Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Schönen guten Tag, meine Damen und Herren! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Neue Impulse für Innovation
und Wachstum - 6-Milliarden-Euro-Programm für
Forschung und Entwicklung.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung,
Frau Dr. Annette Schavan.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Das Kabinett hat in seiner
heutigen Sitzung die Eckdaten des 6-Milliarden-EuroProgramms für Forschung und Entwicklung - Neue Impulse für Innovation und Wachstum beraten und verabschiedet. Dieses 6-Milliarden-Euro-Programm enthält
drei Säulen der künftigen Förderung von Forschung und
Innovation:
Die erste Säule ist die Förderung von Spitzen- und
Querschnittstechnologien mit dem Ziel eines zügigeren
- also eines besser optimierten - Transfers von den Ideen
zu den Produkten, Dienstleistungen und Anwendungen.
Ein Beispiel hierfür ist in der Gesundheitsforschung die
Einrichtung von Spitzenzentren in der medizinischen
Forschung. Ein zweites Beispiel ist die Strategie „Nano
geht in die Produktion“. Im Bereich der Nanotechnologie
ist es jetzt möglich, wissenschaftliche Durchbrüche für
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu nutzen.
Die zweite große Säule ist die verbesserte Förderung
der Innovationsfähigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen, vor allen Dingen in Zusammenarbeit mit dem Wirtschaftsministerium.
Die dritte Säule ist die Stärkung des Forschungssystems und des Forschungsstandortes Deutschland. Beispiele hierfür sind die zwischen dem Bund und den
16 Ländern vereinbarte Exzellenzinitiative, der Pakt für
Forschung und Innovation, neue Initiativen im Bereich
des wissenschaftlichen Nachwuchses und vor allem die
Möglichkeiten zur Finanzierung einiger Großgeräte für
die Forschung, wie es im Koalitionsvertrag vereinbart
ist.
Die Ziele des 6-Milliarden-Euro-Programms sind
ganz stark auf Wachstum und Beschäftigung fokussiert.
Wir wollen noch stärker als in der Vergangenheit in einer
engen Partnerschaft zwischen Wissenschaft und Wirtschaft den Transfer zwischen wissenschaftlichen Durchbrüchen und die daraus möglicherweise erwachsende
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit fördern. Zweitens
wollen wir stärkere Brücken zwischen der Forschung
und den Zukunftsmärkten schaffen und drittens neue Impulse für Wissens- und Technologietransfer geben.
Bevor ich exemplarisch einige der Strategien und
Leuchttürme aus dem Programm nenne, möchte ich
noch darauf hinweisen, dass es hinsichtlich der jetzigen
Eckdaten und der gesamten Entwicklung des 6-Milliarden-Euro-Programms eine gute Zusammenarbeit zwischen allen beteiligten Häusern gibt. In den letzten Jahren wurde oft kritisch darüber gesprochen, dass die
Forschungspolitik zu sehr auf unterschiedliche Häuser
verteilt ist und es nicht mehr zu einem stimmigen Gesamtkonzept kommt. Die Koordinierung unserer Projekte in der 6-Milliarden-Euro-Strategie soll ein Ansatz
zu einem wieder stimmigen Gesamtkonzept der Bundesregierung sein.
Nun also zu den Strategien: Zur ersten Säule gehören
die Informations- und Kommunikationstechnologien. Es
gibt ein neues Forschungsprogramm, das vor allem auf
Verbundforschung setzt, auf die Verbesserung der Verwertung von Forschungsergebnissen. Zweitens gibt es
im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien das Programm „Informationsgesellschaft
Deutschland 2010“, das sich vor allem auf die Modernisierung rechtlicher und technologischer Rahmenbedingungen und die gezielte Förderung anwendungsnaher
Redetext
Entwicklungen konzentriert. Beide - die Kanzlerin hat
es bei der Eröffnung der CeBIT angekündigt - sollen in
einen IT-Gipfel im Herbst dieses Jahres einfließen und
im Rahmen unserer Präsidentschaft auf europäischer
Ebene eine Rolle spielen, um Interesse bei den europäischen Partner zu wecken und zu einer europäischen Strategie zu kommen.
Aus dem Bereich der Leuchttürme nenne ich neben
der eben schon genannten Strategie „Nano geht in die
Produktion“ den Leuchtturm „Hightech für die Gesundheit“. Zweitens möchte ich den Leuchtturm „Klinische
Forschung in der Gesundheit“ nennen. Das ist ein besonders breit angelegtes Projekt, um die medizinische Spitzenforschung zu stärken und die Translation zu verbessern. In Zeiten, in denen wir über die Reform des
Gesundheitssystems sprechen, ist das ein wichtiger Baustein, der deutlich machen soll, wie stark künftige Gesundheitsversorgung mit der Forschung und mit einer
guten Brücke von den Grundlagen zur Krankenversorgung verbunden ist.
Schließlich möchte ich aus aktuellem Anlass - am
vergangenen Montag haben wir im Rahmen des Energiegipfels darüber gesprochen - noch auf Folgendes aufmerksam machen: In dieser Legislaturperiode werden,
sowohl durch dieses Programm als auch durch zusätzliche Mittel der verschiedenen Ressorts, weitere 2 Milliarden Euro für die Energieforschung zur Verfügung gestellt. Auch in diesem Zusammenhang wünsche ich mir
eine gute Zusammenarbeit der verschiedenen Häuser.
Durch dieses breit angelegte Forschungsprogramm werden wir einen Beitrag zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit, zum Schutz unserer Energieressourcen
und zur Entwicklung neuer Technologien leisten. So
weit zur Information des Parlaments.
Herzlichen Dank. - Die erste Frage zu diesem Themenbereich stellt Cornelia Hirsch, Die Linke.
Frau Ministerin, da der Pakt für Forschung und Innovation, den Sie vorgestellt haben, in irgendeiner Form
getragen werden muss, lautet meine Frage: Inwieweit ist
dieser Pakt mit den anderen bildungspolitischen Initiativen und Programmen, die Sie planen, abgestimmt? Wie
wollen Sie sicherstellen, dass sich die Menschen in die
Forschung einbringen können? Ich bitte Sie, zu sagen,
welche konkreten Initiativen Sie in dieser Richtung in
Angriff nehmen wollen.
Der Pakt für Forschung und Innovation ist zwischen
der Politik und den großen Forschungsorganisationen geschlossen worden. Sein Ziel besteht darin, auf der einen
Seite die öffentlichen Zuschüsse, die die großen Forschungsorganisationen - die Helmholtz-Gemeinschaft,
die Leibniz-Gemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft
und andere - bekommen, weiterzuentwickeln. Auf der
anderen Seite wurde vonseiten der Forschungsorganisationen die Zusage konzeptioneller Entwicklungen gemacht. Sowohl für die erste Säule als auch für die zweite
Säule ist es wichtig, eine stärkere Brücke zwischen Wissenschaft und Wirtschaft zu bauen und Hilfestellungen
bei Ausgründungen zu geben.
Die großen Forschungsorganisationen haben uns zugesagt, in genau diesen innovativen Bereichen mitzuwirken, selbst Initiativen zu ergreifen und, wenn Sie so wollen, die klassischen Strukturen der Forschungsförderung
gemeinsam mit uns weiterzuentwickeln. Sie sind die
Bündnispartner, mit denen wir diesen Pakt geschlossen
haben, für den für die Dauer der gesamten Legislaturperiode 3 Prozent Aufwuchs pro Jahr veranschlagt wurden.
Die nächste Frage stellt der Kollege Jörg Tauss, SPDFraktion.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Ich habe drei Fragen. Soll ich der Einfachheit halber alle drei Fragen auf
einmal stellen?
Das Beste wäre, Sie würden Ihre drei Fragen in einer
einzigen zusammenfassen.
({0})
Frau Ministerin, eine kurze Vorbemerkung: Selbstverständlich begrüßen wir dieses Programm sehr; auch im
zuständigen Ausschuss haben wir gerade über seine
Ausgestaltung gesprochen.
Der Hintergrund des 3-Prozent-Ziels ist, dass
Deutschland, was seine Aufwendungen für Forschung
und Entwicklung betrifft, in der Vergangenheit im internationalen Vergleich auf einem unbefriedigenden Platz
lag. Wir haben zwar im Vergleich mit anderen Staaten
aufgeholt, aber das Ziel, 3 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts für diesen Bereich zur Verfügung zu stellen, nicht erreicht.
Meine Frage lautet: Wenn wir das 6-Milliarden-EuroProgramm realisieren, welchen Platz kann Deutschland
nach Einschätzung der Bundesregierung dann in den
nächsten Jahren im europäischen und im globalen Vergleich einnehmen? Denn eine der wichtigen Fragen ist:
Welchen Beitrag leistet dieses Programm, um unsere Positionierung zu verbessern?
Indem wir das 3-Prozent-Ziel verfolgen, wollen wir
erreichen, dass Deutschland zu den ersten drei in Europa
gehört. Sie haben zu Recht die enorme Dynamik, die in
anderen Ländern, vor allen Dingen im südostasiatischen
Raum, zu beobachten ist, angesprochen. Was Europa angeht, so wollen wir durch das 3-Prozent-Ziel ein Motor
sein; auch bei vielen anderen Themen setzen wir stark
auf die europäische Zusammenarbeit.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel, das auch Ihre Frage,
welchen Platz Deutschland einnehmen wird, betrifft: Die
öffentlichen Investitionen in die Energieforschung, die
für Europa insgesamt bedeutsam ist, weil der Abstand zu
anderen Teilen der Welt größer wird, sind in den vergangenen Jahren um 40 Prozent zurückgegangen.
Die 2 Milliarden Euro, die quer über die Häuser für
diese Legislaturperiode vorgesehen sind, bedeuten eine
Steigerung um 30 Prozent; damit werden wir im europäischen energiepolitischen Dialog eine große Rolle
spielen.
({0})
Die nächste Frage hat die Kollegin Priska Hinz,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Ministerin, wenn man die Nachrichten in den
Medien verfolgt, hat man manchmal den Eindruck, die
6 Milliarden Euro seien schon dreimal ausgegeben. Deswegen meine Frage: Wie sind die 6 Milliarden Euro in
den nächsten Jahren genau aufgeteilt auf die einzelnen
Forschungsbereiche und auf die einzelnen Ressorts?
Die 6 Milliarden Euro sind auf die einzelnen Ressorts
wie folgt aufgeteilt: Rund 4 Milliarden Euro gehen an
das Forschungsministerium; hier werden wir entsprechend dem Koalitionsvertrag besonders die Mittel für
die Projektförderung erhöhen. Im Übrigen - deshalb
habe ich von Säulen gesprochen - ist insbesondere die
dritte Säule, die Exzellenzinitiative und der Pakt für Forschung und Innovation, stark. Der zweitgrößte Anteil
geht an das Wirtschaftsministerium: 1,245 Milliarden
Euro. Rund 200 Millionen Euro gehen an das Verkehrsministerium; hier werden vor allen Dingen Initiativen
und Strategien im Bereich Mobilität sowie zu Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologien angesiedelt sein.
160 Millionen Euro fließen an das Bundesumweltministerium. Das Auswärtige Amt bekommt 100 Millionen
Euro für den internationalen Wissenschaftleraustausch.
Das Innenministerium erhält 80 Millionen Euro für Informations- und Sicherheitstechnologien. Das Verteidigungsministerium erhält 206 Millionen Euro für militärische Forschung und Entwicklung. Kleinere Beträge,
insgesamt 33,5 Millionen Euro, verteilen sich auf das
Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung und das Gesundheitsministerium. Das ist
die Aufschlüsselung der insgesamt 6 Milliarden Euro.
Man könnte jetzt noch die unterschiedlichen Anteile auf
die einzelnen Jahre bezogen aufführen; aber ich gehe davon aus, dass Ihnen das zur Verfügung gestellt wird.
Herr Mücke bitte, FDP-Fraktion.
Frau Bundesministerin, ich habe meinen Wahlkreis in
der Stadt der Wissenschaft 2006, in Dresden. Trotz der
Tatsache, dass wir Stadt der Wissenschaft geworden
sind, ist es uns im Rahmen der Exzellenzinitiative der
Bundesregierung nicht gelungen, auch nur einen einzigen ostdeutschen Hochschulstandort in die Reihe der
Eliteuniversitäten zu bringen. Ferner muss man feststellen, dass die Forschungsaktivitäten in den neuen Ländern aufgrund der fehlenden Industrielandschaft insgesamt viel schwächer ausgebildet sind als in den alten
Ländern. Deshalb liegt für mich die Frage auf der Hand,
wie hoch der Anteil des 6-Milliarden-Euro-Programms
für Forschung und Entwicklung sein wird, der in den
neuen Ländern ausgegeben werden wird.
Zunächst einmal: Selbstverständlich werden alle großen Forschungsinstitute - denken Sie an die MaxPlanck-Gesellschaft oder die Fraunhofer-Gesellschaft sowohl im Großraum Dresden/Leipzig als auch an vielen
anderen Stellen von dem 3-Prozent-Aufwuchs profitieren. Die Exzellenzinitiative ist ein wettbewerbliches
Verfahren; deshalb kann ich keine Anteile nennen. Ich
glaube aber, dass man nicht schon nach der ersten Zwischenrunde - bis zum 20. April müssen die Bewerbungen eingehen; im Oktober wird es dann die Entscheidungen geben - sagen sollte, es wird Regionen geben, die
keinerlei Anteil daran haben. Insider sagen, dass die allerersten Ergebnisse bestätigen, was wir an Entwicklungen in den letzten Jahren gesehen haben: Da, wo es sehr
lange, Jahrzehnte währende Entwicklungen gibt, kann
jetzt geerntet werden. Aber es wird in den nächsten Jahren auch woanders geerntet werden, vor allen Dingen
was Graduiertenschulen und was die ersten beiden Säulen der Exzellenzinitiative angeht. Ein Schwerpunkt
wird in der Verstärkung des so genannten Inno-RegioWettbewerbs liegen. In einem Satz gesagt: Die Förderung der Entwicklung von Wachstumskernen hin zu Innovationskernen ist ein besonders gutes und, wie ich
finde, erfolgreiches Beispiel für die Zusammenarbeit
von Universitäten, außeruniversitären Einrichtungen und
Unternehmen. Im Übrigen handelt es sich hier um viele
kleine und mittlere Unternehmen etwa im Bereich der
Biotechnologie und der Medizin. Dies ist in meinen Augen das Herzstück der Förderung für die neuen Länder,
weil dies ganz stark auf die Kooperation und Entwicklung sowie auf die Verstärkung regionaler Entwicklungen ausgerichtet ist und weil dies nach den bisherigen
Erfahrungen auch am meisten geeignet ist, der Gründung zusätzlicher Unternehmen eine Chance zu geben.
Sie haben eine Nachfrage? - Bitte schön.
Die Nachfrage lautet einfach: Sehen Sie sich in der
Lage, wenigstens einen ungefähren Betrag zu nennen?
Nein, ich glaube, dass es nicht sinnvoll ist, einen ungefähren Betrag zu nennen. Ich kann den Betrag des Titels Inno-Regio benennen; das kann ich gerne nachsehen. Ich glaube aber, dass jeder Betrag, den ich nenne,
im Zweifelsfall kleiner als das sein wird, was tatsächlich
möglich ist, weil die Exzellenzinitiative noch unentschieden ist.
Die nächste Frage kommt von Michael Kretschmer,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Ministerin, es wird derzeit viel über Gesundheitspolitik gesprochen. Können Sie uns sagen, wie im Rahmen dieses 6-Milliarden-Euro-Investitionsprogramms
vorgesehen ist, die Gesundheitsforschung in Deutschland zu verstärken?
Die Gesundheitsforschung wird vor allem in mehreren Leuchttürmen weiterentwickelt werden, die zum
Ersten an dem hohen Standard anschließen, den wir in
der Medizintechnik erreicht haben - Schlagwort: Hightech für die Medizin zur weiteren Optimierung Bild gebender Verfahren.
Das Zweite ist der genannte Punkt Klinische Forschung für Gesundheit. In einem Satz gesagt heißt das:
Patientinnen und Patienten sollen rascher von den Forschungsergebnissen in der Gesundheitsversorgung profitieren.
Der dritte und von mir noch nicht genannte Leuchtturm lautet Innovation Neurowissenschaften. Mit neuesten wissenschaftlichen Methoden der Kombination aus
Experiment und Computersimulation wollen wir eine
deutliche Bescheunigung des Forschungsfortschritts bewirken und damit vor allen Dingen Impulse geben, die
für die Diagnose und Behandlung von Erkrankungen des
Nervensystems, für die Entwicklung einer neuen hochleistungsfähigen Rechnergeneration und darüber hinaus
sogar auch für den Bildungsbereich interessant sind.
Das sind drei Leuchtturmvorhaben, mit denen wir
2006 beginnen. Wir arbeiten aber bereits jetzt an weiteren Akzenten für die nächsten Jahre, also für die Zeit ab
2007. Für mich liegt in der Verbindung von Altersforschung und Gesundheitsforschung ein Schwerpunkt. Ich
nenne die Stichworte Alzheimer und Konsequenzen von
Ernährungsgewohnheiten für Alterungsprozesse. In diesem Bereich werden wir mit Programmen, die im Laufe
dieses Jahres verabschiedet bzw. beraten werden, Akzente setzen.
Die Kollegin Petra Sitte hat die nächste Frage.
Sie haben in Ihrer Presseerklärung vom 31. März dieses Jahres zu diesem Programm unter anderem formuliert, jeder staatlich investierte Euro ziehe Investitionen
der Privatwirtschaft nach sich. Sie sagten:
Wir bauen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft
die starken Brücken, auf denen unser Wohlstand
ruht.
Unter diesem Blickwinkel will ich fragen.
Das heißt ja, dieses Programm dürfte für kleine und
mittelständische innovative Unternehmen eine besondere Bedeutung haben. Deshalb frage ich nach den
Kernpunkten der Veränderungen bzw. Verbesserungen
innerhalb dieses Programms für diesen Kreis, und zwar
auch unter dem Blickwinkel der Beschäftigungsperspektiven für qualifizierte junge Leute.
Danke.
Erster Punkt. Dieses Ziel ist in die gesamte Anlage
der Hightech-Strategie aufgenommen worden. Wenn ich
„Nano geht in die Produktion“ sage, dann betrifft das vor
allen Dingen Branchen wie die Automobilindustrie, den
Maschinenbau und den Anlagenbau. So wie wir die Programme nach einem Dialog mit der Wirtschaft ausschreiben, soll sich dies auf die Investitionen der Unternehmen unmittelbar auswirken können. Jede Investition
in die Forschung seitens eines Unternehmens hat über
kurz oder lang auch beschäftigungspolitische Konsequenzen.
Der zweite Punkt betrifft die zweite Säule, also die
unmittelbaren Maßnahmen. Zum einen wird die Innovationsbeteiligung kleinerer und mittlerer Unternehmen erhöht. Bisher ist es so, dass etwa 35 Prozent der Fördermittel, die die Bundesregierung im Rahmen der direkten
Projektförderung von Spitzen- und Querschnittstechnologien vergibt, in den Bereich von KMU geht. Wir wollen
diesen Anteil erhöhen, sodass künftig rund 70 Prozent aller Zuwendungsempfänger in den Fachprogrammen der
Forschungsförderung zu den kleinen und mittleren Unternehmen gehören. Dazu gehört zum Beispiel eine Erhöhung der jeweiligen Forschungsförderungssumme für
das Unternehmen.
Zum anderen ist hier das Programm Pro Inno II zu
nennen, das die Vernetzung kleinerer und mittlerer Unternehmen untereinander und mit Forschungseinrichtungen zum Ziel hat. Die Mittel für dieses Programm werden deutlich aufgestockt werden. Künftig sollen auch
solche Unternehmen gefördert werden, die erstmalig ein
Forschungsvorhaben durchführen und sich mit diesem
Forschungsvorhaben auf spätere F-und-E-Kooperationen mit anderen Unternehmen oder Forschungseinrichtungen einlassen.
Der dritte Punkt ist das Programm zur Förderung innovativer Wachstumsträger, das ich eben schon einmal
im Zusammenhang mit den neuen Bundesländern
genannt habe. Hier sollen im Rahmen von F-und-E-ProBundesministerin Dr. Annette Schavan
jekten erstmalig Gründer von jungen Technologieunternehmen aufgenommen werden. Neu ist auch die Finanzierung grundlagenorientierter F-und-E-Vorhaben von
externen Industrieforschungseinrichtungen zur Erhöhung der Forschungskompetenz.
Außerdem wird daran gedacht, die Innovationsfinanzierung - Stichwort Zinsverbilligung - zu verbessern.
Der kürzlich eingerichtete Hightechgründungsfonds
wird weiterentwickelt. Zusätzliche Mittel für Patent- und
Verwertungsagenturen sowie für Aktivitäten zur Stimulierung von Existenzgründungen aus Hochschulen werden zur Verfügung gestellt. Das ist auch für die neuen
Bundesländer ein ganz interessanter Aspekt.
Schließlich ist im Bereich der Biotechnologie die
Gründungsinitiative Go-Bio hervorzuheben, eine neue
und einzigartige Förderinitiative und auch Gründungsoffensive in der Biotechnologie. Ich habe dazu gerade in
den letzten Tagen ein Gespräch geführt. Hier können vor
allen Dingen kleine Unternehmen, denen wir bessere
Möglichkeiten der Vernetzung bieten wollen, einen zusätzlichen Schub erhalten.
Das sind die Hauptstichworte für die Programme, die
2006 beginnen. Diese werden wir laufend weiterentwickeln. Dann steht die Frage, über die wir eben im Ausschuss gesprochen haben, im Raum: Gibt es darüber
hinaus zu den Themen Forschungsprämie oder Innovationsfonds für die Beteiligten noch wirksame Möglichkeiten?
Die nächste Frage stellt die Kollegin Krista Sager,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Ministerin, in welcher Weise können der Deutsche Akademische Austauschdienst und die Alexandervon-Humboldt-Stiftung an den Mittelaufwüchsen teilhaben? Werden sie den Wissenschaftsorganisationen
gleichgestellt, die davon im Rahmen des Pakts für Forschung und Innovation profitieren?
Sie wissen, dass unter der Vorgängerregierung der
Pakt für Forschung und Innovation in den vergangenen
Jahren ohne die beiden Organisationen abgeschlossen
war. Bislang gibt es noch keine Veränderung, zumal eine
solche Veränderung nicht nur die beiden Organisationen
betreffen würde. Aber beide Organisationen werden insofern am Aufwuchs und an einer Weiterentwicklung
Anteil haben, als die 100 Millionen Euro, die das Auswärtige Amt erhält, und der Betrag, der dem BMZ zukommt - gerade im Hinblick auf den Wissenschaftleraustausch -, für die Verstärkung der Aktivitäten dieser
beiden Organisationen vorgesehen sind.
Die nächste Frage hat der Kollege Swen Schulz, SPDFraktion.
Frau Ministerin, wir haben in den letzten Wochen
eine intensive Diskussion über die Zukunft der Energieversorgung in Deutschland geführt. Mich interessiert,
welchen spezifischen Beitrag das Forschungsprogramm
zu der Beantwortung dieser Frage leistet.
Die Planung der Bundesregierung bezieht sich für den
Zeitraum 2006 bis 2009 einschließlich auf Investitionen
in Höhe von insgesamt 2 Milliarden Euro. Wir haben
dies den Unternehmern am Montagabend mitgeteilt und
werden jetzt mit ihnen die Strategie entwickeln, wie
diese Investitionen des Bundes durch entsprechende Investitionen der Wirtschaft zu ergänzen und zu vervielfachen sind.
Es wird im Wesentlichen darum gehen, neue Energiequellen zu erschließen und Versorgungssicherheit herzustellen. Ich nenne einige Stichworte, auf die sich die
Projekte der unterschiedlichen Häuser beziehen. Aus
dem 6-Milliarden-Euro-Programm sollen vor allem Investitionen in moderne Kraftstofftechnologien auf Basis
von Kohle und Gas - Stichwort CO2 -, Wasserstoff- und
Brennstoffzellentechnologie, Technologien und Verfahren für energieoptimiertes Bauen und Wohnen, effiziente
Energienutzung - da haben übrigens gestern die Partner
für Innovation auch eine Reihe von interessanten und detaillierten Vorschlägen gemacht -, Forschung im Bereich
erneuerbarer Energien und nukleare Sicherheits- und
Endlagerforschung erfolgen. Zwischen dem BMU und
dem BMBF sind in den letzten Tagen außerdem ein gemeinsames Programm zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in den Bereichen Strahlenschutz und
Kernenergiesicherheit und ein gemeinsames zusätzliches
Programm im Bereich der Ressourceneffizienz vereinbart worden.
Die nächste Frage hat die Kollegin Cornelia Pieper,
FDP-Fraktion.
Frau Ministerin, in Ihrem 6-Milliarden-Euro-Programm sind für die nächsten Jahre auch höhere Investitionen in Großgeräte vorgesehen. Das spiegelt sich
schon im Haushalt 2006 wider.
Die Bundesregierung hat bereits in der Koalitionsvereinbarung festgestellt, dass es - das zeigt auch ein Blick
auf die Landkarte - in den alten Bundesländern hervorragende Forschungseinrichtungen mit entsprechenden
Großgeräten gibt. Es fehlt aber eine Großforschungseinrichtung in den neuen Bundesländern.
Sie haben sich dazu bekannt. Wird die Bundesregierung im Rahmen des 6-Milliarden-Euro-Programms eine
neue Initiative für ein solches Großgerät in den neuen
Bundesländern ergreifen und wird dieses Vorhaben eine
europäische Dimension haben?
Sie wissen, dass im europäischen Kontext über Listen
diskutiert wird. Konkret geht es - schon seit geraumer
Zeit - um das Thema Neutronenspallationsanlage in den
neuen Bundesländern, und zwar im Großraum Leipzig.
Wenn es - das ist seitens der betroffenen Bundesländer
in den entsprechenden Gremien vorgetragen worden eine Chance zugunsten der Entscheidung für ein solches
Großgerät an einem Standort in Deutschland gibt, dann
wird dieses Vorhaben selbstverständlich unterstützt werden. Unsere Einschätzung ist allerdings derzeit, dass es
eine solche Entscheidung nicht geben und dass auch eine
weitere Initiative Deutschlands - dass die betroffenen
Regionen daran interessiert sind, ist bekannt - nichts daran ändern wird. Deshalb ist nach bisheriger Planung die
Konzentration auf die in dem Programm beschriebenen
drei Großprojekte vorgesehen.
Herr Kollege Johann-Henrich Krummacher, bitte.
Frau Ministerin, es ist sehr ermutigend, dass mit dem
6-Milliarden-Euro-Programm starke Impulse für Innovation und Wachstum gegeben werden. Wir befinden uns
dabei in einem globalen Wettbewerb. Deshalb hätte ich
gerne Auskunft darüber, wie die öffentlich finanzierte
Forschung in Deutschland im Vergleich zu unseren
Wettbewerbern in den USA, Großbritannien oder Asien
- vor allem in Indien - in den vergangenen Jahren aufgestockt worden ist.
Dem Kabinett hat in der heutigen Sitzung auch der
Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands vorgelegen. Daraus ist sehr deutlich ersichtlich,
dass wir in Deutschland zwar ein hohes Niveau - auch
bei den Forschungsinvestitionen - erreicht haben, dass
aber die Dynamik vor allem in Südostasien deutlich stärker ist. Der Anteil der Investitionen in Forschung und
Entwicklung am BIP ist etwa in Japan, China und den
USA höher als in Deutschland. Während unser Anteil
bei 2,55 Prozent liegt, liegt er in den genannten Ländern
bei 3,4, 3,7 bzw. 3,9 Prozent, und das bei anhaltend
großer Dynamik. Im europäischen Kontext stehen wir
mit unserem Anteil nicht schlecht da. Aber wir wollen
das 3-Prozent-Ziel, dieses wichtige strategische Ziel der
Lissabonstrategie, auf jeden Fall erreichen.
Frau Kollegin Lötzsch.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Ministerin, Sie
haben ausgeführt, dass Sie mit dem 6-Milliarden-EuroProgramm - das habe ich mit großem Interesse vernommen - auch kleine und mittlere Unternehmen unterstützen wollen. Nun haben wir in den neuen Bundesländern
die Entwicklung zu verzeichnen, dass viele Forschungsabteilungen durch die Abwicklung großer Industriebetriebe und der Akademie der Wissenschaften weggefallen sind. Es gibt dort zwar viele kleine innovative
Unternehmen. Aber diese können es sich nicht leisten,
Grundlagen- und Industrieforschung in großem Umfang
zu betreiben. Haben Sie konkrete Projekte zur Unterstützung gerade dieser Unternehmen durch Zurverfügungstellung von Kapazitäten für Grundlagen- und Industrieforschung innerhalb des Programms entwickelt?
Das ist bei der geplanten deutlichen Aufstockung der
Mittel für das Programm zur Förderung innovativer
Wachstumsträger berücksichtigt. Hier geht es insbesondere um die Unterstützung von Forschungsvorhaben
kleinerer und mittlerer Unternehmen durch Kooperation
mit externen Industrieforschungseinrichtungen in den
neuen Bundesländern. Zudem soll die Förderung schnell
wachsender Unternehmen intensiviert werden. Des Weiteren sollen die Mittel für die Gründung von Technologieunternehmen - das ist schon stichwortartig angesprochen worden - aufgestockt werden.
Herr Kollege Röspel, bitte.
Frau Ministerin, das 3-Prozent-Ziel, also 3 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben, ist schon erwähnt worden. In den letzten sieben Jahren ist der entsprechende Haushaltsansatz
um 20 Prozent erhöht worden. Mit dem nun aufgelegten
6-Milliarden-Euro-Programm werden wir einen weiteren
guten Schritt nach vorne tun. Es ist nicht nur ein Programm für Bildung und Forschung, sondern auch ein
Wirtschaftsförderungsprogramm. Allerdings kann es
nicht nur Aufgabe des Staates sein, Forschung und Entwicklung zu fördern, sondern es sollte auch Aufgabe der
Wirtschaft sein.
Meine Frage lautet daher, ob wir nicht an die Wirtschaft appellieren müssten - vielleicht sehen Sie und
eventuell der Wirtschaftsminister noch andere Möglichkeiten -, stärker in Forschung und Entwicklung zu investieren, wie es in anderen Ländern der Fall ist.
Sowohl das Wirtschaftsministerium als auch mein
Haus und die anderen an den F-und-E-Investitionen beteiligten Ministerien werden in den jeweiligen Branchen
nicht nur werben und appellieren. Vielmehr geht es auch
darum, auf der Grundlage konkreter Programme über Investitionen in den Unternehmen zu reden. Wir haben das
bereits auf dem Energiegipfel am vergangenen Montag
angesprochen. Wie ich finde, haben wir eine sehr konstruktive Resonanz darauf bekommen. Dass die Mittel
seitens der Bundesregierung für die Energieforschung
um 30 Prozent steigen, nachdem sie um 40 Prozent gesunken sind, ist ein starkes Signal. In der Arbeitsgruppe
„Effizienz und Forschung“ wird in den nächsten Wochen
über Projekte gesprochen, die zu der angestrebten Kofinanzierung durch die Wirtschaft - auf jeden öffentlichen Euro kommen mindestens 2 privatwirtschaftliche
Euro - führen sollen. Ich bin davon überzeugt, dass wir
das nach Branchen unterteilt tun sollten.
Gestern Abend wurde über die Projekte der Impulskreise „Partner für Innovation“ gesprochen. Auch hier
wird deutlich, dass für viele Bereiche - Stichworte Mobilität, Werkstoffinnovationen, Gesundheitsforschung Vorschläge auf dem Tisch liegen, auf die wir nun bei der
Weiterentwicklung der Strategie gut eingehen können.
