Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/5/2006

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Schönen guten Tag, meine Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: Befragung der Bundesregierung Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Neue Impulse für Innovation und Wachstum - 6-Milliarden-Euro-Programm für Forschung und Entwicklung. Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau Dr. Annette Schavan. ({0})

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Kabinett hat in seiner heutigen Sitzung die Eckdaten des 6-Milliarden-EuroProgramms für Forschung und Entwicklung - Neue Impulse für Innovation und Wachstum beraten und verabschiedet. Dieses 6-Milliarden-Euro-Programm enthält drei Säulen der künftigen Förderung von Forschung und Innovation: Die erste Säule ist die Förderung von Spitzen- und Querschnittstechnologien mit dem Ziel eines zügigeren - also eines besser optimierten - Transfers von den Ideen zu den Produkten, Dienstleistungen und Anwendungen. Ein Beispiel hierfür ist in der Gesundheitsforschung die Einrichtung von Spitzenzentren in der medizinischen Forschung. Ein zweites Beispiel ist die Strategie „Nano geht in die Produktion“. Im Bereich der Nanotechnologie ist es jetzt möglich, wissenschaftliche Durchbrüche für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu nutzen. Die zweite große Säule ist die verbesserte Förderung der Innovationsfähigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen, vor allen Dingen in Zusammenarbeit mit dem Wirtschaftsministerium. Die dritte Säule ist die Stärkung des Forschungssystems und des Forschungsstandortes Deutschland. Beispiele hierfür sind die zwischen dem Bund und den 16 Ländern vereinbarte Exzellenzinitiative, der Pakt für Forschung und Innovation, neue Initiativen im Bereich des wissenschaftlichen Nachwuchses und vor allem die Möglichkeiten zur Finanzierung einiger Großgeräte für die Forschung, wie es im Koalitionsvertrag vereinbart ist. Die Ziele des 6-Milliarden-Euro-Programms sind ganz stark auf Wachstum und Beschäftigung fokussiert. Wir wollen noch stärker als in der Vergangenheit in einer engen Partnerschaft zwischen Wissenschaft und Wirtschaft den Transfer zwischen wissenschaftlichen Durchbrüchen und die daraus möglicherweise erwachsende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit fördern. Zweitens wollen wir stärkere Brücken zwischen der Forschung und den Zukunftsmärkten schaffen und drittens neue Impulse für Wissens- und Technologietransfer geben. Bevor ich exemplarisch einige der Strategien und Leuchttürme aus dem Programm nenne, möchte ich noch darauf hinweisen, dass es hinsichtlich der jetzigen Eckdaten und der gesamten Entwicklung des 6-Milliarden-Euro-Programms eine gute Zusammenarbeit zwischen allen beteiligten Häusern gibt. In den letzten Jahren wurde oft kritisch darüber gesprochen, dass die Forschungspolitik zu sehr auf unterschiedliche Häuser verteilt ist und es nicht mehr zu einem stimmigen Gesamtkonzept kommt. Die Koordinierung unserer Projekte in der 6-Milliarden-Euro-Strategie soll ein Ansatz zu einem wieder stimmigen Gesamtkonzept der Bundesregierung sein. Nun also zu den Strategien: Zur ersten Säule gehören die Informations- und Kommunikationstechnologien. Es gibt ein neues Forschungsprogramm, das vor allem auf Verbundforschung setzt, auf die Verbesserung der Verwertung von Forschungsergebnissen. Zweitens gibt es im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien das Programm „Informationsgesellschaft Deutschland 2010“, das sich vor allem auf die Modernisierung rechtlicher und technologischer Rahmenbedingungen und die gezielte Förderung anwendungsnaher Redetext Entwicklungen konzentriert. Beide - die Kanzlerin hat es bei der Eröffnung der CeBIT angekündigt - sollen in einen IT-Gipfel im Herbst dieses Jahres einfließen und im Rahmen unserer Präsidentschaft auf europäischer Ebene eine Rolle spielen, um Interesse bei den europäischen Partner zu wecken und zu einer europäischen Strategie zu kommen. Aus dem Bereich der Leuchttürme nenne ich neben der eben schon genannten Strategie „Nano geht in die Produktion“ den Leuchtturm „Hightech für die Gesundheit“. Zweitens möchte ich den Leuchtturm „Klinische Forschung in der Gesundheit“ nennen. Das ist ein besonders breit angelegtes Projekt, um die medizinische Spitzenforschung zu stärken und die Translation zu verbessern. In Zeiten, in denen wir über die Reform des Gesundheitssystems sprechen, ist das ein wichtiger Baustein, der deutlich machen soll, wie stark künftige Gesundheitsversorgung mit der Forschung und mit einer guten Brücke von den Grundlagen zur Krankenversorgung verbunden ist. Schließlich möchte ich aus aktuellem Anlass - am vergangenen Montag haben wir im Rahmen des Energiegipfels darüber gesprochen - noch auf Folgendes aufmerksam machen: In dieser Legislaturperiode werden, sowohl durch dieses Programm als auch durch zusätzliche Mittel der verschiedenen Ressorts, weitere 2 Milliarden Euro für die Energieforschung zur Verfügung gestellt. Auch in diesem Zusammenhang wünsche ich mir eine gute Zusammenarbeit der verschiedenen Häuser. Durch dieses breit angelegte Forschungsprogramm werden wir einen Beitrag zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit, zum Schutz unserer Energieressourcen und zur Entwicklung neuer Technologien leisten. So weit zur Information des Parlaments.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herzlichen Dank. - Die erste Frage zu diesem Themenbereich stellt Cornelia Hirsch, Die Linke.

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Ministerin, da der Pakt für Forschung und Innovation, den Sie vorgestellt haben, in irgendeiner Form getragen werden muss, lautet meine Frage: Inwieweit ist dieser Pakt mit den anderen bildungspolitischen Initiativen und Programmen, die Sie planen, abgestimmt? Wie wollen Sie sicherstellen, dass sich die Menschen in die Forschung einbringen können? Ich bitte Sie, zu sagen, welche konkreten Initiativen Sie in dieser Richtung in Angriff nehmen wollen.

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Der Pakt für Forschung und Innovation ist zwischen der Politik und den großen Forschungsorganisationen geschlossen worden. Sein Ziel besteht darin, auf der einen Seite die öffentlichen Zuschüsse, die die großen Forschungsorganisationen - die Helmholtz-Gemeinschaft, die Leibniz-Gemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft und andere - bekommen, weiterzuentwickeln. Auf der anderen Seite wurde vonseiten der Forschungsorganisationen die Zusage konzeptioneller Entwicklungen gemacht. Sowohl für die erste Säule als auch für die zweite Säule ist es wichtig, eine stärkere Brücke zwischen Wissenschaft und Wirtschaft zu bauen und Hilfestellungen bei Ausgründungen zu geben. Die großen Forschungsorganisationen haben uns zugesagt, in genau diesen innovativen Bereichen mitzuwirken, selbst Initiativen zu ergreifen und, wenn Sie so wollen, die klassischen Strukturen der Forschungsförderung gemeinsam mit uns weiterzuentwickeln. Sie sind die Bündnispartner, mit denen wir diesen Pakt geschlossen haben, für den für die Dauer der gesamten Legislaturperiode 3 Prozent Aufwuchs pro Jahr veranschlagt wurden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die nächste Frage stellt der Kollege Jörg Tauss, SPDFraktion.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön, Frau Präsidentin. - Ich habe drei Fragen. Soll ich der Einfachheit halber alle drei Fragen auf einmal stellen?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Beste wäre, Sie würden Ihre drei Fragen in einer einzigen zusammenfassen. ({0})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin, eine kurze Vorbemerkung: Selbstverständlich begrüßen wir dieses Programm sehr; auch im zuständigen Ausschuss haben wir gerade über seine Ausgestaltung gesprochen. Der Hintergrund des 3-Prozent-Ziels ist, dass Deutschland, was seine Aufwendungen für Forschung und Entwicklung betrifft, in der Vergangenheit im internationalen Vergleich auf einem unbefriedigenden Platz lag. Wir haben zwar im Vergleich mit anderen Staaten aufgeholt, aber das Ziel, 3 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts für diesen Bereich zur Verfügung zu stellen, nicht erreicht. Meine Frage lautet: Wenn wir das 6-Milliarden-EuroProgramm realisieren, welchen Platz kann Deutschland nach Einschätzung der Bundesregierung dann in den nächsten Jahren im europäischen und im globalen Vergleich einnehmen? Denn eine der wichtigen Fragen ist: Welchen Beitrag leistet dieses Programm, um unsere Positionierung zu verbessern?

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Indem wir das 3-Prozent-Ziel verfolgen, wollen wir erreichen, dass Deutschland zu den ersten drei in Europa gehört. Sie haben zu Recht die enorme Dynamik, die in anderen Ländern, vor allen Dingen im südostasiatischen Raum, zu beobachten ist, angesprochen. Was Europa angeht, so wollen wir durch das 3-Prozent-Ziel ein Motor sein; auch bei vielen anderen Themen setzen wir stark auf die europäische Zusammenarbeit. Ich nenne Ihnen ein Beispiel, das auch Ihre Frage, welchen Platz Deutschland einnehmen wird, betrifft: Die öffentlichen Investitionen in die Energieforschung, die für Europa insgesamt bedeutsam ist, weil der Abstand zu anderen Teilen der Welt größer wird, sind in den vergangenen Jahren um 40 Prozent zurückgegangen. Die 2 Milliarden Euro, die quer über die Häuser für diese Legislaturperiode vorgesehen sind, bedeuten eine Steigerung um 30 Prozent; damit werden wir im europäischen energiepolitischen Dialog eine große Rolle spielen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die nächste Frage hat die Kollegin Priska Hinz, Bündnis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Ministerin, wenn man die Nachrichten in den Medien verfolgt, hat man manchmal den Eindruck, die 6 Milliarden Euro seien schon dreimal ausgegeben. Deswegen meine Frage: Wie sind die 6 Milliarden Euro in den nächsten Jahren genau aufgeteilt auf die einzelnen Forschungsbereiche und auf die einzelnen Ressorts?

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Die 6 Milliarden Euro sind auf die einzelnen Ressorts wie folgt aufgeteilt: Rund 4 Milliarden Euro gehen an das Forschungsministerium; hier werden wir entsprechend dem Koalitionsvertrag besonders die Mittel für die Projektförderung erhöhen. Im Übrigen - deshalb habe ich von Säulen gesprochen - ist insbesondere die dritte Säule, die Exzellenzinitiative und der Pakt für Forschung und Innovation, stark. Der zweitgrößte Anteil geht an das Wirtschaftsministerium: 1,245 Milliarden Euro. Rund 200 Millionen Euro gehen an das Verkehrsministerium; hier werden vor allen Dingen Initiativen und Strategien im Bereich Mobilität sowie zu Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologien angesiedelt sein. 160 Millionen Euro fließen an das Bundesumweltministerium. Das Auswärtige Amt bekommt 100 Millionen Euro für den internationalen Wissenschaftleraustausch. Das Innenministerium erhält 80 Millionen Euro für Informations- und Sicherheitstechnologien. Das Verteidigungsministerium erhält 206 Millionen Euro für militärische Forschung und Entwicklung. Kleinere Beträge, insgesamt 33,5 Millionen Euro, verteilen sich auf das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und das Gesundheitsministerium. Das ist die Aufschlüsselung der insgesamt 6 Milliarden Euro. Man könnte jetzt noch die unterschiedlichen Anteile auf die einzelnen Jahre bezogen aufführen; aber ich gehe davon aus, dass Ihnen das zur Verfügung gestellt wird.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Mücke bitte, FDP-Fraktion.

Jan Mücke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003813, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Bundesministerin, ich habe meinen Wahlkreis in der Stadt der Wissenschaft 2006, in Dresden. Trotz der Tatsache, dass wir Stadt der Wissenschaft geworden sind, ist es uns im Rahmen der Exzellenzinitiative der Bundesregierung nicht gelungen, auch nur einen einzigen ostdeutschen Hochschulstandort in die Reihe der Eliteuniversitäten zu bringen. Ferner muss man feststellen, dass die Forschungsaktivitäten in den neuen Ländern aufgrund der fehlenden Industrielandschaft insgesamt viel schwächer ausgebildet sind als in den alten Ländern. Deshalb liegt für mich die Frage auf der Hand, wie hoch der Anteil des 6-Milliarden-Euro-Programms für Forschung und Entwicklung sein wird, der in den neuen Ländern ausgegeben werden wird.

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Zunächst einmal: Selbstverständlich werden alle großen Forschungsinstitute - denken Sie an die MaxPlanck-Gesellschaft oder die Fraunhofer-Gesellschaft sowohl im Großraum Dresden/Leipzig als auch an vielen anderen Stellen von dem 3-Prozent-Aufwuchs profitieren. Die Exzellenzinitiative ist ein wettbewerbliches Verfahren; deshalb kann ich keine Anteile nennen. Ich glaube aber, dass man nicht schon nach der ersten Zwischenrunde - bis zum 20. April müssen die Bewerbungen eingehen; im Oktober wird es dann die Entscheidungen geben - sagen sollte, es wird Regionen geben, die keinerlei Anteil daran haben. Insider sagen, dass die allerersten Ergebnisse bestätigen, was wir an Entwicklungen in den letzten Jahren gesehen haben: Da, wo es sehr lange, Jahrzehnte währende Entwicklungen gibt, kann jetzt geerntet werden. Aber es wird in den nächsten Jahren auch woanders geerntet werden, vor allen Dingen was Graduiertenschulen und was die ersten beiden Säulen der Exzellenzinitiative angeht. Ein Schwerpunkt wird in der Verstärkung des so genannten Inno-RegioWettbewerbs liegen. In einem Satz gesagt: Die Förderung der Entwicklung von Wachstumskernen hin zu Innovationskernen ist ein besonders gutes und, wie ich finde, erfolgreiches Beispiel für die Zusammenarbeit von Universitäten, außeruniversitären Einrichtungen und Unternehmen. Im Übrigen handelt es sich hier um viele kleine und mittlere Unternehmen etwa im Bereich der Biotechnologie und der Medizin. Dies ist in meinen Augen das Herzstück der Förderung für die neuen Länder, weil dies ganz stark auf die Kooperation und Entwicklung sowie auf die Verstärkung regionaler Entwicklungen ausgerichtet ist und weil dies nach den bisherigen Erfahrungen auch am meisten geeignet ist, der Gründung zusätzlicher Unternehmen eine Chance zu geben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie haben eine Nachfrage? - Bitte schön.

Jan Mücke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003813, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Nachfrage lautet einfach: Sehen Sie sich in der Lage, wenigstens einen ungefähren Betrag zu nennen?

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Nein, ich glaube, dass es nicht sinnvoll ist, einen ungefähren Betrag zu nennen. Ich kann den Betrag des Titels Inno-Regio benennen; das kann ich gerne nachsehen. Ich glaube aber, dass jeder Betrag, den ich nenne, im Zweifelsfall kleiner als das sein wird, was tatsächlich möglich ist, weil die Exzellenzinitiative noch unentschieden ist.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die nächste Frage kommt von Michael Kretschmer, CDU/CSU-Fraktion.

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, es wird derzeit viel über Gesundheitspolitik gesprochen. Können Sie uns sagen, wie im Rahmen dieses 6-Milliarden-Euro-Investitionsprogramms vorgesehen ist, die Gesundheitsforschung in Deutschland zu verstärken?

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Die Gesundheitsforschung wird vor allem in mehreren Leuchttürmen weiterentwickelt werden, die zum Ersten an dem hohen Standard anschließen, den wir in der Medizintechnik erreicht haben - Schlagwort: Hightech für die Medizin zur weiteren Optimierung Bild gebender Verfahren. Das Zweite ist der genannte Punkt Klinische Forschung für Gesundheit. In einem Satz gesagt heißt das: Patientinnen und Patienten sollen rascher von den Forschungsergebnissen in der Gesundheitsversorgung profitieren. Der dritte und von mir noch nicht genannte Leuchtturm lautet Innovation Neurowissenschaften. Mit neuesten wissenschaftlichen Methoden der Kombination aus Experiment und Computersimulation wollen wir eine deutliche Bescheunigung des Forschungsfortschritts bewirken und damit vor allen Dingen Impulse geben, die für die Diagnose und Behandlung von Erkrankungen des Nervensystems, für die Entwicklung einer neuen hochleistungsfähigen Rechnergeneration und darüber hinaus sogar auch für den Bildungsbereich interessant sind. Das sind drei Leuchtturmvorhaben, mit denen wir 2006 beginnen. Wir arbeiten aber bereits jetzt an weiteren Akzenten für die nächsten Jahre, also für die Zeit ab 2007. Für mich liegt in der Verbindung von Altersforschung und Gesundheitsforschung ein Schwerpunkt. Ich nenne die Stichworte Alzheimer und Konsequenzen von Ernährungsgewohnheiten für Alterungsprozesse. In diesem Bereich werden wir mit Programmen, die im Laufe dieses Jahres verabschiedet bzw. beraten werden, Akzente setzen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Petra Sitte hat die nächste Frage.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sie haben in Ihrer Presseerklärung vom 31. März dieses Jahres zu diesem Programm unter anderem formuliert, jeder staatlich investierte Euro ziehe Investitionen der Privatwirtschaft nach sich. Sie sagten: Wir bauen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft die starken Brücken, auf denen unser Wohlstand ruht. Unter diesem Blickwinkel will ich fragen. Das heißt ja, dieses Programm dürfte für kleine und mittelständische innovative Unternehmen eine besondere Bedeutung haben. Deshalb frage ich nach den Kernpunkten der Veränderungen bzw. Verbesserungen innerhalb dieses Programms für diesen Kreis, und zwar auch unter dem Blickwinkel der Beschäftigungsperspektiven für qualifizierte junge Leute. Danke.

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Erster Punkt. Dieses Ziel ist in die gesamte Anlage der Hightech-Strategie aufgenommen worden. Wenn ich „Nano geht in die Produktion“ sage, dann betrifft das vor allen Dingen Branchen wie die Automobilindustrie, den Maschinenbau und den Anlagenbau. So wie wir die Programme nach einem Dialog mit der Wirtschaft ausschreiben, soll sich dies auf die Investitionen der Unternehmen unmittelbar auswirken können. Jede Investition in die Forschung seitens eines Unternehmens hat über kurz oder lang auch beschäftigungspolitische Konsequenzen. Der zweite Punkt betrifft die zweite Säule, also die unmittelbaren Maßnahmen. Zum einen wird die Innovationsbeteiligung kleinerer und mittlerer Unternehmen erhöht. Bisher ist es so, dass etwa 35 Prozent der Fördermittel, die die Bundesregierung im Rahmen der direkten Projektförderung von Spitzen- und Querschnittstechnologien vergibt, in den Bereich von KMU geht. Wir wollen diesen Anteil erhöhen, sodass künftig rund 70 Prozent aller Zuwendungsempfänger in den Fachprogrammen der Forschungsförderung zu den kleinen und mittleren Unternehmen gehören. Dazu gehört zum Beispiel eine Erhöhung der jeweiligen Forschungsförderungssumme für das Unternehmen. Zum anderen ist hier das Programm Pro Inno II zu nennen, das die Vernetzung kleinerer und mittlerer Unternehmen untereinander und mit Forschungseinrichtungen zum Ziel hat. Die Mittel für dieses Programm werden deutlich aufgestockt werden. Künftig sollen auch solche Unternehmen gefördert werden, die erstmalig ein Forschungsvorhaben durchführen und sich mit diesem Forschungsvorhaben auf spätere F-und-E-Kooperationen mit anderen Unternehmen oder Forschungseinrichtungen einlassen. Der dritte Punkt ist das Programm zur Förderung innovativer Wachstumsträger, das ich eben schon einmal im Zusammenhang mit den neuen Bundesländern genannt habe. Hier sollen im Rahmen von F-und-E-ProBundesministerin Dr. Annette Schavan jekten erstmalig Gründer von jungen Technologieunternehmen aufgenommen werden. Neu ist auch die Finanzierung grundlagenorientierter F-und-E-Vorhaben von externen Industrieforschungseinrichtungen zur Erhöhung der Forschungskompetenz. Außerdem wird daran gedacht, die Innovationsfinanzierung - Stichwort Zinsverbilligung - zu verbessern. Der kürzlich eingerichtete Hightechgründungsfonds wird weiterentwickelt. Zusätzliche Mittel für Patent- und Verwertungsagenturen sowie für Aktivitäten zur Stimulierung von Existenzgründungen aus Hochschulen werden zur Verfügung gestellt. Das ist auch für die neuen Bundesländer ein ganz interessanter Aspekt. Schließlich ist im Bereich der Biotechnologie die Gründungsinitiative Go-Bio hervorzuheben, eine neue und einzigartige Förderinitiative und auch Gründungsoffensive in der Biotechnologie. Ich habe dazu gerade in den letzten Tagen ein Gespräch geführt. Hier können vor allen Dingen kleine Unternehmen, denen wir bessere Möglichkeiten der Vernetzung bieten wollen, einen zusätzlichen Schub erhalten. Das sind die Hauptstichworte für die Programme, die 2006 beginnen. Diese werden wir laufend weiterentwickeln. Dann steht die Frage, über die wir eben im Ausschuss gesprochen haben, im Raum: Gibt es darüber hinaus zu den Themen Forschungsprämie oder Innovationsfonds für die Beteiligten noch wirksame Möglichkeiten?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die nächste Frage stellt die Kollegin Krista Sager, Bündnis 90/Die Grünen.

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Ministerin, in welcher Weise können der Deutsche Akademische Austauschdienst und die Alexandervon-Humboldt-Stiftung an den Mittelaufwüchsen teilhaben? Werden sie den Wissenschaftsorganisationen gleichgestellt, die davon im Rahmen des Pakts für Forschung und Innovation profitieren?

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Sie wissen, dass unter der Vorgängerregierung der Pakt für Forschung und Innovation in den vergangenen Jahren ohne die beiden Organisationen abgeschlossen war. Bislang gibt es noch keine Veränderung, zumal eine solche Veränderung nicht nur die beiden Organisationen betreffen würde. Aber beide Organisationen werden insofern am Aufwuchs und an einer Weiterentwicklung Anteil haben, als die 100 Millionen Euro, die das Auswärtige Amt erhält, und der Betrag, der dem BMZ zukommt - gerade im Hinblick auf den Wissenschaftleraustausch -, für die Verstärkung der Aktivitäten dieser beiden Organisationen vorgesehen sind.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die nächste Frage hat der Kollege Swen Schulz, SPDFraktion.

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin, wir haben in den letzten Wochen eine intensive Diskussion über die Zukunft der Energieversorgung in Deutschland geführt. Mich interessiert, welchen spezifischen Beitrag das Forschungsprogramm zu der Beantwortung dieser Frage leistet.

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Die Planung der Bundesregierung bezieht sich für den Zeitraum 2006 bis 2009 einschließlich auf Investitionen in Höhe von insgesamt 2 Milliarden Euro. Wir haben dies den Unternehmern am Montagabend mitgeteilt und werden jetzt mit ihnen die Strategie entwickeln, wie diese Investitionen des Bundes durch entsprechende Investitionen der Wirtschaft zu ergänzen und zu vervielfachen sind. Es wird im Wesentlichen darum gehen, neue Energiequellen zu erschließen und Versorgungssicherheit herzustellen. Ich nenne einige Stichworte, auf die sich die Projekte der unterschiedlichen Häuser beziehen. Aus dem 6-Milliarden-Euro-Programm sollen vor allem Investitionen in moderne Kraftstofftechnologien auf Basis von Kohle und Gas - Stichwort CO2 -, Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie, Technologien und Verfahren für energieoptimiertes Bauen und Wohnen, effiziente Energienutzung - da haben übrigens gestern die Partner für Innovation auch eine Reihe von interessanten und detaillierten Vorschlägen gemacht -, Forschung im Bereich erneuerbarer Energien und nukleare Sicherheits- und Endlagerforschung erfolgen. Zwischen dem BMU und dem BMBF sind in den letzten Tagen außerdem ein gemeinsames Programm zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in den Bereichen Strahlenschutz und Kernenergiesicherheit und ein gemeinsames zusätzliches Programm im Bereich der Ressourceneffizienz vereinbart worden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die nächste Frage hat die Kollegin Cornelia Pieper, FDP-Fraktion.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Ministerin, in Ihrem 6-Milliarden-Euro-Programm sind für die nächsten Jahre auch höhere Investitionen in Großgeräte vorgesehen. Das spiegelt sich schon im Haushalt 2006 wider. Die Bundesregierung hat bereits in der Koalitionsvereinbarung festgestellt, dass es - das zeigt auch ein Blick auf die Landkarte - in den alten Bundesländern hervorragende Forschungseinrichtungen mit entsprechenden Großgeräten gibt. Es fehlt aber eine Großforschungseinrichtung in den neuen Bundesländern. Sie haben sich dazu bekannt. Wird die Bundesregierung im Rahmen des 6-Milliarden-Euro-Programms eine neue Initiative für ein solches Großgerät in den neuen Bundesländern ergreifen und wird dieses Vorhaben eine europäische Dimension haben?

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Sie wissen, dass im europäischen Kontext über Listen diskutiert wird. Konkret geht es - schon seit geraumer Zeit - um das Thema Neutronenspallationsanlage in den neuen Bundesländern, und zwar im Großraum Leipzig. Wenn es - das ist seitens der betroffenen Bundesländer in den entsprechenden Gremien vorgetragen worden eine Chance zugunsten der Entscheidung für ein solches Großgerät an einem Standort in Deutschland gibt, dann wird dieses Vorhaben selbstverständlich unterstützt werden. Unsere Einschätzung ist allerdings derzeit, dass es eine solche Entscheidung nicht geben und dass auch eine weitere Initiative Deutschlands - dass die betroffenen Regionen daran interessiert sind, ist bekannt - nichts daran ändern wird. Deshalb ist nach bisheriger Planung die Konzentration auf die in dem Programm beschriebenen drei Großprojekte vorgesehen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Johann-Henrich Krummacher, bitte.

Johann Henrich Krummacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003793, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, es ist sehr ermutigend, dass mit dem 6-Milliarden-Euro-Programm starke Impulse für Innovation und Wachstum gegeben werden. Wir befinden uns dabei in einem globalen Wettbewerb. Deshalb hätte ich gerne Auskunft darüber, wie die öffentlich finanzierte Forschung in Deutschland im Vergleich zu unseren Wettbewerbern in den USA, Großbritannien oder Asien - vor allem in Indien - in den vergangenen Jahren aufgestockt worden ist.

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Dem Kabinett hat in der heutigen Sitzung auch der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands vorgelegen. Daraus ist sehr deutlich ersichtlich, dass wir in Deutschland zwar ein hohes Niveau - auch bei den Forschungsinvestitionen - erreicht haben, dass aber die Dynamik vor allem in Südostasien deutlich stärker ist. Der Anteil der Investitionen in Forschung und Entwicklung am BIP ist etwa in Japan, China und den USA höher als in Deutschland. Während unser Anteil bei 2,55 Prozent liegt, liegt er in den genannten Ländern bei 3,4, 3,7 bzw. 3,9 Prozent, und das bei anhaltend großer Dynamik. Im europäischen Kontext stehen wir mit unserem Anteil nicht schlecht da. Aber wir wollen das 3-Prozent-Ziel, dieses wichtige strategische Ziel der Lissabonstrategie, auf jeden Fall erreichen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin, Sie haben ausgeführt, dass Sie mit dem 6-Milliarden-EuroProgramm - das habe ich mit großem Interesse vernommen - auch kleine und mittlere Unternehmen unterstützen wollen. Nun haben wir in den neuen Bundesländern die Entwicklung zu verzeichnen, dass viele Forschungsabteilungen durch die Abwicklung großer Industriebetriebe und der Akademie der Wissenschaften weggefallen sind. Es gibt dort zwar viele kleine innovative Unternehmen. Aber diese können es sich nicht leisten, Grundlagen- und Industrieforschung in großem Umfang zu betreiben. Haben Sie konkrete Projekte zur Unterstützung gerade dieser Unternehmen durch Zurverfügungstellung von Kapazitäten für Grundlagen- und Industrieforschung innerhalb des Programms entwickelt?

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Das ist bei der geplanten deutlichen Aufstockung der Mittel für das Programm zur Förderung innovativer Wachstumsträger berücksichtigt. Hier geht es insbesondere um die Unterstützung von Forschungsvorhaben kleinerer und mittlerer Unternehmen durch Kooperation mit externen Industrieforschungseinrichtungen in den neuen Bundesländern. Zudem soll die Förderung schnell wachsender Unternehmen intensiviert werden. Des Weiteren sollen die Mittel für die Gründung von Technologieunternehmen - das ist schon stichwortartig angesprochen worden - aufgestockt werden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Röspel, bitte.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin, das 3-Prozent-Ziel, also 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben, ist schon erwähnt worden. In den letzten sieben Jahren ist der entsprechende Haushaltsansatz um 20 Prozent erhöht worden. Mit dem nun aufgelegten 6-Milliarden-Euro-Programm werden wir einen weiteren guten Schritt nach vorne tun. Es ist nicht nur ein Programm für Bildung und Forschung, sondern auch ein Wirtschaftsförderungsprogramm. Allerdings kann es nicht nur Aufgabe des Staates sein, Forschung und Entwicklung zu fördern, sondern es sollte auch Aufgabe der Wirtschaft sein. Meine Frage lautet daher, ob wir nicht an die Wirtschaft appellieren müssten - vielleicht sehen Sie und eventuell der Wirtschaftsminister noch andere Möglichkeiten -, stärker in Forschung und Entwicklung zu investieren, wie es in anderen Ländern der Fall ist.

