Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir
einen Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung behandeln. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD haben
fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die
Beratung des Antrags „Belarus nach den Präsidentschaftswahlen“ zu erweitern. Der Antrag soll in der Aussprache zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes
beraten werden. Die Dauer der Aussprache zu diesem
Geschäftsbereich soll um eine halbe Stunde verlängert
werden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Aufsetzungsantrag. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Antrag ist angenommen mit den
Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke.
({0})
Wir setzen die Haushaltsberatungen - Tagesord-
nungspunkt 1 - fort:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2006
({1})
- Drucksache 16/750 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 2005 bis 2009
- Drucksache 16/751 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Ich erinnere daran, dass wir für die heutige Aussprache insgesamt neun Stunden beschlossen haben.
Wir beginnen die heutige Haushaltsberatung mit dem
Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleramtes, Einzelplan 04.
Das Wort hat als erster Redner der Vorsitzende der
FDP-Fraktion, Dr. Wolfgang Gerhardt.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jede Bundesregierung hat natürlich -
Herr Gerhardt, einen Moment bitte. - Kann ich darum
bitten, dass vor der Regierungsbank kein Personalverkehr und keine Diskussionen stattfinden? Danke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jede neue
Bundesregierung hat natürlich die Chance eines Neuanfangs. Sie bekommt sozusagen die ersten 100 Tage als
Rabatt. Dann beginnt die Diskussion; dann sieht man genauer hin. Wenn wir jetzt genauer hinsehen, Frau Bundeskanzlerin, müssen wir eines feststellen: Maßstab der
Beurteilung ist nicht das Arrangement, das die beiden
großen Parteien in der Koalitionsvereinbarung getroffen
haben, Maßstab ist die Wirklichkeit. Diese zeigt eines:
Ein Personalwechsel reicht nicht; ein Politikwechsel ist
für die Bundesrepublik Deutschland notwendig.
({0})
Die entscheidenden Themen für die Menschen sind
Arbeit und Zukunftschancen. Aber es wird noch so getan, als gäbe es nur Deutschland und seine Branchen.
Die Tarifverhandlungen werden so geführt. Die alten
Wohlfahrtsversprechen werden von Ihrer Koalition noch
so gemacht. Die soziale Begleitung von Arbeitslosigkeit
nimmt Sie so in Anspruch, dass das Prinzip „Vorfahrt für
Arbeit“, über das wir uns mit Ihnen noch wenige
Wochen vor der Wahl einig waren, wieder in den
Redetext
Hintergrund getreten ist. Es gehört aber nach vorne. Deshalb muss ein Politikwechsel erfolgen.
({1})
Er muss in einem Land erfolgen, das eigentlich darauf
achten muss, dass Marktwirtschaft, Innovation und
moderne Arbeitsmarktpolitik nicht an kultureller Bodenhaftung verlieren. Unser Land hat wie kein anderes
sein Selbstbewusstsein aus wirtschaftlichem Erfolg gezogen. Aber als ich die gestrige Debatte verfolgt habe
- die Rede des Finanzministers und insbesondere die
Rede des Kollegen Poß -, habe ich festgestellt, dass bei
Ihnen die ganze alte, wirkungslose sozialdemokratische
Apotheke der Arbeitsmarktpolitik voll in Kraft bleibt.
Diese hat zu 5 Millionen Arbeitslosen geführt.
({2})
Sie sprechen von Kontinuität. Ich weiß, warum Sie
„Kontinuität“ sagen müssen. Sie müssen vermeiden, Ihrem Koalitionspartner heute selbst zu sagen, dass er mit
dieser ältlichen Politik die Verantwortung für 5 Millionen Arbeitslose trägt. Wenn Sie das nicht tun, sind diese
Arbeitslosen ab heute auch Ihre Arbeitslosen.
({3})
Sie müssen Ihre Arbeitsmarktpolitik ändern.
({4})
Lassen Sie mich nur wenige Punkte ansprechen - da
reicht nämlich kein Schulterklopfen in den Reihen der
Koalition und keine Wohlfühlpolitik -: Die ältliche Politik, die Sie machen, zeigt sich zum Beispiel an den IchAGs. Sie haben die Abgaben für Minijobs erhöht. Sie
müssen sich in diesem Zusammenhang auch die Diskussion über Mindestlöhne vor Augen halten. Frau Bundeskanzlerin, ich kann Ihnen schon jetzt sagen, wozu die
Einführung von Mindestlöhnen führen würde: Dadurch
würde kein einziger Arbeitsplatz geschaffen, sondern es
würden die Arbeitsplätze derjenigen vernichtet, die sie
am dringendsten brauchen: die der Geringverdiener. Das
weiß jedermann.
({5})
Aber das dringt in Ihrer Koalition nicht durch. Ihre
alte Arbeitsmarktpolitik hat nur eine Wirkung: Sie stiftet
Frieden zwischen Ihren Sozialausschüssen und dem Programm der Sozialdemokratischen Partei. Als Kanzlerin
haben Sie aber keine Verantwortung für ein Arrangement dieser beiden Flügel, sondern Sie haben Verantwortung für Deutschland. Daher ist diese Politik falsch.
({6})
Ein weiterer Aspekt, der gerne erwähnt wird, ist die
volkswirtschaftliche Steuerquote. Jeder kennt sie
({7})
und jeder sagt, dass sie in Deutschland statistisch gering
ist. Ja, das ist richtig. Aber die entscheidende Steuerquote für Investitionen, durch die in Deutschland Arbeitsplätze geschaffen werden, ist statistisch nicht gering. Sie ist hoch.
({8})
Deshalb ist die Frage, ob wir die Steuern senken wollen, keine Frage eines beliebigen Parteiprogramms. Wir
wollen die Steuern doch nicht, wie Sie meinen, senken,
um Geld zu verteilen. Wir wollen sie senken, weil die
größte soziale Sicherheit nicht die alte Arbeitsapotheke
der SPD bietet, sondern ein Arbeitsplatz in der Bundesrepublik Deutschland.
({9})
Das ist unser Ziel.
Deshalb kommen Sie nicht darum herum - das ist
auch an Sie in den Reihen der Union gerichtet -, sich
wieder an die Politik zu erinnern, die Sie wie wir in der
letzten Legislaturperiode für richtig gehalten haben, als
wir uns gemeinsam für Steuervereinfachungen und
Steuersenkungen eingesetzt haben.
({10})
Dass Sie diese Politik mit Ihrem jetzigen Partner nicht
durchsetzen können, müsste Ihnen zumindest ein
schlechtes Gewissen verschaffen. Daran will ich hier erinnern.
({11})
Sie wissen, dass der Flächentarif mittleren und kleinen Unternehmen schadet. Das nimmt die linke Seite
dieses Hauses aber nicht zur Kenntnis. Sie sollten die
Courage haben, das zu sagen. Denn es ist wahr, dass Arbeitsplätze durch Flächentarife eher vernichtet als geschaffen werden
({12})
und dass wir den Mittelständlern Chancen geben müssen.
Sie haben beschlossen, ein 25-Milliarden-Euro-Programm aufzulegen. Dabei geht es um Verteilungen zugunsten von Familien mit Kindern, um die steuerliche
Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen und vieles
andere. Aber können Sie sich einmal ins Gedächtnis rufen, dass Sie den Bürgern mit diesen 25 Milliarden Euro
nur ein Fünftel von dem geben, was Sie ihnen in den vier
Jahren dieser Legislaturperiode wegnehmen? Davon
können Sie doch keine Arbeitsmarkteffekte erwarten.
({13})
Sie nehmen zu viel und Sie geben zu wenig. Sie verfahren nach dem Prinzip Hoffnung und versuchen, mit
diesen 25 Milliarden Euro die Mehrwertsteuererhöhung
zu Beginn des nächsten Jahres auszugleichen. Das ist
kein Programm und kein Ziel. Das werden Sie nicht erreichen.
Das Verbraucherverhalten ist in Deutschland anders
als in Amerika. Die Deutschen haben eine „sparsame“
Mentalität. Wir üben selbst bei geringen Wachstumsraten und zarten Wachstumspflänzchen immer noch große
Zurückhaltung. Meinen Sie, die Bürger geben diese Zurückhaltung im Verhältnis fünf zu eins auf, nur weil Sie
sie ermuntern, noch in diesem Jahr zu konsumieren?