Es ist von den Impulskreisen selbst angedacht worden,
dass es hierbei zu einer Public-Private Partnership kommen soll. Es bestehen also gute Chancen, den Weg von
Beginn an gemeinsam zu gehen.
So wird es auch bei den anderen Branchen sein: Wir
werden sehr stark darauf achten, nicht einfach nur Programme aufzulegen, sondern jeweils auch den Dialog
mit der Wirtschaft zu führen. In meinem Hause wird es
eigens zu einem Dialog zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik kommen, um die entsprechenden Strategien für die einzelnen Branchen zu entwickeln, und
zwar unter Beteiligung der jeweiligen Häuser.
Für weitere Fragen zu diesem Thema oder anderen
Themen aus der Kabinettssitzung oder darüber hinaus
steht uns keine Zeit mehr zur Verfügung. Deswegen beende ich an dieser Stelle die Befragung der Bundesregierung.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 16/1098, 16/1121 Gemäß Nr. 10 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde rufe ich zunächst die dringliche Frage der Abgeordneten Anja Hajduk, Drucksache 16/1121, auf:
Wie begründet die Bundesregierung die Vorlage einer Garantie für einen ungebundenen Finanzkredit zugunsten von
Gasprom an den Haushaltsausschuss in dieser Woche angesichts der Tatsache, dass Gasprom den Kredit von 1 Milliarde Euro, bereitgestellt durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau und die Deutsche Bank, gar nicht in Anspruch nehmen
will, wie der Äußerung des Aufsichtsratsvorsitzenden des
nordeuropäischen Gaspipelineprojekts, des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder, in der „Frankfurter Allgemeinen
Zeitung“ vom 3. April 2006 zu entnehmen ist?
Zur Beantwortung steht die Kollegin Barbara
Hendricks zur Verfügung.
Frau Kollegin Hajduk, es handelt sich um die turnusmäßige Unterrichtung des Haushaltsausschusses über
die Übernahme von Bürgschaften bei Großprojekten im
Ausland.
({0})
Frau Hajduk, eine Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, wie kann die Bundesregierung
ausschließen, dass beim früheren Staatssekretär Caio
Koch-Weser im Zusammenhang mit dem Gegenstand
der Unterrichtung, der beabsichtigten Gewährleistung,
zu keiner Zeit eine Interessenkollision zwischen seiner
Tätigkeit im BMF und seiner jetzigen Tätigkeit für die
Deutsche Bank vorlag? Aktuellen Pressemeldungen ist
zu entnehmen, dass die Garantie für den auch von der
Deutschen Bank bereitgestellten Kredit seitens des BMF
von Caio Koch-Weser genehmigt wurde.
Es ist in der Tat richtig, dass die Garantie seitens des
BMF vom Staatssekretär Caio Koch-Weser abgezeichnet
wurde. Sie wurde vom zuständigen Referat empfohlen.
Dies wurde vom Unterabteilungsleiter und vom Abteilungsleiter abgezeichnet. Staatssekretär Caio KochWeser hat für das BMF endgezeichnet. Allerdings hatte
das zuständige Bundesministerium für Wirtschaft und
Arbeit die Förderungswürdigkeit des Projektes bestätigt,
insbesondere im Hinblick auf die Energieversorgung in
der Bundesrepublik Deutschland.
Auch aus heutiger Sicht ist die Übernahme der Garantie fachlich gerechtfertigt. Die mit der Übernahme verbundenen Risiken sind auch aus haushaltsrechtlicher
Sicht vertretbar. Es wäre in der Tat besser gewesen,
wenn Staatssekretär Caio Koch-Weser den Anschein einer Befangenheit vermieden hätte und einen anderen
Staatssekretär die Unterschrift hätte leisten lassen. Dieser wäre allerdings fachlich zu keinem anderen Ergebnis
gekommen; auch dann wäre die Genehmigung erteilt
worden.
Frau Hajduk, eine weitere Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, wie erklärt es sich eingedenk
Ihrer Antwort, dass im Zusammenhang mit der Genehmigung der Tätigkeit von Herrn Koch-Weser für die
Deutsche Bank, in deren Vorfeld das Bundesministerium
der Finanzen eine Überprüfung durchführen musste, bei
der Beratung im Haushaltsausschuss vonseiten der Bundesregierung gesagt wurde, Herr Koch-Weser habe im
besagten Zeitraum mit Blick auf die Deutsche Bank
keine Entscheidung von Gewicht getroffen?
Er hat in dem Zusammenhang in der Tat keine Entscheidung von Gewicht getroffen, denn die Entscheidung wurde im Wesentlichen und federführend vom
Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit getroffen.
Das Bundesfinanzministerium hat diese Entscheidung
selbstverständlich mitgetragen. Ich darf Ihnen zum Hintergrund sagen, dass der interministerielle Ausschuss,
der über die Erteilung solcher Garantien für Kredite berät, in der Regel aus Referatsleitern des Bundesministeriums für Wirtschaft - damals Bundesministerium für
Wirtschaft und Arbeit -, des Bundesministeriums der Finanzen, des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und des Auswärtigen Amtes besteht. Dieser interministerielle Ausschuss trifft eine Entscheidung,
die sich an den Vorgaben durch die Leitungen der jeweiligen Häuser orientiert. Wie Sie wissen, hat Bundesminister a. D. Clement schon erklärt, dass er das damals federführend abgezeichnet hat. In der Tat war das
Bundesministerium der Finanzen bis zur Ebene des beamteten Staatssekretärs Koch-Weser an dieser Entscheidung beteiligt.
Ich habe nur gesagt: Es wäre gut gewesen, wenn Herr
Koch-Weser auch nur den Anschein einer Verquickung
vermieden hätte. Andererseits wäre es im Ergebnis zu
keiner anderen Entscheidung gekommen; denn diese
Entscheidung ist auch aus heutiger Sicht sachgerecht. Insofern ist sie Herrn Koch-Weser vom Inhalt her nicht
vorzuwerfen. Er hätte einen solchen Anschein allerdings
vermeiden können.
Jetzt die Nachfrage von Frau Lötzsch, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Staatssekretärin, mich interessiert, wie Sie die Beteiligung an einer
Entscheidung und das Treffen einer Entscheidung inhaltlich und semantisch trennen wollen. Diese Unterscheidung haben Sie eben in der Antwort auf die Frage von
Frau Hajduk gemacht. Aber das ist nur eine Vorbemerkung.
Ich möchte von Ihnen gerne wissen, ob Sie die sehr
unterschiedlichen Bewertungen der Bundesministerien,
was diesen Vorgang betrifft, zum Anlass nehmen, erstens, dem Bundestag einen Bericht darüber vorzulegen,
wer wann an welcher Entscheidung wirklich beteiligt
war, und zweitens, ob Sie die Auffassung des Bundesministers Glos teilen, dass solche schwerwiegenden Entscheidungen nicht in einer Interimszeit, also in der Zeit
zwischen Regierungsende und Regierungsbeginn, getroffen werden sollen?
Frau Kollegin, mir sind unterschiedliche Einlassungen der Bundesressorts zu diesem Thema nicht bekannt.
Ich kann das insofern nicht bestätigen. Wenn zum Beispiel der Haushaltsausschuss in diesem Zusammenhang
- er wird sich mit dieser Fragestellung und auch mit anderen Garantievergaben in diesen Tagen, heute oder
morgen, befassen; Fragen dieser Art werden dem Haushaltsausschuss turnusmäßig zugeleitet - darum bittet,
dass ihm der Zeitplan der Entscheidung vorgelegt wird,
dann wird das selbstverständlich geschehen. Ich denke,
er wird Vergleichbares heute Nachmittag oder morgen
fordern und dann wird die Bundesregierung das selbstverständlich offen legen.
Ich weiß nicht, ob Herr Glos sich so geäußert hat.
({0})
Ich glaube aber nicht, dass es darauf ankommt, solche
Entscheidungen nicht in einer, wie es heißt, Übergangszeit zu fällen. Es handelt sich in der Tat um ein normales
Verwaltungsverfahren. Das muss man vielleicht deutlich
machen. Ja, der Umfang dieses Kredites ist nicht klein.
Angesichts des Gläubigers, um den es geht, ist dieser
Umfang allerdings völlig unbedenklich, auch aus haushaltsrechtlicher Sicht. Das Unternehmen Gasprom ist ein
bonitätsmäßig sehr gut zu bewertendes Unternehmen.
Seit 1995 hat der Bund für insgesamt zehn Projekte deutscher Exporteure mit Gasprom Deckungen im Bereich
der Exportkreditfinanzierung mit einem Gesamtvolumen
von 1,5 Milliarden Euro übernommen, zum Beispiel für
das Gaspipelineprojekt Euro-Yamal. Alle Zahlungen erfolgen pünktlich.
Sie erkennen daran, dass es solche Verbürgungen seit
1995, also seit mehr als zehn Jahren, unter Beteiligung
aller politischen Farben an der Bundesregierung mit
Ausnahme der der Linken gegeben hat. Es ist also ein
völlig normales und übliches Verwaltungsgeschäft. Unsere Verfassung sieht gerade vor, dass eine Regierung so
lange im Amt bleibt, bis eine neue kommt, damit normale Verwaltungsgeschäfte gemacht werden können.
Die nächste Nachfrage kommt von dem Kollegen
Volker Beck.
Frau Staatssekretärin, selbstverständlich muss man
handlungsfähig sein, auch nach einer Bundestagswahl.
Wenn alles korrekt gelaufen ist, dann ist dieser Kredit
grundsätzlich auch nicht zu kritisieren. Gleichwohl muss
man diese Nachfragen natürlich klären. Ich denke, diese
Klärung wird im Ausschuss noch fortgesetzt werden
können.
Mich interessiert ein weiterer Aspekt: Welche Stellen
der Bundesregierung, insbesondere welche Mitglieder
der Bundesregierung, waren über den Tatbestand dieser
Zusage informiert? Wann waren welche Stellen einbezogen? Sind auch Stellen des Bundeskanzleramtes in diesen Vorgang einbezogen oder nachträglich unterrichtet
worden?
Nein, es waren keine Stellen des Bundeskanzleramts
einbezogen. Es sind auch keine Stellen des Bundeskanzleramts nachträglich unterrichtet worden. Das Verfahren
ist rite gelaufen - unter Beteiligung der Häuser, die ich
eben schon aufgezählt hatte. Federführend war das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, das heutige
Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, und
beteiligt waren das Auswärtige Amt, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und das Bundesministerium der Finanzen. Der inParl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
terministerielle Ausschuss ist in der Regel auf
Referatsleiterebene besetzt. Dieser Ausschuss ist vorbereitend tätig, was ungebundene Finanzkredite anbelangt.
Der interministerielle Ausschuss hat am 24. Oktober
getagt. Was das Bundesministerium der Finanzen anbelangt, so kann ich aus den Akten sagen, dass die Vorlage
mit Schreiben vom 25. Oktober mit der Bitte um Zustimmung an den Staatssekretär Koch-Weser gegangen ist.
Wie ich eben schon gesagt habe, war dies dazwischen
von dem zuständigen Unterabteilungsleiter und Abteilungsleiter abgezeichnet. Ich gehe davon aus, dass das in
den anderen Häusern in gleicher Weise erfolgt ist.
Für das Bundesministerium der Finanzen kann ich sagen: Bundesminister Eichel ist nicht beteiligt gewesen.
Ich bin auch nicht beteiligt gewesen. Wenn man sich sozusagen die Linie des Hauses ansieht, ist das so: Erst
kommt der Bundesminister, dann die Parlamentarische
Staatssekretärin und dann der beamtete Staatssekretär.
An dieser Linie - Ebene beamteter Staatssekretär - hat
bei uns die Endzeichnung für das Bundesministerium
der Finanzen stattgefunden. Ich gehe davon aus, dass das
in den anderen Häusern auch so war, mit Ausnahme natürlich des federführenden Bundesministeriums für
Wirtschaft und Arbeit, in dem der Bundesminister für
Wirtschaft und Arbeit die Endzeichnung vorgenommen
hat.
Es gibt eine weitere Nachfrage. Bitte, Frau
Lührmann.
Frau Staatssekretärin, unbestritten ist, dass die Verwaltung natürlich auch in der Zeit zwischen zwei Regierungen handlungsfähig sein muss. Vor dem Hintergrund
dessen, dass der Aufsichtsratsvorsitzende des Pipelineprojekts, der ehemalige Bundeskanzler Schröder, gesagt
hat, der Kredit und damit auch die Garantie würden gar
nicht in Anspruch genommen werden, möchte ich Sie
fragen, wie Sie die Dringlichkeit der Entscheidung - das
war sozusagen auch die letzte Amtshandlung von Exminister Clement - begründen.
In unserem Auftrag werden so genannte Mandatare
tätig, die zunächst einmal die Risiken bewerten. Das
macht für uns in diesem Zusammenhang die Firma
Pricewaterhouse-Coopers. Die Mandatare sind erstmals
im Februar 2005 an die beteiligten Häuser herangetreten
und haben erklärt, unabhängig von dem Unternehmen
Gasprom, es gebe vermehrt Nachfragen des Inhalts, ob
Energieprojekte - so möchte ich sie jetzt einmal bezeichnen - auch mit ungebundenen Finanzkrediten versehen
werden könnten. Aktuell gibt es zum Beispiel eine solche Frage betreffend ein Ölvorkommen in einem afrikanischen Land.
Die ungebundenen Finanzkredite sind eben nicht an
einen bestimmten Auftrag eines Unternehmens gebunden. Daneben gibt es die Exportbürgschaften, die wir
Hermesbürgschaften nennen. Sie kommen in folgendem
Fall zum Zuge: Ein deutsches Unternehmen will etwas
in ein anderes Land liefern und sieht dies mit einem Risiko behaftet, welches es sozusagen mit der öffentlichen
Hand teilen will. Aber dafür, dass die öffentliche Hand
einen Teil dieses Risikos übernimmt, muss Geld bezahlt
werden. Das ist natürlich weniger, als wenn man einen
Kredit nehmen würde, aber größenordnungsmäßig ist etwas unter bis etwas über 1 Prozent der Gesamtsumme zu
bezahlen. Wir verdienen Geld damit, weil sich die Risiken, die wir übernehmen, normalerweise nicht realisieren, aber jeder ja rund 1 Prozent dafür bezahlen muss,
dass es schief gehen könnte. Mit allen Bürgschaften verdienen wir als Bundesrepublik Deutschland im Schnitt
Geld, weil wir natürlich sehr gut prüfen, ob man dieses
Risiko wirklich eingehen kann.
Die Vorprüfung erfolgt also durch unsere Mandatare,
in diesem Fall die Firma Pricewaterhouse-Coopers. Die
sind zuerst im Februar des Jahres 2005 auf Arbeitsebene
an die beteiligten Ministerien herangetreten. Am
20. September haben sich die Mandatare erneut an die
Häuser gewandt. An diesem Tag fand eine Sitzung des
interministeriellen Ausschusses statt. Da wurde diskutiert, ob die Förderungswürdigkeit des Pipelineprojektes
unter dem Gesichtspunkt Energiesicherheit usw. gegeben sei. In unserem Haus ist dann eine Unterrichtungsvorlage an den zuständigen Staatssekretär gegangen. Ich
gehe davon aus, dass das auch in den anderen Häusern
der Fall war. Es ist klar, dass Referatsleiter nicht allein
eine solche Entscheidung treffen.
Am 13. Oktober ist ein formeller Deckungsantrag der
Kreditanstalt für Wiederaufbau und der Deutschen Bank
eingegangen - von deren Seite ausgehend. Sie hatten
aber auch von Anfang an gesagt, dass sie den voraussichtlich in der ersten Jahreshälfte abrufen wollten, dass
sozusagen im Vorhinein ein formeller Deckungsantrag
gestellt worden ist, um Klarheit darüber zu erlangen, ob
ein solcher Kredit zu einem späteren Zeitpunkt gedeckt
würde.
Am 18. Oktober wurde durch das zuständige Bundesministerium für Wirtschaft die rohstoffpolitische Förderungswürdigkeit unter dem Gesichtspunkt der Versorgungssicherheit der Bundesrepublik Deutschland
bestätigt. Daraufhin hat am 24. Oktober der interministerielle Ausschuss getagt und die grundsätzliche Deckungsübernahme empfohlen. Für unser Haus hat der
Referatsleiter diese Entscheidung unter Leitungsvorbehalt gestellt. Deswegen hat er die Vorlage an den Staatssekretär erstellt, der entsprechend dem Votum des zuständigen Referatsleiters die Zustimmung für das
Bundesministerium der Finanzen erteilt hat.
Jetzt gibt es noch einige weitere Nachfragen. Zunächst der Kollege Matthias Berninger.
Frau Staatssekretärin, Sie haben schon darauf hingewiesen, dass dieses Projekt mit 1 Milliarde Euro eine
besondere Größenordnung hat. Die Entscheidungen auf
den Leitungsebenen der Häuser sind sehr schnell erfolgt.
Wir beide wissen, dass das Tempo in öffentlichen Verwaltungen nicht immer so hoch ist. Können Sie also vor
dem Hintergrund des Volumens und der Bedeutung des
Projektes sowie der Schnelligkeit der Entscheidung ausschließen, dass die politische Leitung auf der Ebene des
Bundeskanzleramtes, des Wirtschaftsministeriums oder
des Finanzministeriums - seitens der Banken, seitens
des beteiligten Partners Gasprom oder aber seitens der
Mitarbeiter Ihrer Häuser - in das Projekt involviert worden ist?
Ich kann das für das Bundesministerium der Finanzen
ausschließen. Aufgrund der Aktenlage kann ich das auch
für die anderen Häuser ausschließen, mit Ausnahme des
Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit; in dem
Fall ist bekannt, dass der damalige Minister Clement das
vor dem Hintergrund der rohstoffpolitischen Förderungswürdigkeit abgezeichnet hat. Selbstverständlich
kann ich nicht ausschließen, dass irgendwann irgendwer
mit irgendjemandem gesprochen hat. Aber das kann man
nie ausschließen. Sie dürfen daraus nicht umgekehrt
schließen, dass ich annehmen würde, unter der Hand sei
darüber gesprochen worden. Es gibt keinen Anlass zu einer solchen Vermutung.
Herr Kollege Winkler, bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie haben eben im Zusammenhang mit der Vermeidung eines Anscheins von Interessenverquickung in Bezug auf Herrn Staatssekretär KochWeser gesagt, es wäre besser gewesen, er hätte einen anderen Staatssekretär zeichnen lassen. Wie bewerten Sie
denn vor diesem Hintergrund der Vermeidung eines Anscheins die Übernahme des Aufsichtsratsvorsitzes bei
der Firma Gasprom durch den Bundeskanzler?
Winkler heiße ich.
- Entschuldigung, Herr Kollege Winkler; wir duzen
uns normalerweise; da kann das mit dem Nachnamen
schon einmal schief gehen -, der Bundeskanzler ist zu
keinem Zeitpunkt mit dieser Fragestellung befasst gewesen. Im Übrigen - Sie mögen es für spitzfindig halten war bzw. ist dieser Kredit - wir haben noch keine offiziellen neuen Nachrichten darüber, ob der Kredit nun tatsächlich in Anspruch genommen werden soll oder nicht;
es gibt öffentliche Äußerungen dazu, offenbar auch von
dem Vorstandsvorsitzenden des Unternehmens Gasprom, aber bei uns ist offiziell noch keine neue Nachricht angekommen - für die so genannte Onshorepipeline, also für das, was auf dem Festland stattfindet,
beabsichtigt.
Der Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder ist der
Aufsichtsratsvorsitzende derjenigen Gesellschaft, die eigens für den Bau der Offshorepipeline unter der Ostsee
gegründet wurde.
Beide Gesellschaften haben verschiedene Eigentümer. Gasprom ist für den Teil der Pipeline verantwortlich, der auf russischem Festland verläuft. Für den Teil
der Pipeline, der unter der Ostsee von Sankt Petersburg
bis Greifswald verläuft - dieses Projekt ist für die deutsche, aber auch für die europäische Versorgungssicherheit von großer Bedeutung -, ist ein eigens gegründetes
Konsortium verantwortlich, an dem das Unternehmen
Gasprom 51 Prozent hält und die beiden deutschen Unternehmen Eon Ruhrgas und BASF zu gleichen Teilen
die anderen 49 Prozent halten.
Möglicherweise stellt sich demnächst die Frage, welchem Kollegen Fischer der Kollege Winkler ähnlich
sieht.
({0})
Nun zur letzten Nachfrage zu diesem Thema. Die
Kollegin Ute Koczy, bitte.
Danke. - Frau Staatssekretärin, bezogen auf die Förderwürdigkeit des Projektes und bezogen auf Ihre Anmerkung, dass auch etwas schief gehen könne, will ich
fragen: Gab es vonseiten der Bundesregierung irgendwelche Anforderungen an die Kreditierung dieses Projektes in Bezug auf soziale und ökologische Standards
beim Bau der Pipeline? Sind darüber mit den Mandataren der Bundesrepublik, Pricewaterhouse-Coopers, Gespräche geführt worden?
Eine weitere Frage: Sind Sie nicht ebenfalls der Auffassung, dass die Trennung in Onshorepipeline und Offshorepipeline nicht ganz korrekt ist, weil die Pipeline als
Ganzes gesehen werden muss?
Frau Kollegin, die Mandatare, die für die Bundesrepublik Deutschland in der Weise tätig werden, dass sie
das Risiko eines Projektes bewerten, kennen natürlich
die Regeln, die mit der Bürgschaftsvergabe durch die
Bundesrepublik Deutschland verbunden sind. Selbstverständlich prüfen sie unter diesem Gesichtspunkt nicht
nur dieses, sondern ein jedes Projekt.
Ich hatte eben bereits gesagt, dass man es möglicherweise als spitzfindig betrachten kann, wenn man zwischen der Pipeline auf dem Festland und der Pipeline unter Wasser unterscheidet. Aber das Projekt, um das es
hier geht, bezieht sich ausschließlich auf den Bau der
Pipeline auf dem Festland. Bundeskanzler a. D.
Schröder ist Aufsichtsratsvorsitzender der Gesellschaft
geworden, die sich ausschließlich um den Bau der Pipeline unter Wasser kümmert.
Es gibt also zwei unterschiedliche Gesellschaften.
Hinsichtlich des Aktienrechts ist das natürlich ein großer
Unterschied. Faktisch ist es aber so, dass die eine Pipeline ohne die andere keinen Sinn machen würde, weil
man das Gas, das zur Ostsee geleitet wird, nicht in die
Luft pusten will.
Damit sind wir am Ende der Beantwortung der dringlichen Frage.
Wir kommen jetzt zu den Fragen der Fragestunde auf
Drucksache 16/1098, die ich in der üblichen Reihenfolge
aufrufe.
Die Frage 1 des Kollegen Jürgen Trittin und die
Frage 2 der Kollegin Veronika Bellmann aus dem Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleramts werden schriftlich beantwortet.
Für die Beantwortung der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen steht weiterhin die Parlamentarische Staatssekretärin Frau
Hendricks zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 der Kollegin Dr. Barbara Höll
auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Feststellung des
Bundesverfassungsgerichts im Beschluss des Zweiten Senats
vom 18. Januar 2006 ({0}), dass sich aus dem in
Art. 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes
zum Ausdruck kommenden Maßstab keine allgemein verbindliche Belastungsobergrenze in der Nähe einer hälftigen
Teilung - Halbteilungsgrundsatz - zwischen Eigentümer und
Staat herleiten lässt, und welche Rückschlüsse zieht sie in diesem Zusammenhang für die Verfassungsmäßigkeit der Vermögensteuer?
Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme gegenüber dem Bundesverfassungsgericht zum Ausdruck
gebracht, dass die Verfassung keine starre Obergrenze
für die Ertragsteuerbelastung enthält. Die Bundesregierung ist also von diesem Urteil nicht negativ überrascht
worden, sondern sieht sich in ihrer Auffassung bestätigt.
Aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
vom 18. Januar 2006 ergeben sich allerdings nach Auffassung der Bundesregierung keine Rückschlüsse für die
Vermögensteuer. In der Vermögensteuerentscheidung, in
der der so genannte Halbteilungsgrundsatz formuliert
wurde, wurde die Vermögensteuer nicht wegen eines
Verstoßes gegen diesen Grundsatz, sondern wegen des
einheitlichen Steuertarifs bei divergierenden Bemessungsgrundlagen für verfassungswidrig erklärt.
Insbesondere die Unterschiedlichkeit der Bewertung
von Kapitalvermögen und Immobilienvermögen führte
zu diesem Urteil. Ich darf Sie daran erinnern, dass der so
genannte Halbteilungsgrundsatz auch nicht zu den Gründen des damaligen Urteils gezählt hat, sondern dass er
ein Obiter Dictum war, also etwas, das das Bundesverfassungsgericht dem geneigten Leser auch noch zur
Kenntnis gegeben hat.
Sie haben dazu eine Nachfrage? - Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, ich danke Ihnen für die Antwort. - Ihnen ist wie mir bekannt, dass die öffentliche
Diskussion zum damaligen Zeitpunkt und auch noch danach sehr wohl insoweit vom Halbteilungsgrundsatz dominiert wurde, als gesagt wurde, selbst bei einer Gleichbehandlung von Immobilien und anderen Formen von
Vermögen sei es nicht möglich, eine verfassungskonforme Neuformulierung des Vermögensteuergesetzes
vorzunehmen. Da wir nun meiner Interpretation nach
eine positive Bestätigung dafür haben, dass sich der
Halbteilungsgrundsatz in der Form, in der er formuliert
war - er erhielt damals nicht die einhellige Unterstützung des zuständigen Senats des Bundesverfassungsgerichts -, nicht aus der Verfassung ableiten lässt, würde
sich jetzt nicht auch vom gesellschaftlichen Umfeld her
die Möglichkeit eröffnen, die Vermögensbesteuerung
neu in Angriff zu nehmen, indem die verschiedenen Vermögensarten gleich besteuert werden würden? Es könnte
sich eine neue Einnahmequelle erschließen, wenn man
die Vermögensteuer wieder erhebt.
Frau Kollegin Höll, eine verfassungskonforme Ausgestaltung wäre zum jetzigen Zeitpunkt noch schwierig,
insbesondere deswegen, weil wir noch auf das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts zum Erbschaftsteuerrecht
warten. Würde dieses aber da sein, dann wären sicherlich die verfassungsrechtlichen Grundlagen dafür gegeben, die Vermögensbesteuerung wieder einzuführen.
Allerdings ist die Bundesregierung nicht der Auffassung, dass dies verteilungspolitisch erforderlich wäre.
Dem Umstand, dass starke Schultern mehr tragen können als schwache, wird im Steuerrecht bereits durch den
progressiven Einkommensteuertarif Rechnung getragen. Darüber hinaus plant die Bundesregierung, Spitzenverdiener auch im Interesse von mehr Steuergerechtigkeit zusätzlich mit einem dreiprozentigen Zuschlag auf
den Einkommensteuerhöchstsatz zu belasten. Eine Vermögensteuer läuft dem Ziel der Bundesregierung, Steuerbürokratie abzubauen, zuwider. Insbesondere die Befolgungskosten einer Vermögensteuer für Bürger und
Unternehmen sind beachtlich. Die Erhebungskosten
übersteigen, gemessen am generierten Aufkommen, definitiv die der Einkommensteuer und der Umsatzsteuer.
Einfach ausgedrückt: Es lohnt sich nicht so recht.
Im Übrigen ist die Bundesregierung hinsichtlich einer
Wiedererhebung der Vermögensteuer auch politisch
nicht in erster Linie gefordert. Da der Ertrag einer Vermögensteuer gemäß Art. 106 Abs. 2 Nr. 1 unseres
Grundgesetzes den Ländern zusteht, sollten, wenn denn
gewünscht, entsprechende Initiativen vom Bundesrat
ausgehen.
Wenn Sie keine weitere Nachfrage haben, kommen
wir zur Frage 4 der Abgeordneten Dr. Barbara Höll:
Nimmt die Bundesregierung die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, in der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit und der Auferlegung von Steuerlasten ausschließlich
durch die allgemeinen Prinzipien der Verhältnismäßigkeit begrenzt zu sein, zum Anlass, die Möglichkeit der Erhebung einer Vermögensteuer erneut zu prüfen, und, wenn nein, warum
nicht?
Frau Kollegin Höll, die Bundesregierung sieht keine
Veranlassung, die Wiedererhebung der Vermögensteuer
zu prüfen. Die Einführung einer Vermögensteuer ist in
erster Linie eine steuerpolitische Entscheidung. Sie gehört nicht zu den Zielsetzungen der Regierungskoalition.
Sie wäre im Übrigen politisch derzeit nicht durchsetzbar,
weil die aufkommensberechtigten Länder die Wiedererhebung der Vermögensteuer mit großer Mehrheit ablehnen.
Eine Nachfrage? - Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, sollte man vor dem Hintergrund
der gerade in der vergangenen Sitzungswoche wiederum
öffentlich dokumentierten gewissen Handlungsunfähigkeit des Gemeinwesens auf allen Ebenen aufgrund des
immer mehr abbröckelnden Steueraufkommens nicht die
politische Kraft darauf konzentrieren, die Vermögensbesteuerung - die Vermögensteuer ist zwar eine Ländersteuer, muss aber vom Bundestag verabschiedet werden zu reformieren, weil sich hieraus für den Staat - das hängt
natürlich vom politischen Willen und der Ausgestaltung
der Vermögensbesteuerung ab - eine erhebliche Einkommensquelle erschließen könnte? Auch wenn man nur einen Steuersatz von 1 oder 2 Prozent festlegen würde - das
Geldvermögen in der Bundesrepublik Deutschland überschreitet Milliardenwerte -, könnte man wesentlich mehr
Einnahmen erzielen als durch einen kleinen Zuschlag auf
die Einkommensteuer. Die dadurch erzielten Einnahmen
würden nur sehr gering ausfallen. Sie würden Ihren Berechnungen nach, wenn ich mich richtig entsinne, unter
2 Milliarden Euro liegen, während man bei einer Besteuerung des Vermögens mit 1 Prozent immerhin Einnahmen von etwa 15 Milliarden Euro erreichen könnte.
Frau Kollegin Höll, ich kann Ihre Berechnungen nicht
bestätigen. Wenn man sich diesem Gedanken denn
nähern würde, würden zumindest für betriebliches Vermögen besondere Regelungen notwendig sein, weil es
ansonsten zu einem Substanzverlust im Unternehmensbereich kommen würde. Vor diesem Hintergrund haben
sich die Koalitionsfraktionen entschieden, keine eigene
Initiative zu ergreifen. Dies geht auch aus dem Koalitionsvertrag hervor. Sollte die Mehrheit der Länder zu
einer anderen Auffassung kommen, würden sich die Koalitionsfraktionen sicherlich noch einmal zur Beratung
zurückziehen. Dies ist allerdings nach meinem Dafürhalten nicht zu erwarten.
Sie haben eine weitere Nachfrage? - Bitte sehr.
Frau Staatssekretärin, können Sie mir bestätigen, dass
es momentan in der Bundesrepublik Deutschland sehr
wohl eine Ungleichbehandlung von akkumuliertem Vermögen und Einkommen, das durch Arbeit erzielt wird,
gibt? Dabei ist nicht nur die Belastung zu berücksichtigen, die aus der Einkommensbesteuerung resultiert.
Auch durch die zu leistenden Sozialabgaben erfolgt eine
Ungleichbehandlung von Menschen, denen es möglich
ist, nur von ihrem akkumulierten Vermögen zu leben,
also de facto von den Zinsen, und Menschen, die arbeiten gehen müssen, so sie denn die Chance auf einen Arbeitsplatz haben.