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Sowohl das Wirtschaftsministerium als auch mein Haus und die anderen an den F-und-E-Investitionen beteiligten Ministerien werden in den jeweiligen Branchen nicht nur werben und appellieren. Vielmehr geht es auch darum, auf der Grundlage konkreter Programme über Investitionen in den Unternehmen zu reden. Wir haben das bereits auf dem Energiegipfel am vergangenen Montag angesprochen. Wie ich finde, haben wir eine sehr konstruktive Resonanz darauf bekommen. Dass die Mittel seitens der Bundesregierung für die Energieforschung um 30 Prozent steigen, nachdem sie um 40 Prozent gesunken sind, ist ein starkes Signal. In der Arbeitsgruppe „Effizienz und Forschung“ wird in den nächsten Wochen über Projekte gesprochen, die zu der angestrebten Kofinanzierung durch die Wirtschaft - auf jeden öffentlichen Euro kommen mindestens 2 privatwirtschaftliche Euro - führen sollen. Ich bin davon überzeugt, dass wir das nach Branchen unterteilt tun sollten. Gestern Abend wurde über die Projekte der Impulskreise „Partner für Innovation“ gesprochen. Auch hier wird deutlich, dass für viele Bereiche - Stichworte Mobilität, Werkstoffinnovationen, Gesundheitsforschung Vorschläge auf dem Tisch liegen, auf die wir nun bei der Weiterentwicklung der Strategie gut eingehen können. Es ist von den Impulskreisen selbst angedacht worden, dass es hierbei zu einer Public-Private Partnership kommen soll. Es bestehen also gute Chancen, den Weg von Beginn an gemeinsam zu gehen. So wird es auch bei den anderen Branchen sein: Wir werden sehr stark darauf achten, nicht einfach nur Programme aufzulegen, sondern jeweils auch den Dialog mit der Wirtschaft zu führen. In meinem Hause wird es eigens zu einem Dialog zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik kommen, um die entsprechenden Strategien für die einzelnen Branchen zu entwickeln, und zwar unter Beteiligung der jeweiligen Häuser.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für weitere Fragen zu diesem Thema oder anderen Themen aus der Kabinettssitzung oder darüber hinaus steht uns keine Zeit mehr zur Verfügung. Deswegen beende ich an dieser Stelle die Befragung der Bundesregierung. Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde - Drucksachen 16/1098, 16/1121 Gemäß Nr. 10 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde rufe ich zunächst die dringliche Frage der Abgeordneten Anja Hajduk, Drucksache 16/1121, auf: Wie begründet die Bundesregierung die Vorlage einer Garantie für einen ungebundenen Finanzkredit zugunsten von Gasprom an den Haushaltsausschuss in dieser Woche angesichts der Tatsache, dass Gasprom den Kredit von 1 Milliarde Euro, bereitgestellt durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau und die Deutsche Bank, gar nicht in Anspruch nehmen will, wie der Äußerung des Aufsichtsratsvorsitzenden des nordeuropäischen Gaspipelineprojekts, des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder, in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 3. April 2006 zu entnehmen ist? Zur Beantwortung steht die Kollegin Barbara Hendricks zur Verfügung.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Frau Kollegin Hajduk, es handelt sich um die turnusmäßige Unterrichtung des Haushaltsausschusses über die Übernahme von Bürgschaften bei Großprojekten im Ausland. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Hajduk, eine Nachfrage.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Staatssekretärin, wie kann die Bundesregierung ausschließen, dass beim früheren Staatssekretär Caio Koch-Weser im Zusammenhang mit dem Gegenstand der Unterrichtung, der beabsichtigten Gewährleistung, zu keiner Zeit eine Interessenkollision zwischen seiner Tätigkeit im BMF und seiner jetzigen Tätigkeit für die Deutsche Bank vorlag? Aktuellen Pressemeldungen ist zu entnehmen, dass die Garantie für den auch von der Deutschen Bank bereitgestellten Kredit seitens des BMF von Caio Koch-Weser genehmigt wurde.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Es ist in der Tat richtig, dass die Garantie seitens des BMF vom Staatssekretär Caio Koch-Weser abgezeichnet wurde. Sie wurde vom zuständigen Referat empfohlen. Dies wurde vom Unterabteilungsleiter und vom Abteilungsleiter abgezeichnet. Staatssekretär Caio KochWeser hat für das BMF endgezeichnet. Allerdings hatte das zuständige Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit die Förderungswürdigkeit des Projektes bestätigt, insbesondere im Hinblick auf die Energieversorgung in der Bundesrepublik Deutschland. Auch aus heutiger Sicht ist die Übernahme der Garantie fachlich gerechtfertigt. Die mit der Übernahme verbundenen Risiken sind auch aus haushaltsrechtlicher Sicht vertretbar. Es wäre in der Tat besser gewesen, wenn Staatssekretär Caio Koch-Weser den Anschein einer Befangenheit vermieden hätte und einen anderen Staatssekretär die Unterschrift hätte leisten lassen. Dieser wäre allerdings fachlich zu keinem anderen Ergebnis gekommen; auch dann wäre die Genehmigung erteilt worden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Hajduk, eine weitere Nachfrage.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Staatssekretärin, wie erklärt es sich eingedenk Ihrer Antwort, dass im Zusammenhang mit der Genehmigung der Tätigkeit von Herrn Koch-Weser für die Deutsche Bank, in deren Vorfeld das Bundesministerium der Finanzen eine Überprüfung durchführen musste, bei der Beratung im Haushaltsausschuss vonseiten der Bundesregierung gesagt wurde, Herr Koch-Weser habe im besagten Zeitraum mit Blick auf die Deutsche Bank keine Entscheidung von Gewicht getroffen?

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Er hat in dem Zusammenhang in der Tat keine Entscheidung von Gewicht getroffen, denn die Entscheidung wurde im Wesentlichen und federführend vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit getroffen. Das Bundesfinanzministerium hat diese Entscheidung selbstverständlich mitgetragen. Ich darf Ihnen zum Hintergrund sagen, dass der interministerielle Ausschuss, der über die Erteilung solcher Garantien für Kredite berät, in der Regel aus Referatsleitern des Bundesministeriums für Wirtschaft - damals Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit -, des Bundesministeriums der Finanzen, des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und des Auswärtigen Amtes besteht. Dieser interministerielle Ausschuss trifft eine Entscheidung, die sich an den Vorgaben durch die Leitungen der jeweiligen Häuser orientiert. Wie Sie wissen, hat Bundesminister a. D. Clement schon erklärt, dass er das damals federführend abgezeichnet hat. In der Tat war das Bundesministerium der Finanzen bis zur Ebene des beamteten Staatssekretärs Koch-Weser an dieser Entscheidung beteiligt. Ich habe nur gesagt: Es wäre gut gewesen, wenn Herr Koch-Weser auch nur den Anschein einer Verquickung vermieden hätte. Andererseits wäre es im Ergebnis zu keiner anderen Entscheidung gekommen; denn diese Entscheidung ist auch aus heutiger Sicht sachgerecht. Insofern ist sie Herrn Koch-Weser vom Inhalt her nicht vorzuwerfen. Er hätte einen solchen Anschein allerdings vermeiden können.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt die Nachfrage von Frau Lötzsch, bitte.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Staatssekretärin, mich interessiert, wie Sie die Beteiligung an einer Entscheidung und das Treffen einer Entscheidung inhaltlich und semantisch trennen wollen. Diese Unterscheidung haben Sie eben in der Antwort auf die Frage von Frau Hajduk gemacht. Aber das ist nur eine Vorbemerkung. Ich möchte von Ihnen gerne wissen, ob Sie die sehr unterschiedlichen Bewertungen der Bundesministerien, was diesen Vorgang betrifft, zum Anlass nehmen, erstens, dem Bundestag einen Bericht darüber vorzulegen, wer wann an welcher Entscheidung wirklich beteiligt war, und zweitens, ob Sie die Auffassung des Bundesministers Glos teilen, dass solche schwerwiegenden Entscheidungen nicht in einer Interimszeit, also in der Zeit zwischen Regierungsende und Regierungsbeginn, getroffen werden sollen?

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Frau Kollegin, mir sind unterschiedliche Einlassungen der Bundesressorts zu diesem Thema nicht bekannt. Ich kann das insofern nicht bestätigen. Wenn zum Beispiel der Haushaltsausschuss in diesem Zusammenhang - er wird sich mit dieser Fragestellung und auch mit anderen Garantievergaben in diesen Tagen, heute oder morgen, befassen; Fragen dieser Art werden dem Haushaltsausschuss turnusmäßig zugeleitet - darum bittet, dass ihm der Zeitplan der Entscheidung vorgelegt wird, dann wird das selbstverständlich geschehen. Ich denke, er wird Vergleichbares heute Nachmittag oder morgen fordern und dann wird die Bundesregierung das selbstverständlich offen legen. Ich weiß nicht, ob Herr Glos sich so geäußert hat. ({0}) Ich glaube aber nicht, dass es darauf ankommt, solche Entscheidungen nicht in einer, wie es heißt, Übergangszeit zu fällen. Es handelt sich in der Tat um ein normales Verwaltungsverfahren. Das muss man vielleicht deutlich machen. Ja, der Umfang dieses Kredites ist nicht klein. Angesichts des Gläubigers, um den es geht, ist dieser Umfang allerdings völlig unbedenklich, auch aus haushaltsrechtlicher Sicht. Das Unternehmen Gasprom ist ein bonitätsmäßig sehr gut zu bewertendes Unternehmen. Seit 1995 hat der Bund für insgesamt zehn Projekte deutscher Exporteure mit Gasprom Deckungen im Bereich der Exportkreditfinanzierung mit einem Gesamtvolumen von 1,5 Milliarden Euro übernommen, zum Beispiel für das Gaspipelineprojekt Euro-Yamal. Alle Zahlungen erfolgen pünktlich. Sie erkennen daran, dass es solche Verbürgungen seit 1995, also seit mehr als zehn Jahren, unter Beteiligung aller politischen Farben an der Bundesregierung mit Ausnahme der der Linken gegeben hat. Es ist also ein völlig normales und übliches Verwaltungsgeschäft. Unsere Verfassung sieht gerade vor, dass eine Regierung so lange im Amt bleibt, bis eine neue kommt, damit normale Verwaltungsgeschäfte gemacht werden können.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die nächste Nachfrage kommt von dem Kollegen Volker Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Staatssekretärin, selbstverständlich muss man handlungsfähig sein, auch nach einer Bundestagswahl. Wenn alles korrekt gelaufen ist, dann ist dieser Kredit grundsätzlich auch nicht zu kritisieren. Gleichwohl muss man diese Nachfragen natürlich klären. Ich denke, diese Klärung wird im Ausschuss noch fortgesetzt werden können. Mich interessiert ein weiterer Aspekt: Welche Stellen der Bundesregierung, insbesondere welche Mitglieder der Bundesregierung, waren über den Tatbestand dieser Zusage informiert? Wann waren welche Stellen einbezogen? Sind auch Stellen des Bundeskanzleramtes in diesen Vorgang einbezogen oder nachträglich unterrichtet worden?

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Nein, es waren keine Stellen des Bundeskanzleramts einbezogen. Es sind auch keine Stellen des Bundeskanzleramts nachträglich unterrichtet worden. Das Verfahren ist rite gelaufen - unter Beteiligung der Häuser, die ich eben schon aufgezählt hatte. Federführend war das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, das heutige Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, und beteiligt waren das Auswärtige Amt, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und das Bundesministerium der Finanzen. Der inParl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks terministerielle Ausschuss ist in der Regel auf Referatsleiterebene besetzt. Dieser Ausschuss ist vorbereitend tätig, was ungebundene Finanzkredite anbelangt. Der interministerielle Ausschuss hat am 24. Oktober getagt. Was das Bundesministerium der Finanzen anbelangt, so kann ich aus den Akten sagen, dass die Vorlage mit Schreiben vom 25. Oktober mit der Bitte um Zustimmung an den Staatssekretär Koch-Weser gegangen ist. Wie ich eben schon gesagt habe, war dies dazwischen von dem zuständigen Unterabteilungsleiter und Abteilungsleiter abgezeichnet. Ich gehe davon aus, dass das in den anderen Häusern in gleicher Weise erfolgt ist. Für das Bundesministerium der Finanzen kann ich sagen: Bundesminister Eichel ist nicht beteiligt gewesen. Ich bin auch nicht beteiligt gewesen. Wenn man sich sozusagen die Linie des Hauses ansieht, ist das so: Erst kommt der Bundesminister, dann die Parlamentarische Staatssekretärin und dann der beamtete Staatssekretär. An dieser Linie - Ebene beamteter Staatssekretär - hat bei uns die Endzeichnung für das Bundesministerium der Finanzen stattgefunden. Ich gehe davon aus, dass das in den anderen Häusern auch so war, mit Ausnahme natürlich des federführenden Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit, in dem der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit die Endzeichnung vorgenommen hat.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es gibt eine weitere Nachfrage. Bitte, Frau Lührmann.

Dr. Anna Lührmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003585, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Staatssekretärin, unbestritten ist, dass die Verwaltung natürlich auch in der Zeit zwischen zwei Regierungen handlungsfähig sein muss. Vor dem Hintergrund dessen, dass der Aufsichtsratsvorsitzende des Pipelineprojekts, der ehemalige Bundeskanzler Schröder, gesagt hat, der Kredit und damit auch die Garantie würden gar nicht in Anspruch genommen werden, möchte ich Sie fragen, wie Sie die Dringlichkeit der Entscheidung - das war sozusagen auch die letzte Amtshandlung von Exminister Clement - begründen.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

In unserem Auftrag werden so genannte Mandatare tätig, die zunächst einmal die Risiken bewerten. Das macht für uns in diesem Zusammenhang die Firma Pricewaterhouse-Coopers. Die Mandatare sind erstmals im Februar 2005 an die beteiligten Häuser herangetreten und haben erklärt, unabhängig von dem Unternehmen Gasprom, es gebe vermehrt Nachfragen des Inhalts, ob Energieprojekte - so möchte ich sie jetzt einmal bezeichnen - auch mit ungebundenen Finanzkrediten versehen werden könnten. Aktuell gibt es zum Beispiel eine solche Frage betreffend ein Ölvorkommen in einem afrikanischen Land. Die ungebundenen Finanzkredite sind eben nicht an einen bestimmten Auftrag eines Unternehmens gebunden. Daneben gibt es die Exportbürgschaften, die wir Hermesbürgschaften nennen. Sie kommen in folgendem Fall zum Zuge: Ein deutsches Unternehmen will etwas in ein anderes Land liefern und sieht dies mit einem Risiko behaftet, welches es sozusagen mit der öffentlichen Hand teilen will. Aber dafür, dass die öffentliche Hand einen Teil dieses Risikos übernimmt, muss Geld bezahlt werden. Das ist natürlich weniger, als wenn man einen Kredit nehmen würde, aber größenordnungsmäßig ist etwas unter bis etwas über 1 Prozent der Gesamtsumme zu bezahlen. Wir verdienen Geld damit, weil sich die Risiken, die wir übernehmen, normalerweise nicht realisieren, aber jeder ja rund 1 Prozent dafür bezahlen muss, dass es schief gehen könnte. Mit allen Bürgschaften verdienen wir als Bundesrepublik Deutschland im Schnitt Geld, weil wir natürlich sehr gut prüfen, ob man dieses Risiko wirklich eingehen kann. Die Vorprüfung erfolgt also durch unsere Mandatare, in diesem Fall die Firma Pricewaterhouse-Coopers. Die sind zuerst im Februar des Jahres 2005 auf Arbeitsebene an die beteiligten Ministerien herangetreten. Am 20. September haben sich die Mandatare erneut an die Häuser gewandt. An diesem Tag fand eine Sitzung des interministeriellen Ausschusses statt. Da wurde diskutiert, ob die Förderungswürdigkeit des Pipelineprojektes unter dem Gesichtspunkt Energiesicherheit usw. gegeben sei. In unserem Haus ist dann eine Unterrichtungsvorlage an den zuständigen Staatssekretär gegangen. Ich gehe davon aus, dass das auch in den anderen Häusern der Fall war. Es ist klar, dass Referatsleiter nicht allein eine solche Entscheidung treffen. Am 13. Oktober ist ein formeller Deckungsantrag der Kreditanstalt für Wiederaufbau und der Deutschen Bank eingegangen - von deren Seite ausgehend. Sie hatten aber auch von Anfang an gesagt, dass sie den voraussichtlich in der ersten Jahreshälfte abrufen wollten, dass sozusagen im Vorhinein ein formeller Deckungsantrag gestellt worden ist, um Klarheit darüber zu erlangen, ob ein solcher Kredit zu einem späteren Zeitpunkt gedeckt würde. Am 18. Oktober wurde durch das zuständige Bundesministerium für Wirtschaft die rohstoffpolitische Förderungswürdigkeit unter dem Gesichtspunkt der Versorgungssicherheit der Bundesrepublik Deutschland bestätigt. Daraufhin hat am 24. Oktober der interministerielle Ausschuss getagt und die grundsätzliche Deckungsübernahme empfohlen. Für unser Haus hat der Referatsleiter diese Entscheidung unter Leitungsvorbehalt gestellt. Deswegen hat er die Vorlage an den Staatssekretär erstellt, der entsprechend dem Votum des zuständigen Referatsleiters die Zustimmung für das Bundesministerium der Finanzen erteilt hat.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt gibt es noch einige weitere Nachfragen. Zunächst der Kollege Matthias Berninger.

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Staatssekretärin, Sie haben schon darauf hingewiesen, dass dieses Projekt mit 1 Milliarde Euro eine besondere Größenordnung hat. Die Entscheidungen auf den Leitungsebenen der Häuser sind sehr schnell erfolgt. Wir beide wissen, dass das Tempo in öffentlichen Verwaltungen nicht immer so hoch ist. Können Sie also vor dem Hintergrund des Volumens und der Bedeutung des Projektes sowie der Schnelligkeit der Entscheidung ausschließen, dass die politische Leitung auf der Ebene des Bundeskanzleramtes, des Wirtschaftsministeriums oder des Finanzministeriums - seitens der Banken, seitens des beteiligten Partners Gasprom oder aber seitens der Mitarbeiter Ihrer Häuser - in das Projekt involviert worden ist?

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Ich kann das für das Bundesministerium der Finanzen ausschließen. Aufgrund der Aktenlage kann ich das auch für die anderen Häuser ausschließen, mit Ausnahme des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit; in dem Fall ist bekannt, dass der damalige Minister Clement das vor dem Hintergrund der rohstoffpolitischen Förderungswürdigkeit abgezeichnet hat. Selbstverständlich kann ich nicht ausschließen, dass irgendwann irgendwer mit irgendjemandem gesprochen hat. Aber das kann man nie ausschließen. Sie dürfen daraus nicht umgekehrt schließen, dass ich annehmen würde, unter der Hand sei darüber gesprochen worden. Es gibt keinen Anlass zu einer solchen Vermutung.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Winkler, bitte.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Staatssekretärin, Sie haben eben im Zusammenhang mit der Vermeidung eines Anscheins von Interessenverquickung in Bezug auf Herrn Staatssekretär KochWeser gesagt, es wäre besser gewesen, er hätte einen anderen Staatssekretär zeichnen lassen. Wie bewerten Sie denn vor diesem Hintergrund der Vermeidung eines Anscheins die Übernahme des Aufsichtsratsvorsitzes bei der Firma Gasprom durch den Bundeskanzler?

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Winkler heiße ich.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

- Entschuldigung, Herr Kollege Winkler; wir duzen uns normalerweise; da kann das mit dem Nachnamen schon einmal schief gehen -, der Bundeskanzler ist zu keinem Zeitpunkt mit dieser Fragestellung befasst gewesen. Im Übrigen - Sie mögen es für spitzfindig halten war bzw. ist dieser Kredit - wir haben noch keine offiziellen neuen Nachrichten darüber, ob der Kredit nun tatsächlich in Anspruch genommen werden soll oder nicht; es gibt öffentliche Äußerungen dazu, offenbar auch von dem Vorstandsvorsitzenden des Unternehmens Gasprom, aber bei uns ist offiziell noch keine neue Nachricht angekommen - für die so genannte Onshorepipeline, also für das, was auf dem Festland stattfindet, beabsichtigt. Der Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder ist der Aufsichtsratsvorsitzende derjenigen Gesellschaft, die eigens für den Bau der Offshorepipeline unter der Ostsee gegründet wurde. Beide Gesellschaften haben verschiedene Eigentümer. Gasprom ist für den Teil der Pipeline verantwortlich, der auf russischem Festland verläuft. Für den Teil der Pipeline, der unter der Ostsee von Sankt Petersburg bis Greifswald verläuft - dieses Projekt ist für die deutsche, aber auch für die europäische Versorgungssicherheit von großer Bedeutung -, ist ein eigens gegründetes Konsortium verantwortlich, an dem das Unternehmen Gasprom 51 Prozent hält und die beiden deutschen Unternehmen Eon Ruhrgas und BASF zu gleichen Teilen die anderen 49 Prozent halten.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möglicherweise stellt sich demnächst die Frage, welchem Kollegen Fischer der Kollege Winkler ähnlich sieht. ({0}) Nun zur letzten Nachfrage zu diesem Thema. Die Kollegin Ute Koczy, bitte.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke. - Frau Staatssekretärin, bezogen auf die Förderwürdigkeit des Projektes und bezogen auf Ihre Anmerkung, dass auch etwas schief gehen könne, will ich fragen: Gab es vonseiten der Bundesregierung irgendwelche Anforderungen an die Kreditierung dieses Projektes in Bezug auf soziale und ökologische Standards beim Bau der Pipeline? Sind darüber mit den Mandataren der Bundesrepublik, Pricewaterhouse-Coopers, Gespräche geführt worden? Eine weitere Frage: Sind Sie nicht ebenfalls der Auffassung, dass die Trennung in Onshorepipeline und Offshorepipeline nicht ganz korrekt ist, weil die Pipeline als Ganzes gesehen werden muss?

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Frau Kollegin, die Mandatare, die für die Bundesrepublik Deutschland in der Weise tätig werden, dass sie das Risiko eines Projektes bewerten, kennen natürlich die Regeln, die mit der Bürgschaftsvergabe durch die Bundesrepublik Deutschland verbunden sind. Selbstverständlich prüfen sie unter diesem Gesichtspunkt nicht nur dieses, sondern ein jedes Projekt. Ich hatte eben bereits gesagt, dass man es möglicherweise als spitzfindig betrachten kann, wenn man zwischen der Pipeline auf dem Festland und der Pipeline unter Wasser unterscheidet. Aber das Projekt, um das es hier geht, bezieht sich ausschließlich auf den Bau der Pipeline auf dem Festland. Bundeskanzler a. D. Schröder ist Aufsichtsratsvorsitzender der Gesellschaft geworden, die sich ausschließlich um den Bau der Pipeline unter Wasser kümmert. Es gibt also zwei unterschiedliche Gesellschaften. Hinsichtlich des Aktienrechts ist das natürlich ein großer Unterschied. Faktisch ist es aber so, dass die eine Pipeline ohne die andere keinen Sinn machen würde, weil man das Gas, das zur Ostsee geleitet wird, nicht in die Luft pusten will.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit sind wir am Ende der Beantwortung der dringlichen Frage. Wir kommen jetzt zu den Fragen der Fragestunde auf Drucksache 16/1098, die ich in der üblichen Reihenfolge aufrufe. Die Frage 1 des Kollegen Jürgen Trittin und die Frage 2 der Kollegin Veronika Bellmann aus dem Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleramts werden schriftlich beantwortet. Für die Beantwortung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen steht weiterhin die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Hendricks zur Verfügung. Ich rufe die Frage 3 der Kollegin Dr. Barbara Höll auf: Wie bewertet die Bundesregierung die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts im Beschluss des Zweiten Senats vom 18. Januar 2006 ({0}), dass sich aus dem in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes zum Ausdruck kommenden Maßstab keine allgemein verbindliche Belastungsobergrenze in der Nähe einer hälftigen Teilung - Halbteilungsgrundsatz - zwischen Eigentümer und Staat herleiten lässt, und welche Rückschlüsse zieht sie in diesem Zusammenhang für die Verfassungsmäßigkeit der Vermögensteuer?

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme gegenüber dem Bundesverfassungsgericht zum Ausdruck gebracht, dass die Verfassung keine starre Obergrenze für die Ertragsteuerbelastung enthält. Die Bundesregierung ist also von diesem Urteil nicht negativ überrascht worden, sondern sieht sich in ihrer Auffassung bestätigt. Aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Januar 2006 ergeben sich allerdings nach Auffassung der Bundesregierung keine Rückschlüsse für die Vermögensteuer. In der Vermögensteuerentscheidung, in der der so genannte Halbteilungsgrundsatz formuliert wurde, wurde die Vermögensteuer nicht wegen eines Verstoßes gegen diesen Grundsatz, sondern wegen des einheitlichen Steuertarifs bei divergierenden Bemessungsgrundlagen für verfassungswidrig erklärt. Insbesondere die Unterschiedlichkeit der Bewertung von Kapitalvermögen und Immobilienvermögen führte zu diesem Urteil. Ich darf Sie daran erinnern, dass der so genannte Halbteilungsgrundsatz auch nicht zu den Gründen des damaligen Urteils gezählt hat, sondern dass er ein Obiter Dictum war, also etwas, das das Bundesverfassungsgericht dem geneigten Leser auch noch zur Kenntnis gegeben hat.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie haben dazu eine Nachfrage? - Bitte schön.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Staatssekretärin, ich danke Ihnen für die Antwort. - Ihnen ist wie mir bekannt, dass die öffentliche Diskussion zum damaligen Zeitpunkt und auch noch danach sehr wohl insoweit vom Halbteilungsgrundsatz dominiert wurde, als gesagt wurde, selbst bei einer Gleichbehandlung von Immobilien und anderen Formen von Vermögen sei es nicht möglich, eine verfassungskonforme Neuformulierung des Vermögensteuergesetzes vorzunehmen. Da wir nun meiner Interpretation nach eine positive Bestätigung dafür haben, dass sich der Halbteilungsgrundsatz in der Form, in der er formuliert war - er erhielt damals nicht die einhellige Unterstützung des zuständigen Senats des Bundesverfassungsgerichts -, nicht aus der Verfassung ableiten lässt, würde sich jetzt nicht auch vom gesellschaftlichen Umfeld her die Möglichkeit eröffnen, die Vermögensbesteuerung neu in Angriff zu nehmen, indem die verschiedenen Vermögensarten gleich besteuert werden würden? Es könnte sich eine neue Einnahmequelle erschließen, wenn man die Vermögensteuer wieder erhebt.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Frau Kollegin Höll, eine verfassungskonforme Ausgestaltung wäre zum jetzigen Zeitpunkt noch schwierig, insbesondere deswegen, weil wir noch auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Erbschaftsteuerrecht warten. Würde dieses aber da sein, dann wären sicherlich die verfassungsrechtlichen Grundlagen dafür gegeben, die Vermögensbesteuerung wieder einzuführen. Allerdings ist die Bundesregierung nicht der Auffassung, dass dies verteilungspolitisch erforderlich wäre. Dem Umstand, dass starke Schultern mehr tragen können als schwache, wird im Steuerrecht bereits durch den progressiven Einkommensteuertarif Rechnung getragen. Darüber hinaus plant die Bundesregierung, Spitzenverdiener auch im Interesse von mehr Steuergerechtigkeit zusätzlich mit einem dreiprozentigen Zuschlag auf den Einkommensteuerhöchstsatz zu belasten. Eine Vermögensteuer läuft dem Ziel der Bundesregierung, Steuerbürokratie abzubauen, zuwider. Insbesondere die Befolgungskosten einer Vermögensteuer für Bürger und Unternehmen sind beachtlich. Die Erhebungskosten übersteigen, gemessen am generierten Aufkommen, definitiv die der Einkommensteuer und der Umsatzsteuer. Einfach ausgedrückt: Es lohnt sich nicht so recht. Im Übrigen ist die Bundesregierung hinsichtlich einer Wiedererhebung der Vermögensteuer auch politisch nicht in erster Linie gefordert. Da der Ertrag einer Vermögensteuer gemäß Art. 106 Abs. 2 Nr. 1 unseres Grundgesetzes den Ländern zusteht, sollten, wenn denn gewünscht, entsprechende Initiativen vom Bundesrat ausgehen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wenn Sie keine weitere Nachfrage haben, kommen wir zur Frage 4 der Abgeordneten Dr. Barbara Höll: Nimmt die Bundesregierung die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, in der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit und der Auferlegung von Steuerlasten ausschließlich durch die allgemeinen Prinzipien der Verhältnismäßigkeit begrenzt zu sein, zum Anlass, die Möglichkeit der Erhebung einer Vermögensteuer erneut zu prüfen, und, wenn nein, warum nicht?

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Frau Kollegin Höll, die Bundesregierung sieht keine Veranlassung, die Wiedererhebung der Vermögensteuer zu prüfen. Die Einführung einer Vermögensteuer ist in erster Linie eine steuerpolitische Entscheidung. Sie gehört nicht zu den Zielsetzungen der Regierungskoalition. Sie wäre im Übrigen politisch derzeit nicht durchsetzbar, weil die aufkommensberechtigten Länder die Wiedererhebung der Vermögensteuer mit großer Mehrheit ablehnen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Eine Nachfrage? - Bitte schön.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Staatssekretärin, sollte man vor dem Hintergrund der gerade in der vergangenen Sitzungswoche wiederum öffentlich dokumentierten gewissen Handlungsunfähigkeit des Gemeinwesens auf allen Ebenen aufgrund des immer mehr abbröckelnden Steueraufkommens nicht die politische Kraft darauf konzentrieren, die Vermögensbesteuerung - die Vermögensteuer ist zwar eine Ländersteuer, muss aber vom Bundestag verabschiedet werden zu reformieren, weil sich hieraus für den Staat - das hängt natürlich vom politischen Willen und der Ausgestaltung der Vermögensbesteuerung ab - eine erhebliche Einkommensquelle erschließen könnte? Auch wenn man nur einen Steuersatz von 1 oder 2 Prozent festlegen würde - das Geldvermögen in der Bundesrepublik Deutschland überschreitet Milliardenwerte -, könnte man wesentlich mehr Einnahmen erzielen als durch einen kleinen Zuschlag auf die Einkommensteuer. Die dadurch erzielten Einnahmen würden nur sehr gering ausfallen. Sie würden Ihren Berechnungen nach, wenn ich mich richtig entsinne, unter 2 Milliarden Euro liegen, während man bei einer Besteuerung des Vermögens mit 1 Prozent immerhin Einnahmen von etwa 15 Milliarden Euro erreichen könnte.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Frau Kollegin Höll, ich kann Ihre Berechnungen nicht bestätigen. Wenn man sich diesem Gedanken denn nähern würde, würden zumindest für betriebliches Vermögen besondere Regelungen notwendig sein, weil es ansonsten zu einem Substanzverlust im Unternehmensbereich kommen würde. Vor diesem Hintergrund haben sich die Koalitionsfraktionen entschieden, keine eigene Initiative zu ergreifen. Dies geht auch aus dem Koalitionsvertrag hervor. Sollte die Mehrheit der Länder zu einer anderen Auffassung kommen, würden sich die Koalitionsfraktionen sicherlich noch einmal zur Beratung zurückziehen. Dies ist allerdings nach meinem Dafürhalten nicht zu erwarten.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie haben eine weitere Nachfrage? - Bitte sehr.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Staatssekretärin, können Sie mir bestätigen, dass es momentan in der Bundesrepublik Deutschland sehr wohl eine Ungleichbehandlung von akkumuliertem Vermögen und Einkommen, das durch Arbeit erzielt wird, gibt? Dabei ist nicht nur die Belastung zu berücksichtigen, die aus der Einkommensbesteuerung resultiert. Auch durch die zu leistenden Sozialabgaben erfolgt eine Ungleichbehandlung von Menschen, denen es möglich ist, nur von ihrem akkumulierten Vermögen zu leben, also de facto von den Zinsen, und Menschen, die arbeiten gehen müssen, so sie denn die Chance auf einen Arbeitsplatz haben.

