Branche 630 000 Beschäftigte gab. Im
Jahr 2005 lag diese Zahl bei 750 000. Das ist eine Zunahme um knapp 20 Prozent. Deswegen ist es falsch,
sich immer nur auf ein Unternehmen zu fokussieren.
Hier muss man eine Gesamtbetrachtung anstellen.
({2})
Diese Fakten sprechen aus unserer Sicht für sich. Sie
sprechen aber auch dafür, dass wir grundsätzlich unsere
Linie fortsetzen müssen: Der Staat muss sich dort, wo er
keine zwingenden öffentlichen Aufgaben zu erfüllen hat,
aus der Wirtschaft zurückziehen und darf ihr keine Konkurrenz machen.
({3})
Das heißt aber auch: Wenn ein Unternehmen privatisiert und ein Markt liberalisiert wird, muss das konsequent geschehen. Dann darf es keine Ausnahmen und
keine halben Sachen geben. Dann muss wirklich für
Wettbewerb gesorgt werden. Deshalb werden wir Liberale darauf drängen, dass die Umsatzsteuerbefreiung und
das Briefmonopol der Deutschen Post fallen und dass
wir mehr Wettbewerb auf der Schiene bekommen.
({4})
- Herr Barthel, hören Sie gut zu; ich möchte abschließend Helmut Schmidt zitieren.
Helmut Schmidt hat einmal gesagt: „Märkte sind wie
Fallschirme: Sie funktionieren nur, wenn sie offen sind.“
So einfach ist das. Die Rückkehr zur Staatswirtschaft,
die so viel Unheil angerichtet hat, lehnen wir Liberale
ebenso ab wie Ihren Antrag.
({5})
Martin Dörmann ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
ihrem Antrag fordert die Fraktion Die Linke die Bundesregierung auf, ihre Strategie zur Privatisierung öffentlicher Unternehmen zu revidieren. Bevor ich auf das konkrete Thema dieser Debatte, die Telekom, zu sprechen
komme, möchte ich zunächst auf diesen allgemeineren
Punkt etwas näher eingehen. Er dokumentiert nämlich,
dass die PDS wirtschaftspolitisch einen rückwärts gewandten Kurs fährt. Wir sollten das Thema Privatisierung differenziert und nicht ideologisch diskutieren.
Es gibt Bereiche der Daseinsvorsorge, insbesondere
auf kommunaler Ebene, in denen es unter vielerlei Gesichtspunkten richtig sein kann, an öffentlichen Unternehmen festzuhalten,
({0})
etwa wenn es um die sichere Versorgung mit Wasser, die
Organisation der Müllabfuhr, die Stärkung des öffentlichen Personennahverkehrs oder eine sozial orientierte
Wohnungsversorgung vor Ort geht. Auf diesen Feldern
geht es um Güter und Dienstleistungen, für deren unmittelbares Zur-Verfügung-Stellen die öffentliche Hand in
einer besonderen Verantwortung steht und bei denen die
kommunale Selbstverwaltung gefragt ist. Hier handelt es
sich um örtlich begrenzte Bereiche, die sich einem internationalen Wettbewerb nicht stellen müssen.
Prinzipiell anders sieht es jedoch bei einigen Unternehmen aus, die sich bisher noch ganz oder teilweise im
Eigentum des Bundes befinden und die in einem internationalen, heutzutage sogar oft in einem globalen Wettbewerb stehen. Hier muss sich der Staat in besonderer
Weise fragen, welche Aufgaben besser von ihm selbst
und welche besser von einem privatwirtschaftlich organisierten Unternehmen erfüllt werden können.
Die Bundesregierung verfolgt seit vielen Jahren, unterstützt von unterschiedlichen Koalitionen im Parlament, eine konsequente Privatisierungspolitik. Sie orientiert sich dabei an folgenden grundlegenden Zielen:
erstens einer effizienten Aufgabenverteilung zwischen
Staat und Wirtschaft, zweitens der besseren Kapitalausstattung der Unternehmen, drittens - damit verbunden den größeren Möglichkeiten für zukunftsweisende Investitionen und viertens der Schaffung von mehr Marktorientierung und mehr Wettbewerbsfähigkeit.
Dieser Weg war erfolgreich.
({1})
Ehemalige Bundesunternehmen sind heute an in- und
ausländischen Börsen notiert und behaupten sich auf den
Weltmärkten. Dazu zählen neben der Deutschen Telekom insbesondere Volkswagen, die Lufthansa, Eon und
die Deutsche Post AG. Es gibt heute wohl kaum noch jemanden - von der PDS abgesehen -, der behaupten
würde, die Privatisierung dieser Unternehmen sei falsch
gewesen. Vielmehr haben diese Unternehmen von der
Privatisierung profitiert und stehen heute im Markt alles
in allem sehr gut da. Und genau darum geht es: die Bedürfnisse des Marktes und der Verbraucherinnen und
Verbraucher im Auge zu behalten - und nicht in erster
Linie die des Staatsapparates.
Durch die Privatisierungspolitik profitiert gleichzeitig
der Bundeshaushalt, insbesondere durch die Platzierung
von Aktien auf dem Kapitalmarkt. Dieser Privatisierungskurs ist deshalb ordnungspolitisch richtig, wirtschaftlich sinnvoll und bringt haushaltspolitisch Entlastung. Angemerkt sei, dass hierdurch letztendlich
zusätzliche Investitionen des Bundes ermöglicht werden,
beispielsweise in Bildung, in Forschung und Entwicklung oder auch zum sozialen Ausgleich. Klar ist: Wer
diesen Weg der Privatisierung geht, muss dafür in Kauf
nehmen, dass er den Einfluss auf unternehmerisches
Handeln verliert. Wenn die Unternehmen erfolgreich
sind - was bei den bisherigen Privatisierungen der Fall
ist -, muss dies jedoch kein Nachteil sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen wir nun zu
der im Antrag konkret angesprochenen Deutschen
Telekom AG. Die Privatisierung der Telekom ist zu
Recht mit einer Marktöffnung im Bereich der Telekommunikation verbunden gewesen; ihre Monopolstellung wurde bewusst beseitigt. Inzwischen werden die
Arbeit der Regulierungsbehörde und die Erfolge dieser
Marktöffnung allgemein anerkannt. Seit der Liberalisierung sind beispielsweise die Telefonkosten drastisch gesunken: Heute kann man bei bestimmten Anbietern für
1 Cent die Minute ein Ferngespräch führen oder - gegen
einen gewissen Aufpreis, im Rahmen einer Flatrate ohne Verbindungskosten telefonieren oder im Internet
surfen. Das freut die Verbraucherinnen und Verbraucher,
die für weniger Geld mehr Leistung erhalten.
Konkurrenz und sinkende Preise haben für das betroffene Unternehmen nicht nur Vorteile. Gerade die Telekom hat sich einem besonders harten internationalen
Wettbewerb zu stellen. Ein Unternehmen, das zuvor eine
Monopolstellung hatte, verliert bei einer Marktöffnung
zunächst zwangsläufig Marktanteile. Bis zu einem gewissen Grad ist das auch erwünscht, um Wettbewerb erst
zu ermöglichen. Dies lässt sich in den Berichten der
Bundesnetzagentur eindrucksvoll nachlesen: So hatte die
Telekom an den Gesprächsminuten in Deutschland 1998
noch einen Anteil von 94 Prozent. 2005 waren es nur
noch 48 Prozent.
An dieser Stelle will ich auch ein Problem offen ansprechen, das zu Beginn der Privatisierung unterschätzt
worden ist: Seinerzeit sind die meisten Experten davon
ausgegangen, dass der Telekommunikationsmarkt eine
dauerhafte Jobmaschine mit ständig wachsender Beschäftigtenzahl ist. Der technische Fortschritt ist jedoch
noch rasanter gewesen als erwartet, sodass weniger
Menschen für die neue Vielfalt von Diensten und Produkten benötigt werden als angenommen. Zum Ende des
Jahres 2004 waren im Telekommunikationsdienstemarkt 225 000 Personen beschäftigt und damit nur unwesentlich mehr als 1998. Die Erwartung, dass die Telekom selbst bei Verlust von Marktanteilen eher mehr
Arbeitskräfte braucht, hat sich leider nicht bewahrheitet.
Vor diesem Hintergrund sind die aktuellen Pläne der Telekom zu einem Personalabbau zu diskutieren. Es ist
grundsätzlich problematisch, wenn man einzelne unternehmerische Entscheidungen kommentiert. Dennoch
möchte ich für die SPD-Fraktion ausdrücklich zum Ausdruck bringen, dass wir hoffen und erwarten, dass sich
Konzernleitung und Gesamtbetriebsrat im Rahmen des
geplanten Personalabbaus auf ein sozialverträgliches
Konzept einigen werden.
Nun zu der konkret angesprochenen Entscheidung der
Telekom, Callcenterstandorte zu schließen. Ich möchte
zunächst einmal hervorheben, dass das Aktienrecht der
Bundesregierung keine Möglichkeit gibt, eine Einzelmaßnahme des Unternehmensvorstandes direkt zu beeinflussen - auch wenn der Bund Minderheitsanteile an
der Deutschen Telekom hält; von daher läuft die konkrete Forderung im Antrag der Linken ins Leere. Auch
aus diesem Grund wird die SPD-Fraktion ihn ablehnen.
Worum geht es in der Sache? Die Telekom verfolgt ein
Konzept der Zusammenlegung von Callcenterstandorten
und damit eine stärkere Zentralisierung dieses Bereiches, in dem insgesamt 15 000 Beschäftigte tätig sind.
Durch größere Belegschaften sollen Effizienzgewinne
und höhere Qualitätsstandards gesichert werden, wie es
bei Konkurrenten zum Teil schon gemacht worden ist.
Die von der Verlagerung ihres Standortes betroffenen
Beschäftigten erhalten allerdings das Angebot, an einem
anderen Standort weiterbeschäftigt zu werden. Das ist
natürlich insbesondere in ländlichen Gegenden problematisch, in denen die Entfernung zum nächsten Standort
200 Kilometer oder sogar mehr beträgt; denn es sind insbesondere viele Frauen mit Kindern betroffen, die womöglich auch noch in Teilzeit arbeiten. Ihnen ist ein
Ortswechsel mit der Familie oft faktisch nicht möglich.
Aus diesem Grunde war das Callcenterkonzept der
Telekom zwischen der Konzernführung und dem Gesamtbetriebsrat hoch umstritten. In der letzten Woche
konnte aber - das haben Sie unterschlagen - eine Einigung zwischen beiden erzielt werden. Wie wir bereits
gehört haben, ist danach nicht mehr, wie ursprünglich
geplant, die Schließung von 45 Callcenterstandorten,
sondern eben nur noch von 36 vorgesehen; 60 Standorte
bleiben erhalten. Ich sage deutlich: Unter den gegebenen
Umständen ist das gut für die Beschäftigten und sicher
auch ein Erfolg der Verhandlungen des Gesamtbetriebsrates und von Verdi.
({2})
Ich begrüße das ausdrücklich auch im Namen vieler
meiner Kolleginnen und Kollegen in der SPD-Bundestagsfraktion, die sich um die Sorgen der Beschäftigten,
die ja berechtigt sind, gekümmert und viele Gespräche
geführt haben. Unter den gegebenen Umständen sind wir
froh, dass eine Einigung erfolgt ist. Sie ist im Interesse
der Beschäftigten und des Unternehmens, sie stärkt die
Konkurrenzfähigkeit der Telekom und sichert damit Arbeitsplätze langfristig. Wir nehmen dies als ein positives
Signal auch für zukünftige Verhandlungsrunden der Tarifpartner.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zusammenfassen: Die SPD-Fraktion steht zum erfolgreichen Weg der Privatisierung. Weder Parlament noch Regierung können direkt in die Unternehmensstrategie
privatisierter Unternehmen eingreifen und sollten das
auch nicht. Dennoch gilt: Einen konstruktiven Weg unterstützen wir gerne auch politisch. Deutschland braucht
Wettbewerb und eine starke Telekom als unseren globalen Player im Bereich der Telekommunikation und die
Telekom braucht marktgerechte Lösungen, mit denen
gleichzeitig die Belange der Beschäftigten angemessen
berücksichtigt werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Der Kollege Matthias Berninger gibt seine Rede zu
Protokoll1). Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/845 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu besteht offenkundig Einvernehmen. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 12:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2004 ({1})
- Drucksachen 15/5000, 16/909 Berichterstattung:
Abgeordnete Anita Schäfer ({2})
Elke Hoff
Paul Schäfer ({3})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die
Aussprache eine halbe Stunde dauern. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages,
Reinhold Robbe.
({4})
1) Anlage 2
Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen
Bundestages:
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Dem Plenum liegt heute der noch
von meinem Amtsvorgänger Willfried Penner erstellte
Jahresbericht für das Jahr 2004 zur abschließenden Beratung vor. Wie wir alle wissen, wurde der Bericht inzwischen fortgeschrieben.
Vor wenigen Wochen habe ich dem Präsidenten des
Deutschen Bundestages den Bericht für das zurückliegende Jahr, also für das Jahr 2005, vorgelegt. Daraus zu
schließen, der heute zu beratende Bericht für das
Jahr 2004 sei bereits überholt, wäre allerdings verfehlt.
Die Rahmenbedingungen für die Bundeswehr haben sich
keineswegs verändert. Sie kennen alle wesentlichen
Stichworte in diesem Zusammenhang. Um nur die wichtigsten zu nennen: Transformation, Einsatzbelastung und
Unterfinanzierung.
Auch wenn die Beratungen des Haushalts für das laufende und das kommende Jahr noch nicht abgeschlossen
sind, lässt sich schon jetzt sagen: Der Verteidigungsetat
wird auf keinen Fall erhöht. Alle Probleme, die sich daraus für die Soldatinnen und Soldaten ergeben, sind im
Jahresbericht 2004 angesprochen worden. Ich nenne
noch einmal die wichtigsten: Unmut über ausbleibende
Beförderungen wegen fehlender Planstellen; Enttäuschung der altgedienten Portepeeunteroffiziere über ihre
Benachteiligung im Hinblick auf das Attraktivitätsprogramm; Kritik an unzureichender Einsatzvorbereitung
wegen fehlenden Ausbildungsmaterials; kurzfristige
Veränderungen bei der Einsatzplanung; Defizite in der
persönlichen Ausstattung, auch mit Blick auf die Einsätze; Infrastrukturmängel in den Kasernen, besonders in
den alten Bundesländern; Belastungen des Sanitätsdienstes durch Einsatzabstellungen und Handlungsbedarf im
Hinblick auf eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und
Familie.
Diese Probleme sind nach wie vor aktuell. Sie waren
im Jahr 2004 aktuell, sie sind im Jahre 2005 aktuell gewesen und sie sind auch jetzt aktuell. Sie finden sich naturgemäß deshalb auch in dem jüngsten Bericht, dem
Jahresbericht 2005, wieder. Dahinter stehen in der Regel
ganz konkrete Sorgen und Nöte Einzelner, die von mir
sorgfältig geprüft werden, und zwar mit dem Ziel, Lösungen für die angesprochenen Probleme zu finden. Was
die Bundeswehr zunehmend belastet, geht aber über den
konkreten Einzelfall hinaus. Es ist die Summe der von
den Rahmenbedingungen geprägten Mängel und Defizite, die bei den Soldatinnen und Soldaten Unzufriedenheit und auch Enttäuschung hervorrufen.
Aus der Sicht der Soldaten klaffen seit der Neuausrichtung der Streitkräfte Anspruch und Wirklichkeit in
der Bundeswehr manchmal weit auseinander, beispielsweise dann, wenn die Notwendigkeit der Beteiligung an
internationalen Einsätzen beschworen, der Truppe das
dafür notwendige Personal und Material aber nicht immer in ausreichendem Umfang zur Verfügung gestellt
wird, oder wenn die Leistungen der Soldatinnen und
Soldaten vor dem Hintergrund der Transformation und
der Einsätze in höchsten Tönen gelobt werden, dieselben
Wehrbeauftragter Reinhold Robbe
Soldatinnen und Soldaten aber immer weniger Geld im
Portemonnaie haben und auch 15 Jahre nach der Wiedervereinigung die Armee der Einheit keineswegs einheitlich besoldet wird.
({5})
Anspruch und Wirklichkeit stehen schließlich auch dort
nicht miteinander im Einklang, wo Soldaten über Rahmenbedingungen und Ziele möglicher neuer Einsätze im
Unklaren gelassen werden.
In der so genannten Zentralen Dienstvorschrift 10/1
der Bundeswehr heißt es dazu in klaren Worten: Zu den
Zielen der inneren Führung gehört es - ich zitiere -,
unter Berücksichtigung ethischer Aspekte politische und rechtliche Begründungen für den soldatischen Dienst zu vermitteln und den Sinn des militärischen Auftrags einsichtig und verständlich zu
machen.
An diesem Grundsatz müssen sich militärische und
politische Führung messen lassen. Aus Sicht vieler Soldaten werden sie diesem Anspruch aber nicht immer gerecht. Die Soldaten fragen stattdessen mich, welchen
Sinn beispielsweise ein Einsatz im Kongo macht oder
was von einer demokratischen Erneuerung Afghanistans
zu halten ist, wenn dort Bürger wegen ihres Glaubensbekenntnisses mit der Todesstrafe bedroht werden.
Ich verkenne nicht, dass über diese aktuellen und andere Fragen auch hier im Deutschen Bundestag durchaus
konträr diskutiert wird. Aber findet diese Diskussion
auch in der Truppe statt? Werden den Soldaten Antworten auf ihre berechtigten Fragen gegeben? Wenn ich Vorgesetzte darauf anspreche, erklären sie mir häufig, es
fehle an offiziellen Stellungnahmen des Dienstherrn. Die
Kritik ist berechtigt. Auf der anderen Seite: Kann ein
Kompaniechef oder ein Kommandeur seinen Soldatinnen und Soldaten nur Rede und Antwort stehen, wenn er
sich hinter einer offiziellen Stellungnahme seines
Dienstherrn zurückziehen kann? Oder fehlt es an der generellen Bereitschaft, Diskussionen anzunehmen, auch
wenn sie in der Sache nicht leicht zu führen sind?
Bedeutung und Stellenwert der politischen Bildung
und des lebenskundlichen Unterrichts für das Leitbild
vom Staatsbürger in Uniform sind unstreitig. Neufassungen der Zentralen Dienstvorschrift 12/1 - das betrifft die
politische Bildung und den lebenskundlichen Unterricht stehen nach langer Vorarbeit kurz vor ihrem Erlass.
Gleichwohl kommen interne Erhebungen des Führungsstabes der Streitkräfte zu dem Schluss, dass die politische Bildung und der lebenskundliche Unterricht vor
dem Hintergrund der Auftragsdichte oftmals viel zu kurz
kommen. Das deckt sich beispielsweise mit Aussagen
von Einheitsführern, die mir berichten, dass ihre ursprünglich auf zwei Tage angesetzte politische Weiterbildung in Berlin mangels Zeit und ausreichender Mittel
auf einen Tag zusammengestrichen wurde. So darf es
- das finde ich jedenfalls - nicht sein.
Anspruch und Wirklichkeit: Darum geht es. Sie wieder miteinander in Einklang zu bringen - finanziell wie
ideell -, das ist die zentrale Aufgabe, der sich die Bundesregierung und auch das deutsche Parlament aus meiner Sicht verstärkt zuwenden müssen.
Das wird mit der Aufforderung an die Bundesregierung zur Prüfung, Erwägung und Beachtung der im Jahresbericht des Wehrbeauftragten enthaltenen Empfehlungen allein natürlich nicht zu schaffen sein. Dazu
braucht es weiter gehende Anstrengungen. Eines ist aber
sicher: Von dem Erfolg dieser Bemühungen werden die
Einsatzbereitschaft und die Motivation der Soldatinnen
und Soldaten künftig entscheidend abhängen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
möchte ich gerne - sicherlich auch in Ihren aller
Namen - dem Wehrbeauftragten und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Behörde für die Vorlage des
Berichts und insbesondere für die damit verbundene Arbeit herzlich danken.
({0})
Das Wort hat nun die Kollegin Elke Hoff, FDP-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter!
Wir sprechen heute abschließend über den Jahresbericht
2004 des Wehrbeauftragten. Der nächste Bericht liegt
bereits vor. Es ist gut, sehr geehrter Herr Robbe, dass Sie
in Ihrem ersten Bericht die klare und deutliche Art Ihres
Vorgängers fortsetzen.
Die Institution des Wehrbeauftragten hat auch im
50. Jahr ihres Bestehens nicht an Bedeutung verloren.
Im Gegenteil: Der Anstieg des Eingabeaufkommens von
20 Prozent in den ersten Monaten des Jahres 2006 ist ein
Alarmsignal, dass bei unserer Bundeswehr weiterhin einiges im Argen liegt. Die Kenntnis des neuen Berichts
erlaubt es bereits heute, sich weiterentwickelnde Fehlentwicklungen festzustellen.
Viele Punkte im Jahresbericht 2004 entwickeln sich
zu bedauernswerten Klassikern. Als Beispiel hierfür
möchte ich den Beförderungsstau, das Ausufern bürokratischer Einsatzhindernisse, den baulichen Zustand der
Kasernen und die Auswirkungen der permanenten Unterfinanzierung der Streitkräfte, die der Wehrbeauftragte
sehr treffend als ein permanentes Verwalten des Mangels
kritisiert, benennen.
In den Eingaben der Soldatinnen und Soldaten drückt
sich der ganze Unmut über eineinhalb Jahrzehnte Transformation aus. Die Transformation lebt aber von der
Akzeptanz derjenigen, die sie tagtäglich zu vollziehen
haben. Wenn dieser Begriff mehr und mehr negativ
besetzt wird, kann man ihn irgendwann vergessen. Es
geht hier auch um Menschen und nicht nur um Planziele.
So sympathisch der Wunsch nach einer Atempause
im Transformationsprozess, wie er von Herrn Robbe geäußert wurde, auch ist: Er ist unrealistisch. Wenn die
Bundeswehr bis 2010 auch nur annähernd das von ihr
angestrebte Personalstrukturmodell mit der neuen Aufgabenverteilung einführen möchte, wird der Transformationsdruck eher noch zunehmen.
Deshalb ist die Einsicht des Bundesverteidigungsministers erfreulich, dass die Besonderheiten des Soldatenberufs auch ein eigenes Besoldungsrecht erfordern. Die
FDP fordert dies seit Jahren. Der Minister hat offenbar
erkannt, dass es einen Unterschied macht, ob der Soldat
in Faizabad oder in der Brüsseler EU-Bürokratie seinen
Dienst versieht.
Wenn Sie hoffentlich in Kürze damit beginnen, das
Besoldungsrecht in Ordnung zu bringen, dann sollten
Sie auch die Besoldungsunterschiede in Ost und West
auflösen. Die Integration einer betrieblichen Alterssicherung insbesondere für die Soldaten auf Zeit würde ebenfalls zu diesen Reformanstrengungen passen. Ich bin mir
sicher, dass Sie hierfür eine breite parlamentarische
Mehrheit finden werden.
Bemerkenswert ist, wie deutlich sich der neue Wehrbeauftragte in den letzten Wochen zu den zunehmenden
Belastungen durch neue Auslandseinsätze der Bundeswehr geäußert hat. Er sprach von einer Bundeswehr, die
bis zur Oberkante ausgelastet sei. Im Hinblick auf einen
möglichen Einsatz deutscher Soldaten im Kongo könne
er sich einen Einsatz, der über eine beobachtende Funktion und den Einsatz von wenigen Spezialisten hinausgehe, nicht vorstellen. Die Bundeswehr könne nicht alles
und sie sei auch nur sehr beschränkt über ihr derzeitiges
Engagement hinaus einsetzbar. Auch seien die Soldatinnen und Soldaten nur schwer davon zu überzeugen, dass
ein solcher Einsatz notwendig ist.
Ich freue mich, dass Sie diese deutlichen Worte gefunden haben, auch wenn ich der Ansicht bin, dass es
hierbei weniger um die Frage geht, ob die Bundeswehr
aufgrund ihrer militärischen Fähigkeiten einen Einsatz
im Kongo bewerkstelligen kann. Vielmehr geht es darum, dass die Bundesregierung bis heute nicht plausibel
begründet hat, wodurch und inwiefern ein viermonatiger
Einsatz von 500 Soldaten im Kongo zu einer dauerhaften Stabilisierung Zentralafrikas führen wird. In einer
SWP-Studie vom Februar dieses Jahres werden die Wahlen aus Sicht der zur Wahl stehenden Präsidentschaftskandidaten als „Fortsetzung des Krieges mit anderen
Mitteln“ bezeichnet. Gibt eine solche Einschätzung Anlass zu den allgemeinen Beschwichtigungsversuchen
nach dem Motto „Alles wird gut“?
Unsere Soldatinnen und Soldaten haben sowohl bei
bestehenden Einsatzverpflichtungen als auch bei künftigen einen Anspruch auf ein plausibles Gesamtkonzept
mit einer belastbaren Exitstrategie. Fehlt es an einem
solchen Konzept, ist ein Einsatz nicht vertretbar. Sowohl
in dem vorliegenden Bericht als auch in dem für das Jahr
2005 wird sehr deutlich, wie groß die Belastungen für
die Bundeswehr durch die bestehenden Einsatzverpflichtungen sind. Dabei ist das größte Problem, dass häufig
die gleichen Soldatinnen und Soldaten in den Einsatz
müssen, weil unsere Streitkräfte einfach zu wenige einsatzfähige Soldaten haben. Allmählich sollten die Lehren aus diesem Missstand gezogen werden, bevor über
weitere Einsätze außerhalb der Bundesrepublik Deutschland nachgedacht wird.
Ich komme zum Ende. Wir haben keinen Grund, unsere Bundeswehr schlecht zu reden. Wir alle können auf
die täglichen Leistungen unserer Soldatinnen und Soldaten stolz sein.
({0})
Das wäre eigentlich ein schöner Schlusssatz gewesen,
Frau Kollegin.
({0})
Sehr richtig. Aber Sie wissen, die Frauen haben immer das letzte Wort.
({0})
Wir müssen gemeinsam darauf achten, dass der Bericht des Wehrbeauftragten zu einer Blaupause oder
- um einen Begriff des Generalinspekteurs zu gebrauchen - zu einem Living Document der Transformation
wird.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat nun die Kollegin Anita Schäfer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Meine Damen und Herren! In diesem Jahr blicken wir
auf 50 Jahre Wehrbeauftragter zurück. Diese Institution
hat sich zum Schutz der Grundrechte der Soldaten vollauf bewährt. Sie gewinnt im Zeichen der Transformation
als Frühwarnsystem an Bedeutung. Herr Wehrbeauftragter, Sie haben vor kurzem Ihren ersten Jahresbericht vorgelegt. Wie schon bei Ihrem Vorgänger zeichnet sich der
Bericht durch Offenheit, Klarheit und Sachkenntnis aus.
Ihnen und Ihren Mitarbeitern danke ich im Namen meiner Fraktion für Ihre wichtige Arbeit. Sie können auf unsere Unterstützung zählen.
({0})
Der Umbau der Bundeswehr zu einer Einsatzarmee
ist zwar sicherheitspolitisch begründet, aber mit einem
enormen Veränderungsdruck verbunden. UmstrukturieAnita Schäfer ({1})
rung, Umstationierung und Neuausrichtung der Ausbildung vollziehen sich gleichzeitig zu Planung, Vorbereitung und Durchführung internationaler Kriseneinsätze,
sozusagen eine Reparatur am laufenden Motor. Bislang
haben unsere Soldaten diesen Spagat gemeistert. Aber
der Bericht des Wehrbeauftragten 2004 enthält deutliche
Warnsignale. Wir müssen die Risiken der Transformation klar identifizieren und bei Bedarf korrigierend eingreifen.
Begründung, Planung und Durchführung von Auslandseinsätzen erfordern das besondere Augenmerk von
uns Parlamentariern. Es wäre fatal, wenn internationale
Kriseneinsätze der Bundeswehr als Routineangelegenheit wahrgenommen würden. Bundespräsident Horst
Köhler hat ein „freundliches Desinteresse“ der Gesellschaft an unseren Streitkräften konstatiert. Das ist ein
bedenklicher Vorgang, der mit dem Prinzip einer Parlamentsarmee unvereinbar ist. Zu Recht erwarten die Soldaten von uns Klarheit über den Sinn von Einsätzen. Sie
haben es angesprochen, Herr Wehrbeauftragter. Nur
wenn ausreichend Klarheit besteht, ist eine breite Zustimmung im Parlament möglich. Diese ist für die Legitimation von Auslandseinsätzen unverzichtbar.
Im Mai steht die Abstimmung über einen Kongoeinsatz deutscher Soldaten an. Leider ist es in der politischen
Debatte noch nicht gelungen, den Sinn dieses Einsatzes
hinlänglich klarzumachen. Wir müssen die deutschen Interessen an einem verstärkten Afrikaengagement klar definieren. Für mich kommt es auf folgende Punkte an:
Erstens. Der Staatenzerfall in Afrika ist ein gravierendes sicherheitspolitisches Problem. Neue Rückzugsräume für Terroristen können entstehen. Der Migrationsdruck nach Europa verschärft sich weiter. Ein Einsatz,
der zur Stabilisierung im Kongo beitragen kann, ist deswegen auch im deutschen Sicherheitsinteresse.
Zweitens. Afrika ist als Nachbarkontinent Europas
ein wichtiger Rohstofflieferant und künftiger Markt. Die
Ölzentren in Zentral- und Westafrika, die an die Demokratische Republik Kongo angrenzen, werden für die
strategische Rohölversorgung des Westens zunehmend
wichtig. Das betrifft natürlich auch uns als wichtige europäische Industrienation.