Frau Kollegin Höll, es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es Menschen, die zum Beispiel eine große Erbschaft machen, besser geht als Menschen, die keine
große Erbschaft machen; das ist eine Binsenweisheit.
Dieses Vermögen wird aber mit Erbschaftsteuer belegt.
Im Übrigen werden die Einkommen, die aufgrund einer
Erbschaft entstehen, natürlich auch als Einkommen besteuert.
Die Verteilungsgerechtigkeit in der Bundesrepublik
Deutschland wird im Wesentlichen über die progressive
Einkommensteuer herbeigeführt. Die oberen 10 Prozent
der Steuerbürger bringen mehr als 50 Prozent des Einkommensteuervolumens auf, während die unteren
50 Prozent der Einkommensbezieher noch nicht einmal
10 Prozent dazu beitragen. Auf diese Weise wird, wie
ich finde, für steuerliche Gerechtigkeit gesorgt.
Im Übrigen ist die Bundesregierung der Auffassung,
dass ein Gerechtigkeitsansatz, der über die steuerliche
Gerechtigkeit hinaus verfolgt werden muss, der gleiche
Zugang zu Bildungschancen ist.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische
Staatssekretär Dr. Hermann Kues zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 5 des Kollegen Kai Gehring:
Welche konkreten Maßnahmen plant die Bundesregierung
in diesem Jahr, um die Partizipation von Jugendlichen zu verbessern, und welche Beteiligungsmöglichkeiten und -rechte
von Jugendlichen sind der Bundesregierung dabei besonders
wichtig?
Lieber Herr Kai Gehring, im Koalitionsvertrag ist
festgelegt, dass die Bundesregierung Kinder und Jugendliche weiter in politische, planerische und zukunftsorientierte Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse einbeziehen wird. Zu diesem Zweck werden in den
nächsten Wochen mit potenziellen Partnern Schwerpunkte festgelegt. Es werden ganz konkrete Projekte
vereinbart und auf den Weg gebracht.
Eine Nachfrage, Herr Gehring?
Vielen Dank, Herr Staatssekretär Kues, für Ihre Antwort auf meine Frage zur Partizipation von Jugendlichen. Ich bedaure, dass es bisher noch keine eigenen
Vorschläge seitens des Ministeriums gibt.
Ich möchte auf Ihre Antwort hin direkt fragen: Wer
sind die Partner, mit denen Sie hier in einen Dialog über
konkrete Schwerpunkte und Ziele treten? Welches sind
die Schwerpunkte und Ziele in dem wohl auch geplanten
Bündnis zur politischen Beteiligung seitens des Ministeriums?
Sie wissen, dass wir in der ersten Phase bundesweit
200 Projekte auf den Weg gebracht haben, an denen immerhin 20 000 Jugendliche - das ist eine große Anzahl teilgenommen haben. Sie sind mit dem Deutschen Bundesjugendring und der Bundeszentrale für politische Bildung durchgeführt worden. Wir befinden uns noch in der
Auswertung, glauben aber, dass wir Mitte Mai konkrete
Ziele, Handlungsfelder und neue Projekte benennen
können, sodass im Herbst 2006 eine neue Initiative starten kann.
Wer die Partner im Einzelnen sein werden, wird von
den Themen abhängen. Ein Thema, das sich herauskristallisiert hat und eine Rolle spielen sollte, ist das Thema
„Demografischer Wandel - Wert der Jugend in der Gesellschaft“. Daraus müssen sich dann die konkreten Projekte ergeben. Das wird aber, wie gesagt, Mitte Mai besprochen werden.
Haben Sie eine weitere Nachfrage, Herr Gehring?
Wenn diese Gespräche im Mai stattfinden sollen, wissen Sie dann auch, wann wir im Ausschuss darüber diskutieren können? Und welche Unterschiede können Sie
schon jetzt, obwohl Sie sich noch in der Evaluationsphase befinden, im Vergleich zum Projekt P aus der letzten Legislaturperiode ausmachen?
Das kann ich noch nicht im Einzelnen sagen. Im Ausschuss kann jederzeit über den derzeitigen Stand berichtet werden; es muss lediglich vereinbart werden, ab
wann berichtet werden soll. Sinnvoll ist eine Berichterstattung eigentlich erst dann, wenn harte Fakten vorliegen, damit Sie auch die entsprechenden Informationen
erhalten können.
Wir können das jetzt abschließend noch nicht sagen.
Wir wollen uns bei diesem Themenkomplex Zeit lassen
und das in Ruhe auf den Weg bringen. Sie wissen ja,
dass die Laufzeit der ersten Projekte bis hinein in dieses
Jahr ging. Insofern glaube ich, dass es bis jetzt keinen
Zeitverzug gegeben hat.
Eine weitere Nachfrage zu diesem Thema, jetzt von
der Kollegin Cornelia Hirsch.
Herr Staatssekretär, die EU-Kommission hat das
kommende Jahr zum Europäischen Jahr der Chancengleichheit erklärt. Das würde ja eine Gelegenheit bieten,
eine Verbesserung der Partizipationsmöglichkeiten von
Jugendlichen vorzusehen. In diesem Zusammenhang
wäre meine Frage an Sie, inwieweit Sie das Europäische
Jahr der Chancengleichheit in Ihrem Hause schon eingehender diskutiert haben und welche Planungen es in dieser Hinsicht gibt.
Wir haben das Europäische Jahr der Chancengleichheit bei uns sehr intensiv diskutiert; wir bereiten uns
auch sehr intensiv darauf vor. Wir werden auch die Programme unseres Hauses daraufhin überprüfen, inwieweit sie dort eingebunden werden können. Ich kann nur
sagen: Dieses Europäische Jahr der Chancengleichheit
wird - erst recht, da Deutschland im ersten Halbjahr die
Präsidentschaft innehaben wird - für uns eine zentrale
Bedeutung haben. Wir werden uns mit unseren europäischen Nachbarn abstimmen und dementsprechend die
Themen festlegen.
Die Frage 6 des Kollegen Dr. Ilja Seifert wird schriftlich beantwortet. Das Gleiche gilt für die Fragen 7 und 8
des Kollegen Hans-Josef Fell aus dem Geschäftsbereich
des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit.
Wir kommen also jetzt zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Die
Frage 9 des Abgeordneten Dr. Hakki Keskin wird gemäß
Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde schriftlich beantwortet.
Wir kommen somit zur Frage 10 des Abgeordneten
Kai Gehring:
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wie beurteilt die Bundesregierung die steigende Zahl der
Hochschulabsolventen, die nach ihrem Studium lange und
zum Teil unbezahlte Praktika ableisten, durch die ihr Berufseinstieg verzögert wird und sozialversicherungspflichtige
Stellen verdrängt oder gar nicht erst geschaffen werden, und
was beabsichtigt die Bundesregierung gegen diese Entwicklung zu unternehmen?
Kollege Gehring, ich beantworte Ihre Frage wie folgt:
Der Arbeitsmarkt für Akademiker hat sich im vergangenen Jahr weiter positiv entwickelt. Die ohnehin niedrige
Arbeitslosenquote bei Akademikern hat sich 2005 auf
3,8 Prozent reduziert. Allerdings profitieren nicht alle
Personengruppen in gleicher Weise von dieser positiven
Entwicklung. Hierzu gehören nach Angaben der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung der Bundesagentur für Arbeit insbesondere die Berufsanfänger, da der größte Teil
der Stellenangebote Bewerbern mit Berufserfahrung
vorbehalten ist. Der Bundesregierung liegen allerdings
keine gesicherten Zahlen darüber vor, wie sich die Zahl
der Hochschulabsolventen in unbezahlten Praktikapositionen entwickelt hat.
Die Bundesregierung ist auch angesichts der berufspraktischen Anforderungen der Unternehmen an Hochschulabsolventen der Auffassung, dass der Bolognaprozess in Deutschland mit dem Ziel einer Verkürzung der
Studienzeiten und eines stärkeren Praxisbezugs in der
akademischen Ausbildung fortgesetzt werden muss. In
diesem Zusammenhang gilt es gleichzeitig, die Erstausbildung breit genug zu gestalten, um die berufliche Einsatzfähigkeit und Flexibilität sicherzustellen. Hier sind
in erster Linie die Länder und die Hochschulen gefordert.
Hochschulabsolventen in betrieblichen Praktika werden bereits im Rahmen des geltenden Rechts geschützt.
Soweit sie eingestellt werden, um ihnen berufliche
Kenntnisse, Fertigkeiten oder Erfahrungen zu vermitteln, ohne dass es sich um eine Berufsausbildung handelt, haben sie Anspruch auf eine angemessene Vergütung nach § 26 in Verbindung mit § 17 Abs. 1 des
Berufsbildungsgesetzes. Soweit sie aber als „Praktikanten“ eingestellt, jedoch länger als sechs Monate wie ein
vergleichbarer Arbeitnehmer eingesetzt und beschäftigt
werden, liegt nach der Rechtsprechung im arbeitsrechtlichen Sinne kein Praktikanten-, sondern ein Arbeitsverhältnis vor, auf das die arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften anwendbar sind. Der Praktikant ist dann also in
Wahrheit Arbeitnehmer und hat zum Beispiel Anspruch
auf eine Vergütung. Das ist im Zweifel die übliche Vergütung eines vergleichbaren Arbeitnehmers nach
§ 612 Abs. 1 BGB. Die Betroffenen können ihre Vergütungsansprüche vor dem zuständigen Arbeitsgericht geltend machen. Dadurch dürfen ihnen nach dem so
genannten arbeitsrechtlichen Maßregelungsverbot keinerlei Nachteile entstehen.
Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär
Storm. Herr Gehring, haben Sie eine Nachfrage? - Bitte
schön.
Herzlichen Dank für Ihre Antwort. Die Frage lautete:
Wie beurteilt die Bundesregierung die zunehmende Tendenz, dass insbesondere Hochschulabsolventen in einer
Endlosschleife als Praktikantinnen und Praktikanten landen können? Da Sie sagten, die Daten- und Faktenlage
sei noch nicht ausreichend geklärt: Plant die Bundesregierung, Untersuchungen zur Prekärisierung von Arbeitsverhältnissen bei Hochschulabsolventen in Auftrag
zu geben, um beispielsweise der Frage nachzugehen, ob
es durch diese Praktika zu Verdrängungsprozessen auf
dem Arbeitsmarkt kommt? Sind in diesem Zusammenhang spezielle Initiativen in Planung?
Herr Abgeordneter Gehring, ich habe bereits darauf
verwiesen, dass wir derzeit noch keine gesicherte Datenbasis haben. Allerdings erhebt die HIS GmbH in diesem
Problemfeld regelmäßig Absolventenstudien. Die diesjährige Absolventenstudie wird auch Ergebnisse zur
Thematik „Praktika von Hochschulabsolventen“ erfassen. Ergebnisse dürften frühestens zum Jahresende 2006
vorliegen.
Die Bundesregierung ist natürlich der Auffassung,
dass Versuche des Missbrauchs von Praktika entsprechend geahndet werden müssen. Ich habe bereits auf die
rechtlichen Möglichkeiten, wenn anstelle eines Praktikums faktisch ein normales Arbeitsverhältnis vorliegt,
hingewiesen.
Herr Gehring, Sie haben eine weitere Nachfrage.
Wie steht die Bundesregierung zu der Forderung, dass
über die Problematik der Generation Praktikum auch im
Rahmen der Debatte um einen Mindestlohn, die bereits
anläuft und von der großen Koalition wahrscheinlich im
Herbst intensiv geführt werden wird, diskutiert werden
soll?
Die Problematik der Praktika von Hochschulabsolventen ist sicherlich kein Gegenstand, der bei einer generellen Mindestlohndebatte zu berücksichtigen wäre.
Eine weitere Nachfrage durch den Kollegen Josef
Winkler.
Herr Staatssekretär, ich möchte noch einmal nachfragen, weil das nicht klar geworden ist: Sieht die Bundesregierung die zunehmende Zahl der Praktikanten mit
Hochschulabschluss als ein Problem an oder nicht?
Zweitens. Sie haben gesagt, die Datenlage sei unsicher. Ist die Bundesregierung denn in der Lage, dem zuJosef Philip Winkler
ständigen Ausschuss Datenmaterial aus dem eigenen Zuständigkeitsbereich vorzulegen, und, wenn ja, wann?
Herr Abgeordneter, ich darf auf die Antwort zur vorherigen Frage verweisen. Die HIS GmbH nimmt derzeit
im Rahmen der Absolventenstudie eine Datenerhebung
vor. Mit den Ergebnissen ist frühestens zum Jahresende
2006 zu rechnen. Sobald die Ergebnisse vorliegen, werden sie selbstverständlich dem Fachausschuss vorgelegt.
Vielen Dank. Ich rufe die Frage 11 der Abgeordneten
Cornelia Hirsch auf:
Was waren die wesentlichen Inhalte der Konferenz der europäischen Bildungsminister in Wien im März 2006 und wie
bewertet die Bundesregierung die Ergebnisse der Gespräche?
Frau Abgeordnete Hirsch, ich beantworte Ihre Frage
wie folgt: Solche informellen Bildungsministertreffen
haben sich seit den 90er-Jahren als Forum für den offenen Meinungsaustausch auf Ministerebene zu aktuellen
Themen der europäischen Bildungspolitik etabliert. Beschlüsse werden im Rahmen solcher Treffen üblicherweise nicht gefasst. Bei dem diesjährigen Treffen standen die folgenden Themen im Vordergrund: der
europäische Qualifikationsrahmen, das Europäische Institut für Technologie, EIT, sowie der Stellenwert der
Bildung im europäischen Erweiterungsprozess und die
Rolle der Universitäten in Südosteuropa. Aus Sicht der
Bundesregierung kommt den im Rahmen des informellen Bildungsministertreffens geführten Diskussionen
eine wichtige Rolle als Impulsgeber für die weiteren
Verhandlungen in den relevanten Ratsgremien zu.
Eine Nachfrage, Frau Hirsch?
Ja, ich habe eine Nachfrage zum Themenkomplex
„europäischer Qualifikationsrahmen“. In der Debatte
darüber wurden in der Bundesrepublik von mehreren
Seiten Befürchtungen geäußert, dass das Berufsprinzip
durch diese europäische Initiative eingeschränkt wird.
Meine Frage lautet: Wurden diese Bedenken im Rahmen
dieser informellen Gespräche auch von anderen EU-Mitgliedstaaten geäußert und wie hat sich die Bundesregierung dabei positioniert bzw. welche Impulse hat sie gegeben?
Nachdem EU-Kommissar Figel die Ergebnisse des
Konsultationsprozesses - die Mitgliedstaaten mussten
diese bis zum Ende des Jahres 2005 einreichen - vorgestellt hatte, fand eine erste politische Aussprache auf
Ministerebene statt. Dabei wurden die Ergebnisse von
den Delegationen mehrheitlich begrüßt, insbesondere
die Sicht, dass der europäische Qualifikationsrahmen ein
Übersetzungsinstrument zur Förderung von Mobilität
und Transparenz sein soll. Es wurde jedoch gleichzeitig
betont, dass es einen Überarbeitungsbedarf gibt, insbesondere bei den Deskriptoren der Niveaustufen des europäischen Qualifikationsrahmens, und - das ist insbesondere eine deutsche Position - dass wir eine lange
Erprobungsphase der praktischen Umsetzung des europäischen Qualifikationsrahmens mit Pilotprojekten und
Testphasen brauchen.
Darüber hinaus ist mit den europäischen Partnerländern, die ein dem deutschen System vergleichbares System der dualen beruflichen Bildung haben, vereinbart
worden, dass man bis zum Sommer die gemeinsamen Interessen bei der weiteren Entwicklung des europäischen
Qualifikationsrahmens miteinander abstimmt.
Sie haben eine weitere Nachfrage? - Bitte sehr.
Danke schön für Ihre Antwort. - Meine zweite Nachfrage bezieht sich auf den Bereich „Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen“, worüber zurzeit auch auf
europäischer Ebene diskutiert wird und was in den informellen Gesprächen vermutlich eine Rolle gespielt hat.
Mich würde die Position der Bundesregierung zur Empfehlung hinsichtlich der Förderung des Unternehmensgeistes an Schulen und Hochschulen interessieren. Wie
wird man sich allgemein dazu verhalten und gibt es
schon konkrete Überlegungen, diese Empfehlung in
Deutschland umzusetzen?
Hierzu kann ich Ihnen im Detail derzeit nichts sagen.
Es ist so, dass im Moment die Vorbereitungsphase für
den Start des EU-Programms für das lebenslange Lernen, das während der deutschen Ratspräsidentschaft im
ersten Halbjahr 2007 beginnen soll, läuft. Das von Ihnen
angesprochene Thema stand - anders als die drei anderen genannten Themen - nach meinem Kenntnisstand
nicht im Mittelpunkt der Beratungen.
Die Frage 12 der Abgeordneten Grietje Bettin wird
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 13 des Abgeordneten Jörg Rohde
auf:
Inwieweit nimmt die Bundesregierung Einfluss auf die
Zielsetzung und Umsetzung des Projekts „ASK-IT“ der Europäischen Kommission ({0}), damit die Belange
behinderter Menschen entsprechend der deutschen Gesetze
und der deutschen Regelungswerke berücksichtigt werden
und verhindert wird, dass aus Mitteln der Europäischen Union
aufwendige Technologien und Daten ohne Bezug zu den Nutzern in allen Staaten der EU aufgebaut werden?
Zur Beantwortung gebe ich das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Thomas Rachel.
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Kollege, Ihre
Anfrage beantworte ich wie folgt: Die Bundesregierung
nimmt keinen Einfluss auf die Zielsetzung einzelner Projekte. Jedoch hat die Bundesregierung über die Verwaltungsausschüsse der Mitgliedstaaten ein Stimmrecht bei
der Gestaltung der spezifischen Arbeitsprogramme, in
denen die Forschungsziele für die zu fördernden Projekte beschrieben werden. Die Begutachtung von Projekten führt die Europäische Kommission nach transparenten Regeln mit externen Gutachtern durch. Es ist
nicht Aufgabe der Mitgliedstaaten, Einfluss auf die Umsetzung von bewilligten Projekten zu nehmen. Sie prüfen vielmehr, ob die Regeln der Transparenz bei den
Entscheidungen befolgt werden.
Das von Ihnen angesprochene Projekte „ASK-IT“
wird im Rahmen der thematischen Priorität „Technologien für die Informationsgesellschaft“ gefördert. Im entsprechenden IST-Arbeitsprogramm wird für die relevante E-Inclusion gefordert, dass die Projekte sich auch
mit den sozioökonomischen, gesetzlichen und politischen Dimensionen befassen sollen und insbesondere
die elektronische Eingliederung in einem breiten Sinn
abdecken, um die Verfügbarkeit von Dienstleistungen
der Informationsgesellschaft bei vertretbaren Kosten für
alle sicherzustellen. Hierbei ist nicht automatisch sichergestellt, dass in einem Projekt zwangsläufig die Belange
aller Mitgliedstaaten abgedeckt werden oder alle national gültigen Standards und Gesetze berücksichtigt werden.
Dennoch ist beim IST-Projekt „ASK-IT“ davon auszugehen, dass durch die deutsche Beteiligung auch deutsche Interessen berücksichtigt werden.
Zum einen ist nämlich das deutsche Forschungsinstitut Technologie-Behindertenhilfe der Evangelischen
Stiftung Volmarstein ein Projektpartner. Zum anderen
sind in der Vorhabensbeschreibung vier Teilprojekte aufgeführt, von denen das vierte mit dem Namen „Accessible Europe“ die Interoperabilität der drei vorgelagerten
themenbezogenen Teilprojekte demonstrieren soll.
Insgesamt sind sieben europäische Pilotgebiete ausgewählt worden, darunter im Übrigen auch die Stadt
Nürnberg. Mit Vertretern dieser Regionen werden insgesamt drei Nutzerforen abgehalten. Insgesamt nehmen
44 Partner aus 15 Ländern teil, sodass eine breite europäische Auswirkung zu erwarten ist.
Haben Sie eine Nachfrage, Herr Rohde?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
wird die Bundesregierung im Falle eines viel versprechenden bzw. erfolgreichen Ergebnisses des Forschungsprogramms „ASK-IT“ ein nationales Folgeprogramm
finanzieren, damit die im Rahmen von „ASK-IT“ erzielten Forschungsergebnisse in Deutschland eine optimale
Es wäre vermessen, dazu bereits zum heutigen Zeitpunkt eine Prognose abzugeben. Wir warten jetzt erst
einmal ab, wie sich dieses Programm insgesamt entwickeln wird.
Eine weitere Nachfrage? - Bitte sehr.
Meine zweite Nachfrage ist: Finanziert oder teilfinanziert die Bundesregierung derzeit nationale Forschungen
zur Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe von
Menschen mit Behinderungen?
Hierzu werden verschiedene Maßnahmen durchgeführt, die ich Ihnen jetzt aber nicht alle aus dem Kopf
präsentieren kann. Da Sie sich in Ihrer Frage in erster Linie auf das europäische Programm „ASK-IT“ bezogen
haben, will ich Ihnen, bezogen auf den europäischen
Raum, sagen, dass im Rahmen des 6. Rahmenforschungsprogramms der Europäischen Kommission innerhalb der thematischen Priorität „Technologien für die
Informationsgesellschaft“ 16 weitere Projekte gefördert
werden, die einen Bezug zur Barrierefreiheit und zur
Teilhabe behinderter Menschen aufweisen.
An der Finanzierung dieser Maßnahmen ist die Bundesregierung im Rahmen der EU-Finanzierung natürlich
beteiligt. Hierbei geht es beispielsweise um die Verbesserung der Zugänglichkeit des Internets oder um den
barrierefreien Zugang zu IuK-Technologien für blinde,
sehbehinderte und gehörlose Menschen.
Herzlichen Dank. - Damit sind wir beim Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.
Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres zur Verfügung.
Die Fragen 14 und 15 der Abgeordneten Dr. Dagmar
Enkelmann werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur Frage 16 der Abgeordneten Sabine
Zimmermann:
Wie steht die Bundesregierung zu dem Problem, dass
junge Erwachsene, die aus dem ALG II heraus eine berufliche
Ausbildung an einer privaten Berufs- oder Berufsfachschule
beginnen und deren Antrag auf BAföG abgelehnt wurde, finanziell schlechter gestellt werden gegenüber ihrer Zeit als
Empfänger von Leistungen nach SGB II ({0})?
Frau Abgeordnete, soweit junge Erwachsene ihre
Erstausbildung an einer privaten Berufsfachschule beginnen, erscheint eine Ablehnung der Ausbildungsförderung nach dem BAföG nur wegen der Berücksichtigung
von Einkommen des Auszubildenden oder seiner Eltern
denkbar. Das BAföG ist eine subsidiäre Sozialleistung,
die nur dann eingreift, wenn der Auszubildende bzw.
seine Eltern nicht in der Lage sind, die Ausbildung aus
eigener Kraft zu finanzieren.
Wenn die Auszubildenden aus dem Ausbildungsverhältnis eine Ausbildungsvergütung erhalten - im Falle
der Ausbildung zum Altenpfleger ist der Träger der
praktischen Ausbildung nach § 17 des Altenpflegegesetzes zur Zahlung einer angemessenen Ausbildungsvergütung verpflichtet -, dann sind diese Einkünfte nach § 23
Abs. 3 BAföG voll auf den Bedarf des Auszubildenden
anzurechnen. Für die Ausbildungsvergütung wird dem
Auszubildenden kein allgemeiner Freibetrag zugebilligt, weil ihm diese Mittel gewissermaßen zwangsläufig
durch und für die Ausbildung zufließen, also nicht das
Ergebnis besonderer zusätzlicher Anstrengung sind.
Weiterhin geht das BAföG typisierend davon aus,
dass Eltern ihren Kindern gegenüber unterhaltspflichtig
sind, wenn diese noch keine nach dem BAföG förderungsfähige Ausbildung durchlaufen haben. Dabei wird
unterstellt, dass die Eltern den angerechneten Betrag, der
sich aus der Pauschalierung des bürgerlich-rechtlichen
Unterhaltsanspruchs ergibt, an die Auszubildenden leisten. Ist dies nicht der Fall und ist die Ausbildung des
Kindes dadurch gefährdet, kann diesem nach § 36
BAföG eine Vorausleistung gewährt werden.
In dem konkreten Fall, auf den in der Fragestellung
Bezug genommen wurde, dürfte ein BAföG-Anspruch
am fehlenden Bedarf - aufgrund der Anrechnung der
Ausbildungsvergütung der Auszubildenden und des Einkommens des Vaters - gescheitert sein.
Frau Zimmermann, Sie haben eine Nachfrage, bitte
schön.
Danke schön erst einmal für die Antwort. - Der Fall,
der in der Presse geschildert worden ist, ist kein Einzelfall. Es betrifft etliche Jugendliche zwischen 18 und 25,
die Hartz-IV-Empfänger waren. Durch die Neuregelung
sind die, die schon in einer eigenen Wohnung leben und
sich einen Ausbildungsplatz gesucht haben - egal ob in
den Weißkittelberufen oder in den Berufen nach dem
Berufsbildungsgesetz -, davon betroffen. Nehmen wir
also an, ein Jugendlicher hat eine eigene Wohnung, gilt
als eigene Bedarfsgemeinschaft und hat sich selbstständig einen Ausbildungsplatz gesucht. Im Altenpflegegesetz steht nur etwas von einer „angemessenen Berufsausbildungsvergütung“; „angemessen“ kann man so oder so
definieren. Ein solcher Jugendlicher ist durch die Neuregelung benachteiligt. Im vorliegenden Fall ist es so, dass
die Jugendliche, weil sie nur 300 Euro zur Verfügung
hatte und ihre Wohnung nicht mehr finanzieren konnte,
praktisch bestraft wird. Oder soll sie jetzt wieder bei ihren Eltern einziehen?
Frau Zimmermann, auf den konkreten Fall, um den es
in dieser Pressemitteilung ging, bin ich eingegangen.
Man muss sich aber jeden Fall einzeln anschauen; da
bitte ich Sie um Verständnis. Es hängt davon ab - das
habe ich Ihnen ja vorgelesen -, ob noch Unterhaltsansprüche gegenüber den Eltern bestehen, ob der Jugendliche schon eine Ausbildung gemacht hat, wie hoch seine
Ausbildungsvergütung und wie hoch das Einkommen
des Vaters bzw. der Eltern ist. Ich kann das hier nicht
verallgemeinernd beantworten; wir müssten uns schon
den konkreten Fall anschauen. Wenn Sie der Meinung
sind, dass sich solche Fälle häufen - Sabine Zimmermann ({0}):
Es häuft sich, ja.
Das weiß ich nicht. - In der Frage, dass junge Leute
bis 25 bereits von zu Hause ausgezogen sind, hatten wir
eine Stichtagsregelung; deswegen können alle, die schon
ausgezogen sind, eigentlich nicht davon betroffen sein.
Alle weiteren Fälle würde ich mir gerne anschauen. Es
gibt in bestimmten Fällen - das gestehe ich gerne zu Schnittstellenprobleme zwischen der Berufsausbildungsbeihilfe und der BAföG-Regelung. Dies gilt aber nur in
Ballungsräumen und wenn die Mietkosten eine bestimmte Höhe übersteigen. Mit dieser Frage setzen wir
uns gegenwärtig auseinander. Sie wird auch Gegenstand
einer gesetzlichen Regelung sein im Rahmen des Optimierungsgesetzes, das wir vorbereiten. Es kommt, wie
gesagt, immer auf den Einzelfall an.
Haben Sie eine weitere Nachfrage?
Ich würde gern auf Ihr Angebot zurückkommen und
Sie von dem konkreten Fall in Kenntnis setzen. Ich bitte
Sie, dass wir da schnellstmöglich eine Lösung finden,
weil es wirklich eine Menge Personen betrifft.
Danke schön.
Mein Angebot steht: Wenn Ihnen Fälle bekannt sind,
dann geben Sie uns diese und dann schauen wir sie uns
an; dafür sind Ministerien schließlich da. Wenn da rechtlich etwas nicht in Ordnung sein sollte, ist es ohne weiteres möglich, sich darum zu kümmern. Dies ist jetzt aber
kein Aufruf zu einer Kampagne der Linkspartei, dem
Staatssekretär Andres fünfeinhalbtausend Fälle zuzusenden, nur damit wir uns richtig verstehen.
Dann sind wir jetzt bei der Frage 17 der Abgeordneten Zimmermann:
Besteht nach Ansicht der Bundesregierung eine Gesetzeslücke, wenn für Auszubildende gleichzeitig die Anträge auf
BAföG, auf Wohngeld, auf Berufsausbildungsbeihilfe und auf
unterstützende Zahlungen im Rahmen von ALG II abgelehnt
werden ({0}), und
welche unmittelbaren Maßnahmen will die Bundesregierung
ergreifen, um zu verhindern, dass junge Erwachsene in
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ausbildung finanziell schlechter gestellt sind gegenüber der
Zeit als ALG-II-Empfänger?
Verehrte Frau Abgeordnete, eine Gesetzeslücke besteht nicht. Nach § 7 Abs. 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch haben
Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des
Berufsausbildungsförderungsgesetzes oder der §§ 60
bis 62 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch dem
Grunde nach förderungsfähig ist,
grundsätzlich
keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhalts.
Dementsprechend kommt es darauf an, ob die betriebliche Ausbildung unabhängig von der Erfüllung der persönlichen Voraussetzungen an sich förderungsfähig ist.
Soweit ein Betroffener wegen Überschreitung der Altersgrenze im BAföG oder bei einer Zweitausbildung
keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung hat, bleibt
der grundsätzliche Ausschlussgrund für den Bezug von
Arbeitslosengeld II bestehen.
Hintergrund für diese Regelung ist die Abgrenzung
zwischen den Rechtsgebieten der Ausbildungsförderung
und der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Eine entsprechende Abgrenzung zur Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz war bereits vor Einführung der
Grundsicherung für Arbeitsuchende geregelt. Hiermit
sollte eine zweite Ausbildungsförderung auf der Ebene
der Sozialhilfe vermieden werden. In Fallkonstellationen, in denen durch das primär einschlägige spezielle
Ausbildungsförderungsgesetz bewusst keine Ausbildungsförderung mehr gewährt wird, soll diese gesetzgeberische Wertung nicht durch eine Auffangförderung auf
der Ebene des allgemeinen Sozialleistungsrechts aufgehoben werden.
Die Abgrenzung zwischen dem Wohngeld nach dem
Wohngeldgesetz und der Ausbildungsförderung folgt
daraus, dass in der Ausbildungsförderung die Wohnkosten bereits pauschaliert enthalten sind. Allerdings können erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nach dem SGB II
Leistungen zur Eingliederung in Arbeit gewährt werden.
Hierzu gehört unter anderem auch die Förderung einer
beruflichen Weiterbildung nach § 16 Abs. 1 SGB II für
solche Hilfebedürftigen, die zur beruflichen Eingliederung einer Weiterbildung bedürfen.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Frau Kollegin?
Nein.
Die Frage 18 der Kollegin Gesine Lötzsch wird
schriftlich beantwortet.
Wir sind nun bei der Frage 19 des Abgeordneten
Dr. Harald Terpe:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass Passivrauchen das Sterberisiko erhöht bzw. zum Tode führen kann, und,
wenn ja, hält sie es für verantwortbar, einen wirksamen
Schutz vor Passivrauch, beispielsweise in öffentlichen Gebäuden, Arbeitsstätten mit Publikumsverkehr, Schulen und Gaststätten, aufzuschieben?