Dr. Barbara Hendricks (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002672

Frau Kollegin Höll, es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es Menschen, die zum Beispiel eine große Erbschaft machen, besser geht als Menschen, die keine große Erbschaft machen; das ist eine Binsenweisheit. Dieses Vermögen wird aber mit Erbschaftsteuer belegt. Im Übrigen werden die Einkommen, die aufgrund einer Erbschaft entstehen, natürlich auch als Einkommen besteuert. Die Verteilungsgerechtigkeit in der Bundesrepublik Deutschland wird im Wesentlichen über die progressive Einkommensteuer herbeigeführt. Die oberen 10 Prozent der Steuerbürger bringen mehr als 50 Prozent des Einkommensteuervolumens auf, während die unteren 50 Prozent der Einkommensbezieher noch nicht einmal 10 Prozent dazu beitragen. Auf diese Weise wird, wie ich finde, für steuerliche Gerechtigkeit gesorgt. Im Übrigen ist die Bundesregierung der Auffassung, dass ein Gerechtigkeitsansatz, der über die steuerliche Gerechtigkeit hinaus verfolgt werden muss, der gleiche Zugang zu Bildungschancen ist.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Hermann Kues zur Verfügung. Wir kommen zur Frage 5 des Kollegen Kai Gehring: Welche konkreten Maßnahmen plant die Bundesregierung in diesem Jahr, um die Partizipation von Jugendlichen zu verbessern, und welche Beteiligungsmöglichkeiten und -rechte von Jugendlichen sind der Bundesregierung dabei besonders wichtig?

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Lieber Herr Kai Gehring, im Koalitionsvertrag ist festgelegt, dass die Bundesregierung Kinder und Jugendliche weiter in politische, planerische und zukunftsorientierte Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse einbeziehen wird. Zu diesem Zweck werden in den nächsten Wochen mit potenziellen Partnern Schwerpunkte festgelegt. Es werden ganz konkrete Projekte vereinbart und auf den Weg gebracht.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Eine Nachfrage, Herr Gehring?

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Staatssekretär Kues, für Ihre Antwort auf meine Frage zur Partizipation von Jugendlichen. Ich bedaure, dass es bisher noch keine eigenen Vorschläge seitens des Ministeriums gibt. Ich möchte auf Ihre Antwort hin direkt fragen: Wer sind die Partner, mit denen Sie hier in einen Dialog über konkrete Schwerpunkte und Ziele treten? Welches sind die Schwerpunkte und Ziele in dem wohl auch geplanten Bündnis zur politischen Beteiligung seitens des Ministeriums?

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Sie wissen, dass wir in der ersten Phase bundesweit 200 Projekte auf den Weg gebracht haben, an denen immerhin 20 000 Jugendliche - das ist eine große Anzahl teilgenommen haben. Sie sind mit dem Deutschen Bundesjugendring und der Bundeszentrale für politische Bildung durchgeführt worden. Wir befinden uns noch in der Auswertung, glauben aber, dass wir Mitte Mai konkrete Ziele, Handlungsfelder und neue Projekte benennen können, sodass im Herbst 2006 eine neue Initiative starten kann. Wer die Partner im Einzelnen sein werden, wird von den Themen abhängen. Ein Thema, das sich herauskristallisiert hat und eine Rolle spielen sollte, ist das Thema „Demografischer Wandel - Wert der Jugend in der Gesellschaft“. Daraus müssen sich dann die konkreten Projekte ergeben. Das wird aber, wie gesagt, Mitte Mai besprochen werden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Haben Sie eine weitere Nachfrage, Herr Gehring?

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn diese Gespräche im Mai stattfinden sollen, wissen Sie dann auch, wann wir im Ausschuss darüber diskutieren können? Und welche Unterschiede können Sie schon jetzt, obwohl Sie sich noch in der Evaluationsphase befinden, im Vergleich zum Projekt P aus der letzten Legislaturperiode ausmachen?

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Das kann ich noch nicht im Einzelnen sagen. Im Ausschuss kann jederzeit über den derzeitigen Stand berichtet werden; es muss lediglich vereinbart werden, ab wann berichtet werden soll. Sinnvoll ist eine Berichterstattung eigentlich erst dann, wenn harte Fakten vorliegen, damit Sie auch die entsprechenden Informationen erhalten können. Wir können das jetzt abschließend noch nicht sagen. Wir wollen uns bei diesem Themenkomplex Zeit lassen und das in Ruhe auf den Weg bringen. Sie wissen ja, dass die Laufzeit der ersten Projekte bis hinein in dieses Jahr ging. Insofern glaube ich, dass es bis jetzt keinen Zeitverzug gegeben hat.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Eine weitere Nachfrage zu diesem Thema, jetzt von der Kollegin Cornelia Hirsch.

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Staatssekretär, die EU-Kommission hat das kommende Jahr zum Europäischen Jahr der Chancengleichheit erklärt. Das würde ja eine Gelegenheit bieten, eine Verbesserung der Partizipationsmöglichkeiten von Jugendlichen vorzusehen. In diesem Zusammenhang wäre meine Frage an Sie, inwieweit Sie das Europäische Jahr der Chancengleichheit in Ihrem Hause schon eingehender diskutiert haben und welche Planungen es in dieser Hinsicht gibt.

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Wir haben das Europäische Jahr der Chancengleichheit bei uns sehr intensiv diskutiert; wir bereiten uns auch sehr intensiv darauf vor. Wir werden auch die Programme unseres Hauses daraufhin überprüfen, inwieweit sie dort eingebunden werden können. Ich kann nur sagen: Dieses Europäische Jahr der Chancengleichheit wird - erst recht, da Deutschland im ersten Halbjahr die Präsidentschaft innehaben wird - für uns eine zentrale Bedeutung haben. Wir werden uns mit unseren europäischen Nachbarn abstimmen und dementsprechend die Themen festlegen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Frage 6 des Kollegen Dr. Ilja Seifert wird schriftlich beantwortet. Das Gleiche gilt für die Fragen 7 und 8 des Kollegen Hans-Josef Fell aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Wir kommen also jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Die Frage 9 des Abgeordneten Dr. Hakki Keskin wird gemäß Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde schriftlich beantwortet. Wir kommen somit zur Frage 10 des Abgeordneten Kai Gehring: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Wie beurteilt die Bundesregierung die steigende Zahl der Hochschulabsolventen, die nach ihrem Studium lange und zum Teil unbezahlte Praktika ableisten, durch die ihr Berufseinstieg verzögert wird und sozialversicherungspflichtige Stellen verdrängt oder gar nicht erst geschaffen werden, und was beabsichtigt die Bundesregierung gegen diese Entwicklung zu unternehmen?

Andreas Storm (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002811

Kollege Gehring, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Der Arbeitsmarkt für Akademiker hat sich im vergangenen Jahr weiter positiv entwickelt. Die ohnehin niedrige Arbeitslosenquote bei Akademikern hat sich 2005 auf 3,8 Prozent reduziert. Allerdings profitieren nicht alle Personengruppen in gleicher Weise von dieser positiven Entwicklung. Hierzu gehören nach Angaben der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung der Bundesagentur für Arbeit insbesondere die Berufsanfänger, da der größte Teil der Stellenangebote Bewerbern mit Berufserfahrung vorbehalten ist. Der Bundesregierung liegen allerdings keine gesicherten Zahlen darüber vor, wie sich die Zahl der Hochschulabsolventen in unbezahlten Praktikapositionen entwickelt hat. Die Bundesregierung ist auch angesichts der berufspraktischen Anforderungen der Unternehmen an Hochschulabsolventen der Auffassung, dass der Bolognaprozess in Deutschland mit dem Ziel einer Verkürzung der Studienzeiten und eines stärkeren Praxisbezugs in der akademischen Ausbildung fortgesetzt werden muss. In diesem Zusammenhang gilt es gleichzeitig, die Erstausbildung breit genug zu gestalten, um die berufliche Einsatzfähigkeit und Flexibilität sicherzustellen. Hier sind in erster Linie die Länder und die Hochschulen gefordert. Hochschulabsolventen in betrieblichen Praktika werden bereits im Rahmen des geltenden Rechts geschützt. Soweit sie eingestellt werden, um ihnen berufliche Kenntnisse, Fertigkeiten oder Erfahrungen zu vermitteln, ohne dass es sich um eine Berufsausbildung handelt, haben sie Anspruch auf eine angemessene Vergütung nach § 26 in Verbindung mit § 17 Abs. 1 des Berufsbildungsgesetzes. Soweit sie aber als „Praktikanten“ eingestellt, jedoch länger als sechs Monate wie ein vergleichbarer Arbeitnehmer eingesetzt und beschäftigt werden, liegt nach der Rechtsprechung im arbeitsrechtlichen Sinne kein Praktikanten-, sondern ein Arbeitsverhältnis vor, auf das die arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften anwendbar sind. Der Praktikant ist dann also in Wahrheit Arbeitnehmer und hat zum Beispiel Anspruch auf eine Vergütung. Das ist im Zweifel die übliche Vergütung eines vergleichbaren Arbeitnehmers nach § 612 Abs. 1 BGB. Die Betroffenen können ihre Vergütungsansprüche vor dem zuständigen Arbeitsgericht geltend machen. Dadurch dürfen ihnen nach dem so genannten arbeitsrechtlichen Maßregelungsverbot keinerlei Nachteile entstehen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Storm. Herr Gehring, haben Sie eine Nachfrage? - Bitte schön.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank für Ihre Antwort. Die Frage lautete: Wie beurteilt die Bundesregierung die zunehmende Tendenz, dass insbesondere Hochschulabsolventen in einer Endlosschleife als Praktikantinnen und Praktikanten landen können? Da Sie sagten, die Daten- und Faktenlage sei noch nicht ausreichend geklärt: Plant die Bundesregierung, Untersuchungen zur Prekärisierung von Arbeitsverhältnissen bei Hochschulabsolventen in Auftrag zu geben, um beispielsweise der Frage nachzugehen, ob es durch diese Praktika zu Verdrängungsprozessen auf dem Arbeitsmarkt kommt? Sind in diesem Zusammenhang spezielle Initiativen in Planung?

Andreas Storm (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002811

Herr Abgeordneter Gehring, ich habe bereits darauf verwiesen, dass wir derzeit noch keine gesicherte Datenbasis haben. Allerdings erhebt die HIS GmbH in diesem Problemfeld regelmäßig Absolventenstudien. Die diesjährige Absolventenstudie wird auch Ergebnisse zur Thematik „Praktika von Hochschulabsolventen“ erfassen. Ergebnisse dürften frühestens zum Jahresende 2006 vorliegen. Die Bundesregierung ist natürlich der Auffassung, dass Versuche des Missbrauchs von Praktika entsprechend geahndet werden müssen. Ich habe bereits auf die rechtlichen Möglichkeiten, wenn anstelle eines Praktikums faktisch ein normales Arbeitsverhältnis vorliegt, hingewiesen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Gehring, Sie haben eine weitere Nachfrage.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wie steht die Bundesregierung zu der Forderung, dass über die Problematik der Generation Praktikum auch im Rahmen der Debatte um einen Mindestlohn, die bereits anläuft und von der großen Koalition wahrscheinlich im Herbst intensiv geführt werden wird, diskutiert werden soll?

Andreas Storm (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002811

Die Problematik der Praktika von Hochschulabsolventen ist sicherlich kein Gegenstand, der bei einer generellen Mindestlohndebatte zu berücksichtigen wäre.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Eine weitere Nachfrage durch den Kollegen Josef Winkler.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, ich möchte noch einmal nachfragen, weil das nicht klar geworden ist: Sieht die Bundesregierung die zunehmende Zahl der Praktikanten mit Hochschulabschluss als ein Problem an oder nicht? Zweitens. Sie haben gesagt, die Datenlage sei unsicher. Ist die Bundesregierung denn in der Lage, dem zuJosef Philip Winkler ständigen Ausschuss Datenmaterial aus dem eigenen Zuständigkeitsbereich vorzulegen, und, wenn ja, wann?

Andreas Storm (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002811

Herr Abgeordneter, ich darf auf die Antwort zur vorherigen Frage verweisen. Die HIS GmbH nimmt derzeit im Rahmen der Absolventenstudie eine Datenerhebung vor. Mit den Ergebnissen ist frühestens zum Jahresende 2006 zu rechnen. Sobald die Ergebnisse vorliegen, werden sie selbstverständlich dem Fachausschuss vorgelegt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Vielen Dank. Ich rufe die Frage 11 der Abgeordneten Cornelia Hirsch auf: Was waren die wesentlichen Inhalte der Konferenz der europäischen Bildungsminister in Wien im März 2006 und wie bewertet die Bundesregierung die Ergebnisse der Gespräche?

Andreas Storm (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002811

Frau Abgeordnete Hirsch, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Solche informellen Bildungsministertreffen haben sich seit den 90er-Jahren als Forum für den offenen Meinungsaustausch auf Ministerebene zu aktuellen Themen der europäischen Bildungspolitik etabliert. Beschlüsse werden im Rahmen solcher Treffen üblicherweise nicht gefasst. Bei dem diesjährigen Treffen standen die folgenden Themen im Vordergrund: der europäische Qualifikationsrahmen, das Europäische Institut für Technologie, EIT, sowie der Stellenwert der Bildung im europäischen Erweiterungsprozess und die Rolle der Universitäten in Südosteuropa. Aus Sicht der Bundesregierung kommt den im Rahmen des informellen Bildungsministertreffens geführten Diskussionen eine wichtige Rolle als Impulsgeber für die weiteren Verhandlungen in den relevanten Ratsgremien zu.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Eine Nachfrage, Frau Hirsch?

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, ich habe eine Nachfrage zum Themenkomplex „europäischer Qualifikationsrahmen“. In der Debatte darüber wurden in der Bundesrepublik von mehreren Seiten Befürchtungen geäußert, dass das Berufsprinzip durch diese europäische Initiative eingeschränkt wird. Meine Frage lautet: Wurden diese Bedenken im Rahmen dieser informellen Gespräche auch von anderen EU-Mitgliedstaaten geäußert und wie hat sich die Bundesregierung dabei positioniert bzw. welche Impulse hat sie gegeben?

Andreas Storm (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002811

Nachdem EU-Kommissar Figel die Ergebnisse des Konsultationsprozesses - die Mitgliedstaaten mussten diese bis zum Ende des Jahres 2005 einreichen - vorgestellt hatte, fand eine erste politische Aussprache auf Ministerebene statt. Dabei wurden die Ergebnisse von den Delegationen mehrheitlich begrüßt, insbesondere die Sicht, dass der europäische Qualifikationsrahmen ein Übersetzungsinstrument zur Förderung von Mobilität und Transparenz sein soll. Es wurde jedoch gleichzeitig betont, dass es einen Überarbeitungsbedarf gibt, insbesondere bei den Deskriptoren der Niveaustufen des europäischen Qualifikationsrahmens, und - das ist insbesondere eine deutsche Position - dass wir eine lange Erprobungsphase der praktischen Umsetzung des europäischen Qualifikationsrahmens mit Pilotprojekten und Testphasen brauchen. Darüber hinaus ist mit den europäischen Partnerländern, die ein dem deutschen System vergleichbares System der dualen beruflichen Bildung haben, vereinbart worden, dass man bis zum Sommer die gemeinsamen Interessen bei der weiteren Entwicklung des europäischen Qualifikationsrahmens miteinander abstimmt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie haben eine weitere Nachfrage? - Bitte sehr.

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön für Ihre Antwort. - Meine zweite Nachfrage bezieht sich auf den Bereich „Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen“, worüber zurzeit auch auf europäischer Ebene diskutiert wird und was in den informellen Gesprächen vermutlich eine Rolle gespielt hat. Mich würde die Position der Bundesregierung zur Empfehlung hinsichtlich der Förderung des Unternehmensgeistes an Schulen und Hochschulen interessieren. Wie wird man sich allgemein dazu verhalten und gibt es schon konkrete Überlegungen, diese Empfehlung in Deutschland umzusetzen?

Andreas Storm (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002811

Hierzu kann ich Ihnen im Detail derzeit nichts sagen. Es ist so, dass im Moment die Vorbereitungsphase für den Start des EU-Programms für das lebenslange Lernen, das während der deutschen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 beginnen soll, läuft. Das von Ihnen angesprochene Thema stand - anders als die drei anderen genannten Themen - nach meinem Kenntnisstand nicht im Mittelpunkt der Beratungen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Frage 12 der Abgeordneten Grietje Bettin wird schriftlich beantwortet. Ich rufe die Frage 13 des Abgeordneten Jörg Rohde auf: Inwieweit nimmt die Bundesregierung Einfluss auf die Zielsetzung und Umsetzung des Projekts „ASK-IT“ der Europäischen Kommission ({0}), damit die Belange behinderter Menschen entsprechend der deutschen Gesetze und der deutschen Regelungswerke berücksichtigt werden und verhindert wird, dass aus Mitteln der Europäischen Union aufwendige Technologien und Daten ohne Bezug zu den Nutzern in allen Staaten der EU aufgebaut werden? Zur Beantwortung gebe ich das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Thomas Rachel.

Thomas Rachel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002754

Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Kollege, Ihre Anfrage beantworte ich wie folgt: Die Bundesregierung nimmt keinen Einfluss auf die Zielsetzung einzelner Projekte. Jedoch hat die Bundesregierung über die Verwaltungsausschüsse der Mitgliedstaaten ein Stimmrecht bei der Gestaltung der spezifischen Arbeitsprogramme, in denen die Forschungsziele für die zu fördernden Projekte beschrieben werden. Die Begutachtung von Projekten führt die Europäische Kommission nach transparenten Regeln mit externen Gutachtern durch. Es ist nicht Aufgabe der Mitgliedstaaten, Einfluss auf die Umsetzung von bewilligten Projekten zu nehmen. Sie prüfen vielmehr, ob die Regeln der Transparenz bei den Entscheidungen befolgt werden. Das von Ihnen angesprochene Projekte „ASK-IT“ wird im Rahmen der thematischen Priorität „Technologien für die Informationsgesellschaft“ gefördert. Im entsprechenden IST-Arbeitsprogramm wird für die relevante E-Inclusion gefordert, dass die Projekte sich auch mit den sozioökonomischen, gesetzlichen und politischen Dimensionen befassen sollen und insbesondere die elektronische Eingliederung in einem breiten Sinn abdecken, um die Verfügbarkeit von Dienstleistungen der Informationsgesellschaft bei vertretbaren Kosten für alle sicherzustellen. Hierbei ist nicht automatisch sichergestellt, dass in einem Projekt zwangsläufig die Belange aller Mitgliedstaaten abgedeckt werden oder alle national gültigen Standards und Gesetze berücksichtigt werden. Dennoch ist beim IST-Projekt „ASK-IT“ davon auszugehen, dass durch die deutsche Beteiligung auch deutsche Interessen berücksichtigt werden. Zum einen ist nämlich das deutsche Forschungsinstitut Technologie-Behindertenhilfe der Evangelischen Stiftung Volmarstein ein Projektpartner. Zum anderen sind in der Vorhabensbeschreibung vier Teilprojekte aufgeführt, von denen das vierte mit dem Namen „Accessible Europe“ die Interoperabilität der drei vorgelagerten themenbezogenen Teilprojekte demonstrieren soll. Insgesamt sind sieben europäische Pilotgebiete ausgewählt worden, darunter im Übrigen auch die Stadt Nürnberg. Mit Vertretern dieser Regionen werden insgesamt drei Nutzerforen abgehalten. Insgesamt nehmen 44 Partner aus 15 Ländern teil, sodass eine breite europäische Auswirkung zu erwarten ist.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Haben Sie eine Nachfrage, Herr Rohde?

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, wird die Bundesregierung im Falle eines viel versprechenden bzw. erfolgreichen Ergebnisses des Forschungsprogramms „ASK-IT“ ein nationales Folgeprogramm finanzieren, damit die im Rahmen von „ASK-IT“ erzielten Forschungsergebnisse in Deutschland eine optimale

Thomas Rachel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002754

Es wäre vermessen, dazu bereits zum heutigen Zeitpunkt eine Prognose abzugeben. Wir warten jetzt erst einmal ab, wie sich dieses Programm insgesamt entwickeln wird.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Eine weitere Nachfrage? - Bitte sehr.

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine zweite Nachfrage ist: Finanziert oder teilfinanziert die Bundesregierung derzeit nationale Forschungen zur Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen?

Thomas Rachel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002754

Hierzu werden verschiedene Maßnahmen durchgeführt, die ich Ihnen jetzt aber nicht alle aus dem Kopf präsentieren kann. Da Sie sich in Ihrer Frage in erster Linie auf das europäische Programm „ASK-IT“ bezogen haben, will ich Ihnen, bezogen auf den europäischen Raum, sagen, dass im Rahmen des 6. Rahmenforschungsprogramms der Europäischen Kommission innerhalb der thematischen Priorität „Technologien für die Informationsgesellschaft“ 16 weitere Projekte gefördert werden, die einen Bezug zur Barrierefreiheit und zur Teilhabe behinderter Menschen aufweisen. An der Finanzierung dieser Maßnahmen ist die Bundesregierung im Rahmen der EU-Finanzierung natürlich beteiligt. Hierbei geht es beispielsweise um die Verbesserung der Zugänglichkeit des Internets oder um den barrierefreien Zugang zu IuK-Technologien für blinde, sehbehinderte und gehörlose Menschen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herzlichen Dank. - Damit sind wir beim Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres zur Verfügung. Die Fragen 14 und 15 der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann werden schriftlich beantwortet. Wir kommen zur Frage 16 der Abgeordneten Sabine Zimmermann: Wie steht die Bundesregierung zu dem Problem, dass junge Erwachsene, die aus dem ALG II heraus eine berufliche Ausbildung an einer privaten Berufs- oder Berufsfachschule beginnen und deren Antrag auf BAföG abgelehnt wurde, finanziell schlechter gestellt werden gegenüber ihrer Zeit als Empfänger von Leistungen nach SGB II ({0})?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau Abgeordnete, soweit junge Erwachsene ihre Erstausbildung an einer privaten Berufsfachschule beginnen, erscheint eine Ablehnung der Ausbildungsförderung nach dem BAföG nur wegen der Berücksichtigung von Einkommen des Auszubildenden oder seiner Eltern denkbar. Das BAföG ist eine subsidiäre Sozialleistung, die nur dann eingreift, wenn der Auszubildende bzw. seine Eltern nicht in der Lage sind, die Ausbildung aus eigener Kraft zu finanzieren. Wenn die Auszubildenden aus dem Ausbildungsverhältnis eine Ausbildungsvergütung erhalten - im Falle der Ausbildung zum Altenpfleger ist der Träger der praktischen Ausbildung nach § 17 des Altenpflegegesetzes zur Zahlung einer angemessenen Ausbildungsvergütung verpflichtet -, dann sind diese Einkünfte nach § 23 Abs. 3 BAföG voll auf den Bedarf des Auszubildenden anzurechnen. Für die Ausbildungsvergütung wird dem Auszubildenden kein allgemeiner Freibetrag zugebilligt, weil ihm diese Mittel gewissermaßen zwangsläufig durch und für die Ausbildung zufließen, also nicht das Ergebnis besonderer zusätzlicher Anstrengung sind. Weiterhin geht das BAföG typisierend davon aus, dass Eltern ihren Kindern gegenüber unterhaltspflichtig sind, wenn diese noch keine nach dem BAföG förderungsfähige Ausbildung durchlaufen haben. Dabei wird unterstellt, dass die Eltern den angerechneten Betrag, der sich aus der Pauschalierung des bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsanspruchs ergibt, an die Auszubildenden leisten. Ist dies nicht der Fall und ist die Ausbildung des Kindes dadurch gefährdet, kann diesem nach § 36 BAföG eine Vorausleistung gewährt werden. In dem konkreten Fall, auf den in der Fragestellung Bezug genommen wurde, dürfte ein BAföG-Anspruch am fehlenden Bedarf - aufgrund der Anrechnung der Ausbildungsvergütung der Auszubildenden und des Einkommens des Vaters - gescheitert sein.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Zimmermann, Sie haben eine Nachfrage, bitte schön.

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön erst einmal für die Antwort. - Der Fall, der in der Presse geschildert worden ist, ist kein Einzelfall. Es betrifft etliche Jugendliche zwischen 18 und 25, die Hartz-IV-Empfänger waren. Durch die Neuregelung sind die, die schon in einer eigenen Wohnung leben und sich einen Ausbildungsplatz gesucht haben - egal ob in den Weißkittelberufen oder in den Berufen nach dem Berufsbildungsgesetz -, davon betroffen. Nehmen wir also an, ein Jugendlicher hat eine eigene Wohnung, gilt als eigene Bedarfsgemeinschaft und hat sich selbstständig einen Ausbildungsplatz gesucht. Im Altenpflegegesetz steht nur etwas von einer „angemessenen Berufsausbildungsvergütung“; „angemessen“ kann man so oder so definieren. Ein solcher Jugendlicher ist durch die Neuregelung benachteiligt. Im vorliegenden Fall ist es so, dass die Jugendliche, weil sie nur 300 Euro zur Verfügung hatte und ihre Wohnung nicht mehr finanzieren konnte, praktisch bestraft wird. Oder soll sie jetzt wieder bei ihren Eltern einziehen?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau Zimmermann, auf den konkreten Fall, um den es in dieser Pressemitteilung ging, bin ich eingegangen. Man muss sich aber jeden Fall einzeln anschauen; da bitte ich Sie um Verständnis. Es hängt davon ab - das habe ich Ihnen ja vorgelesen -, ob noch Unterhaltsansprüche gegenüber den Eltern bestehen, ob der Jugendliche schon eine Ausbildung gemacht hat, wie hoch seine Ausbildungsvergütung und wie hoch das Einkommen des Vaters bzw. der Eltern ist. Ich kann das hier nicht verallgemeinernd beantworten; wir müssten uns schon den konkreten Fall anschauen. Wenn Sie der Meinung sind, dass sich solche Fälle häufen - Sabine Zimmermann ({0}): Es häuft sich, ja.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Das weiß ich nicht. - In der Frage, dass junge Leute bis 25 bereits von zu Hause ausgezogen sind, hatten wir eine Stichtagsregelung; deswegen können alle, die schon ausgezogen sind, eigentlich nicht davon betroffen sein. Alle weiteren Fälle würde ich mir gerne anschauen. Es gibt in bestimmten Fällen - das gestehe ich gerne zu Schnittstellenprobleme zwischen der Berufsausbildungsbeihilfe und der BAföG-Regelung. Dies gilt aber nur in Ballungsräumen und wenn die Mietkosten eine bestimmte Höhe übersteigen. Mit dieser Frage setzen wir uns gegenwärtig auseinander. Sie wird auch Gegenstand einer gesetzlichen Regelung sein im Rahmen des Optimierungsgesetzes, das wir vorbereiten. Es kommt, wie gesagt, immer auf den Einzelfall an.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Haben Sie eine weitere Nachfrage?

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich würde gern auf Ihr Angebot zurückkommen und Sie von dem konkreten Fall in Kenntnis setzen. Ich bitte Sie, dass wir da schnellstmöglich eine Lösung finden, weil es wirklich eine Menge Personen betrifft. Danke schön.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Mein Angebot steht: Wenn Ihnen Fälle bekannt sind, dann geben Sie uns diese und dann schauen wir sie uns an; dafür sind Ministerien schließlich da. Wenn da rechtlich etwas nicht in Ordnung sein sollte, ist es ohne weiteres möglich, sich darum zu kümmern. Dies ist jetzt aber kein Aufruf zu einer Kampagne der Linkspartei, dem Staatssekretär Andres fünfeinhalbtausend Fälle zuzusenden, nur damit wir uns richtig verstehen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dann sind wir jetzt bei der Frage 17 der Abgeordneten Zimmermann: Besteht nach Ansicht der Bundesregierung eine Gesetzeslücke, wenn für Auszubildende gleichzeitig die Anträge auf BAföG, auf Wohngeld, auf Berufsausbildungsbeihilfe und auf unterstützende Zahlungen im Rahmen von ALG II abgelehnt werden ({0}), und welche unmittelbaren Maßnahmen will die Bundesregierung ergreifen, um zu verhindern, dass junge Erwachsene in Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Ausbildung finanziell schlechter gestellt sind gegenüber der Zeit als ALG-II-Empfänger?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Verehrte Frau Abgeordnete, eine Gesetzeslücke besteht nicht. Nach § 7 Abs. 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch haben Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Berufsausbildungsförderungsgesetzes oder der §§ 60 bis 62 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch dem Grunde nach förderungsfähig ist, grundsätzlich keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Dementsprechend kommt es darauf an, ob die betriebliche Ausbildung unabhängig von der Erfüllung der persönlichen Voraussetzungen an sich förderungsfähig ist. Soweit ein Betroffener wegen Überschreitung der Altersgrenze im BAföG oder bei einer Zweitausbildung keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung hat, bleibt der grundsätzliche Ausschlussgrund für den Bezug von Arbeitslosengeld II bestehen. Hintergrund für diese Regelung ist die Abgrenzung zwischen den Rechtsgebieten der Ausbildungsförderung und der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Eine entsprechende Abgrenzung zur Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz war bereits vor Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende geregelt. Hiermit sollte eine zweite Ausbildungsförderung auf der Ebene der Sozialhilfe vermieden werden. In Fallkonstellationen, in denen durch das primär einschlägige spezielle Ausbildungsförderungsgesetz bewusst keine Ausbildungsförderung mehr gewährt wird, soll diese gesetzgeberische Wertung nicht durch eine Auffangförderung auf der Ebene des allgemeinen Sozialleistungsrechts aufgehoben werden. Die Abgrenzung zwischen dem Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz und der Ausbildungsförderung folgt daraus, dass in der Ausbildungsförderung die Wohnkosten bereits pauschaliert enthalten sind. Allerdings können erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nach dem SGB II Leistungen zur Eingliederung in Arbeit gewährt werden. Hierzu gehört unter anderem auch die Förderung einer beruflichen Weiterbildung nach § 16 Abs. 1 SGB II für solche Hilfebedürftigen, die zur beruflichen Eingliederung einer Weiterbildung bedürfen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Haben Sie eine Zusatzfrage, Frau Kollegin?