Drittens. Ein gesamteuropäisches Kontingent trägt
unter dem Gesichtspunkt des Multilateralismus zur Stärkung der Vereinten Nationen bei. Wir unterstützen durch
diese Politik die Transformation der EU auf dem Weg zu
einem globalen Akteur.
Nur wenn deutsche Interessen klar und einsichtig formuliert sind, nur wenn ein breiter sicherheitspolitischer
Konsens im Parlament besteht, können unsere Soldaten
mit innerer Überzeugung in einen Einsatz gehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Auslandseinsätze
sind teuer. Allein im Haushaltsjahr 2005 schlugen sie im
Verteidigungsetat mit rund 884 Millionen Euro zu Buche. Das Ungleichgewicht zwischen Auftrags- und Mittellage der Bundeswehr ist längst nicht behoben. Umso
mehr brauchen wir endlich einen fairen Finanzierungsschlüssel für Auslandseinsätze.
Mittlerweile liegen die Schätzungen der Kosten für
den geplanten Kongoeinsatz bei über 60 Millionen Euro.
Für mich als Mitglied des Verteidigungsausschusses ist
nicht einsichtig, diese Lasten einseitig dem Einzelplan 14 aufzubürden.
({2})
Man kann als Außen- oder Entwicklungspolitiker nicht
Einsätze der Bundeswehr in Afrika fordern, die finanzielle Bewältigung aber dem Verteidigungsminister
überlassen. Hier müssen wir zu einer fairen Lastenteilung zwischen den Ressorts kommen.
({3})
Eine einseitige Inanspruchnahme des Einzelplans 14
schadet der Planungssicherheit der Truppe. Denn diese
Gelder fehlen für verteidigungsinvestive Ausgaben. Wir
brauchen sie dringend für eine optimale Einsatzausstattung der Bundeswehr.
Meine Damen und Herren, das Gros der laufenden
Bundeswehreinsätze sind Stabilisierungsmissionen. Sie
werden auch in Zukunft das Einsatzprofil der Truppe
entscheidend prägen. Doch schon jetzt ist absehbar, dass
der Bundeswehr die Spezialisten ausgehen. Ich zitiere
aus dem Bericht des Wehrbeauftragten 2004:
Immer wieder und verstärkt wiesen Soldaten darauf
hin, dass die Möglichkeiten der Spezialisten, namentlich der Fernmelder, des Sanitätspersonals, der
Pioniere und auch von Logistikern erschöpft
seien …
Dieser Trend bestätigt sich auch im Bericht des Wehrbeauftragten 2005. Hier werden explizit die Bereiche operative Information, Sanitätsdienst und Heeresflieger angeführt.
Wenn das gegenwärtige Einsatzniveau gehalten werden soll, muss die Personalkonzeption der Bundeswehr
entschieden gegensteuern. Hier zeigt sich im Übrigen,
wie unverzichtbar die Wehrpflicht für eine nachhaltige
Personalplanung der Streitkräfte bleibt. Doch müssen
wir zusätzlich kreativ in eine gezielte Nachwuchswerbung und attraktive Karriereplanung investieren. Die genannten Spezialisten sind das Rückgrat globaler Friedenssicherungseinsätze.
Meine Damen und Herren, gerade in Auslandseinsätzen beginnt oft ein Nachdenken der Soldaten über Werte,
über Sinn und Zweck des Lebens. Umso mehr benötigen
sie ein ethisch reflektiertes Berufsverständnis, das ihnen in schwierigen Entscheidungssituationen weiterhilft.
Wichtige Wegbegleiter im Einsatz sind die Militärseelsorger, dies nicht nur im Einsatzgebiet selbst, sondern
auch in der Heimat, wo sie den Familien mit Rat und Tat
zur Seite stehen. Die Militärseelsorge muss deswegen
auch künftig elementarer Bestandteil der Einsatzplanung
sein.
Die katholische Bischofskonferenz hat jüngst in ihrer
Denkschrift „Soldaten als Diener des Friedens“ die Bedeutung der inneren Führung für Auslandseinsätze herausgestellt:
Anita Schäfer ({4})
Die lebendige Weiterentwicklung des Konzepts der
Inneren Führung ist eine der entscheidenden Voraussetzungen für die friedensethische Legitimität
der Streitkräfte.
Dies müsse, so betonen die Bischöfe zu Recht, auch unter multinationalen Einsatzbedingungen Geltung haben.
Eine Erosion der inneren Führung in Konkurrenz zu
anderen militärischen Führungskulturen wäre für das
moralische und politische Selbstverständnis der Bundeswehr ein gravierender Bruch. Hier stehen der Wehrbeauftragte und wir Parlamentarier in einer besonderen
Sorgfalts- und Beobachtungspflicht.
Unsere Gesellschaft muss sich darüber im Klaren
sein, dass - wie der langjährige Generalinspekteur Klaus
Naumann formuliert hat - „der Soldat in letzter Konsequenz ein Kämpfer ist“. Diese Eigenschaft unterscheidet
ihn von allen anderen Berufen und schließt die Bereitschaft ein, sein eigenes Leben für den Dienst an seinem
Land einzusetzen. Das verpflichtet uns nicht nur, elementare Rechte und Schutzbedürfnisse unserer Soldaten
zu beachten. Es erfordert auch ein ehrendes Andenken
an diejenigen, die ihr Leben im Einsatz lassen mussten.
Ich begrüße sehr, dass Verteidigungsminister Dr. Jung
die Idee eines zentralen Denkmals in Berlin konsequent
verfolgt.
({5})
Ich sehe darin einen wichtigen Beitrag, die gesellschaftliche Diskussion über den Sinn von Streitkräften und die
Bedeutung militärischer Friedenssicherung aktiv zu führen. Das sind wir unseren Soldaten schuldig; denn sie
sind es, die stellvertretend für uns alle die Risiken künftiger Gefahrenabwehr tragen müssen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun die Kollegin Katrin Kunert, der ich,
bevor sie das Wort erhält, gerne zu ihrem heutigen Geburtstag gratulieren möchte. Alles Gute!
({0})
Danke schön, Herr Präsident. Das Alter lassen wir
weg. Das würde sowieso niemand glauben. - Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Gäste! Die Bundeswehr ist heute an elf
Standorten im Auslandseinsatz. Die Soldatinnen und
Soldaten leisten unter schwierigsten Bedingungen ihren
Dienst und sie machen ihn gut. Derzeit werden wieder
Deiche gebaut und gesichert. Die Bundeswehr soll in
den Kongo geschickt werden und nach Auffassung des
Verteidigungsministers bei der Fußballweltmeisterschaft zum Einsatz kommen. Ich könnte die Palette fortführen.
Die Zeit, die sich das Parlament für die Behandlung
der inneren Verfasstheit der Bundeswehr nimmt, steht
hingegen in keinem Verhältnis zur gegenwärtig formulierten Anforderung an die Bundeswehr.
({0})
Das 50-jährige Bestehen des Verfassungsinstitutes
Wehrbeauftragter findet leider nicht in angemessener
Weise Würdigung.
Warum sage ich das? Nur Deutschland verfügt über
die Institution Wehrbeauftragter. Darauf wurde mit Stolz
bereits in der Debatte im Januar hingewiesen. Aber vorgezogene Neuwahlen ließen den Bericht von 2004 in den
Hintergrund geraten, obwohl Handlungsbedarf besteht.
Die Zahl der von Soldatinnen und Soldaten gemachten
Eingaben stieg trotz sinkender Truppenstärke. Die Palette der aufgeführten Vergehen reicht von schlechter
Bezahlung über Missbrauch der Befehlsgewalt bis hin zu
Rechtsextremismus und Diskriminierung. Diese Vergehen sind keine Einzelfälle und sie sollten uns zu der Erkenntnis bringen, dass es eben nicht ausreicht, jährlich
einen Mängelbericht entgegenzunehmen.
Wichtig sind die Konsequenzen, die daraus gezogen
werden müssen. Wir fordern ein Management, welches
kontinuierlich, schnell und wirksam agiert. Versäumnisse können nicht nachträglich geregelt werden, Prävention muss im Vordergrund stehen.
({1})
Der Bundestag muss seine Kontrolle noch effektiver
und umfassender ausüben. Die Möglichkeit der unangemeldeten Besuche vor Ort wird viel zu wenig genutzt.
Gerade der Verteidigungsausschuss sollte die Arbeit des
Wehrbeauftragten unterstützen. Wir fordern ihn auch
dazu auf, mehr zu tun. Wir wollen ihn mehr in die Pflicht
nehmen, mehrere Berichte mit den nötigen Schlussfolgerungen vorzulegen. Eine Aufzählung von Problemen
oder Eingaben reicht uns nicht aus. Dies haben wir auch
bei den Beratungen dieses Berichtes im Verteidigungsausschuss klargestellt. So manche Anmerkung im vorliegenden Bericht und in der Beschlussempfehlung könnte
schon etwas zackiger formuliert werden. Mir sei folgender Vergleich erlaubt - ich sitze in einem kommunalen
Parlament -: In kommunalen Vertretungen wird mit
Rechnungsprüfungsberichten verbindlicher umgegangen, als es meinem Eindruck nach hier geschieht.
Sehr geehrter Herr Robbe, Sie wissen, unsere Fraktion hat eigene Vorstellungen zur Bundeswehr. Wir sind
für die Abschaffung der Wehrpflicht. Wir sind für die
Reduzierung der Truppenstärke auf 100 000 Soldatinnen
und Soldaten
({2})
und wir sind gegen Auslandseinsätze.
({3})
Aber gehen Sie einmal davon aus, dass wir bei der
Umsetzung des Soldatenbeteiligungsgesetzes genau
hinschauen werden. Unserer Unterstützung, Herr Robbe,
können Sie sich dabei sicher sein.
({4})
Ich finde es im Übrigen ungünstig, dass Sie alle heute
da in der letzten Reihe sitzen.
Die Rechte der Soldatinnen und Soldaten stehen
für uns im Mittelpunkt. Für uns verbietet sich jede Ungleichbehandlung. Wir erwarten von Ihnen, Herr Robbe,
dass Sie endlich die systematische Verletzung der gesetzlichen Vorgaben zur Wahrung der Wehrgerechtigkeit
aufgreifen. Im letzten Jahr haben nur weniger als
60 000 Wehrpflichtige ihren Grundwehrdienst geleistet.
Die Tendenz ist sinkend. Aber fast doppelt so viele leisteten einen Ersatzdienst, der damit längst zum Regeldienst geworden ist.
Herr Robbe, Sie nehmen heute zum zweiten Mal Kritiken und Hinweise für einen Bericht entgegen, den Sie
nicht selbst geschrieben haben. Auch der Bericht 2005
- das wurde schon gesagt - liegt vor. Die vielen Probleme ziehen sich wie ein roter Faden durch diese Berichte. Ich habe es auch schon im Ausschuss gesagt: Wer
von dieser Armee viel verlangt, der muss sie bei den
Entscheidungen mitnehmen und muss sie verdammt
noch mal auch sehr gut vorbereiten.
({5})
Wir werden Sie sehr unterstützen. Wir erwarten von
Ihnen aber auch mehr Eigeninitiative. Die Überprüfung
des Ausbildungssystems und die kritische Überprüfung
der Militärgerichtsbarkeit sind von Ihren Vorgängern
bisher stiefmütterlich behandelt worden. Lassen Sie uns
mit diesen Themen beginnen! Ich wünsche uns eine gute
und konstruktive Zusammenarbeit.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Rolf Kramer
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von dieser
Stelle an Frau Kunert noch einmal die herzlichsten
Glückwünsche zum Geburtstag! Allerdings muss ich Ihnen sagen, Frau Kollegin: Angesichts der deutschen Geschichte und der deutschen Militärgeschichte bin ich
froh darüber, dass wir keine zackige Armee mehr haben
und auch keinen zackigen Wehrbeauftragten haben.
Auch in diesem Bericht geht der Wehrbeauftragte auf
die gesundheitliche Beeinträchtigung jener ehemaligen
Soldaten und Beamten der Bundeswehr und der Nationalen Volksarmee ein, die während ihrer Tätigkeit ionisierender Strahlung ausgesetzt waren. Ich will den
Schwerpunkt auf diesen Aspekt legen.
Bei vielen Betroffenen haben sich aufgrund der Strahleneinwirkung Krebserkrankungen entwickelt. Eine
große Anzahl der Erkrankten ist inzwischen verstorben.
Der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages beschloss im Juni 2002 die Einsetzung der Radarkommission, die sich mit dieser Problematik intensiv
befasste. Nach Vorlage des Berichts der Radarkommission sagte die Bundeswehr zu, die Empfehlungen der
Kommission eins zu eins umzusetzen. Dieses Vorgehen
wurde vom Verteidigungsausschuss im September 2003
befürwortet.
An dieser Stelle möchte ich mich insbesondere bei
dem damaligen Parlamentarischen Staatssekretär Walter
Kolbow und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
für das außerordentliche Engagement bedanken. Der
gleiche Dank gilt den Angehörigen des Bundes zur Unterstützung Radargeschädigter, ohne deren Mitwirken
wir nicht so weit gekommen wären.
({0})
Insgesamt haben 2 633 Soldaten und Beamte aus der
Bundeswehr und der NVA einen Antrag auf Anerkennung einer Wehrdienstbeschädigung gestellt, von denen
inzwischen 575 positiv beschieden wurden.
Nachdem es aus Sicht des Bundes zur Unterstützung
Radargeschädigter bei der Bearbeitung von Versorgungsfällen aufgrund unterschiedlicher Interpretationen
zu unverständlichen Entscheidungen gekommen war,
vereinbarten das Verteidigungsministerium und der
Bund zur Unterstützung Radargeschädigter, solche Probleme an einem runden Tisch zu beraten. Der runde
Tisch nahm seine Arbeit im Dezember 2004 auf. Dieses
für die Bundesrepublik bisher einmalige Dialogverfahren ist positiv zu bewerten und hat in mehr als 17 Fällen
zum Erfolg geführt.
Viele der negativ beschiedenen Antragsteller haben
inzwischen von ihrem Recht Gebrauch gemacht und den
Klageweg beschritten.
Das Sozialgericht in Landshut bezieht sich in der
Würdigung einer Klage wegen der Radarstrahlenproblematik ausdrücklich auf die Empfehlungen der Radarkommission und schlägt deshalb einen Vergleich vor. In
einer Stellungnahme vom 9. Februar dieses Jahres führt
die Wehrbereichsverwaltung West dazu aus:
Die 17 Mitglieder der ({1}) Kommission gehörten entsprechenden wissenschaftlichen Disziplinen
an.
Sie ahnen, was jetzt kommt.
Ein Jurist war nicht beteiligt, so dass die Verfahrensvorschläge demnach nur für den technischen
und medizinischen Fachbereich erfolgten.
Es kommt aber noch besser. In einer Schlussfolgerung
kommt die Wehrbereichsverwaltung zu dem Ergebnis:
Der ({2}) Bericht hat keine rechtliche Verbindlichkeit.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine glatte
Umkehr der bisherigen Verfahrensweise. Dem Leiden
der Betroffenen wird man damit in keiner Weise gerecht.
({3})
Zu fragen ist auch, ob die gemeinsame Erklärung des
Bundes zur Unterstützung Radargeschädigter und des
Verteidigungsministeriums sowie der eindeutige
Wunsch des Verteidigungsausschusses hier nicht in ihr
Gegenteil verkehrt werden.
({4})
Auch die eindeutige Position des Bundesgesundheitsministeriums im Rundschreiben vom 20. Oktober
2003 wird in ihr Gegenteil verkehrt. In dem Rundschreiben heißt es:
Da in Folge der besonderen Sachlage die Exposition ({5}) im Einzelfall
nicht mehr ermittelbar ist, unterstellt das Bundesministerium der Verteidigung … die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs
zwischen Strahlenexposition und bösartiger Erkrankung. Die Frage einer Kannversorgung stellt sich
deshalb in diesen Fällen nicht.
Es muss also versorgt werden. So weit und so eindeutig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann im Interesse der Betroffenen nur hoffen, dass wir es hier mit
dem Übereifer von wenigen Beschäftigten der Wehrbereichsverwaltung zu tun haben und nicht mit einer
Kehrtwendung in der Angelegenheit insgesamt. Die Verantwortlichen bleiben aufgefordert, schnellstens zu der
ursprünglichen Verfahrensweise zurückzukehren.
Noch ein weiterer Aspekt verdient in diesem Zusammenhang Erwähnung. Wie der Wehrbeauftragte bin auch
ich der Meinung, dass man die Frage der Einrichtung
einer Stiftung noch einmal intensiv prüfen sollte - ob
speziell für die Strahlenopfer oder für Härtefälle im Bereich des Verteidigungsministeriums allgemein, ist eine
Frage der Zweckmäßigkeit. Ich denke, die Sachlage ist
es wert, geprüft zu werden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort erhält nun der Kollege Winfried Nachtwei,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr 2004 ist von
uns äußerst spät auf die Tagesordnung gesetzt worden.
Ich will die Gelegenheit nutzen, nach der Vorgabe des
neuen Wehrbeauftragten auch den Jahresbericht 2005
gebührend zu berücksichtigen.
Es ist schon festgestellt worden, dass dieser Bericht
- dieser Feststellung kann ich mich sehr anschließen;
das war auch ein Merkmal des vorherigen Wehrbeauftragten und wird bei dem neuen noch deutlicher - eine
sehr klare, deutliche und ungeschminkte Sprache enthält,
die wir gerade bei dieser Institution sehr gebrauchen
können. Hilfreich ist auch, dass im Jahresbericht 2005 an
einzelnen Stellen Anmerkungen zur Dimension des Problems zu finden sind, wo deutlich wird, dass es nicht um
Einzelfälle geht und dass es eine erhebliche Dunkelziffer
gibt. Das ist hilfreich, um die Vorkommnisse entsprechend einordnen zu können. Insgesamt muss ich sagen,
dass sich das, was im Vorjahr schon beunruhigend war,
jetzt verschärft hat.
In diesem Jahr wird das Amt des Wehrbeauftragten
50 Jahre alt. Wir können feststellen, dass dieses Amt für
die Streitkräfte in Rechtsstaat und Demokratie ein
Leuchtturm ist und für gelebte innere Führung
({0})
sowie angemessene und menschenwürdige Arbeitsbedingungen der Bundeswehrangehörigen unverzichtbar
ist. Deshalb mein Dank nicht nur an diese Institution insgesamt, sondern auch an diejenigen Frauen und Männer,
die dieses Amt immer sehr lebendig ausgefüllt haben
und heute ausfüllen.
Einige Mängel waren in dem Bericht 2004 sehr deutlich angesprochen worden. Sie existieren, zum Teil verstärkt, ebenso im Bericht des Jahres 2005. Dabei geht es
auch um Mängel, die von oberen Ebenen verursacht
sind, also nicht einfach nur um Fehlverhalten von Einzelnen. Ich möchte einige Mängel schlaglichtartig
ansprechen: die Situation der Infrastruktur, der Unterkünfte; immer wieder werden unhygienische Verhältnisse angesprochen. Immer wieder gibt es auch Klagen
von Grundwehrdienstleistenden, dass sie die Erfahrung
machen, dass sie praktisch nicht gebraucht werden. Das
ist verwunderlich angesichts der Tatsache, dass nur noch
10 Prozent der Wehrpflichtigen eines Jahrgangs ihren
Grundwehrdienst ableisten - man muss sich einmal vorstellen, dass es für diese nicht genug zu tun gibt -, und
angesichts der Tatsache, dass die große Koalition die offensichtliche Fiktion von der Wehrpflicht durch vollmundige Bekenntnisse zu dieser zu verklären versucht.
({1})
Das dritte Dauerproblem ist schließlich die seit vielen
Jahren völlig unzureichend umgesetzte Soldatenbeteiligung.
Es werden im Bericht vier Hauptsorgen genannt: steigende Belastung durch Einsätze und Bereitschaften,
erhebliche Verunsicherung durch den Transformationsprozess, reale Besoldungskürzungen und abnehmendes
öffentliches Interesse.
Auf zwei Punkte möchte ich noch kurz eingehen.
Es ist regelrecht alarmierend, dass ältere Unteroffiziere mit Portepee im so genannten Beförderungsstau
stecken. Es wird berichtet, dass die Verbitterung sehr
groß ist.
Der Wehrbeauftragte unterstützt die Forderung des
Bundespräsidenten, dass die überfällige, breit angelegte
Debatte über die Außen- und Sicherheitspolitik der
Bundesrepublik inklusive Bundeswehr endlich begonnen wird. Diese Forderung ist sehr richtig und verdient
unser aller Unterstützung.
({2})
Wir müssen aber feststellen, dass diese Forderung
zwar schon seit Jahren erhoben wird, dass sie aber folgenlos geblieben ist. Warum ist das so? Die Betroffenheit nimmt ab; das liegt auf der Hand. Daneben gibt es
Berührungsängste, die bewirken, dass manches heiße
Eisen nicht angefasst wird. Außerdem ist die Neigung
zur Konsenspolitik gerade in Sachen Bundeswehr sehr
stark. Schließlich gibt es bei der Exekutive gerade in Bezug auf die internationale Politik - ich will Ihnen, Herr
Minister, das jetzt gar nicht unterstellen; ich kenne das
aus eigener rot-grüner Erfahrung - ein sehr großes Interesse an Handlungsfreiheit. Das alles wirkt einer solchen
Grundsatzdebatte entgegen.
Herr Minister, Sie haben angekündigt, dass vor der
Sommerpause das Weißbuch vom Kabinett verabschiedet werden und dass es danach eine breite Debatte geben
soll. Ich meine, dies ist eine Illusion. Denn vor der Sommerpause gibt es ein paar Tage eine Medienreaktion auf
die Veröffentlichung des Weißbuchs und dann versandet
die Diskussion. Es wird so laufen wie 2003 bei der Debatte über die Verteidigungspolitischen Richtlinien und
wie 2000 bei der Debatte über die Vorschläge der
Weizsäcker-Kommission.
Mein Vorschlag ist daher: Bringen Sie das Weißbuch
vor der Sommerpause sozusagen in erster Lesung durch
das Kabinett.
({3})
Das wäre dann Ihr Aufschlag. So könnte man mit der
Debatte fortfahren.
Die Voraussetzungen für eine gründliche Debatte sind
heutzutage so gut wie nie zuvor. Denn die Fraktionen
sind insgesamt sehr gut aufgestellt. Es wäre im Sinne der
Bundeswehrangehörigen, der interessierten Öffentlichkeit, des Bundespräsidenten und des Wehrbeauftragten,
wenn dieses Ansinnen von allen Fraktionen gebührend
unterstützt würde.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gert
Winkelmeier.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Da der Jahresbericht 2005 des Wehrbeauftragten bereits vorliegt, erlaube ich mir, einige Parallelen zu ziehen.
In dem Jahresbericht 2005 des Wehrbeauftragten ist
zu lesen, dass es 147 Fälle von Rechtsextremismus in
der Truppe gab. Das ist ein Anstieg um 10 Prozent gegenüber 2004. Die Vorkommnisse gab es in allen Bereichen. 5 Prozent der Fälle geschahen in Offizierskreisen,
also bei den Personen, die bei der Erziehung der Soldaten eigentlich Vorbild sein sollten.
2004 gab es in der Bundeswehr 44 Todesfälle mit
Verdacht auf Selbsttötung. In den Jahren davor gab es
ähnlich hohe Zahlen. Erfreuliches meldet der Jahresbericht 2005, über den wir noch zu reden haben. Das Wort
„Selbsttötung“ kommt darin nicht vor. Entweder gab es
keine - was im Vergleich zu den Vorjahren ungewöhnlich wäre - oder die Zahlen wurden uns schlicht vorenthalten. Hierzu wird es sicherlich weitere Information geben.
Bei der Ost- bzw. der Westbesoldung wird in beiden
Berichten mit fast den gleichen Worten festgestellt, dass
die Soldaten, die in den neuen Bundesländern eingesetzt
werden, nur 92,5 Prozent der Bezüge ihrer Kameraden
aus den alten Ländern erhalten. Eine ungleiche Besoldung in Ost und West ist ungerecht. Das ist politisch zu
lösen.
Der Wehrbeauftragte Reinhold Robbe, dem ich für
seinen Bericht danke, hat im Vorwort des Berichtes 2005
in beachtlicher Offenheit darüber geschrieben, dass ein
Oberstleutnant in Kabul im November 2005 sein Leben
bei einem heimtückischen Anschlag verloren hat. Herr
Robbe kannte den Mann persönlich als fachkundigen
und engagierten Menschen. Sein Tod führte ihm vor Augen, welche Gefahren und Risiken die Auslandseinsätze
für Angehörige der Bundeswehr bergen.
Mir selbst führte dieser tragische Tod vor Augen, welchen zukünftigen Gefahren und Risiken die Bundeswehrsoldaten bei den kommenden Auslandseinsätzen
ausgesetzt sind. Es darf niemals Normalität werden, dass
Bundeswehrsoldaten in Auslandskriegseinsätze geschickt werden.
({0})
Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben klargestellt, dass die Bundeswehr eine Verteidigungsarmee
ist. Seit Anfang der 90er-Jahre wird Verteidigung so ausgelegt, dass Bundeswehrsoldaten global-strategische Interessen bedienen. Dies halte ich für verfassungswidrig.
Minister Jung fordert eine Änderung des Grundgesetzes,
damit die Bundeswehr noch leichter für Profitinteressen
eingesetzt werden darf. Man darf aber nicht die Verfassung der Realität anpassen, wie er es fordert. Vielmehr
hat sich die Realität nach der Verfassung zu richten.
Diese Bundesregierung täte gut daran, sich an der Initiative Bill Clintons zu beteiligen und den Menschenrechtsorganisationen bei der Lösung von weltweiten
Konflikten Vorrang zu geben. Deutschland sollte öfter
seine zivile Visitenkarte abgeben und die militärische
nicht zum Aushängeschild machen.
({1})
Dann werden wir auch keine Toten mehr bei Auslandseinsätzen zu beklagen haben.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegin Hedi Wegener, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch
wenn der 2005er-Bericht schon mehrfach erwähnt
wurde: Wir diskutieren heute über den Bericht von 2004.
Herr Minister und Herr Wehrbeauftragter, es tut mir
Leid: Sie müssen sich Ihre Lorbeeren erst noch verdienen. Wir werden die Arbeit des neuen Wehrbeauftragten
im Zusammenhang mit dem Bericht 2005 auf den Prüfstand stellen.
Heute geht es um den Bericht von 2004. Ich will mich
in meinem Beitrag auf einen Punkt beschränken. Das ist
die Frage der Sinnhaftigkeit der Einsätze, die sich die
Soldatinnen und Soldaten immer wieder stellen. Immer
wieder geht es - auch gerade jetzt bei einem möglichen
Einsatz im Kongo - um den Sinn der Auslandseinsätze.
Im Bericht des Wehrbeauftragten wird darauf hingewiesen, dass diese Frage in den Reihen der Bundeswehr immer stärker diskutiert wird. Wir haben im Moment
7 416 Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätzen.
Das bedeutet, dass rund 30 000 Soldatinnen und Soldaten vorbereitet, nachbereitet und ausgebildet werden. Sie
sind in Afghanistan, im Kosovo, in Bosnien, im Sudan,
in Äthiopien, am Horn von Afrika und in Georgien im
Einsatz.
Im Bericht des Wehrbeauftragten wird darauf hingewiesen, dass vonseiten der Soldatinnen und Soldaten immer häufiger die Frage nach dem Sinn ihres Tuns gestellt
wird. Auch in der Stellungnahme des BMVg wird darauf
hingewiesen, dass sich die Frage anders darstellt als in
früheren Zeiten. Was heißt jetzt „anders“? Viele Soldaten fragen sich: Stimmt mein Einsatzauftrag mit dem,
was ich hier tue, eigentlich überein? Bei einem wiederholten Einsatz - möglicherweise im gleichen Land stellen sie sich die Frage: Hat sich eigentlich etwas verändert? Hat es eigentlich etwas gebracht, dass ich hier
war? Hat unser Einsatz dem Land eigentlich einen Fortschritt gebracht? Haben die Menschen eigentlich etwas
von dem Einsatz?
Das Prinzip der inneren Führung will den selbstständig denkenden Staatsbürger in Uniform. Mitdenken kann
er aber nur, wenn er die Rahmenbedingungen seines
Auftrages kennt. Die politische Bildung in der Bundeswehr ist verstärkt worden und passt sich den heutigen Situationen an. Das neue Aufgabenspektrum unserer
Streitkräfte stellt auch die politische Bildung vor neue
Herausforderungen. Ich habe heute wieder von Ihnen
vernommen, dass die Überarbeitung der Zentralen
Dienstvorschrift ZDv 12/1 wirklich bald abgeschlossen
sein soll.
Ich habe einen Hinweis an die Haushälter, die jetzt
hier zuhören: Es kann doch nicht sein, dass die Mittel für
die politische Bildung gestrichen werden und wir gleichzeitig, gerade von der Bundeszentrale für politische Bildung, ein Mehr an Aktivität verlangen. Die politische
Bildung begleitet die Soldaten vor dem Einsatz, während
des Einsatzes und im letzten Schritt nach dem Einsatz,
um die Differenzen, die es gegeben hat, aufzudecken.