Wenn sie das täten, würden sie sich im nächsten Jahr zurückhalten. Das ist eine ganz gefährliche Politik, die
nicht ausreicht, um einen Umschwung einzuleiten.
({14})
Über unsere großen sozialen Sicherungssysteme hat
Barbier in der vorletzten Woche einen bemerkenswert
klugen Satz in der „FAZ“ geschrieben:
Die Generation der „wenigen“ wird in der Reformverweigerung ihrer Eltern kein Argument sehen, einen Generationenvertrag einzuhalten, den sie nie
geschlossen hat.
Wie wahr!
Jetzt warten wir auf die Antwort der großen Koalition. Die meisten Bürger sagen: Diese Koalition ist so
groß; sie muss das jetzt packen. Dabei muss es um die
Reform unserer sozialen Sicherungssysteme gehen. Herr
Müntefering weiß wie ich, dass das zarte Pflänzchen, das
er als großes Reformvorhaben angekündigt hat - die
Rente mit 67 -, eigentlich eher dazu gedient hat, dass er
es umgehen konnte, im Rentenbericht zu erwähnen, dass
die Beiträge erhöht werden müssen.
({15})
Das ist doch kein Reformbeitrag. Vielmehr geht es um
höhere Abschläge als vorher.
Man leistet doch keinen Beitrag zur Reform eines
Rentensystems, indem man die gesetzliche Rente unter
Naturschutz stellt, so wie das ein Teil der Union und die
ganze SPD machen, obwohl man weiß, dass sie nur noch
eine Grundsicherung im Alter sein wird. Eine Beitragsentwicklung nach oben ist kaum zu stoppen.
Sie sagen, Sie möchten die Arbeitslosenversicherung umorganisieren und durch Mittel aus der Mehrwertsteuererhöhung entlasten. Uns wurde jahrelang gesagt - Frau Bundeskanzlerin, Sie waren mit uns in der
Opposition -, dass die Rentenversicherungsbeiträge
durch die Einnahmen aus der Ökosteuer stabil gehalten
werden sollen. Die Ökosteuer ist dauernd erhöht worden; die Beiträge sind aber nicht stabil geblieben. Wer
das sehenden Auges weiter hinnimmt und auf Kontinuität verweist, der ist zu einem Reformschritt wirklich
nicht in der Lage.
({16})
Es ist doch ganz simples Einmaleins - das weiß die
Bevölkerung auch -: Wenn die Menschen in Deutschland später in den Beruf eintreten, früher aus dem Beruf
ausscheiden und die Lebenserwartung steigt, dann ist ein
solches System nicht mehr über stabile Beiträge zu finanzieren. Ich kann nur jedem jungen Menschen raten,
sein Geld zur Bank zu tragen und es anzulegen; denn so
hat er eine größere Sicherheit als über die gesetzliche
Rente.
({17})
Sie informieren die Öffentlichkeit nicht richtig.
In dieser Woche führen Sie Gespräche zur Gesundheitsreform. Ich befürchte, dass die Reform am Ende so
aussehen wird, wie Spekulationen das andeuten: Es wird
ein versicherungspolitisches Ungetüm geben mit ein bisschen Bürgerversicherung, ein bisschen Kopfpauschale
und ein bisschen Umlage. Frau Bundeskanzlerin, es wird
keine vernünftige Reform werden, wenn Sie nur neue
Geldquellen erschließen wollen. Sie müssen sich der unbequemen Aufgabe stellen, den Menschen Wahlfreiheit
zu geben. Sie müssen sich selbst entscheiden können, bei
wem sie sich wie hoch versichern.
({18})
Die Diskussion über die Föderalismusreform ist eigentlich noch gar nicht abgeschlossen. Wir haben vielleicht ein erstes Stück des Weges geschafft. Wenn nicht
auch die Frage der Finanzbeziehungen geklärt wird,
wird diese Reform ihre Wirkung verfehlen. Aber selbst
die jetzige Reform ist hoch umstritten.
Ich möchte auf den Punkt Bildung zu sprechen kommen. Egal welche Ebene verfassungsrechtlich für die
Schulen oder für die Hochschulen zuständig ist, es
muss klar sein: Die Hochschulen gehören weder dem
Bund noch den Ländern. Die Hochschulen gehören in
ihre eigene Verantwortung. Wenn die Länder sie übernehmen wollen, müssen sie den Hochschulen Autonomie geben.
({19})
Wenn die Länder verfassungsrechtlich für die Schulen
zuständig bleiben wollen, müssen sie ihre Kultusminister in Bewegung setzen und gleiche Qualitätsmaßstäbe
für die Schulen in der Bundesrepublik Deutschland erarbeiten. Es kann doch nicht sein, dass die Kinder, wenn
die Familie umzieht, mit derart unterschiedlichen Qualitätsmaßstäben an den Schulen konfrontiert werden. Das
muss ein Ende haben.
({20})
- Der Bund ist nicht klüger als die Länder, Frau Künast.
({21})
Wenn die Länder verfassungsrechtlich zuständig sind,
dann müssen sie die Maßstäbe festlegen. Daran führt
kein Weg vorbei.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Union, der
SPD und der Grünen, es ist ein Irrglaube, anzunehmen,
dass Sie letztendlich das erreichen, was Sie wollen,
wenn Sie bestimmte Forschungsfelder in den Biowissenschaften in Deutschland verbieten. Sie können wissenschaftliche Neugier nicht verbieten. Es waren nicht nur
die Grünen, die uns daran gehindert haben, in diese
Wachstumsmärkte zu gehen; es waren auch viele aus den
Bereichen der großen Koalition, die eine Art moralische
Letztbegründung abgegeben haben. Denjenigen möchte
ich von den Freien Demokraten entgegensetzen: Es ist
Ausdruck von Moral und Ethik, wenn Gesellschaften sagen, dass es legitim ist, eine Brandmauer bezüglich des
Nichteingreifens in die Keimzelle menschlichen Lebens
einzuziehen. Es muss aber möglich sein, Medikamente
zu entwickeln, die das Leiden von Menschen lindern.
Auch das ist eine hohe moralische und eine klare ethische Position. Wer die Forschung in diesen Feldern in
Deutschland verweigern will, der muss auch die Konsequenzen darlegen. Es werden nämlich andere von dem
technologischen Vorsprung und dem Wissensvorsprung
profitieren. Auf unseren Markt werden die Ergebnisse
erst Jahre später und zu viel höheren Preisen kommen.
Zwischenzeitlich werden wir Arbeitsplätze verlieren.
Das ist der Sachverhalt.
({22})
Sie können dort nicht nur Kontinuität fordern, es
muss auch Änderungen geben. Frau Bundeskanzlerin,
Sie sind Naturwissenschaftlerin und wissen das viel besser: Entweder ist ein Kernkraftwerk sicher oder nicht.
Wenn es nicht sicher ist, muss es abgeschaltet werden.
Wenn es sicher ist, kann es doch keine Restlaufzeit geben, die Sie bestimmen.
({23})
Zu diesem Punkt gehört auch: Sie führen jetzt den
Energiegipfel durch und wissen so wie ich, dass der
Verbrauch fossiler Brennstoffe in der Welt ansteigt. Dem
kann man doch nur mit einem Mix begegnen, zu dem
auch die Kernenergie gehört. Es kann doch nicht wahr
sein, dass die Kompetenz Deutschlands im Bereich der
Kernenergie nur wegen eines Koalitionspartners, der
dauernd von Kontinuität spricht, verloren geht. Es geht
nicht um den Neubau von Kraftwerken, es geht um die
Kompetenz in dieser Technologie.
({24})
Die Bürgerrechte gehören zu einer Vertrauensbeziehung zwischen dem Staat und den Bürgern. In der alten
Koalition haben Sie unter kräftiger Mitwirkung der Grünen Einblicke in Konten ermöglicht, wodurch der gläserne Bürger geschaffen wurde. Mit Datenabfragen haben Sie den gläsernen Steuerzahler geschaffen. In der
alten rot-grünen Koalition haben Sie die Abwehrrechte
der Bürger geschwächt. Meine Damen und Herren von
der SPD, es wäre eine Kurskorrektur notwendig: Nicht
der Staat gewährt den Bürgern gnädig Freiheit,
({25})
sondern die Bürger gewähren dem Staat Einschränkungen ihrer Rechte zum Schutz und im Interesse aller.
Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Deshalb gilt hier: Erforderlich ist keine Kontinuität, sondern eine Kurskorrektur.
({26})
Das gilt auch für einen Teil der deutschen Außenpolitik. Wir alle wissen, dass das im europäischen Rahmen
notwendig ist.
({27})
Das bedeutet aber kein Outsourcing nach Brüssel. Es ist
eine Kurskorrektur notwendig, die ja auch durchgeführt
wird. Es wird nicht darüber geredet; das ist richtig. Frau
Bundeskanzlerin, ich will Sie an dieser Stelle ausdrücklich loben. Sie haben erkannt, dass es notwendig ist, ab
und zu eine Zwischenlandung in den baltischen Staaten
sowie in Budapest und Prag einzulegen, wenn man Moskau besucht. Das hat Ihr Vorgänger nie begriffen. Diese
Kurskorrektur haben Sie vorgenommen. Wir begrüßen
das ausdrücklich.
({28})
Es muss aber noch eine andere erfolgen. Die Politik in
der Europäischen Union muss in den ganzen Diskussionen eines klarstellen - das ist auf dem letzten Gipfel mit
der Stilblüte der Linguistik in der französischen Sprache
wieder deutlich geworden -: Die Identität Europas besteht nicht aus einer rückwärts gewandten Definition eines alten Sozialpaktes; die Identität und die Zukunftschance Europas bestehen aus der Wettbewerbsfähigkeit,
dem Willen zum Wettbewerb, dem Willen zur Innovation und aus all dem, was die ganze politische und Kulturgeschichte Europas ausmacht.
({29})
Nein, meine Damen und Herren, es ist nicht wahr,
dass es in Deutschland keine reformorientierte Mehrheit
gibt. Wahr ist, dass die große Koalition nicht den Willen
zu einer wirklich innovativen Politik hat. Sie lösen sich
möglicherweise wegen Ihres Koalitionspartners zu
schwer vom Alten. Sie bemühen sich dauernd um Konsens und Ausgleichsaktivitäten. Ich weiß, dass Sie alle
Hände voll zu tun haben, um jedem Wunsch entgegenzukommen.
({30})
Ich sage Ihnen aber: Weltweit werden sich nur die Gesellschaften behaupten, die Kompetenz im Wandel entfalten. Dafür müssen Sie Ihre Politik ändern. Es geht
nicht nur ums Geld. Wir trainieren in Deutschland zu
wenig eine Mentalität, durch die das Land auch jenseits
von materiellen Anreizen wieder nach vorne gebracht
wird. Darauf kommt es aber an.
({31})
Das tun Sie nicht. Genau das ist aber die Aufgabe einer
Opposition. Wir von der FDP werden das tun.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({32})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Peter Ramsauer
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Herr Kollege Gerhardt, ich glaube,
wir haben viel mehr Gemeinsamkeiten in unseren politischen Vorhaben und in unserem politischen Denken, als
dies Ihre erregte Eröffnungsrede heute vermuten lässt.
({0})
- Das lasse ich einmal so in die Öffentlichkeit hallen. Sie haben, lieber Herr Kollege Gerhardt, einen Politikwechsel eingefordert. Dieser erste Haushalt der großen
Koalition ist das Kursbuch für einen neuen Kurs, für den
Politikwechsel, von dem Sie gesprochen haben. Er ist
ein Kursbuch für einen Kurs der Verantwortung und des
Vertrauens.
Herr Kollege Gerhardt, Sie haben auch kulturelle Bodenhaftung eingefordert. Das könnte ein Wort aus meiner Fraktion und meiner Partei, der CSU, sein. Der CDU
und der CSU liegt bei jeder von ihnen gemachten Politik
ganz besonders an kultureller Bodenhaftung.
Sie haben davon gesprochen, wir hätten vor, die gesetzliche Rentenversicherung unter Naturschutz zu
stellen. Das klang fast wie eine Anklage. Dazu muss ich
Ihnen allerdings sagen: Es gehört zu unserer sozialpolitisch-kulturellen Bodenhaftung, dass wir uns klipp und
klar zur gesetzlichen Rentenversicherung bekennen.
Darauf müssen sich die Menschen verlassen können.
({1})
Auch ich bin des liberalen Denkens fähig und denke
liberal und wirtschaftsliberal. Aber eines habe ich in den
vielen Jahren im Ausschuss für Arbeit und Soziales gelernt: dass die Vergleiche hinsichtlich der Rendite zwischen der privaten Altersversorgung und der gesetzlichen Rente verdammt stark hinken. Am Ende kochen
alle mit Wasser. Wenn man in die private Altersversorgung, die eben das Institut der Solidarität nicht kennt,
die Risiken des Lebens einrechnet,
({2})
dann können wir nur froh sein, dass wir die gesetzliche
Rentenversicherung in unserem Lande haben, und dabei
bleibt es.
({3})
Die große Koalition leitet mit dem Haushalt 2006 und
- das füge ich ausdrücklich hinzu - mit dem Haushalt 2007 die Wende aus einer schwierigen Lage der
Bundesfinanzen ein. Vor wenigen Jahren wurde versprochen, im Jahr 2004 nur 10 Milliarden Euro und im
Jahr 2005 nur 5 Milliarden Euro Neuverschuldung einzuplanen. Tatsächlich waren es dann aber 39 Milliarden
Euro anstatt 10 Milliarden Euro und 31 Milliarden Euro
anstatt 5 Milliarden Euro. So weit klafften Wunsch und
Wirklichkeit leider auseinander. Die neue Regierung
setzt deshalb neue Akzente. Wir nehmen unsere Vereinbarungen und Zusagen ernst. Der Bundestag berät in dieser Woche einen Haushalt der ehrlichen Zahlen. Haushalt und Haushaltsbegleitgesetz führen zu einer Abkehr
von wachsender Staatsverschuldung.
Herr Bundesfinanzminister Steinbrück, Sie haben
gestern eine höchst beachtliche Einbringungsrede gehalten. Sie hat mir imponiert. Das sage ich in aller freundschaftlichen Offenheit. Ich möchte Ihnen dazu ganz
herzlich gratulieren.
({4})
Ich hätte Ihnen gestern gerne noch länger zugehört. Sie
haben ganz offen viele richtige Dinge angesprochen, beispielsweise die Entwicklung unserer Investitionsquote.
Das Wichtigste war vielleicht die Überschrift, die Sie
gewählt haben: Wir müssen - das waren Ihre Worte mit diesem Haushalt den Weg in die Realität beschreiten.
({5})
Ich kann Ihnen für meine Fraktion versprechen: Auf diesem Weg in die Realität und bei der Verwirklichung der
finanzpolitischen Erfordernisse haben Sie uns fest an Ihrer Seite. Hier können Sie sich auf die CDU/CSU-Fraktion verlassen.
({6})
Die neue Regierung pflegt auch einen neuen Stil,
nämlich die Übereinstimmung von Reden und Handeln.
Die neue Regierung schafft neues Vertrauen.
({7})
Deutschland wird auf internationaler Ebene wieder ernst
genommen.
({8})
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben der Stimme
Deutschlands mit klaren Worten und einem klaren Kurs
wieder Beachtung verschafft.
({9})
Wie wir vom Kollegen Gerhardt gehört haben, liegen
wir damit völlig auf einer Linie. Das Verhältnis zu den
Vereinigten Staaten wird Gott sei Dank wieder von einer guten Partnerschaft geprägt. Sie sprechen nicht nur
gelegentlich über Menschenrechte, Frau Bundeskanzlerin, sondern auch, wenn Sie in Moskau sind.
({10})
Außen- und Sicherheitspolitik finden in unserem politischen Geschehen leider nicht immer die angemessene
Beachtung.
Deutschland ist mehr als jedes andere Land vom
Exporterfolg abhängig.
({11})
- Aber man kann es nicht oft genug sagen, Frau Künast,
und zwar gerade an die Adresse Ihrer Partei gerichtet.
Denn dort sitzen viel zu viele Realitätsverweigerer.