Herr Abgeordneter, ja, Rauchen ist eine der größten
vermeidbaren Gesundheitsrisiken. Im Jahre 1998 ist die
Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher
Arbeitsstoffe der Deutschen Forschungsgemeinschaft
nach Auswertung neuer Studien zur Epidemiologie und
zur Toxikologie zu der Auffassung gelangt, dass Passivrauchen am Arbeitsplatz beim Menschen erwiesenermaßen eine Krebs erzeugende Wirkung hat. Daneben steht
Passivrauchen auch in einem engen Zusammenhang insbesondere mit Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Dies wird zum Beispiel in der Publikation
„Passivrauchen - ein unterschätztes Gesundheitsrisiko“
des Deutschen Krebsforschungszentrums aus dem
Jahre 2005 dokumentiert.
Die Bundesregierung ist sich der Gesundheitsgefährdung durch Rauchen und Passivrauchen bewusst und engagiert sich aktiv für einen wirksamen Schutz der Nichtraucher. Zum Schutz der nicht rauchenden Beschäftigten
wurde die Arbeitsstättenverordnung 2002 um folgende
Regelung ergänzt -:
§ 5
Nichtraucherschutz
({0}) Der Arbeitgeber hat die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit die nicht rauchenden Beschäftigten in Arbeitsstätten wirksam vor den Gesundheitsgefahren durch Tabakrauch geschützt
sind.
({1}) In Arbeitsstätten mit Publikumsverkehr hat der
Arbeitgeber Schutzmaßnahmen nach Absatz 1 nur
insoweit zu treffen, als die Natur des Betriebes und
die Art der Beschäftigung es zulassen.
Initiativen für ein umfassendes Nichtraucherschutzgesetz in den Jahren 1997 und 1998, durch die ein
Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden des Bundes, der
Länder und der Kommunen, in öffentlichen Verkehrsmitteln und an Arbeitsplätzen - Entwurf der Abgeordneten Roland Sauer, Uta Titze-Stecher, Dr. Burkhard
Hirsch und weiteren Abgeordneten auf Drucksache
13/6100 - sowie zusätzlich auch in Gaststätten mit mehr
als 50 Sitzplätzen - Entwurf der Abgeordneten Gerald
Häfner, Volker Beck, Cem Özdemir und weiteren Abgeordneten der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf
Drucksache 13/6166 - herbeigeführt werden sollte, waren nicht erfolgreich.
Die Bundesregierung verfolgt mit ihrer Politik das
Ziel, den Tabakkonsum nachhaltig zu senken. Diese Politik ist durch ein Bündel von präventiven und strukturellen Maßnahmen gekennzeichnet, die sich gegenseitig
ausgewogen ergänzen. Dazu gehören die gesetzgeberischen Maßnahmen des Bundes, die in den letzten Jahren
zur Umsetzung der von Deutschland ratifizierten Tabakrahmenkonvention der Weltgesundheitsorganisation konsequent durchgesetzt wurden. Dies sind Änderungen der
Tabakproduktverordnung, das Verbot der Abgabe von
Tabakwaren an Jugendliche unter 16 Jahre im Jugendschutzgesetz, das Verbot der kostenlosen Abgabe von
Zigaretten zu Werbezwecken, eine Mindestverkaufsmenge von 17 Stück und die Tabaksteuererhöhung in
drei Schritten mit deutlichen Erfolgen für die Gesundheit
durch den Rückgang des Tabakkonsums Jugendlicher.
Darüber hinaus werden von der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung im Rahmen der Nichtraucherkampagne „Rauchfrei 2006“ umfangreiche präventive Maßnahmen zur Förderung des Nichtrauchens
durchgeführt. Außerdem fördert das Bundesministerium
für Gesundheit unter der Schirmherrschaft der Beauftragten der Bundesregierung für Drogenfragen seit
Juli 2005 das Bundesmodellprojekt „Rauchfreie Krankenhäuser“.
Ich könnte noch ungefähr fünf Seiten vorlesen, aber
das möchte ich Ihnen ersparen.
Herr Terpe, Sie haben eine Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für Ihre Antwort
und die Aufzählung der vielfältigen Initiativen, wobei
Sie es mir erspart haben, die weiteren Initiativen aufzuzeigen.
Im zweiten Teil meiner Frage wollte ich wissen, ob
Sie es, wenn Sie die Gefahr des Passivrauchens anerkennen, für vertretbar und verantwortlich halten, weitere
Maßnahmen zum Schutz vor Passivrauchen in öffentlichen Gebäuden aufzuschieben. Das war ein Teil meiner
schriftlichen Frage.
Daran möchte ich die Frage anschließen: Habe ich Sie
richtig verstanden, dass die Bundesregierung keine zusätzliche eigene Gesetzesvorlage, zum Beispiel in Anlehnung an Gesetzesvorhaben europäischer Nachbarn,
zum Arbeitsschutz oder zur Luftreinhaltung in der Pipeline hat?
Wir haben umfassend gehandelt. Ein Bereich der Arbeitsstätten mit Publikumsverkehr sind im Wesentlichen
Gastronomiebetriebe. Welche Probleme dahinterstehen,
wissen Sie. Hier muss ein entsprechender Abwägungsprozess stattfinden. Die Arbeitsstättenverordnung wurde
entsprechend ausgeweitet und ergänzt; das habe ich Ihnen vorgetragen. Alle weiteren Initiativen müssen sehr
sorgfältig abgewogen werden.
Zu den Schlüssen, die die Bundesregierung aus den in
den einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union
umgesetzten Maßnahmen zieht, kann ich Ihnen sagen,
dass wir diese sehr aufmerksam verfolgen. Gegebenenfalls werden die Umsetzung der jeweiligen Maßnahmen
und deren Ergebnisse zunächst einmal auszuwerten sein.
Haben Sie eine weitere Nachfrage?
({0})
Dann kommen wir zur Frage 20 des Kollegen Harald
Terpe:
Durch welche Maßnahmen will die Bundesregierung die
Umsetzung bzw. den Vollzug der den Passivraucherschutz betreffenden Änderung der Arbeitsstättenverordnung vom
Oktober 2003 fördern und erfolgte bisher eine Evaluation?
Die Durchführung der Arbeitsschutzvorschriften obliegt gemäß Grundgesetz den zuständigen Arbeitsschutzbehörden der Bundesländer. Informationen über die Anwendung und den Vollzug der Vorschriften zum
Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz liegen der Bundesregierung nicht vor.
Haben Sie eine Nachfrage? - Bitte schön, Herr Terpe.
Meine Nachfrage ist: Wird die Bundesregierung initiativ werden, um eine Evaluation der Umsetzung dieser
Arbeitsschutzverordnung vorzunehmen?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung wird diese
mündliche Anfrage zum Anlass nehmen, den Ausschuss
für Arbeitsstätten mit dieser Aufgabe zu betrauen. Wir
werden also in diesem Bereich tätig werden.
Haben Sie eine weitere Nachfrage?
Ja. - Vielen Dank für diese Antwort. Ich merke, dass
die Bundesregierung initiativ werden möchte. Teilen Sie
aber mit mir die Auffassung, dass die Maßnahmen zum
Schutz vor Passivrauchen seitens der Regierung insgesamt relativ langsam umgesetzt werden? Das betrifft
auch den ganzen Bereich der Tabakreklame.
Zunächst einmal will ich sagen: Schauen Sie sich einmal an, was in der Zwischenzeit in manchen Bundesministerien passiert ist. Da wird in vielen Bereichen deutlich, dass Rauchen nicht erwünscht ist. Im Bundesdienst
überwacht die Zentralstelle für Arbeitsschutz beim Bundesinnenministerium und in ihrem Auftrag die Unfallkasse des Bundes die Einhaltung des Nichtraucherschutzes nach der Arbeitsstättenverordnung. Außerdem berät
sie die Dienststellen bei der Umsetzung von Maßnahmen
und bei der Ausgestaltung von Betriebsvereinbarungen
und entsprechenden Hausanweisungen. Aus der Überwachungs- und Beratungspraxis kann geschlossen werden,
dass der Nichtraucherschutz im Bundesdienst entsprechend der Arbeitsstättenverordnung angemessen umgesetzt und auch praktiziert wird.
Zur Evaluation der Maßnahmen im Zusammenhang
mit den Zuständigkeiten der Länder habe ich Ihnen eben
schon geantwortet, dass wir dies entsprechend ergänzen
wollen.
({0})
- Bitte schön.
Es gibt eine weitere Nachfrage. Frau Koczy, bitte
schön.
Herr Staatssekretär, wollen Sie daran arbeiten, dass
wir beim Schutz vor Passivrauchen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern an der Spitze der Bewegung
sind? Oder sind Sie mit mir der Auffassung, dass wir
dann, wenn wir in dem Tempo, das Sie vorlegen, weitermachen, zur lahmen Ente werden?
Ich weiß nicht, welche Maßnahme welcher europäischen Länder Sie meinen. Die Unterschiede sind bekanntlich sehr groß. Es gibt Länder mit einem ziemlich
rigiden Rauchverbot in Gaststätten, öffentlichen Einrichtungen und ähnlichem. So weit sind wir noch nicht gegangen. Ich habe dazu schon einiges gesagt. Wir wollen
zunächst abwarten, welche Erfahrungen damit gemacht
werden. Ich denke, die Bundesregierung betreibt hierbei
auf alle Fälle eine Politik mit Augenmaß.
({0})
Dann sind wir jetzt bei der Frage 21 der Abgeordneten Veronika Bellmann:
Welchen genauen Zeitpunkt versteht die Bundesregierung
unter „zeitnah“, wenn sie auf die Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts und des Gesetzes
über einen Ausgleich von Dienstbeschädigungen im Beitrittsgebiet vom 23. Februar 2006 ({0})
wie folgt in ihrer Gegenäußerung Stellung bezieht: „… versichert die Bundesregierung, … möglichst zeitnah ein tragfähiges Konzept zur weiteren Unterstützung der Opfer der SEDDiktatur zu erarbeiten“, und wie ist die inhaltliche Ausrichtung eines solchen Konzepts vorgesehen?
Frau Bellmann, in der von Ihnen leider nicht vollständig zitierten Gegenäußerung hat die Bundesregierung
versichert, gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen
möglichst zeitnah ein tragfähiges Konzept zur weiteren
Unterstützung der Opfer der SED-Diktatur zu erarbeiten.
Wegen der notwendigen Abstimmung mit den Koalitionsfraktionen konnte und kann ein konkreter Zeitpunkt
nicht genannt werden, zumal auch in einem ersten Gespräch zwischen Abgeordneten der Koalitionsfraktionen
und Vertretern der Bundesregierung in der vergangenen
Woche noch weiterer Gesprächsbedarf hinsichtlich der
im Koalitionsvertrag genannten Alternativen festgestellt
wurde.
Frau Bellmann, Sie haben eine Nachfrage. Bitte
schön.
Ja, ich habe eine Nachfrage. Ich möchte gern wissen,
inwiefern der Bundesregierung bekannt ist, wie viele
dienstbeschädigte Stasimitarbeiter - um diese geht es in
diesem Zusammenhang; sie sollen den vollen Ausgleich
bekommen, wie wir als Gesetzgeber vom Bundesverfassungsgericht und vom Bundessozialgericht verpflichtend
aufgetragen bekommen haben ({0})
ihre Beschädigung im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen erlitten haben.
Das ist nicht bekannt. Wir haben, wie Sie wissen, das
Gesetz heute Vormittag im Ausschuss für Arbeit und
Soziales behandelt. Es hat in fast allen Fraktionen Übereinstimmung hinsichtlich eines Änderungsantrags gegeben, mit dem klargelegt werden soll, dass die Entschädigung bei Verstößen gegen die Menschenrechte zu
versagen ist. Wir werden jetzt in Umsetzung der neuen
gesetzlichen Regelung feststellen müssen, um wie viele
Fälle es sich handelt. Das kann ich beim besten Willen
hier nicht beantworten.
Vielen Dank für die Information. Ein Abgeordneter
kann nicht in mehreren Ausschüssen gleichzeitig sein.
Falls Sie das als Kritik gemeint haben, dann weise ich
das insofern zurück.
Sie haben noch eine weitere Nachfrage, Frau
Bellmann? - Bitte schön.
Meine weitere Nachfrage geht in eine ähnliche Richtung. Gibt es Erkenntnisse über die genaue Anzahl von
dienstbeschädigten Stasimitarbeitern und mit welchen
Finanzvolumina ist in diesem Zusammenhang zu rechnen?
Es tut mir Leid. Erlauben Sie mir eine Anmerkung:
Ihre Fragestellung hat eigentlich nur sehr mittelbar mit
dem zu tun, was Sie jetzt fragen. Ich bin gerne bereit, Ihnen die Informationen zur Verfügung zu stellen, die unser Haus hat. Ich kann die Frage jetzt leider nicht beantworten.
Damit sind wir bei der Frage 22 des Abgeordneten
Jörg Rohde:
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass im Rahmen des Schätzmeldeverfahrens der Krankenkassen seit
1. Januar 2006 Menschen mit Behinderungen, die Arbeitgeber
von Pflegekräften im Privathaushalt sind, genauso wie gemeinnützige Vereine, die diese behinderten Arbeitgeber bei
der Lohnabrechnung unterstützen, durch die doppelte Bürokratie infolge der später zusätzlich erforderlichen Restschuldmeldung vor einen Mehraufwand gestellt werden, der so groß
ist, dass er in vielen Fällen nicht mehr allein oder ohne zusätzliche Kosten bewältigt werden kann, und sieht die Bundesregierung Möglichkeiten, private Arbeitgeber, die infolge einer Behinderung den erhöhten organisatorischen Aufwand der
Schätz- und Restschuldmeldung nicht bewältigen können,
von der Pflicht zur Schätz- und Onlinemeldung zu befreien?
Herr Abgeordneter Rohde, die gesetzlichen Vorschriften über die Erhebung der Gesamtversicherungsbeiträge
treffen keine unterschiedlichen Regelungen für bestimmte Arbeitgebergruppen. Eine solche Differenzierung ließe sich auch nicht begründen, da sich der Aufwand für die Berechnung und Abführung der
Sozialversicherungsbeiträge für alle Arbeitgeber in gleicher Weise darstellt. Dies gilt auch für Arbeitgeber mit
Behinderungen.
Haben Sie eine Nachfrage, Herr Rohde? - Bitte
schön.
Herr Staatssekretär, ist sich die Bundesregierung der
Tatsache bewusst, dass trotz des vorgezogenen Einzugs
der Beiträge durch die Krankenkassen der Kostenträger,
das Sozialamt, nur eine 30-prozentige Abschlagszahlung
gewährt - vielerorts nicht einmal das - und die behinderten Arbeitgeber dadurch in eine Schuldenfalle geraten
können, zumal die Krankenkassenbeiträge monatlichen
Schwankungen unterliegen? Es geht um die privaten Arbeitgeber bzw. das persönliche Budget bei diesen
Modellversuchen.
Wir sind uns dessen bewusst. Ich kann aber gegenwärtig nicht sagen, wie viele Fälle es gibt. Dieses Thema
wird aber - wie heute Morgen im Ausschuss - auch in
anderen Zusammenhängen besprochen. In der politischen Diskussion ist behauptet worden, dass diese Tatbestände massenweise zu Konkursen und zum Scheitern
von selbstständigen Existenzen führen werden. Ich sehe
das nicht. Nach den Erfahrungen, die wir bislang gemacht haben, können wir das nicht teilen. Zudem halte
ich es gegenwärtig für nicht machbar, auf die Situation
derjenigen zu schließen, die infolge einer Behinderung
auf Betreuung angewiesen sind und deshalb als private
Arbeitgeber auftreten.
Sie haben eine weitere Nachfrage, bitte sehr, Herr
Rohde.
Herr Staatssekretär, weil wir heute Morgen im Ausschuss darüber gesprochen haben, dass mit der kleinen
Änderung des SGB IV eine Barriere in diesem Bereich
weggeräumt wird, hatte ich die Hoffnung, dass noch andere Barrieren fallen. Meine Nachfrage lautet daher:
Sieht die Bundesregierung grundsätzlich Bedarf, assistenzbedürftige Menschen mit Behinderung in ihrem Bemühen um größtmögliche selbstständige Bewältigung
ihrer Arbeitgeberpflichten zu unterstützen?
Ich habe bislang die Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge nicht als Barriere gesehen. Natürlich muss
man Arbeitgeber dabei unterstützen, ihren Pflichten
nachzukommen, unabhängig davon ob der Arbeitgeber
behindert ist oder nicht. Es geht darum, dort, wo es möglich ist, bürokratische Hürden abzubauen; darum bemühen wir uns. Lassen Sie uns jedenfalls festhalten: Wir
werden genau beobachten, wie es wirkt, und dann feststellen, ob die angesprochene Personengruppe in besonderem Maße betroffen ist.
Eine Nachfrage des Kollegen Markus Kurth.
Herr Staatssekretär, es geht darum, dass die Kostenträger wie etwa die Pflegekassen ihre Zahlungen erst
verspätet im Folgemonat leisten. Nach meiner Auffassung ließe sich das Problem beheben, wenn man auf die
Kostenträger einwirkte, ihre Zahlungen früher zu leisten.
Wenn sich herausstellt, dass das doch ein größeres Problem ist: Sieht die Bundesregierung die Möglichkeit, auf
die Kostenträger einzuwirken, ihre Erstattungspraxis anzupassen, und dieses Durchführungsproblem vergleichsweise unbürokratischen zu beheben, ohne dass eine
Gesetzesänderung bezüglich des Einzugs der Sozialversicherungsbeiträge erfolgen muss?
Herr Abgeordneter Kurth, es wird unterstellt, dass behinderte Arbeitgeber in besonderem Maße betroffen
sind. Wie ich schon gesagt habe, glauben wir nicht, dass
sich die Situation behinderter Arbeitgeber von der anderer Arbeitgeber im Wesentlichen unterscheidet. Wir
werden das jedenfalls beobachten. Sollte sich ein
Änderungsbedarf ergeben, werden wir entsprechend reagieren.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung steht der Herr
Staatsminister Günter Gloser zur Verfügung.
Die Frage 23 der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch
sowie die Fragen 24 und 25 des Abgeordneten Paul
Schäfer werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen nun zur Frage 26 des Abgeordneten
Markus Kurth:
War die Bundesregierung an der Ausstellung von Visa für
die Delegation aus Guinea beteiligt?
Bitte, Herr Staatsminister Gloser.
Sehr geehrter Herr Kollege Kurth, die Botschaft der
Bundesrepublik Deutschland in Conakry hat nach Prüfung der entsprechenden Anträge Visa für vier Mitglieder der in Ihrer durch das Bundesministerium des Innern
zu beantwortenden Frage 30 erwähnten Delegation der
Republik Guinea erteilt.
Sie haben noch eine Nachfrage, Herr Kurth? - Bitte
schön.
Wie bewertet denn dann die Bundesregierung die
Aussage des Leiters der Zentralen Ausländerbehörde
Dortmund, dass das Auswärtige Amt das gesamte Verfahren von der Einladung bis zur Befragung der abgelehnten Asylbewerber aus Guinea - ich zitiere aus einem
Zeitungsartikel - „abgesegnet“ habe?
Herr Kollege Kurth, ich weise zuallererst darauf hin,
dass die Einladung dieser Delegation durch eine Landesbehörde veranlasst wurde. Die Landesbehörden führen
diese ausländerrechtlichen Maßnahmen nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes in eigener Zuständigkeit aus. Die angesprochene Praxis findet nach Auffassung der Bundesregierung ihre Rechtsgrundlage in
§ 82 Abs. 4 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes. Danach
kann das persönliche Erscheinen eines Ausländers bei
den zuständigen Behörden sowie Vertretungen des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er vermutlich besitzt, angeordnet werden.
Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass es zu den Einzelheiten schon eine Antwort
der Bundesregierung vom 4. Januar 2006, Drucksache
16/339, auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten
Volker Beck, Irmingard Schewe-Gerigk, Josef Winkler
und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen gegeben
hat. Dort sind der rechtliche Rahmen und die Zulässigkeit von Sammelvorführungen unter Teilnahme von Vertretungen des betreffenden ausländischen Staates dargelegt.
Im Wesentlichen wurde damals ausgeführt:
Der Begriff „Vertretung“ im Sinne des § 82 Abs. 4
Satz 1 AufenthG ist nicht räumlich in Bezug auf
Gebäude der diplomatischen Vertretungen, sondern
in Bezug auf die handelnden Personen zu verstehen. ... Lediglich aus organisatorischen Gründen
finden Sammelanhörungen nicht in den ausländischen Botschaften statt. Auch die Befragung durch
andere Bedienstete ist in der Regel dem Aufgabenund Tätigkeitsbereich der ausländischen diplomatischen bzw. konsularischen Vertretung zuzurechnen,
da dieser Personenkreis mit der Durchführung der
Befragungen zum Zwecke der Staatsangehörigkeitsfeststellung zur Unterstützung des Botschaftsbzw. Konsulatspersonals … tätig wird.
Dort heißt es auch:
Im Übrigen sind gesandtschafts- und konsularrechtlich keine Gesichtspunkte erkennbar, dass derartige
Befragungen nur durch akkreditierte Diplomaten
oder Konsularbeamte durchgeführt werden dürfen.
Eine weitere Nachfrage, Herr Kurth. Bitte schön.
War das Auswärtige Amt in irgendeiner Weise an der
Auswahl der Mitglieder dieser Delegation beteiligt?
({0})
Nein, nach meiner Kenntnis war das Auswärtige Amt
nicht beteiligt. Die Einladung ist von der jeweils zuständigen Landesstelle ausgesprochen worden.
Ich rufe die Frage 27 des Kollegen Volker Beck
({0}) auf:
Welche Auswirkungen auf die Menschenrechtssituation in
Afghanistan hat die Verankerung sowohl von internationalen
Menschenrechtsabkommen als auch der Scharia in der afghanischen Verfassung und welche Konsequenzen haben diese
Auswirkungen auf die Abschiebung afghanischer Flüchtlinge
in der Bundesrepublik?
Herr Kollege Beck, ich beantworte Ihre Frage wie
folgt: In Art. 7 der afghanischen Verfassung wird die
Gültigkeit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung
von 1948 sowie der weiteren von Afghanistan ratifizierten Menschenrechtsabkommen anerkannt. Die Verfassung sieht in Art. 130 für den Fall, dass keine andere gesetzliche Norm anwendbar ist, die Anwendung der
Scharia vor. Die Scharia ist demnach nur subsidiär anzuwenden. Die Bundesregierung geht daher davon aus,
dass die Menschenrechte im afghanischen Rechtssystem
volle und durch keine religiösen Vorschriften eingeschränkte Geltung beanspruchen.
Die Verfassung wurde 2004 nach zähem Ringen der
gesellschaftlichen und politischen Kräfte in Afghanistan
verabschiedet. Die Bundesregierung unterstützt weiterhin jene Kräfte und Institutionen, die diese menschenrechtskonforme Rechtsauslegung in allen Teilen des
Landes in die Praxis umsetzen. Der Bundesregierung ist
kein Fall bekannt, in dem mit einem rechtskräftigen Urteil die Menschenrechte eines Angeklagten in Afghanistan aufgrund der Anwendung der Scharia durch ein ordentliches Gericht verletzt worden wären. Daher haben
diese Verfassungsbestimmungen keine Auswirkung auf
die Abschiebung afghanischer Flüchtlinge aus der Bundesrepublik.
Herr Kollege, Ihre Nachfragen.
Ich muss sagen: Ich bin jetzt doch etwas baff. Es
wurde gerade eine Diskussion über den Christen Abdul
Rahman geführt. Wir haben gesehen, dass die afghanische Gerichtsbarkeit den bloßen Religionswechsel, den
Übertritt vom Islam zum Christentum, zum Anlass für
ein Todesurteil nehmen wollte. Ich bin davon ausgegangen, dass wir uns hier im Hause auch mit der Bundesregierung einig sind, dass das eine erhebliche Menschenrechtsverletzung darstellen würde. Sie haben Recht: Es
gibt kein in Kraft getretenes Urteil. Es konnte aber nur
durch einen politischen Winkelzug abgewendet werden.
Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie fragen, ob Ihnen tatsächlich keine anderen Hinweise vorliegen, dass
aufgrund der subsidiären Anwendung der Scharia in
Afghanistan die Menschenrechte für bestimmte Gruppen
und bei bestimmten Handlungen nicht gewährleistet
sind. Das hätte natürlich Rückwirkungen im Hinblick
auf die Bewertung des Flüchtlingsschutzes.
Herr Kollege Beck, ich denke, wir sind uns einig, dass
wir im Parlament vieles gemeinsam unternommen haben, um in Afghanistan nach 23 Jahren Bürgerkrieg den
Aufbau des Landes zu ermöglichen. Das gilt in besonderem Maß für die Justiz. Viele Staatsanwälte und Richter
sind trotz erheblicher Anstrengungen der internationalen
Gemeinschaft bei der Reform des Justizwesens noch
Vorstellungen verhaftet, die sich nicht mit dem neuen
Rechtssystem decken. Das ist der Punkt, den Sie angesprochen haben. Es ist aber gerade das Ziel, dort ein
Rechtssystem zu entwickeln, das unseren Anforderungen entspricht. Ich sage noch einmal: Zurzeit ist der
Bundesregierung kein Fall bekannt, in dem ein Urteil auf
Grundlage der Scharia ausgesprochen worden wäre.
Sind Sie sicher, dass sich die Rechtslage im Falle eines Übertritts von Muslimen zum Christentum, zum Judentum, zur Religion der Bahá'í oder zu einer anderen
Religion so gestaltet, dass in Zukunft keine strafrechtliche Verfolgung und erst recht keine Todesstrafe droht?
Ich habe in meiner Antwort vorhin ausgeführt: Die
afghanische Verfassung bezieht sich ausdrücklich auf die
Allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948, welche die Religionsfreiheit in vollem Umfang gewährleistet, also ausdrücklich auch das Recht, die Religion zu
wechseln.
Anders als andere islamische Länder hat Afghanistan
bei der Ratifizierung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte keinen Vorbehalt gegen
die Religionsfreiheit eingelegt. Die Bundesregierung
geht daher davon aus, dass die afghanische Verfassung
auch die Freiheit gewährleistet, die Religion zu wechseln.
Ich betone noch einmal: Die Bundesregierung wird
dazu beitragen, dass das in der afghanischen Verfassung
verankerte menschenrechtskonforme Verständnis auf allen Ebenen der Gerichtsbarkeit Eingang findet. Wir haben interveniert, weil wir mit dem, was da in den vergangenen Wochen passiert ist, nicht einverstanden waren.
Der Kollege Winkler hat eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, das, was Sie gerade gesagt haben,
steht aber in einem extremen Widerspruch zu dem, was
in der afghanischen Öffentlichkeit, unter anderem in der
afghanischen Presse, debattiert worden ist, nämlich wie
diesem Fall überhaupt beizukommen sei. Ich frage Sie,
ob Sie folgende Auffassung teilen: Offensichtlich war
die Rechtslage doch so, dass ein Übertritt zum Christentum nur dann straffrei ist, wenn eine Geisteserkrankung
vorliegt, und dass eine Todesstrafe dann in eine Gefängnisstrafe umgewandelt werden kann, wenn davon auszugehen ist, dass der Übertritt im Wahn stattgefunden hat.
Das deckt sich überhaupt nicht mit der Einschätzung, die
Sie eben gegeben haben. Die Einschätzung der Bundesregierung wird sich nicht nur auf das Lesen von Gesetzestexten stützen können; die Bundesregierung wird
wohl auch zur Kenntnis nehmen müssen, wie die breite
Öffentlichkeit in Afghanistan über diesen Fall diskutiert
hat.
Herr Kollege Winkler, ich möchte noch einmal auf
den Aspekt eingehen, den ich vorhin erwähnt habe: Afghanistan ist natürlich im Aufbau befindlich. Wir alle
müssen ein Interesse daran haben - wir müssen die entsprechende Unterstützung leisten -, dass dort ein
Rechtssystem entsteht. Ich teile insofern Ihre Auffassung. Die Bundesregierung wird sich nicht nur an dem
Verfassungstext orientieren - natürlich ist auch er wichtig -, sondern auch seine Umsetzung betrachten. Deshalb wird sie die Entwicklungen genau beobachten.
Es ist sicherlich nicht so, dass wir den von Ihnen
beschriebenen Fall akzeptieren und als nebensächlich
betrachten. Wir wollen, dass die Menschenrechte in
Afghanistan insgesamt akzeptiert werden und von Verwaltung und Justiz beachtet werden.
Ich rufe nun die Frage 28 des Kollegen Volker Beck
({0}) auf:
Wie sieht die Rechtspraxis in Afghanistan - Bereiche
Frauenrechte, Religionsfreiheit und Homosexualität - aus und
welche Konsequenzen hat dies für die Abschiebung afghanischer Flüchtlinge in der Bundesrepublik?
Herr Kollege Beck, die Lage der Frauen in Afghanistan verbessert sich trotz formeller Aufhebung der gegen
sie gerichteten Verbote aus der Talibanzeit nur langsam,
wie ich zugeben muss. Entwicklungsmöglichkeiten für
Mädchen und Frauen sind durch konservative gesellschaftliche Strukturen vor allem im ländlichen Bereich
weiterhin wesentlich eingeschränkt.
Zur Religionsfreiheit ist zu sagen, dass Art. 2 Abs. 1
der neuen afghanischen Verfassung bestimmt, dass der
Islam Staatsreligion Afghanistans ist. Art. 2 Abs. 2 dieser Verfassung räumt Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften das Recht ein - darauf sind wir vorhin
schon eingegangen -, ihren Glauben im Rahmen der Gesetze auszuüben und ihre religiösen Bräuche zu pflegen.
Dieses Recht steht unter einem Gesetzesvorbehalt. Ich
füge hinzu: Dieser Vorbehalt ist nach Kenntnis des Auswärtigen Amtes bislang nicht konkretisiert worden. Der
Bundesregierung ist kein Fall bekannt, in dem die Religionsfreiheit in Afghanistan durch ein rechtskräftiges
Gerichtsurteil eingeschränkt worden wäre.
Homosexualität ist in Afghanistan ein Tabuthema. Es
ist davon auszugehen, dass ein offenes Bekenntnis zur
Homosexualität zur gesellschaftlichen Diskriminierung
führen würde.
Eine Entscheidung über Konsequenzen für Rückführungen ausreisepflichtiger Personen mit afghanischer
Staatsangehörigkeit - diese Personen sind übrigens
keine Flüchtlinge im rechtlichen Sinne - liegt nach der
gesetzlichen Zuständigkeitsregelung bei den Innenbehörden der Länder.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Liegen dem Auswärtigen Amt Informationen darüber
vor, dass es beim Thema Homosexualität zu keiner Anwendung der Scharia kommt? Ist es seit dem
In-Kraft-Treten der Verfassung zu keinen strafrechtlichen Urteilen gegen Homosexuelle gekommen? Welche
strafrechtlichen Urteile oder welche anderweitigen Verfolgungsmaßnahmen sind Ihnen bekannt?
Wie ich vorhin ausgeführt habe, wird dieses Thema in
der afghanischen Gesellschaft tabuisiert. Insofern tritt
man damit nicht an die Öffentlichkeit. Der Bundesregierung ist bis jetzt tatsächlich kein Fall bekannt, dass Homosexualität verfolgt worden ist.
Menschenrechtsorganisationen berichten darüber leider nach wie vor anderes. Ich meine, dass wir bei der
Beantwortung der Frage „Welche Bedeutung hat das für
das Flüchtlingsrecht?“ auf die tatsächliche Situation und
nicht auf eine formalrechtlich Situation abstellen müssen. Schätzen Sie es tatsächlich so ein, dass man in der
aktuellen Situation, wo in Afghanistan die staatliche
Ordnung nicht alle Gebiete kontrolliert, Homosexuelle
oder Menschen, die die Religion gewechselt haben, nach
Afghanistan zurückführen darf, weil man sicher davon
ausgehen kann, dass bei ihnen weder für Leib und Leben
noch für Freiheit irgendeine Gefahr besteht?