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Frage 18 der Kollegin Gesine Lötzsch wird schriftlich beantwortet. Wir sind nun bei der Frage 19 des Abgeordneten Dr. Harald Terpe: Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass Passivrauchen das Sterberisiko erhöht bzw. zum Tode führen kann, und, wenn ja, hält sie es für verantwortbar, einen wirksamen Schutz vor Passivrauch, beispielsweise in öffentlichen Gebäuden, Arbeitsstätten mit Publikumsverkehr, Schulen und Gaststätten, aufzuschieben?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Abgeordneter, ja, Rauchen ist eine der größten vermeidbaren Gesundheitsrisiken. Im Jahre 1998 ist die Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der Deutschen Forschungsgemeinschaft nach Auswertung neuer Studien zur Epidemiologie und zur Toxikologie zu der Auffassung gelangt, dass Passivrauchen am Arbeitsplatz beim Menschen erwiesenermaßen eine Krebs erzeugende Wirkung hat. Daneben steht Passivrauchen auch in einem engen Zusammenhang insbesondere mit Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Dies wird zum Beispiel in der Publikation „Passivrauchen - ein unterschätztes Gesundheitsrisiko“ des Deutschen Krebsforschungszentrums aus dem Jahre 2005 dokumentiert. Die Bundesregierung ist sich der Gesundheitsgefährdung durch Rauchen und Passivrauchen bewusst und engagiert sich aktiv für einen wirksamen Schutz der Nichtraucher. Zum Schutz der nicht rauchenden Beschäftigten wurde die Arbeitsstättenverordnung 2002 um folgende Regelung ergänzt -: § 5 Nichtraucherschutz ({0}) Der Arbeitgeber hat die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit die nicht rauchenden Beschäftigten in Arbeitsstätten wirksam vor den Gesundheitsgefahren durch Tabakrauch geschützt sind. ({1}) In Arbeitsstätten mit Publikumsverkehr hat der Arbeitgeber Schutzmaßnahmen nach Absatz 1 nur insoweit zu treffen, als die Natur des Betriebes und die Art der Beschäftigung es zulassen. Initiativen für ein umfassendes Nichtraucherschutzgesetz in den Jahren 1997 und 1998, durch die ein Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden des Bundes, der Länder und der Kommunen, in öffentlichen Verkehrsmitteln und an Arbeitsplätzen - Entwurf der Abgeordneten Roland Sauer, Uta Titze-Stecher, Dr. Burkhard Hirsch und weiteren Abgeordneten auf Drucksache 13/6100 - sowie zusätzlich auch in Gaststätten mit mehr als 50 Sitzplätzen - Entwurf der Abgeordneten Gerald Häfner, Volker Beck, Cem Özdemir und weiteren Abgeordneten der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 13/6166 - herbeigeführt werden sollte, waren nicht erfolgreich. Die Bundesregierung verfolgt mit ihrer Politik das Ziel, den Tabakkonsum nachhaltig zu senken. Diese Politik ist durch ein Bündel von präventiven und strukturellen Maßnahmen gekennzeichnet, die sich gegenseitig ausgewogen ergänzen. Dazu gehören die gesetzgeberischen Maßnahmen des Bundes, die in den letzten Jahren zur Umsetzung der von Deutschland ratifizierten Tabakrahmenkonvention der Weltgesundheitsorganisation konsequent durchgesetzt wurden. Dies sind Änderungen der Tabakproduktverordnung, das Verbot der Abgabe von Tabakwaren an Jugendliche unter 16 Jahre im Jugendschutzgesetz, das Verbot der kostenlosen Abgabe von Zigaretten zu Werbezwecken, eine Mindestverkaufsmenge von 17 Stück und die Tabaksteuererhöhung in drei Schritten mit deutlichen Erfolgen für die Gesundheit durch den Rückgang des Tabakkonsums Jugendlicher. Darüber hinaus werden von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung im Rahmen der Nichtraucherkampagne „Rauchfrei 2006“ umfangreiche präventive Maßnahmen zur Förderung des Nichtrauchens durchgeführt. Außerdem fördert das Bundesministerium für Gesundheit unter der Schirmherrschaft der Beauftragten der Bundesregierung für Drogenfragen seit Juli 2005 das Bundesmodellprojekt „Rauchfreie Krankenhäuser“. Ich könnte noch ungefähr fünf Seiten vorlesen, aber das möchte ich Ihnen ersparen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Terpe, Sie haben eine Nachfrage.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für Ihre Antwort und die Aufzählung der vielfältigen Initiativen, wobei Sie es mir erspart haben, die weiteren Initiativen aufzuzeigen. Im zweiten Teil meiner Frage wollte ich wissen, ob Sie es, wenn Sie die Gefahr des Passivrauchens anerkennen, für vertretbar und verantwortlich halten, weitere Maßnahmen zum Schutz vor Passivrauchen in öffentlichen Gebäuden aufzuschieben. Das war ein Teil meiner schriftlichen Frage. Daran möchte ich die Frage anschließen: Habe ich Sie richtig verstanden, dass die Bundesregierung keine zusätzliche eigene Gesetzesvorlage, zum Beispiel in Anlehnung an Gesetzesvorhaben europäischer Nachbarn, zum Arbeitsschutz oder zur Luftreinhaltung in der Pipeline hat?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Wir haben umfassend gehandelt. Ein Bereich der Arbeitsstätten mit Publikumsverkehr sind im Wesentlichen Gastronomiebetriebe. Welche Probleme dahinterstehen, wissen Sie. Hier muss ein entsprechender Abwägungsprozess stattfinden. Die Arbeitsstättenverordnung wurde entsprechend ausgeweitet und ergänzt; das habe ich Ihnen vorgetragen. Alle weiteren Initiativen müssen sehr sorgfältig abgewogen werden. Zu den Schlüssen, die die Bundesregierung aus den in den einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union umgesetzten Maßnahmen zieht, kann ich Ihnen sagen, dass wir diese sehr aufmerksam verfolgen. Gegebenenfalls werden die Umsetzung der jeweiligen Maßnahmen und deren Ergebnisse zunächst einmal auszuwerten sein.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Haben Sie eine weitere Nachfrage? ({0}) Dann kommen wir zur Frage 20 des Kollegen Harald Terpe: Durch welche Maßnahmen will die Bundesregierung die Umsetzung bzw. den Vollzug der den Passivraucherschutz betreffenden Änderung der Arbeitsstättenverordnung vom Oktober 2003 fördern und erfolgte bisher eine Evaluation?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Die Durchführung der Arbeitsschutzvorschriften obliegt gemäß Grundgesetz den zuständigen Arbeitsschutzbehörden der Bundesländer. Informationen über die Anwendung und den Vollzug der Vorschriften zum Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz liegen der Bundesregierung nicht vor.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Haben Sie eine Nachfrage? - Bitte schön, Herr Terpe.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Nachfrage ist: Wird die Bundesregierung initiativ werden, um eine Evaluation der Umsetzung dieser Arbeitsschutzverordnung vorzunehmen?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Abgeordneter, die Bundesregierung wird diese mündliche Anfrage zum Anlass nehmen, den Ausschuss für Arbeitsstätten mit dieser Aufgabe zu betrauen. Wir werden also in diesem Bereich tätig werden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Haben Sie eine weitere Nachfrage?

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. - Vielen Dank für diese Antwort. Ich merke, dass die Bundesregierung initiativ werden möchte. Teilen Sie aber mit mir die Auffassung, dass die Maßnahmen zum Schutz vor Passivrauchen seitens der Regierung insgesamt relativ langsam umgesetzt werden? Das betrifft auch den ganzen Bereich der Tabakreklame.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Zunächst einmal will ich sagen: Schauen Sie sich einmal an, was in der Zwischenzeit in manchen Bundesministerien passiert ist. Da wird in vielen Bereichen deutlich, dass Rauchen nicht erwünscht ist. Im Bundesdienst überwacht die Zentralstelle für Arbeitsschutz beim Bundesinnenministerium und in ihrem Auftrag die Unfallkasse des Bundes die Einhaltung des Nichtraucherschutzes nach der Arbeitsstättenverordnung. Außerdem berät sie die Dienststellen bei der Umsetzung von Maßnahmen und bei der Ausgestaltung von Betriebsvereinbarungen und entsprechenden Hausanweisungen. Aus der Überwachungs- und Beratungspraxis kann geschlossen werden, dass der Nichtraucherschutz im Bundesdienst entsprechend der Arbeitsstättenverordnung angemessen umgesetzt und auch praktiziert wird. Zur Evaluation der Maßnahmen im Zusammenhang mit den Zuständigkeiten der Länder habe ich Ihnen eben schon geantwortet, dass wir dies entsprechend ergänzen wollen. ({0}) - Bitte schön.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es gibt eine weitere Nachfrage. Frau Koczy, bitte schön.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, wollen Sie daran arbeiten, dass wir beim Schutz vor Passivrauchen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern an der Spitze der Bewegung sind? Oder sind Sie mit mir der Auffassung, dass wir dann, wenn wir in dem Tempo, das Sie vorlegen, weitermachen, zur lahmen Ente werden?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Ich weiß nicht, welche Maßnahme welcher europäischen Länder Sie meinen. Die Unterschiede sind bekanntlich sehr groß. Es gibt Länder mit einem ziemlich rigiden Rauchverbot in Gaststätten, öffentlichen Einrichtungen und ähnlichem. So weit sind wir noch nicht gegangen. Ich habe dazu schon einiges gesagt. Wir wollen zunächst abwarten, welche Erfahrungen damit gemacht werden. Ich denke, die Bundesregierung betreibt hierbei auf alle Fälle eine Politik mit Augenmaß. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dann sind wir jetzt bei der Frage 21 der Abgeordneten Veronika Bellmann: Welchen genauen Zeitpunkt versteht die Bundesregierung unter „zeitnah“, wenn sie auf die Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts und des Gesetzes über einen Ausgleich von Dienstbeschädigungen im Beitrittsgebiet vom 23. Februar 2006 ({0}) wie folgt in ihrer Gegenäußerung Stellung bezieht: „… versichert die Bundesregierung, … möglichst zeitnah ein tragfähiges Konzept zur weiteren Unterstützung der Opfer der SEDDiktatur zu erarbeiten“, und wie ist die inhaltliche Ausrichtung eines solchen Konzepts vorgesehen?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Frau Bellmann, in der von Ihnen leider nicht vollständig zitierten Gegenäußerung hat die Bundesregierung versichert, gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen möglichst zeitnah ein tragfähiges Konzept zur weiteren Unterstützung der Opfer der SED-Diktatur zu erarbeiten. Wegen der notwendigen Abstimmung mit den Koalitionsfraktionen konnte und kann ein konkreter Zeitpunkt nicht genannt werden, zumal auch in einem ersten Gespräch zwischen Abgeordneten der Koalitionsfraktionen und Vertretern der Bundesregierung in der vergangenen Woche noch weiterer Gesprächsbedarf hinsichtlich der im Koalitionsvertrag genannten Alternativen festgestellt wurde.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Bellmann, Sie haben eine Nachfrage. Bitte schön.

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich habe eine Nachfrage. Ich möchte gern wissen, inwiefern der Bundesregierung bekannt ist, wie viele dienstbeschädigte Stasimitarbeiter - um diese geht es in diesem Zusammenhang; sie sollen den vollen Ausgleich bekommen, wie wir als Gesetzgeber vom Bundesverfassungsgericht und vom Bundessozialgericht verpflichtend aufgetragen bekommen haben ({0}) ihre Beschädigung im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen erlitten haben.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Das ist nicht bekannt. Wir haben, wie Sie wissen, das Gesetz heute Vormittag im Ausschuss für Arbeit und Soziales behandelt. Es hat in fast allen Fraktionen Übereinstimmung hinsichtlich eines Änderungsantrags gegeben, mit dem klargelegt werden soll, dass die Entschädigung bei Verstößen gegen die Menschenrechte zu versagen ist. Wir werden jetzt in Umsetzung der neuen gesetzlichen Regelung feststellen müssen, um wie viele Fälle es sich handelt. Das kann ich beim besten Willen hier nicht beantworten.

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank für die Information. Ein Abgeordneter kann nicht in mehreren Ausschüssen gleichzeitig sein. Falls Sie das als Kritik gemeint haben, dann weise ich das insofern zurück.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie haben noch eine weitere Nachfrage, Frau Bellmann? - Bitte schön.

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine weitere Nachfrage geht in eine ähnliche Richtung. Gibt es Erkenntnisse über die genaue Anzahl von dienstbeschädigten Stasimitarbeitern und mit welchen Finanzvolumina ist in diesem Zusammenhang zu rechnen?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Es tut mir Leid. Erlauben Sie mir eine Anmerkung: Ihre Fragestellung hat eigentlich nur sehr mittelbar mit dem zu tun, was Sie jetzt fragen. Ich bin gerne bereit, Ihnen die Informationen zur Verfügung zu stellen, die unser Haus hat. Ich kann die Frage jetzt leider nicht beantworten.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit sind wir bei der Frage 22 des Abgeordneten Jörg Rohde: Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass im Rahmen des Schätzmeldeverfahrens der Krankenkassen seit 1. Januar 2006 Menschen mit Behinderungen, die Arbeitgeber von Pflegekräften im Privathaushalt sind, genauso wie gemeinnützige Vereine, die diese behinderten Arbeitgeber bei der Lohnabrechnung unterstützen, durch die doppelte Bürokratie infolge der später zusätzlich erforderlichen Restschuldmeldung vor einen Mehraufwand gestellt werden, der so groß ist, dass er in vielen Fällen nicht mehr allein oder ohne zusätzliche Kosten bewältigt werden kann, und sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, private Arbeitgeber, die infolge einer Behinderung den erhöhten organisatorischen Aufwand der Schätz- und Restschuldmeldung nicht bewältigen können, von der Pflicht zur Schätz- und Onlinemeldung zu befreien?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Abgeordneter Rohde, die gesetzlichen Vorschriften über die Erhebung der Gesamtversicherungsbeiträge treffen keine unterschiedlichen Regelungen für bestimmte Arbeitgebergruppen. Eine solche Differenzierung ließe sich auch nicht begründen, da sich der Aufwand für die Berechnung und Abführung der Sozialversicherungsbeiträge für alle Arbeitgeber in gleicher Weise darstellt. Dies gilt auch für Arbeitgeber mit Behinderungen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Haben Sie eine Nachfrage, Herr Rohde? - Bitte schön.

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, ist sich die Bundesregierung der Tatsache bewusst, dass trotz des vorgezogenen Einzugs der Beiträge durch die Krankenkassen der Kostenträger, das Sozialamt, nur eine 30-prozentige Abschlagszahlung gewährt - vielerorts nicht einmal das - und die behinderten Arbeitgeber dadurch in eine Schuldenfalle geraten können, zumal die Krankenkassenbeiträge monatlichen Schwankungen unterliegen? Es geht um die privaten Arbeitgeber bzw. das persönliche Budget bei diesen Modellversuchen.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Wir sind uns dessen bewusst. Ich kann aber gegenwärtig nicht sagen, wie viele Fälle es gibt. Dieses Thema wird aber - wie heute Morgen im Ausschuss - auch in anderen Zusammenhängen besprochen. In der politischen Diskussion ist behauptet worden, dass diese Tatbestände massenweise zu Konkursen und zum Scheitern von selbstständigen Existenzen führen werden. Ich sehe das nicht. Nach den Erfahrungen, die wir bislang gemacht haben, können wir das nicht teilen. Zudem halte ich es gegenwärtig für nicht machbar, auf die Situation derjenigen zu schließen, die infolge einer Behinderung auf Betreuung angewiesen sind und deshalb als private Arbeitgeber auftreten.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie haben eine weitere Nachfrage, bitte sehr, Herr Rohde.

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, weil wir heute Morgen im Ausschuss darüber gesprochen haben, dass mit der kleinen Änderung des SGB IV eine Barriere in diesem Bereich weggeräumt wird, hatte ich die Hoffnung, dass noch andere Barrieren fallen. Meine Nachfrage lautet daher: Sieht die Bundesregierung grundsätzlich Bedarf, assistenzbedürftige Menschen mit Behinderung in ihrem Bemühen um größtmögliche selbstständige Bewältigung ihrer Arbeitgeberpflichten zu unterstützen?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Ich habe bislang die Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge nicht als Barriere gesehen. Natürlich muss man Arbeitgeber dabei unterstützen, ihren Pflichten nachzukommen, unabhängig davon ob der Arbeitgeber behindert ist oder nicht. Es geht darum, dort, wo es möglich ist, bürokratische Hürden abzubauen; darum bemühen wir uns. Lassen Sie uns jedenfalls festhalten: Wir werden genau beobachten, wie es wirkt, und dann feststellen, ob die angesprochene Personengruppe in besonderem Maße betroffen ist.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Eine Nachfrage des Kollegen Markus Kurth.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, es geht darum, dass die Kostenträger wie etwa die Pflegekassen ihre Zahlungen erst verspätet im Folgemonat leisten. Nach meiner Auffassung ließe sich das Problem beheben, wenn man auf die Kostenträger einwirkte, ihre Zahlungen früher zu leisten. Wenn sich herausstellt, dass das doch ein größeres Problem ist: Sieht die Bundesregierung die Möglichkeit, auf die Kostenträger einzuwirken, ihre Erstattungspraxis anzupassen, und dieses Durchführungsproblem vergleichsweise unbürokratischen zu beheben, ohne dass eine Gesetzesänderung bezüglich des Einzugs der Sozialversicherungsbeiträge erfolgen muss?

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Abgeordneter Kurth, es wird unterstellt, dass behinderte Arbeitgeber in besonderem Maße betroffen sind. Wie ich schon gesagt habe, glauben wir nicht, dass sich die Situation behinderter Arbeitgeber von der anderer Arbeitgeber im Wesentlichen unterscheidet. Wir werden das jedenfalls beobachten. Sollte sich ein Änderungsbedarf ergeben, werden wir entsprechend reagieren.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung steht der Herr Staatsminister Günter Gloser zur Verfügung. Die Frage 23 der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch sowie die Fragen 24 und 25 des Abgeordneten Paul Schäfer werden schriftlich beantwortet. Wir kommen nun zur Frage 26 des Abgeordneten Markus Kurth: War die Bundesregierung an der Ausstellung von Visa für die Delegation aus Guinea beteiligt? Bitte, Herr Staatsminister Gloser.

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Sehr geehrter Herr Kollege Kurth, die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Conakry hat nach Prüfung der entsprechenden Anträge Visa für vier Mitglieder der in Ihrer durch das Bundesministerium des Innern zu beantwortenden Frage 30 erwähnten Delegation der Republik Guinea erteilt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie haben noch eine Nachfrage, Herr Kurth? - Bitte schön.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wie bewertet denn dann die Bundesregierung die Aussage des Leiters der Zentralen Ausländerbehörde Dortmund, dass das Auswärtige Amt das gesamte Verfahren von der Einladung bis zur Befragung der abgelehnten Asylbewerber aus Guinea - ich zitiere aus einem Zeitungsartikel - „abgesegnet“ habe?

Not found (Gast)

Herr Kollege Kurth, ich weise zuallererst darauf hin, dass die Einladung dieser Delegation durch eine Landesbehörde veranlasst wurde. Die Landesbehörden führen diese ausländerrechtlichen Maßnahmen nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes in eigener Zuständigkeit aus. Die angesprochene Praxis findet nach Auffassung der Bundesregierung ihre Rechtsgrundlage in § 82 Abs. 4 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes. Danach kann das persönliche Erscheinen eines Ausländers bei den zuständigen Behörden sowie Vertretungen des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er vermutlich besitzt, angeordnet werden. Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass es zu den Einzelheiten schon eine Antwort der Bundesregierung vom 4. Januar 2006, Drucksache 16/339, auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Volker Beck, Irmingard Schewe-Gerigk, Josef Winkler und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen gegeben hat. Dort sind der rechtliche Rahmen und die Zulässigkeit von Sammelvorführungen unter Teilnahme von Vertretungen des betreffenden ausländischen Staates dargelegt. Im Wesentlichen wurde damals ausgeführt: Der Begriff „Vertretung“ im Sinne des § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ist nicht räumlich in Bezug auf Gebäude der diplomatischen Vertretungen, sondern in Bezug auf die handelnden Personen zu verstehen. ... Lediglich aus organisatorischen Gründen finden Sammelanhörungen nicht in den ausländischen Botschaften statt. Auch die Befragung durch andere Bedienstete ist in der Regel dem Aufgabenund Tätigkeitsbereich der ausländischen diplomatischen bzw. konsularischen Vertretung zuzurechnen, da dieser Personenkreis mit der Durchführung der Befragungen zum Zwecke der Staatsangehörigkeitsfeststellung zur Unterstützung des Botschaftsbzw. Konsulatspersonals … tätig wird. Dort heißt es auch: Im Übrigen sind gesandtschafts- und konsularrechtlich keine Gesichtspunkte erkennbar, dass derartige Befragungen nur durch akkreditierte Diplomaten oder Konsularbeamte durchgeführt werden dürfen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Eine weitere Nachfrage, Herr Kurth. Bitte schön.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

War das Auswärtige Amt in irgendeiner Weise an der Auswahl der Mitglieder dieser Delegation beteiligt? ({0})

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Nein, nach meiner Kenntnis war das Auswärtige Amt nicht beteiligt. Die Einladung ist von der jeweils zuständigen Landesstelle ausgesprochen worden.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich rufe die Frage 27 des Kollegen Volker Beck ({0}) auf: Welche Auswirkungen auf die Menschenrechtssituation in Afghanistan hat die Verankerung sowohl von internationalen Menschenrechtsabkommen als auch der Scharia in der afghanischen Verfassung und welche Konsequenzen haben diese Auswirkungen auf die Abschiebung afghanischer Flüchtlinge in der Bundesrepublik?

Not found (Gast)

Herr Kollege Beck, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: In Art. 7 der afghanischen Verfassung wird die Gültigkeit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 sowie der weiteren von Afghanistan ratifizierten Menschenrechtsabkommen anerkannt. Die Verfassung sieht in Art. 130 für den Fall, dass keine andere gesetzliche Norm anwendbar ist, die Anwendung der Scharia vor. Die Scharia ist demnach nur subsidiär anzuwenden. Die Bundesregierung geht daher davon aus, dass die Menschenrechte im afghanischen Rechtssystem volle und durch keine religiösen Vorschriften eingeschränkte Geltung beanspruchen. Die Verfassung wurde 2004 nach zähem Ringen der gesellschaftlichen und politischen Kräfte in Afghanistan verabschiedet. Die Bundesregierung unterstützt weiterhin jene Kräfte und Institutionen, die diese menschenrechtskonforme Rechtsauslegung in allen Teilen des Landes in die Praxis umsetzen. Der Bundesregierung ist kein Fall bekannt, in dem mit einem rechtskräftigen Urteil die Menschenrechte eines Angeklagten in Afghanistan aufgrund der Anwendung der Scharia durch ein ordentliches Gericht verletzt worden wären. Daher haben diese Verfassungsbestimmungen keine Auswirkung auf die Abschiebung afghanischer Flüchtlinge aus der Bundesrepublik.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, Ihre Nachfragen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich muss sagen: Ich bin jetzt doch etwas baff. Es wurde gerade eine Diskussion über den Christen Abdul Rahman geführt. Wir haben gesehen, dass die afghanische Gerichtsbarkeit den bloßen Religionswechsel, den Übertritt vom Islam zum Christentum, zum Anlass für ein Todesurteil nehmen wollte. Ich bin davon ausgegangen, dass wir uns hier im Hause auch mit der Bundesregierung einig sind, dass das eine erhebliche Menschenrechtsverletzung darstellen würde. Sie haben Recht: Es gibt kein in Kraft getretenes Urteil. Es konnte aber nur durch einen politischen Winkelzug abgewendet werden. Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie fragen, ob Ihnen tatsächlich keine anderen Hinweise vorliegen, dass aufgrund der subsidiären Anwendung der Scharia in Afghanistan die Menschenrechte für bestimmte Gruppen und bei bestimmten Handlungen nicht gewährleistet sind. Das hätte natürlich Rückwirkungen im Hinblick auf die Bewertung des Flüchtlingsschutzes.

Not found (Gast)

Herr Kollege Beck, ich denke, wir sind uns einig, dass wir im Parlament vieles gemeinsam unternommen haben, um in Afghanistan nach 23 Jahren Bürgerkrieg den Aufbau des Landes zu ermöglichen. Das gilt in besonderem Maß für die Justiz. Viele Staatsanwälte und Richter sind trotz erheblicher Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft bei der Reform des Justizwesens noch Vorstellungen verhaftet, die sich nicht mit dem neuen Rechtssystem decken. Das ist der Punkt, den Sie angesprochen haben. Es ist aber gerade das Ziel, dort ein Rechtssystem zu entwickeln, das unseren Anforderungen entspricht. Ich sage noch einmal: Zurzeit ist der Bundesregierung kein Fall bekannt, in dem ein Urteil auf Grundlage der Scharia ausgesprochen worden wäre.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sind Sie sicher, dass sich die Rechtslage im Falle eines Übertritts von Muslimen zum Christentum, zum Judentum, zur Religion der Bahá'í oder zu einer anderen Religion so gestaltet, dass in Zukunft keine strafrechtliche Verfolgung und erst recht keine Todesstrafe droht?

Not found (Gast)

Ich habe in meiner Antwort vorhin ausgeführt: Die afghanische Verfassung bezieht sich ausdrücklich auf die Allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948, welche die Religionsfreiheit in vollem Umfang gewährleistet, also ausdrücklich auch das Recht, die Religion zu wechseln. Anders als andere islamische Länder hat Afghanistan bei der Ratifizierung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte keinen Vorbehalt gegen die Religionsfreiheit eingelegt. Die Bundesregierung geht daher davon aus, dass die afghanische Verfassung auch die Freiheit gewährleistet, die Religion zu wechseln. Ich betone noch einmal: Die Bundesregierung wird dazu beitragen, dass das in der afghanischen Verfassung verankerte menschenrechtskonforme Verständnis auf allen Ebenen der Gerichtsbarkeit Eingang findet. Wir haben interveniert, weil wir mit dem, was da in den vergangenen Wochen passiert ist, nicht einverstanden waren.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Der Kollege Winkler hat eine Zusatzfrage.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatsminister, das, was Sie gerade gesagt haben, steht aber in einem extremen Widerspruch zu dem, was in der afghanischen Öffentlichkeit, unter anderem in der afghanischen Presse, debattiert worden ist, nämlich wie diesem Fall überhaupt beizukommen sei. Ich frage Sie, ob Sie folgende Auffassung teilen: Offensichtlich war die Rechtslage doch so, dass ein Übertritt zum Christentum nur dann straffrei ist, wenn eine Geisteserkrankung vorliegt, und dass eine Todesstrafe dann in eine Gefängnisstrafe umgewandelt werden kann, wenn davon auszugehen ist, dass der Übertritt im Wahn stattgefunden hat. Das deckt sich überhaupt nicht mit der Einschätzung, die Sie eben gegeben haben. Die Einschätzung der Bundesregierung wird sich nicht nur auf das Lesen von Gesetzestexten stützen können; die Bundesregierung wird wohl auch zur Kenntnis nehmen müssen, wie die breite Öffentlichkeit in Afghanistan über diesen Fall diskutiert hat.

Not found (Gast)

Herr Kollege Winkler, ich möchte noch einmal auf den Aspekt eingehen, den ich vorhin erwähnt habe: Afghanistan ist natürlich im Aufbau befindlich. Wir alle müssen ein Interesse daran haben - wir müssen die entsprechende Unterstützung leisten -, dass dort ein Rechtssystem entsteht. Ich teile insofern Ihre Auffassung. Die Bundesregierung wird sich nicht nur an dem Verfassungstext orientieren - natürlich ist auch er wichtig -, sondern auch seine Umsetzung betrachten. Deshalb wird sie die Entwicklungen genau beobachten. Es ist sicherlich nicht so, dass wir den von Ihnen beschriebenen Fall akzeptieren und als nebensächlich betrachten. Wir wollen, dass die Menschenrechte in Afghanistan insgesamt akzeptiert werden und von Verwaltung und Justiz beachtet werden.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich rufe nun die Frage 28 des Kollegen Volker Beck ({0}) auf: Wie sieht die Rechtspraxis in Afghanistan - Bereiche Frauenrechte, Religionsfreiheit und Homosexualität - aus und welche Konsequenzen hat dies für die Abschiebung afghanischer Flüchtlinge in der Bundesrepublik?

Not found (Gast)

Herr Kollege Beck, die Lage der Frauen in Afghanistan verbessert sich trotz formeller Aufhebung der gegen sie gerichteten Verbote aus der Talibanzeit nur langsam, wie ich zugeben muss. Entwicklungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen sind durch konservative gesellschaftliche Strukturen vor allem im ländlichen Bereich weiterhin wesentlich eingeschränkt. Zur Religionsfreiheit ist zu sagen, dass Art. 2 Abs. 1 der neuen afghanischen Verfassung bestimmt, dass der Islam Staatsreligion Afghanistans ist. Art. 2 Abs. 2 dieser Verfassung räumt Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften das Recht ein - darauf sind wir vorhin schon eingegangen -, ihren Glauben im Rahmen der Gesetze auszuüben und ihre religiösen Bräuche zu pflegen. Dieses Recht steht unter einem Gesetzesvorbehalt. Ich füge hinzu: Dieser Vorbehalt ist nach Kenntnis des Auswärtigen Amtes bislang nicht konkretisiert worden. Der Bundesregierung ist kein Fall bekannt, in dem die Religionsfreiheit in Afghanistan durch ein rechtskräftiges Gerichtsurteil eingeschränkt worden wäre. Homosexualität ist in Afghanistan ein Tabuthema. Es ist davon auszugehen, dass ein offenes Bekenntnis zur Homosexualität zur gesellschaftlichen Diskriminierung führen würde. Eine Entscheidung über Konsequenzen für Rückführungen ausreisepflichtiger Personen mit afghanischer Staatsangehörigkeit - diese Personen sind übrigens keine Flüchtlinge im rechtlichen Sinne - liegt nach der gesetzlichen Zuständigkeitsregelung bei den Innenbehörden der Länder.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ihre Zusatzfragen, bitte.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liegen dem Auswärtigen Amt Informationen darüber vor, dass es beim Thema Homosexualität zu keiner Anwendung der Scharia kommt? Ist es seit dem In-Kraft-Treten der Verfassung zu keinen strafrechtlichen Urteilen gegen Homosexuelle gekommen? Welche strafrechtlichen Urteile oder welche anderweitigen Verfolgungsmaßnahmen sind Ihnen bekannt?

Not found (Gast)

Wie ich vorhin ausgeführt habe, wird dieses Thema in der afghanischen Gesellschaft tabuisiert. Insofern tritt man damit nicht an die Öffentlichkeit. Der Bundesregierung ist bis jetzt tatsächlich kein Fall bekannt, dass Homosexualität verfolgt worden ist.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Menschenrechtsorganisationen berichten darüber leider nach wie vor anderes. Ich meine, dass wir bei der Beantwortung der Frage „Welche Bedeutung hat das für das Flüchtlingsrecht?“ auf die tatsächliche Situation und nicht auf eine formalrechtlich Situation abstellen müssen. Schätzen Sie es tatsächlich so ein, dass man in der aktuellen Situation, wo in Afghanistan die staatliche Ordnung nicht alle Gebiete kontrolliert, Homosexuelle oder Menschen, die die Religion gewechselt haben, nach Afghanistan zurückführen darf, weil man sicher davon ausgehen kann, dass bei ihnen weder für Leib und Leben noch für Freiheit irgendeine Gefahr besteht?