Auch sie sollten das endlich zur Kenntnis nehmen. - Wir
sind mehr als jedes andere Land von sicheren Handelswegen, fairen Wettbewerbsregeln und einer verlässlichen Rohstoffversorgung abhängig.
Auch ist kaum jemand reiselustiger als wir Deutschen. Deutschland braucht Partner, damit für seine Bürger und Betriebe die Welt sicher, aber auch voller Chancen ist. Klar ist deshalb: Wer Partner braucht und von
Partnerschaft profitiert, muss auch selbst ein verlässlicher Partner sein. Dazu gehört die Bereitschaft zur Übernahme internationaler Verantwortung, soweit Deutschland dazu in der Lage ist. Aber wir dürfen uns nicht
überfordern lassen.
Frau Bundeskanzlerin, es war klug und richtig, Ihre
Kanzlerschaft mit einem Schwerpunkt in der Außenund Europapolitik zu beginnen. Je größer Deutschlands
Einfluss in der Außen- und Europapolitik ist, desto besser kann es auch weltweit Einfluss geltend machen und
desto erfolgreicher können wir die Probleme unseres
Landes in einer immer stärker globalisierten Welt lösen.
Deutschland steht wieder im Zentrum europäischer
Entscheidungen. Wir werden in absehbarer Zeit die Präsidentschaft in der Europäischen Union übernehmen.
Die Lage unseres Landes mitten in Europa ist für uns ein
unschätzbarer Vorteil, solange die Europäische Union
stabil und erfolgreich ist. Ich glaube, Europa hat mit den
Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza große
Sprünge nach vorn gemacht. Das war nicht immer einfach, aber der Weg - die Einführung einer gemeinsamen
Währung und die Aufnahme von zehn neuen Mitgliedstaaten vor zwei Jahren - war richtig.
Das Nein zum Verfassungsvertrag in Frankreich und
in Holland kam nicht etwa dadurch zustande, dass die
Menschen dort den Verfassungsvertragsentwurf von der
ersten bis zur letzten Seite durchgelesen und sich dann
nach Abwägung aller Umstände überwiegend für die
Ablehnung entschieden hätten; das Nein kam in diesen
Ländern vielmehr dadurch zustande, dass sich die Menschen durch die Entwicklungen in Europa, durch einen
immer stärkeren Zentralismus und eine uferlos erscheinende Erweiterung überfordert gefühlt haben. Deswegen
muss es für uns in der Europapolitik darum gehen, die
Menschen mit dieser Entwicklung nicht zu überfordern.
Europa muss sich über die Herzen der Menschen entwickeln und gedeihen. Wenn wir das beherzigen, dann
werden wir einen erfolgreichen europapolitischen Kurs
verfolgen.
({12})
Die neue Regierung in Deutschland gibt auch den Bemühungen Europas den Schwung, der wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum zu werden. Es ist eine gute
Nachricht für ganz Europa, dass die neue Regierung in
Deutschland wieder Politik für die größte europäische
Volkswirtschaft macht und Deutschland damit zu einem
Wirtschaftsmotor in Europa werden kann.
Deswegen geht die neue Regierung auch mutige Reformaufgaben an. Wir haben die Föderalismusreform
angepackt. Wir werden diese Reform gemeinsam zu einem guten Ende bringen.Wir sind das nicht zuletzt - das
sage ich ganz deutlich im Deutschen Bundestag und vor
der deutschen Öffentlichkeit - unseren Kommunen
schuldig; denn die beklagenswerten Kommunen in
Deutschland sind so ausgeblutet wie keine andere öffentliche Hand. Wir werden mit der Föderalismusreform
deshalb auch den Kommunen helfen. Erst wenn die
Kommunen wieder hinreichende Spielräume in ihren
Budgets haben, entstehen beispielsweise auch Spielräume für geringere Kindergartengebühren - erst dadurch und nicht durch das Verschieben von Finanzmassen, die gar nicht vorhanden sind.
({13})
Lang ist über die Notwendigkeit gesprochen worden,
das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre anzuheben. Selbst
Gerhard Schröder schloss das damals nicht aus. Die
große Koalition packt dies an. Wohlgemerkt ist es nicht
so, wie manchmal getan wird, dass das schon morgen
Wirklichkeit ist. Vielmehr erhöht sich das Renteneintrittsalter schrittweise ab 2012 und zieht sich dann - das wird
ständig verschwiegen - über 18 Jahre hin. Wir werden
deshalb manchmal im Ausland belächelt, weil man der
Meinung ist: Wenn mit einem Prozess, der unvermeidlich ist, erst in sechs Jahren begonnen wird und sich dieser dann über 18 Jahre erstreckt, ist das eine regelrechte
Reformbremse.
Die große Koalition wird auch die Reform der
Gesundheitsversorgung rechtzeitig auf den Weg bringen. Die Krankenkassen dürfen nicht mehr in einem so
tiefen Defizitsumpf versinken, wie das im Jahr 2003 der
Fall war. Richtig ist zwar, dass die Partner in der großen
Koalition mit unterschiedlichen Konzepten antreten.
Aber ich bin zuversichtlich, ja ich bin mir sicher, dass
wir die richtigen Elemente in den Vorschlägen beider
Partner in einem sehr guten Konzept miteinander verbinden werden.
Die Landtagswahlen vom vergangenen Sonntag haben den Vertrauensvorschuss für die große Koalition erneuert. Die Mehrheit der Wähler setzt auf eine gute und
maßvolle Reformpolitik. Wie gefestigt übrigens die Reformbereitschaft der großen Koalition selbst in kleinen
Dingen ist, hat jüngst der Kollege Müntefering unter Beweis gestellt. Er beginnt neuerdings seine Briefe an die
Fraktionsmitglieder der großen Koalition mit „Liebe
Kolleginnen und Kollegen“ und nicht mehr mit „Liebe
Genossinnen und Genossen“.
({14})
Das stimmt hoffnungsfroh; denn wer so mutig alte Zöpfe
abschneidet, der springt auch über den eigenen Schatten,
wenn es erforderlich ist.
({15})
Reformen bringen immer Veränderungen. Die einen
empfinden diese Veränderungen als Chance. Die anderen empfinden sie als schmerzlichen Abschied von Bewährtem, von Besitzständen. Dies gilt auch im Hinblick
auf unseren regulierten Arbeitsmarkt. Die Koalition hat
sich im Interesse der Arbeitsuchenden auf Schritte hin zu
einem flexibleren Arbeitsrecht und eine Überprüfung
arbeitsmarktpolitischer Instrumente verständigt. Ob allerdings diese Schritte ausreichen werden, um die Bereitschaft zu Neueinstellungen vor allem in kleinen und
mittleren Unternehmen zu stärken, werden wir ganz genau beobachten. Denkverbote dürfen wir uns jedenfalls
hier nicht auferlegen. Solche Verbote würden den
5 Millionen Arbeitsuchenden in unserem Land nämlich
nicht weiterhelfen.
({16})
Reformen werden akzeptiert, wenn sie als notwendig
und gerecht empfunden werden. Oft hört man den Vorwurf, diejenigen mit starken und breiten Schultern würden hierzulande zu wenig tragen. Häufige Wiederholungen machen dieses Argument auch nicht wahr. Ich
möchte dies mit zwei Zahlen belegen. Ein Blick auf die
Einkommensteuerstatistik des Finanzministeriums verhilft zu einer besseren Einsicht. Die 5 Prozent der Steuerpflichtigen mit dem höchsten Einkommen schultern
knapp 43 Prozent des gesamten Einkommensteueraufkommens.
({17})
Auf die Steuerpflichtigen in der oberen Hälfte der Einkommensstatistik entfallen sage und schreibe 92 Prozent
des Einkommensteueraufkommens. Man mag ja über
exzessive Auswüchse in Einzelfällen streiten. Aber unser Steuersystem unter den Generalverdacht der Ungerechtigkeit zu stellen, das geht an den Realitäten weit
vorbei.