In Ihrem ersten Teil haben Sie ausgeführt, dass Ihnen
Kenntnisse vorliegen. Deshalb würde ich einfach darum
bitten, dass wir diese bekommen, um dem nachgehen zu
können. Veränderungen in der Praxis haben letztlich natürlich auch Rückwirkungen in Bezug auf solche Rückführungen.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Winkler.
Herr Staatsminister, Sie haben gerade gesagt, man
könne davon ausgehen, dass ein öffentliches Bekenntnis
zur Homosexualität in Afghanistan zur gesellschaftlichen Diskriminierung führen könne. Nun ist es ja nicht
so, dass das in weiten Teilen der Bundesrepublik nicht
auch der Fall sein könnte. Teilen Sie aber die Auffassung, dass gesellschaftliche Diskriminierung von Homosexuellen in Afghanistan andere Konsequenzen mit sich
bringen könnte als in Deutschland und dass das auch Implikationen für das Fluchtverhalten und das Asylrecht
hat?
Herr Kollege Winkler, ich habe nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse verglichen, sondern nur auf die Frage
geantwortet, mit welchen Konsequenzen zu rechnen ist.
Ich sage noch einmal, auch im Hinblick auf die gestellte
Frage: Der Bundesregierung ist bis heute kein solcher
Fall bekannt. Wenn das, was Sie ausgeführt haben, dort
ganz anders betrachtet würde als bei uns und Konsequenzen für die Betroffenen hätte, dann müsste das bei
der Beurteilung bestimmter Rückführungsfälle natürlich
seinen Niederschlag finden.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des
Auswärtigen Amtes. Herr Staatsminister, ich danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Für die Beantwortung der FraVizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
gen steht der Parlamentarische Staatssekretär Peter
Altmaier zur Verfügung.
Die Frage 29 des Abgeordneten Jürgen Trittin wird
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 30 des Kollegen Markus Kurth auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass die
Zentrale Ausländerbehörde Dortmund abgelehnte Asylbewerber einer inoffiziellen Delegation aus Guinea vorführt, um
aufgrund einer Inaugenscheinnahme die Identität der abgelehnten Asylbewerber zu klären und so genannte Passersatzpapiere zum Zweck der Abschiebung auszustellen ({0})?
Herr Kollege Kurth, die Frage wurde teilweise bereits
von Staatsminister Gloser beantwortet. Ich darf noch
einmal darauf hinweisen, dass die Zentrale Ausländerbehörde in Dortmund nach bundesgesetzlichen Vorschriften gehandelt hat, und zwar im Rahmen des Aufenthaltsgesetzes. Diese Vorschriften werden nach Art. 83 des
Grundgesetzes von den Ländern als eigene Angelegenheiten ausgeführt.
Deshalb kann ich zu Ihrer Frage nur ganz allgemein
Folgendes sagen:
Wenn jemand rückgeführt werden soll, hat das zur
Voraussetzung, dass die Staatsangehörigkeit festgestellt
wird und nachfolgend auch Heimreisedokumente ausgestellt werden. Das wiederum bedingt die Kooperation
mit den beteiligten Staaten. Diese Kooperation erfolgt
im Einklang mit dem Völkerrecht. Es liegt in der Natur
der Sache, dass dem Staat, der die Rückübernahme einer
ausreisepflichtigen Person durchführen soll, im Zweifelsfall auch die Möglichkeit eingeräumt wird, sich diese
Person vorstellen zu lassen und sie zum Zweck der Verifizierung der Staatsangehörigkeit anzuhören. Das ist Voraussetzung für die Feststellung der Staatsangehörigkeit.
Die Rechtsgrundlage für diese Anhörungen findet
sich in § 82 Abs. 4 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes, wonach das persönliche Erscheinen des Ausländers unter
anderem bei den Vertretungen des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er vermutlich besitzt, angeordnet werden
kann. Es ist völlig unbestritten, dass der Begriff „Vertretung“ im Sinne dieser Vorschrift nicht räumlich - in Bezug auf Gebäude der diplomatischen Vertretungen -,
sondern in Bezug auf die handelnden Personen zu verstehen ist.
Haben Sie eine Zusatzfrage? - Bitte.
Gleichwohl werden Sie mir doch darin zustimmen,
dass man das Notwendige zum Zweck der Feststellung
der Staatsbürgerschaft im Rahmen der Verfahren der
Bundesrepublik Deutschland tun sollte, wo auch immer
die Vertretung ist. Wie also ist es zu bewerten, wenn der
Leiter der Zentralen Ausländerbehörde in Dortmund
sagt, wo die Delegation diese Inaugenscheinnahme der
Flüchtlinge oder abgelehnten Asylbewerber vornehme,
sei ein quasi exterritoriales Gebiet, und wenn er weiterhin erklärt, bei der Befragung gelte das Recht Guineas
auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland? Ist es
die Auffassung der Bundesregierung - ich frage das,
auch wenn die Durchführungszuständigkeit bei den Länderbehörden liegt -, dass dies zulässig ist?
Ich kann zu den konkreten Umständen des Vorgehens
der Zentralen Ausländerbehörde in Dortmund nur wiederholen, dass die Ausführung des Aufenthaltsgesetzes
durch die Länder erfolgt. Insofern verbietet sich eine
Kommentierung. Ich bitte auch um Verständnis, dass ich
keine Aussagen auf der Basis hypothetischer Annahmen
machen kann, die ich von diesem Platz aus nicht überprüfen kann und die auch nicht Gegenstand Ihrer Frage
waren.
Haben Sie eine zweite Zusatzfrage?
Kann die Bundesregierung denn zusichern, dass,
nachdem ich Ihnen selbstverständlich Belege für diese
Äußerung habe zukommen lassen, sie sich die entsprechende Praxis noch einmal genau anschaut und auch Gespräche mit der Zentralen Ausländerbehörde in Dortmund führt, um den Vorgang zu überprüfen?
Die Bundesregierung kann zusichern, dass sie die Unterlagen, die Sie uns übersenden, sorgfältig prüfen wird
und dass Sie dann eine entsprechende Antwort von uns
erhalten werden.
Die Fragen 31 und 32 der Kollegin Sevim Dagdelen
werden schriftlich beantwortet.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des
Bundesministeriums des Innern. Herr Staatssekretär, vielen Dank für die Beantwortung.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Für die Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Alfred
Hartenbach zur Verfügung.
Die Frage 33 des Kollegen Dr. Hakki Keskin wird
schriftlich beantwortet.
Dann kommen wir zur Frage 34 des Kollegen
Dr. Karl Addicks:
Ist der Bundesregierung bekannt, wie viele deutsche Unternehmen und natürliche Personen als so genannte Insolvenztouristen ihr Insolvenzverfahren in einem anderen EU-Mitgliedstaat, insbesondere im Elsass und im restlichen
Frankreich, anmelden und welcher Betrag an Gläubigerforderungen seitens der öffentlichen Hand dadurch verloren geht?
Herr Dr. Addicks, ich beantworte Ihre Frage zunächst
mit einem ganz einfachen Nein. Das Statistische Bundesamt erhebt sämtliche das Insolvenzgeschehen in
Deutschland betreffende Daten, die der Bundesregierung
zeitnah zur Verfügung stehen und die dann auch weiteren Beratungen des Bundesministeriums der Justiz zugrunde liegen. Diese Statistik enthält allerdings keine
Angaben über Personen, die etwa ihren Wohnsitz nach
Frankreich verlegen, um ein französisches Insolvenzverfahren zu durchlaufen. Insofern liegen der Bundesregierung auch keine Erkenntnisse vor, in welcher Höhe der
öffentlichen Hand Verluste durch im Ausland erteilte
Restschuldbefreiungen entstehen.
Ihre Zusatzfrage.
Danke. - Dann können Sie natürlich auch keine Angaben dazu machen, in welcher Höhe sich etwa die Ausfälle bei den privaten Gläubigerforderungen bewegen,
die durch diesen so genannten Insolvenztourismus verursacht werden.
Sie haben von „Insolvenztourismus“ gesprochen. Die
Europäische Insolvenzverordnung sieht allerdings nicht
vor - da Sie im Saarland wohnen, ist Ihnen das Problem
bekannt -, dass man eben mal nach Frankreich fährt und
dort ein Insolvenzverfahren durchläuft. In der Europäischen Insolvenzverordnung heißt es, dass für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Gerichte des Mitgliedstaates zuständig sind, in dessen Gebiet der Schuldner
den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat.
Eine weitere Möglichkeit bei einem unternehmerisch tätigen Schuldner ist, dass er dort eine Nebenniederlassung hat. Denkbar ist auch, dass deutsche Saarbrücker
Bürgerinnen und Bürger einen Nebenwohnsitz jenseits
der Grenze in Frankreich haben. Aber dazu liegen uns
keine Zahlen vor. Ein Insolvenzverfahren kann nur ordentlich und richtig durchgeführt werden - ich hoffe, es
wird richtig durchgeführt -, wenn in dem jeweiligen
Land ein Hauptwohnsitz existiert.
Ihre zweite Zusatzfrage.
Nein, danke.
Dann rufe ich die Frage 35 des Kollegen Dr. Addicks
auf:
Welche Position vertritt die Bundesregierung hinsichtlich
einer einheitlichen Insolvenzordnung auf EU-Ebene?
Herr Dr. Addicks, mit der Verordnung ({0}) Nr. 1346/
2000 vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren - ich
habe sie eben schon angesprochen - liegt ein ausdifferenziertes Rechtsinstrument vor, um grenzüberschreitende Insolvenzverfahren innerhalb der EU mit Ausnahme Dänemarks abwickeln zu können.
Die Europäische Insolvenzverordnung enthält jedoch
überwiegend nur Kollisionsrecht. Für eine vollständige
Harmonisierung des Insolvenzrechts ist nach Auffassung
der Bundesregierung die Zeit noch nicht reif, da das Insolvenzrecht auf vielfältige Sachverhalte Bezug nimmt,
die durch andere Rechtsgebiete wesentlich bestimmt
werden. Das gilt etwa für das allgemeine Zivilrecht, das
Arbeits- oder das Steuerrecht. Erst wenn auf diesen Gebieten weitere Harmonisierungsfortschritte erzielt wurden, ist es nach Auffassung der Bundesregierung sinnvoll, mit der Erarbeitung eines einheitlichen, EU-weit
geltenden Insolvenzrechts zu beginnen.
Haben Sie eine Zusatzfrage?
Ja. - Sieht denn die Bundesregierung einen Bedarf
- die entsprechenden Zahlen sind allerdings nicht bekannt; ich verfüge über Anhaltspunkte, dass sie in einer
Größenordnung von mehreren Milliarden liegen -, hier
zu einer Angleichung des Rechts auf europäischer Ebene
zu kommen?
Herr Kollege Addicks, ich habe diese Frage eigentlich
schon beantwortet. Ich will aber noch einen kleinen
Schlenker machen.
Es gäbe schon heute Möglichkeiten, uns diese Zahlen
bekannt zu geben. Nach der Europäischen Insolvenzverordnung könnte nämlich der Verwalter einen Antrag auf
Bekanntmachung in allen Staaten der Europäischen
Union - mit Ausnahme Dänemarks - stellen.
Der Verwalter könnte auch eine Eintragung in öffentliche Register beantragen. Bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland könnte dies beispielsweise sein:
eine Eintragung in das Grundbuch, wenn der Schuldner
Grundeigentum besitzt, oder eine Eintragung in das
Handelsregister, wenn der Schuldner eine dort eingetragene Firma besitzt. Aber das alles richtet sich nach dem
Insolvenzrecht des Staates, in dem der Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gestellt wurde.
Ich habe schon gesagt, dass wir es begrüßen würden,
wenn es zu einer weiteren Harmonisierung käme. Aber
dazu ist es erforderlich - das interessiert auch den Parlamentarischen Staatssekretär Andres -, dass es zum Beispiel im Arbeitsrecht und im Zivilrecht weitere Harmonisierungen gibt. Dann könnten wir diesen weiteren
Schritt gehen.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage?
Ja. - Sieht denn die Bundesregierung bis zu einer
möglichen Harmonisierung irgendeine Möglichkeit, auf
die Regierungen der anderen EU-Staaten einzuwirken,
die Insolvenzflucht zu verhindern?
Dies wird genauso schwierig sein, wie auf deutsche
Gerichte einzuwirken. Denn eine Regierung hat aufgrund der Gewaltenteilung keine Möglichkeit, auf die
Gerichte Einfluss zu nehmen. Ich kann Ihre Frage nicht
genauer beantworten. Ich würde mich aber gerne mit Ihnen - ich habe es Ihnen schon eben angeboten - darüber
einmal genauer unterhalten.
Wir gehen davon aus, dass nach der Europäischen Insolvenzverordnung in anderen Ländern der Europäischen Union ein Insolvenzverfahren nur dann eröffnet
wird, wenn die Voraussetzungen dafür vorliegen. Das
wäre der Fall, wenn sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners in diesem Staat befindet.
({0})
- Doch. So steht es in der Verordnung. Lesen Sie es
nach. Sie können ja an dem Gespräch ebenfalls teilnehmen.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des
Bundesministeriums der Justiz. Herr Staatssekretär, ich
danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Für die
Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer
Staatssekretär Hartmut Schauerte zur Verfügung.
Die Fragen 36 und 37 der Kollegin Marina Schuster
werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 38 der Kollegin Cornelia Hirsch
auf:
Wie bewertet die Bundesregierung vor dem Hintergrund
der Mitteilung des Statistischen Bundesamts, dass im vergangenen Jahr 2,2 Prozent bzw. 12 800 weniger Ausbildungsverträge als im Jahr 2004 abgeschlossen wurden, den Erfolg des
so genannten Ausbildungspakts?
Frau Kollegin Hirsch, die beiden letzten Jahre haben
gezeigt, dass der Ausbildungspakt gerade in einem ausbildungsmarktpolitisch ausgesprochen schwierigen konjunkturellen Umfeld wirkt und notwendig ist. Die Wirtschaft hat ihre Zusagen nicht nur eingehalten, sondern
um das Doppelte übertroffen.
Ich darf die entsprechenden Zahlen nennen. Es sind
30 000 neue Ausbildungsplätze im Jahresdurchschnitt
zugesagt worden. Das wurde in beiden Jahren eingehalten. In 2004 waren es 59 500 und in 2005 63 000. Es
wurde also eine beeindruckende Überschreitung der im
Pakt gemachten Zusagen erreicht.
Wir sagen, dass wir neue Ausbildungsplätze, Ausbildungszweige und -berufe schaffen müssen. Allein in diesem Jahr treten fünf neue und 14 modernisierte Ausbildungsordnungen in Kraft. Das Bundesministerium für
Wirtschaft und Technologie als Verordnungsgeber wird
unter Ausschöpfung aller gesetzlichen Möglichkeiten als
zusätzlichen Beitrag zum Ausbildungspakt angebotsorientiert neue Ausbildungsberufe schaffen, mit denen
sich auch kleine und mittlere Betriebe identifizieren können, um so deren Ausbildungsbereitschaft zusätzlich zu
steigern.
Die Bundesregierung wird im Rahmen des Ausbildungspaktes außerdem die Bemühungen verstärken, im
Zusammenwirken mit den Ländern und den Schulen die
Ausbildungsreife der Jugendlichen und damit ihre Ausbildungschancen zu verbessern. Dies ist ja nicht nur ein
Thema der ausbildenden Wirtschaft. Wir haben vielmehr
auch Probleme mit den Qualifikationen einer Reihe von
Schulabgängern.
Im Übrigen setzt die Bundesregierung darauf, dass im
Zuge des sich entwickelnden konjunkturellen Aufschwungs auch auf dem Ausbildungsmarkt positive Auswirkungen spürbar werden. Ich darf ergänzen: Am
30. Januar 2006 ist im so genannten Paktlenkungsausschuss die Zusage für das jetzt kommende Ausbildungsjahr erneuert worden.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Frau Kollegin? - Bitte.
Herr Staatssekretär, vielen Dank für die Beantwortung. - Sie hatten in Ihrer Antwort deutlich gemacht,
dass es sich bei den Vereinbarungen im Ausbildungspakt
um 30 000 neue Ausbildungsplätze - allerdings nicht um
zusätzliche Ausbildungsplätze - handelt. Wir haben
schon mehrfach die Kritik geäußert, dass die Vereinbarungen, die im Rahmen dieses Paktes getroffen wurden,
offensichtlich zu kurz greifen. Es zeigt sich auch an den
Zahlen, dass das Angebot an Ausbildungsplätzen insgesamt zurückgeht und nicht ausreichend ist.
Inwieweit würden Sie die Einschätzung teilen, dass es
sich bei den von Ihnen genannten Zahlen nur um neue
und nicht um zusätzliche Ausbildungsplätze handelt,
und wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund insbesondere die Situation, dass die Gewerkschaften angesichts
der Zahlen deutlich gemacht haben, dass sie nicht gewillt sind, sich am Ausbildungspakt zu beteiligen?
Ich bleibe bei meiner Aussage und bei meiner Antwort. Die Zusagen, die im seinerzeitigen Ausbildungspakt noch von der alten Bundesregierung vereinbart
wurden, werden nicht nur eingehalten, sondern übertroffen.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage? - Bitte.
Herr Staatssekretär, das war nicht meine Nachfrage.
Ich habe nicht gefragt, inwieweit die Zusagen eingehalten wurden, sondern mich erkundigt, inwieweit Sie der
Auffassung sind, dass die Vereinbarungen, die getroffen
wurden, weitreichend genug sind. Wenn man die Vereinbarung trifft, nur neue, aber keine zusätzlichen Ausbildungsplätze zu schaffen, dann wird dies natürlich die
Folge haben, dass die Anzahl der Ausbildungsplätze
nicht zunimmt. Genau das brauchten wir aber eigentlich.
Von daher noch einmal die Frage: Sind Sie der Auffassung, dass die Vereinbarungen des Ausbildungspaktes
ausreichend sind?
Ja, die Vereinbarungen des Ausbildungspaktes sind
ausreichend. Das kann über diesen Weg erreicht werden.
Alles Weitere muss man durch ganzjährige Anstrengungen mit der ausbildenden Wirtschaft, den Schulen und
Ländern sowie über die Ausbildungsordnungen versuchen zu verbessern.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Herr Staatssekretär, vielen Dank für die Beantwortung.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Für die Beantwortung der Fragen steht
der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Peter
Paziorek zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 39 der Kollegin Bärbel Höhn auf:
Welche Schritte plant die Bundesregierung, um die Agrarsubventionen, ihre Empfänger und ihre Auswirkungen auf
Beschäftigung, Umwelt- und Tierschutz für Bürgerinnen und
Bürger transparenter zu machen?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Kollegin Höhn,
die Antwort lautet wie folgt: Der jährliche agrarpolitische Bericht der Bundesregierung, der Subventionsbericht der Bundesregierung und weitere Veröffentlichungen enthalten eine Fülle von Informationen und
aktuellen Daten zu der oben genannten Frage. Daher besteht bereits ein hohes Maß an Transparenz.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie wissen, dass andere EU-Länder, insbesondere Dänemark, aber zum Beispiel auch
Schweden und Großbritannien, die Agrarsubventionen
veröffentlichen. Ich denke, bei den Steuermitteln - diese
werden übrigens auch vom deutschen Steuerzahler
aufgebracht -, die in diesen Bereich fließen, ist es, was
die Transparenz angeht, ein sinnvolles Verfahren, wenn
man diejenigen, die Subventionen bekommen, und die
Höhe der Subventionen, die sie erhalten, öffentlich benennt. Wie stehen Sie dazu?
Verehrte Frau Kollegin, es ist rechtlich umstritten, ob
Geschäftsgeheimnisse bekannt gegeben werden dürfen.
Es stellt sich die Frage, wie nach unserer Rechtsordnung
Geschäftsgeheimnisse zu definieren sind.
Eine weitere Zusatzfrage?
Herr Staatssekretär, Länder wie Schweden, Großbritannien und Dänemark - ({0})
Entschuldigung, Frau Kollegin. Der Herr Staatssekretär war mit seiner Beantwortung noch nicht fertig.
Entschuldigung!
Ich denke, wir sollten ihm noch einmal die Gelegenheit zur Beantwortung geben.
Aber gerne. Vielleicht beantwortet er meine Frage ja
besser als bisher.
Hoffnung sollte man immer haben; aber zu viel Hoffnung kann ich Ihnen nicht machen, Frau Höhn.
Wie in Deutschland ein Geschäftsgeheimnis zu definieren ist, ergibt sich nicht aus der schwedischen oder
der dänischen Rechtsordnung, sondern aus der deutschen Rechtsordnung. Danach ist unbestritten, dass Geschäftsgeheimnisse auch dann vorliegen, wenn Rückschlüsse auf die Wettbewerbsposition gezogen werden
können. Es gibt in der Literatur, auch in der deutschen
Literatur, vereinzelt die Position, dass Informationen, die
den Wettbewerb betreffen, niemals als Geschäftsgeheimnisse definiert werden können, sodass sie - ganz in Ihrem Sinne - bekannt gegeben werden dürfen. Dies ist
nach meinem Kenntnisstand aber eine Mindermeinung.
Auch in erstinstanzlicher Rechtsprechung wird diese
Rechtsmeinung nicht geteilt, sodass wir zu dem Ergebnis kommen, dass es sich hier um Geschäftsgeheimnisse
handelt und wir dies daher nicht weiter spezifizieren
können.
Jetzt haben Sie das Wort zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich erinnere mich an das Verbraucherinformationsgesetz. Danach dürfen Informationen
ebenfalls wegen der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse
nicht weitergegeben werden. Nun kommen Sie mit derselben Argumentation: Hier können Informationen nicht
weitergegeben werden, weil auch die Höhe der Subventionen, die diese Unternehmen erhalten, Betriebs- und
Geschäftsgeheimnis ist. Sind Sie nicht mit mir der Meinung, dass man diese Definition von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen in Deutschland endlich einmal ändern muss, damit wir zu transparenten Informationen
kommen?
Ich bin nicht Ihrer Meinung, Frau Abgeordnete.
Dann rufe ich die Frage 40 der Kollegin Bärbel Höhn
auf:
Ist die Bundesregierung bereit, die Direktzahlungen an
landwirtschaftliche Betriebe in Abhängigkeit zu Betriebsgröße und Beschäftigtenzahl in aggregierter Form zu veröffentlichen und die Direktzahlungen an die 100 Betriebe, die
die höchsten Beträge erhalten, offen zu legen?
Verehrte Frau Kollegin, die Verteilung der Direktzahlungen an landwirtschaftliche Betriebe nach Größenklassen der Zahlungsbeträge wird von der EU-Kommission,
auch nach Mitgliedstaaten sortiert, regelmäßig veröffentlicht und ist über das Internet abrufbar. Die Aktualisierung der Zahlen für das Haushaltsjahr 2005 ist derzeit in
Bearbeitung.
Informationen über die Zusammensetzung und Verteilung der Direktzahlungen nach Produktionsrichtungen, Rechtsformen und Betriebsgrößen finden sich im
Agrarpolitischen Bericht der Bundesregierung und im
Statistischen Jahrbuch über Ernährung, Landwirtschaft
und Forsten. Aus den betreffenden Tabellen ist auch die
Höhe der Direktzahlungen je Arbeitskraft ersichtlich.
Die Direktzahlungen an die 100 Betriebe, die die
höchsten Beträge erhalten haben, kann ich hingegen
auch nicht in anonymisierter Form offen legen. Es handelt sich um Einzelbetriebsdaten, die von den zuständigen Länderbehörden erhoben werden. Der Informationsgewinn durch eine solche Veröffentlichung wäre auch
nur äußerst begrenzt, da die Direktzahlungen bekanntermaßen weitgehend von der Betriebsgröße abhängen und
die eingangs genannten aggregierten Zusammenstellungen ausreichen.
Eine Zusatzfrage? - Bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben eben gesagt, dass Sie
wegen des deutschen Rechts die Höhe der Subventionen,
die die einzelnen Unternehmen erhalten, nicht darlegen
können. Ich hatte nun gefragt, ob man nicht zumindest
die Direktzahlungen an die 100 Betriebe nennen könnte,
die die höchsten Beträge erhalten. Wie ist denn Ihre Auffassung? Halten Sie es für sinnvoll, dass die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland ein Recht darauf
hat, die Beträge, die diese Unternehmen bekommen, zu
erfahren, oder halten Sie das nicht für sinnvoll?
Grundsätzlich ist es sinnvoll, Frau Kollegin, dass die
Bevölkerung erfährt, wie die Struktur der Finanzmittel
aussieht und wie viel die Unternehmen, die Bäuerinnen
und Bauern - nach der aggregierten Zusammenstellung
und basierend auf der Größenordnung ihrer Betriebe erhalten. Das erfolgt aber. Man bekommt eine genaue
Auskunft darüber, wie viele Höfe und wie viele Eigentümer Zuschüsse bekommen, und zwar aufgeteilt beispielsweise nach Zuschüssen bis 1 000 Euro und bis
5 000 Euro. Diese Zusammenstellung wird auf Anfrage
verteilt. Es gibt auch Tabellen dazu in den genannten Berichten. Dadurch wird die Struktur, die agrarpolitische
Dimension deutlich.
Darüber hinaus halten wir es jedoch für rechtlich bedenklich, Informationen auch in anonymisierter Form
herauszugeben, weil Rückschlüsse möglich sind.
Haben Sie eine zweite Zusatzfrage?
Ja, Herr Staatssekretär, ich habe nicht nach den rechtlichen Bedenken gefragt. Vielmehr habe ich einfach
nach Ihrer politischen Auffassung gefragt: Halten Sie es
für sinnvoll, dass die Bevölkerung in Deutschland erfährt, welche 100 Betriebe im Agrarbereich die höchsten
Subventionen von der EU bekommen, und dass man die
Subventionen, die diese Betriebe von der EU bekommen, offen legt? Ich will noch einmal betonen: Ich habe
nicht nach der rechtlichen Einschätzung gefragt. Vielmehr möchte ich Sie fragen: Halten Sie es politisch für
sinnvoll, dass die Bevölkerung diese Daten erhält?
Es tut mir Leid, wenn ich Ihre Frage vorhin falsch
verstanden habe. Sie haben das aber jetzt konkretisiert.
Ich halte es nicht für sinnvoll, dass eine Veröffentlichung
in dieser Form erfolgt.
Jetzt haben wir eine Zusatzfrage des Kollegen
Löning.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, dass die EUKommission im Rahmen ihrer Transparenzinitiative
plant, die Mitgliedsländer anzuweisen, diese Daten offen
zu legen? Hat die Bundesregierung dazu eine Meinung?
Mir ist bekannt, dass auf europäischer Ebene eine solche Initiative diskutiert wird. Ich muss klar und deutlich
sagen: Die Bundesregierung wird eine solche Entwicklung im rechtlichen Bereich nicht blockieren. Vielmehr
haben auch wir ein Interesse daran, dass - damit kann
ich an die Frage von Frau Höhn anschließen - so weit
wie möglich Transparenz gewährleistet wird. Aber man
muss auch Folgendes sehen: Transparenz ist in einem
Rechtsstaat nur dann möglich, wenn dafür der rechtliche
Rahmen gegeben ist. Sollte sich auf europäischer Ebene
ein neuer Rechtsrahmen ergeben, wird die Bundesregierung die Möglichkeiten dieses Rechtsrahmens voll ausschöpfen und wir müssen dann prüfen, inwieweit eine
neue rechtliche Grundlage vorliegt.
Eine weitere Zusatzfrage, diesmal von der Kollegin
Koczy.
Danke sehr. - Bei dieser Frage geht es ja darum, wie
die Verteilung von Steuermitteln transparent gemacht
werden kann. In Sonderheit betrifft das die EU-Subventionen, zu denen ich sagen möchte: Es liegt im gesamtgesellschaftlichen Interesse, wenn das transparent gemacht wird. Teilen Sie meine Auffassung, dass dadurch,
dass nicht transparent wird, in welchem Maße und zu
welchem Zweck diese Mittel verteilt werden, Wettbewerbsverzerrungen möglich sind, die sich daraus ergeben, dass einige Betriebe zum Nachteil der deutschen
Steuerzahlerin und des deutschen Steuerzahlers Mittel
erhalten und kleinere Betriebe deswegen benachteiligt
werden?
Frau Kollegin, ich kann im Augenblick nicht nachvollziehen, wie die Wettbewerbsverzerrungen, die Sie
ansprechen, dadurch verhindert werden könnten, dass
Daten, die im Augenblick nach dem deutschen Recht
eindeutig dem Betriebsgeheimnis unterliegen, offen gelegt werden. Vielmehr müsste es darum gehen, dass
staatliche Stellen, aber auch Stellen der Selbstverwaltung in diesen Fragen von Subventionsempfängern konkret angesprochen werden sollten. Es ist die Aufgabe der
staatlichen Stellen, für eine rechtlich einwandfreie Verteilung der Subventionen zu sorgen. Die staatlichen Stellen und die Stellen der Selbstverwaltung müssen diese
Aufgabe wahrnehmen. Ich bin der Ansicht: Möglichen
Hinweisen, die sich aufgrund der aggregierten Daten
vielleicht ergeben, sollten die staatlichen Stellen im Rahmen des üblichen Verfahrens nachgehen.
Ich rufe die Frage 41 der Kollegin Koczy auf:
Ist die Bundesregierung bereit, jeweils die 20 größten
deutschen Empfänger von Agrarexportsubventionen in den
verschiedenen Produktkategorien offen zu legen, und, wenn
ja, in welcher Form wird sie dies tun?
Verehrte Kollegin, ich beantworte Ihre Frage wie
folgt: Bei den in der Frage gewünschten Informationen
handelt es sich um Geschäftsgeheimnisse, die nicht unbefugt offenbart werden dürfen. Daher verbietet sich
eine derartige Veröffentlichung.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Es ist sehr interessant, Ihren Ausführungen zu folgen.
Ich bin der Meinung, dass in dem Augenblick, wo Betriebe solche Mittel erhalten, die Frage berechtigt ist,
welche gesellschaftlichen Gegenleistungen die Unternehmen erbringen, die solche Subventionen erhalten.
Sind diese Zahlungen gerechtfertigt, auch wenn man
nicht genau weiß, was die Betriebe mit den Mitteln machen?
Ich muss noch einmal darauf hinweisen, dass sich dieser Bereich einer politischen Diskussion im Detail entzieht, sobald es um ganz konkrete Fragen nach ganz bestimmten Unternehmen, zum Beispiel nach den
20 größten Unternehmen - diese haben Sie in Ihrer
Frage angesprochen -, geht. Eine grundsätzliche politische Diskussion wird dadurch natürlich nicht verhindert.
Die Berichte aus unserem Hause enthalten ja auch entsprechende Daten, damit überprüft werden kann, ob das
in der heutigen Zeit agrarpolitisch sinnvoll ist oder ob
das bisherige Verfahren fortgesetzt werden sollte. Informationen zu ganz konkreten Firmen, Unternehmen bzw.
im Einzeleigentum befindlichen Höfen halten wir aus
rechtlichen Gründen für in höchstem Maße bedenklich.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage? - Eine Zusatzfrage von Frau Höhn.
Herr Staatssekretär, Sie haben eben sehr deutlich gemacht, dass es juristisch nicht machbar ist, dass Sie es
aber auch für politisch nicht sinnvoll halten, dass die Bevölkerung in Deutschland erfährt, wie die Agrarsubventionen verteilt werden, und dass die 100 Empfänger der
höchsten Agrarsubventionen der EU benannt werden.