Ich habe schon im Januar gesagt - ich möchte es noch
einmal betonen -, dass die Bundeszentrale für politische
Bildung mit der Bundeswehr kooperiert und es deshalb
in dem Bereich eigentlich überhaupt keine Kürzungen
geben darf. Es geht darum, dass der Beitrag, den die Soldatinnen und Soldaten zur Sicherung von Frieden und
Freiheit leisten, auch der Bevölkerung nahe gebracht
wird, dass er gewürdigt und publiziert wird. Das heißt,
politische Bildung wirkt in zwei Richtungen: zum einen
im Inneren der Bundeswehr, zum anderen nach außen, in
der Gesamtbevölkerung.
Vorhin haben viele Jugendliche auf der Tribüne Platz
genommen. Inzwischen hat das Publikum gewechselt.
Ich empfehle Ihnen, falls Sie mehr über das Thema wissen wollen, unter www.wehrbeauftragter.de nachzuschauen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zum Jahresbericht 2004 des Wehrbeauftragten, Drucksachen 15/5000 und 16/909. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt
Bender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald
Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Dem Solidarsystem eine stabile Grundlage geben - für eine nachhaltige Finanzierungsreform der Krankenversicherung
- Drucksache 16/950 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Kollegin Birgitt Bender, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege
Struck hat das Schicksal der großen Koalition an das Zustandekommen einer Gesundheitsreform geknüpft. Da
mag er Recht haben. Es ist in der Tat ein Test auf Ihre
Politikfähigkeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen von
der großen Koalition, ich sage Ihnen: Ein guter Anfang
ist nicht gemacht. Was hören wir nämlich heute? Wenn
du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis!
Das ist das Motto, dem Sie jetzt folgen.
({0})
Was hört man sonst noch? Es gebe bereits ein bisschen Einigkeit. Auch das lässt nichts Gutes hoffen; denn
die Einigungslinie, die sich abzeichnet, ist offenbar:
Mehr Geld muss her! Deswegen gibt es geradezu einen
Überbietungswettbewerb in Sachen Geldquellen: Die einen sprechen von einer Steuererhöhung namens Gesundheitssoli, die anderen wollen eine Kopfpauschale auf die
Beiträge der Versicherten draufsatteln.
Wieso sehen wir bereits im nächsten Jahr ein größeres
Defizit in der GKV vor uns? Schauen wir es uns einmal
an. Das Defizit ist im Wesentlichen hausgemacht. Die
große Koalition hat beschlossen, den Steuerzuschuss für
versicherungsfremde Leistungen in Höhe von mehr als
4 Milliarden Euro, den wir einmal gemeinsam - RotGrün mit der Union - beschlossen hatten, aufzuheben.
Außerdem belasten Sie die gesetzliche Krankenversicherung mit einer höheren Mehrwertsteuer auf Arzneimittel.
Schließlich haben Sie beschlossen, die Krankenversicherungsbeiträge für Arbeitslose herabzusetzen.
Das alles macht ein Defizit von mehr als 5 Milliarden
Euro aus. Ich nenne das ein „steinbrücksches Raubrittertum“ zulasten der gesetzlich Versicherten. Das gehört
sich nicht.
({1})
Bei der Gesundheitsreform geht es auch nicht um frisches Geld, wenngleich ich weiß, dass sich viele Leistungserbringer darüber freuen würden. Es geht um nachhaltige Finanzierung. Wir alle wissen doch, dass eine
Gesundheitsversorgung, die in ihrer Finanzierung allein
auf den Arbeitseinkommen aufbaut, in die Zukunft hinein nicht tragfähig ist. Deswegen brauchen wir Beiträge
auch auf andere Einkommen, deren volkswirtschaftliche
Bedeutung zunimmt.
Eine ernsthafte Reform muss auch einen einheitlichen
Versicherungsmarkt und einen echten Wettbewerb zwischen den Krankenkassen - seien sie gesetzlich oder privat - schaffen. Ich erinnere daran, dass die Niederländer
diese Trennung, die sie auch noch hatten, jüngst abgeschafft haben. Wir drohen also zu den letzten Mohikanern in Europa zu werden; das sollten wir uns nicht leisten.
({2})
Aber wenn es denn so ist, meine Damen und Herren
von der großen Koalition, dass die CDU/CSU das nicht
mitmacht, dann sollte es jedenfalls eine Beteiligung der
privat Versicherten am Solidarausgleich geben. Nun hat
der Kollege Pofalla von der CDU dieser Tage ebendies
abgelehnt mit der Begründung, die höheren Rechnungen, die die privat Versicherten beglichen, trügen erheblich zur Stabilität des Systems bei. Da kann ich nur sagen: Er hat in der Sache Unrecht. Wenn die privat
Versicherten mit ihren höheren Arzthonoraren zu etwas
beitragen, dann ist das - das hat jüngst eine Studie gezeigt - vielleicht die Überversorgung am Starnberger
See, aber nicht das Bedürfnis der Kranken etwa in der
Uckermark oder in den Problemzonen der Großstädte.
Deswegen brauchen wir eine regelhafte und transparente Einbeziehung der privaten Krankenversicherung
in den Solidarausgleich, und zwar so, dass das Geld bei
den Menschen ankommt, die die Versorgung brauchen.
Das ist eine der Mindestanforderungen, die wir Ihnen
heute mit unserem Antrag mit auf den Weg geben.
({3})
Bitte denken Sie daran: Eine Gesundheitsreform, die
nicht rationalen Erwägungen, sondern nur denen der politischen Gesichtswahrung folgt, ist auch dann gescheitert, wenn sie zustande kommt.
({4})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Karl Lauterbach,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich darf mich zunächst einmal für die einleitenden Ausführungen von Frau Bender ganz herzlich
bedanken. Ihr Beitrag erweckt den Eindruck, es ginge in
der Gesundheitspolitik ohne die Mithilfe der Grünen
nicht mehr weiter.
({0})
Ich glaube, dass es an uns ist, den gegenteiligen Eindruck zu erwecken und in den nächsten Monaten den
Beweis dafür zu erbringen, dass dieser Eindruck nicht
täuscht, Frau Bender.
({1})
Trotzdem muss ich mit einem Lob starten. Es ist in
der Tat richtig: Der Antrag bringt die Probleme des Systems auf den Punkt. Es werden vier Problemkreise ausgemacht, die ohne Wenn und Aber die dominierenden
Probleme des Systems sind.
Erstens. Die Finanzierungsbasis ist ungerecht. Ein
Solidarsystem, an dem sich ausgerechnet die Einkommensstärksten, diejenigen mit einem sicheren Arbeitsplatz, die Beamten, die gut verdienen, viele Kollegen
hier im Haus, nicht beteiligen, verdient den Namen „Solidarsystem“ nicht. Das Finanzierungssystem ist somit
ungerecht.
Zweitens. Die Finanzierung ist nicht nachhaltig; auch
das ist richtig. Die Beiträge sind an Löhne und Gehälter
gekoppelt. Löhne und Gehälter finanzieren das System
ausschließlich und wachsen nicht so schell wie das Bruttoinlandsprodukt. Somit hinkt die Finanzierungsbasis
der Ausgabenentwicklung hinterher. Das führt zu stetig
steigenden Beitragssätzen.
Drittens. Dieses nicht nachhaltige System ist auch
noch schädlich für den Arbeitsmarkt. Weil die Finanzierungsbasis nicht so schnell wächst wie die Ausgaben,
müssen die Beitragssätze ständig steigen. Das belastet
den Arbeitsmarkt. Insbesondere in den neuen Bundesländern fallen dadurch Arbeitsplätze weg.
Viertens. Wir haben zu wenig Wettbewerb. Wir haben
zu wenig Wettbewerb im System der privaten Krankenversicherung, im System der gesetzlichen Krankenversicherung und auch zwischen den beiden Systemen.
Alle vier Probleme sind somit korrekt benannt. Als
Lösungsvorschlag wird hier im Großen und Ganzen das
Modell der Bürgerversicherung vorgeschlagen, so wie
die SPD es entwickelt hat. Es gibt zwar einige Abweichungen. Im Großen und Ganzen ist es aber identisch
mit dem SPD-Modell.
Ich gehe den Vorschlag einmal durch: Es wird vorgeschlagen, andere Einkommensarten einzubeziehen. Das
ist kein schlechter Vorschlag. Die privaten Krankenversicherungen sollen in den Risikostrukturausgleich einbezogen werden. Auch das ist ein alter SPD-Vorschlag.
Der Morbi-RSA soll eingeführt werden. Dazu haben wir
schon einen konkreten Umsetzungsvorschlag entwickelt.
Die Mitversicherung der Kinder soll nicht strittig gestellt
werden. Das schlägt derzeit niemand vor. Es wird vorgeschlagen, mehr Wahlmöglichkeiten im System zu schaffen. Auch das ist kein schlechter Vorschlag. Ich muss
aber feststellen: Es kommen keine neuen brauchbaren
Vorschläge hinzu. Mein Eindruck ist, dass den Grünen,
seit wir nicht mehr zusammenarbeiten, keine neuen Vorschläge zur Gesundheitspolitik eingefallen sind.
({2})
- Dass die Vorschläge gut sind, bestreite ich nicht. Ich
sage nur, es sind unsere guten Vorschläge, nicht Ihre.
({3})
Wie soll es weitergehen? Das reicht für einen ernst zu
nehmenden Antrag bei weitem nicht aus. Die Frage ist
doch nicht, ob beispielsweise die anderen Einkommensarten mit herangezogen werden sollen, sondern wie das
geschehen soll. Dazu sagt der Antrag nichts aus.
({4})
Wir stehen in der Entwicklung einer historischen Gesundheitsreform. Frau Bender, Ihr Antrag bringt aber
noch nicht einmal einen kritisierbaren Vorschlag dazu,
wie die anderen Einkommensarten berücksichtigt werden sollen.
Es wird vorgeschlagen, die privaten Krankenversicherungen in den Risikostrukturausgleich einzubeziehen. Das ist ein nobler Vorschlag. Sie machen aber keine
Angaben dazu, wie das passieren soll. Geht es um die
Versicherungen selbst oder sollen sich die Versicherten
am Risikostrukturausgleich beteiligen?
({5})
- Nein, aber Sie müssen doch ein bisschen über das hinausgehen, was wir schon hatten. Ich sehe keine Ansätze.
({6})
Beim morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich
sind wir schon weiter. Das Bundesministerium für Gesundheit hat einen ganz konkreten Gruber-Vorschlag unterbreitet, wie der Morbi-RSA funktionieren kann.
({7})
Dazu finde ich in Ihrem Antrag keine Äußerung.
Neu in Ihrem Antrag ist lediglich Ihr Vorschlag - es
ist wenig Neues zu entdecken -, dass die Ehefrauen, die
keine Kinder erziehen und nicht pflegen, nicht weiter
beitragsfrei mitversichert werden sollen. Ich bitte, noch
einmal darüber nachzudenken, ob das wirklich sozial ist.
Viele dieser Ehefrauen haben früher Kinder erzogen
oder gepflegt. Es gibt heutzutage nur wenige junge Ehefrauen, die, im Sinne einer Luxusehefrau, keine Kinder
erziehen und dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. Wir müssen also vorsichtig sein, dass wir nicht diejenigen bestrafen, die früher in Familie investiert haben.
Der einzige neue Aspekt, den ich in Ihrem Vorschlag erkennen kann, ist, zumindest in dieser undifferenzierten
Form, nicht umsetzbar.
Ich komme zu den Wahlmöglichkeiten. Sie wollen
mehr Wahlfreiheiten und mehr Wettbewerb. Das kann
ins Auge gehen, wenn man nicht vorsichtig ist. Wenn
man darunter versteht - so wird es von der FDP oft vorgeschlagen -, dass die Gesunden Leistungen, die sie
nicht brauchen, abwählen können, werden diese Leistungen für die Kranken nur umso teurer. Das ist ein Schritt
in die falsche Richtung. Das ist eine Abwahl von Solidarität. Auf diese Wahlmöglichkeiten können und sollten
wir jederzeit verzichten.
({8})
Ich glaube, ich kann zu diesem Antrag Stellung nehmen, ohne meine Redezeit voll auszuschöpfen.
({9})
In der Summe kann man sagen, dass die Aspekte, die aus
dem alten Solidarmodell der Bürgerversicherung aufgegriffen wurden, zu belobigen sind; neue Ideen sind Ihnen
aber nicht gekommen. Ich bin ganz sicher, dass wir gemeinsam mit der Union, in der großen Koalition, unbürokratische Vorschläge zur konkreten Gestaltung eines
nachhaltigen, gerechten und solidarischen Gesundheitssystems erarbeiten werden, die wir Ihnen in Kürze unterbreiten können. Diese Vorschläge werden die folgenden
Fragen beantworten: Wie kann in unserem Gesundheitssystem Wettbewerb praktiziert werden? Wie kann es
Solidarität stärken? Wie kann dieses System nachhaltig
finanziert werden, ohne dass es den Arbeitsmarkt belastet?
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({10})
Kollege Lauterbach, das war Ihre erste Rede im Plenum des Deutschen Bundestages. Herzliche Gratulation
und alles Gute für Ihre weitere Arbeit!
({0})
Nun erteile ich das Wort Kollegen Daniel Bahr, FDPFraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Professor Lauterbach, auch ich
gratuliere Ihnen im Namen der FDP zu Ihrer ersten
Rede. Wir freuen uns, dass wir nun die inhaltliche Auseinandersetzung über den richtigen Weg, der in Deutschland in der Gesundheitspolitik eingeschlagen werden
muss, als Politikerkollegen im Plenum des Deutschen
Bundestages führen.
Vor welchen Problemen stehen wir in der Gesundheitspolitik? Die Finanzierung des Gesundheitswesens
ist an den Lohn gekoppelt. Steigende Gesundheitsausgaben führen zu steigenden Krankenkassenbeiträgen, was
die Arbeitsmarktlage wiederum erheblich verschlechtert
und so zu steigender Arbeitslosigkeit führt. Das wiederum verteuert die Ausgaben im Gesundheitswesen und
führt zu Beitragsverlusten, sodass wir in eine Spirale geraten. Wir erleben, wie die Kopplung an den Lohn dazu
führt, dass sowohl der Arbeitsmarkt belastet wird als
auch das Geld in der gesetzlichen Krankenversicherung
fehlt.
Das zweite Problem, vor dem wir stehen, ist die demografische Entwicklung, die wir heute allerdings
noch nicht spüren. Das Hauptproblem der gesetzlichen
Krankenversicherung ist zurzeit die massive Arbeitslosigkeit, die die Beitragseinnahmen der gesetzlichen
Krankenversicherungen mindert. Das große Problem der
alternden Bevölkerung - immer mehr Ältere gegenüber
immer weniger Jüngeren - steht uns noch bevor. Dafür
müssen wir endlich eine Lösung finden. Für beide Probleme, sowohl für das Problem des Arbeitsmarktes als
auch für das demografische Problem, bietet die Bürgerversicherung, wie sie die Grünen hier vorschlagen, keine
Lösung.
({0})
Wenn Sie, liebe Frau Bender, in Ihrem Antrag sagen,
dass die GKV ein „im Grundsatz leistungsfähiges und in
der Bevölkerung breit akzeptiertes Sozialsystem“ ist,
dann kann ich Ihnen nur entgegnen, dass wir die gesetzliche Krankenversicherung seit Jahren nur dadurch am
Leben erhalten, dass ein Kostendämpfungsgesetz das andere jagt.
({1})
- Sie haben doch die umfangreichsten Kostendämpfungsgesetze gemacht. Ich will aber gar nicht behaupten,
dass Schwarz-Gelb nicht auch einmal Fehler gemacht
hat. Das letzte, das Arzneimittelspargesetz, war auch
nichts anderes als ein Kostendämpfungsgesetz.
Das heißt, wir wissen, dass uns die Beitragseinnahmen fehlen. Wir wollen das Problem lösen, indem wir
versuchen, aus dem System heraus noch Wirtschaftlichkeitsreserven zu erschließen, bzw. indem wir mit Budgetierung und Rationierungsentscheidungen immer weiter
auf die untere Ebene gehen. Deswegen kann man nicht
sagen, dass die gesetzliche Krankenversicherung bei den
Herausforderungen, vor denen sie steht, ein im Grundsatz leistungsfähiges System ist.
Die erste Forderung muss doch sein: Wir brauchen
eine Finanzierung des Gesundheitswesens abgekoppelt
vom Lohn, damit wir endlich einen Beitrag für den Arbeitsmarkt leisten, aber eben nicht mit weiter steigenden
Krankenkassenbeiträgen oder Kostendämpfungsgesetzen. Wir müssen eine andere Finanzierung finden, die
von der alleinigen Finanzierung über den Lohn losgelöst
ist.
Die Bürgerversicherung löst diese Probleme auch
nicht. Die Bürgerversicherung wird nur kurzfristig
Mehreinnahmen bringen, weil zusätzliche Geldquellen
erschlossen werden. Wenn Sie auf Sparzinsen und Kapitalerträge Beiträge erheben, haben Sie kurzfristig ein
bisschen mehr Geld. Aber das bedeutet, dass das Finanzamt den Krankenkassenbeitrag einzieht, dass das Finanzamt sich darum kümmert, wie die Gelder für die
Krankenkassen zusammen kommen. Wollen wir, dass
das Finanzamt sich darum kümmert, dass die Gelder die
Krankenkassen erreichen? Es ist ja richtig: Wir müssen
die Lohngebundenheit abschaffen. Und es ist richtig,
dass wir einen Solidarausgleich zwischen den Einkommensstarken zugunsten der Einkommensschwachen
brauchen.
({2})
Aber diesen Solidarausgleich organisieren wir doch
am besten über das Steuer- und Transfersystem.
({3})
Denn da wird jeder nach seiner Leistungsfähigkeit und
seinen Einkommensarten herangezogen. Das ist besser
als das, was Sie mit der Bürgerversicherung machen
wollen. Denn den Solidarausgleich stoppen Sie letztlich
bei der Beitragsbemessungsgrenze.
({4})
Das heißt, wenn ein Solidarausgleich unter Einkommensarten stattfinden muss, dann wäre er über das
Steuer- und Transfersystem am zielgenauesten. Dann
Daniel Bahr ({5})
werden die Einkommensstarken zugunsten derer, die
einkommensschwach sind, herangezogen.
({6})
Das zweite Problem betrifft den Solidarausgleich. Es
heißt in Ihrem Antrag:
Gut Verdienende, deren Erwerbseinkommen über
der Versicherungspflichtgrenze liegt, können sich
für die private Krankenversicherung … entscheiden, die keinen Solidarausgleich kennt.
Das muss man schon differenzierter sehen. Denn auch
die private Krankenversicherung kennt natürlich, wie
jede Versicherung, ein Solidarprinzip, nämlich das Solidarprinzip zwischen Gesunden und Kranken, zwischen
Jungen und Alten. Hier kommen wir genau zum Problem. Die Bürgerversicherung kennt, weil sie auf die
Umlage aufbaut, eben keine Solidarität. Die Bürgerversicherung ist ein zutiefst unsolidarisches System, wenn
wir uns einmal die mangelnde Solidarität zwischen Jungen und Alten vor Augen halten. Die Bürgerversicherung gibt die Lasten an die kommende Generation weiter. Man kann alle Kritik an dem heutigen PKV-System
nennen - dass Altersrückstellungen nicht mitgenommen
werden können und andere Kritikpunkte -,
({7})
aber ein Prinzip wahrt die private Krankenversicherung,
Frau Ferner: Sie betreibt Vorsorge für kommende Generationen.
({8})
Sie bürdet die Last eben nicht kommenden Generationen
auf und verfährt nicht nach dem Prinzip: Mir ist egal,
was nach mir geschieht. Sie betreibt vielmehr Vorsorge
für kommende Generationen, indem Altersrückstellungen aufgebaut werden.
({9})
Von der CDU/CSU war ich positiv überrascht, da sie
bei den Reden von Herrn Lauterbach und Frau Bender
überhaupt nicht geklatscht hat. Als Frau Bender gesprochen hat, habe ich das erwartet. Aber bei der Rede von
Herrn Lauterbach, der ja der Partei Ihres Koalitionspartners angehört, hätte ich schon damit gerechnet, dass Sie
das eine oder andere Mal klatschen. Man kann sich also,
was die CDU/CSU betrifft, noch Hoffnung machen.
Gehen Sie nicht an die Altersrückstellungen der privaten Krankenversicherungen heran! Sie dürfen ein
funktionierendes, stabiles System nicht zugunsten eines
Systems schröpfen, das sich nicht trägt und selbst dringend reformbedürftig ist. Wir brauchen weniger Umlagefinanzierung und mehr Kapitaldeckung.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Rolf Koschorrek,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen! Der Antrag, den die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen heute einbringt, macht wieder einmal deutlich: Sie sind wirklich nicht mehr auf der
Höhe der Zeit, sondern holen Ihre alten Konzepte hervor, die schon während Ihrer Regierungszeit nicht durchsetzbar waren.
({0})
So brachten Sie Ende Dezember letzten Jahres den Entwurf Ihres Antidiskriminierungsgesetzes textgleich in
den Bundestag ein.
({1})
Heute machen Sie dasselbe mit Ihrem Antrag zur Einführung einer Bürgerversicherung.
({2})
- Ja. - Welches Konzept und welche Idee, die Sie in der
rot-grünen Regierung nicht gegen die Mehrheit der SPD
durchsetzen konnten, holen Sie eigentlich als Nächstes
aus der Schublade?
Ihr Antrag zur Reform der Finanzierung der Krankenversicherung, den Sie heute vorlegen, enthält weder konkrete noch brauchbare Vorschläge zur Lösung unserer
Probleme.
({3})
Offensichtlich soll er vor allem eine Wirkung haben:
Ihre Fraktion soll hier im Bundestag wieder einmal ein
Lebenszeichen von sich geben.
({4})
Und tatsächlich: Indem Sie diesen Antrag zur Gesundheitsreform zum jetzigen Zeitpunkt einbringen, geben Sie der Öffentlichkeit zu verstehen, dass die aktuellen Entwicklungen an den Politikern von Bündnis 90/
Die Grünen relativ spurlos vorbeigegangen sind. Statt einen konstruktiven Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion
zu leisten, packen Sie unbeirrt Ihr altes Konzept einer so
genannten Bürgerversicherung wieder aus. In Ihrem
Antrag schreiben Sie, es seien „zumindest erste Reformschritte für eine verlässliche und nachhaltige Finanzierung der GKV erforderlich“. Warum diese Bescheidenheit? Warum nur „erste Reformschritte“? Hier sind wir
in der Zwischenzeit deutlich weiter.
({5})
An anderer Stelle heißt es in Ihrem Antrag: „Gräben
innerhalb des Regierungslagers dürfen aber nicht zum
Reformstillstand führen.“ Ich kann Ihnen versichern,
dass diese Sorge unbegründet ist. Die unionsgeführte
Bundesregierung beendet gerade den von Ihnen zu verantwortenden Reformstillstand in Deutschland.
({6})
Die Bundesregierung realisiert ein neues Gesundheitssystem. Sie schafft ein grundlegend neues,
zukunftssicheres System der gesetzlichen Krankenversicherung, das eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung für alle, unabhängig von ihrem Alter
und Einkommen, gewährleistet. Es wird ein solide, gerecht und nachhaltig finanziertes Gesundheitssystem
sein. Wenn man bedenkt, wie lange Sie schon mit Ihrer
Idee, zur Finanzierung unseres Gesundheitswesens eine
Bürgerversicherung einzuführen, schwanger gehen, erstaunt es doch sehr, dass Sie in Ihrem Antrag so unkonkret bleiben. Er ist weder schlüssig noch ausgegoren.
In Ihrem Antrag stimmen Sie ein Loblied auf die
GKV an: Sie sei „ein im Grundsatz leistungsfähiges und
in der Bevölkerung breit akzeptiertes Sozialsystem“.
Des Weiteren schreiben Sie: „Insbesondere der einkommensabhängige Solidarausgleich trifft in der Bevölkerung auf hohe Zustimmung.“
({7})
Wenige Zeilen später stellen Sie aber fest, dass es „massive Gerechtigkeitsdefizite bei den Prinzipien der Beitragserhebung“ gibt.
An erster Stelle stehen dabei für Sie die privaten
Krankenversicherungen und ihre Versicherten. Ihnen
werfen Sie vor, sich der Solidarität zu entziehen und so
der GKV und den GKV-Versicherten zu schaden.
({8})
In diesem Zusammenhang stellen Sie zwei populistische, aber eben auch falsche Behauptungen in den
Raum: Erstens sagen Sie, die PKV kenne keinen Solidarausgleich. Zweitens führen Sie aus, ausgerechnet die
einkommensstärksten und im Durchschnitt auch gesündesten 10 Prozent der Bevölkerung beteiligten sich nicht
an der Finanzierung der GKV.
Das muss endlich einmal richtig gestellt werden.
Zum Ersten: Die privaten Krankenversicherungen
kennen, wie alle anderen Versicherungen auch, sehr
wohl ein Prinzip der Solidarität; in diesem Fall geht es
um die Solidarität der gesunden mit den kranken Privatversicherten.
({9})
Für junge Privatversicherte werden Altersrückstellungen
angelegt, um Vorsorge für höhere Krankheitskosten im
Alter zu treffen. Somit sind die privaten Krankenversicherungen äußerst beispielhaft. Sie können sogar als
Vorbild dienen, weil sie dadurch, dass sie schon heute
Altersrückstellungen bilden, die Gerechtigkeit zwischen
den Generationen garantieren.
({10})
Zum Zweiten: Richtig ist, dass die Versicherten der
privaten Krankenversicherungen vielfach ein höheres
Einkommen haben als die der GKV. Richtig ist aber
auch, dass ein erheblicher Teil der 10 Prozent privat Versicherten in Deutschland ganz normale Beamte sind, und
zwar nicht Beamte der hohen und höchsten Gehaltsgruppen, sondern vor allem Polizisten und Lehrer; sie gehören bekanntlich nicht zu den Beziehern der höchsten
Einkommen.
({11})
Die Selbstständigen sind eine weitere große Gruppe
unter den privat Versicherten. Auch die Einbeziehung
von Selbstständigen wäre für die GKV nicht besonders
attraktiv; denn Selbstständige werden in der GKV oft
nur mit Mindestbeiträgen veranlagt. Für die gesetzlichen
Krankenversicherungen ist es offensichtlich schon jetzt
zu aufwendig, die genauen Einkommen von Selbstständigen zu ermitteln. Das wird dem System des Risikostrukturausgleichs überantwortet; darüber kann man
durchaus auch diskutieren.
Würden die privaten Krankenversicherungen in ihrer
heutigen Form zerschlagen, so hätten die gesetzlich Versicherten davon keinerlei Vorteil. Die Einbeziehung der
privat Versicherten in die GKV bringt der GKV überhaupt keine Entlastung.
({12})
Als eine weitere Gerechtigkeitslücke nennen Sie die
beitragsfreie Mitversicherung von Ehegatten in der
GKV. Sie bezeichnen sie als einen sozialrechtlichen
Anachronismus und fordern, dass nicht erwerbstätige
Ehegatten auch einen Beitrag in die GKV einzahlen sollen
({13})
- Soweit sie nicht Kinder erziehen oder Pflegeleistungen
in der Familie erbringen.
Eine Aussage, wie hoch ihr Beitrag sein soll und wie
teuer die erforderlichen bürokratischen Kontrollmechanismen sein sollen, finde ich in Ihrem Antrag nicht.
({14})
Erfreulicherweise haben Sie das grundlegende Problem der GKV zutreffend erkannt: Der stetige Anstieg des
Beitrags zur GKV hat wesentlich dazu beigetragen, die
Arbeitskosten zu erhöhen. Sie haben auch richtig erkannt,
dass die Einnahmen der GKV zu konjunkturabhängig sind.
Sie wollen die erkannten Mängel, insbesondere die ausgemachten Gerechtigkeitslücken, beheben durch die Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze, die Ausweitung
des Versichertenkreises auf alle Bürgerinnen und Bürger,
die Ausweitung der Beitragspflicht auf alle Einkommensarten, also auch auf Mieten, Zinsen und sonstige Kapitaleinkünfte. Doch wie hoch die Krankenkassenbeiträge
darauf sein sollen und wie sie erhoben werden sollen, sagen Sie nicht. Das hätten Sie wenigstens einmal durchrechnen können!
({15})
- In Ihrem Antrag steht nichts dazu.
({16})
- Wir diskutieren nicht, was auf Ihrer Homepage steht,
sondern Ihren Antrag.
({17})
Bündnis 90 fordert zwar die Entkopplung der Krankenkosten von den Lohnkosten,
({18})
mit den im Antrag geforderten Schritten findet gerade
dies aber nicht statt.
({19})
Vielmehr würden die Krankenkassen weiter an jeder
Lohn- und Rentenerhöhung teilhaben; der Unterschied
zwischen Brutto- und Nettoeinkommen würde sich weiterhin stetig vergrößern. Ein gigantischer Verwaltungsund Kontrollaufwand wäre nötig, um alle Einkünfte lückenlos zu erfassen. Die Einbeziehung aller Bürger in
die gesetzliche Krankenversicherung wäre zudem
- das wissen Sie - aus verfassungsrechtlichen Gründen
kaum zu realisieren; denn die privaten Versicherungen
und die Ansprüche der privat Versicherten genießen
durchaus Bestandsschutz.
Die hier vorgeschlagenen Maßnahmen zielen alle nur
darauf ab, von einer größtmöglichen Zahl von Bürgern
zusätzliches Geld für die Krankenkassen einzutreiben.
Es wird kein Gedanke und kein Wort darauf verwendet,
dass den so erzielten höheren Einnahmen auch entsprechend höhere Ausgaben gegenüberstehen. Es wird kein
Gedanke darauf verwendet, dass dies sogar zu steigenden Beiträgen führen kann: wenn Ältere und Kranke, die
bislang privat versichert waren, von dem Recht zur
Rückkehr zur GKV Gebrauch machen würden.