Not found (Gast)

In Ihrem ersten Teil haben Sie ausgeführt, dass Ihnen Kenntnisse vorliegen. Deshalb würde ich einfach darum bitten, dass wir diese bekommen, um dem nachgehen zu können. Veränderungen in der Praxis haben letztlich natürlich auch Rückwirkungen in Bezug auf solche Rückführungen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Eine Zusatzfrage des Kollegen Winkler.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatsminister, Sie haben gerade gesagt, man könne davon ausgehen, dass ein öffentliches Bekenntnis zur Homosexualität in Afghanistan zur gesellschaftlichen Diskriminierung führen könne. Nun ist es ja nicht so, dass das in weiten Teilen der Bundesrepublik nicht auch der Fall sein könnte. Teilen Sie aber die Auffassung, dass gesellschaftliche Diskriminierung von Homosexuellen in Afghanistan andere Konsequenzen mit sich bringen könnte als in Deutschland und dass das auch Implikationen für das Fluchtverhalten und das Asylrecht hat?

Not found (Gast)

Herr Kollege Winkler, ich habe nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse verglichen, sondern nur auf die Frage geantwortet, mit welchen Konsequenzen zu rechnen ist. Ich sage noch einmal, auch im Hinblick auf die gestellte Frage: Der Bundesregierung ist bis heute kein solcher Fall bekannt. Wenn das, was Sie ausgeführt haben, dort ganz anders betrachtet würde als bei uns und Konsequenzen für die Betroffenen hätte, dann müsste das bei der Beurteilung bestimmter Rückführungsfälle natürlich seinen Niederschlag finden.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Auswärtigen Amtes. Herr Staatsminister, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Für die Beantwortung der FraVizepräsidentin Gerda Hasselfeldt gen steht der Parlamentarische Staatssekretär Peter Altmaier zur Verfügung. Die Frage 29 des Abgeordneten Jürgen Trittin wird schriftlich beantwortet. Ich rufe die Frage 30 des Kollegen Markus Kurth auf: Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass die Zentrale Ausländerbehörde Dortmund abgelehnte Asylbewerber einer inoffiziellen Delegation aus Guinea vorführt, um aufgrund einer Inaugenscheinnahme die Identität der abgelehnten Asylbewerber zu klären und so genannte Passersatzpapiere zum Zweck der Abschiebung auszustellen ({0})?

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Herr Kollege Kurth, die Frage wurde teilweise bereits von Staatsminister Gloser beantwortet. Ich darf noch einmal darauf hinweisen, dass die Zentrale Ausländerbehörde in Dortmund nach bundesgesetzlichen Vorschriften gehandelt hat, und zwar im Rahmen des Aufenthaltsgesetzes. Diese Vorschriften werden nach Art. 83 des Grundgesetzes von den Ländern als eigene Angelegenheiten ausgeführt. Deshalb kann ich zu Ihrer Frage nur ganz allgemein Folgendes sagen: Wenn jemand rückgeführt werden soll, hat das zur Voraussetzung, dass die Staatsangehörigkeit festgestellt wird und nachfolgend auch Heimreisedokumente ausgestellt werden. Das wiederum bedingt die Kooperation mit den beteiligten Staaten. Diese Kooperation erfolgt im Einklang mit dem Völkerrecht. Es liegt in der Natur der Sache, dass dem Staat, der die Rückübernahme einer ausreisepflichtigen Person durchführen soll, im Zweifelsfall auch die Möglichkeit eingeräumt wird, sich diese Person vorstellen zu lassen und sie zum Zweck der Verifizierung der Staatsangehörigkeit anzuhören. Das ist Voraussetzung für die Feststellung der Staatsangehörigkeit. Die Rechtsgrundlage für diese Anhörungen findet sich in § 82 Abs. 4 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes, wonach das persönliche Erscheinen des Ausländers unter anderem bei den Vertretungen des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er vermutlich besitzt, angeordnet werden kann. Es ist völlig unbestritten, dass der Begriff „Vertretung“ im Sinne dieser Vorschrift nicht räumlich - in Bezug auf Gebäude der diplomatischen Vertretungen -, sondern in Bezug auf die handelnden Personen zu verstehen ist.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine Zusatzfrage? - Bitte.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gleichwohl werden Sie mir doch darin zustimmen, dass man das Notwendige zum Zweck der Feststellung der Staatsbürgerschaft im Rahmen der Verfahren der Bundesrepublik Deutschland tun sollte, wo auch immer die Vertretung ist. Wie also ist es zu bewerten, wenn der Leiter der Zentralen Ausländerbehörde in Dortmund sagt, wo die Delegation diese Inaugenscheinnahme der Flüchtlinge oder abgelehnten Asylbewerber vornehme, sei ein quasi exterritoriales Gebiet, und wenn er weiterhin erklärt, bei der Befragung gelte das Recht Guineas auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland? Ist es die Auffassung der Bundesregierung - ich frage das, auch wenn die Durchführungszuständigkeit bei den Länderbehörden liegt -, dass dies zulässig ist?

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Ich kann zu den konkreten Umständen des Vorgehens der Zentralen Ausländerbehörde in Dortmund nur wiederholen, dass die Ausführung des Aufenthaltsgesetzes durch die Länder erfolgt. Insofern verbietet sich eine Kommentierung. Ich bitte auch um Verständnis, dass ich keine Aussagen auf der Basis hypothetischer Annahmen machen kann, die ich von diesem Platz aus nicht überprüfen kann und die auch nicht Gegenstand Ihrer Frage waren.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine zweite Zusatzfrage?

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kann die Bundesregierung denn zusichern, dass, nachdem ich Ihnen selbstverständlich Belege für diese Äußerung habe zukommen lassen, sie sich die entsprechende Praxis noch einmal genau anschaut und auch Gespräche mit der Zentralen Ausländerbehörde in Dortmund führt, um den Vorgang zu überprüfen?

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Die Bundesregierung kann zusichern, dass sie die Unterlagen, die Sie uns übersenden, sorgfältig prüfen wird und dass Sie dann eine entsprechende Antwort von uns erhalten werden.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Die Fragen 31 und 32 der Kollegin Sevim Dagdelen werden schriftlich beantwortet. Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums des Innern. Herr Staatssekretär, vielen Dank für die Beantwortung. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Für die Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Alfred Hartenbach zur Verfügung. Die Frage 33 des Kollegen Dr. Hakki Keskin wird schriftlich beantwortet. Dann kommen wir zur Frage 34 des Kollegen Dr. Karl Addicks: Ist der Bundesregierung bekannt, wie viele deutsche Unternehmen und natürliche Personen als so genannte Insolvenztouristen ihr Insolvenzverfahren in einem anderen EU-Mitgliedstaat, insbesondere im Elsass und im restlichen Frankreich, anmelden und welcher Betrag an Gläubigerforderungen seitens der öffentlichen Hand dadurch verloren geht?

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Herr Dr. Addicks, ich beantworte Ihre Frage zunächst mit einem ganz einfachen Nein. Das Statistische Bundesamt erhebt sämtliche das Insolvenzgeschehen in Deutschland betreffende Daten, die der Bundesregierung zeitnah zur Verfügung stehen und die dann auch weiteren Beratungen des Bundesministeriums der Justiz zugrunde liegen. Diese Statistik enthält allerdings keine Angaben über Personen, die etwa ihren Wohnsitz nach Frankreich verlegen, um ein französisches Insolvenzverfahren zu durchlaufen. Insofern liegen der Bundesregierung auch keine Erkenntnisse vor, in welcher Höhe der öffentlichen Hand Verluste durch im Ausland erteilte Restschuldbefreiungen entstehen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ihre Zusatzfrage.

Dr. Karl Addicks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003713, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke. - Dann können Sie natürlich auch keine Angaben dazu machen, in welcher Höhe sich etwa die Ausfälle bei den privaten Gläubigerforderungen bewegen, die durch diesen so genannten Insolvenztourismus verursacht werden.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Sie haben von „Insolvenztourismus“ gesprochen. Die Europäische Insolvenzverordnung sieht allerdings nicht vor - da Sie im Saarland wohnen, ist Ihnen das Problem bekannt -, dass man eben mal nach Frankreich fährt und dort ein Insolvenzverfahren durchläuft. In der Europäischen Insolvenzverordnung heißt es, dass für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Gerichte des Mitgliedstaates zuständig sind, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Eine weitere Möglichkeit bei einem unternehmerisch tätigen Schuldner ist, dass er dort eine Nebenniederlassung hat. Denkbar ist auch, dass deutsche Saarbrücker Bürgerinnen und Bürger einen Nebenwohnsitz jenseits der Grenze in Frankreich haben. Aber dazu liegen uns keine Zahlen vor. Ein Insolvenzverfahren kann nur ordentlich und richtig durchgeführt werden - ich hoffe, es wird richtig durchgeführt -, wenn in dem jeweiligen Land ein Hauptwohnsitz existiert.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ihre zweite Zusatzfrage.

Dr. Karl Addicks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003713, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, danke.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Dann rufe ich die Frage 35 des Kollegen Dr. Addicks auf: Welche Position vertritt die Bundesregierung hinsichtlich einer einheitlichen Insolvenzordnung auf EU-Ebene?

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Herr Dr. Addicks, mit der Verordnung ({0}) Nr. 1346/ 2000 vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren - ich habe sie eben schon angesprochen - liegt ein ausdifferenziertes Rechtsinstrument vor, um grenzüberschreitende Insolvenzverfahren innerhalb der EU mit Ausnahme Dänemarks abwickeln zu können. Die Europäische Insolvenzverordnung enthält jedoch überwiegend nur Kollisionsrecht. Für eine vollständige Harmonisierung des Insolvenzrechts ist nach Auffassung der Bundesregierung die Zeit noch nicht reif, da das Insolvenzrecht auf vielfältige Sachverhalte Bezug nimmt, die durch andere Rechtsgebiete wesentlich bestimmt werden. Das gilt etwa für das allgemeine Zivilrecht, das Arbeits- oder das Steuerrecht. Erst wenn auf diesen Gebieten weitere Harmonisierungsfortschritte erzielt wurden, ist es nach Auffassung der Bundesregierung sinnvoll, mit der Erarbeitung eines einheitlichen, EU-weit geltenden Insolvenzrechts zu beginnen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine Zusatzfrage?

Dr. Karl Addicks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003713, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. - Sieht denn die Bundesregierung einen Bedarf - die entsprechenden Zahlen sind allerdings nicht bekannt; ich verfüge über Anhaltspunkte, dass sie in einer Größenordnung von mehreren Milliarden liegen -, hier zu einer Angleichung des Rechts auf europäischer Ebene zu kommen?

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Herr Kollege Addicks, ich habe diese Frage eigentlich schon beantwortet. Ich will aber noch einen kleinen Schlenker machen. Es gäbe schon heute Möglichkeiten, uns diese Zahlen bekannt zu geben. Nach der Europäischen Insolvenzverordnung könnte nämlich der Verwalter einen Antrag auf Bekanntmachung in allen Staaten der Europäischen Union - mit Ausnahme Dänemarks - stellen. Der Verwalter könnte auch eine Eintragung in öffentliche Register beantragen. Bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland könnte dies beispielsweise sein: eine Eintragung in das Grundbuch, wenn der Schuldner Grundeigentum besitzt, oder eine Eintragung in das Handelsregister, wenn der Schuldner eine dort eingetragene Firma besitzt. Aber das alles richtet sich nach dem Insolvenzrecht des Staates, in dem der Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gestellt wurde. Ich habe schon gesagt, dass wir es begrüßen würden, wenn es zu einer weiteren Harmonisierung käme. Aber dazu ist es erforderlich - das interessiert auch den Parlamentarischen Staatssekretär Andres -, dass es zum Beispiel im Arbeitsrecht und im Zivilrecht weitere Harmonisierungen gibt. Dann könnten wir diesen weiteren Schritt gehen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine weitere Zusatzfrage?

Dr. Karl Addicks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003713, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. - Sieht denn die Bundesregierung bis zu einer möglichen Harmonisierung irgendeine Möglichkeit, auf die Regierungen der anderen EU-Staaten einzuwirken, die Insolvenzflucht zu verhindern?

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Dies wird genauso schwierig sein, wie auf deutsche Gerichte einzuwirken. Denn eine Regierung hat aufgrund der Gewaltenteilung keine Möglichkeit, auf die Gerichte Einfluss zu nehmen. Ich kann Ihre Frage nicht genauer beantworten. Ich würde mich aber gerne mit Ihnen - ich habe es Ihnen schon eben angeboten - darüber einmal genauer unterhalten. Wir gehen davon aus, dass nach der Europäischen Insolvenzverordnung in anderen Ländern der Europäischen Union ein Insolvenzverfahren nur dann eröffnet wird, wenn die Voraussetzungen dafür vorliegen. Das wäre der Fall, wenn sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners in diesem Staat befindet. ({0}) - Doch. So steht es in der Verordnung. Lesen Sie es nach. Sie können ja an dem Gespräch ebenfalls teilnehmen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums der Justiz. Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen. Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Für die Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Hartmut Schauerte zur Verfügung. Die Fragen 36 und 37 der Kollegin Marina Schuster werden schriftlich beantwortet. Ich rufe die Frage 38 der Kollegin Cornelia Hirsch auf: Wie bewertet die Bundesregierung vor dem Hintergrund der Mitteilung des Statistischen Bundesamts, dass im vergangenen Jahr 2,2 Prozent bzw. 12 800 weniger Ausbildungsverträge als im Jahr 2004 abgeschlossen wurden, den Erfolg des so genannten Ausbildungspakts?

Hartmut Schauerte (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002770

Frau Kollegin Hirsch, die beiden letzten Jahre haben gezeigt, dass der Ausbildungspakt gerade in einem ausbildungsmarktpolitisch ausgesprochen schwierigen konjunkturellen Umfeld wirkt und notwendig ist. Die Wirtschaft hat ihre Zusagen nicht nur eingehalten, sondern um das Doppelte übertroffen. Ich darf die entsprechenden Zahlen nennen. Es sind 30 000 neue Ausbildungsplätze im Jahresdurchschnitt zugesagt worden. Das wurde in beiden Jahren eingehalten. In 2004 waren es 59 500 und in 2005 63 000. Es wurde also eine beeindruckende Überschreitung der im Pakt gemachten Zusagen erreicht. Wir sagen, dass wir neue Ausbildungsplätze, Ausbildungszweige und -berufe schaffen müssen. Allein in diesem Jahr treten fünf neue und 14 modernisierte Ausbildungsordnungen in Kraft. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie als Verordnungsgeber wird unter Ausschöpfung aller gesetzlichen Möglichkeiten als zusätzlichen Beitrag zum Ausbildungspakt angebotsorientiert neue Ausbildungsberufe schaffen, mit denen sich auch kleine und mittlere Betriebe identifizieren können, um so deren Ausbildungsbereitschaft zusätzlich zu steigern. Die Bundesregierung wird im Rahmen des Ausbildungspaktes außerdem die Bemühungen verstärken, im Zusammenwirken mit den Ländern und den Schulen die Ausbildungsreife der Jugendlichen und damit ihre Ausbildungschancen zu verbessern. Dies ist ja nicht nur ein Thema der ausbildenden Wirtschaft. Wir haben vielmehr auch Probleme mit den Qualifikationen einer Reihe von Schulabgängern. Im Übrigen setzt die Bundesregierung darauf, dass im Zuge des sich entwickelnden konjunkturellen Aufschwungs auch auf dem Ausbildungsmarkt positive Auswirkungen spürbar werden. Ich darf ergänzen: Am 30. Januar 2006 ist im so genannten Paktlenkungsausschuss die Zusage für das jetzt kommende Ausbildungsjahr erneuert worden.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine Zusatzfrage, Frau Kollegin? - Bitte.

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Staatssekretär, vielen Dank für die Beantwortung. - Sie hatten in Ihrer Antwort deutlich gemacht, dass es sich bei den Vereinbarungen im Ausbildungspakt um 30 000 neue Ausbildungsplätze - allerdings nicht um zusätzliche Ausbildungsplätze - handelt. Wir haben schon mehrfach die Kritik geäußert, dass die Vereinbarungen, die im Rahmen dieses Paktes getroffen wurden, offensichtlich zu kurz greifen. Es zeigt sich auch an den Zahlen, dass das Angebot an Ausbildungsplätzen insgesamt zurückgeht und nicht ausreichend ist. Inwieweit würden Sie die Einschätzung teilen, dass es sich bei den von Ihnen genannten Zahlen nur um neue und nicht um zusätzliche Ausbildungsplätze handelt, und wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund insbesondere die Situation, dass die Gewerkschaften angesichts der Zahlen deutlich gemacht haben, dass sie nicht gewillt sind, sich am Ausbildungspakt zu beteiligen?

Hartmut Schauerte (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002770

Ich bleibe bei meiner Aussage und bei meiner Antwort. Die Zusagen, die im seinerzeitigen Ausbildungspakt noch von der alten Bundesregierung vereinbart wurden, werden nicht nur eingehalten, sondern übertroffen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine weitere Zusatzfrage? - Bitte.

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Staatssekretär, das war nicht meine Nachfrage. Ich habe nicht gefragt, inwieweit die Zusagen eingehalten wurden, sondern mich erkundigt, inwieweit Sie der Auffassung sind, dass die Vereinbarungen, die getroffen wurden, weitreichend genug sind. Wenn man die Vereinbarung trifft, nur neue, aber keine zusätzlichen Ausbildungsplätze zu schaffen, dann wird dies natürlich die Folge haben, dass die Anzahl der Ausbildungsplätze nicht zunimmt. Genau das brauchten wir aber eigentlich. Von daher noch einmal die Frage: Sind Sie der Auffassung, dass die Vereinbarungen des Ausbildungspaktes ausreichend sind?

Hartmut Schauerte (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002770

Ja, die Vereinbarungen des Ausbildungspaktes sind ausreichend. Das kann über diesen Weg erreicht werden. Alles Weitere muss man durch ganzjährige Anstrengungen mit der ausbildenden Wirtschaft, den Schulen und Ländern sowie über die Ausbildungsordnungen versuchen zu verbessern.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Herr Staatssekretär, vielen Dank für die Beantwortung. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Für die Beantwortung der Fragen steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Peter Paziorek zur Verfügung. Ich rufe die Frage 39 der Kollegin Bärbel Höhn auf: Welche Schritte plant die Bundesregierung, um die Agrarsubventionen, ihre Empfänger und ihre Auswirkungen auf Beschäftigung, Umwelt- und Tierschutz für Bürgerinnen und Bürger transparenter zu machen?

Dr. Peter Paziorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001685

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Kollegin Höhn, die Antwort lautet wie folgt: Der jährliche agrarpolitische Bericht der Bundesregierung, der Subventionsbericht der Bundesregierung und weitere Veröffentlichungen enthalten eine Fülle von Informationen und aktuellen Daten zu der oben genannten Frage. Daher besteht bereits ein hohes Maß an Transparenz.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ihre Zusatzfragen, bitte.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, Sie wissen, dass andere EU-Länder, insbesondere Dänemark, aber zum Beispiel auch Schweden und Großbritannien, die Agrarsubventionen veröffentlichen. Ich denke, bei den Steuermitteln - diese werden übrigens auch vom deutschen Steuerzahler aufgebracht -, die in diesen Bereich fließen, ist es, was die Transparenz angeht, ein sinnvolles Verfahren, wenn man diejenigen, die Subventionen bekommen, und die Höhe der Subventionen, die sie erhalten, öffentlich benennt. Wie stehen Sie dazu?

Dr. Peter Paziorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001685

Verehrte Frau Kollegin, es ist rechtlich umstritten, ob Geschäftsgeheimnisse bekannt gegeben werden dürfen. Es stellt sich die Frage, wie nach unserer Rechtsordnung Geschäftsgeheimnisse zu definieren sind.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Eine weitere Zusatzfrage?

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, Länder wie Schweden, Großbritannien und Dänemark - ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Entschuldigung, Frau Kollegin. Der Herr Staatssekretär war mit seiner Beantwortung noch nicht fertig.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Entschuldigung!

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich denke, wir sollten ihm noch einmal die Gelegenheit zur Beantwortung geben.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber gerne. Vielleicht beantwortet er meine Frage ja besser als bisher.

Dr. Peter Paziorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001685

Hoffnung sollte man immer haben; aber zu viel Hoffnung kann ich Ihnen nicht machen, Frau Höhn. Wie in Deutschland ein Geschäftsgeheimnis zu definieren ist, ergibt sich nicht aus der schwedischen oder der dänischen Rechtsordnung, sondern aus der deutschen Rechtsordnung. Danach ist unbestritten, dass Geschäftsgeheimnisse auch dann vorliegen, wenn Rückschlüsse auf die Wettbewerbsposition gezogen werden können. Es gibt in der Literatur, auch in der deutschen Literatur, vereinzelt die Position, dass Informationen, die den Wettbewerb betreffen, niemals als Geschäftsgeheimnisse definiert werden können, sodass sie - ganz in Ihrem Sinne - bekannt gegeben werden dürfen. Dies ist nach meinem Kenntnisstand aber eine Mindermeinung. Auch in erstinstanzlicher Rechtsprechung wird diese Rechtsmeinung nicht geteilt, sodass wir zu dem Ergebnis kommen, dass es sich hier um Geschäftsgeheimnisse handelt und wir dies daher nicht weiter spezifizieren können.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Jetzt haben Sie das Wort zu einer Zusatzfrage.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, ich erinnere mich an das Verbraucherinformationsgesetz. Danach dürfen Informationen ebenfalls wegen der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse nicht weitergegeben werden. Nun kommen Sie mit derselben Argumentation: Hier können Informationen nicht weitergegeben werden, weil auch die Höhe der Subventionen, die diese Unternehmen erhalten, Betriebs- und Geschäftsgeheimnis ist. Sind Sie nicht mit mir der Meinung, dass man diese Definition von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen in Deutschland endlich einmal ändern muss, damit wir zu transparenten Informationen kommen?

Dr. Peter Paziorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001685

Ich bin nicht Ihrer Meinung, Frau Abgeordnete.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Dann rufe ich die Frage 40 der Kollegin Bärbel Höhn auf: Ist die Bundesregierung bereit, die Direktzahlungen an landwirtschaftliche Betriebe in Abhängigkeit zu Betriebsgröße und Beschäftigtenzahl in aggregierter Form zu veröffentlichen und die Direktzahlungen an die 100 Betriebe, die die höchsten Beträge erhalten, offen zu legen?

Dr. Peter Paziorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001685

Verehrte Frau Kollegin, die Verteilung der Direktzahlungen an landwirtschaftliche Betriebe nach Größenklassen der Zahlungsbeträge wird von der EU-Kommission, auch nach Mitgliedstaaten sortiert, regelmäßig veröffentlicht und ist über das Internet abrufbar. Die Aktualisierung der Zahlen für das Haushaltsjahr 2005 ist derzeit in Bearbeitung. Informationen über die Zusammensetzung und Verteilung der Direktzahlungen nach Produktionsrichtungen, Rechtsformen und Betriebsgrößen finden sich im Agrarpolitischen Bericht der Bundesregierung und im Statistischen Jahrbuch über Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Aus den betreffenden Tabellen ist auch die Höhe der Direktzahlungen je Arbeitskraft ersichtlich. Die Direktzahlungen an die 100 Betriebe, die die höchsten Beträge erhalten haben, kann ich hingegen auch nicht in anonymisierter Form offen legen. Es handelt sich um Einzelbetriebsdaten, die von den zuständigen Länderbehörden erhoben werden. Der Informationsgewinn durch eine solche Veröffentlichung wäre auch nur äußerst begrenzt, da die Direktzahlungen bekanntermaßen weitgehend von der Betriebsgröße abhängen und die eingangs genannten aggregierten Zusammenstellungen ausreichen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Eine Zusatzfrage? - Bitte.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, Sie haben eben gesagt, dass Sie wegen des deutschen Rechts die Höhe der Subventionen, die die einzelnen Unternehmen erhalten, nicht darlegen können. Ich hatte nun gefragt, ob man nicht zumindest die Direktzahlungen an die 100 Betriebe nennen könnte, die die höchsten Beträge erhalten. Wie ist denn Ihre Auffassung? Halten Sie es für sinnvoll, dass die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland ein Recht darauf hat, die Beträge, die diese Unternehmen bekommen, zu erfahren, oder halten Sie das nicht für sinnvoll?

Dr. Peter Paziorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001685

Grundsätzlich ist es sinnvoll, Frau Kollegin, dass die Bevölkerung erfährt, wie die Struktur der Finanzmittel aussieht und wie viel die Unternehmen, die Bäuerinnen und Bauern - nach der aggregierten Zusammenstellung und basierend auf der Größenordnung ihrer Betriebe erhalten. Das erfolgt aber. Man bekommt eine genaue Auskunft darüber, wie viele Höfe und wie viele Eigentümer Zuschüsse bekommen, und zwar aufgeteilt beispielsweise nach Zuschüssen bis 1 000 Euro und bis 5 000 Euro. Diese Zusammenstellung wird auf Anfrage verteilt. Es gibt auch Tabellen dazu in den genannten Berichten. Dadurch wird die Struktur, die agrarpolitische Dimension deutlich. Darüber hinaus halten wir es jedoch für rechtlich bedenklich, Informationen auch in anonymisierter Form herauszugeben, weil Rückschlüsse möglich sind.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine zweite Zusatzfrage?

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, Herr Staatssekretär, ich habe nicht nach den rechtlichen Bedenken gefragt. Vielmehr habe ich einfach nach Ihrer politischen Auffassung gefragt: Halten Sie es für sinnvoll, dass die Bevölkerung in Deutschland erfährt, welche 100 Betriebe im Agrarbereich die höchsten Subventionen von der EU bekommen, und dass man die Subventionen, die diese Betriebe von der EU bekommen, offen legt? Ich will noch einmal betonen: Ich habe nicht nach der rechtlichen Einschätzung gefragt. Vielmehr möchte ich Sie fragen: Halten Sie es politisch für sinnvoll, dass die Bevölkerung diese Daten erhält?

Dr. Peter Paziorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001685

Es tut mir Leid, wenn ich Ihre Frage vorhin falsch verstanden habe. Sie haben das aber jetzt konkretisiert. Ich halte es nicht für sinnvoll, dass eine Veröffentlichung in dieser Form erfolgt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Jetzt haben wir eine Zusatzfrage des Kollegen Löning.

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, dass die EUKommission im Rahmen ihrer Transparenzinitiative plant, die Mitgliedsländer anzuweisen, diese Daten offen zu legen? Hat die Bundesregierung dazu eine Meinung?

Dr. Peter Paziorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001685

Mir ist bekannt, dass auf europäischer Ebene eine solche Initiative diskutiert wird. Ich muss klar und deutlich sagen: Die Bundesregierung wird eine solche Entwicklung im rechtlichen Bereich nicht blockieren. Vielmehr haben auch wir ein Interesse daran, dass - damit kann ich an die Frage von Frau Höhn anschließen - so weit wie möglich Transparenz gewährleistet wird. Aber man muss auch Folgendes sehen: Transparenz ist in einem Rechtsstaat nur dann möglich, wenn dafür der rechtliche Rahmen gegeben ist. Sollte sich auf europäischer Ebene ein neuer Rechtsrahmen ergeben, wird die Bundesregierung die Möglichkeiten dieses Rechtsrahmens voll ausschöpfen und wir müssen dann prüfen, inwieweit eine neue rechtliche Grundlage vorliegt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Eine weitere Zusatzfrage, diesmal von der Kollegin Koczy.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke sehr. - Bei dieser Frage geht es ja darum, wie die Verteilung von Steuermitteln transparent gemacht werden kann. In Sonderheit betrifft das die EU-Subventionen, zu denen ich sagen möchte: Es liegt im gesamtgesellschaftlichen Interesse, wenn das transparent gemacht wird. Teilen Sie meine Auffassung, dass dadurch, dass nicht transparent wird, in welchem Maße und zu welchem Zweck diese Mittel verteilt werden, Wettbewerbsverzerrungen möglich sind, die sich daraus ergeben, dass einige Betriebe zum Nachteil der deutschen Steuerzahlerin und des deutschen Steuerzahlers Mittel erhalten und kleinere Betriebe deswegen benachteiligt werden?

Dr. Peter Paziorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001685

Frau Kollegin, ich kann im Augenblick nicht nachvollziehen, wie die Wettbewerbsverzerrungen, die Sie ansprechen, dadurch verhindert werden könnten, dass Daten, die im Augenblick nach dem deutschen Recht eindeutig dem Betriebsgeheimnis unterliegen, offen gelegt werden. Vielmehr müsste es darum gehen, dass staatliche Stellen, aber auch Stellen der Selbstverwaltung in diesen Fragen von Subventionsempfängern konkret angesprochen werden sollten. Es ist die Aufgabe der staatlichen Stellen, für eine rechtlich einwandfreie Verteilung der Subventionen zu sorgen. Die staatlichen Stellen und die Stellen der Selbstverwaltung müssen diese Aufgabe wahrnehmen. Ich bin der Ansicht: Möglichen Hinweisen, die sich aufgrund der aggregierten Daten vielleicht ergeben, sollten die staatlichen Stellen im Rahmen des üblichen Verfahrens nachgehen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich rufe die Frage 41 der Kollegin Koczy auf: Ist die Bundesregierung bereit, jeweils die 20 größten deutschen Empfänger von Agrarexportsubventionen in den verschiedenen Produktkategorien offen zu legen, und, wenn ja, in welcher Form wird sie dies tun?

Dr. Peter Paziorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001685

Verehrte Kollegin, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Bei den in der Frage gewünschten Informationen handelt es sich um Geschäftsgeheimnisse, die nicht unbefugt offenbart werden dürfen. Daher verbietet sich eine derartige Veröffentlichung.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ihre Zusatzfrage, bitte.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist sehr interessant, Ihren Ausführungen zu folgen. Ich bin der Meinung, dass in dem Augenblick, wo Betriebe solche Mittel erhalten, die Frage berechtigt ist, welche gesellschaftlichen Gegenleistungen die Unternehmen erbringen, die solche Subventionen erhalten. Sind diese Zahlungen gerechtfertigt, auch wenn man nicht genau weiß, was die Betriebe mit den Mitteln machen?

Dr. Peter Paziorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001685

Ich muss noch einmal darauf hinweisen, dass sich dieser Bereich einer politischen Diskussion im Detail entzieht, sobald es um ganz konkrete Fragen nach ganz bestimmten Unternehmen, zum Beispiel nach den 20 größten Unternehmen - diese haben Sie in Ihrer Frage angesprochen -, geht. Eine grundsätzliche politische Diskussion wird dadurch natürlich nicht verhindert. Die Berichte aus unserem Hause enthalten ja auch entsprechende Daten, damit überprüft werden kann, ob das in der heutigen Zeit agrarpolitisch sinnvoll ist oder ob das bisherige Verfahren fortgesetzt werden sollte. Informationen zu ganz konkreten Firmen, Unternehmen bzw. im Einzeleigentum befindlichen Höfen halten wir aus rechtlichen Gründen für in höchstem Maße bedenklich.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine weitere Zusatzfrage? - Eine Zusatzfrage von Frau Höhn.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, Sie haben eben sehr deutlich gemacht, dass es juristisch nicht machbar ist, dass Sie es aber auch für politisch nicht sinnvoll halten, dass die Bevölkerung in Deutschland erfährt, wie die Agrarsubventionen verteilt werden, und dass die 100 Empfänger der höchsten Agrarsubventionen der EU benannt werden. Ich frage Sie einfach: Was ist der Grund? Mit welcher Begründung wollen Sie der Bevölkerung in Deutschland diese Daten vorenthalten?