Ich frage Sie einfach: Was ist der Grund? Mit welcher
Begründung wollen Sie der Bevölkerung in Deutschland
diese Daten vorenthalten?
Frau Abgeordnete, es kommt zunächst einmal darauf
an - das steht im Vordergrund meiner Beantwortung -,
dass man diese Fragen nicht unter dem Aspekt, was man
für sinnvoll oder nicht sinnvoll hält, beantwortet, sondern sich eindeutig daran orientiert, was der rechtliche
Rahmen zulässt. Nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz - in Deutschland erfolgen die Zuteilung von Prämien und die Zuweisung von Subventionen eindeutig im
Rahmen eines Verwaltungsverfahrens - haben die Beteiligten einen Anspruch darauf, dass ihre Betriebs- und
Geschäftsgeheimnisse und auch Steuerfragen von den
Behörden nicht unbefugt offenbart werden. Unabhängig
davon, ob sich das aufgrund europarechtlicher Vorgaben
eines Tages ändern wird - in diesem Zusammenhang
habe ich durchaus Offenheit signalisiert -, müssen wir
zum jetzigen Zeitpunkt davon ausgehen, dass wir rechtlich gesehen nicht die Möglichkeit haben, Ihrem Wunsch
nachzukommen.
Wir sind damit zeitlich am Ende der Fragestunde. Die
weiteren Fragen werden schriftlich beantwortet. Herr
Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung der
Fragen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der FDP
Bundespolitische Folgerungen aus den Vorgängen an der Rütli-Hauptschule in Berlin
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Dr. Wolfgang Gerhardt für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, weil ein Brief, ein
Hilferuf eines Lehrerkollegiums die Öffentlichkeit erreicht hat und weil aufgrund dieses Hilferufes erkennbar
ist - Brennpunkt ist wahrscheinlich nicht nur diese
Schule -, dass wir in Deutschland Schulen haben, die
sich in einer ganz schwierigen Situation befinden, denen
von der Politik, von der Öffentlichkeit und von der
Schulverwaltung ungenügend geholfen wird. Dass Schulen Ruhe brauchen, dass diese Schule eine neue Chance
erhalten sollte, dass an dieser Schule jetzt jemand als
kommissarischer Schulleiter engagiert arbeitet, dass das
Kollegium über die Wirkung des Briefes vielleicht ein
Stück weit erschrocken ist, ist die eine Seite. Die Wahrheit auf der anderen Seite ist aber, dass wir durch dieses
Schreiben darauf hingewiesen werden, dass wir seit Jahren einen Realitätsverlust bei der Integrationspolitik in
Deutschland haben.
({0})
Das ist der eigentliche Anlass für die Erörterung des
Themas im Deutschen Bundestag.
Einen Tag bevor dieser Brief die Öffentlichkeit erreicht hat, hatte die CDU in der Bezirksversammlung
Neukölln den Antrag gestellt, sich um diese Schule zu
bemühen und zu kümmern. Der zuständige Stadtrat antwortete darauf, mit dem Kollegium sei alles besprochen,
jeder einzelne Punkt durchdekliniert, und im Übrigen
habe man die Schulleitung und das Kollegium darauf
hingewiesen, dass es nicht in Ordnung sei, solche Briefe
unter Umgehung des Dienstweges zu schreiben. Wenn
das die staatliche Antwort einer Verwaltung auf diesen
Brennpunkt, auf diesen Vorgang ist, dann ist das an
Ignoranz nicht zu überbieten.
({1})
Es wird eine Herausforderung für uns sein, auch an anderen Orten - die Rütli-Schule ist nicht die einzige
Schule -, in denen es Schulen mit solchen Unterrichtssituationen gibt, die in Brennpunkten und in solchen sozialen Milieus liegen, ernsthaft über Integrationspolitik
zu sprechen und uns nicht mehr aufgrund der alten Political Correctness zu scheuen, offen zu sagen, was die
Anforderungen eines freiheitlichen Staatswesens an diejenigen sind, die zu uns kommen, und was hier getan
werden muss. Das ist unumgänglich.
({2})
Das beginnt mit einem ganz kleinen Sachverhalt, der
unabdingbar für Integration, für Kommunikation in der
Schule und auch für Kommunikation des Elternhauses
mit der Schule ist: dem Erlernen der deutschen Sprache.
({3})
Ich betone das, weil vielleicht viele hier sagen, das sei
eine bare Selbstverständlichkeit. Ich habe noch Diskussionen im Gedächtnis, in denen Mitbürgerinnen und Mitbürger den Eindruck erweckten, als sei die Anforderung,
zuerst einmal die deutsche Sprache zu lernen, eine Art
Beeinträchtigung der kulturellen Identität derer, die zu
uns kommen. Für mich ist das eine bare Selbstverständlichkeit für die Kommunikation in freiheitlichen Staaten.
({4})
Wir haben das Problem lange verdrängt. Wir kannten
die hohen Anteile von Ausländern mit sprachlichen Problemen auch an anderen Schulen in Deutschland. Die
PISA-Studien haben uns schon früher auf Niveauverluste im Unterricht hingewiesen.
({5})
- Herr Benneter, wenn Sie jetzt sagen, ich würde offene
Tore einrennen, dann begrüße ich den Sinnenswandel
der Sozialdemokratischen Partei, der durch diesen Zwischenruf zum Ausdruck kommt.
({6})
Wir haben mit Ihnen früher ganz andere Diskussionen
geführt. Ihre kleine Lärmkulisse hier sollte bei Ihnen
keine Selbsttäuschung bewirken. Die deutsche Sprache
zu erlernen, bedeutet nämlich zum einen, dass wir uns
das hier mitteilen und offene Türen einrennen;
({7})
ich möchte aber zum anderen wissen - Schule ist das
verfassungsrechtliche Hausgut der Länder -, wie das in
den Ländern und hier speziell in der Hauptstadt Berlin
sichergestellt wird.
({8})
Es muss eine exakte Prüfung erfolgen und die Einschulung kann nur erfolgen - zumindest mit Stützmaßnahmen -, wenn die deutsche Sprache einigermaßen beherrscht wird.
Ich halte das im Übrigen auch für eine Anforderung
an die Elternhäuser. Ich frage mich, ob hier eine genügende Kommunikation deutscher Behörden gegeben ist,
die gegebenenfalls mit Sanktionen reagieren können. Alles, was ich bisher höre, bedeutet, dass nicht genügend
getan wird. Das Problem wird nicht hinreichend ernst
genommen. Es wird in Debatten erörtert; aber es wird
nichts vollzogen. Darum geht es in zweiter Linie.
Da wir jetzt offene Türen einrennen und uns einig
sind, Herr Benneter, mache ich Ihnen folgenden Vorschlag: Gehen Sie zum Schulsenator - er spricht ja
gleich hier - und fragen ihn, wie das in Berlin vollzogen
wird.
({9})
Denn hier Ausführungen zu machen, das ist nur die eine
Seite.
Ich sage das deshalb, weil der Hilferuf der Lehrerinnen und Lehrer doch auch darauf hinweist, dass Toleranz
nicht Gleichgültigkeit sein kann, dass Respekt vor kultureller Identität nicht Wegsehen bedeuten kann, dass das
genaue Hinsehen die Herausforderung ist, dass das in einem freiheitlichen Staatswesen notwendig ist und dass
dieser Einstellung auch zum Durchbruch verholfen werden muss.
Es gibt ganz einfache pädagogische Erkenntnisse, die
für jedes Kind gelten und die wir auch nicht vergessen
sollten, wenn es um zugewanderte Kinder und um deren
Elternhäuser geht: Es ist kein Aufwachsen in einer freiheitlichen Gesellschaft möglich, ohne in der Schule
Leistung und Disziplin zu fordern. Es ist kein anderer
pädagogischer Weg möglich als die intensive Zuwendung zu jedem einzelnen Kind und die Anforderung an
die Elternhäuser, ihren Kindern ein Mindestmaß an Zivilisiertheit mit in die Schule zu geben. Das ist notwendig.
({10})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich bin, Frau Präsidentin, nach meiner Überzeugung
mit den fünf Minuten so zurechtgekommen, dass die
Kollegen verstehen können, worauf es uns ankommt.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({0})
Für die Bundesregierung hat nun das Wort die Staatsministerin Dr. Maria Böhmer.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir wissen sehr wohl, worauf es ankommt.
Das heißt, wir müssen die Realitäten in den Blick nehmen. Ich will einige dieser Realitäten am Anfang meiner
Rede sehr deutlich nennen - wir haben sie heute Morgen
im Innenausschuss genauso benannt -: In vielen großen
Städten in unserem Land werden wir im Jahr 2010 die
Situation vorfinden, dass die Hälfte der unter 40-Jährigen einen Migrationshintergrund hat und die andere
Hälfte Deutsche sind.
({0})
Dann werden wir nicht mehr über Mehrheiten und Minderheiten diskutieren. Daher sind wir nun gefordert, dafür zu sorgen, dass die Integration konkret wird und dass
aus Parallelgesellschaften ein Miteinander wird.
({1})
Hinzu kommt, dass jeder fünfte Schüler, der aus einer
Zuwandererfamilie stammt, ohne Schulabschluss bleibt;
in Neukölln ist es sogar jeder Dritte. Bundesweit können
40 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund
keinerlei berufliche Qualifizierung vorweisen. Legt man
allein diese wenigen Zahlen zugrunde, muss man feststellen, dass in der Tat erhebliche Integrationsdefizite
bestehen.
Die Zeit des Wegschauens bzw. der Gleichgültigkeit
ist vorbei. Wir müssen die Bilanz, die ich gerade genannt
habe, zur Kenntnis nehmen und daraus die richtigen
Konsequenzen ziehen. Deshalb wird sich die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode schwerpunktmäßig
mit dem Thema Integration beschäftigen. Auch dann,
wenn die Scheinwerfer nicht mehr auf die Rütli-Schule
gerichtet sind, werden wir bei der Integration einen
Schwerpunkt setzen und dieses Thema mit aller Kraft in
Angriff nehmen.
({2})
Da ich am vergangenen Freitag die Rütli-Schule besucht habe, kann ich Ihnen sagen: Diese Schule ist ein
Sonderfall, aber leider kein Einzelfall. Der Anteil der
Schülerinnen und Schülern arabischer Herkunft beträgt
dort 43 Prozent; 30 Prozent von ihnen sind türkischer
Abstammung und 13 Prozent sind deutscher Herkunft.
Allerdings möchte ich betonen: Allein die Tatsache, dass
der Ausländeranteil an einer Schule hoch ist, muss noch
nicht bedeuten, dass dort Gewalt vorprogrammiert ist
({3})
und dass die Schule und damit die Schülerinnen und
Schüler keine Chance haben. Es kommt ganz darauf an,
in welchem Zustand sich die Schule befindet. Die Lehrerinnen und Lehrer der Rütli-Schule stehen inzwischen
mit dem Rücken zur Wand. Sie wurden allein gelassen.
Das darf nicht sein. Sie brauchen Hilfe und Unterstützung.
({4})
Ich war sehr verwundert, als ich feststellen musste,
dass erst vor kurzem zwei Sozialarbeiter und ein Schulpsychologe in diese Schule geschickt worden sind, dass
die Leitung der Schule nicht wahrgenommen wurde,
weil die Schulleiterin seit längerer Zeit erkrankt ist, und
dass die Stelle des Konrektors seit mehr als zehn Jahren
nicht besetzt ist. Es darf einfach nicht sein, dass Schulen
so allein gelassen werden.
({5})
Das ist kein Einzelfall. An zehn weiteren Berliner
Hauptschulen gibt es ebenfalls keinen Konrektor, weil
sich für diese Stellen niemand findet.
({6})
Natürlich muss man fragen, warum das so ist. Die notwendige Hilfe von außen habe ich bereits angesprochen.
Aber man muss auch die Frage stellen, ob Hauptschullehrer, die in sozialen Brennpunkten tätig sind, vielleicht
nicht nur mehr Anerkennung, sondern auch eine Leistungszulage verdient haben. Denn dort, wo Leistung besonders gefordert ist, muss sie, wie ich finde, auch honoriert werden.
({7})
Zur Forderung nach einer Abschaffung der Hauptschule kann ich nur sagen: Wir müssen von unseren typischen Reflexen Abstand nehmen. Ich weiß, dass der
Bund für die Bildung nicht mehr zuständig ist; das ist
richtig.
({8})
Aber an dieser Stelle müssen wir uns auf die Stärken der
Hauptschule besinnen. Wer die Hauptschule abschreibt,
der schreibt auch ihre Schüler ab. Dazu darf es nicht
kommen.
({9})
Wir müssen für eine stärkere Verzahnung von Schule
und Betrieb sorgen, die auch praktiziert wird, zum Beispiel an den so genannten SchuB-Klassen in Hessen oder
durch das Hamburger Modell. Auch in Berlin gibt es
einzelne Schulen, an denen man solche Wege beschreitet. Dort haben die Schülerinnen und Schüler sehr wohl
eine Chance.
({10})
Die Schule muss also gestärkt werden, damit sie in der
Lage ist, ihre Aufgaben zu erfüllen.
({11})
An dieser Stelle will ich betonen: Es ist notwendig,
dass wir insbesondere den Hauptschülerinnen und -schülern eine Perspektive geben. Denn eines haben mir die
Schüler der achten Klasse der Rütli-Schule, die ich besucht habe, sehr deutlich gesagt: Wir haben doch keine
Chance auf einen Ausbildungsplatz.
Deshalb wollen wir als neue Bundesregierung alles
daransetzen, dass diejenigen, die einen Migrationshintergrund haben, in der Zukunft bessere Chancen haben, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Das haben wir im
Ausbildungspakt an der Stelle „Jugendliche mit Migrationshintergrund“ verankert.
({12})
Ich werde morgen gemeinsam mit Kollegen aus dem
Bundesbildungsministerium mit Unternehmen, die von
Ausländern geführt werden, darüber sprechen, dass gerade in diesem Bereich mehr Ausbildungsplätze bereitgestellt werden. Ich finde, wir müssen dem Beispiel
Frankreichs folgen.
({13})
Hier sind die deutschen Unternehmen gefordert, sich im
Rahmen einer Selbstverpflichtung bereit zu erklären,
mehr Ausbildungsplätze für Jugendliche zur Verfügung
zu stellen; denn daran entscheiden sich die Zukunftschancen.
({14})
- Ich erinnere mich, dass Sie einmal in der Verantwortung standen; es ist noch gar nicht so lange her. Wer hat
denn die Integrationsdefizite zu verantworten?
({15})
Sie waren in der Verantwortung.
({16})
Ich will noch ein deutliches Wort zum Erwerb der
deutschen Sprache sagen - ich bin Herrn Gerhardt sehr
dankbar, dass er diesen Punkt benannt hat -: Es muss gelingen, dass jedes Kind, das die Grundschule besucht, die
deutsche Sprache so beherrscht, dass es dem Unterricht
von Anfang an voll folgen kann; das ist das A und O.
({17})
Ich sehe, dass die Bundesländer die Kindergärten immer mehr zu Bildungseinrichtungen entwickeln
({18})
und dass dort frühkindliche Förderung stattfindet. Wir
brauchen Sprachstandstests und wir brauchen entsprechende Fördermöglichkeiten.
({19})
Wir hatten vor einiger Zeit eine laute Diskussion im
ganzen Land über die Hoover-Realschule in Berlin.
({20})
Dort hatte sich die Schule gemeinsam mit den Eltern und
mit den Schülerinnen und Schülern entschlossen, dass
Deutsch die Sprache ist, die im gesamten Schulbetrieb
gesprochen wird, dass Deutsch also auch auf dem Schulhof gesprochen wird. Es ging ein Aufschrei durch unser
Land. Ich habe mich gewundert: Es muss doch selbstverständlich sein, dass Deutsch nicht nur im Unterricht,
sondern auch auf dem Schulhof gesprochen wird, im gesamten Schulleben: damit Schülerinnen und Schüler eine
bessere Chance haben. Deshalb sage ich: Dieses Beispiel
muss Schule machen.
({21})
Hinzukommen muss ein Zweites. Denn die Lehrerinnen und Lehrer haben mir gesagt, sie können sich mit
den Eltern kaum verständigen. Es ist in der Tat ein Problem, wenn Eltern zum Gespräch, zum Elternnachmittag
oder zum Elternabend eingeladen werden und man mit
ihnen ganz konkret über die Situation der Schülerinnen
und Schüler reden will, man sich aber nicht verständigen
kann und die Kinder Dolmetscherfunktion übernehmen
müssen. Deshalb ist es für uns so wichtig, dass die Integrationskurse, die Elternkurse und die Sprachangebote,
ganz gezielt für Mütter, genutzt werden.
({22})
Heute Vormittag haben wir im Innenausschuss darüber
gesprochen, wie wir dieses Instrument der Integrationskurse weiterentwickeln können, damit Eltern ihren Kindern die Unterstützung geben können, die sie brauchen.
Das bedeutet, wir müssen Integration konkret machen.
Diesen Weg werden wir fortsetzen: Wir arbeiten auf einen nationalen Aktionsplan hin; denn wir müssen die
Ebenen Bund, Länder und Kommunen verbinden. Wir
wollen, dass Kinder in unserem Land Chancen haben,
damit sie sich später beruflich integrieren können. Das
wird unsere Aufgabe sein; das sind die Konsequenzen
aus den Vorgängen in der Rütli-Schule.
Herzlichen Dank.
({23})
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch,
Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Gäste auf den Tribünen! An der RütliSchule ist einiges falsch gelaufen. Das ist zu Recht zu
kritisieren. Aber jede Verallgemeinerung ist gefährlich:
({0})
Zum einen haben nicht alle 54 Hauptschulen in Berlin
solche Probleme; ich habe bei meinen regelmäßigen
Schulbesuchen im Wahlkreis viele gute Erfahrungen gemacht. Zum anderen, Frau Böhmer, gibt es auch an vielen Hauptschulen, in denen nicht ein einziges Kind mit
so genanntem Migrationshintergrund ist, ähnliche Probleme wie in dieser Hauptschule.
({1})
Ich lehne es also ab, das allein als Migrationsproblem zu
kennzeichnen; es ist vielmehr ein Problem der Bildungspolitik.
({2})
Der neue Leiter der Rütli-Schule hat gestern auf der
Pressekonferenz einiges klargestellt: Es gibt große Probleme an der Schule, aber es gibt auch eine Diskrepanz
zwischen den Mediendarstellungen und der Situation an
dieser Schule. Seine Äußerungen lassen sich wie folgt
zusammenfassen:
Erstens. An der Rütli-Schule werden ab sofort ein
Arabisch und ein Türkisch sprechender Sozialpädagoge
arbeiten. Ab 1. Mai 2006 wird es einen weiteren Sozialarbeiter geben. Das ist der richtige Weg.
({3})
Zweitens. Die Schülerinnen und Schüler wenden sich
gegen eine diskriminierende Verurteilung in der Öffentlichkeit.
Drittens. Die Rütli-Schule sollte nicht zur Wahlkampfarena werden; denn das würde weder den Schülerinnen und Schülern noch den Lehrern helfen.
({4})
Meine Damen und Herren, die Redezeit reicht nicht
aus, um sich mit allen unqualifizierten Äußerungen zu
diesem Thema auseinander zu setzen. Die üblichen Verdächtigen wie Herr Schönbohm und Herr Stoiber haben
ja für jedes Problem die gleiche Lösung: einsperren oder
ausweisen. Das ist dumm und gefährlich zugleich.
({5})
Wer sich ernsthaft mit dem Problem Schule beschäftigen möchte, muss auch bereit sein, die eigene Politik zu
hinterfragen. Herr Gerhardt, ich gehe davon aus, dass die
FDP dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat, um
deutlich zu machen, dass die Rütli-Schule für eine bildungspolitische Sackgasse und für ein bildungspolitisches Auslaufmodell steht, nämlich für das dreigliedrige
Schulsystem.
({6})
Das ist ein Selektionssystem, mit dem viele junge Menschen unabhängig von ihrer Muttersprache frühzeitig ins
Abseits gestellt werden. Denken Sie doch mal selber
darüber nach, wie Sie in der 4. Klasse, in der 6. Klasse
oder in der 8. Klasse waren und wann die Weichen gestellt wurden.
({7})
Damit sinken die Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen dieser Kinder drastisch.
({8})
Wen wundert es dann, dass diese Perspektivlosigkeit zu
Lethargie und Aggressionen führen kann?
Meine Damen und Herren, die Frage, die hier besprochen werden muss, ist doch, was der Bundestag tun
kann, um den jungen Menschen an dieser Schule und an
den anderen Hauptschulen in unserem Land eine Chance
auf Bildung und Arbeit zu geben. Die Bundestagsfraktion der Union hat nun einen Integrationsgipfel bei Frau
Merkel vorgeschlagen. Ich sage Ihnen: Das ist ein Placebo für die aufgeregte Öffentlichkeit. Das wird an der
Situation der Jugendlichen nichts ändern; denn es ist ein
Trugschluss, dass man mit Gipfeltreffen alle Probleme
lösen könnte. Das ist symbolisch und kurzatmig. Wir
brauchen konkrete Vorschläge.
({9})
Die Linksfraktionen im Bundestag und in den Landtagen haben klare bildungs- und arbeitsmarktpolitische
Vorstellungen:
Erstens. Wir wollen das dreigliedrige Schulsystem
durch eine integrative Schule ersetzen,
({10})
die ein gemeinsames Lernen von Schülern aus unterschiedlichen sozialen und soziokulturellen Gruppen
möglich macht.
Zweitens. Wir wollen auch schon für das Haushaltsjahr 2006 mehr Geld für Ganztagsschulen bereitstellen, um die Bildungschancen für alle Schülerinnen
und Schüler zu verbessern.
({11})
Drittens. Wir wollen eine faire und effiziente Möglichkeit, Sprache so früh wie möglich zu erlernen. Wir
wollen nicht, dass mit Fingern auf die gezeigt wird, die
die deutsche Sprache nicht perfekt beherrschen, sondern
wir wollen ihnen helfen, diese Sprache zu lernen.
Viertens. Wir wollen Jugendlichen eine Ausbildungsperspektive geben und halten die von der Koalition aus
CDU/CSU und SPD beschlossenen Kürzungen für jugendliche Empfänger von Arbeitslosengeld II für das
falsche Signal.
({12})
Wir erwarten von der Bundesagentur für Arbeit mehr
Anstrengungen bei der Qualifizierung und Vermittlung
von jungen Menschen in den ersten Arbeitsmarkt.
({13})
Meine Damen und Herren, in den 20er-Jahren des
letzten Jahrhunderts orientierten sich die Lehrer der
Rütli-Schule an den Ideen der Reformer Wilhelm
Paulsen und Peter Petersen. Die Hauptidee war: Kinder
sollten in der Schule nicht nur Wissen erwerben, sondern
auch das Zusammenleben einüben und gestalten. Ich
würde mich freuen, wenn wir der Schule, den Schülerinnen und Schülern und allen Schulen im Lande wirklich
helfen könnten und wenn wir hier nicht eine Wahlkampfarena betreten würden.
Vielen Dank.
({14})
Für den Bundesrat hat nun Herr Senator Klaus Böger
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
komme gerade von einer Konferenz aller meiner Hauptschulleiterinnen und Hauptschulleiter in Berlin. Ich habe
nicht zum ersten Mal und, wie ich denke, auch nicht zum
letzten Mal mit den Damen und Herren gesprochen.
({0})
Die wichtigste Konsequenz, die die Kolleginnen und
Kollegen aus dieser Diskussion um die Rütli-Schule ziehen, ist die, dass jetzt alle in unserem Land offen, kritisch und auch selbstkritisch über Wege zur Integration
von Kindern von Ausländern, von Kindern, die eine
nicht deutsche Herkunftssprache sprechen, und von Kindern, deren Eltern bildungsfern oder arbeitslos sind, diskutieren müssen. Das ist wichtig.
({1})
- Für manche ist es nie zu spät.
({2})
- Den Zuruf des Kollegen aus der CDU/CSU, wie viele
Jahre ich im Amt bin, nehme ich gerne auf. Ich bin genau sechs Jahre im Amt. Glauben Sie im Ernst, Herr
Kollege, dass dieses Problem in sechs Jahren entstanden
ist? Dieses Problem ist in Deutschland in über 20 Jahren
entstanden; das müssen wir zur Kenntnis nehmen.
({3})
Die Rütli-Schule ist in der Tat kein Einzelfall. Ich warne
davor, dies in Berlin oder in anderen bundesdeutschen
Großstädten isoliert zu betrachten. Es ist in der Tat eine
Herausforderung.
Sie sitzen hier im Reichstag im Bezirk Berlin-Mitte.
({4})
- Ja, im Bundestag. Aber es geht um den Bezirk Mitte.
In diesem Bezirk sind 56 Prozent aller Schülerinnen und
Schüler Kinder mit Migrationshintergrund, Tendenz steigend. Was können und müssen wir in diesem Land tun?
Das Erste ist: Wir müssen diese Kinder als unsere Kinder annehmen und nicht wegschicken.
({5})
Wir müssen sie - das sage ich ganz betont - bilden und
erziehen. Dies ist notwendig, weil es erhebliche kulturelle Differenzen zwischen dem, was Kinder in den
Elternhäusern prägt, und dem gibt, was sich in jahrzehntelanger Diskussion als unsere gemeinsamen Wertvorstellungen entwickelt hat. Das ist die Wahrheit.
Wir brauchen Unterstützung, weil unsere Gesellschaft
und die Gesellschaftsstruktur enorme Probleme mit Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit hat, was sich auch
auf die Eltern auswirkt. Das ist - bei allem Respekt nicht nur ein Problem der Bildungspolitik.
({6})
Ich habe viele Ratschläge gehört und bekommen. Ich
möchte Ihnen sagen, dass wir in Berlin nicht den Weckruf der Rütli-Schule brauchten. Wir in Berlin sind - übrigens mit vielen in diesem Raum - schon längst auf dem
richtigen Weg. In Berlin gibt es die erste und wichtigste
Bildungseinrichtung für Kinder, und zwar für mehr als
90 Prozent der Kinder - das ist gut und richtig so -, und
es gibt längst einen verpflichtenden Sprachtest für alle
Kinder mit vier Jahren.
({7})
In Berlin als erstem und einzigem Bundesland gibt es
die Verpflichtung, dass Kinder, die sprachliche Defizite
aufweisen und keine Kita besuchen, vor der Einschulung
einen Sprachkurs von 330 Stunden absolvieren. Wenn
die Eltern sich weigern, ihr Kind zu diesem Kurs zu
schicken, müssen die Eltern ein Bußgeld zahlen. Das ist
keine bayerische Kabinettsvorlage, sondern Berliner Gesetzeslage.
({8})
Lieber Kollege Gerhardt, glauben Sie mir, in vielen
Bereichen sind wir schon weiter, aber wir sind längst
noch nicht da, wo wir hinkommen müssen, weil es in der
Bildung sehr lange dauert, bis eine Fehlorientierung korrigiert wird.
({9})
Ich sage Ihnen: Wir - damit meine ich nicht nur das konkrete Verwaltungshandeln - in der Bundesrepublik
Deutschland haben bei vielen Fragen generell zu lange
weggesehen
({10})
und gedacht, die Dinge regelten sich von alleine. Nichts
regelt sich von alleine. Herr Kollege Wellmann, als alter
Westberliner wissen Sie, dass in Westberlin 40 Prozent
der Schüler von Hauptschulen keinen Abschluss erreichten.
({11})
Das könnten die Väter der jetzigen Schüler sein. In dieser Zeit war meine Kollegin Laurien Senatorin. Hören
Sie auf, mit billigem Kleingeld zu arbeiten. Das mache
ich nicht mit.
({12})
Ich nehme gerne die Gelegenheit wahr, einen anderen
Punkt anzusprechen. Wir haben - diese Entwicklung ist
noch nicht abgeschlossen - alle Grundschulen in Berlin,
in denen glücklicherweise sechs Jahre lang gemeinsam
gelernt wird, zu Ganztagsgrundschulen gemacht. Für
diese Millionen - die Milliarden waren leider nicht allein
für Berlin - zum Ausbau von Ganztagsgrundschulen will
Senator Klaus Böger ({13})
ich mich bedanken. Das ist konkrete Hilfe und Unterstützung für konkrete Bildungspolitik.
({14})
Ich möchte etwas zum Thema Gewalt sagen. Mir liegen exakte Zahlen vor, weil Berlin das einzige Land ist,
das alle Schulen verpflichtet, jeden - auch noch so kleinen - Gewaltvorfall zu melden. Ich habe deshalb einen
sehr genauen Überblick, was dort geschieht. Das Problem beschränkt sich leider nicht auf die Hauptschulen;
es besteht auch in den Grundschulen, Realschulen und
Gymnasien und auch anderswo als in Berlin. Es hilft
nichts, auf andere zu zeigen. Wir müssen uns der Frage
stellen.
({15})
Das heißt für mich - ich habe darüber lange mit den
Kollegen diskutiert -: Die schulischen Disziplinarmittel
reichen aus. Das Wichtigste ist, dass die Schule selbst
entscheidet und gemeinsam durchsetzt, was möglich ist.
Respekt - und zwar Respekt von Lehrern gegenüber
Schülern und von Schülern gegenüber Lehrern - ist kein
altertümlicher Begriff, sondern eine Notwendigkeit im
Umgang miteinander.
({16})
Das kann man durchsetzen und das wird auch in Schulen
durchgesetzt. Übrigens, Frau Kollegin Böhmer, ist die
Hoover-Schule mit dem amerikanischen Präsidentennamen mit meiner Unterstützung diesen Weg gegangen.
Es gibt in Berlin längst Schulen, an denen ein Handyverbot und andere klare Verbote gelten, aber nicht par
ordre du mufti, sondern selbst erarbeitet und durchgesetzt. Das ist der entscheidende Punkt.
({17})
Wir werden uns beim Thema Gewalt - zwischen
schulischen Disziplinarmaßnahmen, Erziehung, Jugendsozialarbeit, Jugendamt oder dem Jugendstrafgericht
gibt es eine Lücke, die wir notwendigerweise ausfüllen
müssen - damit befassen müssen, wobei ich Sie dabei
um Mithilfe bitte, wie wir Jugendliche, die sich schlecht
und mies verhalten, in der Schule mit Sanktionen belegen können, die auch tatsächlich durchgesetzt werden,
statt nur damit zu drohen, dass ein Schüler mal zu Hause
bleibt oder in eine andere Schule kommt. Darüber müssen wir nachdenken, weil in vielen Bereichen keine natürlichen Erziehungsinstanzen mehr existieren. Wer das
bestreitet, der sollte die Berliner Schulen besuchen und
sich der Realität stellen. Sie alle sind herzlich eingeladen - wenn möglich, nicht alle auf einmal.
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat nun die Kollegin Renate Künast, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich eine Bemerkung zur Rede von Frau Ministerin
Böhmer vorwegschicken. Dass Sie mit der Ankündigung
eines nationalen Integrationsgipfels ein Luftschloss aufbauen, gleichzeitig aber darauf hinweisen, dass Sie letzten Freitag die Rütli-Schule besucht haben, halte ich,
ehrlich gesagt, für ein Armutszeugnis,
({0})
weil es meines Erachtens schlicht und einfach zu spät ist.
({1})
Dahinter steckt auch etwas anderes. Herr Böger hat es
gerade angesprochen. Ich bin nicht hier, um Herrn Böger
und den Berliner Senat zu beweihräuchern. Ich hätte immer noch Verbesserungsvorschläge. Aber was hat denn
die CDU in den letzten Jahren getan, Frau Böhmer? Sie
hätten zum Beispiel mit einem Ganztagsschulprogramm
viel früher dabei helfen können, dass in dieser Republik
Ganztagsschulen mit einer guten Nachmittagsförderung
ausgebaut werden.