({20})
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen lässt weitere
wesentliche Fragen offen, die für ein funktionierendes
Gesundheitssystem zweifellos wichtig sind: So wird
zum Beispiel ganz unvermittelt behauptet, durch die vorgeschlagenen Maßnahmen würde ein wesentlicher Beitrag zur wettbewerblichen Weiterentwicklung des Krankenkassensystems geleistet.
({21})
Wer da mit wem in Wettbewerb tritt und wie das funktionieren soll, bleibt allerdings völlig offen; Sie verlieren
darüber kein Wort. Unerwähnt bleibt auch, ob und wie
die bislang paritätische Finanzierung - durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer - fortgeführt werden soll.
Ihr Antrag bleibt ein Fragment: Wesentliche Aspekte
bleiben unberücksichtigt, zentrale Aussagen fehlen. Sie
verfolgen aus meiner Sicht nur ein einziges Ziel: den
Bürgern noch mehr Geld für die GKV aus der Tasche zu
ziehen.
({22})
Das reicht aber bei weitem nicht, um die Krankenkassen
finanziell auf eine solide Grundlage zu stellen. Dazu
brauchen wir im Gesundheitssystem nicht immer mehr
Geld, wir brauchen vor allem mehr Effizienz und weniger Bürokratie als heute.
({23})
Wir brauchen mehr Wettbewerb unter den Kassen, aber
auch unter den Leistungserbringern. CDU und CSU wollen ein neues, zukunftsfähiges System der gesetzlichen
Krankenversicherungen. Um zusammen mit unserem
Koalitionspartner eine von der großen Mehrheit unserer
Koalition getragene Reform zu verwirklichen, entwickeln wir, ausgehend von unseren jeweiligen eigenen
Konzepten, ein neues, gemeinsames, tragfähiges Konzept.
Folgende Ziele stehen für uns dabei im Zentrum: eine
möglichst weitgehende Abkopplung der Gesundheitskosten von den Lohnkosten und zugleich die Stabilisierung der Einnahmen im Gesundheitsbereich sowie ein
plurales System mit Kassenvielfalt, freier Arztwahl und
Therapiefreiheit. Für uns steht fest, dass es auch künftig
einen sozialen Ausgleich zwischen gesunden und kranken Menschen, zwischen den Beziehern höherer und
niedrigerer Einkommen sowie zwischen Alleinstehenden und Familien geben muss.
Wir wollen eine Gesundheitsfinanzierung, durch die
die großen Chancen des Gesundheitssektors durch Wettbewerb, Transparenz und Abkopplung von den Lohnkosten genutzt werden. Hier sind bereits heute
4,2 Millionen Beschäftigte tätig und es gibt zweifellos
noch ein beachtliches Wachstumspotenzial im Hinblick
auf neue und zusätzliche Arbeitsplätze.
Danke schön.
({24})
Ich erteile das Wort Kollegen Frank Spieth, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
({0})
- Nein, Herr Bahr, seien Sie nicht so aufgeregt. Man
kann Ihre Vorstellungen ja kommentieren, das hatte ich
jetzt aber nicht vor. Ich möchte mich hier heute mit dem
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auseinander setzen.
Seien Sie versichert: Anderes tun wir an anderer Stelle.
Dennoch möchte ich vorab eine Bemerkung zu der
heutigen Pressekonferenz von Gesundheitsministerin
Schmidt und Unionsfraktionsvize Herrn Zöller in diesem
Hause machen. Dort wurde ziemlich klar zum Ausdruck
gebracht, dass mit der beabsichtigten Gesundheitsreform
erneut eines mit Sicherheit geschieht: Den gesetzlich
Krankenversicherten soll wieder ins Portemonnaie gegriffen werden. Der Patient wird am Ende dieser Veranstaltung ganz offenkundig mehr zahlen und weniger aus
der Krankenversicherung für das erhalten, was er mehr
zahlen muss.
({1})
- Wir werden eine Wette abschließen.
Alle in den letzten Wochen in den Medien lancierten
Reformvorstellungen haben im Kern immer wieder eines
gemeinsam: Die Arbeitgeber werden entlastet. Das gilt
für die Wahlmöglichkeiten, die nichts anderes als Teilkaskotarife sein werden, genauso wie für die Steuerfinanzierung der Versicherung von bisher beitragsfrei mitversicherten Kindern.
Ich habe in diesem Hohen Hause in den letzten Wochen - auch bei der Auseinandersetzung über den Haushalt der Bundesgesundheitsministerin in der vergangenen Woche - mehrfach darauf hingewiesen - Frau
Bender sagte dies bereits zu Recht -, dass wir ein massives Finanzproblem in der gesetzlichen Krankenversicherung haben und dass alle Fachleute für das kommende
Jahr von einem Defizit von circa 10 Milliarden Euro
ausgehen. Die Probleme werden mit Sicherheit noch
deutlich größer. Deshalb müssen Reformvorschläge auf
den Tisch, durch die eine solidarische und soziale Krankenversicherung mit einem umfassenden Sachleistungskatalog gewährleistet wird.
Mit ihrem Antrag zur Bürgerversicherung geht die
Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen deshalb in wichtigen Teilen in die richtige Richtung. Ich will aber auch
dazu sagen - Herr Kollege Lauterbach hat zu Recht darauf hingewiesen -: Einige Aspekte Ihres Antrags sind
durchaus kritisch zu sehen und daher nachzuarbeiten.
Es mag ja sein, dass es ein sozialrechtlicher Anachronismus ist, die beitragsfreie Ehegattenversicherung
erhalten zu wollen. Frau Bender, wenn Sie diese allerdings abschaffen wollen, ohne Alternativvorschläge dafür zu machen, wie die vorwiegend davon betroffenen
Millionen Ehefrauen ohne Arbeit und ohne eigenes Einkommen zukünftig abgesichert werden sollen, hat das im
Grunde genommen die Wirkung, dass diese Menschen
ins soziale Abseits gedrängt werden. Die Ausgrenzung
aus der beitragsfreien Mitversicherung wird dazu führen,
dass von den Menschen, die jetzt schon nicht wissen,
wie sie ihren täglichen Lebensunterhalt gewährleisten
sollen, ein zusätzlicher Krankenversicherungsbeitrag zu
erbringen ist. Ich meine, das müssen wir offen miteinander diskutieren. Das ist keine Emanzipation, das ist soziale Ausgrenzung.
({2})
Gleiches gilt für die nach meiner Auffassung unsägliche Debatte über die Lohnnebenkosten. Wer die Arbeitgeberbeiträge weiter senken will, reduziert - das ist
die Schlussfolgerung - Leistungen oder verlangt von den
Versicherten höhere Beiträge.
({3})
Dies ist doch jahrelange Praxis. Ich kann Ihnen sagen:
Dieser Vorschlag wird auf unseren entschiedenen Widerstand stoßen.
({4})
Wir sind wie die Grünen - das haben sie in ihrem Antrag geschrieben - für die Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze und die Ausweitung des Versichertenkreises. Wir wollen, dass alle hier lebenden Menschen in die
Krankenversicherung einbezogen werden. Ich meine,
dass in Ihrem Antrag noch eine Menge Fragen offen
sind. Wir wollen Sie bei diesem Antrag unterstützen, um
eine vernünftige, solidarische und soziale Krankenversicherung zu realisieren.
({5})
Lassen Sie uns deshalb Ihren Antrag um die notwendigen sozialen Aspekte erweitern! Dann werden Sie uns
bei dieser Reform an Ihrer Seite haben.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/950 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Besteuerung von Energieerzeugnissen und zur Änderung des Stromsteuergesetzes
Vizepräsident Wolfgang Thierse
- Drucksache 16/1172 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Reinhard Schultz, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
war gerade sicherlich verwirrend, dass ich von der rechten Seite dieses Hauses kam. Aber diese Koalition hat es
so an sich, dass man völlig unbefangen miteinander
kommuniziert. Das ist so schlecht nicht.
({0})
- Nein, aber ich stand dort gerade.
Es geht heute um die erste Lesung eines Gesetzentwurfes mit zwei wesentlichen Inhalten. Der erste Punkt
ist die Umsetzung der Energiesteuerrichtlinie der EU in
nationales Recht. Dabei geht es um eine Harmonisierung
von Steuersätzen auf Energieprodukte innerhalb der gesamten EU. Für die Bürger ändert sich bei den meisten
üblichen Steuersätzen nichts, weil Deutschland bei den
Sätzen für die Mineralölsteuer und andere Steuern schon
immer in einem vernünftigen Korridor gelegen hat.
Einige neue Gesichtspunkte sind wichtig. Eine grundsätzliche Entscheidung ist, dass Primärenergie, die zum
Beispiel für die Stromerzeugung eingesetzt wird,
grundsätzlich steuerfrei gestellt wird. Die Alternative
wäre gewesen, alle Energieformen einschließlich der
Kohle zu besteuern. Das wiederum würde auf die Stromkunden abgewälzt und würde die Industrie belasten. Davon hat die Bundesregierung Abstand genommen. Ich
denke, die Koalition unterstützt das ausdrücklich.
Es gibt einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt, der
in der Vergangenheit immer für Streit gesorgt und ein
Gefühl von Ungerechtigkeit bei den Betroffenen ausgelöst hat, nämlich: Wie gehen wir mit Prozessen um, bei
denen ein Stoff mithilfe des Einsatzes von Energie in einen anderen Zustand versetzt wird? Solche Umwandlungsprozesse werden künftig energiesteuerfrei gestellt.
Das ist eine auch industriepolitisch wichtige Weichenstellung.
({1})
Bei einigen Problembereichen müssen wir noch miteinander reden und im weiteren Verfahren diskutieren.
Aufgrund der Vorgaben der EU ist Kohle grundsätzlich
zu besteuern. Weil sie überwiegend in der Krafterzeugung in industriellen Prozessen eingesetzt wird, kann
das weitgehend unberücksichtigt bleiben. Übrig bleiben
kleinindustrielle Prozesse und der Hausbrand. Noch immer werden etwa 540 000 Haushalte in Deutschland mit
Kohlefeuerungsanlagen beheizt, die nach diesem Vorschlag geringfügig besteuert werden; maximal sind das
etwa 11 Euro auf 50 Quadratmeter Wohnfläche. Trotzdem muss man sich das noch einmal ganz genau ansehen.
({2})
Das werden wir auch einvernehmlich tun.
Es gibt in diesem Gesetz eine alte Frage, die alle, die
schon länger dabei sind, öfter beschäftigt hat: Wieso besteuern wir Erdgas als Kraftstoff und befreien es bis zum
Jahr 2020 von der Steuer - das ist für die meisten von
uns außerhalb der politischen Reichweite -, behandeln
Flüssiggas aber völlig anders? Es gibt sicherlich Signale
von den Fachleuten aus der Koalition, dass wir - anders
als es derzeit im Gesetzentwurf vorgesehen ist - in diesem Punkt eine Gleichbehandlung herstellen werden.
Das haben wir verabredet und ich denke, dass der Branche dieses Signal gegeben werden muss.
({3})
Der zweite wichtige Punkt betrifft den Einstieg in die
Besteuerung von Biokraftstoffen. Als wir die Biokraftstoffe steuerfrei gestellt haben, haben wir einen Beihilfetatbestand geschaffen. Wir sind gegenüber der EU
verpflichtet, regelmäßig eine Überprüfung auf Überförderung vorzunehmen. Wir können Biokraftstoffe nicht
beliebig subventionieren, sondern allenfalls die Kostennachteile bei ihrer Herstellung oder Nutzung durch eine
steuerliche Regelung ausgleichen. Wir dürfen nicht die
Einkommen der Biokraftstoffhersteller oder des -vertriebs individuell subventionieren; wir können nur für einen Preisabstand sorgen, der die Wettbewerbsfähigkeit
gewährleistet.
Dazu liegt ein Bericht des Finanzministers für die
Jahre 2004 und 2005 vor, in dem eindeutig festgestellt
wird, dass eine Überförderung gegeben ist. Die vorgeschlagenen Steuersätze von 10 Cent je Liter für reinen
Biodiesel, 15 Cent für beigemischten Biodiesel und
15 Cent für reines Pflanzenöl sind aus einer Berechnung
abgeleitet, die eine Überförderung ergeben hat. Das wird
ohne Frage noch zu Diskussionen führen. Ich halte die
Ableitung aber für plausibel. Beweise, dass es sich anders verhält, sind nicht erbracht worden.
Dass die Nutzer und Vertreiber mit uns Politikern
über jeden Cent verhandeln, ist völlig verständlich, weil
es dabei um ihr Einkommen geht. Ich wäre enttäuscht,
wenn sie es nicht versuchen würden. Wir müssen nur
darauf achten, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Produkte gewährleistet ist, und von der Subventionierung
einzelner Einkommen Abstand halten.
({4})
Viel spannender als die Frage der Steuersätze ist - das
haben sowohl die SPD als auch die CDU/CSU erklärt -,
wie wir die Koalitionsvereinbarung umsetzen können,
Reinhard Schultz ({5})
die eine Abkehr von der steuerlichen Förderung von
Biokraftstoffen vorsieht. Diese soll durch ein Ordnungsinstrument - nämlich das Beimischungsgebot - ersetzt
werden. „Beimischungsgebot“ ist ein untechnischer Begriff. Man kann zwar die Hersteller zwingen, dem Diesel
oder Ottokraftstoff Biokraftstoff beizumischen, das
würde aber eine Absage an reine Biokraftstoffe bedeuten. Da wir das nicht wollen, schwebt uns eher die Einführung einer unternehmensbezogenen Quote für die
Mineralölunternehmen vor. Das heißt, im Verhältnis zum
Mineralölumsatz müssen sie einen bestimmten - anspruchsvollen - Prozentsatz an Biokraftstoffen in den
Verkehr bringen, ob nun als Beimischung oder in Reinstoffform.
In diesem Zusammenhang besteht die Sorge, dass die
ganze Branche, die sich aufgrund der alten steuerlichen
Regelungen darauf verlassen hat, dass sie zumindest in
einer Übergangssituation bis zum Jahr 2009 steuerlich
gefördert wird, sozusagen über die Kante kippen könnte.
Wir werden gemeinsam mit der Bundesregierung sicherstellen, dass ein Modell gewählt wird, das ohne steuerliche Förderung auskommt, aber mit dem eine Als-obSituation geschaffen wird. Das heißt, die Hersteller von
Biokraftstoffen und die gesamte daran hängende Produktionskette würden einen Mindestpreis in der Höhe erzielen, als ob die Steuervergünstigung bis 2009 noch gegeben wäre.
Das ist ein sehr faires Angebot, denke ich. Aber damit
ist auch die Verpflichtung des Gesetzgebers, Vertrauensschutz zu gewährleisten, zunächst einmal erfüllt.
Wie kann es danach weitergehen?, fragt sich die
Branche; denn bis 2009 ist es nicht mehr lange hin. Wir
müssen einen großen Biokraftstoffmarkt schaffen. Wir
wollen, dass die Quoten in diesem Bereich höher sind als
die der Beimischungen, damit auch ein großes Marktsegment für reine Kraftstoffe erhalten bleibt. Das kann
gegebenenfalls auch durch Aufspaltung der Quote in
eine für Dieselkraftstoffersatz und eine für Ottokraftstoffersatz erfolgen, wenn sich das als notwendig erweisen sollte.
({6})
Wir wollen keine nationale Kraftstoffstrategie, die sozusagen von der Apotheke lebt. Die Zeiten, als der alte
Benz sein erstes Auto an der Apotheke betankt hat, sind
vorbei. Mit einem einzigen Ölkännchen moderne ökologische Mobilität erzeugen zu wollen, ist ebenfalls ein
aberwitziger Gedanke. Wir wollen industrielle Prozesse
mit industrieller Logistik. Aber wir wollen die mittelständischen Hersteller mitnehmen und die Wertschöpfung so weit wie möglich im Lande lassen. Das bezieht
sich insbesondere auf die landwirtschaftlichen Hersteller. Ich bin sicher, dass wir im Gesetzgebungsverfahren
eine Anschlusslösung finden werden, die einen großen
Markt eröffnet und gleichzeitig die Interessen der mittelständischen Unternehmer an einer Wertschöpfung im eigenen Land genauso berücksichtigt wie die Interessen
der Mineralölindustrie, die ebenfalls zuverlässige Rahmenbedingungen erwartet.
({7})
Ich bin überzeugt davon, dass der von uns eingeleitete
Prozess im Hinblick auf eine moderne und ökologische
Verkehrs- und Mobilitätspolitik gar nicht hoch genug
eingeschätzt werden kann. Sowohl im Hinblick auf die
von der EU vorgegebene Biomasse- und Biokaftstoffstrategie als auch im Hinblick auf die international
gebotene CO2-Minderung müssen wir neben den mineralölhaltigen Kraftstoffen die Chancen nutzen, die uns
die Biokraftstoffe der ersten und der zweiten Generation
bieten. Wir müssen heute das Tor zu einer vernünftigen
Zukunft sowohl für die Umwelt als auch für unsere Wirtschaft aufstoßen.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Hermann Otto Solms,
FDP-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schon interessant. Die schwarz-rote Koalition, die erst
vor wenigen Tagen einen groß inszenierten Energiegipfel abgehalten hat, konnte sich bislang nicht auf eine gemeinsame energiepolitische Strategie einigen und hat
viele Arbeitsgruppen eingesetzt. Es liegt also noch gar
kein klarer Plan vor. Aber bevor Sie wissen, was Sie tun
wollen, langen Sie als Steuergesetzgeber schon einmal
zu. Es wird behauptet, dies erfordere die Umsetzung der
europäischen Energiesteuerrichtlinie. Tatsächlich ist eine
solche Besteuerung nicht erforderlich. Auch der 1. August 2006 ist als Termin nicht vorgegeben. Das alles ist
nur ein Vorwand, um so schnell wie möglich Kasse zu
machen.
({0})
Eine Politik ohne Strategie macht aber keinen Sinn.
Deswegen verwundert es mich nicht, dass der Kollege
Schultz gesagt hat, ihm „schwebe“ etwas vor. Sie wissen
offensichtlich noch nicht genau, was Sie machen wollen,
weil Sie natürlich die Empörung der Betroffenen zur
Kenntnis genommen haben. Tatsächlich ist es ein Vertrauensbruch von Ihrer Seite, meine Damen und Herren
von der SPD; denn Sie haben zu Zeiten der rot-grünen
Regierung zugesagt, dass die Biokraftstoffe bis 2009
unversteuert bleiben.
({1})
Dieser Vertrauensbruch hat natürlich Auswirkungen.
Als die Landwirte sich an ihre letzte Winterbestellung
gemacht haben - diese Regierung war damals noch gar
nicht zusammengetreten -, wussten sie ja nicht, dass die
Ernte hinterher besteuert werden soll. Diejenigen, die in
Raps- und Ölmühlen investiert haben, sind natürlich davon ausgegangen, dass sie bis 2009 einen relativ sicheren Preisvorteil des Biodiesels haben würden.
({2})
- Sie als Partei haben das zugesagt. Sie missbrauchen
nun das Vertrauen der Betroffenen.
({3})
Sie ändern Ihre zugesagte Strategie, indem Sie eine Besteuerung auf den Weg bringen.
({4})
Die von Ihnen geplanten Steuersätze sind zu hoch.
Das sagen alle Experten. Der Preisvorteil von Rapsöl
und anderen Ölen, der notwendig ist, um sie in Verkehr
zu bringen - sie werden in erster Linie von Transportunternehmen genutzt -, muss aber bestehen bleiben,
weil die Infrastruktur dafür nicht so ausgebaut ist wie bei
herkömmlichen Mineralölen. Die Biokraftstoffbranche
lebt nun in der Angst, dass sie einen großen Rückschlag
erleiden wird.
({5})
Schließlich führt die unterschiedliche Besteuerung je
nach Verwendung zu einem erheblichen Kontrollaufwand. Land- und Forstwirte sollen nach Ihren Plänen unversteuerten Biodiesel einsetzen können, während das
Speditionsgewerbe nur versteuerten Biodiesel verwenden darf. Da die Gefahr des Missbrauchs besteht, müssen Sie für entsprechende Kontrollen sorgen.
({6})
Sie müssen also eine neue Bürokratie aufbauen, bevor
Sie ein durchgängiges Konzept entwickelt haben. Das
macht doch keinen Sinn.
Nehmen Sie das Gesetz zurück! Es ist nicht zu Ende
gedacht.
({7})
Es passt insbesondere nicht mit dem geplanten Beimischungszwang zusammen, der ein halbes Jahr später
in Kraft gesetzt werden soll. Machen Sie stattdessen ein
Gesamtkonzept, das in sich stimmig ist, das das Vertrauen der Betroffenen - der Bürger, der Landwirte, der
Forstwirte, aber auch der Speditionsunternehmen - erhält und aufbaut und das - was das Entscheidende ist einen neuen Markt in Deutschland schafft, durch den die
Menschen auf dem Lande wieder die Arbeits- und Produktionsmöglichkeiten erhalten, die sie nach und nach
verloren haben. Das ist eine große Chance. Es macht
wirklich keinen Sinn, diese Chance um einen Silberling
zu vertun. Diese voreilige Besteuerung zum 1. August
dieses Jahres ist falsch. Ziehen Sie den Gesetzentwurf
zurück!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Norbert Schindler,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Ich hätte jetzt lieber einen gescheiten Rotwein getrunken; aber das ist in diesem Parlament nicht erlaubt.
So weit sind wir noch nicht.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuschauer auf den Tribünen! Worum geht es heute
überhaupt? Draußen in den Regionen gibt es bewegte
Diskussionen über die Zukunft der Besteuerung von
Biokraftstoffen. Es gibt da große Empfindlichkeiten; der
Vertrauensschutz ist, wie in den Diskussionen angesprochen wurde, heftig infrage gestellt.
Es geht aber nicht nur um diesen wichtigen Teilbereich, über den vor allem in den ländlichen Regionen
diskutiert wird. Vielmehr geht es um die Umstellung der
Besteuerung von Strom, Gas, Steinkohle und Braunkohle sowie Koks und es geht um die Einführung einer
Besteuerung neuer Energieträger, die unabhängig von
der Stromerzeugung als Ersatz fossiler Energieträger
eingesetzt werden.
Wir haben 2003 im Bundestag parteiübergreifend und
einstimmig eine Steuerbefreiung alternativer Energieträger beschlossen. Sie hat einen sehr starken Sog erzeugt. Das brachte uns in der EU den Vorwurf ein, der
deutsche Gesetzgeber habe bewusst durch Überkompensation Vorteile geschaffen. Jetzt befürchtet der Bundesfinanzminister mit Recht, dass das Ausweichen der Spediteure, der Omnibushersteller, der Städte und der
übrigen Wirtschaft auf alternative Kraftstoffe zulasten
der Staatseinnahmen geht und ein Loch von 1,4 bis
1,7 Milliarden Euro aufreißt. Das ist der Hintergrund.
Diese Koalition ist angetreten, die defizitäre Lage des
Bundeshaushaltes in der nächsten Zeit in Ordnung zu
bringen. Steuerausfälle unberechenbarer Art dürfen da
nicht passieren.
In diesem ersten Gesetzgebungsverfahren müssen wir
besondere Ziele verfolgen. Herr Solms, Sie sagen, man
könne mit der Umsetzung der EG-Richtlinie noch warten. Uns droht unter Umständen ein Verfahren. Das wissen auch Sie. Es ist schon interessant, wie die FDP heute
redet. Ich denke an die Diskussion über die Zuckermarktordnung vor einem Jahr, als es hieß, der Weltmarktpreis müsse zum Maßstab genommen werden. Der
Ansatz der FDP in der Frage der Biokraftstoffbesteuerung in Bezug auf diesen Gesetzentwurf entspricht nicht
ihrem Credo. Das muss ich in Erinnerung rufen, obwohl
ich in der Sache keinen Streit anfangen will.
({0})
Das In-Kraft-Treten der EG-Richtlinie am 31. Oktober 2003 hat dieses Gesetzgebungsverfahren erforderlich
gemacht. Mittlerweile sind wir spät dran. Deswegen
können wir leider Gottes nicht mehr warten. Es ist aber
unser erklärtes Ziel - das darf ich für beide Koalitionsfraktionen sagen -, über das Gesetz über einen Beimischungszwang, das zum 1. Januar 2007 wirksam werden
soll, und über die jetzige Regelung zur Behebung der
Überkompensation in der Sache gemeinsam zu diskutieren.
({1})
Es kann nicht sein - das verstünde draußen keine Hausfrau -, dass wir heute die eine Diskussion führen und im
August die andere anfangen. Es geht auch um Planungssicherheit für Investoren. Wir verstehen das als einen gemeinsamen Auftrag und wir werden ihn erledigen. Wir
werden dafür sorgen, dass die rechte Hand weiß, was die
linke Hand tut, und umgekehrt.
({2})
Der Finanzminister hat zu Recht festgestellt, dass es
eine Überförderung gibt. Mir als praktizierendem Landwirt und Mitglied des Finanzausschusses tut es schon ein
bisschen weh, anerkennen zu müssen: Bei den Spediteuren hat sich in der letzten Zeit ein Sog in Bezug auf unsere Rapsmühlen entwickelt. Aus betriebswirtschaftlichen Gründen ist dieser Sog natürlich berechtigt. Wenn
die Umstellungskosten durch Vorteile pro Liter - ich
spreche ganz vorsichtig von einer Größenordnung jenseits von 10 Cent - bei Leistungen von 800 000 Kilometern bis 1 Million Kilometern relativ schnell gedeckt
werden können und man diesen Markt verstärkt nutzt,
dann ist das betriebswirtschaftlich absolut in Ordnung.
Dennoch sagt Herr Steinbrück: Auch mein Haushalt
muss in Ordnung bleiben.
({3})
Die EU wirft uns vor: Ihr lasst hier einen besonderen
Subventionstatbestand zu.
({4})
Was die Biokraftstoffbesteuerung angeht, müssen
wir über die verschiedenen Elemente reden. Die damit
verbundenen Fragen müssen bis 2007 geklärt werden.
Bei der Bioerzeugung geht es nicht nur um tierische
Fette und nicht nur um Raps, ob kaltgepresst oder veredelt - Stichwort RME, Rapsmethylester -, sondern
auch um ETBE; das ist die veredelte Form von Ethanol.
Wir haben jetzt Zeit, darüber gemeinsam zu diskutieren. Am 17. Mai findet die erste Anhörung im Finanzausschuss statt. Über Ostern werden wir genug Informationen bekommen, um die gesamte Palette durcharbeiten
zu können. Nach der Anhörung am 17. Mai wird sich der
Finanzausschuss wieder damit befassen. Danach wird
dieser Gesetzentwurf abschließend im Plenum beraten.
Natürlich werden auch die Einwände des Bundesrates
gehört werden. Ich sage hier aber deutlich: Für den Bundesrat ist es leicht, Gesetzentwürfe dieser Art zu beschließen, solange es sich - wie bei der Mineralölsteuer um eine Bundesangelegenheit handelt. Es macht sich natürlich gut, im Lande kraftvoll zu verkünden, was man in
Berlin alles fordert, wenn man keine Verantwortung für
den Bundeshaushalt hat.
({5})
Der jetzige Referentenentwurf - er stammt vom
16. März dieses Jahres - ist Grundlage der Debatte. Mit
dem Selbstverständnis eines Abgeordneten sage ich:
Was die Regierung vorgibt, ist noch lange nicht Gesetz.
({6})
Wir sind die Volksvertreter, die das Gesetz gegenüber
der Bevölkerung zu verantworten haben. Wir werden die
Expertenanhörung abwarten.
Auch was diese Diskussion angeht, rate ich dringend
dazu, nicht morgens, mittags und nachmittags Wasserstandsmeldungen zu diesem Thema abzugeben. Das irritiert die Kundschaft, den deutschen Verbraucher, weil er
befürchten muss, dass es zu einer Erhöhung der Mineralölsteuer kommt. Das ist absolut nicht vorgesehen. Außerdem irritieren solche Meldungen die Investoren und
die Mineralölwirtschaft insgesamt. Die Kombination
dieser beiden Gesetze ist schon eine große Sache. Wir
müssen sehen: Der Vertrauensschutz für die ländliche
Bevölkerung bei den Investitionen ist eine unserer Vorgaben für 2009.
Es muss aber auch berücksichtigt werden, was wir im
Hinblick auf die europäische bioenergetische Produktion in Zukunft beachten müssen. Auch ich sehe die Gefahr - die sehen wir alle -, dass das europäische Preisniveau durch Kampfpreisangebote an den Häfen
unterlaufen wird. Ich verweise auf den Energiegipfel bei
der Kanzlerin in dieser Woche, Herr Solms. Natürlich
wollen wir die Wertschöpfung innerhalb Europas und
vor allem im ländlichen Raum auf Dauer sicherstellen.
({7})
Das ist ein absolut wichtiges Ziel.
Der Kollege Schultz hat schon ausgeführt, inwieweit
wir Erdgas und Flüssiggas unterschiedlich zu behandeln
und zu bewerten haben. Man muss offen über Zeiträume
reden. Ich persönlich füge hinzu: Schifffahrt und Luftfahrt sind derzeit außen vor. Aber bezüglich des Themas
Flugbenzin hat die EU dringendst ihre Hausaufgaben zu
machen; in diesem Bereich muss es EU-weit Gleichheit
geben. Anderenfalls könnte der Fall eintreten, dass an
der Donau Austauschbarkeit besteht, weswegen Schiffe
über den Rhein-Donau-Kanal bis nach Rotterdam fahren, ohne dass Deutschland davon profitiert. Ein EUWirtschaftsraum muss auch insofern Steuergleichheit
bringen.