({18})
Reformen können den Hauptteil der Bundesausgaben
leider nicht aussparen. Die große Koalition wird dem
Sozialstaat neue Ziele setzen: weniger Verteilungsstaat
herkömmlicher Prägung, mehr Gewicht auf Sozialinvestitionen, um es mit einem Wort des Tübinger Philosophen Otfried Höffe zu sagen - damit der Begriff „Sozialinvestitionen“ den richtigen Klang bekommt. Deshalb
tut die neue Regierung mehr für junge Familien. Der
erste Schritt war die Verbesserung der steuerlichen Anerkennung der Kosten für Kindererziehung. Dieser Weg
wird beim Elterngeld fortgesetzt. Der Standpunkt von
CDU und CSU ist klar: Der Staat muss die Lebensplanung junger Familien respektieren. An der Wahlfreiheit
von Vater und Mutter darf nicht gerüttelt werden.
({19})
Im Monatsbericht des Finanzministeriums vom
September 2005 wird der finanzielle Umfang der geltenden Familienförderung mit 59 Milliarden Euro angegeben, wovon 41 Milliarden Euro auf steuerliche und
18 Milliarden Euro auf sozialpolitische Maßnahmen entfallen. Die große Koalition will in die Vielzahl der Maßnahmen mehr Transparenz bringen, damit alle von dieser
Förderung besser profitieren können.
Die Reformpolitik der großen Koalition orientiert
sich am Leitbild der Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit bezieht sich nicht nur auf Ökologie, sondern auch auf weite
Gebiete der Sozialpolitik; dabei geht es um Generationengerechtigkeit und um eine solide Finanzpolitik.
Die Wirtschaftspolitik muss auf ein nachhaltiges Wachstum zielen und nicht auf kurzfristige Strohfeuer. Die
Staatshaushalte dürfen nicht zu einer immer stärker drückenden Last für die nachfolgenden Generationen werden.
({20})
Die Beziehungen zwischen den Generationen müssen
auf eine für die ältere und für die jüngere Generation
gleichermaßen faire und gerechte Grundlage gestellt
werden.
Die Politik der neuen Regierung gewinnt Vertrauen
durch Wahrheit und Klarheit - Steinbrücks Worte: „Weg
in die Realität“. Die große Koalition sorgt für klare Perspektiven angesichts der Chancen und Risiken der Globalisierung. Deshalb werden wir auch mehr für Forschung und Entwicklung tun. Wir sind gerade dabei, mit
der Dienstleistungsrichtlinie die Märkte in Europa für
exzellente deutsche Dienstleistungen zu öffnen.
({21})
Wir sagen die Wahrheit über den Zustand der Staatsfinanzen, aber auch über die Lage bei Rente, Gesundheit
und Pflege.
Der Grundakkord unserer Politik lautet: Sanieren, Investieren, Reformieren. Nur durch Reformen gelingt die
Überwindung der Investitionsschwäche. Nur durch mehr
Investitionen kommen wir zu mehr Beschäftigung und
nur durch entschlossenes Sanieren erwirtschaften wir bei
den öffentlichen Finanzen die Handlungsspielräume, die
wir zur Finanzierung dringender Zukunftsinvestitionen
benötigen.
({22})
Der Stimmungswandel und das anziehende Wirtschaftswachstum erleichtern die Konsolidierung. Aber
das alleine reicht nicht aus,
({23})
um das strukturelle Defizit des Bundeshaushaltes in
Höhe von etwa 60 Milliarden Euro zu beheben. Unsere
erste Priorität lautet natürlich: eisern sparen, sparen und
sparen.
({24})
Aber die dramatische Lage des Bundeshaushalts macht
auch eine Erhöhung der Einnahmen unvermeidlich. Wir
haben das bereits im Wahlkampf unmissverständlich
deutlich gemacht - ich spreche jetzt für CDU und CSU -;
das war ein Stück Wahrheit, für die wir vielleicht etwas
haben büßen müssen.
({25})
Aber heute sind wir froh und glücklich, dass wir dies offen gesagt haben.
({26})
Was wir für Soziales, Zinsen und Tilgungen sowie für
Personal aufzuwenden haben, übersteigt die Steuereinnahmen. Da wird jedem deutlich, dass wir um Einnahmeerhöhungen nicht herumkommen. Der Verzicht auf
die Mehrwertsteuererhöhung wäre nicht ohne drastische Einschnitte bei den Sozialausgaben möglich. Wer
wollte massive Rentenkürzungen oder etwa die Kürzung
des Kindergeldes? Nein, meine Damen und Herren, davor müssen wir zurückschrecken. Wir müssen den Weg
alternativer Einnahmeerhöhungen gehen. Ich weiß natürlich, dass wir uns damit herber Kritik ausgesetzt haben. Aber Mut und das Fehlen von Denkverboten müssen die Politik dieser Koalition auszeichnen.
Wir setzen gemeinsam auf wirksame Instrumente für
mehr Wachstum und Beschäftigung. Der Haushaltsentwurf setzt unser Impulsprogramm um. Das muss so
schnell wie irgend möglich geschehen. Wir setzen vor
allen Dingen Anreize für Investitionen. Neuinvestitionen
- ich sage dies noch einmal - sichern und schaffen Arbeitsplätze. Der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung
wird wie versprochen von 6,5 Prozent auf 4,5 Prozent
gesenkt. Das bringt mehr Geld für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Wir haben uns auch zum Ziel gesetzt, entschlossen zu entbürokratisieren. Unter Bürokratie leiden
die Investoren am meisten. Wir haben jetzt schon - rückwirkend zum 1. Januar - die degressive Abschreibung
verbessert. Das bringt rasch und wirksam Investitionsimpulse.
Wir werden die engen Spielräume des Bundeshaushalts bis an die Grenzen des Möglichen auch für Investitionen nutzen. So wurde die steuerliche Absetzbarkeit
von Handwerkerrechnungen durch private Haushalte erweitert. Ich sage dies vor allen Dingen im Hinblick darauf, dass wir aus dem Bereich des Handwerks - als
Müllermeister komme ich selbst aus dem Handwerk mit Briefen bombardiert werden - ich verstehe jeden
Briefschreiber -, in denen Bedenken gegen die Mehrwertsteuererhöhung geäußert werden. Deshalb ist es
richtig, dass wir Investitionsimpulse setzen, wozu auch
die steuerliche Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen durch Privathaushalte zählt. Das ist eine alte und berechtigte Forderung des deutschen Handwerks.
({27})
Mehr Mittel für Verkehrsbauten, mehr Mittel für Forschung und Technologie! Deutschlands Kapital sind die
Köpfe. Deshalb ist jeder Euro dort gut angelegt.
Die Regierung schafft wieder Vertrauen. Die Zukunftserwartungen der deutschen Wirtschaft sind so
positiv wie seit fünf Jahren nicht mehr. Alle Frühindikatoren zeigen nach oben. Ich freue mich darüber zusammen mit unserem Bundeswirtschaftsminister Michael
Glos. Das ist ein hervorragender Weg in eine gedeihliche
wirtschaftliche Zukunft Deutschlands, Herr Bundeswirtschaftsminister.
({28})
Das Verbrauchervertrauen hat zuletzt den höchsten
Wert seit dem Jahr 2000 erreicht.
Aber auch die harten Faktoren sprechen dieselbe
Sprache. Die Auftragseingänge nehmen zu. Der Maschinenbau und der Großanlagenbau melden eine spürbare
Belebung der Inlandsnachfrage. Ebenso verdeutlichen
die jüngst wieder ansteigenden Steuereinnahmen, vor allen Dingen bei der Gewerbesteuer, die wirtschaftliche
Trendwende. Besonders freut mich, dass der Stimmungsumschwung den Mittelstand erreicht hat. Der Mittelstand ist mehr denn je das Rückgrat der deutschen
Wirtschaft, mehr vielleicht als manches DAX-Unternehmen.
Der Aufschwung gewinnt an Fahrt und Breite. Wie in
der Vergangenheit müssen wir auch gegenwärtig die
Wachstumsprognosen korrigieren, aber diesmal Gott sei
Dank erstmals nach oben, und darauf können wir alle
miteinander stolz sein.
({29})
Es wird - es gehört zur Ehrlichkeit, das zu sagen, und es
ist die Realität - noch eine geraume Zeit dauern, bis wir
zu einer grundlegenden Wende gelangen; denn die
Wende auf dem Arbeitsmarkt ist bekanntlich ein traditioneller Spätindikator einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung.