({2})
Das haben Sie gestoppt.
Sie hätten im Zusammenhang mit der doppelten
Staatsbürgerschaft beim Zuwanderungsgesetz viel stärker darauf hinarbeiten müssen, dass die betroffenen Kinder in dieser Republik eine Perspektive bekommen und
als Menschen respektiert werden,
({3})
damit deutlich wird, dass dies unsere Kinder sind.
({4})
Damit komme ich zum Kern. Wir reden hier definitiv
über ein deutsches Problem - diese Feststellung richte
ich wegen der aktuellen Vorschläge von Herrn
Schönbohm und Herrn Pflüger zur Abschiebung von
Mehrfachtätern besonders an die CDU -, das mit Abschiebung nicht gelöst werden kann.
({5})
Die Jugendlichen an der Rütli-Schule stammen aus Berlin. Sie sind zu einem guten Teil hier geboren und aufgewachsen. Sie sind Teil dieser Gesellschaft.
({6})
Gewalt an Schulen gibt es übrigens auch dort, wo fast
ausschließlich Schülerinnen und Schüler mit deutschem
Pass sind. Herr Gerhardt, ich nenne als Beispiel die Sekundarschule „Karl Marx“ in Gardelegen in SachsenAnhalt. Dort ist ein Viertel der Lehrer krank
({7})
- das spiegelt die stressige Situation in der Schule wider und es gibt Pöbeleien und Bedrohungen durch Schüler.
Sobald Journalisten auf dem Schulhof auftauchen, werden etwa Feuerlöscher in Brand gesetzt. Wir dürfen aber
auf dieses Problem nicht erneut mit Ausgrenzung reagieren und sagen: Die haben sich gefälligst diszipliniert zu
verhalten. Vielmehr handelt es sich um ein deutsches
Problem. Die Kernfrage lautet, wie wir des sozialen Problems Herr werden, wie wir diesen Kindern und Jugendlichen - die Förderung sollte schon im frühkindlichen
Stadium beginnen - eine Perspektive in dieser Republik
bieten können, und zwar zu unser aller Nutzen.
({8})
- Wir werden es Ihnen gegebenenfalls erklären.
({9})
Es geht um soziale Exklusion, um Ausgrenzung. Herr
Gerhardt, Sie haben große Worte gefunden. Ich hätte mir
gewünscht, dass Sie schon 1988, als Sie Präsident der
Kultusministerkonferenz waren, ein gezieltes Konzept
zur Integration vorgelegt hätten. Dann wären wir heute
vielleicht schon weiter.
({10})
Ich kann mich noch gut daran erinnern, was ich 1988 in
Berlin gemacht habe. Damals habe ich mich im Wesentlichen nicht mit Ihnen, sondern mit der Berliner CDU
gestritten, weil diese gesagt hat: Wie kommen wir denn
dazu, den Migranten noch Deutschkurse zu bezahlen?
Das ist doch Luxus; das machen wir nicht.
({11})
In dieser Republik sprechen zu viele Kinder schlecht
deutsch bei der Einschulung. Das ist vor allem ein Problem von Migrantenkindern, aber nicht nur. Vielmehr
sind auch deutsche Kinder betroffen. Umso trauriger
stimmt mich das, was bei der Föderalismusreform geschieht. Angesichts der Tatsache, dass jedes dritte deutsche Kind vor der Schulzeit Sprachförderung braucht,
kann ich nur sagen: Ein Fehler der Föderalismusreform
ist, dem Bund keinerlei Möglichkeiten für eine gemeinsame Planung und für Finanzhilfen zu geben. Damit sind
wir bei einem der Kernthemen.
({12})
Wir erwarten von den betroffenen Eltern und Kindern, die in dieser Republik leben wollen, dass sie
Deutsch lernen und sich bei der Gestaltung einbringen.
Aber wir müssen auch Respekt vor den Kindern haben
- daran mangelt es in diesem Land - und sie als kleine
Persönlichkeiten akzeptieren. Das bedeutet nicht nur
frühkindliche Sprachförderung, sondern auch, dass die
Wirtschaft - das müssen wir einfordern - Ausbildungsplätze zur Verfügung stellt. In diesem Zusammenhang
muss man auch noch einmal über eine Ausbildungsplatzabgabe nachdenken.
({13})
Man sollte sich trauen, Druck auf die Wirtschaft auszuüben.
Bei der Integration brauchen die Schulen Autonomie.
Sie sollten spezifische Angebote machen und Maßnahmen selbstständig umsetzen können. Wir brauchen im
Übrigen mehr Sprach- und Integrationskurse. Frau
Böhmer, wenn man Ihren Worten nur einen Hauch Glauben schenken soll, sollten Sie die Kürzung der Haushaltsmittel für Integrationskurse um 67 Millionen Euro
zurücknehmen.
({14})
Wir brauchen dieses Geld für neue Kurse, für die betroffenen Kinder, für das Zusammenleben.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Nicht durch Streichen, sondern durch Investieren lösen Sie das Problem. Wie gesagt, es ist ein deutsches
Problem, das Sie nicht mit Abschiebung lösen können.
({0})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Friedbert Pflüger,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Künast, ich möchte zuerst deutlich machen
- ich glaube, darüber besteht im Hause Konsens -, dass
es bei dem angesprochenen Thema nicht in erster Linie
um Ausländer auf der einen und Deutsche auf der anderen Seite geht.
({0})
Trotz der Aufgeregtheit dürfen wir uns nicht in eine falsche Frontlinie treiben lassen.
({1})
Die eigentliche Front ist: Rechtschaffene gleich welcher
Herkunft, auf der einen Seite gegen Störer, Kriminelle,
Drogenhändler und Extremisten auf der anderen Seite.
Das ist die Frontlinie, um die es eigentlich geht.
({2})
Es ist wichtig, dass wir uns vor Augen führen: Alle
Probleme der Integration, alle Probleme, die mit Schule
zusammenhängen, können wir in einer Stadt wie Berlin
nur lösen, wenn wir die Eltern und die Schüler, gerade
aus Migrantenfamilien, gewinnen, mitzumachen und die
Gewalttäter zu isolieren. Wir können es nicht gegen sie
schaffen, sondern müssen sie mitnehmen. Das ist eine
ganz wichtige und wesentliche Aufgabe.
({3})
Es sind nämlich gerade viele türkische Familien - ich
habe gestern an der Rütli-Schule mit türkischen Schülern
und mit Schülersprechern gesprochen -, es sind viele
Immigranten, Herr Böger, die sich beklagen, dass an den
Schulen zu wenig Disziplin herrscht, dass zu viel Schulschwänzen erlaubt wird, dass die Leute in der Schule
keine Werte vermittelt bekommen. Da muss sich an unseren Schulen etwas verbessern! Das wollen gerade auch
die Migrantenfamilien, aber Sie, Herr Böger, haben es
nicht in Angriff genommen. Da muss sich in Berlin etwas ändern.
({4})
Ich möchte eines zum Thema „Deutsch“ sagen - Herr
Gerhardt und andere haben es angesprochen -: 1998
oder 1999 hat Herr Schönbohm, damals Innensenator in
Berlin, Vorschläge gemacht. Er forderte, den Deutschunterricht zu forcieren, Deutsch zu einer Grundlage zu machen. Da haben Sie, Herr Böger, gesagt, das sei Deutschtümelei.
({5})
Es ist noch gar nicht so lange her, dass auf diese Weise
reagiert worden ist. Ich kann mich gut daran erinnern!
({6})
Es ist wichtig - da gebe ich Herrn Böger Recht -, zu
verstehen: Die Probleme, die wir haben, sind nicht fünf
oder zehn Jahre alt; sie haben zum großen Teil ihre Wurzeln im Beginn sehr langer Entwicklungen. Wir alle haben dabei Fehler gemacht. Wer wollte das bestreiten!
Aber, Herr Böger - es tut mir furchtbar Leid -: Zur
Frage der Durchsetzung des Rechts an den Schulen, zur
Frage der Durchsetzung von Deutsch als Verkehrssprache an den Schulen hat meine Partei, die CDU, von Anfang an das Richtige gesagt; andere haben weggeschaut
und sich in Multikultiträumereien geflüchtet.
({7})
Herr Böger, wenn Sie sagen, alle hätten Fehler gemacht, dann stimme ich natürlich zu. Jetzt befinden wir
uns aber in dieser Situation. Wenn ich im „Tagesspiegel“
von gestern Ihre Aussage lese, es würden zwar alle Gewaltfälle gemeldet, aber lediglich „bei Amoklauf, Mord,
Schusswaffengebrauch, Geiselnahme“ ließen Sie sich informieren, dann frage ich mich: Was sind denn das für
Zustände in Berlin, in Ihrer Behörde, Herr Böger?
({8})
Das haben Sie gesagt. Es steht im „Tagesspiegel“. Ich
kann es Ihnen geben. Wenn man so an die Dinge herangeht, dann verhält man sich wie ein Arzt im Krankenhaus, der erst dann tätig wird, wenn der Patient schon
auf der Intensivstation liegt. Das ist eine Politik, die wir
ablehnen und die falsch ist.
({9})
- Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen. Herr
Böger selbst hat doch Fehler eingeräumt. Das ist auch
gut so, denn in Berlin haben wir es in der Tat mit einer
total verfehlten Integrations-, Rechts- und Gesellschaftspolitik, vor allem aber mit einer verfehlten Bildungspolitik zu tun.
Jetzt gibt es einige in der SPD - ich finde es gut, dass
Sie, Herr Böger, nicht dazu gehören -, die meinen, das
Allheilmittel sei, die Hauptschule abzuschaffen. In Berlin gibt es aber sehr gute Hauptschulen, die sich dagegen
wehren würden, abgeschafft zu werden. Sie sind, nicht
weil sie viel Unterstützung von der Senatsverwaltung erhalten haben, gut geworden, sondern weil sie selbst initiativ geworden sind. Zum Beispiel die Nikolaus-AugustOtto-Hauptschule in Berlin: eine fabelhafte Schule, die
aus eigener Initiative Elternseminare anbietet. Eine fantastische Geschichte! Oder die Jean-Piaget-Hauptschule
in Hellersdorf: Sie bemüht sich, zusammen mit den Betrieben Praktika anzubieten. Das heißt, es gibt auch gute
Beispiele.
({10})
Nun schmeißen Sie nicht das ganze Schulsystem um,
wie es Ideologen in der SPD und in anderen Parteien
wollen!
({11})
Lassen Sie mich ein Letztes sagen. Ich zitiere aus einem Brief von Lehrern, die nicht an der Rütli-Hauptschule, sondern an der Theodor-Plivier-Oberschule
unterrichten - Sie müssen sich einmal überlegen, was es
bedeutet, wenn Lehrer einen solchen Brief schreiben -:
Die Quote polizeibekannter Kleinkrimineller in unseren
Klassen ist „erschreckend hoch, gewaltbereite Intensivtäter mit erheblichem Einfluss“ sitzen „kurze Zeit nach
ihrer Verurteilung“ wieder im Unterricht. Ein Teil der
Schüler bringt seine Bandenkriminalität mit in die
Schule. - Ich könnte weitere solche Zitate vortragen. Irgendjemand wird für solche Zustände doch wohl Verantwortung tragen und übernehmen.
({12})
Für diese verfehlte Schulpolitik tragen nicht die Lehrer,
sondern dieser rot-rote Senat die Verantwortung.
({13})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Das Allerschlimmste, was
einem in einer solchen Situation einfällt - ({0})
- Können Sie mal bitte ruhig sein!
Kommen Sie aber bitte wirklich zum Schluss. Sie haben Ihre Redezeit längst überschritten.
Das liegt aber an den vielen Zwischenrufen, Frau Präsidentin.
({0})
Ich war schon großzügig, Herr Kollege. Ich bitte
wirklich darum, zum Schluss zu kommen.
Ich komme zum Schluss. - Ich will nur noch sagen:
Das Einzige, was wir alle miteinander nun wirklich nicht
machen sollten,
({0})
ist das, was der Regierende Bürgermeister von Berlin
gemacht hat, indem er gesagt hat, es handele sich um
ausgebrannte Lehrer, die man durch bessere Lehrerpersönlichkeiten ersetzen müsse. Die Schuld für diese Probleme jetzt bei diesen Lehrern abzuladen, das ist nun
wirklich der falsche Weg. Wir müssen die Lehrer an solchen Schulen stärken und nicht beschimpfen.
({1})
Nun hat der Kollege Markus Löning für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir eine kurze Vorbemerkung. Herr Böger, Sie
haben hier lobend erwähnt, dass die Vorgänge um die
Rütli-Schule endlich eine überfällige Diskussion in
Gang gebracht haben. Da haben Sie zweifellos Recht.
Aber ich frage mich, Herr Böger: Warum kommt es erst
jetzt auf die Tagesordnung? Sie wissen davon schon
lange. Ihr Haus weiß davon schon lange. Sie haben es
unter der Decke gehalten. Lehrer in Berlin bekommen
einen Maulkorb verpasst.
Ich würde mich freuen, Herr Böger, wenn Sie die
Lehrer, die die Zivilcourage gehabt haben, an die Öffentlichkeit zu gehen, ausdrücklich belobigen würden, wenn
Sie sagen würden: Ihr seid den richtigen Weg gegangen,
als ihr die Zivilcourage aufgebracht habt, an die Öffentlichkeit zu gehen und solche Diskussionen loszutreten.
Ich wiederhole: Ich würde mich freuen, wenn Sie diese
Damen und Herren ausdrücklich belobigen würden und
wenn Sie ihnen keinen Maulkorb verpassen würden, wie
Sie es gemacht haben.
({0})
Wir stehen hier auch auf den Scherben einer ideologischen Debatte, was die Integrationspolitik angeht. Frau
Künast, von Ihrer Seite ist hier jahrelang romantisierend
vorgegangen worden.
({1})
Da wurde zur Zuwanderung gesagt: Hauptsache, es
kommen mehr Leute und es wird ein bisschen bunter;
das alles bringt überhaupt keine Probleme mit sich, solange man nur nett zu den Leuten ist. Das ist schief gegangen. Diese Multikultiromantik ist in die Hose gegangen. Sie ist ein Grund dafür, warum wir jetzt da sind, wo
wir sind.
({2})
Aber ich muss denselben Vorwurf auch an die andere
Seite des Hauses richten. Auch die Union hat sich in der
Zuwanderungspolitik den Realitäten jahrelang, auch in
der Zeit der Koalition mit uns bis 1998, verweigert.
Auch das muss hier einmal deutlich gesagt werden.
({3})
Jetzt sind offensichtlich alle schlauer. Ich hoffe, dass
wir hier gemeinsam den richtigen Weg finden, eine verMarkus Löning
nünftige Integrationspolitik zu betreiben, die fordert und
die auch fördert. Beides gehört zusammen. Wir müssen
die Anerkenntnis unserer Grundwerte fordern. Wir müssen Deutschkenntnisse fordern. Aber als Gesellschaft
müssen wir selbstverständlich auch sagen: Ihr seid hier
willkommen, wenn ihr euch unserer Gesellschaft anpasst.
({4})
Die Debatte, die wir hier führen, beschäftigt sich aber
eben nicht nur mit der Frage der Integration, sondern
auch mit unserer Schul- und Bildungspolitik. Frau
Künast, offensichtlich haben auch Sie die „taz“ gelesen.
Ich hatte mir dasselbe schöne Beispiel herausgesucht,
weil es wichtig ist, klar zu machen, dass es nicht nur eine
Integrationsdebatte ist, um die es hier geht; vielmehr
geht es um Perspektiven für unsere Jugendlichen. In Gegenden, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist und die wirtschaftliche Perspektive unserer Jugendlichen schlecht
ist, wo es keine Aussicht gibt, im Anschluss an die
Schule eine Lehrstelle oder einen Arbeitsplatz zu finden,
haben wir die Probleme. Wie sollen wir die Kinder motivieren, die Schule vernünftig abzuschließen
({5})
- richtig -, wenn sie wissen, dass sie im Anschluss sowieso keine Arbeit finden?
Ich finde es sehr schön, dass dieser Zwischenruf ausgerechnet aus Ihrer Ecke kommt. In der Zeit, in der Sie
in Berlin regieren, ist die Arbeitslosigkeit in Berlin um
3 Prozentpunkte gestiegen. Schreiben Sie sich das einmal hinter die Ohren! Was Sie machen, ist keine soziale
oder sozialistische Politik. Was Sie hier veranstalten, ist
zutiefst unsozial.
({6})
Wo Sie regieren, ist die Arbeitslosigkeit höher und steigt
weiter. Das ist das, was an dieser Stelle unsozial ist.
({7})
Frau Böhmer, Sie haben das Beispiel Frankreich angesprochen. Ich muss ehrlich sagen: Das ist mir wirklich
völlig unverständlich. Wie kann man in dieser Debatte
das Beispiel Frankreich anführen? Dort ist die Jugendarbeitslosigkeit noch höher als hier. Dort gibt es eine
Ausbildungsplatzabgabe und sie führt genau zu dem,
wovor wir immer gewarnt haben:
({8})
Es gibt weniger Ausbildung und mehr Jugendarbeitslosigkeit. Also, Frankreich ist das denkbar schlechteste
Beispiel an dieser Stelle.
({9})
Frau Lötzsch, Sie versuchen, das auf die Bildungspolitik zu schieben. Was wir brauchen - das ist ganz
ohne Zweifel richtig -, ist eine andere Bildungspolitik.
({10})
Wir brauchen mehr Autonomie an den Schulen. Wir
müssen die Schulen ausstatten. Wir müssen in unserer
Debatte als Politiker gegenüber der Gesellschaft auch
einmal klar machen: Es ist eine bewusste politische Entscheidung, dass die Schulen in dem Zustand sind, in dem
sie sind, weil wir das Geld, das wir haben, an anderer
Stelle und nicht für die Schulen ausgeben. Das müssen
wir klar machen. Das vermisse ich an dieser Stelle. Das
vermisse ich auch beim rot-roten Senat.
({11})
Das andere ist die Frage - Frau Lötzsch, dazu sagen
Sie nichts -: Wie bekommen wir die Wirtschaft in Berlin
und in der Bundesrepublik in Schwung? Denn nur das
wird am Ende Lebensperspektiven für unsere Jugendlichen schaffen. Nur wenn es uns gelingt, wieder auf einen
Wachstumskurs zu kommen, nur wenn wir erreichen,
dass durch Wirtschaftswachstum Arbeitsplätze entstehen, gerade auch in Berlin, werden wir es schaffen, die
Jugendlichen aus dieser Situation zu befreien und die sozialen Probleme auch in Kiezen wie Neukölln wenigstens annähernd zu lösen. Ohne das wird es nicht gehen.
Dazu hat aber weder Rot-Rot in Berlin irgendetwas getan noch haben Sie von Rot-Grün dazu irgend etwas getan, solange Sie im Bund regiert haben.
Vielen Dank.
({12})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Michael
Bürsch, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat, die Rütli-Schule hat durch ihren Hilferuf auf
ein sehr ernstes Problem aufmerksam gemacht, auf ein
Problem der Integrationspolitik und der Bildungspolitik.
Was wir jetzt erleben, ist ein Lehrstück dazu, wie Politik
auf Probleme reagieren kann. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie so oft im Leben. Die eine Möglichkeit wird uns
vorgeführt: Die Reaktion ist kurzatmig, populistisch, aktionistisch und gnadenlos vereinfachend.
({0})
Die andere Methode ist, sachgerecht, differenziert, nachhaltig, vielleicht auch nach dem Prinzip Gründlichkeit
vor Schnelligkeit vorzugehen.
Was die erste Methode angeht, brauchen wir nicht
sehr weit zu schauen. Herr Pflüger, auch wenn Sie
differenzierter angefangen haben: Das war ein gutes
Stück Demagogik.
({1})
Das war auch ein gutes Stück politischer Populismus.
Wenn wir einmal einen maßgeblichen CSU-Politiker
zu Wort kommen lassen, dann zeigt sich, wozu eine solche Schnellreaktion führen kann. Es gibt von Edmund
Stoiber das Dreiphasenmodell. Auf einen kurzen Nenner
gebracht lautet es - das ist ein Zitat -:
1. Wer nicht Deutsch kann, wird nicht eingeschult.
2. Wer in der Schule randaliert, fliegt aus der Klassengemeinschaft. 3. Wer sich dauerhaft nicht integriert, muss Deutschland wieder verlassen.
({2})
So einfach ist das. Wenn das nicht Populismus ist,
dann möchte ich wissen, was das sonst sein soll. Das ist
eine Irreführung des Publikums; denn so erweckt man
den Eindruck, als ob damit irgendein Problem gelöst
würde.
({3})
Ich brauche dazu kein eigenes Urteil abzugeben. Das
„Handelsblatt“, das nicht im Verdacht steht, sozialdemokratisch oder träumerisch zu sein, schreibt heute im Leitartikel - das sollte, meine ich, schon Anlass zum Nachdenken geben -:
Die Deutschen bekommen zu wenige Kinder. Doch
manche Kinder sind den Deutschen zu viel. Diese
bittere Quintessenz lässt sich ziehen aus der aktuellen Integrationsdebatte … Auf die Aggressionen
ausländischer Jugendlicher antworten Teile der
CDU/CSU mit Gegenaggression. Ausweisen oder
einsperren, fordern Edmund Stoiber und Co. getreu
dem biblischen Motto: Auge um Auge, Zahn um
Zahn.
({4})
Dieser Rückfall in obrigkeitsstaatliche Reflexe vermischt mit Blut-und-Boden-Anachronismen
({5})
- das ist die Sprache des „Handelsblattes“ ({6})
wäre besser unterblieben. Wir können es uns
- das ist nun der Appell, den wir, meine ich, alle unterschreiben können am allerwenigsten leisten, eine Front zwischen
deutschen Erwachsenen und ausländischen Jugendlichen aufzubauen.
Das hat auch Herr Böger hier vollkommen zu Recht beschrieben.
({7})
Das weist genau in die Richtung, wie wir eine Lösung
finden müssen. Ich spreche nicht als Bildungspolitiker,
sondern als Integrationspolitiker. Mein Appell lautet:
Das Problem wird nicht allein von schulischer Seite, allein von der Schulverwaltung gelöst werden können. Es
ist ein Problem der Bürgergesellschaft, wenn man so
will. Das ist ein Appell an alle. Die Verantwortung darf
nicht einem Schulsenator oder einer Regierung zugeschoben werden, sondern es geht um die Frage, was alle,
die etwas zur Lösung des Problems beitragen können,
Herr Pflüger, zu tun bereit sind. Das richtet sich natürlich an die Erwachsenen, an die verantwortungsvollen
Schülerinnen und Schüler, aber auch zum Beispiel an die
Migrantenvereine. Nazar Mahmood, der Vorsitzende des
arabischen Kulturinstituts, sagt: Wir alle sind schuld:
Behörden, Eltern, Migrantenvereine.
Alle können und müssen an der Stelle etwas tun, damit die Probleme der Integration in der Schule besser gelöst werden können. Wir brauchen, womit schon begonnen worden ist, Migrantenlehrer, Begleiter, die den
deutschen Lehrern erklären, wie jemand tickt, der aus
der Türkei oder einem arabischen Land kommt. Das
muss ein deutscher Lehrer nicht unbedingt wissen. Wir
brauchen - das ist auch heute Morgen im Innenausschuss gesagt worden - positive Anreize, nicht nur
Sanktionen. Mit Repressionen werden Sie Menschen
nicht unbedingt verbessern. Sie müssen ihnen Anreize
geben.
Auch die Wirtschaft hat zum Beispiel eine Verantwortung. Ein schönes Beispiel ist gestern in der „Berliner
Zeitung“ publiziert worden. Der Unternehmer Norbert
Geyer ist vor über 40 Jahren auf ebendiese Rütli-Schule
gegangen. Er nimmt - nicht nur weil er die Schule kennt,
sondern weil er der Gesellschaft gegenüber Verantwortung zeigt - die Probleme ernst, kümmert sich um die
Schule und gibt zum Beispiel den Schülern, die keinen
Abschluss haben, einen Praktikumsplatz oder einen Ausbildungsplatz.
({8})
Das ist ein Beispiel dafür, wie man mit dem Thema
auch umgehen kann. Norbert Geyer sagt völlig zu Recht:
Das hat damit zu tun, dass wir den Menschen zeigen
müssen, dass wir sie anerkennen, dass wir sie wertschätzen, dass wir sie überhaupt wahrnehmen. Die Schüler
müssen merken, dass wir uns um sie kümmern.
Er sagt - was ich voll und ganz unterschreibe, denn
das ist in die Zukunft gerichtet und wirklich ernst zu
nehmen -:
Was wir heute nicht in die Jungen investieren, müssen wir morgen für den Personenschutz ausgeben.
Danke schön.
({9})
Nun hat die Kollegin Monika Grütters, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Knallhart“, Herr Benneter, das ist nicht zufällig der Titel eines
Films über Neuköllner Jugendgangs, der zurzeit in den
Kinos Furore macht.
({0})
- Schlimm genug, dass solche Szenen ausgerechnet
Spielfilmregisseuren als Vorlage für einen Film dienen,
der im Kino im Moment Karriere macht,
({1})
und zwar deshalb, weil die Realität in Neukölln knallhart
ist. Es ist auch kein Zufall, dass es die Rütli-Schule in
Neukölln war, die uns jenseits des Spielfilmgenres jetzt
unmissverständlich darauf aufmerksam gemacht hat.
Machen wir uns nichts vor: Neukölln ist inzwischen
fast überall in der Bundesrepublik. Jugendgewalt, Bildungsmiseren, mangelnde Integration von Migranten
und ein Leben in regelrechten Sozialhilfedynastien - so
wird ein Stadtteil in der deutschen Hauptstadt, der immerhin einer mittleren deutschen Großstadt entspricht,
zum Symbol. Das kann sich Berlin, das kann sich
Deutschland nicht leisten.
({2})
Das entspricht im Übrigen auch nicht unserem Selbstverständnis. Denn gerade Berlin ist zu Recht, wie ich,
die ich seit 18 Jahren hier lebe, finde, immer stolz darauf
gewesen, dass es hier ein friedliches Miteinander Zugereister mit Einheimischen gibt. Solche Vorgänge wie in
Mölln oder in Hoyerswerda hat es in Berlin noch nicht
gegeben.
({3})
Aber hier ist offensichtlich ein ganz normaler Wahnsinn
zum Alltag geworden.
Herr Böger, Sie müssen sich schon die Frage gefallen
lassen, wie es so weit kommen konnte, dass alle Welt
erst dann hinschaut, wenn verzweifelte Lehrer um Hilfe
rufen.
({4})
Sie sagen, Sie hätten vier Wochen lang von dem Brief
nichts gewusst. Das ist schlimm genug. Von den Missständen selber müssten Sie allerdings seit langem wissen; denn sie sind eben nicht neu.
({5})
Für Ihre ignoranten Beamten - es tut mir Leid, dies sagen zu müssen - sind Sie als Chef verantwortlich. Die
Exponenten dieses Senats haben nicht nur in Neukölln,
sondern in den letzten Tagen leider auch in Hohenschönhausen einmal mehr gezeigt, dass diese Hauptstadt unter
Wert regiert wird.
({6})
- Herr Tauss, schauen Sie sich den Film über die Vorgänge in Hohenschönhausen an.
Genau dieser rot-rote Senat maßt sich an der sensibelsten Stelle in der Bildungspolitik an, Eltern und Heranwachsenden den Werteunterricht vorzuschreiben,
({7})
statt sie wählen zu lassen, ob sie sich nicht doch lieber
im Glauben unterweisen lassen wollen. Nachweislich
trägt der christliche Religionsunterricht in anderen Bundesländern dazu bei,
({8})
die Sozialkompetenz der Schüler zu stärken und zur gewaltlosen Lösung von Konflikten unter Schülern beizutragen.
({9})
Immer wieder fordern wir gerade in dieser Debatte
die Verantwortung der Eltern. An dieser zentralen Stelle
im Bildungsbereich, also da, wo es um Nächstenliebe,
Friedfertigkeit und Gewissensbildung geht, schreibt dieser Senat den Eltern, die wollen, dass ihre Kinder ein
entsprechendes Unterrichtsangebot wahrnehmen, vor,
dass es das im Rahmen des normalen Unterrichts nicht
gibt.
({10})
Schule muss angesichts der Zustände in den Elternhäusern Verantwortung tragen. Eine Lehrerin fragte, wie
sie ihren Schülern beibringen soll, dass sie morgens aufstehen müssen, wenn sie die Einzigen in ihrer Familie
sind, die jeden Morgen aufstehen. Wir müssen uns natürlich darum kümmern. Aber die Verantwortung dafür,
was aus Kindern wird, liegt zuallererst nun einmal bei
den Eltern. Wenn sie diese nicht wahrnehmen können
oder wollen, muss man in die Sanktionsmaßnahmen gegen auffällige Schüler eben auch die Eltern einbeziehen.
({11})
Das können beispielsweise spürbare finanzielle Sanktionen oder gar die Gefährdung des Aufenthaltsstatus sein.
({12})
Das verstehen auch diejenigen, die der deutschen Sprache eher unkundig sind.
({13})
Unsere ehemalige Berliner Ausländerbeauftragte,
Barbara John, sagte es ganz deutlich und selbstkritisch:
Wir haben zu lange Geld gegeben, wo eigentlich Leistung hätte verlangt werden müssen. Heute würde sie
eher großzügig sein mit Arbeitserlaubnissen und geizig
mit der Sozialhilfe.
Der Staat darf sich mit seiner Gebermentalität nicht
aus der Verantwortung stehlen, was die Perspektivlosigkeit dieser Jugendlichen angeht. Stattdessen müssen wir
sie beschäftigen und ihnen das Gefühl vermitteln, dass
sie willkommen sind.
({14})
Es sind schon Beispiele genannt worden. Die WernerStephan-Oberschule in Berlin-Tempelhof - übrigens
eine Hauptschule - hat Theaterklubs und Fahrradwerkstätten eingerichtet und ließ in Teams Hausaufgaben machen. Ich nenne ferner das spektakuläre Education-Programm der Berliner Philharmoniker. Jugendliche, die es
gewohnt waren, Aufmerksamkeit durch Gewalt, Kleinkriminalität oder durch eine rabiate Strafe zu erpressen,
bekommen diese Aufmerksamkeit auf einmal, weil sich
Tanzpädagogen genau diesen Brennpunktkindern in ihren monatelangen Proben zu dem Tanz- und Filmprojekt
„Rhythm is it“ gewidmet haben. Es gibt diese Programme also.
({15})
- Sie haben sich aber genau diesen Brennpunktkindern
gewidmet.
({16})
- Das sage ich ja.
Wir kennen diese Probleme seit Jahren. Roman
Herzog hat seine Ruck-Rede vor mehr als zehn Jahren
gehalten. Was ist seitdem passiert? Die Initiativen, von
denen ich eben berichtet habe, sind private Initiativen.
Staatliche Initiativen brauchen manchmal eine ganze
Schülergeneration, ehe sie verwirklicht werden.
({17})
Was wir jetzt brauchen, Frau Künast, ist keine Debatte über die Schulstruktur. Ich erinnere mich auch an
grüne Sprüche von der Zwangsgermanisierung, als es
um den Sprachunterricht ging.
({18})
Wir fordern jetzt einen nationalen Aktionsplan Integration, an dem nicht nur Bund, Länder und Kommunen,
sondern auch Tarifpartner, Kirchen und Wohlfahrtsverbände teilnehmen. Denn wir alle müssen dafür sorgen,
dass die Jugendlichen aus Neukölln und ihre Familien in
der Gesellschaft und nicht an deren Rand leben.