Das Gleiche sage ich für die Landwirtschaft. Die
Mineralölsteuervergütung, die wir jetzt noch haben,
die in diesem Gesetz auch angesprochen wird, bleibt.
Basta! Da mache ich es wie der Altkanzler.
({8})
Wenn wir über EU-weite Angleichung reden, muss dieses Thema nicht mehr Gegenstand der Debatte werden.
Das ist Gott sei Dank bei den Ministern, jedenfalls derzeit, außen vor.
({9})
Die Vorzüge von Biokraftstoffen, die ich vorhin genannt habe, müssen wir gesetzlich und ordnungspolitisch natürlich neu regeln.
Mit Bezug auf die EU wird uns vorgeworfen, die anderen seien kostengünstiger. Herr Solms, das sind die
Argumente, die von der Mineralölwirtschaft kommen
und die sich zum Teil auch im Text wiederfinden. Wir im
Parlament formulieren das Gesetz und nicht internationale Lobbyisten, die bei uns tätig sind, die viel Geld verdienen, die ihren Profit durch erhöhte Importpreise erzielen
({10})
und uns vorjammern, wie schlecht es ihnen geht.
Es geht um die Wertschöpfung unserer ländlichen Regionen unter Berücksichtigung von Kioto und unter Berücksichtigung des CO2-Eintrags. Wir haben genug Zeit,
über alles - das geht von den Steuersätzen bis zu den
Kalkulationszahlen von Rapsmühlen oder Fetterzeugern;
alles das finden wir in diesem Bereich vor - mit Gelassenheit zu diskutieren. Dann werden wir zum Schluss
auf die Energiefragen von Europa wieder die entscheidenden Antworten geben, wie das auch bei der Einführung des Katalysators war, und die anderen werden
schnell nachziehen. Ein 80-Millionen-Volk hat damit
wieder eine Leitbildfunktion für die anderen.
({11})
Deswegen mahne ich Gelassenheit bei der Frage an.
Nun zum Vorwurf, die ländlichen Räume würden untergebuttert werden. Wer mich kennt und wer Reinhard
Schultz kennt, der weiß: Das wird nicht passieren.
Lassen Sie uns dafür streiten! Das Ergebnis im Juni
wird sich vorzeigen lassen.
Herr Kollege, seien Sie doch so freundlich, zum Ende
zu kommen.
Das gilt auch im Hinblick auf die Folgewirkung betreffend den gesetzlichen Beimischungszwang ab 2007.
({0})
Der muss kommen, getrennt für Ethanol, Kraftstoffe für
den Ottomotor und Gasölbeimischung bei Raps- oder
Dieselöl.
Danke schön.
({1})
Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Kurt Hill, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Energiebesteuerung zementiert endgültig den
Stillstand in der Energiepolitik. Mit Klimaschutz und
Energieeinsparung hat das nun gar nichts zu tun. Herrn
Steinbrück scheint nur eines wichtig zu sein: Kasse zu
machen, koste es, was es wolle.
Auf ein Beispiel möchte natürlich auch ich eingehen:
die Biokraftstoffe. Biodiesel, das am Markt gut geht, soll
mit 10 Cent besteuert werden, Pflanzenöl als Kraftstoff
- das für die Umwelt völlig unbedenkliche Grundprodukt - mit 15 Cent. Viele kleine Betriebe haben hohe Investitionen in Anlagen, Vertrieb und Motoren getätigt.
Gerade der ländliche Raum setzt auf die Nutzung von
Rapsöl als Kraftstoff. Nun werden diese Strukturen zerschlagen, indem Sie willkürlich Steuern darauf erheben.
Herr Schindler, ich erinnere Sie daran, dass Sie vor
kurzem im ländlichen Raum, nämlich in Zweibrücken,
eine Ölmühle eröffnet haben.
({0})
Die trifft es genauso hart.
Biodiesel hat sich am Markt erfreulich etabliert. Der
Preis dieses Kraftstoffes hat sich an die steigende Preiskurve des Mineralöldiesels angeschmiegt. Da gab es Gewinnmitnahmen. Natürlich macht es Sinn, dieses Produkt langsam an die Besteuerung heranzuführen. Jetzt
10 bzw. 15 Cent auf Biodiesel und in der nächsten
Runde der Beimischungszwang bei Vollbesteuerung, das
macht die junge Branche allerdings kaputt. So etwas
dient nur dem Oligopol der Mineralölindustrie.
Die Folge: Kleine und mittelständische Hersteller von
Rapsöl- und Biodiesel werden so zu Zulieferern degradiert. Rapsöl und Bioethanol haben als reine Kraftstoffe
keine Chance. Auf der Strecke bleiben Arbeitsplätze im
ländlichen Raum und der Klimaschutz.
Die Autoindustrie reibt sich schon einmal die Hände,
kann sie doch ihre Selbstverpflichtung zur Senkung der
Klimagase abschütteln. Mit 5 Prozent zwangsbeigemischtem Biodiesel schafft VW sein laxes Klimaziel
auch so.
Die Linke fordert eine fachliche und differenzierte
Bewertung der einzelnen Biokraftstoffprodukte.
Biodiesel kann ab dem kommenden Jahr mit 5 Cent je
Liter besteuert werden. Die weitere Besteuerung muss
davon abhängen, ob es gelingt, die mineralischen Anteile durch biogenes Ethanol zu ersetzen. Pflanzenöl als
Kraftstoff muss bis 2010 ohne Besteuerung bleiben.
({1})
Die Motorenentwicklung ist stärker zu fördern.
Bei Bioethanol muss der Steuersatz bis 2010 ebenfalls 0 Cent betragen. Als E85 kann es sofort auf den
Markt kommen. Dazu müssen die Mineralölkonzerne ihren 100-Oktan-Sprit, der ohnehin nur ein Werbegag ist
und den Verbraucherinnen und Verbrauchern das Geld
aus der Tasche zieht, nur durch Bioethanol ersetzen. Der
hat übrigens 104 Oktan und entlastet die Umwelt messbar. Die Biokraftstoffe der zweiten Generation sind gerade im Aufbau. Ob als Biodiesel oder Bioethanol: BTL
muss mindestens bis 2010 steuerfrei bleiben. Einen Beimischungszwang braucht die Branche nun gar nicht. Der
Beimischungsmarkt macht beim Biodiesel bereits
40 Prozent aus und funktioniert auch so. Und wenn Sie
den Klimaschutz ernst nehmen, muss der öffentliche
Nahverkehr bei der Verwendung von Biokraftstoffen
ebenfalls steuerfrei bleiben.
({2})
Wenn ich die Auswirkungen des Gesetzentwurfes auf
die Staatsfinanzen sehe, muss ich mir die Augen reiben.
Einnahmen durch klimafreundliche Biokraftstoffe:
361 Millionen Euro. Steuerausfälle durch die Subventionierung der klimaschädlichen Flug- und Schiffsverkehre: 32 Millionen Euro. Bei der Mehrwertsteuer gilt
das Gleiche, wie Sie wissen.
Fazit: Verkehrte Welt in der Klimaschutzpolitik. Mit
freundlichen Grüßen, Ihr Umwelt- und Ihr Finanzminister.
Vielen Dank. Ich hoffe, meine Stimme wird wieder
besser.
({3})
Das wünschen wir Ihnen von Herzen, lieber Kollege.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Reinhard
Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Schindler und Herr Schultz haben sich eben als
Freunde des ländlichen Raums geoutet.
({0})
Das wussten wir ja schon. Aber der Punkt ist: Wenn Sie
wirklich Freunde des ländlichen Raums sein wollen,
dann müssen Sie einen anderen Gesetzentwurf vorlegen.
({1})
Ich habe mir gerade bei Ihnen in Rheinland-Pfalz im
Zusammenhang mit der Wahl einiges angesehen, zum
Beispiel eine Ölmühle in Polch. Die Leute haben sich
darauf verlassen, dass das, was die Politik im Deutschen
Bundestag einstimmig verabschiedet hat, nämlich die
steuerliche Begünstigung bis 2009, auch gilt. Das war
die Grundlage ihrer Investitionsrechnung. Wenn Sie jetzt
an dieser Schraube drehen, dann werden Sie nicht nur
wortbrüchig, sondern zerstören auch Planungssicherheit
und reale Investitionen. Insofern ist das kein Akt zugunsten des ländlichen Raums, sondern gegen den ländlichen Raum. Das wollen wir doch einmal festhalten.
({2})
Ansonsten - ich komme gleich zu dem Bioenergiethema - sprechen wir ja heute über die Umsetzung der
EU-Energiesteuer-Richtlinie. Ich will auch einmal sagen, was an dem Gesetzentwurf, den Sie jetzt vorlegen,
gut ist. Gut ist, dass in der Stromerzeugung bei den fossilen Energien eine steuerliche Gleichbehandlung vorgesehen ist. Bis jetzt ist es nämlich so, dass Uran und
Kohle in der Stromerzeugung nicht besteuert werden,
aber Gas. Die Kollegen von der SPD erinnern sich: Wir
haben da manchen Kampf gefochten. Die SPD war immer dagegen, das Gas gleich zu behandeln. Jetzt kommt
die Anweisung von der EU-Seite. Da kann ich nur sagen: Gut so!
Ich finde es auch gut, dass das, was das Finanzministerium ursprünglich vorhatte, nämlich die KraftWärme-Kopplung bei der Strom- und der Erdgassteuer
richtig an die Kandare zu nehmen und kräftig zu besteuern, jetzt wegfällt. Das ist unter anderem auf den öffentlichen Protest der Kommunen, aber auch auf unseren
Protest und den Protest der Umweltverbände zurückzuführen. Da kann man nur sagen, es hat sich gelohnt, gegen diese geplante Besteuerung dezentraler Energieversorgungsstrukturen anzugehen.
({3})
- Dann müssen Sie zuhören, Herr Kollege Kelber.
Die Einführung einer Steuer auf Kohle zu Heizzwecken ist aus der Sicht des Klimaschutzes vernünftig und
überfällig, auch wenn das ein kleines, randständiges Problem ist. Das ist aber quasi nichts anderes als die Erfüllung der Aufgaben eines Pflichtenheftes.
Bei den wirklich grundlegenden Dingen versagen Sie
oder lassen einfach etwas aus. Die Bioenergien habe ich
gerade schon angesprochen. Da herrscht - das muss man
doch sehen - in Ihrem Lager ganz klar kein Einvernehmen. Auf der einen Seite gibt es die Fiskalisten, die
mehr Geld eintreiben wollen, und auf der anderen Seite
diejenigen, die wirklich etwas für den ländlichen Raum
tun wollen, die regionale Wertschöpfungsketten und Erwerbsalternativen für die Landwirtschaft schaffen wollen, ohne dauerhafte Subventionen vorzusehen.
Man wundert sich: Hier wird ein Gesetzentwurf von
der Regierung vorgelegt und alle Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU und von der SPD sagen
- mindestens zwischen Mund und Nase -, so werde das
auf keinen Fall gemacht. Da hätten Sie besser von Anfang an etwas Vernünftiges vorgelegt; dann wäre die
Verunsicherung in der Branche nicht so groß gewesen.
({4})
Es ist doch vollkommen klar und gar keine Frage: Wo es
Mitnahmeeffekte gibt, da muss man abschöpfen.
Hinsichtlich der reinen Pflanzenöle, Herr Schindler,
möchte ich Sie bitten, Folgendes zu beachten. Dies ist
ein klassischer Fall dezentraler Technologien, bei deren
Anwendung die Wertschöpfung in der Region verbleibt.
Auch fiskalisch gesehen fällt nichts weg. Ich bitte Sie
heute darum, dass Sie wenigstens davon die Hände lassen. Wir werden das jedenfalls im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens beantragen.
({5})
Ich will noch einige Punkte ansprechen, die Sie einfach weggelassen haben. Sie haben zum Beispiel die
Sonderregelung für die Energiebesteuerung im Rahmen
der ökologischen Steuerreform nicht angesprochen,
obwohl Sie wissen, dass diese Ausnahmen von der EUKommission nur bis zum 31. Dezember 2006 genehmigt
wurden. Wir brauchen im Rahmen der Ökosteuer ein
stimmiges Konzept, mit dem die vielen Ausnahmetatbestände entweder abgeschafft - das wäre das Beste - oder
zumindest an ökologische Gegenleistungen geknüpft
werden.
Wir müssen - auch das ist ein heißes Eisen, das Sie
nicht angepackt haben - im Bereich der Flugbenzinbesteuerung endlich erste Schritte gehen.
({6})
Es kann doch nicht wahr sein, dass die Bahn, wie wir
erst vorgestern wieder gelernt haben, die Energiesteuer
in voller Höhe zahlt und dass auf Tickets die volle Mehrwertsteuer erhoben wird, aber der Luftverkehr in beiden
Bereichen privilegiert wird. Das ist eine eklatante Wettbewerbsverzerrung zulasten der Bahn. Wir fordern Sie
auf - zumal die Energiesteuer-Richtlinie diese Möglichkeit hergibt -, endlich mit dem Einstieg in die Besteuerung von Flugbenzin zu beginnen. Die rechtlichen Möglichkeiten haben Sie dazu.
({7})
Ich fasse zusammen, Herr Präsident. Was Sie vorlegen, ist ein umfangreiches Gesetz mit vielen Details. Es
enthält praktisch keine positiven Elemente mit Ausnahme der Dinge, die Sie vonseiten der EU-Kommission
machen mussten. Es ist also ein reines und obendrein unzureichendes Pflichtprogramm ohne ambitionierte Klimaschutzziele und ohne politischen Gestaltungswillen.
Sie geben keine steuerlichen Anreize für Strukturentscheidungen zugunsten des Klimaschutzes und der CO2Einsparungen. Das werden wir im parlamentarischen
Verfahren thematisieren.
Danke schön.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/1172 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Uwe Barth, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Voraussetzungen für Entwicklung, Bau und
Betrieb einer Europäischen Spallations-Neutronenquelle in Deutschland schaffen - Deutsche Bewerbung vorantreiben
- Drucksache 16/386 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Die Kollegen Axel Fischer ({1}),
Thomas Oppermann, Cornelia Pieper, Petra Sitte1) und
Krista Sager haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2)
Ich schließe also die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/386 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Änderung des Urheberrechtsgesetzes
- Drucksache 16/1107 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-
tarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort.
1) Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss nicht vor und wird zu einem
späteren Zeitpunkt abgedruckt.
2) Anlage 3
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute
um ein Gesetz, mit dem wir europäische Vorgaben zum
Folgerecht umsetzen. Folgerecht bedeutet, dass bildende
Künstler nicht leer ausgehen, wenn ein Werk, das sie
einmal für wenig Geld verkauft haben, später im Kunsthandel hohe Preise erzielt.
Die Richtlinie ist ein gutes Beispiel dafür, wie uns die
europäische Einigung zugute kommt: Mit der Umsetzung der Richtlinie schaffen wir vergleichbare Bedingungen für bildende Künstler und auch für den Kunsthandel in Europa. Denn anders als Deutschland, wo es
ein Folgerecht seit 1956 gibt, gilt dieses Recht in anderen Mitgliedstaaten bisher nicht. Diese unterschiedliche
Rechtslage ist in mehrfacher Hinsicht nachteilig: zum einen natürlich für die Künstler, zum anderen auch für den
Kunsthandel. So kann zum Beispiel ein Kunsthändler in
Berlin weniger Erlös als sein Kollege in London erzielen. Das ist ein Wettbewerbsnachteil. Die europäische
Richtlinie schafft hier gleiche Verhältnisse.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf passen wir
unser Recht den Anforderungen der Richtlinie an. Die
Vergütung wird nach der Höhe des Verkaufspreises gestaffelt und beträgt im Höchstfalle 12 500 Euro pro Weiterveräußerung.
Es gibt zwei Punkte, bei denen die Richtlinie den Mitgliedstaaten einen Gestaltungsspielraum lässt. Zum
einen können als Mindestbetrag Werte zwischen 0 und
3 000 Euro bestimmt werden, ab dem Veräußerungen
dem Folgerecht unterliegen. Der Entwurf, den wir vorlegen, sieht einen Mindestbetrag von 1 000 Euro vor. Zum
anderen können die Mitgliedstaaten die Höhe des Anspruchs für Veräußerungen bis zu 50 000 Euro auf 4 oder
5 Prozent des Verkaufspreises festlegen. Wir haben uns
dazu entschieden, für diese so genannte erste Tranche einen Vergütungssatz in Höhe von 4 Prozent vorzusehen.
Natürlich sind unsere Künstlerinnen und Künstler darüber enttäuscht; ich kann das auch verstehen. Sie müssen
aber wissen, dass sie umgekehrt nunmehr auch im Ausland, zum Beispiel in Österreich, einen Anspruch geltend
machen können, wenn zum Beispiel ein Werk mit einem
Preis von über 3 000 Euro weiterveräußert wird.
Eines darf man nicht vergessen: Es wird ihnen eine
neue Einnahmequelle erschlossen, wenn sie, wie ich
eben sagte, in anderen Mitgliedstaaten veräußern. Auch
unsere Kunsthändler haben hier weitere Vorteile. Da wir
uns den in Großbritannien, einem bedeutenden Kunstmarkt, geltenden Regelungen angeschlossen haben, befinden wir uns in guter Gesellschaft.
Ich denke also, dass wir mit diesem Entwurf eine ausgewogene und angemessene Grundlage für die weitere
Beratung präsentiert haben, und freue mich, meinem
Kollegen Manzewski eine Minute Redezeit schenken zu
können.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, Sie haben zu Recht gesagt, dass
es beim geltenden Recht Wettbewerbsverzerrungen gegeben hat und die Folgerechtsrichtlinie hier wirken
muss. Deren Umsetzung steht natürlich schon lange an.
Also ist es richtig, dass der vorliegende Gesetzentwurf
nicht nur eingebracht wird, sondern auch zügig beraten
werden muss.
Die FDP hat es von Anfang an, auch schon in der vergangenen Legislaturperiode, sehr begrüßt, dass diese
Folgerechtsrichtlinie zu einer Harmonisierung führen
wird. Denn das ist im Interesse aller Beteiligten: im Interesse des Kunsthandels und der Urheber. Auf nationaler
Ebene muss jetzt der Versuch unternommen werden, einen Ausgleich zwischen diesen beiden Interessen zu finden. Das wird mit dem jetzt vorgelegten Gesetzentwurf
versucht.
Die Folgerechtsrichtlinie ist das Ergebnis einer sehr
langwierigen Diskussion. Es war bis zum Schluss sehr
ungewiss, ob sie überhaupt zustande kommt. Das Ergebnis ist ein Kompromiss, der natürlich nicht in jeder Hinsicht das urheberrechtliche Optimum sein mag. Das gilt
für die Staffelung der Vergütung und die Begrenzung der
Gesamtvergütung auf 12 500 Euro. Es ist aber müßig,
die Debatte zu wiederholen, die der Folgerechtsrichtlinie
vorausgegangen ist.
Die von der Folgerechtsrichtlinie vorgegebene neue
Vergütungsstruktur kann in Deutschland einerseits zu
einem insgesamt niedrigeren Vergütungsaufkommen
führen. Aber im Zusammenspiel mit den entsprechenden
Bestimmungen der übrigen Mitgliedstaaten kann sie andererseits einen Beitrag dazu leisten, dass Deutschland
für den internationalen Kunsthandel attraktiver wird und
den deutschen Urhebern dadurch neue Vergütungsquellen auf anderen Kunstmärkten eröffnet werden.
Auch den Urhebern ist nicht damit gedient, dass der
Kunsthandel an Deutschland vorbeigeht, weil die Rahmenbedingungen nicht stimmen. Natürlich dürfen wir
dabei die Grundlagen des Urheberrechts nicht infrage
stellen. Denn das Urheberrecht ist und bleibt ein Eigentumsrecht. Deshalb muss natürlich im Zusammenhang
mit der Beratung des Regierungsentwurfes immer auch
gefragt werden: Sind die Spielräume, die die Richtlinie
im Sinne dieser Prämisse eröffnet, auch sachgerecht genutzt worden?
Ich denke, der Entwurf geht in die richtige Richtung,
diese unterschiedlichen Interessen miteinander zu vereinbaren. Wir werden im Ausschuss gerade vor dem
Hintergrund der Stellungnahme des Bundesrates über
die einzelnen Punkte, über die Anhebung des Eingangssatzes, den Beteiligungssatz und die Vergütungsstruktur,
zu diskutieren haben.
Der Bundesrat hat vorgeschlagen, die Bestimmungen
zum Schwellenwert und zum Beteiligungssatz der ersten
Stufe bis 2009 zu befristen, um ihre tatsächlichen Auswirkungen auf das Vergütungsaufkommen zu beobachten und gegebenenfalls zu korrigieren. Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme diesen Vorschlag
zurückgewiesen. Ich denke, wir sollten es uns nicht so
einfach machen.
Die FDP-Bundestagsfraktion plädiert dafür, im
Rechtsausschuss den Ansatz des Bundesrates noch einmal ausführlich zu erörtern und zu prüfen, inwieweit er
zum notwendigen Interessenausgleich zwischen Urhebern und Kunsthandel beitragen kann. Wir sollten dabei
bedenken, dass die Richtlinie selbst eine fortlaufende
Kontrolle der Auswirkungen des neuen Folgerechtes
vorsieht. Was ist besser dazu angetan, mit Nachdruck für
eine Umsetzung dieser Kontrolle zu sorgen, als eine Befristung dieser Regelung im Gesetz vorzusehen, sodass
der Gesetzgeber gezwungen ist, sie nach einigen Jahren
auf den Prüfstand zu stellen? Aus unserer Sicht gibt es
bei diesem Punkt sehr wohl Erörterungs- und Diskussionsbedarf im Rechtsausschuss. Ich denke, wir sind auf
dem Weg, einen angemessenen Interessenausgleich zwischen Kunsthandel und Urheberrechtsschutz zu erreichen.
Recht herzlichen Dank.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegen Günter Krings, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der beste Ort, um deutsche Kunst zu verkaufen,
ist London. Mit diesem Werbespruch ging einst das Londoner Auktionshaus Christie’s auf Kundenfang. Kein anderer Ausspruch könnte wohl die Situation auf dem
deutschen Kunstmarkt besser beschreiben. In London
werden mehr Bilder der klassischen deutschen Moderne
als im gesamten Bundesgebiet zusammen versteigert. So
macht derzeit nicht zuletzt das deutsche Urheberfolgerecht deutsche Kunst zum Exportschlager wider Willen.
Der eigentliche Erfolg, den es hier und heute zu vermelden gibt, ist nicht im vorliegenden Gesetzentwurf,
sondern in der Harmonisierung des Folgerechts in der
Europäischen Union zu erblicken. Bislang haben die unterschiedlichen Regelungen in Europa zu einer Wettbewerbsverzerrung geführt. Deutsche Galerien haben es
schwer, gegen eine internationale Konkurrenz zu bestehen, die eben nicht 5 Prozent vom Erlös eines weiterverkauften Bildes auf den Kaufpreis aufschlagen muss. Besonders die Engländer haben diesen Vorteil konsequent
für sich zu nutzen gewusst und stellen heute neben den
USA und der Schweiz den weltweit wichtigsten Kunstmarkt.
Nach einer Studie der European Fine Art Foundation
lag im Jahr 2003 der Anteil der EU-Mitgliedstaaten, die
über ein nationales Folgerecht verfügen, am weltweiten
Kunsthandel bei 6 Prozent. Im Gegensatz dazu konnte
sich allein Großbritannien einen Anteil von sage und
schreibe 24 Prozent am Weltkunsthandel sichern; das
Handelsvolumen ist damit viermal größer als in allen
EU-Staaten mit Folgerecht zusammen.
Die EU-Richtlinie lässt den Mitgliedstaaten in einzelnen Punkten zwar einen Umsetzungsspielraum; vor dem
Hintergrund der bisherigen Erfahrungen mit unterschiedlich ausgestalteten Folgerechtsregelungen muss
der Gesetzgeber aber bei der nationalen Ausgestaltung
das Ziel haben, möglichst einen Mittelweg zu finden,
dem sich auch die anderen Länder anschließen können.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist es gelungen,
eine Regelung zu finden, die in den wichtigsten Punkten
auf der Linie der englischen Umsetzung der Richtlinie
liegt. Der deutsche Kunstmarkt wird so attraktiver und
kann verloren gegangenes Terrain wieder gutmachen.
Der Gesetzentwurf ist damit ein starkes Signal für die
Förderung des Kunsthandels in Deutschland.
({0})
Eine zentrale Bestimmung der Gesetzesvorlage ist die
Anhebung des Schwellenwertes für die Anwendbarkeit
des Folgerechts beim Verkaufspreis von früher 50 Euro
auf 1 000 Euro. Hierdurch wird gewährleistet, dass keine
Kleinstbeträge von wenigen Euro mehr ausgezahlt zu
werden brauchen, bei denen der Verwaltungsaufwand
den Ertrag zu überwiegen droht.
Wahrscheinlich werden wir gleich noch ein paar kritische Worte zu diesem Aspekt hören. Natürlich erkennt
man bei oberflächlicher Betrachtung wenigstens zwei
Probleme.
Der Entwurf bleibt mit dem Schwellenwert von
1 000 Euro deutlich unterhalb des von der Richtlinie zugelassenen Maximalschwellenwerts von 3 000 Euro.
Auf den ersten Blick sieht es dennoch so aus, dass reihenweise Künstler von den Segnungen des Folgerechts
ausgeschlossen werden könnten. Die Zahlen der eben zitierten Studie der European Fine Art Foundation sprechen aber eine ganz andere Sprache. Diese Studie
kommt zu dem Ergebnis, dass über 90 Prozent der weltweiten Kunstverkäufe - jedenfalls im Bereich der modernen und zeitgenössischen Kunst - in die Preiskategorie von 3 000 bis 50 000 Euro fallen.
Dass wir den möglichen Schwellenwert von
3 000 Euro dennoch nicht voll ausgeschöpft haben, ist
ebenso richtig. Bei einem derartigen Schwellenwert hätten es nämlich vor allen Dingen Fotografien zu schwer
gehabt, von einer Folgerechtsvergütung überhaupt zu
profitieren. Es ist aber ein deutlicher Fortschritt gegenüber der bestehenden Regelung, dass nun auch Fotografien in den Vergütungstatbestand mit aufgenommen werden. Diese Regelung bringt Rechtssicherheit und trägt
dem Umstand Rechnung, dass Fotografien in verstärktem Maß als Kunstobjekte angesehen und auch behandelt werden. Eine Ungleichbehandlung im Vergleich zur
klassischen bildenden Kunst ist daher nicht mehr zu
rechtfertigen.
Gegen den höheren Schwellenwert von 1 000 Euro
wird ferner eingewandt, er sei ein Nachteil für junge
Künstler, die noch nicht so hohe Preise für ihre Werke
erzielen können. Betrachtet man hier wiederum ganz
nüchtern die Zahlen, dann lässt sich aber schon nach der
jetzigen Rechtslage feststellen, dass der Großteil der lebenden Künstler von der Folgerechtsabgabe ohnehin
nicht profitiert. Kaum 10 Prozent der Künstler, die ihre
Ansprüche aus dem Folgerecht über die VG Bild-Kunst
wahrnehmen lassen, kommen in den Genuss einer Auszahlung. 2004 waren es - um es einmal in den relativ bescheidenen Zahlen auszudrücken - gerade einmal
314 lebende Künstler, denen 256 Erben gegenüber standen. Von diesen insgesamt 570 Personen sind übrigens
knapp die Hälfte ausländische Künstler.
Lässt das Verhältnis zwischen lebenden Künstlern und
den Erben zunächst wenigstens noch ein kleines Übergewicht zugunsten der lebenden Künstler vermuten, zeigt
eine wirtschaftliche Betrachtung der Sache schon ein
ganz anderes Bild. Für das Jahr 2003 hat der Arbeitskreis
Deutscher Kunsthandelsverbände vorgerechnet, dass die
Erben deutscher Künstler gut 2,4 Millionen Euro aus der
Folgerechtsvergütung erhalten haben, während den in
Deutschland lebenden Künstlern zusammen lediglich ein
Betrag von etwas mehr als 340 000 Euro ausgezahlt
wurde. Also: knapp zweieinhalb Millionen Euro für Erben und 340 000 Euro für lebende Künstler. Das zeigt
mehr als deutlich, dass das Folgerecht in erster Linie ein
Erbenrecht ist und schon nach der heutigen Rechtslage
jungen Künstlern kaum dient.
({1})
Trotz der vergleichsweise bescheidenen Beträge
bleibt das Folgerecht ein sensibles Thema. Das zeigen
insbesondere die Reaktionen in England seitens der
Künstler. David Hockney lehnte mit weiteren britischen
Künstlern in einem Artikel der „Times“ die Regelung
gerade deshalb ab, weil sie keine Förderung junger
Künstler mit sich bringen würde, sondern diesen eher
schade. Kunsthändler würden angesichts der Abgabe lieber auf Nummer sicher gehen und sich an etablierte
Künstler halten.
Obwohl die deutsche Regelung bereits seit 1965 existiert, ist das Folgerecht auch bei uns durchaus umstritten.
Renommierte Künstler wie Gerhard Richter oder Georg
Baselitz haben sich bereits vor geraumer Zeit kritisch
dazu geäußert. Es würden eben nur die Stars der Branche
davon profitieren und jungen Künstlern - da sind sie
ganz der Meinung ihrer englischen Kollegen - bereite
die ganze Sache eher Schwierigkeiten.