Vier Monate nach dem Regierungswechsel wird aber
für jeden die Änderung im Stil der Politik deutlich. Das
Vertrauen der Menschen in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes ist gestiegen. Dies ist vor allem ein Verdienst
von Ihnen, liebe Frau Bundeskanzlerin, und Ihres Kabinetts.
Die Unionsparteien werden auf der Basis ihrer
Grundsatzpositionen ihren Beitrag dazu leisten, dass die
zunächst von keiner Seite gewollte große Koalition am
Ende eine Erfolgsgeschichte wird.
Herzlichen Dank.
({30})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Oskar
Lafontaine von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kollege Ramsauer hat, wie zu erwarten war, davon gesprochen, dass die große Koalition das Kursbuch
für einen neuen Kurs vorgelegt hat. Wenn man eine Werbeagentur zurate ziehen würde, würde sie für den Verkauf immer empfehlen, von etwas Neuem, von einer Innovation zu sprechen und zu unterstreichen, dass
wirklich ein Aufbruch in Deutschland stattgefunden hat,
dass man also zu neuen Ufern aufbrechen will.
Ich will für meine Fraktion sagen, dass die Situation
sich für uns weniger vorwärts gewandt darstellt. Wir
stellen zunächst einmal fest, dass die Politik der Regierung Merkel die Politik der Regierung Schröder/Fischer
fortsetzt, und zwar in der Außenpolitik ebenso wie in der
Wirtschafts- und Finanzpolitik.
({0})
- Es freut mich, dass hier teilweise Beifall gespendet
wird. Dies ist unsere Überzeugung. Sie können eine andere Auffassung haben.
Wir begründen unsere Haltung damit, dass die wichtigen Entscheidungen der letzten Jahre - ob das Hartz IV
war, ob das die Agenda 2010 war oder ob das die Beteiligung Deutschlands an völkerrechtswidrigen Kriegen
war - von allen Fraktionen dieses Hauses getragen worden sind. Also sehen wir keine Veränderung der Politik
durch den Wechsel zur großen Koalition.
({1})
Ich beginne mit der Außenpolitik - davon war schon
die Rede - und stelle fest, dass die Außenpolitik auch
dieser Regierung keine klare Grundlage hat. Ich will darauf hinweisen, dass derjenige, der sich zu politischen
Themen äußert, zunächst gehalten ist, die Begriffe zu
klären. Wenn man zum Beispiel sagt, man stelle in den
Mittelpunkt seiner Außenpolitik den Kampf gegen den
internationalen Terrorismus, dann muss man definieren
können - ich wiederhole das -, was man unter „internationalem Terrorismus“ versteht. Wenn man dies nicht
kann, dann gerät man in die Gefahr, eine Außenpolitik
zu betreiben, die keine klare Grundlage hat.
({2})
Deshalb will ich für die Linke hier noch einmal feststellen, dass von keiner der beteiligten Parteien bis zum
heutigen Tage eine Antwort auf die Frage gegeben worden ist, was wir eigentlich unter Terrorismus und damit
unter internationalem Terrorismus verstehen. Für uns
ist Terrorismus das Töten unschuldiger Menschen zum
Erreichen politischer Ziele.
({3})
Unter diesem Gesichtspunkt waren die Attentäter, die
in das World Trade Center geflogen sind und 3 000 Unschuldige umgebracht haben, natürlich Terroristen. Unter diesem Gesichtspunkt sind natürlich auch die jungen
Menschen, die als Selbstmordattentäter in tragischer
Weise sich ihr Leben nehmen und Unschuldige mit in
den Tod ziehen, Terroristen. Unter diesem Gesichtspunkt
sind aber auch - dieser Erkenntnis verschließt sich die
Mehrheit in diesem Hause - die Bombardierungen von
Städten und Dörfern in Afghanistan oder im Irak terroristische Akte,
({4})
die man genauso qualifizieren muss wie die Handlungen, die ich vorher beschrieben habe. Da Sie diesem Urteil ausweichen, hat Ihre Außenpolitik an dieser Stelle
keine klare Grundlage.
Die zweite Frage ist, ob Sie tatsächlich der Auffassung sind, dass die Kriege im Vorderen Orient Kriege für
Freiheit und Demokratie sind. Wir haben eine ganz andere Auffassung. Ich habe schon des Öfteren Oswald
Spengler zitiert, der in der ersten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts Außenpolitik definierte als Kämpfe um
Rohstoffe und Absatzmärkte. Nach unserer Auffassung
trifft diese konservative Definition auf die Außenpolitik
der führenden Supermacht des Westens nach wie vor zu:
Ihre Außenpolitik ist kein Kampf um Demokratie und
Frieden, sondern sie ist nach wie vor ein Kampf um
Rohstoffe und Absatzmärkte. Das gilt in vollem Umfang
in Bezug auf den Vorderen Orient.
({5})
Die dritte Frage, die Sie nicht beantwortet haben, ist,
ob Sie sich im Rahmen der Außenpolitik an das Völkerrecht halten wollen. Das ist doch eine relevante Frage.
({6})
- Darauf komme ich bei Gelegenheit zu sprechen. Verehrte Frau Roth, Sie waren Menschenrechtsbeauftragte,
als zahlreiche Rechtsbrüche hier in Deutschland - Entführungen, Folter - stattgefunden haben.
({7})
Offensichtlich haben Sie in dieser Zeit gepennt. Für
meine Fraktion möchte ich Ihnen noch einmal sagen:
Wer durch die Unterstützung völkerrechtswidriger
Kriege für den Tod Tausender Unschuldiger mitverantwortlich ist, der soll in diesem Hause nicht über
Menschenrechte reden. Das ist unsere Position in dieser
Frage.
({8})
Ich werfe also noch einmal die Frage auf, ob Sie sich
an das Völkerrecht halten wollen.
({9})
- Ja, regen Sie sich nur auf! Das macht durchaus Freude.
Dann weiß man, dass Sie getroffen sind.
({10})
Ich stelle also die Frage, ob Sie sich an das Völkerrecht
halten wollen. Es ist bekannt, dass weder der Jugoslawienfeldzug
({11})
noch der Afghanistankrieg mit dem Völkerrecht zu vereinbaren waren. Weniger bekannt ist, dass auch der Irakfeldzug von Deutschland mit getragen worden ist. Wenn
das Bundesverwaltungsgericht feststellt, dass Deutschland Beihilfe zum Irakkrieg geleistet hat
({12})
und dass die Beihilfe zu einem völkerrechtswidrigen
Krieg ebenfalls ein völkerrechtswidriges Handeln darstellt, dann wäre doch zu erwarten, dass sich dieses Haus
mit diesem höchstrichterlichen Urteil beschäftigt. Aber
das ist in den letzten Wochen und Monaten nicht geschehen.
({13})
Die Außenpolitik hat keine klare Grundlage. Weder
definiert sie, was Terrorismus ist, noch erklärt sie sich zu
der Frage, ob es hier um Freiheit und Demokratie oder
um Rohstoffsicherung geht, noch hat sie klar erkannt,
dass das Völkerrecht beachtet werden muss, wenn wir
überhaupt Friedenspolitik betreiben wollen. Insofern
steht die Außenpolitik auf tönernen Füßen. Es besteht
nachher Gelegenheit, diese drei Sachargumente zu entkräften.
({14})
Wir sind sehr gespannt darauf.
({15})
Ich komme zur Europapolitik und damit auch zur
Frage der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Herr Kollege Ramsauer, Sie haben die Europapolitik der neuen
Regierung, die eine Fortsetzung der bisherigen ist, für
richtig befunden. Wir glauben, dass es in den letzten Jahren zwei gravierende strukturelle Fehlentwicklungen gegeben hat. Das eine ist der Maastrichtvertrag und das andere ist die Verfassung der Europäischen Zentralbank.
Niemand im angelsächsischen Raum käme auf die
Idee, eine Zentralbankverfassung zu verabschieden, wie
wir sie in Europa haben. Eine Zentralbank, die ausschließlich dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet ist,
neigt zu gravierenden Fehlentscheidungen, die insbesondere Wachstum und Beschäftigung hemmen. Wir haben
das in den letzten Jahren oft genug erlebt. Ich möchte
also für meine Fraktion hier feststellen, dass es das Mindeste wäre, die Verfassung der Europäischen Zentralbank an die Verfassung der amerikanischen Notenbank
anzupassen.