Dr. Peter Paziorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001685

Frau Abgeordnete, es kommt zunächst einmal darauf an - das steht im Vordergrund meiner Beantwortung -, dass man diese Fragen nicht unter dem Aspekt, was man für sinnvoll oder nicht sinnvoll hält, beantwortet, sondern sich eindeutig daran orientiert, was der rechtliche Rahmen zulässt. Nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz - in Deutschland erfolgen die Zuteilung von Prämien und die Zuweisung von Subventionen eindeutig im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens - haben die Beteiligten einen Anspruch darauf, dass ihre Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse und auch Steuerfragen von den Behörden nicht unbefugt offenbart werden. Unabhängig davon, ob sich das aufgrund europarechtlicher Vorgaben eines Tages ändern wird - in diesem Zusammenhang habe ich durchaus Offenheit signalisiert -, müssen wir zum jetzigen Zeitpunkt davon ausgehen, dass wir rechtlich gesehen nicht die Möglichkeit haben, Ihrem Wunsch nachzukommen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Wir sind damit zeitlich am Ende der Fragestunde. Die weiteren Fragen werden schriftlich beantwortet. Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen. Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP Bundespolitische Folgerungen aus den Vorgängen an der Rütli-Hauptschule in Berlin Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Dr. Wolfgang Gerhardt für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, weil ein Brief, ein Hilferuf eines Lehrerkollegiums die Öffentlichkeit erreicht hat und weil aufgrund dieses Hilferufes erkennbar ist - Brennpunkt ist wahrscheinlich nicht nur diese Schule -, dass wir in Deutschland Schulen haben, die sich in einer ganz schwierigen Situation befinden, denen von der Politik, von der Öffentlichkeit und von der Schulverwaltung ungenügend geholfen wird. Dass Schulen Ruhe brauchen, dass diese Schule eine neue Chance erhalten sollte, dass an dieser Schule jetzt jemand als kommissarischer Schulleiter engagiert arbeitet, dass das Kollegium über die Wirkung des Briefes vielleicht ein Stück weit erschrocken ist, ist die eine Seite. Die Wahrheit auf der anderen Seite ist aber, dass wir durch dieses Schreiben darauf hingewiesen werden, dass wir seit Jahren einen Realitätsverlust bei der Integrationspolitik in Deutschland haben. ({0}) Das ist der eigentliche Anlass für die Erörterung des Themas im Deutschen Bundestag. Einen Tag bevor dieser Brief die Öffentlichkeit erreicht hat, hatte die CDU in der Bezirksversammlung Neukölln den Antrag gestellt, sich um diese Schule zu bemühen und zu kümmern. Der zuständige Stadtrat antwortete darauf, mit dem Kollegium sei alles besprochen, jeder einzelne Punkt durchdekliniert, und im Übrigen habe man die Schulleitung und das Kollegium darauf hingewiesen, dass es nicht in Ordnung sei, solche Briefe unter Umgehung des Dienstweges zu schreiben. Wenn das die staatliche Antwort einer Verwaltung auf diesen Brennpunkt, auf diesen Vorgang ist, dann ist das an Ignoranz nicht zu überbieten. ({1}) Es wird eine Herausforderung für uns sein, auch an anderen Orten - die Rütli-Schule ist nicht die einzige Schule -, in denen es Schulen mit solchen Unterrichtssituationen gibt, die in Brennpunkten und in solchen sozialen Milieus liegen, ernsthaft über Integrationspolitik zu sprechen und uns nicht mehr aufgrund der alten Political Correctness zu scheuen, offen zu sagen, was die Anforderungen eines freiheitlichen Staatswesens an diejenigen sind, die zu uns kommen, und was hier getan werden muss. Das ist unumgänglich. ({2}) Das beginnt mit einem ganz kleinen Sachverhalt, der unabdingbar für Integration, für Kommunikation in der Schule und auch für Kommunikation des Elternhauses mit der Schule ist: dem Erlernen der deutschen Sprache. ({3}) Ich betone das, weil vielleicht viele hier sagen, das sei eine bare Selbstverständlichkeit. Ich habe noch Diskussionen im Gedächtnis, in denen Mitbürgerinnen und Mitbürger den Eindruck erweckten, als sei die Anforderung, zuerst einmal die deutsche Sprache zu lernen, eine Art Beeinträchtigung der kulturellen Identität derer, die zu uns kommen. Für mich ist das eine bare Selbstverständlichkeit für die Kommunikation in freiheitlichen Staaten. ({4}) Wir haben das Problem lange verdrängt. Wir kannten die hohen Anteile von Ausländern mit sprachlichen Problemen auch an anderen Schulen in Deutschland. Die PISA-Studien haben uns schon früher auf Niveauverluste im Unterricht hingewiesen. ({5}) - Herr Benneter, wenn Sie jetzt sagen, ich würde offene Tore einrennen, dann begrüße ich den Sinnenswandel der Sozialdemokratischen Partei, der durch diesen Zwischenruf zum Ausdruck kommt. ({6}) Wir haben mit Ihnen früher ganz andere Diskussionen geführt. Ihre kleine Lärmkulisse hier sollte bei Ihnen keine Selbsttäuschung bewirken. Die deutsche Sprache zu erlernen, bedeutet nämlich zum einen, dass wir uns das hier mitteilen und offene Türen einrennen; ({7}) ich möchte aber zum anderen wissen - Schule ist das verfassungsrechtliche Hausgut der Länder -, wie das in den Ländern und hier speziell in der Hauptstadt Berlin sichergestellt wird. ({8}) Es muss eine exakte Prüfung erfolgen und die Einschulung kann nur erfolgen - zumindest mit Stützmaßnahmen -, wenn die deutsche Sprache einigermaßen beherrscht wird. Ich halte das im Übrigen auch für eine Anforderung an die Elternhäuser. Ich frage mich, ob hier eine genügende Kommunikation deutscher Behörden gegeben ist, die gegebenenfalls mit Sanktionen reagieren können. Alles, was ich bisher höre, bedeutet, dass nicht genügend getan wird. Das Problem wird nicht hinreichend ernst genommen. Es wird in Debatten erörtert; aber es wird nichts vollzogen. Darum geht es in zweiter Linie. Da wir jetzt offene Türen einrennen und uns einig sind, Herr Benneter, mache ich Ihnen folgenden Vorschlag: Gehen Sie zum Schulsenator - er spricht ja gleich hier - und fragen ihn, wie das in Berlin vollzogen wird. ({9}) Denn hier Ausführungen zu machen, das ist nur die eine Seite. Ich sage das deshalb, weil der Hilferuf der Lehrerinnen und Lehrer doch auch darauf hinweist, dass Toleranz nicht Gleichgültigkeit sein kann, dass Respekt vor kultureller Identität nicht Wegsehen bedeuten kann, dass das genaue Hinsehen die Herausforderung ist, dass das in einem freiheitlichen Staatswesen notwendig ist und dass dieser Einstellung auch zum Durchbruch verholfen werden muss. Es gibt ganz einfache pädagogische Erkenntnisse, die für jedes Kind gelten und die wir auch nicht vergessen sollten, wenn es um zugewanderte Kinder und um deren Elternhäuser geht: Es ist kein Aufwachsen in einer freiheitlichen Gesellschaft möglich, ohne in der Schule Leistung und Disziplin zu fordern. Es ist kein anderer pädagogischer Weg möglich als die intensive Zuwendung zu jedem einzelnen Kind und die Anforderung an die Elternhäuser, ihren Kindern ein Mindestmaß an Zivilisiertheit mit in die Schule zu geben. Das ist notwendig. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin, Frau Präsidentin, nach meiner Überzeugung mit den fünf Minuten so zurechtgekommen, dass die Kollegen verstehen können, worauf es uns ankommt. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Bundesregierung hat nun das Wort die Staatsministerin Dr. Maria Böhmer.

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen sehr wohl, worauf es ankommt. Das heißt, wir müssen die Realitäten in den Blick nehmen. Ich will einige dieser Realitäten am Anfang meiner Rede sehr deutlich nennen - wir haben sie heute Morgen im Innenausschuss genauso benannt -: In vielen großen Städten in unserem Land werden wir im Jahr 2010 die Situation vorfinden, dass die Hälfte der unter 40-Jährigen einen Migrationshintergrund hat und die andere Hälfte Deutsche sind. ({0}) Dann werden wir nicht mehr über Mehrheiten und Minderheiten diskutieren. Daher sind wir nun gefordert, dafür zu sorgen, dass die Integration konkret wird und dass aus Parallelgesellschaften ein Miteinander wird. ({1}) Hinzu kommt, dass jeder fünfte Schüler, der aus einer Zuwandererfamilie stammt, ohne Schulabschluss bleibt; in Neukölln ist es sogar jeder Dritte. Bundesweit können 40 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund keinerlei berufliche Qualifizierung vorweisen. Legt man allein diese wenigen Zahlen zugrunde, muss man feststellen, dass in der Tat erhebliche Integrationsdefizite bestehen. Die Zeit des Wegschauens bzw. der Gleichgültigkeit ist vorbei. Wir müssen die Bilanz, die ich gerade genannt habe, zur Kenntnis nehmen und daraus die richtigen Konsequenzen ziehen. Deshalb wird sich die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode schwerpunktmäßig mit dem Thema Integration beschäftigen. Auch dann, wenn die Scheinwerfer nicht mehr auf die Rütli-Schule gerichtet sind, werden wir bei der Integration einen Schwerpunkt setzen und dieses Thema mit aller Kraft in Angriff nehmen. ({2}) Da ich am vergangenen Freitag die Rütli-Schule besucht habe, kann ich Ihnen sagen: Diese Schule ist ein Sonderfall, aber leider kein Einzelfall. Der Anteil der Schülerinnen und Schülern arabischer Herkunft beträgt dort 43 Prozent; 30 Prozent von ihnen sind türkischer Abstammung und 13 Prozent sind deutscher Herkunft. Allerdings möchte ich betonen: Allein die Tatsache, dass der Ausländeranteil an einer Schule hoch ist, muss noch nicht bedeuten, dass dort Gewalt vorprogrammiert ist ({3}) und dass die Schule und damit die Schülerinnen und Schüler keine Chance haben. Es kommt ganz darauf an, in welchem Zustand sich die Schule befindet. Die Lehrerinnen und Lehrer der Rütli-Schule stehen inzwischen mit dem Rücken zur Wand. Sie wurden allein gelassen. Das darf nicht sein. Sie brauchen Hilfe und Unterstützung. ({4}) Ich war sehr verwundert, als ich feststellen musste, dass erst vor kurzem zwei Sozialarbeiter und ein Schulpsychologe in diese Schule geschickt worden sind, dass die Leitung der Schule nicht wahrgenommen wurde, weil die Schulleiterin seit längerer Zeit erkrankt ist, und dass die Stelle des Konrektors seit mehr als zehn Jahren nicht besetzt ist. Es darf einfach nicht sein, dass Schulen so allein gelassen werden. ({5}) Das ist kein Einzelfall. An zehn weiteren Berliner Hauptschulen gibt es ebenfalls keinen Konrektor, weil sich für diese Stellen niemand findet. ({6}) Natürlich muss man fragen, warum das so ist. Die notwendige Hilfe von außen habe ich bereits angesprochen. Aber man muss auch die Frage stellen, ob Hauptschullehrer, die in sozialen Brennpunkten tätig sind, vielleicht nicht nur mehr Anerkennung, sondern auch eine Leistungszulage verdient haben. Denn dort, wo Leistung besonders gefordert ist, muss sie, wie ich finde, auch honoriert werden. ({7}) Zur Forderung nach einer Abschaffung der Hauptschule kann ich nur sagen: Wir müssen von unseren typischen Reflexen Abstand nehmen. Ich weiß, dass der Bund für die Bildung nicht mehr zuständig ist; das ist richtig. ({8}) Aber an dieser Stelle müssen wir uns auf die Stärken der Hauptschule besinnen. Wer die Hauptschule abschreibt, der schreibt auch ihre Schüler ab. Dazu darf es nicht kommen. ({9}) Wir müssen für eine stärkere Verzahnung von Schule und Betrieb sorgen, die auch praktiziert wird, zum Beispiel an den so genannten SchuB-Klassen in Hessen oder durch das Hamburger Modell. Auch in Berlin gibt es einzelne Schulen, an denen man solche Wege beschreitet. Dort haben die Schülerinnen und Schüler sehr wohl eine Chance. ({10}) Die Schule muss also gestärkt werden, damit sie in der Lage ist, ihre Aufgaben zu erfüllen. ({11}) An dieser Stelle will ich betonen: Es ist notwendig, dass wir insbesondere den Hauptschülerinnen und -schülern eine Perspektive geben. Denn eines haben mir die Schüler der achten Klasse der Rütli-Schule, die ich besucht habe, sehr deutlich gesagt: Wir haben doch keine Chance auf einen Ausbildungsplatz. Deshalb wollen wir als neue Bundesregierung alles daransetzen, dass diejenigen, die einen Migrationshintergrund haben, in der Zukunft bessere Chancen haben, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Das haben wir im Ausbildungspakt an der Stelle „Jugendliche mit Migrationshintergrund“ verankert. ({12}) Ich werde morgen gemeinsam mit Kollegen aus dem Bundesbildungsministerium mit Unternehmen, die von Ausländern geführt werden, darüber sprechen, dass gerade in diesem Bereich mehr Ausbildungsplätze bereitgestellt werden. Ich finde, wir müssen dem Beispiel Frankreichs folgen. ({13}) Hier sind die deutschen Unternehmen gefordert, sich im Rahmen einer Selbstverpflichtung bereit zu erklären, mehr Ausbildungsplätze für Jugendliche zur Verfügung zu stellen; denn daran entscheiden sich die Zukunftschancen. ({14}) - Ich erinnere mich, dass Sie einmal in der Verantwortung standen; es ist noch gar nicht so lange her. Wer hat denn die Integrationsdefizite zu verantworten? ({15}) Sie waren in der Verantwortung. ({16}) Ich will noch ein deutliches Wort zum Erwerb der deutschen Sprache sagen - ich bin Herrn Gerhardt sehr dankbar, dass er diesen Punkt benannt hat -: Es muss gelingen, dass jedes Kind, das die Grundschule besucht, die deutsche Sprache so beherrscht, dass es dem Unterricht von Anfang an voll folgen kann; das ist das A und O. ({17}) Ich sehe, dass die Bundesländer die Kindergärten immer mehr zu Bildungseinrichtungen entwickeln ({18}) und dass dort frühkindliche Förderung stattfindet. Wir brauchen Sprachstandstests und wir brauchen entsprechende Fördermöglichkeiten. ({19}) Wir hatten vor einiger Zeit eine laute Diskussion im ganzen Land über die Hoover-Realschule in Berlin. ({20}) Dort hatte sich die Schule gemeinsam mit den Eltern und mit den Schülerinnen und Schülern entschlossen, dass Deutsch die Sprache ist, die im gesamten Schulbetrieb gesprochen wird, dass Deutsch also auch auf dem Schulhof gesprochen wird. Es ging ein Aufschrei durch unser Land. Ich habe mich gewundert: Es muss doch selbstverständlich sein, dass Deutsch nicht nur im Unterricht, sondern auch auf dem Schulhof gesprochen wird, im gesamten Schulleben: damit Schülerinnen und Schüler eine bessere Chance haben. Deshalb sage ich: Dieses Beispiel muss Schule machen. ({21}) Hinzukommen muss ein Zweites. Denn die Lehrerinnen und Lehrer haben mir gesagt, sie können sich mit den Eltern kaum verständigen. Es ist in der Tat ein Problem, wenn Eltern zum Gespräch, zum Elternnachmittag oder zum Elternabend eingeladen werden und man mit ihnen ganz konkret über die Situation der Schülerinnen und Schüler reden will, man sich aber nicht verständigen kann und die Kinder Dolmetscherfunktion übernehmen müssen. Deshalb ist es für uns so wichtig, dass die Integrationskurse, die Elternkurse und die Sprachangebote, ganz gezielt für Mütter, genutzt werden. ({22}) Heute Vormittag haben wir im Innenausschuss darüber gesprochen, wie wir dieses Instrument der Integrationskurse weiterentwickeln können, damit Eltern ihren Kindern die Unterstützung geben können, die sie brauchen. Das bedeutet, wir müssen Integration konkret machen. Diesen Weg werden wir fortsetzen: Wir arbeiten auf einen nationalen Aktionsplan hin; denn wir müssen die Ebenen Bund, Länder und Kommunen verbinden. Wir wollen, dass Kinder in unserem Land Chancen haben, damit sie sich später beruflich integrieren können. Das wird unsere Aufgabe sein; das sind die Konsequenzen aus den Vorgängen in der Rütli-Schule. Herzlichen Dank. ({23})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste auf den Tribünen! An der RütliSchule ist einiges falsch gelaufen. Das ist zu Recht zu kritisieren. Aber jede Verallgemeinerung ist gefährlich: ({0}) Zum einen haben nicht alle 54 Hauptschulen in Berlin solche Probleme; ich habe bei meinen regelmäßigen Schulbesuchen im Wahlkreis viele gute Erfahrungen gemacht. Zum anderen, Frau Böhmer, gibt es auch an vielen Hauptschulen, in denen nicht ein einziges Kind mit so genanntem Migrationshintergrund ist, ähnliche Probleme wie in dieser Hauptschule. ({1}) Ich lehne es also ab, das allein als Migrationsproblem zu kennzeichnen; es ist vielmehr ein Problem der Bildungspolitik. ({2}) Der neue Leiter der Rütli-Schule hat gestern auf der Pressekonferenz einiges klargestellt: Es gibt große Probleme an der Schule, aber es gibt auch eine Diskrepanz zwischen den Mediendarstellungen und der Situation an dieser Schule. Seine Äußerungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Erstens. An der Rütli-Schule werden ab sofort ein Arabisch und ein Türkisch sprechender Sozialpädagoge arbeiten. Ab 1. Mai 2006 wird es einen weiteren Sozialarbeiter geben. Das ist der richtige Weg. ({3}) Zweitens. Die Schülerinnen und Schüler wenden sich gegen eine diskriminierende Verurteilung in der Öffentlichkeit. Drittens. Die Rütli-Schule sollte nicht zur Wahlkampfarena werden; denn das würde weder den Schülerinnen und Schülern noch den Lehrern helfen. ({4}) Meine Damen und Herren, die Redezeit reicht nicht aus, um sich mit allen unqualifizierten Äußerungen zu diesem Thema auseinander zu setzen. Die üblichen Verdächtigen wie Herr Schönbohm und Herr Stoiber haben ja für jedes Problem die gleiche Lösung: einsperren oder ausweisen. Das ist dumm und gefährlich zugleich. ({5}) Wer sich ernsthaft mit dem Problem Schule beschäftigen möchte, muss auch bereit sein, die eigene Politik zu hinterfragen. Herr Gerhardt, ich gehe davon aus, dass die FDP dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat, um deutlich zu machen, dass die Rütli-Schule für eine bildungspolitische Sackgasse und für ein bildungspolitisches Auslaufmodell steht, nämlich für das dreigliedrige Schulsystem. ({6}) Das ist ein Selektionssystem, mit dem viele junge Menschen unabhängig von ihrer Muttersprache frühzeitig ins Abseits gestellt werden. Denken Sie doch mal selber darüber nach, wie Sie in der 4. Klasse, in der 6. Klasse oder in der 8. Klasse waren und wann die Weichen gestellt wurden. ({7}) Damit sinken die Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen dieser Kinder drastisch. ({8}) Wen wundert es dann, dass diese Perspektivlosigkeit zu Lethargie und Aggressionen führen kann? Meine Damen und Herren, die Frage, die hier besprochen werden muss, ist doch, was der Bundestag tun kann, um den jungen Menschen an dieser Schule und an den anderen Hauptschulen in unserem Land eine Chance auf Bildung und Arbeit zu geben. Die Bundestagsfraktion der Union hat nun einen Integrationsgipfel bei Frau Merkel vorgeschlagen. Ich sage Ihnen: Das ist ein Placebo für die aufgeregte Öffentlichkeit. Das wird an der Situation der Jugendlichen nichts ändern; denn es ist ein Trugschluss, dass man mit Gipfeltreffen alle Probleme lösen könnte. Das ist symbolisch und kurzatmig. Wir brauchen konkrete Vorschläge. ({9}) Die Linksfraktionen im Bundestag und in den Landtagen haben klare bildungs- und arbeitsmarktpolitische Vorstellungen: Erstens. Wir wollen das dreigliedrige Schulsystem durch eine integrative Schule ersetzen, ({10}) die ein gemeinsames Lernen von Schülern aus unterschiedlichen sozialen und soziokulturellen Gruppen möglich macht. Zweitens. Wir wollen auch schon für das Haushaltsjahr 2006 mehr Geld für Ganztagsschulen bereitstellen, um die Bildungschancen für alle Schülerinnen und Schüler zu verbessern. ({11}) Drittens. Wir wollen eine faire und effiziente Möglichkeit, Sprache so früh wie möglich zu erlernen. Wir wollen nicht, dass mit Fingern auf die gezeigt wird, die die deutsche Sprache nicht perfekt beherrschen, sondern wir wollen ihnen helfen, diese Sprache zu lernen. Viertens. Wir wollen Jugendlichen eine Ausbildungsperspektive geben und halten die von der Koalition aus CDU/CSU und SPD beschlossenen Kürzungen für jugendliche Empfänger von Arbeitslosengeld II für das falsche Signal. ({12}) Wir erwarten von der Bundesagentur für Arbeit mehr Anstrengungen bei der Qualifizierung und Vermittlung von jungen Menschen in den ersten Arbeitsmarkt. ({13}) Meine Damen und Herren, in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts orientierten sich die Lehrer der Rütli-Schule an den Ideen der Reformer Wilhelm Paulsen und Peter Petersen. Die Hauptidee war: Kinder sollten in der Schule nicht nur Wissen erwerben, sondern auch das Zusammenleben einüben und gestalten. Ich würde mich freuen, wenn wir der Schule, den Schülerinnen und Schülern und allen Schulen im Lande wirklich helfen könnten und wenn wir hier nicht eine Wahlkampfarena betreten würden. Vielen Dank. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für den Bundesrat hat nun Herr Senator Klaus Böger das Wort. ({0})

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich komme gerade von einer Konferenz aller meiner Hauptschulleiterinnen und Hauptschulleiter in Berlin. Ich habe nicht zum ersten Mal und, wie ich denke, auch nicht zum letzten Mal mit den Damen und Herren gesprochen. ({0}) Die wichtigste Konsequenz, die die Kolleginnen und Kollegen aus dieser Diskussion um die Rütli-Schule ziehen, ist die, dass jetzt alle in unserem Land offen, kritisch und auch selbstkritisch über Wege zur Integration von Kindern von Ausländern, von Kindern, die eine nicht deutsche Herkunftssprache sprechen, und von Kindern, deren Eltern bildungsfern oder arbeitslos sind, diskutieren müssen. Das ist wichtig. ({1}) - Für manche ist es nie zu spät. ({2}) - Den Zuruf des Kollegen aus der CDU/CSU, wie viele Jahre ich im Amt bin, nehme ich gerne auf. Ich bin genau sechs Jahre im Amt. Glauben Sie im Ernst, Herr Kollege, dass dieses Problem in sechs Jahren entstanden ist? Dieses Problem ist in Deutschland in über 20 Jahren entstanden; das müssen wir zur Kenntnis nehmen. ({3}) Die Rütli-Schule ist in der Tat kein Einzelfall. Ich warne davor, dies in Berlin oder in anderen bundesdeutschen Großstädten isoliert zu betrachten. Es ist in der Tat eine Herausforderung. Sie sitzen hier im Reichstag im Bezirk Berlin-Mitte. ({4}) - Ja, im Bundestag. Aber es geht um den Bezirk Mitte. In diesem Bezirk sind 56 Prozent aller Schülerinnen und Schüler Kinder mit Migrationshintergrund, Tendenz steigend. Was können und müssen wir in diesem Land tun? Das Erste ist: Wir müssen diese Kinder als unsere Kinder annehmen und nicht wegschicken. ({5}) Wir müssen sie - das sage ich ganz betont - bilden und erziehen. Dies ist notwendig, weil es erhebliche kulturelle Differenzen zwischen dem, was Kinder in den Elternhäusern prägt, und dem gibt, was sich in jahrzehntelanger Diskussion als unsere gemeinsamen Wertvorstellungen entwickelt hat. Das ist die Wahrheit. Wir brauchen Unterstützung, weil unsere Gesellschaft und die Gesellschaftsstruktur enorme Probleme mit Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit hat, was sich auch auf die Eltern auswirkt. Das ist - bei allem Respekt nicht nur ein Problem der Bildungspolitik. ({6}) Ich habe viele Ratschläge gehört und bekommen. Ich möchte Ihnen sagen, dass wir in Berlin nicht den Weckruf der Rütli-Schule brauchten. Wir in Berlin sind - übrigens mit vielen in diesem Raum - schon längst auf dem richtigen Weg. In Berlin gibt es die erste und wichtigste Bildungseinrichtung für Kinder, und zwar für mehr als 90 Prozent der Kinder - das ist gut und richtig so -, und es gibt längst einen verpflichtenden Sprachtest für alle Kinder mit vier Jahren. ({7}) In Berlin als erstem und einzigem Bundesland gibt es die Verpflichtung, dass Kinder, die sprachliche Defizite aufweisen und keine Kita besuchen, vor der Einschulung einen Sprachkurs von 330 Stunden absolvieren. Wenn die Eltern sich weigern, ihr Kind zu diesem Kurs zu schicken, müssen die Eltern ein Bußgeld zahlen. Das ist keine bayerische Kabinettsvorlage, sondern Berliner Gesetzeslage. ({8}) Lieber Kollege Gerhardt, glauben Sie mir, in vielen Bereichen sind wir schon weiter, aber wir sind längst noch nicht da, wo wir hinkommen müssen, weil es in der Bildung sehr lange dauert, bis eine Fehlorientierung korrigiert wird. ({9}) Ich sage Ihnen: Wir - damit meine ich nicht nur das konkrete Verwaltungshandeln - in der Bundesrepublik Deutschland haben bei vielen Fragen generell zu lange weggesehen ({10}) und gedacht, die Dinge regelten sich von alleine. Nichts regelt sich von alleine. Herr Kollege Wellmann, als alter Westberliner wissen Sie, dass in Westberlin 40 Prozent der Schüler von Hauptschulen keinen Abschluss erreichten. ({11}) Das könnten die Väter der jetzigen Schüler sein. In dieser Zeit war meine Kollegin Laurien Senatorin. Hören Sie auf, mit billigem Kleingeld zu arbeiten. Das mache ich nicht mit. ({12}) Ich nehme gerne die Gelegenheit wahr, einen anderen Punkt anzusprechen. Wir haben - diese Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen - alle Grundschulen in Berlin, in denen glücklicherweise sechs Jahre lang gemeinsam gelernt wird, zu Ganztagsgrundschulen gemacht. Für diese Millionen - die Milliarden waren leider nicht allein für Berlin - zum Ausbau von Ganztagsgrundschulen will Senator Klaus Böger ({13}) ich mich bedanken. Das ist konkrete Hilfe und Unterstützung für konkrete Bildungspolitik. ({14}) Ich möchte etwas zum Thema Gewalt sagen. Mir liegen exakte Zahlen vor, weil Berlin das einzige Land ist, das alle Schulen verpflichtet, jeden - auch noch so kleinen - Gewaltvorfall zu melden. Ich habe deshalb einen sehr genauen Überblick, was dort geschieht. Das Problem beschränkt sich leider nicht auf die Hauptschulen; es besteht auch in den Grundschulen, Realschulen und Gymnasien und auch anderswo als in Berlin. Es hilft nichts, auf andere zu zeigen. Wir müssen uns der Frage stellen. ({15}) Das heißt für mich - ich habe darüber lange mit den Kollegen diskutiert -: Die schulischen Disziplinarmittel reichen aus. Das Wichtigste ist, dass die Schule selbst entscheidet und gemeinsam durchsetzt, was möglich ist. Respekt - und zwar Respekt von Lehrern gegenüber Schülern und von Schülern gegenüber Lehrern - ist kein altertümlicher Begriff, sondern eine Notwendigkeit im Umgang miteinander. ({16}) Das kann man durchsetzen und das wird auch in Schulen durchgesetzt. Übrigens, Frau Kollegin Böhmer, ist die Hoover-Schule mit dem amerikanischen Präsidentennamen mit meiner Unterstützung diesen Weg gegangen. Es gibt in Berlin längst Schulen, an denen ein Handyverbot und andere klare Verbote gelten, aber nicht par ordre du mufti, sondern selbst erarbeitet und durchgesetzt. Das ist der entscheidende Punkt. ({17}) Wir werden uns beim Thema Gewalt - zwischen schulischen Disziplinarmaßnahmen, Erziehung, Jugendsozialarbeit, Jugendamt oder dem Jugendstrafgericht gibt es eine Lücke, die wir notwendigerweise ausfüllen müssen - damit befassen müssen, wobei ich Sie dabei um Mithilfe bitte, wie wir Jugendliche, die sich schlecht und mies verhalten, in der Schule mit Sanktionen belegen können, die auch tatsächlich durchgesetzt werden, statt nur damit zu drohen, dass ein Schüler mal zu Hause bleibt oder in eine andere Schule kommt. Darüber müssen wir nachdenken, weil in vielen Bereichen keine natürlichen Erziehungsinstanzen mehr existieren. Wer das bestreitet, der sollte die Berliner Schulen besuchen und sich der Realität stellen. Sie alle sind herzlich eingeladen - wenn möglich, nicht alle auf einmal. Vielen Dank. ({18})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Renate Künast, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. ({0})