({2})
Die Bedenken der etablierten Künstler in dieser Frage
sollte man nicht einfach beiseite legen. Trotzdem ist die
These, das Folgerecht schade jungen Künstlern, vielleicht doch etwas voreilig. Der Erstverkauf eines Bildes
ist und bleibt vergütungsfrei. Die Eintrittskarte von
Nachwuchskünstlern in den Kunstmarkt wird vom Folgerecht also gar nicht betroffen.
({3})
Das Folgerecht hat danach aber immer noch seine Berechtigung. Selten gelingt einem Maler oder einer Malerin auf Anhieb der Durchbruch. In der Regel erzielen
Bilder erst einige Jahre nach dem Erstverkauf einen höheren Marktwert, an dem die Künstler dann nicht mehr
beteiligt sind. Damit stellt sich natürlich schon die Frage,
warum alle von einer Gewinnsteigerung des Werkes profitieren sollen - mit Ausnahme desjenigen, der die Ursache für die Wertsteigerung gesetzt hat.
Hierin liegt auch der grundsätzliche Unterschied zum
Buch oder zur Musik. In diesen beiden Fällen erhält der
Urheber nämlich üblicherweise eine erfolgsabhängige
Vergütung: Je mehr Bücher verkauft werden, desto höher fallen seine Einnahmen aus; je mehr CDs verkauft
werden oder je öfter seine Musik im Radio gespielt wird,
desto höher fällt seine Beteiligung aus. Der bildende
Künstler kann hingegen nicht auf eine Erfolgsbeteiligung hoffen.
Ob sich junge Künstler am Markt etablieren, dürfte
aber kaum vom Folgerecht abhängen; denn das hieße,
die Bedeutung der rechtlichen Regelung über die der ästhetischen Aussage eines Kunstwerkes zu stellen. Letztere aber gibt zum Glück den entscheidenden Ausschlag
für die Durchsetzung eines noch unbekannten talentierten Künstlers. Nicht zuletzt die Erfolge der jungen deutschen Künstler, die unter dem Begriff „Neue Leipziger
Schule“ zusammengefasst werden, zeigen das Potenzial
auf, das in den Künstlern unseres Landes liegt. Selten
war deutsche zeitgenössische Kunst international so gefragt wie heute.
Der internationale Durchbruch gelang diesen deutschen Künstlern aber nicht in Deutschland, sondern in
erster Linie auf Kunstmessen in den Vereinigten Staaten.
Dieser Tatsache sollten wir als deutsche Rechts- und
Kulturpolitiker nicht ganz gleichgültig gegenüber stehen. Wir sollten vielmehr die nötigen Rahmenbedingungen schaffen, damit nicht nur die deutsche Kunst, sondern auch der deutsche Kunsthandel international wieder
eine Spitzenposition einnehmen kann.
({4})
Mit der EU-Richtlinie zur Harmonisierung des Folgerechts und mit unserem Umsetzungsgesetz tun wir einen
entscheidenden Schritt zur Schaffung dieses Rahmens.
Wenn wir dadurch den Kunsthandel in Deutschland stärken, so stärken wir mittelbar auch die bildende Kunst
und die Künstler in unserem Lande.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegin Lukrezia Jochimsen,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
fürchte, man kann die Welt sehr unterschiedlich betrachten. Welche Bedeutung haben die schön klingenden
Bekenntnisse zur Kulturnation Deutschland in diesem Hohen Haus? Davon können wir uns in dieser Debatte ein Bild machen. Wie heißt es im Koalitionsvertrag
von CDU/CSU und SPD?
Im Mittelpunkt der Kulturpolitik steht die Förderung von Kunst und Künstlern.
Nun legt uns die Bundesregierung einen Gesetzentwurf
vor, der kalt und brutal 40 Prozent der bildenden Künstler und Künstlerinnen in diesem Land um ihren gesetzlichen Anspruch auf einen Anteil am Erlös aus Weiterveräußerungen ihrer Werke bringt - knallhart und einfach
so.
Wenn ein Kunsthändler heute eine Grafik, ein Litho
oder ein Foto für 200 Euro kauft und für 900 Euro verkauft, erhält der Künstler 5 Prozent dieser Weiterverkaufssumme, also 45 Euro. Das ist nicht viel Geld. Für
Künstler und Künstlerinnen in Deutschland, die zum
großen Teil mehr oder wenig an oder unterhalb der Armutsgrenze leben, ist dieses Geld aber unverzichtbar.
Das gilt nicht für die Millionäre Baselitz und Neo
Rauch.
Im neuen Gesetzentwurf heißt es:
Der Schwellenwert für die Folgerechtspflichtigkeit
wird auf 1 000 Euro festgelegt.
Das heißt, nur die Künstler und Künstlerinnen, deren
Werke für 1 000 Euro oder mehr weiterverkauft werden,
haben überhaupt einen Anspruch auf Folgerechtsvergütung. Bisher bestand ein Anspruch ab 50 Euro. Der Anstieg auf das 20-fache enteignet auf einen Schlag und
ohne Not gerade die jungen Künstler und Künstlerinnen,
die am Anfang ihres kreativen Wirkens stehen, aber auch
die älteren Künstler und Künstlerinnen, die am Ende ihres Schaffensprozesses froh sind, wenn sie ihren Lebensunterhalt in Würde durch Weiterverkaufserlöse entsprechend ihrem bisherigen gesetzlichen Anspruch ein
bisschen aufstocken können.
Es gibt viele Künstler und Künstlerinnen in diesem
Land, deren Arbeiten die Preiskategorie von 1 000 Euro
und mehr nie erreichen. Ich spreche nicht von Bildern,
sondern von Grafiken, Lithos, Aquarellen und Fotos.
Weiß man im Bundesministerium, weiß man in der Regierung nicht um die wirtschaftliche Situation von
Künstlerinnen und Künstlern? Doch, man weiß darum
genau. Man weiß, dass 40 Prozent der Künstler und
Künstlerinnen nach In-Kraft-Treten dieses Gesetz nicht
mehr in den Genuss des Folgerechtes kommen, dass die
Neuregelung also einer Enteignung eines Großteils der
bildenden Künstler und Künstlerinnen gleichkommt und
damit für diesen Personenkreis eine weitere Verarmung
bedeutet.
Damit nicht genug. Auch der Prozentsatz für Verkäufe bis 50 000 Euro soll in Zukunft von 5 auf 4 Prozent gesenkt werden. Diese Absenkung wiederum
bedeutet eine massive Schlechterstellung der folgerechtsberechtigten Künstler und Künstlerinnen, die ihre
Werke zu guten oder sehr guten Preisen verkaufen können. Das betrifft 20 Prozent der renommierten, für
Deutschlands Kunst besonders wichtigen Kreativen.
Man komme uns nicht mit dem Argument, hier müsse
eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und Rates
umgesetzt werden. Die europäische Richtlinie schreibt
weder die Anhebung des Eingangssatzes auf 1 000 Euro
noch die Absenkung des bisherigen Prozentsatzes von
5 auf 4 Prozent vor. Dieses Märchen wollen wir uns bitte
gar nicht erst auftischen lassen.
({0})
Die Richtlinie gibt den Mitgliedstaaten großen
Gestaltungsspielraum bei der Frage, wo der Folgerechtsanspruch beginnt: bei 50 Euro, wie bisher bei uns,
bei 300, 500 oder 1 000 Euro. Er muss nur bei maximal
3 000 Euro festgesetzt werden. Wir sind also frei in der
Entscheidung, ob wir unseren bildenden Künstlern und
Künstlerinnen eine angemessene Vergütung am Weiterverkauf ihrer Werke garantieren oder nicht, ob wir sie
kalt enteignen oder nicht. Die Linksfraktion lehnt den
Gesetzentwurf daher entschieden ab.
Gestatten Sie mir zum Schluss ein Plädoyer: Wer
Kunst und Kultur fördern und schützen will - das wollen
wir angeblich alle -, der kann diesen Gesetzentwurf in
dieser Form nicht passieren lassen.
Danke.
({1})
Kollege Jerzy Montag hat seine Rede zu Protokoll
gegeben.1)
({0})
Deswegen erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen
Dirk Manzewski, SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Fol-
gerecht gibt dem Urheber eines Werkes der bildenden
Künste einen Anspruch auf wirtschaftliche Beteiligung
am Erlös aus der Weiterveräußerung seines Werkes, so-
weit Kunsthändler oder Versteigerer daran beteiligt wa-
ren. In Deutschland - das ist hier schon gesagt worden -
gibt es diesen grundsätzlichen Anspruch schon seit lan-
gem. Seit 1973 liegt er bei etwa 5 Prozent des Veräuße-
rungserlöses.
Innerhalb der EU sah dies bis vor kurzem jedoch noch
völlig anders aus. In einigen Ländern gab es kein so ge-
nanntes Folgerecht, in anderen gab es unterschiedliche
Regelungen. Dies führte - das hat Kollege Krings richtig
gesagt - zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen
und Handelsverlagerungen. Deshalb fand etwa 80 Pro-
zent, Herr Kollege Krings, des gesamten Kunsthandels
innerhalb Europas in der Vergangenheit in London statt.
Dort gab es - Sie alle können sich das denken - kein
Folgerecht. Deswegen, Frau Kollegin Jochimsen, lief die
5-Prozent-Regelung, an der Sie sich gerade so schön ori-
1) Anlage 4
entiert haben, bei uns relativ leer. Denn aufgrund dieser
Regelung fand hier quasi kein Kunsthandel statt. Das
heißt, die Künstler hatten von der 5-Prozent-Regel relativ wenig.
Das wird sich nun hoffentlich ändern. Grund für die
heutige Debatte und die Änderungen am bestehenden
Gesetz ist die EU-Richtlinie, die das Folgerecht innerhalb der EU harmonisieren wird. Zukünftig wird der Urheber der bildenden Künste überall in der EU vom Weiterverkauf seiner Bilder profitieren, auch wenn - das
wurde schon gesagt - den Ländern bei einzelnen Punkten Handlungsspielräume eingeräumt wurden.
Auch wir hatten unsere bestehenden Gesetze zu bearbeiten und der Richtlinie anzupassen. Neu dabei ist, dass
die Vergütungsbeteiligung nun nicht mehr pauschal,
sondern in einer degressiven Staffelung in fünf Schritten
erfolgt. Dies ist durch die Richtlinie zwingend vorgegeben. Die Staffelung beginnt bei uns mit 4 Prozent bei
Verkaufserlösen bis 50 000 Euro und endet bei 0,25 Prozent bei Verkaufserlösen von mehr als 500 000 Euro. Bei
einem Verkaufserlös von unter 1 000 Euro greift das Folgerecht nicht. Diese Bagatellgrenze - auch das wurde
schon gesagt - ist geschaffen worden, weil in diesem Bereich zwischen dem Nutzen des Urhebers und dem Verwaltungsaufwand kein vernünftiges Verhältnis mehr bestand. Ich teile Ihre Auffassung nicht, Frau LeutheusserSchnarrenberger, dass man diese Grenze hätte höher setzen können. Denn ich meine - das muss man deutlich sagen -, dann hätten die Urheber deutlich weniger davon
profitiert. Jedenfalls habe ich Sie so verstanden.
Wir haben es allerdings auch abgelehnt, einen höheren Mindestbetrag festzulegen - das hätte die Richtlinie
erlaubt -, weil dies nach unserer Auffassung den Anwendungsbereich des Folgerechts zu weit eingeschränkt
hätte. Neu ist auch, dass der zu erzielende Gesamtbetrag
der Folgerechtsvergütung aus einer Weiterveräußerung
allenfalls 12 500 Euro betragen darf. Auch hier mussten
wir - das muss man deutlich sagen - der EU-Richtlinie
folgen.
Es ist sicherlich richtig, dass der Urheber nach der alten 5-Prozent-Regelung vermeintlich besser dastand.
Aber abgesehen davon, dass wir aufgrund der EU-Richtlinie kaum Spielraum hatten, erscheint dies eben nur auf
den ersten Blick so. Es sei noch einmal darauf hingewiesen - das ist sehr wichtig -, dass die Urheber kaum etwas von dieser Regelung hatten, da der Anspruch, wie
gesagt, bislang relativ leer lief. Das ist nun anders und
kompensiert dies meiner Auffassung nach bei weitem,
zum einen, weil die Urheber nun in der gesamten EU einen Folgerechtsanspruch erhalten, und zum anderen,
weil davon auszugehen ist, dass der Kunsthandel nun
auch wieder mehr in Deutschland stattfinden wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie meiner
Rede entnehmen können, halte ich den hier debattierten
Entwurf für gelungen, auch wenn ich durchaus bereit
bin, mich noch über die eine oder andere Einzelheit zu
unterhalten.
Herr Staatssekretär, eines bitte ich allerdings zu überprüfen: Im Gesetzentwurf ist festlegt, dass das Folgerecht nur gelten soll, wenn bei der Weiterveräußerung
Kunsthändler oder Versteigerer beteiligt sind. Ich weiß
nicht, ob dies tatsächlich der EU-Richtlinie entspricht.
Diese differenziert nämlich zum Beispiel in der Begrifflichkeit ausdrücklich zwischen Kunsthändlern und
Kunstgalerien. Vielleicht sollten wir, wie es auch in der
EU-Richtlinie getan wird, lieber allgemein von „Vertretern des Kunstmarktes“ sprechen, um Folgerechtsansprüche tatsächlich umfassend zu gewährleisten. Ansonsten, finde ich, ist der Gesetzentwurf gelungen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/1107 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Inzwischen liegt auch die Gegenäußerung der
Bundesregierung auf Drucksache 16/1173 vor, die an
dieselben Ausschüsse überwiesen werden soll. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 sowie Zusatzpunkt 6
auf:
17 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Norman Paech, Wolfgang Gehrcke, Monika
Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der LINKEN
Weiter verhandeln - kein Militäreinsatz gegen
den Iran
- Drucksachen 16/452, 16/962 Berichterstattung:
Abgeordnete Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Werner Hoyer
Dr. Norman Paech
Marieluise Beck ({1})
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Winfried Nachtwei, Thilo Hoppe, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN
Für ein friedliches Vorgehen im Konflikt über
das iranische Atomprogramm - Demokrati-
sche Entwicklung unterstützen
- Drucksachen 16/651, 16/1157 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Hörster
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Werner Hoyer
Wolfgang Gehrcke
Jürgen Trittin
Vizepräsident Wolfgang Thierse
Die Kollegen Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg,
Rolf Mützenich, Harald Leibrecht, Norman Paech und
Jürgen Trittin haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 16/962 zu
dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Weiter verhandeln - kein Militäreinsatz gegen den Iran“.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/452 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Mir ist nicht klar, was die FDP-Fraktion zu
tun gedenkt.
({3})
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke bei Ratlosigkeit der
FDP-Fraktion angenommen.
({4})
Zusatzpunkt 6. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 16/1157 zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit
dem Titel „Für ein friedliches Vorgehen im Konflikt über
das iranische Atomprogramm - Demokratische Entwicklung unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 16/651 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
von Bündnis 90/Die Grünen und bei einigen Gegenstimmen der Fraktion Die Linke, bei Stimmenthaltung der
FDP und einigen Enthaltungen der Fraktion Die Linke
angenommen.
Nun kommen wir zu Tagesordnungspunkt 18:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung der Europäischen Genossenschaft und
zur Änderung des Genossenschaftsrechts
- Drucksache 16/1025 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll gegeben: Georg Fahrenschon, Klaus
Uwe Benneter, Mechthild Dyckmans, Ulla Lötzer und
Margareta Wolf ({6}) sowie der Parlamentarische
Staatssekretär Alfred Hartenbach.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/1025 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
1) Anlage 5
2) Anlage 6
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b so-
wie Zusatzpunkt 7 auf:
19 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Ulrike Höfken, Cornelia Behm, Undine
Kurth ({7}) und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verbot der Käfighaltung für Legehennen
ab 2007 beibehalten
- Drucksache 16/839 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dr. Kirsten Tackmann,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der LINKEN
Arbeitsplätze durch artgerechte Legehennenhaltung in Deutschland sichern - Verbot der
Käfighaltung ab 2007 durchsetzen
- Drucksache 16/1128 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({10}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael
Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Keine Wettbewerbsverzerrungen für Landwirte durch die Umsetzung der EU-Richtlinie
zur Haltung von Nutztieren in nationales
Recht
- Drucksachen 16/590, 16/1142 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Jahr
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Bärbel Höhn, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen,
das Wort.
({11})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute über ein Thema,
das die Gemüter in dieser Republik über Jahre stark erhitzt hat. Wir beraten heute darüber, weil morgen eine
wichtige Entscheidung im Bundesrat ansteht. Dort wird
darüber entschieden, wie die Legehennen in Zukunft gehalten werden, ob sie weiter in viel zu kleinen Käfigen
gehalten werden dürfen oder ob diese Art von Batteriekäfighaltung in Deutschland endlich ein Ende hat; deshalb der Antrag.
({0})
Die Diskussion darüber hat auch damit zu tun, dass es
ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1999
gibt, in dem sehr deutlich und klar gesagt worden ist,
dass die Batteriekäfighaltung in Deutschland dem Tierschutzgesetz widerspricht. Es geht darum, genau dieses
Urteil umzusetzen.
({1})
Dass ich heute hier stehe, hat auch etwas damit zu
tun, dass die Klägerin, die damals dieses Urteil erwirkt
hat, den Namen Bärbel Höhn trägt. Ich habe damals im
Namen der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen
genau dieses Urteil erwirkt. Ich muss sagen, ich finde es
gut, dass die Verfassungsrichter damals dieses Urteil gefällt haben. Es war notwendig, dass in einem Land wie
Deutschland mehr für den Tierschutz getan wird, gerade
auch für die Legehennen.
({2})
Dieses Gerichtsurteil ist sehr detailliert. Es besagt eindeutig, dass die Hennen verhaltensgerecht untergebracht
werden müssen: Sie müssen scharren können, sie müssen picken können, sie müssen eine Stange haben, auf
der sie sitzen können, sie müssen ein Nest zur Eiablage
haben und sie müssen flattern und sich aufbäumen können.
Genau das wird mit dem Vorschlag, der morgen im
Bundesrat zur Abstimmung steht, nicht erreicht. Früher,
bei der Batteriekäfighaltung, stand einer Henne eine Fläche zu, die kleiner war als ein DIN-A4-Blatt. Nach dem,
was Sie erreichen wollen und was morgen zur Abstimmung steht, soll eine Henne nun eine Fläche bekommen,
die etwas größer ist als ein DIN-A4-Blatt. Von etwas weniger als einem DIN-A4-Blatt zu etwas mehr als einem
DIN-A4-Blatt, das ist zu wenig, meine Damen und Herren; das ist nicht artgerecht.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Priesmeier von der SPD?
Bitte schön, Herr Priesmeier.
Frau Kollegin Höhn, ich zitiere aus dem Urteil:
Ob daneben auch weitere artgemäße Bedürfnisse
wie insbesondere das Scharren und Picken, die ungestörte und geschützte Eiablage, die Eigenkörperpflege, zu der auch das Sandbaden gehört, oder das
erhöhte Sitzen auf Stangen durch die in § 2
Abs. 1 und 2 HHVO getroffenen Regelungen über
die Käfighaltung unangemessen zurückgedrängt
werden, kann offen bleiben.
Das heißt, das Urteil sagt darüber sinnigerweise nichts
aus. Es ist in dem Zusammenhang zwar wünschenswert,
dass all diese Dinge umgesetzt werden, aber eine konkrete Aussage wird dort nicht getroffen. Stimmen Sie
mir da zu?
Herr Priesmeier, Sie haben eben sehr schön dargelegt,
was alles möglich sein muss, nämlich das Scharren, das
Picken usw. Aber auch die Größe der Käfige muss artgerecht sein.
({0})
Das, was Sie morgen auch mit den Stimmen der SPD im
Bundesrat beschließen wollen, ist nicht tierschutzgerecht, Herr Priesmeier; das ist eindeutig.
({1})
Es geht zum einen um die Fläche, aber es geht zum anderen auch um das Flattern. Wie soll denn eine Henne
flattern können, wenn sie in einem Käfig ist, der 45 bis
50 Zentimeter hoch ist, wie sich das Ihre SPD-Kollegen
aus Mecklenburg-Vorpommern und Herr Backhaus vorstellen? Da bringt es auch nichts, vielleicht noch
10 Zentimeter dazuzugeben, wie es Herr Seehofer will.
Bei einer Höhe von 45, 50 oder 60 Zentimetern kann
man nicht von einer Kleinvoliere sprechen.
Woher kommt denn der Begriff Voliere? Das kommt
aus dem Französischen und bedeutet „fliegen“. Wie will
man denn bei 60 Zentimetern Platz fliegen, Herr
Priesmeier? Können Sie mir diese Frage einmal beantworten? Das können Sie eben nicht. Trotzdem wollen
Sie morgen zustimmen.
({2})
Herr Priesmeier, ich bin hier wirklich sehr involviert.
Sie wissen, dass morgen darüber abgestimmt wird, ob die
Frist für die Batteriekäfighaltung, die Sie wahrscheinlich
genauso verurteilen wie ich - ich hoffe, dass Sie das tun -,
Ende dieses Jahres ausläuft oder ob sie um zwei Jahre
verlängert wird. Herr Priesmeier, was sagen Sie dazu?
Das ist das Gegenteil von artgerecht und das Gegenteil
dessen, was wir hier eigentlich beschließen sollten.
({3})
Ich sage das auch deshalb, weil es in Niedersachsen,
diesem schönen Bundesland, in dem ich lange gewohnt
habe, mit dem Einsatz von Nikotin bei der Massentierhaltung gerade wieder einen echten Skandal gibt. Wenn
es so ist, dass es Anfang dieses Jahres eine anonyme Anzeige gegeben hat, in der darauf hingedeutet wurde, dass
das Nikotin schon im letzten Jahr eingesetzt worden ist,
und die Behörden das seit Anfang dieses Jahres wussten,
dann frage ich mich, warum sie zweieinhalb Monate mit
den Untersuchungen gewartet haben, bei denen sie dann
immer noch Nikotin gefunden haben.
({4})
Wenn man davon ausgeht, dass es dort über 1 Million
Hennen gibt und jede dieser Hennen ein Ei pro Tag legt,
dann wurden in zweieinhalb Monaten 100 Millionen bis
150 Millionen nikotinbelastete Eier gelegt, die, wenn
wir Pech haben, auch in den Handel gekommen sind.
Diese Art von Käfighaltung wollen Sie aufrechterhalten,
Herr Priesmeier? Das kann doch wohl nicht Sinn der Sache sein. Wir sind dagegen.
({5})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Dieses Thema ist wichtig, aber es gibt noch ein anderes
Thema. Wir reden bei diesem Thema ja auch über das
Essen. Deshalb habe ich Ihnen etwas mitgebracht. Eier
haben ja auch etwas mit Ostern zu tun.
({6})
- Sie bekommen auch welche. Seit der Ausschusssitzung sind Sie ja mein spezieller Freund. - Stellvertretend für Sie alle - für die Fraktionen habe ich auch noch
einige Eierpäckchen - überreiche ich dem Bundestagsvizepräsidenten einen Karton Eier, damit er weiß, wie Eier
von glücklichen Hühnern schmecken.
Vielen Dank fürs Zuhören.
({7})
Ich hoffe, das wird meinen Cholesterinspiegel nicht
erhöhen.
Als nächster Redner hat der Kollege Franz-Josef
Holzenkamp von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Der Präsident des Deutschen Tierschutzbundes hat in einem Vortrag im Jahre 2004 das
Bestandsgefälle zwischen den großen Legehennenhaltern und den kleinen und mittleren Betrieben als dramatisch bezeichnet. Allein mit seiner kurzen Bestandsbeschreibung betritt er ein ideologisches Minenfeld, auf
dem sich auch die beiden Anträge von Bündnis 90/Die
Grünen und der Linken bewegen.
Im Übrigen: Wir Landwirte, die jeden Tag mit den
Tieren arbeiten, sind nachhaltig an Tierschutz interessiert. Frau Höhn, Sie sollten mit den Unterstellungen, die
Sie immer wieder machen, sehr vorsichtig sein.
({0})
Die Botschaft, die in diesen Aussagen steckt, ist einfach: Ein großer Hennenhaltungsbetrieb mit einem hohen Technisierungsgrad ist schlecht, Freiland- und Bodenhaltungsbetriebe mit wenig Technik sind gut. Meine
Damen und Herren von Grün und von Links, wachen Sie
endlich aus Ihrer Agrarromantik auf!
({1})
Wir leben nicht auf einer Insel der Glückseligen, wo es
ausreicht, ein paar lustig gackernden Hühnern morgens
die Eier aus dem Nest zu holen.
({2})
Genug der Ironie; denn Ihre Anträge sind alles andere
als lustig. Wenn wir Ihre Forderungen umsetzten, würden auf einen Schlag - hören Sie jetzt bitte genau zu etwa 40 000 Arbeitsplätze verloren gehen.
({3})
Es geht um 40 000 betroffene Familien. Frau Höhn, Sie
haben Recht: Sie sind tatsächlich das Schicksal der deutschen Hühnerhalter.
Vor welcher Ausgangslage stehen wir? Die Globalisierung macht auch vor der Agrarwirtschaft nicht Halt.
Die Wettbewerber unserer Geflügelproduzenten stehen
direkt vor unserer Tür.
({4})
Schauen Sie nach Polen oder in die Tschechei! Ich habe
mich erst kürzlich mit Gänsehaltern getroffen. Viele dieser Betriebe haben fürchterliche Probleme; darüber haben wir heute im Ausschuss gesprochen. Einige stehen
kurz vor dem Aus. Der deutsche Verbraucher kauft eben
lieber die polnische Gans. Warum? Sie ist einfach billiger.
Herr Kollege Holzenkamp, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höfken?
Selbstverständlich, Frau Höfken.
Herr Holzenkamp, Sie haben gerade eine Schmährede
in Bezug auf Frau Höhn und die Grünen gehalten.
({0})
Ist Ihnen bekannt, dass das, was sich im Antrag der Grünen widerspiegelt, die geltende Gesetzeslage ist, der im
Übrigen die unionsgeführten Länder im Bundesrat zugestimmt haben? Deswegen kann dies mitnichten die Folgen haben, die Sie hier vollmundig beschreiben, etwa
den Wegfall von 40 000 Arbeitsplätzen.
Ist Ihnen auch bekannt, dass sich ein Großteil der Verbraucher inzwischen auf Boden- und Freilandeier umgestellt hat? Bei der Warenhauskette Real zum Beispiel
konnte der Absatz an Boden- und Freilandeiern von
30 Prozent dauerhaft auf 70 Prozent gesteigert werden.
Ist Ihnen darüber hinaus bekannt, dass ein großer Anteil der Boden- und Freilandeier, deren Absatz sich in
Deutschland verdoppelt hat, aus den Niederlanden und
Frankreich kommt und Sie mit Ihrer dummen Politik
verhindern, dass sich die deutschen Betriebe auf diese
Marktlücke einstellen und somit ein Hemmnis in der
Entwicklung zu einer tiergerechten Produktion darstellen?
Erst einmal vielen Dank, Frau Höfken, für die Frage. Erstens, zur rechtlichen Situation. Verfolgen Sie meine
weiteren Ausführungen; denn ich werde darauf eingehen. Zweitens, zum Markt. Glauben Sie mir, ich habe jeden Tag mit dem Markt zu tun. Ich weiß, was Markt ist.
({0})
Gegen diese Marktmacht aus Größe und extrem niedrigen Produktionskosten können wir nur bestehen, indem wir auch in Deutschland kostengünstig produzieren.
Das hat eine ganze Menge mit der Größe einer Betriebseinheit zu tun. Aber wir sind uns in einem Punkt vollkommen einig: Die Ökonomie darf natürlich nicht auf
Kosten des Tierschutzes gehen. Die Herausforderung an
die moderne Landwirtschaft liegt gerade darin, mit einer
wettbewerbsfähigen Produktion in einer globalisierten
Konkurrenzsituation zu bestehen, ohne gleichzeitig die
berechtigten Ansprüche des Tierschutzes, des Verbraucherschutzes und des Umweltschutzes zu vernachlässigen.
({1})
Dieser Herausforderung hat sich die Geflügelwirtschaft definitiv gestellt. Basierend auf dem Beschluss
des Bundesverfassungsgerichts hat sie unter Federführung der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft in
Celle und der Tierärztlichen Hochschule Hannover über
mehrere Jahre ein wissenschaftlich fundiertes Haltungsverfahren, die so genannte Kleinvoliere, entwickelt. An
dieser Stelle möchte ich ein Dankeschön an unseren Koalitionspartner richten, dass die Kleinvoliere jetzt
kommt. Ich sage ganz ehrlich, dass ich mir ein bisschen
mehr gewünscht habe. Ein Wort zu den Grünen: Wenn
Sie weiter vom Käfig reden wollen, dann reden Sie meinetwegen vom Käfig. Für uns ist das eine moderne,
nachhaltige und zukunftsträchtige Kleinvoliere.
({2})
Warum sage ich das? Die Studien der Tierärztlichen
Hochschule Hannover sprechen eine sehr deutliche
Sprache. Zusammengefasst lautet das Ergebnis, dass die
Kleinvoliere in Bezug auf Tiergesundheit, das Verhalten
der Tiere, Umweltbelastung, Tierbetreuung, Arbeitsplatzqualität, Produktqualität und Produktionskosten den
übrigen Haltungsformen deutlich überlegen ist.