({16})
Die amerikanische Notenbank ist nämlich nicht nur auf
Preisstabilität verpflichtet, sondern sie ist ebenso verpflichtet, Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Es
ist bedauerlich, dass die Europäische Zentralbank in der
jetzigen Situation, in der es in Europa noch keine klare
Aufwärtsbewegung gibt, wiederum dabei ist, den Kurs
der Zinspolitik zu ändern. Wir werden das in einiger
Zeit, insbesondere in Deutschland, zu spüren bekommen.
Nun zum Maastrichtvertrag. Vorhin war von naturwissenschaftlicher Ausbildung die Rede. Einen Grundsatz lernt man bei dieser Ausbildung, nämlich dass man
die Theorie überprüft, wenn das Experiment sie permanent widerlegt.
({17})
Dass der Maastrichtvertrag durch das Experiment bestätigt worden ist, kann nur jemand behaupten, der sehr,
sehr kühn ist. Der Maastrichtvertrag ist eine Fehlkonstruktion von Anfang an. Er hindert die Mitgliedstaaten der Europäischen Union daran, eine vernünftige Fiskalpolitik zu betreiben.
({18})
Daher müsste er nicht nur ein bisschen korrigiert werden, sondern er müsste grundlegend reformiert werden,
wenn wir Wachstum und Beschäftigung in Europa tatsächlich wollen.
({19})
Ich komme zur Innenpolitik und zur Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit. Dabei spreche ich zwei Felder an.
Das eine ist die Finanzpolitik. Das andere ist die Lohnpolitik.
Der Bundesfinanzminister hat hier davon gesprochen,
dass seine Finanzpolitik nach seinem Urteil eine Finanzpolitik der doppelten Tonlage sei. Ich kann diese Selbsteinschätzung nicht in vollem Umfang teilen, Herr Finanzminister. Ich glaube, dass Sie hier weiterhin das
eintönige Lied des Neoliberalismus gesungen haben; insofern konnte ich von doppelter Tonlage leider nichts erkennen.
({20})
- Herr Kollege Westerwelle, manchmal ist das Lied des
Neoliberalismus auch sehr farbig, aber es ist besonders
eintönig und bitter für diejenigen in unserem Land, die
davon negativ betroffen sind, und das sind in den letzten
Jahren immer mehr geworden.
({21})
Zunächst noch zur Grundausrichtung der Finanzpolitik. Wenn Sie sagen, Herr Bundesfinanzminister, die
Finanzpolitik unterstütze Wachstum und Beschäftigung,
dann müssen Sie das irgendwie begründen können. Sie
müssen zumindest irgendwie belegen können, dass die
Finanzpolitik expansiv ist. Das ist sie aber nicht. Sie
werden hier kein Institut zitieren können, das Ihrer Finanzpolitik einen expansiven Impuls bestätigt. Vielmehr
ist es so, dass nicht nur der Bundeshaushalt zurückgeht,
sondern auch die Gesamtheit der öffentlichen Haushalte.
Wenn die Gesamtheit der öffentlichen Haushalte zurückgeht, ist die Finanzpolitik - das sollte man hier feststellen - nicht expansiv, sondern eher restriktiv. Über Zahlen kann man nicht streiten, es sei denn, man redet sich
die Welt schön oder verliert sich in irgendwelchen ideologischen Betrachtungen, die mit einer sachlichen Erörterung überhaupt nichts zu tun haben.
({22})
Aber nicht nur die Haushaltspolitik ist der gegenwärtigen konjunkturellen Lage nicht angemessen. Noch viel
mehr gilt das für die Steuerpolitik. Aber dazu möchte ich
das nach unserer Auffassung bestehende Kernproblem
der gegenwärtigen ökonomischen Entwicklung in
Deutschland formulieren, nämlich wie man die Ersparnisse wieder zurücklenkt in Investitionen. Wenn man
dies als Kernaufgabe akzeptiert, dann muss man zunächst feststellen, dass dazu von Ihrer Regierung überhaupt nichts angeboten wird. Das, was vorgelegt wird,
sind allenfalls Trippelschrittchen; in Wirklichkeit geschieht viel zu wenig.
Dass dies das Kernproblem ist, können Sie dem
jüngsten Bericht der Bundesbank entnehmen. Dort steht,
bezogen auf das letzte Jahr, schlicht und einfach:
Somit wurde das inländische Sparaufkommen, anders als in den 90er-Jahren, nicht mehr in vollem
Umfang von der gesamtwirtschaftlichen Sachkapitalbildung im Inland absorbiert.
Anders ausgedrückt: Es gelingt eben nicht mehr, die Ersparnisse in unserem Lande in die Investitionen zu lenken. Vielmehr wurde ein beträchtlicher und steigender
Teil dem Ausland zur Verfügung gestellt.
Die deutsche Wirtschaftspolitik darf nicht zulassen,
dass die Ersparnisse, die hier gebildet werden, nicht
mehr hier in Investitionen fließen, sondern dem Ausland
zur Verfügung gestellt werden. Die Frage ist, wie wir das
ändern können.
({23})
Wenn wir überlegen, wohin unsere Investitionen gelenkt werden können, dann müssen wir uns auf die einzelnen Felder konzentrieren. Zunächst einmal - darauf
hat meine Kollegin Gesine Lötzsch gestern bereits hingewiesen - ist die Quote öffentlicher Investitionen
Deutschlands anzusprechen. Das ist einfach nicht mehr
zu fassen. Wieso glauben wir, dass wir uns als ein Industriestaat, der in seiner Bedeutung für Europa von Ihnen,
Herr Kollege Ramsauer, gepriesen worden ist, weiter
eine Quote öffentlicher Investitionen erlauben können,
die seit vielen Jahren nur halb so hoch ist wie im Durchschnitt der EU-Mitgliedstaaten? Wieso glauben wir, wir
können das auf Dauer durchhalten?
({24})
Keine Volkswirtschaft kann auf Dauer zu Wachstum und
Beschäftigung finden, wenn nicht die öffentlichen Investitionen einen entsprechenden Anteil an der gesamten
volkswirtschaftlichen Entwicklung haben.
({25})
Seit vielen Jahren werden an dieser Stelle gravierende
Fehler gemacht.
Noch wichtiger als Investitionen in die öffentliche Infrastruktur sind Investitionen in die geistige Infrastruktur. Auch hier kann man nur sagen: Es ist angesichts der
Tradition dieses Landes nicht zu fassen, dass wir bei den
Bildungs- und Forschungsausgaben im unteren Drittel
der OECD-Statistik liegen. Das ist ein unhaltbarer Zustand.
({26})
Auch die jetzigen Entscheidungen der Regierung Merkel
ändern nichts daran.
Wenn wir wirklich zu den Industriestaaten aufschließen wollen, die in den letzten Jahren mehr Wachstum
und Beschäftigung geschaffen haben, brauchen wir eine
andere Quote öffentlicher Investitionen und deutlich
mehr Ausgaben für Forschung und Bildung. Das ist die
beste Investition in die Zukunft eines Volkes.
({27})
Nun stellt sich natürlich die Frage, wie man dies bewerkstelligen kann. Damit komme ich zur Steuer- und
Abgabenquote. Ich hatte Ihnen, Frau Bundeskanzlerin,
beim letzten Mal die simple Frage gestellt, welche
Steuer- und Abgabenquote Sie eigentlich anstreben. In
einer seriösen Debatte über Haushaltspolitik müsste
diese Frage beantwortet werden können. Man müsste
doch wissen, was man eigentlich will. Wenn man einen
Haushaltsplan aufstellt, muss man sich die Frage stellen,
wie man die Einnahmeseite und die Ausgabenseite gestaltet. Aber offensichtlich ist diese Frage aufgrund irgendwelcher ideologischer oder anderer Barrieren in
Deutschland überhaupt nicht mehr zu stellen.
Deshalb sage ich hier noch einmal: Wir haben eine
völlig unterdurchschnittliche Steuer- und Abgabenquote.