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich eine Bemerkung zur Rede von Frau Ministerin Böhmer vorwegschicken. Dass Sie mit der Ankündigung eines nationalen Integrationsgipfels ein Luftschloss aufbauen, gleichzeitig aber darauf hinweisen, dass Sie letzten Freitag die Rütli-Schule besucht haben, halte ich, ehrlich gesagt, für ein Armutszeugnis, ({0}) weil es meines Erachtens schlicht und einfach zu spät ist. ({1}) Dahinter steckt auch etwas anderes. Herr Böger hat es gerade angesprochen. Ich bin nicht hier, um Herrn Böger und den Berliner Senat zu beweihräuchern. Ich hätte immer noch Verbesserungsvorschläge. Aber was hat denn die CDU in den letzten Jahren getan, Frau Böhmer? Sie hätten zum Beispiel mit einem Ganztagsschulprogramm viel früher dabei helfen können, dass in dieser Republik Ganztagsschulen mit einer guten Nachmittagsförderung ausgebaut werden. ({2}) Das haben Sie gestoppt. Sie hätten im Zusammenhang mit der doppelten Staatsbürgerschaft beim Zuwanderungsgesetz viel stärker darauf hinarbeiten müssen, dass die betroffenen Kinder in dieser Republik eine Perspektive bekommen und als Menschen respektiert werden, ({3}) damit deutlich wird, dass dies unsere Kinder sind. ({4}) Damit komme ich zum Kern. Wir reden hier definitiv über ein deutsches Problem - diese Feststellung richte ich wegen der aktuellen Vorschläge von Herrn Schönbohm und Herrn Pflüger zur Abschiebung von Mehrfachtätern besonders an die CDU -, das mit Abschiebung nicht gelöst werden kann. ({5}) Die Jugendlichen an der Rütli-Schule stammen aus Berlin. Sie sind zu einem guten Teil hier geboren und aufgewachsen. Sie sind Teil dieser Gesellschaft. ({6}) Gewalt an Schulen gibt es übrigens auch dort, wo fast ausschließlich Schülerinnen und Schüler mit deutschem Pass sind. Herr Gerhardt, ich nenne als Beispiel die Sekundarschule „Karl Marx“ in Gardelegen in SachsenAnhalt. Dort ist ein Viertel der Lehrer krank ({7}) - das spiegelt die stressige Situation in der Schule wider und es gibt Pöbeleien und Bedrohungen durch Schüler. Sobald Journalisten auf dem Schulhof auftauchen, werden etwa Feuerlöscher in Brand gesetzt. Wir dürfen aber auf dieses Problem nicht erneut mit Ausgrenzung reagieren und sagen: Die haben sich gefälligst diszipliniert zu verhalten. Vielmehr handelt es sich um ein deutsches Problem. Die Kernfrage lautet, wie wir des sozialen Problems Herr werden, wie wir diesen Kindern und Jugendlichen - die Förderung sollte schon im frühkindlichen Stadium beginnen - eine Perspektive in dieser Republik bieten können, und zwar zu unser aller Nutzen. ({8}) - Wir werden es Ihnen gegebenenfalls erklären. ({9}) Es geht um soziale Exklusion, um Ausgrenzung. Herr Gerhardt, Sie haben große Worte gefunden. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie schon 1988, als Sie Präsident der Kultusministerkonferenz waren, ein gezieltes Konzept zur Integration vorgelegt hätten. Dann wären wir heute vielleicht schon weiter. ({10}) Ich kann mich noch gut daran erinnern, was ich 1988 in Berlin gemacht habe. Damals habe ich mich im Wesentlichen nicht mit Ihnen, sondern mit der Berliner CDU gestritten, weil diese gesagt hat: Wie kommen wir denn dazu, den Migranten noch Deutschkurse zu bezahlen? Das ist doch Luxus; das machen wir nicht. ({11}) In dieser Republik sprechen zu viele Kinder schlecht deutsch bei der Einschulung. Das ist vor allem ein Problem von Migrantenkindern, aber nicht nur. Vielmehr sind auch deutsche Kinder betroffen. Umso trauriger stimmt mich das, was bei der Föderalismusreform geschieht. Angesichts der Tatsache, dass jedes dritte deutsche Kind vor der Schulzeit Sprachförderung braucht, kann ich nur sagen: Ein Fehler der Föderalismusreform ist, dem Bund keinerlei Möglichkeiten für eine gemeinsame Planung und für Finanzhilfen zu geben. Damit sind wir bei einem der Kernthemen. ({12}) Wir erwarten von den betroffenen Eltern und Kindern, die in dieser Republik leben wollen, dass sie Deutsch lernen und sich bei der Gestaltung einbringen. Aber wir müssen auch Respekt vor den Kindern haben - daran mangelt es in diesem Land - und sie als kleine Persönlichkeiten akzeptieren. Das bedeutet nicht nur frühkindliche Sprachförderung, sondern auch, dass die Wirtschaft - das müssen wir einfordern - Ausbildungsplätze zur Verfügung stellt. In diesem Zusammenhang muss man auch noch einmal über eine Ausbildungsplatzabgabe nachdenken. ({13}) Man sollte sich trauen, Druck auf die Wirtschaft auszuüben. Bei der Integration brauchen die Schulen Autonomie. Sie sollten spezifische Angebote machen und Maßnahmen selbstständig umsetzen können. Wir brauchen im Übrigen mehr Sprach- und Integrationskurse. Frau Böhmer, wenn man Ihren Worten nur einen Hauch Glauben schenken soll, sollten Sie die Kürzung der Haushaltsmittel für Integrationskurse um 67 Millionen Euro zurücknehmen. ({14}) Wir brauchen dieses Geld für neue Kurse, für die betroffenen Kinder, für das Zusammenleben.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nicht durch Streichen, sondern durch Investieren lösen Sie das Problem. Wie gesagt, es ist ein deutsches Problem, das Sie nicht mit Abschiebung lösen können. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Dr. Friedbert Pflüger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Künast, ich möchte zuerst deutlich machen - ich glaube, darüber besteht im Hause Konsens -, dass es bei dem angesprochenen Thema nicht in erster Linie um Ausländer auf der einen und Deutsche auf der anderen Seite geht. ({0}) Trotz der Aufgeregtheit dürfen wir uns nicht in eine falsche Frontlinie treiben lassen. ({1}) Die eigentliche Front ist: Rechtschaffene gleich welcher Herkunft, auf der einen Seite gegen Störer, Kriminelle, Drogenhändler und Extremisten auf der anderen Seite. Das ist die Frontlinie, um die es eigentlich geht. ({2}) Es ist wichtig, dass wir uns vor Augen führen: Alle Probleme der Integration, alle Probleme, die mit Schule zusammenhängen, können wir in einer Stadt wie Berlin nur lösen, wenn wir die Eltern und die Schüler, gerade aus Migrantenfamilien, gewinnen, mitzumachen und die Gewalttäter zu isolieren. Wir können es nicht gegen sie schaffen, sondern müssen sie mitnehmen. Das ist eine ganz wichtige und wesentliche Aufgabe. ({3}) Es sind nämlich gerade viele türkische Familien - ich habe gestern an der Rütli-Schule mit türkischen Schülern und mit Schülersprechern gesprochen -, es sind viele Immigranten, Herr Böger, die sich beklagen, dass an den Schulen zu wenig Disziplin herrscht, dass zu viel Schulschwänzen erlaubt wird, dass die Leute in der Schule keine Werte vermittelt bekommen. Da muss sich an unseren Schulen etwas verbessern! Das wollen gerade auch die Migrantenfamilien, aber Sie, Herr Böger, haben es nicht in Angriff genommen. Da muss sich in Berlin etwas ändern. ({4}) Ich möchte eines zum Thema „Deutsch“ sagen - Herr Gerhardt und andere haben es angesprochen -: 1998 oder 1999 hat Herr Schönbohm, damals Innensenator in Berlin, Vorschläge gemacht. Er forderte, den Deutschunterricht zu forcieren, Deutsch zu einer Grundlage zu machen. Da haben Sie, Herr Böger, gesagt, das sei Deutschtümelei. ({5}) Es ist noch gar nicht so lange her, dass auf diese Weise reagiert worden ist. Ich kann mich gut daran erinnern! ({6}) Es ist wichtig - da gebe ich Herrn Böger Recht -, zu verstehen: Die Probleme, die wir haben, sind nicht fünf oder zehn Jahre alt; sie haben zum großen Teil ihre Wurzeln im Beginn sehr langer Entwicklungen. Wir alle haben dabei Fehler gemacht. Wer wollte das bestreiten! Aber, Herr Böger - es tut mir furchtbar Leid -: Zur Frage der Durchsetzung des Rechts an den Schulen, zur Frage der Durchsetzung von Deutsch als Verkehrssprache an den Schulen hat meine Partei, die CDU, von Anfang an das Richtige gesagt; andere haben weggeschaut und sich in Multikultiträumereien geflüchtet. ({7}) Herr Böger, wenn Sie sagen, alle hätten Fehler gemacht, dann stimme ich natürlich zu. Jetzt befinden wir uns aber in dieser Situation. Wenn ich im „Tagesspiegel“ von gestern Ihre Aussage lese, es würden zwar alle Gewaltfälle gemeldet, aber lediglich „bei Amoklauf, Mord, Schusswaffengebrauch, Geiselnahme“ ließen Sie sich informieren, dann frage ich mich: Was sind denn das für Zustände in Berlin, in Ihrer Behörde, Herr Böger? ({8}) Das haben Sie gesagt. Es steht im „Tagesspiegel“. Ich kann es Ihnen geben. Wenn man so an die Dinge herangeht, dann verhält man sich wie ein Arzt im Krankenhaus, der erst dann tätig wird, wenn der Patient schon auf der Intensivstation liegt. Das ist eine Politik, die wir ablehnen und die falsch ist. ({9}) - Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen. Herr Böger selbst hat doch Fehler eingeräumt. Das ist auch gut so, denn in Berlin haben wir es in der Tat mit einer total verfehlten Integrations-, Rechts- und Gesellschaftspolitik, vor allem aber mit einer verfehlten Bildungspolitik zu tun. Jetzt gibt es einige in der SPD - ich finde es gut, dass Sie, Herr Böger, nicht dazu gehören -, die meinen, das Allheilmittel sei, die Hauptschule abzuschaffen. In Berlin gibt es aber sehr gute Hauptschulen, die sich dagegen wehren würden, abgeschafft zu werden. Sie sind, nicht weil sie viel Unterstützung von der Senatsverwaltung erhalten haben, gut geworden, sondern weil sie selbst initiativ geworden sind. Zum Beispiel die Nikolaus-AugustOtto-Hauptschule in Berlin: eine fabelhafte Schule, die aus eigener Initiative Elternseminare anbietet. Eine fantastische Geschichte! Oder die Jean-Piaget-Hauptschule in Hellersdorf: Sie bemüht sich, zusammen mit den Betrieben Praktika anzubieten. Das heißt, es gibt auch gute Beispiele. ({10}) Nun schmeißen Sie nicht das ganze Schulsystem um, wie es Ideologen in der SPD und in anderen Parteien wollen! ({11}) Lassen Sie mich ein Letztes sagen. Ich zitiere aus einem Brief von Lehrern, die nicht an der Rütli-Hauptschule, sondern an der Theodor-Plivier-Oberschule unterrichten - Sie müssen sich einmal überlegen, was es bedeutet, wenn Lehrer einen solchen Brief schreiben -: Die Quote polizeibekannter Kleinkrimineller in unseren Klassen ist „erschreckend hoch, gewaltbereite Intensivtäter mit erheblichem Einfluss“ sitzen „kurze Zeit nach ihrer Verurteilung“ wieder im Unterricht. Ein Teil der Schüler bringt seine Bandenkriminalität mit in die Schule. - Ich könnte weitere solche Zitate vortragen. Irgendjemand wird für solche Zustände doch wohl Verantwortung tragen und übernehmen. ({12}) Für diese verfehlte Schulpolitik tragen nicht die Lehrer, sondern dieser rot-rote Senat die Verantwortung. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. - Das Allerschlimmste, was einem in einer solchen Situation einfällt - ({0}) - Können Sie mal bitte ruhig sein!

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Kommen Sie aber bitte wirklich zum Schluss. Sie haben Ihre Redezeit längst überschritten.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das liegt aber an den vielen Zwischenrufen, Frau Präsidentin. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich war schon großzügig, Herr Kollege. Ich bitte wirklich darum, zum Schluss zu kommen.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. - Ich will nur noch sagen: Das Einzige, was wir alle miteinander nun wirklich nicht machen sollten, ({0}) ist das, was der Regierende Bürgermeister von Berlin gemacht hat, indem er gesagt hat, es handele sich um ausgebrannte Lehrer, die man durch bessere Lehrerpersönlichkeiten ersetzen müsse. Die Schuld für diese Probleme jetzt bei diesen Lehrern abzuladen, das ist nun wirklich der falsche Weg. Wir müssen die Lehrer an solchen Schulen stärken und nicht beschimpfen. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat der Kollege Markus Löning für die FDPFraktion das Wort. ({0})

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir eine kurze Vorbemerkung. Herr Böger, Sie haben hier lobend erwähnt, dass die Vorgänge um die Rütli-Schule endlich eine überfällige Diskussion in Gang gebracht haben. Da haben Sie zweifellos Recht. Aber ich frage mich, Herr Böger: Warum kommt es erst jetzt auf die Tagesordnung? Sie wissen davon schon lange. Ihr Haus weiß davon schon lange. Sie haben es unter der Decke gehalten. Lehrer in Berlin bekommen einen Maulkorb verpasst. Ich würde mich freuen, Herr Böger, wenn Sie die Lehrer, die die Zivilcourage gehabt haben, an die Öffentlichkeit zu gehen, ausdrücklich belobigen würden, wenn Sie sagen würden: Ihr seid den richtigen Weg gegangen, als ihr die Zivilcourage aufgebracht habt, an die Öffentlichkeit zu gehen und solche Diskussionen loszutreten. Ich wiederhole: Ich würde mich freuen, wenn Sie diese Damen und Herren ausdrücklich belobigen würden und wenn Sie ihnen keinen Maulkorb verpassen würden, wie Sie es gemacht haben. ({0}) Wir stehen hier auch auf den Scherben einer ideologischen Debatte, was die Integrationspolitik angeht. Frau Künast, von Ihrer Seite ist hier jahrelang romantisierend vorgegangen worden. ({1}) Da wurde zur Zuwanderung gesagt: Hauptsache, es kommen mehr Leute und es wird ein bisschen bunter; das alles bringt überhaupt keine Probleme mit sich, solange man nur nett zu den Leuten ist. Das ist schief gegangen. Diese Multikultiromantik ist in die Hose gegangen. Sie ist ein Grund dafür, warum wir jetzt da sind, wo wir sind. ({2}) Aber ich muss denselben Vorwurf auch an die andere Seite des Hauses richten. Auch die Union hat sich in der Zuwanderungspolitik den Realitäten jahrelang, auch in der Zeit der Koalition mit uns bis 1998, verweigert. Auch das muss hier einmal deutlich gesagt werden. ({3}) Jetzt sind offensichtlich alle schlauer. Ich hoffe, dass wir hier gemeinsam den richtigen Weg finden, eine verMarkus Löning nünftige Integrationspolitik zu betreiben, die fordert und die auch fördert. Beides gehört zusammen. Wir müssen die Anerkenntnis unserer Grundwerte fordern. Wir müssen Deutschkenntnisse fordern. Aber als Gesellschaft müssen wir selbstverständlich auch sagen: Ihr seid hier willkommen, wenn ihr euch unserer Gesellschaft anpasst. ({4}) Die Debatte, die wir hier führen, beschäftigt sich aber eben nicht nur mit der Frage der Integration, sondern auch mit unserer Schul- und Bildungspolitik. Frau Künast, offensichtlich haben auch Sie die „taz“ gelesen. Ich hatte mir dasselbe schöne Beispiel herausgesucht, weil es wichtig ist, klar zu machen, dass es nicht nur eine Integrationsdebatte ist, um die es hier geht; vielmehr geht es um Perspektiven für unsere Jugendlichen. In Gegenden, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist und die wirtschaftliche Perspektive unserer Jugendlichen schlecht ist, wo es keine Aussicht gibt, im Anschluss an die Schule eine Lehrstelle oder einen Arbeitsplatz zu finden, haben wir die Probleme. Wie sollen wir die Kinder motivieren, die Schule vernünftig abzuschließen ({5}) - richtig -, wenn sie wissen, dass sie im Anschluss sowieso keine Arbeit finden? Ich finde es sehr schön, dass dieser Zwischenruf ausgerechnet aus Ihrer Ecke kommt. In der Zeit, in der Sie in Berlin regieren, ist die Arbeitslosigkeit in Berlin um 3 Prozentpunkte gestiegen. Schreiben Sie sich das einmal hinter die Ohren! Was Sie machen, ist keine soziale oder sozialistische Politik. Was Sie hier veranstalten, ist zutiefst unsozial. ({6}) Wo Sie regieren, ist die Arbeitslosigkeit höher und steigt weiter. Das ist das, was an dieser Stelle unsozial ist. ({7}) Frau Böhmer, Sie haben das Beispiel Frankreich angesprochen. Ich muss ehrlich sagen: Das ist mir wirklich völlig unverständlich. Wie kann man in dieser Debatte das Beispiel Frankreich anführen? Dort ist die Jugendarbeitslosigkeit noch höher als hier. Dort gibt es eine Ausbildungsplatzabgabe und sie führt genau zu dem, wovor wir immer gewarnt haben: ({8}) Es gibt weniger Ausbildung und mehr Jugendarbeitslosigkeit. Also, Frankreich ist das denkbar schlechteste Beispiel an dieser Stelle. ({9}) Frau Lötzsch, Sie versuchen, das auf die Bildungspolitik zu schieben. Was wir brauchen - das ist ganz ohne Zweifel richtig -, ist eine andere Bildungspolitik. ({10}) Wir brauchen mehr Autonomie an den Schulen. Wir müssen die Schulen ausstatten. Wir müssen in unserer Debatte als Politiker gegenüber der Gesellschaft auch einmal klar machen: Es ist eine bewusste politische Entscheidung, dass die Schulen in dem Zustand sind, in dem sie sind, weil wir das Geld, das wir haben, an anderer Stelle und nicht für die Schulen ausgeben. Das müssen wir klar machen. Das vermisse ich an dieser Stelle. Das vermisse ich auch beim rot-roten Senat. ({11}) Das andere ist die Frage - Frau Lötzsch, dazu sagen Sie nichts -: Wie bekommen wir die Wirtschaft in Berlin und in der Bundesrepublik in Schwung? Denn nur das wird am Ende Lebensperspektiven für unsere Jugendlichen schaffen. Nur wenn es uns gelingt, wieder auf einen Wachstumskurs zu kommen, nur wenn wir erreichen, dass durch Wirtschaftswachstum Arbeitsplätze entstehen, gerade auch in Berlin, werden wir es schaffen, die Jugendlichen aus dieser Situation zu befreien und die sozialen Probleme auch in Kiezen wie Neukölln wenigstens annähernd zu lösen. Ohne das wird es nicht gehen. Dazu hat aber weder Rot-Rot in Berlin irgendetwas getan noch haben Sie von Rot-Grün dazu irgend etwas getan, solange Sie im Bund regiert haben. Vielen Dank. ({12})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Michael Bürsch, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, die Rütli-Schule hat durch ihren Hilferuf auf ein sehr ernstes Problem aufmerksam gemacht, auf ein Problem der Integrationspolitik und der Bildungspolitik. Was wir jetzt erleben, ist ein Lehrstück dazu, wie Politik auf Probleme reagieren kann. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie so oft im Leben. Die eine Möglichkeit wird uns vorgeführt: Die Reaktion ist kurzatmig, populistisch, aktionistisch und gnadenlos vereinfachend. ({0}) Die andere Methode ist, sachgerecht, differenziert, nachhaltig, vielleicht auch nach dem Prinzip Gründlichkeit vor Schnelligkeit vorzugehen. Was die erste Methode angeht, brauchen wir nicht sehr weit zu schauen. Herr Pflüger, auch wenn Sie differenzierter angefangen haben: Das war ein gutes Stück Demagogik. ({1}) Das war auch ein gutes Stück politischer Populismus. Wenn wir einmal einen maßgeblichen CSU-Politiker zu Wort kommen lassen, dann zeigt sich, wozu eine solche Schnellreaktion führen kann. Es gibt von Edmund Stoiber das Dreiphasenmodell. Auf einen kurzen Nenner gebracht lautet es - das ist ein Zitat -: 1. Wer nicht Deutsch kann, wird nicht eingeschult. 2. Wer in der Schule randaliert, fliegt aus der Klassengemeinschaft. 3. Wer sich dauerhaft nicht integriert, muss Deutschland wieder verlassen. ({2}) So einfach ist das. Wenn das nicht Populismus ist, dann möchte ich wissen, was das sonst sein soll. Das ist eine Irreführung des Publikums; denn so erweckt man den Eindruck, als ob damit irgendein Problem gelöst würde. ({3}) Ich brauche dazu kein eigenes Urteil abzugeben. Das „Handelsblatt“, das nicht im Verdacht steht, sozialdemokratisch oder träumerisch zu sein, schreibt heute im Leitartikel - das sollte, meine ich, schon Anlass zum Nachdenken geben -: Die Deutschen bekommen zu wenige Kinder. Doch manche Kinder sind den Deutschen zu viel. Diese bittere Quintessenz lässt sich ziehen aus der aktuellen Integrationsdebatte … Auf die Aggressionen ausländischer Jugendlicher antworten Teile der CDU/CSU mit Gegenaggression. Ausweisen oder einsperren, fordern Edmund Stoiber und Co. getreu dem biblischen Motto: Auge um Auge, Zahn um Zahn. ({4}) Dieser Rückfall in obrigkeitsstaatliche Reflexe vermischt mit Blut-und-Boden-Anachronismen ({5}) - das ist die Sprache des „Handelsblattes“ ({6}) wäre besser unterblieben. Wir können es uns - das ist nun der Appell, den wir, meine ich, alle unterschreiben können am allerwenigsten leisten, eine Front zwischen deutschen Erwachsenen und ausländischen Jugendlichen aufzubauen. Das hat auch Herr Böger hier vollkommen zu Recht beschrieben. ({7}) Das weist genau in die Richtung, wie wir eine Lösung finden müssen. Ich spreche nicht als Bildungspolitiker, sondern als Integrationspolitiker. Mein Appell lautet: Das Problem wird nicht allein von schulischer Seite, allein von der Schulverwaltung gelöst werden können. Es ist ein Problem der Bürgergesellschaft, wenn man so will. Das ist ein Appell an alle. Die Verantwortung darf nicht einem Schulsenator oder einer Regierung zugeschoben werden, sondern es geht um die Frage, was alle, die etwas zur Lösung des Problems beitragen können, Herr Pflüger, zu tun bereit sind. Das richtet sich natürlich an die Erwachsenen, an die verantwortungsvollen Schülerinnen und Schüler, aber auch zum Beispiel an die Migrantenvereine. Nazar Mahmood, der Vorsitzende des arabischen Kulturinstituts, sagt: Wir alle sind schuld: Behörden, Eltern, Migrantenvereine. Alle können und müssen an der Stelle etwas tun, damit die Probleme der Integration in der Schule besser gelöst werden können. Wir brauchen, womit schon begonnen worden ist, Migrantenlehrer, Begleiter, die den deutschen Lehrern erklären, wie jemand tickt, der aus der Türkei oder einem arabischen Land kommt. Das muss ein deutscher Lehrer nicht unbedingt wissen. Wir brauchen - das ist auch heute Morgen im Innenausschuss gesagt worden - positive Anreize, nicht nur Sanktionen. Mit Repressionen werden Sie Menschen nicht unbedingt verbessern. Sie müssen ihnen Anreize geben. Auch die Wirtschaft hat zum Beispiel eine Verantwortung. Ein schönes Beispiel ist gestern in der „Berliner Zeitung“ publiziert worden. Der Unternehmer Norbert Geyer ist vor über 40 Jahren auf ebendiese Rütli-Schule gegangen. Er nimmt - nicht nur weil er die Schule kennt, sondern weil er der Gesellschaft gegenüber Verantwortung zeigt - die Probleme ernst, kümmert sich um die Schule und gibt zum Beispiel den Schülern, die keinen Abschluss haben, einen Praktikumsplatz oder einen Ausbildungsplatz. ({8}) Das ist ein Beispiel dafür, wie man mit dem Thema auch umgehen kann. Norbert Geyer sagt völlig zu Recht: Das hat damit zu tun, dass wir den Menschen zeigen müssen, dass wir sie anerkennen, dass wir sie wertschätzen, dass wir sie überhaupt wahrnehmen. Die Schüler müssen merken, dass wir uns um sie kümmern. Er sagt - was ich voll und ganz unterschreibe, denn das ist in die Zukunft gerichtet und wirklich ernst zu nehmen -: Was wir heute nicht in die Jungen investieren, müssen wir morgen für den Personenschutz ausgeben. Danke schön. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat die Kollegin Monika Grütters, CDU/CSUFraktion, das Wort. ({0})

Prof. Monika Grütters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003761, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Knallhart“, Herr Benneter, das ist nicht zufällig der Titel eines Films über Neuköllner Jugendgangs, der zurzeit in den Kinos Furore macht. ({0}) - Schlimm genug, dass solche Szenen ausgerechnet Spielfilmregisseuren als Vorlage für einen Film dienen, der im Kino im Moment Karriere macht, ({1}) und zwar deshalb, weil die Realität in Neukölln knallhart ist. Es ist auch kein Zufall, dass es die Rütli-Schule in Neukölln war, die uns jenseits des Spielfilmgenres jetzt unmissverständlich darauf aufmerksam gemacht hat. Machen wir uns nichts vor: Neukölln ist inzwischen fast überall in der Bundesrepublik. Jugendgewalt, Bildungsmiseren, mangelnde Integration von Migranten und ein Leben in regelrechten Sozialhilfedynastien - so wird ein Stadtteil in der deutschen Hauptstadt, der immerhin einer mittleren deutschen Großstadt entspricht, zum Symbol. Das kann sich Berlin, das kann sich Deutschland nicht leisten. ({2}) Das entspricht im Übrigen auch nicht unserem Selbstverständnis. Denn gerade Berlin ist zu Recht, wie ich, die ich seit 18 Jahren hier lebe, finde, immer stolz darauf gewesen, dass es hier ein friedliches Miteinander Zugereister mit Einheimischen gibt. Solche Vorgänge wie in Mölln oder in Hoyerswerda hat es in Berlin noch nicht gegeben. ({3}) Aber hier ist offensichtlich ein ganz normaler Wahnsinn zum Alltag geworden. Herr Böger, Sie müssen sich schon die Frage gefallen lassen, wie es so weit kommen konnte, dass alle Welt erst dann hinschaut, wenn verzweifelte Lehrer um Hilfe rufen. ({4}) Sie sagen, Sie hätten vier Wochen lang von dem Brief nichts gewusst. Das ist schlimm genug. Von den Missständen selber müssten Sie allerdings seit langem wissen; denn sie sind eben nicht neu. ({5}) Für Ihre ignoranten Beamten - es tut mir Leid, dies sagen zu müssen - sind Sie als Chef verantwortlich. Die Exponenten dieses Senats haben nicht nur in Neukölln, sondern in den letzten Tagen leider auch in Hohenschönhausen einmal mehr gezeigt, dass diese Hauptstadt unter Wert regiert wird. ({6}) - Herr Tauss, schauen Sie sich den Film über die Vorgänge in Hohenschönhausen an. Genau dieser rot-rote Senat maßt sich an der sensibelsten Stelle in der Bildungspolitik an, Eltern und Heranwachsenden den Werteunterricht vorzuschreiben, ({7}) statt sie wählen zu lassen, ob sie sich nicht doch lieber im Glauben unterweisen lassen wollen. Nachweislich trägt der christliche Religionsunterricht in anderen Bundesländern dazu bei, ({8}) die Sozialkompetenz der Schüler zu stärken und zur gewaltlosen Lösung von Konflikten unter Schülern beizutragen. ({9}) Immer wieder fordern wir gerade in dieser Debatte die Verantwortung der Eltern. An dieser zentralen Stelle im Bildungsbereich, also da, wo es um Nächstenliebe, Friedfertigkeit und Gewissensbildung geht, schreibt dieser Senat den Eltern, die wollen, dass ihre Kinder ein entsprechendes Unterrichtsangebot wahrnehmen, vor, dass es das im Rahmen des normalen Unterrichts nicht gibt. ({10}) Schule muss angesichts der Zustände in den Elternhäusern Verantwortung tragen. Eine Lehrerin fragte, wie sie ihren Schülern beibringen soll, dass sie morgens aufstehen müssen, wenn sie die Einzigen in ihrer Familie sind, die jeden Morgen aufstehen. Wir müssen uns natürlich darum kümmern. Aber die Verantwortung dafür, was aus Kindern wird, liegt zuallererst nun einmal bei den Eltern. Wenn sie diese nicht wahrnehmen können oder wollen, muss man in die Sanktionsmaßnahmen gegen auffällige Schüler eben auch die Eltern einbeziehen. ({11}) Das können beispielsweise spürbare finanzielle Sanktionen oder gar die Gefährdung des Aufenthaltsstatus sein. ({12}) Das verstehen auch diejenigen, die der deutschen Sprache eher unkundig sind. ({13}) Unsere ehemalige Berliner Ausländerbeauftragte, Barbara John, sagte es ganz deutlich und selbstkritisch: Wir haben zu lange Geld gegeben, wo eigentlich Leistung hätte verlangt werden müssen. Heute würde sie eher großzügig sein mit Arbeitserlaubnissen und geizig mit der Sozialhilfe. Der Staat darf sich mit seiner Gebermentalität nicht aus der Verantwortung stehlen, was die Perspektivlosigkeit dieser Jugendlichen angeht. Stattdessen müssen wir sie beschäftigen und ihnen das Gefühl vermitteln, dass sie willkommen sind. ({14}) Es sind schon Beispiele genannt worden. Die WernerStephan-Oberschule in Berlin-Tempelhof - übrigens eine Hauptschule - hat Theaterklubs und Fahrradwerkstätten eingerichtet und ließ in Teams Hausaufgaben machen. Ich nenne ferner das spektakuläre Education-Programm der Berliner Philharmoniker. Jugendliche, die es gewohnt waren, Aufmerksamkeit durch Gewalt, Kleinkriminalität oder durch eine rabiate Strafe zu erpressen, bekommen diese Aufmerksamkeit auf einmal, weil sich Tanzpädagogen genau diesen Brennpunktkindern in ihren monatelangen Proben zu dem Tanz- und Filmprojekt „Rhythm is it“ gewidmet haben. Es gibt diese Programme also. ({15}) - Sie haben sich aber genau diesen Brennpunktkindern gewidmet. ({16}) - Das sage ich ja. Wir kennen diese Probleme seit Jahren. Roman Herzog hat seine Ruck-Rede vor mehr als zehn Jahren gehalten. Was ist seitdem passiert? Die Initiativen, von denen ich eben berichtet habe, sind private Initiativen. Staatliche Initiativen brauchen manchmal eine ganze Schülergeneration, ehe sie verwirklicht werden. ({17}) Was wir jetzt brauchen, Frau Künast, ist keine Debatte über die Schulstruktur. Ich erinnere mich auch an grüne Sprüche von der Zwangsgermanisierung, als es um den Sprachunterricht ging. ({18}) Wir fordern jetzt einen nationalen Aktionsplan Integration, an dem nicht nur Bund, Länder und Kommunen, sondern auch Tarifpartner, Kirchen und Wohlfahrtsverbände teilnehmen. Denn wir alle müssen dafür sorgen, dass die Jugendlichen aus Neukölln und ihre Familien in der Gesellschaft und nicht an deren Rand leben. Das ist eine Aufgabe für alle - nicht nur in Neukölln und Zehlendorf, nicht nur in Berlin, sondern beispielsweise auch in Baden-Württemberg oder Sachsen. Das ist eine Herausforderung für beide Seiten, damit Neukölln, damit Berlin kein „knallhartes“ Symbol bleibt. Ich danke Ihnen. ({19})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Jürgen Kucharczyk, SPD-Fraktion. ({0})