({3})
Denken Sie nur an unser aktuelles Problem: die
Vogelgrippe. Dabei wird deutlich, dass im Sinne des
Tier- und Verbraucherschutzes die Stallhaltung unverzichtbar ist.
({4})
Es gibt sogar Altersheime, die auf Eier aus Bodenhaltung verzichten.
({5})
Die Ergebnisse der Forschungsinstitute belegen, dass
die Kleinvoliere nicht nur die Tierschutzkriterien der
EU-Richtlinie erfüllt; sie geht sogar weit darüber hinaus.
Herr Holzenkamp, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Höhn?
Ich möchte meine Ausführungen jetzt gerne zu Ende
bringen.
({0})
Die Tierschutzkriterien, die die Kleinvoliere erfüllt,
gehen weit über die Tierschutzkriterien der EU-Richtlinie hinaus.
({1})
Deutschland nimmt bei der Kleinvolierenhaltung weltweit eine Vorreiterrolle im Tierschutz ein. Vor diesem
Hintergrund erscheinen mir die Anträge der Fraktionen
Die Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen obsolet.
Das ist auch wissenschaftlich bewiesen.
({2})
Erlauben Sie mir, auf einen weiteren Punkt aus dem
Antrag der Linken einzugehen. Sie stellen darin die Behauptung auf, dass tiergerechte Legehennenhaltung von
den Verbrauchern honoriert werde. Ich entkleide Ihre
Worte einmal des ideologischen Mäntelchens und formuliere sie anders: Ihrer Meinung nach bevorzugt der
Verbraucher bei seinem Kauf die teureren Eier aus Freiland- und Bodenhaltung. Das ist - meinetwegen auch
leider - schlichtweg falsch. Ich zitiere noch einmal
Herrn Apel:
Es gibt nicht den Verbraucher. Aber es fällt auf,
dass sich viele Verbraucher vor dem Supermarkt für
den Tierschutz aussprechen und im Supermarkt
dann eindeutig ins falsche Regal greifen.
Ich denke, Herr Apel hat damit zwar grundsätzlich
Recht, zieht aber genau wie Sie die falschen Schlüsse.
Die Menschen wollen zwar Tierschutz, aber er muss bezahlbar bleiben.
({3})
Für uns heißt das: Wir müssen in unseren Betrieben die
bestmöglichen Tierschutzstandards implementieren und
weiterentwickeln und gleichzeitig allen Verbrauchern
Produkte zu marktfähigen Preisen anbieten.
({4})
Ich will Betriebsformen und -größen nicht werten. Alles hat seine Daseinsberechtigung. Aber die Daseinsberechtigung wird letztlich am Markt entschieden.
({5})
Sie können doch nicht allen Ernstes glauben, mit dem
planwirtschaftlichen Vorschreiben der Betriebsform Arbeitsplätze zu erhalten, geschweige denn, welche schaffen zu können. Doch genau das tun Sie in Ihren Anträgen, meine Damen und Herren von den Grünen und den
Linken, frei nach dem Motto: „Weg mit den Großen, her
mit den Kleinen“.
Liebe Genossinnen und Genossen - wie ich Sie an
dieser Stelle einmal anreden möchte -,
({6})
das ist wirklich hohe marxsche Ökonomie. Wir alle wissen, dass das in der Vergangenheit schon nicht funktioniert hat. So funktioniert Wirtschaft auch nicht.
({7})
Sie glauben, in dem Modell der Schweiz, die die Käfighaltung seit 1991 verboten hat, den Heilsbringer gefunden zu haben.
({8})
Das würde die deutsche Geflügelwirtschaft nicht nur sichern, sondern sogar erweitern helfen. Von Frau Höhn
war heute in der „Frankfurter Rundschau“ die gleiche
Aussage zu lesen. Aber nur, weil zwei das Gleiche sagen, wird es noch lange nicht richtig. Betrachten wir
doch einmal die Schweizer Realität: Der Marktanteil inländischer Eier kann nur über massive Subventionierung
aufrechterhalten werden. Dort, wo die eidgenössischen
planwirtschaftlichen Gängelungen nicht greifen, nämlich bei Eiprodukten, sind die Importe in die Schweiz
stark angestiegen.
Ein anderes Beispiel ist Schweden. Schweden praktizierte bekanntlich für einige Jahre das Verbot der Käfighaltung. In der Boden- und Freilandhaltung nahmen die
Probleme von Kannibalismus und hoher Tiersterblichkeit derart überhand, dass Schweden das Verbot der Käfighaltung rückgängig gemacht und den modifizierten
Käfig wieder eingeführt hat. Wohlgemerkt, die neue
schwedische Käfighaltung fällt in Sachen artgerechte
Haltung hinter unsere deutsche Kleinvoliere zurück.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
In wissenschaftlichen Untersuchungen wird davon
ausgegangen, dass dann, wenn Ihre Anträge Realität
werden, der Selbstversorgungsgrad mit Eiern in
Deutschland von derzeit 70 auf 35 Prozent zurückgehen
wird.
Herr Kollege Holzenkamp!
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Wir exportieren dann unsere Arbeitsplätze und importieren
schlechtere Produkte, die wir selber viel besser herstellen können. Gleichzeitig sinken die Tierschutzstandards.
Abschließend möchte ich noch Folgendes wiederholen.
Nein, bitte nichts mehr wiederholen, Herr
Holzenkamp.
Es geht um 40 000 Existenzen und um Wirtschaftsinvestitionen. Stürzen Sie die Menschen nicht ins Unglück!
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Michael
Goldmann von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir behandeln zu später Stunde auch den Antrag der FDP „Keine Wettbewerbsverzerrungen für
Landwirte durch die Umsetzung der EU-Richtlinie zur
Haltung von Nutztieren in nationales Recht“. Damit man
weiß, worüber wir reden, eine kleine Erklärung: Gemeint ist die Haltung von Tieren jeder Art, wie
Schweine, Geflügel und Rinder. Es geht um Tierschutz,
Wettbewerb und Arbeitsplätze.
Als wir in den Bundestagswahlkampf hineingingen,
haben wir, die FDP, und die CDU/CSU das nationale
Überziehen von Frau Künast massiv kritisiert. Ich habe
Veranstaltungen erlebt, auf denen Frau Künast nicht zu
Wort gekommen ist, weil die Landwirte sie so sehr bedrängten und forderten: Das darf nur eins zu eins in nationales Recht umgesetzt werden. Die Oberkämpfer für
diese Linie waren die Freunde von der CDU/CSU. Aber
was ist von euch geblieben? Morgen werden zwei Verordnungen, mit denen europäisches Recht in nationales
umgesetzt wird, beschlossen, die weit über die europäische Vorgabe hinausgehen.
({0})
- Geschätzte Frau Kollegin Wolff, dass Sie klatschen,
kann ich verstehen. Aber ich bin froh darüber, dass ich
zumindest Betroffenheit bei den Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU auslöse.
Herr Schirmbeck, ob Sie es mir glauben oder nicht, es
geht mir an die Nieren, dass vor der Bundestagswahl und
in einer Regierungserklärung von Frau Merkel etwas
versprochen wird, dass aber dann auf Veranlassung von
Herrn Minister Seehofer und Frau Merkel im Bundesrat
etwas völlig anderes beschlossen wird. Mir geht es an
die Nieren, dass auf unsere landwirtschaftlichen Betriebe bei der Schweinehaltungsverordnung eine zusätzliche Belastung in Höhe von durchschnittlich
65 000 Euro zukommt, und das vor dem Hintergrund der
Schweinepest, eines absoluten Stillstands in NordrheinWestfalen. Das geht mir ans Herz. - Herr Holzenkamp,
Sie sollten bitte zuhören. Ich wundere mich, dass die
Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU lachen;
denn Sie werden bestimmt zur Kenntnis genommen haben, dass Sie morgen eine Legehennenverordnung beschließen, die dazu beiträgt, Mecklenburg-Vorpommern
von jeder Form der Legehennenhaltung zu befreien. Um
das ganz klar zu sagen: Ihre Altanlagenregelung wird
dazu führen, dass die Produktion nicht mehr in Mecklenburg-Vorpommern stattfindet, sondern in unmittelbarer
Nachbarschaft, in Polen. Das bedeutet Arbeitsplatzverluste in Deutschland.
({1})
Ihre antragsgebundene Verlängerung steht in krassem
Widerspruch zu Ihren Aussagen zum Bürokratieabbau.
Sie werden ein Bürokratiemonster erschaffen, das seinesgleichen sucht.
({2})
Herr Kollege Goldmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Klöckner?
Ja, gerne.
({0})
- Sie brauchen sie nicht aufzufordern, mich niederzumachen. Ich glaube, Sie haben das Thema des heutigen
Abends nicht ganz verstanden.
Bitte schön, Frau Klöckner.
Lieber Herr Kollege Goldmann, stimmen Sie mir zu,
dass morgen im Bundesrat auch FDP-mitregierte Bundesländer diesem Antrag zustimmen und auch Sie beteiligt sind?
({0})
Geschätzte Frau Kollegin, wie Sie wissen, haben wir
in keinem der Länder, in denen wir mitregieren, die Regierungsverantwortung.
({0})
- Warum lachen Sie so? Wissen Sie nicht, dass der Ministerpräsident, der hier eine entscheidende Rolle spielt,
der niedersächsische Ministerpräsident Wulff ist?
({1})
Wissen Sie nicht, dass der Ministerpräsident aus BadenWürttemberg hier eine ganz entscheidende Rolle spielt?
({2})
Wissen Sie nicht - das zum Thema Mitregieren -, dass
wir uns heute Abend mit dem niedersächsischen Wirtschaftsminister treffen, um zu retten, was in dieser Frage
zu retten ist? Wissen Sie nicht, dass wir aus Südoldenburg, aus dem Emsland, aus der Region, aus der Herr
Holzenkamp kommt, in Massen von Mails aufgefordert
werden, das zu verhindern, was Sie morgen im Bundesrat beschließen?
({3})
- Warten wir das erst einmal ab! - Wissen Sie nicht, dass
in der letzten Woche im Agrarausschuss eine Regelung
getroffen wurde, die wir mitgetragen haben? Wissen Sie
nicht, dass Herr Minister Seehofer diese Regelung um
zwei Jahre vorgezogen hat und dass dies dazu führen
wird,
({4})
dass wir Arbeitsmarktprobleme bekommen werden und
der Tierschutz ins Ausland verlagert wird?
Herr Kollege Goldmann, haben Sie die Frage der Frau
Klöckner beantwortet?
Ich habe die Frage der Frau Klöckner relativ einfach
beantwortet.
({0})
Es war doch nicht so schwer zu verstehen, dass wir Regierungsbeteiligungen haben, Frau Kollegin Klöckner,
und dass Sie - ({1})
- Frau Klöckner, Sie brauchen sich jetzt nicht so zu benehmen.
({2})
Sie sind ja sonst sehr angriffsfreudig.
Herr Kollege Goldmann, erlauben Sie eine weitere
Zwischenfrage der Kollegin Klöckner?
Ja, gerne. Aber ich will erst einmal die erste Frage beantworten.
({0})
Würden Sie, geschätzte Frau Kollegin Klöckner, in
einer solchen Situation, zum Beispiel beim Weinabkommen, die Koalitionskarte ziehen? Haben nicht auch Sie
beim Weinabkommen, das Rheinland-Pfalz nicht unbedingt nach vorne bringt - als ehemalige Weinkönigin
werden Sie das wissen -, dafür plädiert, dass wir eine
europäische Regelung bekommen, die der Interessenlage
Ihres Landes und dem internationalen Wettbewerb Rechnung trägt?
({1})
Sie sollten hier nicht die Verantwortung abschieben. Sie
haben „eins zu eins“ versprochen und Sie machen morgen ganz eindeutig nicht „eins zu eins“. Das ist Wahlbetrug und das wissen Sie ganz genau.
Frau Klöckner, bitte schön. Aber ich bitte jetzt um
eine kurze Frage und auch um eine kurze Antwort.
Da können Sie sicher sein.
({0})
Bitte.
Ich muss sagen, ich bin etwas irritiert. Zuerst haben
Sie, Herr Kollege Goldmann, gesagt, Sie hätten die
Frage einfach beantwortet, und dann wollten Sie sie beantworten, weil sie noch nicht beantwortet war. Das irritiert etwas.
({0})
Eine kurze Nachfrage: Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihre Aussage dahin geht, dass in einer Koalition von zwei Partnern der Juniorpartner nicht in Regierungsverantwortung steht, sondern nur der große
Partner?
Wir gehen davon aus, dass wir in Regierungsmitverantwortung stehen. Das reicht uns.
({0})
Aber, liebe Frau Klöckner, wir sind hier, wie Sie wissen,
nicht im Bundesrat, sondern im Bundestag. Es ist schon
sehr interessant, wie Sie nachher abstimmen werden.
Wir haben einen Antrag eingebracht. - Frau Klöckner,
hören Sie doch wenigstens zu! Sonst haben Sie es wieder
nicht verstanden.
({1})
Wenn Sie unseren Antrag gelesen haben - ich nehme an,
Sie haben ihn gelesen; er ist ja nicht sehr lang -, werden
Sie festgestellt haben, dass darin steht: europäische Vorgabe eins zu eins in nationales Recht umsetzen. Sie haben bei mindestens fünfzig Wahlveranstaltungen vor der
Bundestagswahl gesagt,
({2})
dass Sie für eine Eins-zu-eins-Umsetzung sind.
({3})
Deswegen sage ich hier ganz klar: Sie haben in dieser
Frage Wahlbetrug begangen und sonst überhaupt nichts.
({4})
Es gibt in dieser Regelung, die möglicherweise morgen im Bundesrat zum Tragen kommt, einen Punkt, den
Sie, liebe Frau Höhn, nicht so kritisch sehen sollten, wie
Sie es getan haben. Dabei geht es um die Kleinvoliere.
Wir sind mit Ihnen völlig einer Meinung: Der alte Käfig
muss verschwinden; das ist überhaupt keine Frage.
({5})
- Frau Höhn, das haben wir immer gesagt.
({6})
- Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen möchten, dann
sollten Sie sich dazu melden. Ansonsten müssen Sie sich
noch eine Minute das anhören, was ich sagen möchte.
Ich habe schon Ihrer Kollegin, Frau Künast, gesagt:
Käfig ist nicht gleich Käfig. Mit einer solchen Aussage
blamieren Sie sich im Grunde genommen. Sie wissen
ganz genau, dass es auf die Ausgestaltung der Haltung
ankommt. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht gesagt, dass Käfige verboten sind. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Man muss eine tierartgerechte Haltungsform finden. - Sie haben das Aufständern, das
Scharrvermögen und die Eiablage angesprochen. Wenn
die Käfigform den Kriterien der tierartgerechten Haltung
entspricht, dann ist artgerechte Haltung möglich. Was
die Kleinvoliere angeht, machen wir uns auf den Weg zu
mehr artgerechter Haltung.
({7})
Sie wissen ganz genau, dass die Werte 60 Zentimeter
Höhe - was die Kleinvoliere angeht, wird morgen möglicherweise ein entsprechender Beschluss gefasst - und
800 Quadratzentimeter Bodenfläche fachwissenschaftlich als artgerecht gelten. Deswegen sollten Sie hier meiner Meinung nach keinen Nebenkriegsschauplatz eröffnen. Vielmehr sollten Sie schlicht und ergreifend sagen:
Das, was morgen beschlossen wird, ist zwar mit Sicherheit keine Eins-zu-eins-Umsetzung, aber es ist weiß Gott
eine Weiterentwicklung der bisherigen Käfigbedingungen. Dies bedeutet einen verbesserten Tierschutz.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wilhelm
Priesmeier von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Man kann die Problematik der Hennenhaltung unter den verschiedensten Aspekten diskutieren.
Ein wichtiger Aspekt sind natürlich ethische Vorgaben
für die Nutztierhaltung. Der Tierschutz ist dabei ein hohes Gut. Es kommt aber auch darauf an, die unterschiedlichen Interessen gegeneinander abzuwägen. Unseren
Nutztieren nutzt letztendlich nur der hohe Tierschutzstandard, den wir in Deutschland haben. Uns nützt der
Tierschutz in anderen europäischen Ländern, wo er unter Umständen nicht oder nicht in diesem Maße betrieben wird, überhaupt nichts.
({0})
Er nützt auch dem Konsumenten nichts.
Wir haben hier lange Zeit darüber diskutiert. Eine
meiner ersten Reden in diesem Hohen Hause hatte die
Hennenhaltung zum Thema. Das zeigt, wie lange wir
uns damit schon beschäftigen. Mittlerweile haben einige
historische Ereignisse stattgefunden, zum Beispiel der
Osnabrücker Hühnerfrieden,
({1})
der nicht gehalten hat. Der Bundesrat hat am
19. Dezember 2004 einen Beschluss gefasst, der genau
das beinhaltet, was morgen im Bundesrat mit einiger
Wahrscheinlichkeit wiederum beschlossen werden wird.
Den damaligen Gesetzentwurf hat Ministerin Künast
nicht unterschrieben. Man kann sich darüber streiten, ob
wir zwei Jahre verloren haben. Ich glaube, ja. Man hätte
diesen Schritt schon vor zwei Jahren vollziehen können.
Wenn man einen Vergleich zieht zwischen dem ausgestalteten Käfig, der Voliere, der Hühner-WG - wie
auch immer man das nennen mag; ich will das jetzt nicht
verniedlichen -, und dem, was 1999/2000 in diesem Bereich Standard war, der erkennt sehr wohl, dass erhebliche Fortschritte gemacht worden sind. Jedes der zurzeit
existierenden Hennenhaltungssysteme ist durch Intensität gekennzeichnet und mit Vor- und Nachteilen versehen. Jedes solche System bringt spezifische Probleme
mit sich. Ein System hat zwar den Nachteil, dass die
Hühner einen eingeschränkten Bewegungsraum haben
und auf Gitterdraht gehalten werden, dafür aber den Vorteil, dass bestimmte Standards im Bereich Hygiene
- Stichwort „Keimfreiheit“ und „Schutz vor bestimmten
Krankheiten“ - eingehalten werden können. Ein anderes
System, das der Boden- und Freilandhaltung, ist dem
Problem der Koprophagie ausgesetzt: Hühner neigen
dazu, ihre Ausscheidungen zu fressen, und dadurch gibt
es ganz bestimmte Erkrankungen und Krankheitssymptome.
Wir haben zur wissenschaftlich exakten Beurteilung
solcher Systeme keine Kriterien, mit denen man das
Wohlbefinden und das Wohlverhalten von Hühnern im
Käfig messen kann.
Also müssen wir uns an Kriterien orientieren, die objektivierbar sind. Das sind zum einen die Mortalität und
zum anderen der Gesundheitszustand. Insofern gibt es
bei der bisherigen Freiland- oder auch Bodenhaltung
Vorteile, aber auch noch erhebliche Probleme. Das gilt
es gegeneinander abzuwägen. Es gilt auch, eine vernünftige Entscheidung dazu zu treffen, wohin man sich in
Zukunft bewegen möchte.
Wir wollen demnächst - im Augenblick sind von etwa
38 Millionen Hühnern noch 30 Millionen in Systemen
mit eingeschränkter Bewegungsmöglichkeit - zumindest
50 Prozent in die Boden- und oder Freilandhaltung
bekommen - mit all den Schwierigkeiten, die in dem Zusammenhang noch zu bewältigen sind; denn an sich müssen
alle drei Systeme weiterentwickelt werden. Sie bedürfen
bei ihrer Entwicklung einer erheblichen wissenschaftlichen und auch wirtschaftlichen Unterstützung.
Es kommt auch darauf an - das habe ich letzte Woche
von der großen Tierschutzkonferenz der Kommission in
Brüssel mitgenommen -, dass wir in Europa an vorderster Stelle stehen, dass wir diese Standards, die erheblich
über dem liegen, was im Jahr 2012 auf der EU-Ebene
verpflichtend sein wird, weiter ausbauen und im Rahmen des Aktionsplans Tierschutz versuchen - das rege
ich gegenüber der Bundesregierung an -, diese Standards auf der europäischen Ebene zu etablieren, damit es
dort nicht zu Wettbewerbsverzerrungen kommt.
Fakt ist, dass wir die Nachfrage von Verbrauchern
- dabei geht es um die Schaleneier, die im Laden verkauft werden - aus Freiland- oder Bodenhaltung befriedigen können. Dass wir aus den anderen EU-Ländern
oder aus dem sonstigen Ausland Eier aus Boden- oder
Freilandhaltung importieren, liegt häufig daran, dass unsere Preise von Anbietern aus diesen Ländern unterboten
werden. Es gibt natürlich die Möglichkeit, Eier zu importieren; das ist ja ein ganz normaler Markt.
Es geht auch um den Bereich der Verarbeitung von
Schaleneiern zu Eiprodukten. Diesen Bereich gibt es in
der Schweiz nicht mehr. In der Schweiz liegen ganz besondere Konstellationen vor. Deshalb kann man die
Schweiz in der Geflügelhaltung nicht zum Modell für
Deutschland machen, auch nicht zum Modell für die
Niederlande oder für Belgien.
Mit dem, was wir morgen hoffentlich als Beschluss
des Bundesrates bekommen werden, werden wir zunächst einmal ein System etablieren, was nicht statisch
ist, was also nicht dauerhaft festgeschrieben wird, sondern mit dem wir das umsetzen, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben und was uns Sozialdemokraten
natürlich sehr am Herzen liegt, nämlich den TierschutzTÜV, also eine Prüfung von industriell hergestellten
Haltungssystemen nach entsprechenden Kriterien unter
Beteiligung von Tierschützern, Ethologen, Beteiligten
aus der Produktion und Herstellern. Es wird eine Systematik etabliert, wie sie die Schweiz schon hat und wie
sie demnächst auch Österreich haben wird; in Österreich
gibt es nämlich ein neues Tierschutzgesetz, in dem das
ebenfalls geregelt wird. Da befinden wir uns, glaube ich,
auf einem ganz guten Weg.
Es geht darum, die Entwicklung von Haltungssystemen nicht aus einer emotionalen Ebene heraus zu betrachten, sondern zu versuchen, das anhand von wissenschaftlichen Kriterien fassbar zu machen. Es nützt uns
wenig, wenn wir in dieser Gesellschaft im Einzelfall aus
der Kuscheltierperspektive darüber diskutieren, was
denn - vermeintlich - die Bedürfnisse von Tieren sind.
Die Hühner, die heute gehalten werden, sind nicht mehr
mit dem Bankivahuhn zu vergleichen, das vor
1 000 oder 2 000 Jahren irgendwo in Indien mal am
Waldrand gesessen hat. Heute haben wir hoch gezüchtete Rassen, die unter bestimmten Bedingungen an
bestimmte Verhältnisse adaptiert sind, die aber selbstverständlich einen großen Teil ihrer normalen Verhaltensweisen behalten. Darauf muss man Rücksicht nehmen;
denn Tiere, die nicht artgerecht gehalten werden, liefern,
ökonomisch gesehen, natürlich nicht die entsprechenden
Produkte und Ergebnisse.
Wir kommen schon wesentlich weiter, wenn es uns
gelingt, unter dem Aspekt der artgerechten Tierhaltung
entsprechende Kennzeichnungen für den Verbraucher
vorzunehmen. Aber es hilft nicht viel weiter, hier erregte
Diskussionen zu führen und uns vorzustellen, dass spätestens am 31. Dezember 2006 30 Millionen Hennen abgeschlachtet werden müssen. Wenn das der Fall wäre,
müssten alle Geflügelschlachthöfe in Deutschland wahrscheinlich wochenlang im Dreischichtbetrieb Überstunden fahren. Das können wir nicht leisten und das wird
auch niemand verlangen.
({2})
Aber auch, wenn unser Selbstversorgungsgrad wesentlich sinkt, wird die Nachfrage nach Eiern in Europa
nicht plötzlich um das Doppelte ansteigen. Das hat Auswirkungen auf den Markt, auf das Preisgefälle, auf die
Arbeitsplätze, auf den vor- und nachgelagerten Bereich.
Das Argument, dass Bodenhaltung oder Freilandhaltung
arbeitsintensiver ist, trifft zu. Aber dafür werden durch
die Produktion im vor- und nachgelagerten Bereich wesentlich mehr Arbeitsplätze gesichert als in dem primären Bereich allein.
Der Bereich ist sehr differenziert zu sehen, auch hinsichtlich der Größenordnung. Ich glaube, jeder, der sich
in Zukunft engagieren möchte, hat eine Chance. Dazu
werden entsprechende Programme aufgelegt, zum einen
finanziert aus dem Haushalt 2006, zum anderen aber
auch über die Rentenbank oder die GhK, sodass Betriebe, die auf Bodenhaltung umsteigen wollen, finanzielle Unterstützung finden und entsprechende Perspektiven im Markt erwarten können. Aber es kommt auch
darauf an, die Standards letztendlich nicht zu zementieren, sondern weiterzuentwickeln.
In diesem Sinne, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns gemeinsam an der Verbesserung
des Tierschutzstandards in Deutschland arbeiten. Da
sind weder die Hennenhaltung noch andere Bereiche
ausgeschlossen.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Leider zu später Stunde soll über das Schicksal von
39 Millionen Legehennen diskutiert werden.
({0})
Inzwischen ist die Frage, ob Legehennen in Käfigen leben sollen und wie groß diese dann sein sollen, zu einer
Glaubensfrage hochstilisiert worden. Es ist aber keine
Glaubensfrage. Schließlich hat sich das Bundesverfassungsgericht dazu schon im Jahre 1999 - das ist sieben
Jahre her, meine Damen und Herren - eindeutig geäußert:
Eine artgerechte Unterbringung muss den grundlegenden
Verhaltensbedürfnissen von Hühnern entsprechen.
({1})
Das heißt - es wurde schon zitiert -: scharren, picken,
sandbaden sowie erhöht auf Stangen sitzen, ungestörte
und geschützte Eiablage, sich aufbäumen.
Ich verstehe nicht, meine Damen und Herren, warum
Sie sich da jetzt so aufregen und was daran missverständlich ist. Ich verstehe erst recht nicht, warum gerade
dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts immer wieder in Zweifel gezogen wird.
({2})
Bei anderen Urteilen tun Sie das nicht; die nehmen Sie
so hin.
Damals bei der Anhörung im Bundestag - ich war dabei - wurden genau die gleichen Argumente vorgetragen. Daran hat sich nichts geändert. Aber sie werden
nicht richtiger, wenn sie immer wieder neu hervorgekramt werden.
Immer wieder wird das Festhalten an den Hühnerkäfigen mit der notwendigen Wettbewerbsfähigkeit begründet; sonst würde die Eierproduktion ins Ausland
wandern. Solche Argumente höre ich zu jedem x-beliebigen Thema, zum Beispiel AEG: Wenn ihr nicht billiger werdet, verlagern wir die Produktion ins Ausland.
({3})
Herr Holzenkamp hat sich dieses Arguments wieder bedient. Er hat sogar Karl Marx zitiert.
({4})
Herr Holzenkamp, ich kann Ihnen nur sagen: Zu Karl
Marxens Zeiten gab es noch keine Hühnerlegebatterien,
der konnte sich nicht geäußert haben.
({5})
Natürlich werden Eier im Ausland billiger produziert.
Aber den Wettbewerb um das billigste Ei werden wir sowieso verlieren. Wir können auch noch einmal über den
Mindestlohn in Europa diskutieren;
({6})
er ist dringend notwendig. Wenn in großen Hühnerlegebatterien in Niederbayern den Leuten die Löhne gekürzt
werden, dann ist das eine Sauerei.
({7})
Andererseits importiert Deutschland inzwischen Millionen von Eiern aus artgerechter Haltung aus Ländern wie
den Niederlanden.
Frau Kollegin Bulling-Schröter, erlauben Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Schirmbeck?
Ja.
Verehrte Frau Kollegin, Sie haben gerade Karl Marx
zitiert. Stimmen Sie mir zu, dass es ein Ergebnis der modernen Landwirtschaft, die Sie kritisieren, ist, dass sich
heute alle Arbeiter in Deutschland täglich ein Frühstücksei und regelmäßig ein Stück Fleisch leisten können? Das ist etwas, wovon man zu Zeiten von Karl Marx
gar nicht zu träumen gewagt hätte.
Ich stimme Ihnen zu, dass sich Arbeiterinnen und Arbeiter Eier und Fleisch leisten können. Aber unabhängig
davon denke ich, dass diese Menschen Eier und Fleisch
aus tiergerechter Haltung wollen.
({0})
Die Holländer haben die Zeichen der Zeit erkannt und
eben schon eher umgestellt. Denn sie wissen, dass immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher genau hinsehen, wie die Lebensmittel, die sie kaufen, produziert
werden.
Ich frage die Befürworter der Batteriehaltung: Sehen Sie nicht eine Chance, hier Marktanteile zurückzugewinnen, indem genau die Lebensmittel produziert
werden, die die Mehrheit der Verbraucherinnen und Verbraucher wünscht?
Wir reden jetzt einmal über Preise. Sachverständige
haben uns die Preisdifferenz genannt: Ein Ei aus tiergerechter Haltung ist, wenn alles gut läuft, um 0,4 Cent
teurer. Ich bitte Sie! Wir reden also nur über 0,4 Cent.
Natürlich nimmt gerade unsere Fraktion die Angst vor
dem Verlust von Arbeitsplätzen sehr ernst.
({1})
Aber wir müssen auch mittel- und langfristig denken:
Eine artgerechte Haltung von Legehennen schafft mehr
Arbeitsplätze und bessere Arbeitsbedingungen.
({2})
Sie bietet die Möglichkeit zu einer regionalen Vermarktung.