Das ist eine Aufgabe für alle - nicht nur in Neukölln
und Zehlendorf, nicht nur in Berlin, sondern beispielsweise auch in Baden-Württemberg oder Sachsen. Das ist
eine Herausforderung für beide Seiten, damit Neukölln,
damit Berlin kein „knallhartes“ Symbol bleibt.
Ich danke Ihnen.
({19})
Nun hat das Wort der Kollege Jürgen Kucharczyk,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
aktuellen Geschehnisse in der Berliner Rütli-Hauptschule machen uns sehr betroffen. Wie wir wissen, sind
sie jedoch in der Bundesrepublik kein Einzelfall. Deshalb dürfen wir die Augen nicht davor verschließen. Wir
müssen schon genau hinsehen und schauen, wo die Ursachen liegen. Dabei sage ich deutlich: Polizeischutz
und der Einsatz eines neuen Schulleiters sind keine Lösungen, die uns zufrieden stellen dürfen, ebenso wenig
der Ruf nach Internaten und die entwürdigende Idee,
Schnupperknäste einzurichten.
Wir alle haben die Hilferufe der Rütli-Schule gelesen;
das ist schon heftig. Knapp 50 Kolleginnen und Kollegen in unserem Hohen Hause sind ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer. Sie wissen wohl am besten, dass eine
Lehrkraft die ihr anvertrauten Schülerinnen und Schüler
nicht einfach so aufgibt. Das heißt für alle politisch Verantwortlichen und bedeutet für uns im Deutschen Bundestag, dass wir gefordert sind und handeln müssen:
handeln im Sinne der Kinder und Jugendlichen, handeln
im Sinne der Lehrkräfte, handeln für eine Schule ohne
Gewalt.
Den Verzicht auf Gewalt verstehen meine Fraktion
und ich im doppelten Sinne: Einerseits muss die physische Gewalt aufhören. Wenn andererseits Schülerinnen
und Schüler an Hauptschulen stigmatisiert und letzten
Endes für unsere Gesellschaft abgeschrieben werden,
dann ist auch das Gewalt. Hier sind wir gefordert.
({0})
Wir dürfen nicht zulassen, dass Kinder und Jugendliche in unserem Land - egal ob deutscher oder ausländischer Herkunft - ohne Perspektive und ohne reelle
Chance auf einen Schulabschluss, ein Arbeitsverhältnis
und damit eine gesicherte Zukunft aufwachsen.
({1})
Ein wenig mehr Aufrichtigkeit bei der Bewältigung dieser Herausforderungen würde uns allen gut zu Gesicht
stehen.
Türkische und arabische Vereine in Berlin haben bereits Selbstkritik geübt und sind auf der Suche nach einem verlässlichen Ansprechpartner in den Ministerien,
aber auch in unserem Hause. Wir müssen ihnen zur Verfügung stehen. Im „Nationalen Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland“ der rot-grünen Bundesregierung haben wir uns dieser wichtigen Thematik bereits
angenommen. Unsere damalige Erkenntnis gilt nach wie
vor und lautet: Bildung ist wichtig von Anfang an.
({2})
Kinder können nur dann ihre vielfältigen Potenziale optimal ausbauen, wenn sie früh und individuell gefördert
werden. Die Grundsteinlegung, die in den ersten Lebensjahren versäumt wird, ist später kaum mehr aufzuholen.
Frühkindliche Bildung kann nur gelingen, wenn sich die
Qualität des Kinderbetreuungssystems auf hohem Niveau befindet.
Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz haben wir die
Plattform für eine gute und bedarfsgerechte Kinderbetreuung errichtet. Die Steigerung der Bildungs- und Erziehungsqualität in den vorschulischen Einrichtungen ist
ein zukunftsweisender Ansatz. Wir sind damit auf dem
richtigen Weg.
Insbesondere im Fall der Kinder mit Migrationshintergrund müssen verstärkt Anstrengungen unternommen
und neue Konzepte erarbeitet werden. Dabei gilt es insbesondere, die sprachliche Bildung und die kulturelle Integration der Jungen und Mädchen effektiv zu gestalten.
Das Erlernen der deutschen Sprache muss schon vor der
Grundschule abgeschlossen sein; denn Wissen und soziale Kontakte werden über unsere Sprache erworben.
({3})
Auch der Lehrer kann das Potenzial seines Schülers
dann besser einschätzen.
Mit dem Ausbau der Halbtagsschulen zu Ganztagseinrichtungen hat die Bundesregierung Möglichkeiten
geschaffen, alle Talente der einzelnen Kinder zu fördern
und die großen und kleinen Schwächen auszugleichen.
Ich sage deutlich: Diesen Weg müssen wir konsequent
weitergehen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, egal ob frühkindliche oder schulische Bildung, die Eltern müssen in ihrer
Verantwortung bleiben. Sie müssen aktiv in den Prozess
eingebunden werden und dürfen nicht außen vor bleiben.
Wir müssen auch Antworten auf die Frage finden: Was
machen wir mit den Eltern, die die Integration zulasten
ihrer Kinder verweigern? Um die vorhandenen Missstände zu beheben, sind wir auf die Hilfe und die Mitarbeit öffentlicher und privater Träger angewiesen. Die
Vernetzung von Jugendhilfe und Schule in den Stadtteilen muss intensiviert werden. Stadtteilkonferenzen mit
allen beteiligten Vereinen, Verbänden und Schulen können dabei genauso hilfreich sein wie so genannte Ordnungspartnerschaften.
Der Einsatz von türkischen oder arabischen Pädagogen, wie im Berliner Beusselkiez in Moabit, ist ein beherztes und Erfolg versprechendes Signal, ein Signal,
das neben einer nicht zu unterschätzenden Vorbildfunktion vor allem eines transportiert: Wir interessieren uns
für euch und eure Zukunft; wir nehmen euch ernst. Nur
durch diesen Dialog kann es gelingen, Migrantenkinder
sozial und beruflich besser zu integrieren.
Damit zusätzliche Lehrkräfte und Pädagogen finanziert werden können, werden wir als Koalition weiterhin
alles daransetzen, die Finanzausstattung der Länder und
Kommunen zu verbessern.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nun die Kollegin Ilse Aigner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Dann fange ich gleich bei Ihnen an, Herr Bürsch. Ich bin
etwas verwirrt. Sie haben gerade darüber geschimpft, was
jetzt in Bayern alles gemacht wird. Kurz davor hat Herr
Senator Böger gesagt, es werde schon alles gemacht, was
von Bayern gefordert wird. Irgendwie stimmt da etwas
nicht. Habe ich vielleicht etwas missinterpretiert?
({1})
- Nein, so habe ich das verstanden. Senator Böger hat
sich gerühmt, dass das schon in Berlin gemacht wird.
Herr Bürsch sagt aber, es sei ganz falsch, was in Bayern
gemacht wird. Irgendwas passt nicht zusammen.
Damit bin ich bei Ihnen, Herr Senator Böger - damit
ist der Spaß auch schon zu Ende -: Wie viele Schreiben
der Lehrer muss es eigentlich gegeben haben, damit sie
jetzt dieses Maß an Aufmerksamkeit erreicht haben? Die
Situation bedrückt mich nicht so sehr, weil es sich um einen offensichtlichen Missstand handelt, sondern eigentlich eher wegen der Jugendlichen in dieser Schule. Sie
haben jetzt - das wird deutlich, wenn Sie sich einmal die
Zeitungsartikel durchgelesen haben - nachvollziehbarerweise ein ernsthaftes Problem, wenn sie sich mit einem
Zeugnis von der Rütli-Schule bewerben sollen, weil sie
dadurch schon in gewisser Weise benachteiligt sind.
Man hätte die Lösung dieses Problems vielleicht schon
früher angehen können. Diesen Vorwurf kann ich Ihnen
leider nicht ersparen.
({2})
- Wenn wir schon dabei sind, Frau Künast, kann ich
auch Ihnen eines nicht ersparen.
({3})
Ich habe jetzt kein Zitat von Ihnen präsent. Ich kann
mich aber noch sehr gut an die Kollegin Roth erinnern,
die zu Ihrer Fraktion gehört und sogar Vorsitzende Ihrer
Partei ist. Sie hat Multikulti immer über alles gestellt.
Wenn wir gesagt haben, dass die deutsche Sprache eine
Voraussetzung sein muss, ging es ihres Erachtens schon
fast um eine Assimilierung. Ich bin froh, dass wir jetzt
eine gemeinsame Basis haben und der Meinung sind: Es
ist nicht ganz unsinnig, wenn derjenige, der in die Schule
gehen will, die Sprache versteht, die in dieser Schule gesprochen wird.
({4})
- Ich will jetzt nicht alle Landesteile daraufhin untersuchen, ob dort druckreif gesprochen wird. Ich verstehe
Sie aber ganz gut. Außerdem wurde auch in den PISATests festgestellt, dass diejenigen, die zweisprachig aufgewachsen sind, besser sind. Vielleicht sollte man sich
das einmal überlegen.
({5})
Ich sage ja nicht, dass die Migranten nicht ihre Sprache sprechen sollen; darum geht es gar nicht. Es geht
vielmehr um die Frage, ob sie der deutschen Sprache
mächtig sein müssen, um dem Unterricht folgen zu können.
({6})
Darin sind wir uns Gott sei Dank einig.
Ich möchte noch auf andere Dinge eingehen, und
zwar zunächst auf das Thema Auflösung der Hauptschule. Das ist ja immer ein Allheilmittel.
({7})
- Das ist richtig, aber ich gebe ihnen nicht Recht. Das
sage ich auch im Hinblick auf die Schüler. Auf der Tribüne sitzen übrigens Schüler; ich weiß nicht, in welcher
Schule sie sind.
Ich habe eine Nichte und einen Neffen, die gerade den
Abschluss in der Hauptschule machen: der Neffe die
Mittlere Reife und die Nichte den qualifizierten Hauptschulabschluss. Ich weiß nicht, wie sie es empfinden,
wenn man ihnen sagt, ihre Schulart sei eigentlich nichts
mehr wert.
({8})
Ich hoffe, die beiden bekommen eine Lehrstelle. Das
hoffe ich auch für alle Schülerinnen und Schüler in Berlin.
Damit sind wir wieder bei dem grundsätzlichen Problem. Natürlich haben wir auch ein Problem bei Ausbildungsplätzen. Wir müssen dieses Problem an der Wurzel
anpacken. Die wirtschaftliche Lage ist in den letzten
Jahren schlechter geworden. Wir alle müssen gemeinsam daran arbeiten, dass sich die wirtschaftliche Lage
wieder verbessert und damit auch die Situation im Hinblick auf die Ausbildungsplätze.
Eine Anmerkung sei mir noch gestattet, die jetzt nicht
so sehr darauf abstellt, ob jemand nun Migrant ist oder
nicht. Die Frage der Gewalt muss man, finde ich, immer
wieder erörtern. Wie kommt es dazu, dass Jugendliche
derart gewalttätig werden, gegenüber Lehrern, aber auch
gegenüber Mitschülerinnen und Mitschülern? Sehr geehrter Herr Bürsch, Sie können sich vielleicht noch daran erinnern, dass wir gemeinsam in einer EnqueteKommission saßen und uns Projekte angeschaut haben.
Jetzt nenne ich nicht Bayern, sondern Baden-Württemberg; jetzt lobe ich einmal ausdrücklich die BadenWürttemberger. Wir haben uns damals ein Projekt in
Nürtingen angeschaut, in dessen Rahmen Streitschlichter
ausgebildet wurden und auch heute noch ausgebildet
werden, die hervorragende Arbeit leisten. Die Schüler
werden also in die Mitverantwortung einbezogen.
({9})
- Ich sage ja nur, dass das wichtige Dinge sind. Es ist
wichtig, dass letztendlich auch die Schüler mitarbeiten,
dass wir sie nicht sich allein überlassen, sondern dass
wir sie begleiten.
({10})
Sie müssen ihr eigenes Leben gestalten können. Es gibt
eben Methoden, mit denen man es schaffen kann, dass
eine Schule gewaltfrei wird.
({11})
Zum Schluss möchte ich sagen - das kann ich Ihnen
nicht ersparen -: Es gehören auch einige Tugenden dazu.
Herr Senator Böger, jetzt schaue ich eher in Richtung der
Linken. Ihr früherer Parteikollege Lafontaine hat einmal
von Sekundärtugenden gesprochen. Jetzt hat er ja bei der
Linken Verantwortung.
({12})
Ich glaube, über diese Sekundärtugenden sollten wir
trotzdem nachdenken. Denn es ist nicht falsch, wenn
man Respekt gegenüber anderen hat, wenn man Fleiß
und Anstand mitbringt. Das ist nicht schlecht und es
schadet einem Jugendlichen auch nicht, wenn er diese
Tugenden beim Eintritt ins Berufsleben mitbringt. Das
wird auch gefordert.
({13})
Das Wort hat nun der Kollege Klaus Uwe Benneter
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Um weiteren Irritationen nicht
Vorschub zu leisten, möchte ich aus unserer Koalitionsvereinbarung zitieren:
({0})
Schwerpunkt bleibt die Integration. Das bleibt Schwerpunkt für die Regierungsarbeit, so wie es auch schon bei
Rot-Grün der Fall war.
({1})
Dass das Lernen von Deutsch wichtig ist, haben wir
schon früher erkannt; das ist ja nun wirklich nichts
Neues. Deshalb hat ja auch schon die Vorgängerregierung Integrationskurse und Sprachkurse auf den Weg gebracht. Frau Böhmer, wir haben heute mehrere Stunden
im Innenausschuss darüber diskutiert und erste Evaluationen vorgenommen, damit wir sehen können, wo man
etwas verbessern kann. Mit Sicherheit ist es nicht richtig,
in diesem Bereich 67 oder 68 Millionen Euro einzusparen, nur weil dieser Betrag im letzten Jahr nicht ausgegeben wurde.
({2})
Da werden wir nacharbeiten müssen. Herr Pflüger, ich
denke, dass wir uns darin einig sind, dass wir dies nicht
als das größte Problem bezeichnen können und dann,
wenn es um die finanzielle Unterstützung geht, die Mittel streichen.
({3})
In der Hauptschule sammeln sich eben alle Probleme.
Insofern ist die Schulform nicht das Entscheidende; vielmehr ist entscheidend, dass in der Hauptschule alles kulminiert. Wir lassen es ja zu, dass sich dort alles sammelt.
({4})
Das sind die Früchte unser aller Versäumnisse, die sich
in der Hauptschule zeigen. Das bitte ich auch in dieser
Diskussion zu bedenken.
({5})
Diese Konzentration von Problemen in der Hauptschule ist es, was sich in der Rütli-Schule gezeigt hat:
Misserfolge in der Schule, fehlende Perspektiven in der
Schule, fehlende Ausbildungsmöglichkeiten. Nicht ein
einziger Schüler aus der letzten Abschlussklasse der
Rütli-Schule hat einen Ausbildungsplatz bekommen.
Das sind doch die Probleme in unserer Gesellschaft.
({6})
- Ihre Wählerklientel sollten Sie einmal auffordern, ihrer
Verpflichtung an dem Punkt endlich nachzukommen!
({7})
Wenn es Ausbildungsmöglichkeiten für die jungen Leute
gäbe, dann wären sie auch motiviert, zu lernen.
({8})
Dann könnten Sie, Herr Gerhardt - es ist ja richtig, was
Sie dazu gesagt haben -, Leistung und Disziplin einfordern. Dann könnten Sie den jungen Leuten eine Perspektive aufzeigen und ihnen sagen,
({9})
warum es sich lohnt, in der Schule diszipliniert und eifrig
zu lernen.
Frau Kollegin Aigner hat auf die Verhältnisse in Bayern hingewiesen. Die Stoiber-Pädagogik haben wir in
den letzten Tagen alle kennen gelernt: Raus und weg!
Damit ist das Problem erledigt. Die Koalition hat sich
vorgenommen, dieses Problem seriös aufzuarbeiten.
({10})
Herr Pflüger, ich trete Ihnen sicherlich nicht zu nahe,
wenn ich darauf hinweise, dass Sie sich im großen Kino
da und dort einen Ausrutscher geleistet haben. Sie sind
ja heute, das habe ich „Spiegel Online“ entnommen,
schon wieder zurückgerudert. Sie haben den „Spiegel“
gebeten, das, was Sie gesagt haben, nicht als Zurückrudern zu verstehen. Jetzt sind Sie nicht mehr für Ausweisung, jedenfalls nicht für die sofortige, und auch nicht
für den Einsatz der Nationalgarde, wie Ihr Kollege
Schönbohm. Insofern sind Sie auf den Teppich der Koalitionsvereinbarung zurückgekehrt. Das finde ich gut
und in Ordnung.
({11})
Auch wenn es jetzt auf Ostern zugeht, Herr Pflüger, eiern Sie nicht länger herum!
({12})
Senator Böger hat die Zahl der Gewalttaten genannt.
Er hat darauf hingewiesen, welche Anstrengungen unternommen werden, um gerade an der Hauptschule die Gewalt zurückzudrängen. Herr Pflüger, niemand hat, wie
Sie fälschlicherweise behauptet haben, Gewalt geduldet.
Unser aller Anstrengung zielt darauf, diesen Schülerinnen und Schülern eine Chance zu bieten. Eine wirkliche
Perspektive können wir ihnen aber nur dann bieten,
wenn wir das schaffen, was wir uns in der Koalitionsvereinbarung vorgenommen haben. Schwerpunkt Integration heißt, dass wir respektvoll miteinander umgehen.
Wir dürfen nicht nur von der anderen Seite Respekt verlangen, sondern müssen ein wechselseitiges Respektverhältnis herstellen. Wir müssen in diesem Land zu einer
Willkommenskultur kommen und nicht zu einer Abschiebekultur, wie sie immer wieder aus Bayern gefordert wird.
({13})
Das Wort hat nun die Kollegin Kristina Köhler für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ein altes arabisches Sprichwort sagt: Immer nur Sonne
macht eine Wüste. Ich möchte diesen kulturübergreifenden Sinnspruch gerne durch einen deutschen Sinnspruch
ergänzen: Manchmal bedarf es eines ebenso fruchtbaren
wie reinigenden Gewitters. Dieses reinigende Gewitter
kann in der Integrationspolitik - ich spreche als Innenpolitikerin - nichts anderes sein als das Benennen von
Wahrheiten.
Eine dieser Wahrheiten hat die Soziologin Necla
Kelek bezüglich vieler - ich betone: nicht aller - türkischer Migranten jüngst so formuliert: Mit ihren Füßen
sind sie hier, aber in ihrem Kopf und ihren Herzen haben
sie ihr Dorf nie verlassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir sicherlich nicht verordnen können, ist, dass
diese Migranten ihr Herz allein Deutschland schenken;
was wir aber verlangen müssen, ist, dass sie mit dem
Kopf voll und ganz in Deutschland sind.
({0})
Lassen Sie mich kurz erklären, was ich damit meine.
Zwischen den Grünen und der Union gibt es in der Integrationspolitik einen zentralen Unterschied, der meines
Erachtens auf unterschiedlichen Menschenbildern beruht. Ich möchte dies an einer Pressemitteilung der Grünen vom Montag dieser Woche festmachen. Dort erklärt
Ihre Parteivorsitzende Claudia Roth die Gewalt an den
Schulen als eine Auflehnung der Verlierer in der Gesellschaft, die vor allem deshalb zu Verlierern würden, weil
wir sie strukturell diskriminieren bzw. nicht genug fördern.
({1})
Das greift zu kurz. Dürfen wir den jungen Migranten
wirklich derart die Verantwortung für ihr eigenes Leben
nehmen? Kann es genügen, sie nur als Opfer eines unfairen Systems zu betrachten? Müssen wir mit ihnen nicht
vielmehr auf Augenhöhe reden? Heißt das nicht auch,
dass man auch klipp und klar sagt: „Freundchen, so geht
das nicht!“?
({2})
Muss man nicht auch klipp und klar sagen: „Wenn du
etwas aus deinem Leben machen willst, dann musst du
deinen eigenen Hintern hochbekommen“? Wenn ich
sage, dass wir diese jungen Migranten ernst nehmen und
ihnen die eigene Verantwortung für ihr Leben zugestehen müssen, dann heißt das aber auch, dass wir die - ({3})
- Nein, es geht hier insbesondere um Migranten. Wir
dürfen doch jetzt nicht die Augen vor der Realität verschließen. Wir dürfen sie auch nicht davor verschließen,
dass leider nachgewiesen ist, dass insbesondere bei türkischen Jugendlichen eine besonders hohe Neigung zu
Gewalt festzustellen ist.
({4})
- Ja, Herr Benneter, das hat Ursachen. Das ist richtig.
({5})
Die übliche Erklärung ist, dass dies allein soziale Ursachen hat. Das stimmt ja auch. Die jungen Migranten
kommen in der Regel aus schwächeren sozialen Schichten, sie haben niedrigere oder gar keine Bildungsabschlüsse und keine Berufsabschlüsse. Natürlich spielt
das alles bei der Gewalttätigkeit eine Rolle.
Aber zur Wahrheit gehört leider auch, dass der Anteil
von Gewalttätern bei männlichen türkischen Jugendlichen verglichen mit deutschen Jugendlichen aus derselben sozialen Gruppe immer noch doppelt so hoch ist.
({6})
Deswegen müssen wir eben auch nach den kulturellen
Gründen fragen. Wenn wir dann in die kriminologische
Forschung schauen, stoßen wir immer wieder auf ein
und denselben Punkt, nämlich dass es ein nicht nur sozial, sondern auch kulturell bedingtes massives Gewaltproblem in vielen türkischen Familien gibt,
({7})
Kristina Köhler ({8})
dessen Opfer Ehefrauen und Kinder sind. Dieses Gewaltproblem geht einher mit einem patriarchalischen
Ehrbegriff. Da können wir doch nicht einfach wegschauen. Diese Frauen und Kinder sind Teil unserer Gesellschaft. Deswegen müssen wir auf diese Familien
Einfluss nehmen, und zwar mit Aufklärung, aber eben
auch mit aller Härte des Gesetzes.
({9})
- Natürlich gibt es auch das. Aber nehmen Sie doch einfach einmal die statistischen Häufungen zur Kenntnis.
Viel zu lange haben wir aus einer falsch verstandenen
politischen Korrektheit heraus immer wieder darüber
hinweggeredet.
({10})
Diese Jungs und Mädels lernen leider schnell, wie die
Machtverhältnisse funktionieren. Sie lernen, dass das
Recht des Mannes, das Recht des Stärkeren gilt. Wenn
Sie einmal nach Neukölln oder Wedding gehen, dann hören Sie das leider auch überall. Wer den anderen entwürdigen will, der nennt ihn Opfer. Cool ist es, Täter zu
sein.
({11})
Täter sein, heißt stark zu sein, und stark zu sein, heißt,
Respekt innerhalb des Kollektivs zu bekommen. Aber
das ist nicht die Art von Respekt, auf der unsere Gesellschaft basiert.
({12})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun das Wort
der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zum Schluss könnte man jetzt über Berlin eine politische Wahlkampfrede halten. Ich will das nicht tun.
Frau Böhmer, Sie haben ein wichtiges gemeinsames
Anliegen der großen Koalition und der gesamten Gesellschaft angesprochen, das es verdient, in den Mittelpunkt
gestellt zu werden.
({0})
Ich möchte vorweg sagen - das sei mir mit der Anerkennung in Bezug auf Senator Böger gestattet -: Wer sich in
diese Diskussion selbstkritisch einbringt, der wird allemal mehr Vertrauen bei der Suche nach richtigen Wegen
bekommen, als derjenige, der meint, sich mit Selbstgerechtigkeit in diese Debatte einbringen zu müssen.
({1})
Ich will hinsichtlich der Selbstgerechtigkeit niemanden hier ausdrücklich ansprechen, vielmehr will ich etwas aufnehmen, was uns Sozialdemokraten bei der CDU
gefreut hat. Sie haben auf Ihrer Klausurtagung ein Positionspapier zum nationalen Aktionsplan erstellt. Wir finden dort sehr Bemerkenswertes.
({2})
- Lassen Sie sich doch vielleicht einmal auf etwas ein.
({3})
Sie sagen dort ausdrücklich, es gehe dabei nicht um
die kulturelle Differenz, sondern um die soziale Differenz. Es geht nicht darum, das Problem an der Zuschreibung „Ausländerinnen und Ausländer hie, Deutsche da“
festzumachen, sondern wir müssen zuerst die Hintergründe beleuchten.
({4})
Des Weiteren weisen Sie darauf hin, dass es unter diesen sozialen Bedingungen auch unter den Deutschen zu
viele Delinquenten gibt. Das wollen wir ausdrücklich
anerkennen. Aber fragen Sie sich doch auch einmal, ob
der letzte Redebeitrag Ihrer Kollegin nicht zum Ausdruck gebracht hat, dass diese alte falsche Einstellung
leider schon allzu sehr verinnerlicht wurde.
({5})
Es geht eben nicht um eine kulturelle bzw. eine Wertedifferenz. Es geht nicht darum, zu sagen, die deutschen
Werte seien besser. Vielmehr geht es um menschliche
Werte.
({6})
- Sie sagen zwar „Das sagt auch keiner!“. Aber vielleicht ist es gerade wichtig, dass das auch einmal gesagt
wird.
Im Hinblick auf den Weg zur Integration, den Frau
Böhmer im Namen der gesamten Bundesregierung für
unsere Gesellschaft und unseren Staat gehen will,
möchte ich festhalten: Hierbei geht es auch um die
Grundmelodie und die Art und Weise, wie wir unsere Integrationsbereitschaft zeigen. Deshalb sage ich noch einmal: Es geht nicht um deutsche Werte, sondern um gesellschaftliche, humanistische Werte, die in einer
türkischen Familie genauso vorhanden sein können wie
in einer arabischen oder einer deutschen Familie. Würden wir so tun, als seien unsere Werte die besseren, und
würden wir den anderen ihre Werte absprechen, welche
Möglichkeit hätten sie dann noch, außer sich zurückzuziehen
({7})
und nur in ihrer eigenen Gruppe nach Identifikation zu
suchen? Nein, das dürfen wir nicht tun!
({8})
Zum Zweiten geht es darum, sich von der Spirale von
Gewalt und Gegengewalt zu befreien. Denn natürlich
wissen sie, dass es aus dieser Gewaltspirale keinen Ausweg gibt. Es wird immer zu Gewalt gegen den Aggressor kommen, also zu Identifikation durch Gewalt. Das
kann man zum Beispiel daran erkennen, dass die Schüler
den Eindruck haben, sie würden nur wahrgenommen,
wenn sie gewalttätig sind. Daher verhalten sie sich auch
gewalttätig. Auf diesem Weg kann keine Integration gelingen.
({9})
Zum Dritten geht es darum, ein Selbstwertgefühl zu
schaffen. An dieser Stelle besteht zwischen uns Übereinstimmung. Als Stichworte nenne ich die Sprachförderung, den schulischen Lebensweg, die Ausbildung, die
beruflichen Chancen, den Weg in ein soziales Leben und
die soziale Integration. Wir bitten Sie ausdrücklich,
diese Aspekte gemeinschaftlich mit uns in Angriff zu
nehmen. Denn hier geht es nicht allein um Berlin. Das
betrifft genauso München-Hasenbergl, HamburgWilhelmsburg oder Kiel-Garden.
({10})
Wenn wir uns darauf verständigen können, haben wir
eine andere Basis dafür gefunden, welchen Weg wir gehen müssen, um die Integration zu verbessern.
(Beifall der Abg. Iris Gleicke ({11})
Wir fanden und finden es sehr gut, dass es hier eine gemeinsame Linie gibt.
Die FDP hat diese Aktuelle Stunde beantragt, um einzufordern, dass der Bund seine Kompetenzen erfüllt.
Wir könnten bei der Sprachförderung ansetzen. Hierzu
will ich ein Beispiel ansprechen: Wie konnte es eigentlich so weit kommen, dass Sprachkurse für Mütter bzw.
Frauen, die schon länger in Deutschland leben, heute
nicht mehr im selben Umfang wie früher angeboten werden?
({12})
Jetzt stellen wir plötzlich erschreckt fest, wie groß die
Bedeutung der Frauen unter den Gesichtspunkten der
Stabilisierung und der Integration ist. Hier könnten wir
gemeinsam etwas unternehmen.
({13})
Wenn es um Integration geht, muss Schule auch anders wahrgenommen werden: als Oase und als soziale
Heimat. Als Stichworte nenne ich die Jugendsozialarbeit, die Ganztagsschule, die Erweiterung personeller
Kompetenzen und die Schaffung eines Netzes um die
Schüler herum. Frau Böhmer, wir wollen, dass der Bund
in diesem Zusammenhang nicht nur redet. Dieses Anliegen muss er aktiv unterstützen. Das hat auch viel mit
Glaubwürdigkeit zu tun.
({14})
Bereits die Vorgängerregierung musste zur Kenntnis
nehmen, dass es nicht nur in den Familien viele Jugendliche ohne Ausbildung gibt. Es gibt auch viele ausländische Firmen, die nicht ausbilden. Diese Probleme müssen wir im Zusammenhang betrachten. Auch dafür
haben Sie unsere ausdrückliche Unterstützung.
({15})
Angesichts der zwölf Forderungen, die die CDU/CSU
erhoben hat, bitten wir allerdings um eines: Der Integrationsgipfel wird nur dann gelingen, wenn er als Prozess
angelegt ist. Er sollte durch nichts belastet werden, was
nicht auf eine gemeinschaftliche Lösung ausgerichtet ist.
Im parteipolitischen Bereich mag das noch zu ertragen
sein, im gesellschaftlichen Bereich wird es allerdings
schwierig. Deshalb sollten wir uns nicht auf die Veränderungen im Jugendstrafrecht konzentrieren, die Sie vornehmen wollen - ich nenne als Beispiel Ihre Forderung
nach Einführung eines Warnarrests -, sondern wir sollten auch den Hinweis des Kollegen Böger berücksichtigen, dass es noch einen anderen Weg geben muss. Wir
dürfen die Menschen nicht abschieben, sondern wir
müssen sie stützen, fordern, ihnen ihre Grenzen aufzeigen und ihnen positive Erfahrungen vermitteln.
({16})
Durch einen Arrest kann das genauso wenig geleistet
werden wie durch Abschiebeinternate.
({17})
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich komme zum Schluss und werde sehr konstruktiv:
Es geht nicht, dass all das, was im Ausländerrecht bisher
nicht konsensfähig war, wieder in die Debatte eingebracht wird; dann kann der Gipfel nicht gelingen. Er
kann nur gelingen, wenn er ein gemeinschaftliches Ziel
hat, wenn er gut vorbereitet wird.
({0})
Eine ganze persönliche Bitte auch an Sie, Frau
Böhmer: Ich habe in der Zeitung gelesen, dass der Türkische Elternbund einen großen Bildungskongress veranstalten wird und sich um Frau Schavan und Sie bemüht
hat. Ich will akzeptieren, dass Sie an dem Termin vielleicht verhindert sind - dann kann man auch nicht springen -, aber genau solche Gesten braucht es. Es braucht
unsere Gesten, es ist wichtig, dass jemand von uns dorthin geht. Man muss auch in die guten Schulen gehen,
ohne dass das Fernsehen dabei ist. Denn das gute Beispiel wirkt und stärkt.
({1})
In diesem Sinne sind wir auf einem guten Weg. Am
Ende ist nicht der Gipfel, sondern der Weg das Ziel. An
dieser Stelle müssen wir zusammenarbeiten.
Danke schön.
({2})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für morgen, Donnerstag, 6. April, um 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.