Jürgen Kucharczyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003794, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die aktuellen Geschehnisse in der Berliner Rütli-Hauptschule machen uns sehr betroffen. Wie wir wissen, sind sie jedoch in der Bundesrepublik kein Einzelfall. Deshalb dürfen wir die Augen nicht davor verschließen. Wir müssen schon genau hinsehen und schauen, wo die Ursachen liegen. Dabei sage ich deutlich: Polizeischutz und der Einsatz eines neuen Schulleiters sind keine Lösungen, die uns zufrieden stellen dürfen, ebenso wenig der Ruf nach Internaten und die entwürdigende Idee, Schnupperknäste einzurichten. Wir alle haben die Hilferufe der Rütli-Schule gelesen; das ist schon heftig. Knapp 50 Kolleginnen und Kollegen in unserem Hohen Hause sind ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer. Sie wissen wohl am besten, dass eine Lehrkraft die ihr anvertrauten Schülerinnen und Schüler nicht einfach so aufgibt. Das heißt für alle politisch Verantwortlichen und bedeutet für uns im Deutschen Bundestag, dass wir gefordert sind und handeln müssen: handeln im Sinne der Kinder und Jugendlichen, handeln im Sinne der Lehrkräfte, handeln für eine Schule ohne Gewalt. Den Verzicht auf Gewalt verstehen meine Fraktion und ich im doppelten Sinne: Einerseits muss die physische Gewalt aufhören. Wenn andererseits Schülerinnen und Schüler an Hauptschulen stigmatisiert und letzten Endes für unsere Gesellschaft abgeschrieben werden, dann ist auch das Gewalt. Hier sind wir gefordert. ({0}) Wir dürfen nicht zulassen, dass Kinder und Jugendliche in unserem Land - egal ob deutscher oder ausländischer Herkunft - ohne Perspektive und ohne reelle Chance auf einen Schulabschluss, ein Arbeitsverhältnis und damit eine gesicherte Zukunft aufwachsen. ({1}) Ein wenig mehr Aufrichtigkeit bei der Bewältigung dieser Herausforderungen würde uns allen gut zu Gesicht stehen. Türkische und arabische Vereine in Berlin haben bereits Selbstkritik geübt und sind auf der Suche nach einem verlässlichen Ansprechpartner in den Ministerien, aber auch in unserem Hause. Wir müssen ihnen zur Verfügung stehen. Im „Nationalen Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland“ der rot-grünen Bundesregierung haben wir uns dieser wichtigen Thematik bereits angenommen. Unsere damalige Erkenntnis gilt nach wie vor und lautet: Bildung ist wichtig von Anfang an. ({2}) Kinder können nur dann ihre vielfältigen Potenziale optimal ausbauen, wenn sie früh und individuell gefördert werden. Die Grundsteinlegung, die in den ersten Lebensjahren versäumt wird, ist später kaum mehr aufzuholen. Frühkindliche Bildung kann nur gelingen, wenn sich die Qualität des Kinderbetreuungssystems auf hohem Niveau befindet. Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz haben wir die Plattform für eine gute und bedarfsgerechte Kinderbetreuung errichtet. Die Steigerung der Bildungs- und Erziehungsqualität in den vorschulischen Einrichtungen ist ein zukunftsweisender Ansatz. Wir sind damit auf dem richtigen Weg. Insbesondere im Fall der Kinder mit Migrationshintergrund müssen verstärkt Anstrengungen unternommen und neue Konzepte erarbeitet werden. Dabei gilt es insbesondere, die sprachliche Bildung und die kulturelle Integration der Jungen und Mädchen effektiv zu gestalten. Das Erlernen der deutschen Sprache muss schon vor der Grundschule abgeschlossen sein; denn Wissen und soziale Kontakte werden über unsere Sprache erworben. ({3}) Auch der Lehrer kann das Potenzial seines Schülers dann besser einschätzen. Mit dem Ausbau der Halbtagsschulen zu Ganztagseinrichtungen hat die Bundesregierung Möglichkeiten geschaffen, alle Talente der einzelnen Kinder zu fördern und die großen und kleinen Schwächen auszugleichen. Ich sage deutlich: Diesen Weg müssen wir konsequent weitergehen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, egal ob frühkindliche oder schulische Bildung, die Eltern müssen in ihrer Verantwortung bleiben. Sie müssen aktiv in den Prozess eingebunden werden und dürfen nicht außen vor bleiben. Wir müssen auch Antworten auf die Frage finden: Was machen wir mit den Eltern, die die Integration zulasten ihrer Kinder verweigern? Um die vorhandenen Missstände zu beheben, sind wir auf die Hilfe und die Mitarbeit öffentlicher und privater Träger angewiesen. Die Vernetzung von Jugendhilfe und Schule in den Stadtteilen muss intensiviert werden. Stadtteilkonferenzen mit allen beteiligten Vereinen, Verbänden und Schulen können dabei genauso hilfreich sein wie so genannte Ordnungspartnerschaften. Der Einsatz von türkischen oder arabischen Pädagogen, wie im Berliner Beusselkiez in Moabit, ist ein beherztes und Erfolg versprechendes Signal, ein Signal, das neben einer nicht zu unterschätzenden Vorbildfunktion vor allem eines transportiert: Wir interessieren uns für euch und eure Zukunft; wir nehmen euch ernst. Nur durch diesen Dialog kann es gelingen, Migrantenkinder sozial und beruflich besser zu integrieren. Damit zusätzliche Lehrkräfte und Pädagogen finanziert werden können, werden wir als Koalition weiterhin alles daransetzen, die Finanzausstattung der Länder und Kommunen zu verbessern. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Ilse Aigner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ilse Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! ({0}) - Dann fange ich gleich bei Ihnen an, Herr Bürsch. Ich bin etwas verwirrt. Sie haben gerade darüber geschimpft, was jetzt in Bayern alles gemacht wird. Kurz davor hat Herr Senator Böger gesagt, es werde schon alles gemacht, was von Bayern gefordert wird. Irgendwie stimmt da etwas nicht. Habe ich vielleicht etwas missinterpretiert? ({1}) - Nein, so habe ich das verstanden. Senator Böger hat sich gerühmt, dass das schon in Berlin gemacht wird. Herr Bürsch sagt aber, es sei ganz falsch, was in Bayern gemacht wird. Irgendwas passt nicht zusammen. Damit bin ich bei Ihnen, Herr Senator Böger - damit ist der Spaß auch schon zu Ende -: Wie viele Schreiben der Lehrer muss es eigentlich gegeben haben, damit sie jetzt dieses Maß an Aufmerksamkeit erreicht haben? Die Situation bedrückt mich nicht so sehr, weil es sich um einen offensichtlichen Missstand handelt, sondern eigentlich eher wegen der Jugendlichen in dieser Schule. Sie haben jetzt - das wird deutlich, wenn Sie sich einmal die Zeitungsartikel durchgelesen haben - nachvollziehbarerweise ein ernsthaftes Problem, wenn sie sich mit einem Zeugnis von der Rütli-Schule bewerben sollen, weil sie dadurch schon in gewisser Weise benachteiligt sind. Man hätte die Lösung dieses Problems vielleicht schon früher angehen können. Diesen Vorwurf kann ich Ihnen leider nicht ersparen. ({2}) - Wenn wir schon dabei sind, Frau Künast, kann ich auch Ihnen eines nicht ersparen. ({3}) Ich habe jetzt kein Zitat von Ihnen präsent. Ich kann mich aber noch sehr gut an die Kollegin Roth erinnern, die zu Ihrer Fraktion gehört und sogar Vorsitzende Ihrer Partei ist. Sie hat Multikulti immer über alles gestellt. Wenn wir gesagt haben, dass die deutsche Sprache eine Voraussetzung sein muss, ging es ihres Erachtens schon fast um eine Assimilierung. Ich bin froh, dass wir jetzt eine gemeinsame Basis haben und der Meinung sind: Es ist nicht ganz unsinnig, wenn derjenige, der in die Schule gehen will, die Sprache versteht, die in dieser Schule gesprochen wird. ({4}) - Ich will jetzt nicht alle Landesteile daraufhin untersuchen, ob dort druckreif gesprochen wird. Ich verstehe Sie aber ganz gut. Außerdem wurde auch in den PISATests festgestellt, dass diejenigen, die zweisprachig aufgewachsen sind, besser sind. Vielleicht sollte man sich das einmal überlegen. ({5}) Ich sage ja nicht, dass die Migranten nicht ihre Sprache sprechen sollen; darum geht es gar nicht. Es geht vielmehr um die Frage, ob sie der deutschen Sprache mächtig sein müssen, um dem Unterricht folgen zu können. ({6}) Darin sind wir uns Gott sei Dank einig. Ich möchte noch auf andere Dinge eingehen, und zwar zunächst auf das Thema Auflösung der Hauptschule. Das ist ja immer ein Allheilmittel. ({7}) - Das ist richtig, aber ich gebe ihnen nicht Recht. Das sage ich auch im Hinblick auf die Schüler. Auf der Tribüne sitzen übrigens Schüler; ich weiß nicht, in welcher Schule sie sind. Ich habe eine Nichte und einen Neffen, die gerade den Abschluss in der Hauptschule machen: der Neffe die Mittlere Reife und die Nichte den qualifizierten Hauptschulabschluss. Ich weiß nicht, wie sie es empfinden, wenn man ihnen sagt, ihre Schulart sei eigentlich nichts mehr wert. ({8}) Ich hoffe, die beiden bekommen eine Lehrstelle. Das hoffe ich auch für alle Schülerinnen und Schüler in Berlin. Damit sind wir wieder bei dem grundsätzlichen Problem. Natürlich haben wir auch ein Problem bei Ausbildungsplätzen. Wir müssen dieses Problem an der Wurzel anpacken. Die wirtschaftliche Lage ist in den letzten Jahren schlechter geworden. Wir alle müssen gemeinsam daran arbeiten, dass sich die wirtschaftliche Lage wieder verbessert und damit auch die Situation im Hinblick auf die Ausbildungsplätze. Eine Anmerkung sei mir noch gestattet, die jetzt nicht so sehr darauf abstellt, ob jemand nun Migrant ist oder nicht. Die Frage der Gewalt muss man, finde ich, immer wieder erörtern. Wie kommt es dazu, dass Jugendliche derart gewalttätig werden, gegenüber Lehrern, aber auch gegenüber Mitschülerinnen und Mitschülern? Sehr geehrter Herr Bürsch, Sie können sich vielleicht noch daran erinnern, dass wir gemeinsam in einer EnqueteKommission saßen und uns Projekte angeschaut haben. Jetzt nenne ich nicht Bayern, sondern Baden-Württemberg; jetzt lobe ich einmal ausdrücklich die BadenWürttemberger. Wir haben uns damals ein Projekt in Nürtingen angeschaut, in dessen Rahmen Streitschlichter ausgebildet wurden und auch heute noch ausgebildet werden, die hervorragende Arbeit leisten. Die Schüler werden also in die Mitverantwortung einbezogen. ({9}) - Ich sage ja nur, dass das wichtige Dinge sind. Es ist wichtig, dass letztendlich auch die Schüler mitarbeiten, dass wir sie nicht sich allein überlassen, sondern dass wir sie begleiten. ({10}) Sie müssen ihr eigenes Leben gestalten können. Es gibt eben Methoden, mit denen man es schaffen kann, dass eine Schule gewaltfrei wird. ({11}) Zum Schluss möchte ich sagen - das kann ich Ihnen nicht ersparen -: Es gehören auch einige Tugenden dazu. Herr Senator Böger, jetzt schaue ich eher in Richtung der Linken. Ihr früherer Parteikollege Lafontaine hat einmal von Sekundärtugenden gesprochen. Jetzt hat er ja bei der Linken Verantwortung. ({12}) Ich glaube, über diese Sekundärtugenden sollten wir trotzdem nachdenken. Denn es ist nicht falsch, wenn man Respekt gegenüber anderen hat, wenn man Fleiß und Anstand mitbringt. Das ist nicht schlecht und es schadet einem Jugendlichen auch nicht, wenn er diese Tugenden beim Eintritt ins Berufsleben mitbringt. Das wird auch gefordert. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Klaus Uwe Benneter für die SPD-Fraktion. ({0})

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Um weiteren Irritationen nicht Vorschub zu leisten, möchte ich aus unserer Koalitionsvereinbarung zitieren: ({0}) Schwerpunkt bleibt die Integration. Das bleibt Schwerpunkt für die Regierungsarbeit, so wie es auch schon bei Rot-Grün der Fall war. ({1}) Dass das Lernen von Deutsch wichtig ist, haben wir schon früher erkannt; das ist ja nun wirklich nichts Neues. Deshalb hat ja auch schon die Vorgängerregierung Integrationskurse und Sprachkurse auf den Weg gebracht. Frau Böhmer, wir haben heute mehrere Stunden im Innenausschuss darüber diskutiert und erste Evaluationen vorgenommen, damit wir sehen können, wo man etwas verbessern kann. Mit Sicherheit ist es nicht richtig, in diesem Bereich 67 oder 68 Millionen Euro einzusparen, nur weil dieser Betrag im letzten Jahr nicht ausgegeben wurde. ({2}) Da werden wir nacharbeiten müssen. Herr Pflüger, ich denke, dass wir uns darin einig sind, dass wir dies nicht als das größte Problem bezeichnen können und dann, wenn es um die finanzielle Unterstützung geht, die Mittel streichen. ({3}) In der Hauptschule sammeln sich eben alle Probleme. Insofern ist die Schulform nicht das Entscheidende; vielmehr ist entscheidend, dass in der Hauptschule alles kulminiert. Wir lassen es ja zu, dass sich dort alles sammelt. ({4}) Das sind die Früchte unser aller Versäumnisse, die sich in der Hauptschule zeigen. Das bitte ich auch in dieser Diskussion zu bedenken. ({5}) Diese Konzentration von Problemen in der Hauptschule ist es, was sich in der Rütli-Schule gezeigt hat: Misserfolge in der Schule, fehlende Perspektiven in der Schule, fehlende Ausbildungsmöglichkeiten. Nicht ein einziger Schüler aus der letzten Abschlussklasse der Rütli-Schule hat einen Ausbildungsplatz bekommen. Das sind doch die Probleme in unserer Gesellschaft. ({6}) - Ihre Wählerklientel sollten Sie einmal auffordern, ihrer Verpflichtung an dem Punkt endlich nachzukommen! ({7}) Wenn es Ausbildungsmöglichkeiten für die jungen Leute gäbe, dann wären sie auch motiviert, zu lernen. ({8}) Dann könnten Sie, Herr Gerhardt - es ist ja richtig, was Sie dazu gesagt haben -, Leistung und Disziplin einfordern. Dann könnten Sie den jungen Leuten eine Perspektive aufzeigen und ihnen sagen, ({9}) warum es sich lohnt, in der Schule diszipliniert und eifrig zu lernen. Frau Kollegin Aigner hat auf die Verhältnisse in Bayern hingewiesen. Die Stoiber-Pädagogik haben wir in den letzten Tagen alle kennen gelernt: Raus und weg! Damit ist das Problem erledigt. Die Koalition hat sich vorgenommen, dieses Problem seriös aufzuarbeiten. ({10}) Herr Pflüger, ich trete Ihnen sicherlich nicht zu nahe, wenn ich darauf hinweise, dass Sie sich im großen Kino da und dort einen Ausrutscher geleistet haben. Sie sind ja heute, das habe ich „Spiegel Online“ entnommen, schon wieder zurückgerudert. Sie haben den „Spiegel“ gebeten, das, was Sie gesagt haben, nicht als Zurückrudern zu verstehen. Jetzt sind Sie nicht mehr für Ausweisung, jedenfalls nicht für die sofortige, und auch nicht für den Einsatz der Nationalgarde, wie Ihr Kollege Schönbohm. Insofern sind Sie auf den Teppich der Koalitionsvereinbarung zurückgekehrt. Das finde ich gut und in Ordnung. ({11}) Auch wenn es jetzt auf Ostern zugeht, Herr Pflüger, eiern Sie nicht länger herum! ({12}) Senator Böger hat die Zahl der Gewalttaten genannt. Er hat darauf hingewiesen, welche Anstrengungen unternommen werden, um gerade an der Hauptschule die Gewalt zurückzudrängen. Herr Pflüger, niemand hat, wie Sie fälschlicherweise behauptet haben, Gewalt geduldet. Unser aller Anstrengung zielt darauf, diesen Schülerinnen und Schülern eine Chance zu bieten. Eine wirkliche Perspektive können wir ihnen aber nur dann bieten, wenn wir das schaffen, was wir uns in der Koalitionsvereinbarung vorgenommen haben. Schwerpunkt Integration heißt, dass wir respektvoll miteinander umgehen. Wir dürfen nicht nur von der anderen Seite Respekt verlangen, sondern müssen ein wechselseitiges Respektverhältnis herstellen. Wir müssen in diesem Land zu einer Willkommenskultur kommen und nicht zu einer Abschiebekultur, wie sie immer wieder aus Bayern gefordert wird. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Kristina Köhler für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Kristina Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003569, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein altes arabisches Sprichwort sagt: Immer nur Sonne macht eine Wüste. Ich möchte diesen kulturübergreifenden Sinnspruch gerne durch einen deutschen Sinnspruch ergänzen: Manchmal bedarf es eines ebenso fruchtbaren wie reinigenden Gewitters. Dieses reinigende Gewitter kann in der Integrationspolitik - ich spreche als Innenpolitikerin - nichts anderes sein als das Benennen von Wahrheiten. Eine dieser Wahrheiten hat die Soziologin Necla Kelek bezüglich vieler - ich betone: nicht aller - türkischer Migranten jüngst so formuliert: Mit ihren Füßen sind sie hier, aber in ihrem Kopf und ihren Herzen haben sie ihr Dorf nie verlassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir sicherlich nicht verordnen können, ist, dass diese Migranten ihr Herz allein Deutschland schenken; was wir aber verlangen müssen, ist, dass sie mit dem Kopf voll und ganz in Deutschland sind. ({0}) Lassen Sie mich kurz erklären, was ich damit meine. Zwischen den Grünen und der Union gibt es in der Integrationspolitik einen zentralen Unterschied, der meines Erachtens auf unterschiedlichen Menschenbildern beruht. Ich möchte dies an einer Pressemitteilung der Grünen vom Montag dieser Woche festmachen. Dort erklärt Ihre Parteivorsitzende Claudia Roth die Gewalt an den Schulen als eine Auflehnung der Verlierer in der Gesellschaft, die vor allem deshalb zu Verlierern würden, weil wir sie strukturell diskriminieren bzw. nicht genug fördern. ({1}) Das greift zu kurz. Dürfen wir den jungen Migranten wirklich derart die Verantwortung für ihr eigenes Leben nehmen? Kann es genügen, sie nur als Opfer eines unfairen Systems zu betrachten? Müssen wir mit ihnen nicht vielmehr auf Augenhöhe reden? Heißt das nicht auch, dass man auch klipp und klar sagt: „Freundchen, so geht das nicht!“? ({2}) Muss man nicht auch klipp und klar sagen: „Wenn du etwas aus deinem Leben machen willst, dann musst du deinen eigenen Hintern hochbekommen“? Wenn ich sage, dass wir diese jungen Migranten ernst nehmen und ihnen die eigene Verantwortung für ihr Leben zugestehen müssen, dann heißt das aber auch, dass wir die - ({3}) - Nein, es geht hier insbesondere um Migranten. Wir dürfen doch jetzt nicht die Augen vor der Realität verschließen. Wir dürfen sie auch nicht davor verschließen, dass leider nachgewiesen ist, dass insbesondere bei türkischen Jugendlichen eine besonders hohe Neigung zu Gewalt festzustellen ist. ({4}) - Ja, Herr Benneter, das hat Ursachen. Das ist richtig. ({5}) Die übliche Erklärung ist, dass dies allein soziale Ursachen hat. Das stimmt ja auch. Die jungen Migranten kommen in der Regel aus schwächeren sozialen Schichten, sie haben niedrigere oder gar keine Bildungsabschlüsse und keine Berufsabschlüsse. Natürlich spielt das alles bei der Gewalttätigkeit eine Rolle. Aber zur Wahrheit gehört leider auch, dass der Anteil von Gewalttätern bei männlichen türkischen Jugendlichen verglichen mit deutschen Jugendlichen aus derselben sozialen Gruppe immer noch doppelt so hoch ist. ({6}) Deswegen müssen wir eben auch nach den kulturellen Gründen fragen. Wenn wir dann in die kriminologische Forschung schauen, stoßen wir immer wieder auf ein und denselben Punkt, nämlich dass es ein nicht nur sozial, sondern auch kulturell bedingtes massives Gewaltproblem in vielen türkischen Familien gibt, ({7}) Kristina Köhler ({8}) dessen Opfer Ehefrauen und Kinder sind. Dieses Gewaltproblem geht einher mit einem patriarchalischen Ehrbegriff. Da können wir doch nicht einfach wegschauen. Diese Frauen und Kinder sind Teil unserer Gesellschaft. Deswegen müssen wir auf diese Familien Einfluss nehmen, und zwar mit Aufklärung, aber eben auch mit aller Härte des Gesetzes. ({9}) - Natürlich gibt es auch das. Aber nehmen Sie doch einfach einmal die statistischen Häufungen zur Kenntnis. Viel zu lange haben wir aus einer falsch verstandenen politischen Korrektheit heraus immer wieder darüber hinweggeredet. ({10}) Diese Jungs und Mädels lernen leider schnell, wie die Machtverhältnisse funktionieren. Sie lernen, dass das Recht des Mannes, das Recht des Stärkeren gilt. Wenn Sie einmal nach Neukölln oder Wedding gehen, dann hören Sie das leider auch überall. Wer den anderen entwürdigen will, der nennt ihn Opfer. Cool ist es, Täter zu sein. ({11}) Täter sein, heißt stark zu sein, und stark zu sein, heißt, Respekt innerhalb des Kollektivs zu bekommen. Aber das ist nicht die Art von Respekt, auf der unsere Gesellschaft basiert. ({12})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun das Wort der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann für die SPDFraktion.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Schluss könnte man jetzt über Berlin eine politische Wahlkampfrede halten. Ich will das nicht tun. Frau Böhmer, Sie haben ein wichtiges gemeinsames Anliegen der großen Koalition und der gesamten Gesellschaft angesprochen, das es verdient, in den Mittelpunkt gestellt zu werden. ({0}) Ich möchte vorweg sagen - das sei mir mit der Anerkennung in Bezug auf Senator Böger gestattet -: Wer sich in diese Diskussion selbstkritisch einbringt, der wird allemal mehr Vertrauen bei der Suche nach richtigen Wegen bekommen, als derjenige, der meint, sich mit Selbstgerechtigkeit in diese Debatte einbringen zu müssen. ({1}) Ich will hinsichtlich der Selbstgerechtigkeit niemanden hier ausdrücklich ansprechen, vielmehr will ich etwas aufnehmen, was uns Sozialdemokraten bei der CDU gefreut hat. Sie haben auf Ihrer Klausurtagung ein Positionspapier zum nationalen Aktionsplan erstellt. Wir finden dort sehr Bemerkenswertes. ({2}) - Lassen Sie sich doch vielleicht einmal auf etwas ein. ({3}) Sie sagen dort ausdrücklich, es gehe dabei nicht um die kulturelle Differenz, sondern um die soziale Differenz. Es geht nicht darum, das Problem an der Zuschreibung „Ausländerinnen und Ausländer hie, Deutsche da“ festzumachen, sondern wir müssen zuerst die Hintergründe beleuchten. ({4}) Des Weiteren weisen Sie darauf hin, dass es unter diesen sozialen Bedingungen auch unter den Deutschen zu viele Delinquenten gibt. Das wollen wir ausdrücklich anerkennen. Aber fragen Sie sich doch auch einmal, ob der letzte Redebeitrag Ihrer Kollegin nicht zum Ausdruck gebracht hat, dass diese alte falsche Einstellung leider schon allzu sehr verinnerlicht wurde. ({5}) Es geht eben nicht um eine kulturelle bzw. eine Wertedifferenz. Es geht nicht darum, zu sagen, die deutschen Werte seien besser. Vielmehr geht es um menschliche Werte. ({6}) - Sie sagen zwar „Das sagt auch keiner!“. Aber vielleicht ist es gerade wichtig, dass das auch einmal gesagt wird. Im Hinblick auf den Weg zur Integration, den Frau Böhmer im Namen der gesamten Bundesregierung für unsere Gesellschaft und unseren Staat gehen will, möchte ich festhalten: Hierbei geht es auch um die Grundmelodie und die Art und Weise, wie wir unsere Integrationsbereitschaft zeigen. Deshalb sage ich noch einmal: Es geht nicht um deutsche Werte, sondern um gesellschaftliche, humanistische Werte, die in einer türkischen Familie genauso vorhanden sein können wie in einer arabischen oder einer deutschen Familie. Würden wir so tun, als seien unsere Werte die besseren, und würden wir den anderen ihre Werte absprechen, welche Möglichkeit hätten sie dann noch, außer sich zurückzuziehen ({7}) und nur in ihrer eigenen Gruppe nach Identifikation zu suchen? Nein, das dürfen wir nicht tun! ({8}) Zum Zweiten geht es darum, sich von der Spirale von Gewalt und Gegengewalt zu befreien. Denn natürlich wissen sie, dass es aus dieser Gewaltspirale keinen Ausweg gibt. Es wird immer zu Gewalt gegen den Aggressor kommen, also zu Identifikation durch Gewalt. Das kann man zum Beispiel daran erkennen, dass die Schüler den Eindruck haben, sie würden nur wahrgenommen, wenn sie gewalttätig sind. Daher verhalten sie sich auch gewalttätig. Auf diesem Weg kann keine Integration gelingen. ({9}) Zum Dritten geht es darum, ein Selbstwertgefühl zu schaffen. An dieser Stelle besteht zwischen uns Übereinstimmung. Als Stichworte nenne ich die Sprachförderung, den schulischen Lebensweg, die Ausbildung, die beruflichen Chancen, den Weg in ein soziales Leben und die soziale Integration. Wir bitten Sie ausdrücklich, diese Aspekte gemeinschaftlich mit uns in Angriff zu nehmen. Denn hier geht es nicht allein um Berlin. Das betrifft genauso München-Hasenbergl, HamburgWilhelmsburg oder Kiel-Garden. ({10}) Wenn wir uns darauf verständigen können, haben wir eine andere Basis dafür gefunden, welchen Weg wir gehen müssen, um die Integration zu verbessern. (Beifall der Abg. Iris Gleicke ({11}) Wir fanden und finden es sehr gut, dass es hier eine gemeinsame Linie gibt. Die FDP hat diese Aktuelle Stunde beantragt, um einzufordern, dass der Bund seine Kompetenzen erfüllt. Wir könnten bei der Sprachförderung ansetzen. Hierzu will ich ein Beispiel ansprechen: Wie konnte es eigentlich so weit kommen, dass Sprachkurse für Mütter bzw. Frauen, die schon länger in Deutschland leben, heute nicht mehr im selben Umfang wie früher angeboten werden? ({12}) Jetzt stellen wir plötzlich erschreckt fest, wie groß die Bedeutung der Frauen unter den Gesichtspunkten der Stabilisierung und der Integration ist. Hier könnten wir gemeinsam etwas unternehmen. ({13}) Wenn es um Integration geht, muss Schule auch anders wahrgenommen werden: als Oase und als soziale Heimat. Als Stichworte nenne ich die Jugendsozialarbeit, die Ganztagsschule, die Erweiterung personeller Kompetenzen und die Schaffung eines Netzes um die Schüler herum. Frau Böhmer, wir wollen, dass der Bund in diesem Zusammenhang nicht nur redet. Dieses Anliegen muss er aktiv unterstützen. Das hat auch viel mit Glaubwürdigkeit zu tun. ({14}) Bereits die Vorgängerregierung musste zur Kenntnis nehmen, dass es nicht nur in den Familien viele Jugendliche ohne Ausbildung gibt. Es gibt auch viele ausländische Firmen, die nicht ausbilden. Diese Probleme müssen wir im Zusammenhang betrachten. Auch dafür haben Sie unsere ausdrückliche Unterstützung. ({15}) Angesichts der zwölf Forderungen, die die CDU/CSU erhoben hat, bitten wir allerdings um eines: Der Integrationsgipfel wird nur dann gelingen, wenn er als Prozess angelegt ist. Er sollte durch nichts belastet werden, was nicht auf eine gemeinschaftliche Lösung ausgerichtet ist. Im parteipolitischen Bereich mag das noch zu ertragen sein, im gesellschaftlichen Bereich wird es allerdings schwierig. Deshalb sollten wir uns nicht auf die Veränderungen im Jugendstrafrecht konzentrieren, die Sie vornehmen wollen - ich nenne als Beispiel Ihre Forderung nach Einführung eines Warnarrests -, sondern wir sollten auch den Hinweis des Kollegen Böger berücksichtigen, dass es noch einen anderen Weg geben muss. Wir dürfen die Menschen nicht abschieben, sondern wir müssen sie stützen, fordern, ihnen ihre Grenzen aufzeigen und ihnen positive Erfahrungen vermitteln. ({16}) Durch einen Arrest kann das genauso wenig geleistet werden wie durch Abschiebeinternate. ({17})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss und werde sehr konstruktiv: Es geht nicht, dass all das, was im Ausländerrecht bisher nicht konsensfähig war, wieder in die Debatte eingebracht wird; dann kann der Gipfel nicht gelingen. Er kann nur gelingen, wenn er ein gemeinschaftliches Ziel hat, wenn er gut vorbereitet wird. ({0}) Eine ganze persönliche Bitte auch an Sie, Frau Böhmer: Ich habe in der Zeitung gelesen, dass der Türkische Elternbund einen großen Bildungskongress veranstalten wird und sich um Frau Schavan und Sie bemüht hat. Ich will akzeptieren, dass Sie an dem Termin vielleicht verhindert sind - dann kann man auch nicht springen -, aber genau solche Gesten braucht es. Es braucht unsere Gesten, es ist wichtig, dass jemand von uns dorthin geht. Man muss auch in die guten Schulen gehen, ohne dass das Fernsehen dabei ist. Denn das gute Beispiel wirkt und stärkt. ({1}) In diesem Sinne sind wir auf einem guten Weg. Am Ende ist nicht der Gipfel, sondern der Weg das Ziel. An dieser Stelle müssen wir zusammenarbeiten. Danke schön. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für morgen, Donnerstag, 6. April, um 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.