({3})
- Es gibt dazu sogar ein Programm der CSU. Warum regen Sie sich also darüber auf? - Auch wir wollen diese
regionale Vermarktung.
({4})
Um dies zu unterstützen fordern wir in unserem Antrag, die vom Bundestag beschlossene Förderung der
tiergerechten Geflügelhaltung ohne Einschränkung beizubehalten. Gerade in den neuen Bundesländern wurden
im Geflügelbereich schon in den 90er-Jahren Investitionen getätigt. Wir möchten nicht, dass diese Firmen durch
die Umstellung in Existenzschwierigkeiten geraten.
Auch sie sollen die Möglichkeit erhalten, über Sonderkreditprogramme die Haltung der Tiere auf artgerechte
Haltungssysteme umzustellen. Das bedeutet für uns eben
nicht Kleinvolieren.
Mein Kollege Wunderlich - er ist Jurist - hat es einmal ausgerechnet. Ein Huhn mit einem Gewicht von
2 Kilo soll auf 800 Quadratzentimetern leben.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Das bedeutet für einen Mann mit einem Gewicht von
90 Kilogramm, dass ihm, wenn Sie so entscheiden, in
Zukunft 3,6 Quadratmeter zum Wohnen zustehen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/839 und 16/1128 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Zusatzpunkt 7. Es geht um die Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz auf Drucksache 16/1142 zu dem Antrag
der Fraktion der FDP mit dem Titel „Keine Wettbewerbs-
verzerrungen für Landwirte durch die Umsetzung der
EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren in nationales
Recht“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-
sache 16/590 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen sowie der Fraktion Die Linke mit einer Enthal-
tung und gegen die Stimmen der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Gegen rechtsstaatsfreie Räume - Sicherheitsüberprüfungen im Rahmen von Akkreditierungsverfahren bedürfen einer Rechtsgrundlage
- Drucksache 16/577 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke
Stokar von Neuforn, Volker Beck ({1}), Monika
Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Kein Generalverdacht bei den Sicherheitsüberprüfungen zur Fußballweltmeisterschaft
- Drucksache 16/686 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Alle Reden sollen zu Protokoll genommen werden1).
Es handelt sich um die Wortmeldungen der Kollegin
Beatrix Philipp von der CDU/CSU, des Kollegen
Wolfgang Gunkel von der SPD, der Kollegin Gisela
Piltz von der FDP, der Kollegin Ulla Jelpke von der Linken und der Kollegin Silke Stokar von Neuforn vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/577 und 16/686 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Josef Philip Winkler, Marieluise Beck
({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Kinderrechte in Deutschland vorbehaltlos umsetzen - Erklärung zur UN-Kinderrechtskonvention zurücknehmen
- Drucksache 16/1064 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
1) Anlage 7
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Josef Winkler vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Deutsche Bundestag hat bereits mehrfach
die Rücknahme der Erklärung zum Übereinkommen
über die Rechte des Kindes, der so genannten UN-Kinderrechtskonvention, gefordert, welche die damalige
Bundesregierung bei der Ratifizierung 1992 hinterlegt
hat. Diese Beschlüsse des Deutschen Bundestages sind
bislang von der Regierung nicht umgesetzt worden.
({0})
- Das ist richtig, Frau Lenke.
({1})
Gestern jährte sich der Tag des In-Kraft-Tretens der
Kinderrechtskonvention zum 14. Mal. Die Bundesregierung muss diesen längst überfälligen Schritt endlich
vollziehen. Dies ist das Anliegen des von meiner Fraktion vorgelegten Antrags.
({2})
Im Interesse des Wohls aller hier lebenden Kinder sowie um einer glaubwürdigen Kinderpolitik willen ist
die Aufrechterhaltung der Vorbehaltserklärung nicht vertretbar. Auch die außenpolitische Glaubwürdigkeit der
Bundesrepublik im Hinblick auf die konsequente Umsetzung von Kinderrechten ist durch die Erklärung erheblich beeinträchtigt.
({3})
- Frau Lenke, das können Sie doch gar nicht bestreiten.
Regen Sie sich nicht so auf! Stellen Sie mir eine Zwischenfrage! Dann habe ich ein bisschen mehr Redezeit.
Vier Minuten sind kurz.
({4})
Um welche konkreten Rechte geht es denn hier? Die
Handlungsfähigkeit im Asylverfahren soll mit 18 Jahren und nicht wie bisher mit 16 Jahren beginnen. Als
Folgewirkung daraus würden unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge in diesem Alter aus dem Flughafenverfahren
herausfallen, nicht mehr in Sammelunterkünfte mit ihnen völlig unbekannten, anderen, fremden Flüchtlingen
untergebracht werden und würde die Drittstaatenregelung auf sie keine Anwendung finden. Sie würden stattdessen einer Jugendhilfeeinrichtung als Clearingstelle
zugeführt werden.
Minderjährige Flüchtlinge sollen Anspruch auf die
Gewährung von Kinder- und Jugendhilfe haben, und
zwar unabhängig von ihrem Status. Das betrifft vor allem Kindersoldaten und traumatisierte Flüchtlinge, eine
Gruppe, die uns besonders am Herzen liegen muss. Außerdem soll keine Abschiebehaft mehr für minderjährige
Flüchtlinge verhängt werden dürfen.
Deswegen halte ich es für anachronistisch, dass die
Bundesregierung so wie die Vorgängerregierung - damit
Sie nicht wieder dazwischenrufen müssen - unverändert
den Standpunkt vertritt, dass eine Rücknahme des so genannten Vorbehalts zur UN-Kinderrechtskonvention lediglich symbolischen Charakter hätte und von daher
nicht notwendig sei.
Kollege Winkler, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Lenke?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege, Sie haben sehr schamhaft verschwiegen, dass es in den letzten sieben Jahren eine rot-grüne
Bundesregierung gab.
({0})
Ich würde gerne von Ihnen wissen, warum Ihre Fraktion,
die den Außenminister gestellt hat, in dieser Koalition
bei zwei Koalitionsverträgen, die Sie geschlossen haben,
nicht die Kraft hatte, dies durchzusetzen. Jetzt sind Sie in
der Opposition. Wieso konnte das nicht geschehen, als
Ihre Fraktion und damit Sie persönlich an der Bildung
der Bundesregierung beteiligt waren?
Das ist eine sehr interessante Frage, die Sie da aufwerfen, Frau Kollegin.
({0})
Ich freue mich, darauf antworten zu können. Die Tatsache, dass der Außenminister von unserer Partei gestellt
wurde, ist sicherlich richtig. Das hat auch eine nachhaltige Wirkung hinterlassen.
({1})
Wir waren in der Regierungsverantwortung. Im Gegensatz zu dem, was Herr Goldmann eben gesagt hat, stelle
ich fest: Wenn wir in der Regierung sind, stehen wir für
alle Ressorts nicht nur in der Mitverantwortung, sondern
auch in der Gesamtverantwortung.
({2})
Ich habe gesagt: Das Parlament war sich einig, und zwar
fraktionsübergreifend.
Den Innenminister haben wir leider nicht gestellt, wobei das „leider“ nicht von allen geteilt wird.
({3})
Das Innenministerium hat sich auf die Rechtsposition,
dass es hier um eine Vereinbarung, die man mit den Ländern abgeschlossen habe, gehe, zurückgezogen: Man
stünde dort im Wort und könne es deshalb nicht zurücknehmen. Wenn ein Minister wie Schily meint, er stünde
im Wort, dann kann man sich als Fraktion auf den Kopf
stellen, selbst wenn es Kabinettsmitglieder gibt, die vielleicht körperlich nicht in der Lage sind, dies auch zu tun.
({4})
Trotzdem kann man es dann nicht durchsetzen. Ich
denke, damit ist die Frage - hoffentlich zufriedenstellend - beantwortet.
({5})
Meine Fraktion teilt den Standpunkt, den die Bundesregierung unverändert einnimmt, jedenfalls nicht. Wir
stellen uns an die Seite der Kinderrechtsverbände und
-organisationen, die seit langem - seit 14 Jahren - vehement die Rücknahme der Vorbehaltserklärung einfordern.
Es ist wirklich peinlich, wenn uns die Vereinten Nationen - die Staatenkonferenz - bereits zum zweiten Mal
eine Abmahnung erteilen und sagen: In Deutschland
haben nicht alle Kinder einheitliche Rechte; deutschen
Kindern werden andere Rechte als ausländischen Flüchtlingskindern gewährt. Das ist ein unhaltbarer Zustand.
Das muss unbedingt geändert werden!
({6})
Meine Damen und Herren von der großen Koalition
- ich spreche jetzt einmal beide Regierungsfraktionen
an, muss allerdings angesichts der neuen Situation ein
bisschen mit dem Kopf wackeln -, der von Ihnen angenommene Nationale Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland“ schließt bisher die Flüchtlingskinder von der dort angepeilten Kinderfreundlichkeit aus.
Meine Fraktion hinterfragt deshalb sehr ernsthaft, ob Sie
es mit diesem Nationalen Aktionsplan wirklich ernst
meinen.
Ich meine, wir dürfen nicht länger zwischen Kindern,
die Flüchtlinge sind, und deutschen Kindern unterscheiden. Wir fordern Sie auf: Nehmen Sie endlich die Vorbehalte gegenüber der Kinderrechtskonvention zurück.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katharina Landgraf
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Damen und Herren der Fraktion der Grünen, gleich
zu Beginn ein offenes Wort an Sie: Bei der Erarbeitung
des vorliegenden Antrages haben Sie sich offenbar in der
Schublade vertan. Bereits der gewählte Titel „Kinderrechte in Deutschland vorbehaltlos umsetzen - Erklärung zur UN-Kinderrechtskonvention zurücknehmen“
ist in höchstem Maße irreführend.
({0})
Letztlich wird damit im Umkehrschluss behauptet, dass
die Kinderrechte in Deutschland nicht oder nicht vorbehaltlos umgesetzt werden.
({1})
Mit diesem Antrag stellen Sie die Bundesregierung,
stellen Sie Deutschland in eine Ecke, wo sie - die Bundesregierung und unser Vaterland - gar keinen Platz haben und auch nicht haben wollen.
({2})
Sie sollten etwas vorsichtiger und bedachter mit knackig
klingenden Titeln von Anträgen umgehen. Die Forderung, Kinderrechte „vorbehaltlos“ umzusetzen, klingt im
ersten Moment echt gut, fast wie „bedingungslos“. Hoffentlich ist nicht „verantwortungslos“ gemeint. „Vorbehaltlos“ verbindet sich schnell mit „unkritisch bedingungslos“.
Wenn es um Kinderrechte und deren Einhaltung geht,
können wir eigentlich nur verantwortungsvoll handeln.
Das tun wir auch. Die Erklärung ist Ausdruck der Verantwortung, die Deutschland bei der Anwendung der
UN-Kinderrechtskonvention übernimmt. Dass die Bundesregierung damals im Konsens mit den Bundesländern
die Erklärung abgegeben hat, war gut so, denn dadurch
wurden Fehlinterpretationen der Gesetze verhindert.
({3})
Ein Vergleich der Regelungen der UN-Kinderrechtskonvention mit der derzeitigen Gesetzeslage ergibt, dass die
Vorbehalte aufrechterhalten bleiben müssen, um Fehlinterpretationen tatsächlich zu verhindern.
Die UN-Kinderrechtskonvention bezieht innerstaatliche Bereiche ein, für die ausschließlich die Bundesländer zuständig sind.
({4})
Das ist doch wohl der springende Punkt. Demnach sind
die Haltung und die faktische Betroffenheit der Bundesländer für die Aktionsmöglichkeiten der Bundesregierung von ausschlaggebender Bedeutung. Ohne Bundesländer geht es hier nicht.
({5})
Auch deshalb sollten wir deren Bedenken sehr ernst
nehmen, um endgültig Klarheit in der Frage der richtiKatharina Landgraf
gen Anwendung der UN-Kinderrechtskonvention zu erreichen.
Grundsätzlich ist zu sagen, dass die Vorbehaltserklärung sachgerecht ist, dass die Konvention keine unmittelbar einklagbaren Rechte der Kinder enthält, sondern
ausschließlich eine völkerrechtliche Verpflichtung der
Vertragsstaaten darstellt.
({6})
Die Innenminister von Bund und Ländern sind sich einig, dass in Deutschland die Vorgaben aus der UN-Kinderrechtskonvention vollständig erfüllt sind. Mit dem
am 1. Juli 1998 in Kraft getretenen Gesetz zur Reform
des Kindschaftsrechtes wurde eine Regelung geschaffen,
die dem Wohl der Kinder besser gerecht wird. Zusätzlich
möchte ich hier hervorheben, dass in Deutschland das
Kindeswohl an erster Stelle steht und wir das gemeinsame Sorgerecht der Eltern festgeschrieben haben.
Eine offizielle Rücknahme der Erklärung könnte
fälschlicherweise als Signal verstanden werden, die
Bundesregierung würde von ihrer Position abweichen.
Das hieße auch, dass einzelnen Bestimmungen der Konvention nunmehr größere Bedeutung, wenn nicht gar unmittelbare innerstaatliche Wirkung zukäme. Dies könnte
zu einer Rechtsunsicherheit bei der Anwendung bestehender Vorschriften des Ausländer- und Asylrechts führen. Erschwernisse bei der Durchsetzung der Ausreisepflicht Minderjähriger wären die Konsequenz. Aber
auch dem zunehmenden Missbrauch durch Personen, die
ohne Vorlage von Dokumenten vortragen, minderjährig
zu sein, würde Tür und Tor geöffnet.
({7})
Minderjährigkeit allein kann weder nach nationalem
noch nach internationalem Recht ein Einreiserecht begründen oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertigen.
({8})
Anders als bei der UN-Kinderrechtskonvention wird
im deutschen Recht zwischen Kindern und Jugendlichen differenziert. Im Hinblick auf die Problematik der
minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingskinder könnte
dies zur Folge haben, dass auf eine Differenzierung zwischen Rechten für Kinder und Rechten für Jugendliche
verzichtet würde.
Der Vorbehalt schließt einen unmittelbaren innerstaatlichen Individualanspruch aus. Ein Wegfall des Vorbehalts wäre daher mit dem Risiko verbunden, dass Kosten
bei der Unterbringung der minderjährigen unbegleiteten
Flüchtlinge in der Altersgruppe der 16- bis 18-Jährigen
entstehen würden. Dafür gibt es weder eine sachliche
Notwendigkeit noch Finanzierungsvoraussetzungen;
({9})
denn die Abschiebung Unter-18-Jähriger ist von der
Rechtsprechung nur deshalb getragen worden, weil die
in der Vorbehaltserklärung enthaltenen Einschränkungen
die völkerrechtliche Grundlage hierfür geboten haben.
Ich fasse zusammen: Die Forderungen der Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen basieren auf der fehlerhaften Auffassung, Kinder hätten weltweit einen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt, so auch in Deutschland. Nochmals sei betont: Bei den Erklärungen, die
Deutschland vor 14 Jahren anlässlich der Ratifizierung
der UN-Kinderrechtskonvention abgegeben hat, handelt
es sich nicht um Vorbehalte im völkerrechtlichen Sinne,
sondern um Interpretationserklärungen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, Sie haben in Ihrem
Antrag interessanterweise selbst vermerkt, dass vier der
fünf Punkte aus der Vorbehaltserklärung durch entsprechende Gesetzesänderungen inzwischen geregelt sind:
({10})
durch Änderungen im Kindschaftsrecht, durch eine
kind- und jugendgerechte Auslegung des Jugendstrafrechts sowie durch die Ratifizierung des Fakultativprotokolls zur Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten. Jetzt wollen Sie sozusagen auf der Zielgerade
des jahrelangen Marathons diese Erklärung zurückholen
lassen, und das, nachdem Sie selbst als Akteur aus dem
Marathon ausgestiegen sind, also keine Regierungsverantwortung mehr tragen - auch in dieser Sache nicht.
({11})
Das hat den Eindruck eines Scheingefechts.
Der übrig gebliebene Punkt berührt in hohem Maße
die Hoheit der Bundesländer. Hier sollten Bund und
Länder gemeinsam im Rahmen der Evaluierung des Zuwanderungsgesetzes nach Lösungen suchen, die den Interessenlagen der Länder und des Bundes entsprechen.
Wir sind auf Bundesebene gut beraten, mit klugen Ratschlägen und Vorgaben zurückhaltend zu sein. Ein fairer
Dialog innerhalb des Bundestages mit der Bundesregierung und den Ländern könnte eine Lösung der gesamten
Problematik herbeiführen.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
wenn Sie sich tatsächlich und wirksam für die Umsetzung von Kinderrechten in Deutschland engagieren wollen, habe ich eine kleine Anregung:
({13})
Unterstützen Sie die Vorschläge und Aktivitäten für eine
gute Kinderpolitik unserer neuen Familienministerin,
({14})
zum Beispiel bei den Mehrgenerationenhäusern, bei den
Früherkennungsuntersuchungen oder den Regelungen
zum Unterhaltsrecht zugunsten der Kinder. Das ist der
beste und einfachste Weg, Kindern wirksam zu helfen
und sie auf dem Weg ins Leben zu begleiten. Darüber
können wir uns zu gegebener Zeit im Familienausschuss
unterhalten.
Vielen Dank.
({15})
Frau Kollegin Landgraf, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen
Glückwunsch!
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Miriam Gruß von der
FDP-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Dass der Deutsche Bundestag heute
zum wiederholten Male über die Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention diskutiert, ist an sich schon eine Farce. Noch viel erstaunlicher
ist allerdings, dass der Antrag, den wir heute beraten,
von der Fraktion der Grünen kommt.
({0})
- Meine Damen und Herren der Bündnisgrünen, hören
Sie mir bitte zu. Sie hatten, wie meine Kollegin Frau
Lenke gerade gesagt hat, sieben Jahre Zeit, die Vorbehaltserklärung zurückzunehmen.
({1})
Ein grüner Außenminister hat es sieben Jahre lang nicht
für nötig gehalten, ein völkerrechtliches Signal zu setzen
und das Übereinkommen der Vereinten Nationen über
die Rechte des Kindes endlich vollständig umzusetzen.
({2})
Man darf sich schon sehr darüber wundern, dass Sie sich
nun, aus der Opposition heraus, für die Flüchtlingskinder
in Deutschland stark machen wollen.
({3})
Warum waren Sie nicht vorher so konsequent? Verfahrenstechnisch - das kann ich leider nicht anders sagen ist dieser Antrag gründlich misslungen.
Doch kommen wir zu einem viel wichtigeren Part,
dem Inhalt. Selbstverständlich wird die FDP-Bundestagsfraktion diesem Antrag zustimmen. Wer wie
Deutschland die Menschenrechte weltweit einklagt,
muss selbst Vorbild sein und darf keine Vorbehalte gegenüber UN-Konventionen haben.
({4})
So lange wir nicht mit gutem Beispiel vorangehen, bestehen Zweifel am Willen Deutschlands zur Umsetzung
der Konvention. Die Folge: Die Bundesregierung wird
auf internationalem Parkett nicht ernst genommen, wenn
sie sich für eine schnelle Ratifizierung anderer Protokolle zur Wahrung der Menschenrechte einsetzten will.
({5})
Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung durch die Bundesregierung ist deshalb mehr als überfällig. Zumindest
darüber sind wir uns einig.
Umso unglaublicher ist es, dass die Vorbehaltserklärung noch immer Gültigkeit besitzt, obwohl sich der
Deutsche Bundestag, der Petitionsausschuss und die
Kinderkommission schon mehrmals für die Rücknahme
ausgesprochen haben. Das Votum des deutschen Parlaments wurde von der Bundesregierung - sei sie rot-grün
oder rot-schwarz - bislang schlichtweg ignoriert.
Zu Beginn der Legislaturperiode fragte ich Familienministerin von der Leyen, was die jetzige Bundesregierung unternehmen wolle, um vor allem den unbegleiteten
minderjährigen Flüchtlingskindern in Deutschland
die Rechte einzuräumen, die ihnen zustehen. Frau von
der Leyen antwortete mir, es fehle noch die Zustimmung
der Länder.
({6})
Dieses fadenscheinige Argument ist so alt wie die Diskussion um die Rücknahme der Erklärung.
({7})
- Warum regen Sie sich denn eigentlich über meine
Sätze auf? - Aus falschem Respekt gegenüber den Bundesländern werden Kinderrechte missachtet!
({8})
Nach meinem Verständnis ist dies eine falsche Show, in
der sich alle Beteiligten vor Verantwortung drücken,
Entscheidungen hinauszögern und dafür Menschenrechte zurückstellen. Ist das das Bild, das wir national,
aber auch international vermitteln wollen?
Meine Aufforderung gilt heute der Bundesregierung:
Haben Sie endlich den Mut, für die Rechte junger Menschen geradezustehen! Verstecken Sie sich nicht hinter
schwachen Ausreden!
({9})
Es ist eine Schande für Deutschland, dass wir gerade in
punkto Kinderrechte so rückständig sind. Der Zeitpunkt,
dies zu ändern, ist längst gekommen.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marlene Rupprecht
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vielen Dank dafür, dass Sie heute Abend noch anwesend
sind.
({0})
Das finde ich wunderschön.
({1})
- Ja, für mich auch.
Ich denke, ich beginne einmal so: Keine der Parteien,
die hier durch Fraktionen vertreten sind, hat sich in der
Vergangenheit beim Thema Rücknahme der Vorbehaltserklärung besonders mit Ruhm bekleckert, weder die
FDP, noch die Grünen, noch die SPD, noch die CDU/
CSU. Wir alle sind aber lernfähig und deshalb versuche
ich es heute Abend noch einmal mit einem ganz sachlichen Umgang mit diesem Thema.
Ich denke, ich darf mich als alte Häsin bezeichnen,
und ich sehe hier etliche alte Häsinnen und Hasen sitzen;
wir haben ja auch bald Ostern. Deshalb würde ich gern
noch einmal auf die Entstehung der Kinderrechte eingehen. Gestern vor 14 Jahren - Kollege Winkler hat darauf hingewiesen - hat die Bundesrepublik die UN-Kinderrechtskonvention mit der Ratifizierungsurkunde, die
sie bei den Vereinten Nationen hinterlegt hat, in deutsches Recht umgesetzt. Am 20. November 1989 haben
die Vereinten Nationen die Kinderrechte gemeinsam beschlossen. Das ist die meist gezeichnete Konvention der
Vereinten Nationen. Ich finde, wir können stolz darauf
sein, dass wir das geschafft haben.
({2})
Zum damaligen Zeitpunkt hat man geglaubt, man
müsste zu einigen der Artikel Erklärungen abgeben, zum
Teil deshalb, weil Dinge angeführt wurden, die wir im
nationalen Recht noch nicht so geregelt hatten, wie es
die Konvention vorschreibt. Ich will einfach noch einmal die entsprechenden Stichworte nennen; vielleicht
fällt es uns dann leichter, manche Gräben aufzubrechen,
manchen Ballast abzuwerfen und das Ganze neu zu betrachten: Umgangs- und Sorgerecht, Rechtsbeistand bei
minderschweren Fällen, Adoptionsrecht, Kinder in bewaffneten Konflikten. All das haben wir geregelt.
Jetzt steht noch ein Punkt aus, durch den bei vielen
offensichtlich eine Xenophobie - ich finde das Wort so
schön; übersetzt: Angst vor dem Fremden - ausbricht.
Es wäre schön, wenn wir diese ablegen und weiter nüchtern an das Thema herangehen würden. Warum also haben wir gegen diesen Artikel immer noch einen Vorbehalt? Die Vereinten Nationen - dies sage ich für die
jugendlichen Zuhörer - kennen nicht den Begriff der Jugendlichen; die Kindheit reicht somit von 0 bis 18 Jahren. Das akzeptieren wir im Allgemeinen auch, nur in
diesem einen Fall, bei der Konvention, nicht. Hier haben
wir einen Bruch und lassen die Kindheit mit 16 Jahren
aufhören. Deshalb geht es immer noch um eben diese
Gruppe der 16- bis 18-jährigen Flüchtlinge, die nach
Deutschland kommen. Davon sind pro Jahr in der Bundesrepublik - ich sage das, damit wir wissen, worüber
wir reden, und überlegen, ob es wert ist, dass bei uns die
Xenophobie ausbricht - circa 300 Kinder betroffen.
Deshalb lohnt es sich eigentlich nicht, dass wir dafür
einen Konflikt auftun. Weltweit sagt jeder: Warum
macht ihr das? Warum beseitigt ihr das nicht endlich?
Beim zweiten Staatenbericht, den das Ministerium 2004
vorgelegt hat, hat uns die Berichterstatterin der Vereinten Nationen gesagt: Ihr spielt, was Kinder anbelangt,
weltweit in der ersten Liga. Ihr steht ganz vorn. - Ich
denke, das kann man mit Recht sagen. Es wird für Kinder in der Bundesrepublik viel gemacht. Bei allem Gejammere: Unsere Kinder leben hier nicht schlecht.
Wie wir gehört haben, hat der Bundestag die Regierung - egal welche - bereits mehrfach aufgefordert, sie
möge die Vorbehaltserklärungen zur Kinderrechtskonvention zurücknehmen. Vertreter der Ministerien haben
uns in der Kinderkommission erklärt, dass sie eigentlich
völlig überflüssig sind, weil durch sie nichts verhindert,
aber auch nichts verbessert wird. Wenn wir sie zurücknehmen würden, würde sich also nichts ändern. Trotzdem möchte ich den Versuch, darauf hinzuwirken, dass
dies geschieht, heute erneut unternehmen. Vielleicht
schaffen wir es, dieses Vorhaben gemeinsam anzugehen.
Ich würde mir sehr wünschen, dass uns das gelingt.
({3})
Auch in unserer Koalitionsvereinbarung ist das Ziel
der Umsetzung des Nationalen Aktionsplans erwähnt.
Aber vielleicht - das meine ich jetzt nicht hämisch habe auch ich nicht alle Punkte, die wir beschlossen haben, im Kopf. Deshalb wiederhole ich: Dort heißt es,
dass wir uns vorgenommen haben, für die Rücknahme
der Vorbehaltserklärungen einzutreten. Geben wir uns
also einen Ruck! Das wäre ein gutes Zeichen für unser
Land. Daran würde deutlich, dass wir Erwachsene lernfähig sind; das erwarten wir schließlich auch von den Jugendlichen. Wir sollten dafür sorgen, dass man in allen
Bereichen bis zum Alter von 18 Jahren als Kind gilt. Ich
glaube, dass wir das gemeinsam schaffen können.
({4})
Herr Singhammer, ich weiß, dass auch Sie einmal
Mitglied der Kinderkommission waren.
({5})
An diese Zeit möchte ich Sie erinnern. Es wäre doch gelacht, wenn wir das nicht gemeinsam schaffen.
Ich würde gern im Juni nach Stockholm fahren und
beim Europarat sagen können, dass wir unser Ziel gemeinsam erreicht haben und jetzt wirklich in der ersten
Marlene Rupprecht ({6})
Liga spielen. Vielleicht erreichen wir im Fußball nicht
den ersten Platz. Aber wenn es um Kinder geht, können
wir es weltweit auf den ersten Platz schaffen.
({7})
Das ist für mich in diesem Sommer das Wichtigste.
Dann können wir uns auf unser eigentliches Geschäft
besinnen: die gute Kinderpolitik in Deutschland gemeinsam fortzusetzen. Trotz aller Differenzen, die wir haben,
sind wir uns in diesem Punkt einig. Nun müssen wir die
Grundlagen dafür schaffen. Diese Diskussion sollten wir
nicht so führen, dass sie niemand mehr nachvollziehen
kann. Deshalb habe ich Ihnen aufgezeigt, worum es eigentlich geht: Wenn man schon in den Ministerien der
Ansicht ist, dass sich durch die Rücknahme der Vorbehaltserklärungen nichts ändern wird, dann sollte das Parlament endlich einen gemeinsamen Antrag auf den Weg
bringen und dieses Werk vollenden. Wenn wir das noch
in diesem Jahr schaffen würden, wäre das sehr schön.
Wir müssen natürlich auch darüber nachdenken, was
es bedeutet, Kind zu sein. Dabei geht es zum Beispiel
um die Frage: Sind Kinder bis 18 Jahre keine Ausländer? In der UN-Kinderrechtskonvention heißt es nämlich: Kinder bedürfen unseres besonderen Schutzes,
({8})
ob sie Inländer oder Ausländer sind. Von jedem Erwachsenen erwarte ich, dass er für sich selbst sorgt. Wenn ich
ihn unter Wasser drücke, kann er nicht atmen; das ist logisch. Aber unter normalen Bedingungen muss ich für
einen Erwachsenen keine Verantwortung übernehmen.
Für die Kinder werden wir aber Verantwortung übernehmen müssen.
Ich bitte Sie alle, das nicht zu verhindern, weder aufgrund von falschen Rücksichtnahmen noch weil der eine
oder andere Bedenken hat. Das können wir heute Abend
gemeinsam schaffen. Wenn Sie von den Grünen dann
mit Ihrem Antrag dazu beigetragen haben, begrüße ich
das sehr. Sie hätten auch den gleichen Antrag wie beim
letzten oder vorletzten Mal einbringen können; das wäre
egal gewesen. Sie haben diese Diskussion in Gang gebracht. Dafür ist Ihnen ganz herzlich zu danken. Wir alle
sollten über dieses Vorhaben noch einmal nachdenken.
Herr Singhammer, wir gehen miteinander einen Kaffee
trinken; vielleicht können wir uns dann einigen.
({9})
Die Rede der Kollegin Ulla Jelpke nehmen wir zu
Protokoll.1) Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/1064 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 7. April 2006, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.