Sie liegt nach der jetzigen Statistik bei 34 Prozent. Wir
liegen damit um 6 Prozent unter dem europäischen
Durchschnitt. Umgerechnet auf unser Sozialprodukt sind
das rund 130 Milliarden Euro. Das werden wir auf
Dauer nicht durchhalten können, meine Damen und Herren.
({28})
Dabei ist noch nicht einmal eingerechnet, dass wir die
Einheit finanzieren müssen. Das ist eine unglaubliche
Fehlentwicklung der Haushaltssteuerung in den letzten
Jahren, die hier nur ganz bescheiden korrigiert werden
soll.
Sie haben darauf hingewiesen, dass sie korrigiert
werde, und sprachen dann von der Mehrwertsteuer. Es
war nun wirklich nicht akzeptabel, dass Sie, Herr Kollege Ramsauer, in diesem Zusammenhang von einer
Übereinstimmung zwischen Reden und Handeln sprachen. Die Mehrwertsteuer ist leider ein eklatantes Beispiel dafür, wie Parteien dazu beitragen, dass die Bevölkerung immer politikverdrossener wird und sich immer
mehr Menschen weigern, zur Wahlurne zu gehen.
({29})
Hier haben sich die beiden Parteien der großen Koalition
eines Wahlbetruges schuldig gemacht.
({30})
Das möchte ich im Rahmen der Generaldebatte ansprechen. Wenn eine Partei sagt, sie befürworte eine Mehrwertsteuererhöhung um 2 Prozent, die andere Partei heilige Eide auf 0 Prozent Mehrwertsteuererhöhung
schwört und am Schluss 3 Prozent herauskommen, dann
ist die Bevölkerung der Bundesrepublik erbost, weil sie
sich betrogen fühlt, und geht eben nicht mehr zu den
Wahlurnen.
({31})
Das kann man Ihnen nicht so ohne weiteres durchgehen
lassen.
Dass Ihre Steuerpolitik, und zwar die Steuerpolitik aller mit uns konkurrierenden Parteien, in den letzten Jahren auf einem völlig falschen Pfad war, hat die Bundesbank ebenfalls festgestellt. Ich zitiere: Die Untersuchung
zeigt,
dass für den starken Defizitanstieg nach dem Jahr
2000 zwar auch konjunkturelle Einflüsse eine Rolle
gespielt haben. Ausschlaggebend war aber der
Rückgang der strukturellen Einnahmequote …
Deutlicher kann man dies nicht sagen.
Ich will es einmal anders formulieren: Hätten Sie die
Steuerreform 2000 nicht beschlossen, hätten Sie kein
einziges Jahr die Maastrichtkriterien verfehlt. Auch dies
ist in ungezählten Untersuchungen dargestellt worden.
Also stimmt die Steuer- und Abgabenquote nicht.
So einfach wie der Bundesfinanzminister darf man es
sich nicht machen: Wenn er sagt, die einzige Alternative,
die wir hätten, sei entweder eine Mehrwertsteuererhöhung oder eine drastische Kürzung bei Renten oder anderen Sozialausgaben, dann ist dies eine Irreführung der
Bevölkerung, die wir Ihnen nicht durchgehen lassen
können, Herr Bundesfinanzminister.
({32})
Sie haben diese Behauptung zwar vielfach wiederholt,
trotzdem bleibt sie schlicht und einfach eine Irreführung
der Bevölkerung. Es sind 20 bis 30 andere Alternativen
denkbar.
Sie wissen, dass wir eine Alternative immer wieder
ins Gespräch bringen: Statt dem Volk ständig in die Tasche zu greifen, sollten Sie einmal den Mut haben, auch
den Wohlhabenden in Deutschland in die Tasche zu greifen.
({33})
Denn die Entwicklung der Einkommen und Vermögen läuft so stark auseinander, dass dies dringend geboten ist.
An dieser Stelle haben Sie, Herr Bundesfinanzminister, den freundlichen Hinweis gegeben - ich bin ja dankbar, wenn ich von Ihnen etwas lernen kann -,
({34})
dass das Kapital mobil sei. Sie waren also der Meinung,
diese Tatsache sei mir nicht geläufig. Herr Bundesfinanzminister, ich wohne an der deutsch-luxemburgischen Grenze und ich habe mich schon, als Sie noch
andere Funktionen hatten, mit der Kapitalflucht beschäftigt.
({35})
- Ich habe noch keinen von euch erwischt. Deswegen
braucht ihr jetzt nicht zu lachen.
({36})
Gehen Sie einmal getrost davon aus, dass ich sehr
wohl weiß, dass die Kapitalflucht ein Problem ist.
So wie ich vorhin auf die Methoden der Naturwissenschaft verwiesen habe, möchte ich Ihnen einen hilfreichen Hinweis zur Wirtschafts- und Finanzpolitik geben.
Wenn wir in der Schule die uns gestellten Aufgaben
nicht lösen konnten, dann waren wir zumindest so
schlau,
({37})
vom Nachbarn abzugucken, der es besser gewusst hat.
({38})
Das ist eigentlich auch etwas, was man von Ihnen erwarten könnte. Anscheinend ist das aber zuviel verlangt.
Wenn Sie hier mit der Ihnen eigenen Chuzpe sagen,
wegen der drohenden Kapitalflucht könnten wir die Vermögen in Deutschland nicht besteuern, dann muss man
doch die Frage stellen, warum in vielen anderen Industriestaaten eine ordentliche Vermögensbesteuerung
möglich ist. Täuschen Sie das Volk nicht in dieser unverOskar Lafontaine
schämten Art und Weise, wenn es darum geht, Vermögen in Deutschland zu besteuern!
({39})
Wir sollten nicht so tun, als wären wir allein auf der
Welt und als hätten die anderen Staaten keine Erfahrungen auf diesem Gebiet gemacht. Es dürfte Ihnen sicher
möglich sein, sich in Ihrem Hause die OECD-Statistik
über die Vermögensbesteuerung zu beschaffen. Dann
könnten Sie sehen, dass wir hinsichtlich der Vermögensbesteuerung im Vergleich zu anderen Industriestaaten
weit zurückliegen, insbesondere im Vergleich zu den angelsächsischen Staaten.
Ich möchte noch einmal einen Vorschlag machen, den
ich hier schon einmal vortragen durfte. Dieser Vorschlag
ist für jeden überprüfbar; man kann Ja oder Nein dazu
sagen. Das deutsche Geldvermögen - betroffen sind
also nicht das Sachkapitalvermögen und das Immobilienvermögen - beträgt 4 000 Milliarden Euro. Die Hälfte
davon gehört dem einen Prozent der Bevölkerung, das
Sie vorhin teilweise angesprochen haben, Herr Kollege
Ramsauer. Das sind 2 000 Milliarden Euro. Wenn man
dieses Vermögen mit 5 Prozent besteuert - ich sage zum
Verständnis, dass die Durchschnittsrendite für dieses
Geldvermögen derzeit weit über 7 Prozent liegt -, dann
kann man 100 Milliarden Euro pro Jahr an Mehreinnahmen für die öffentliche Hand erzielen.
({40})
Wieso greifen Sie über die Mehrwertsteuererhöhung nur
dem Volk in die Tasche und wieso sind Sie nicht in der
Lage, an das Vermögen der Wohlhabenden zu gehen?
Das ist eine durchaus beschämende Entwicklung.
Weil ich gerade in Richtung der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands blicke, möchte ich
Sie daran erinnern, dass die stolze Feststellung des Bundesfinanzministers, dass wir mit die niedrigste Steuerquote in Europa haben, vor Jahren auf jedem SPD-Parteitag mit großem Missfallen entgegengenommen
worden wäre. Dass Sie dies jetzt als eine große Leistung
verkünden, zeigt, wie sehr sich diese Partei gewandelt
hat.
({41})
Es zeigt auch, wie sehr sich Ihre Einstellung zu den
Staatsaufgaben und zu den Aufgaben der öffentlichen
Hand grundsätzlich verändert hat. Das hat große Nachteile für die Beschäftigten und die Arbeitslosen in diesem Land.
Wir brauchen eine andere Steuerpolitik. Ich habe Ihnen dazu Vorschläge gemacht. Es bestände dann die
Möglichkeit, das Barvermögen - davon ist im Bericht
der Bundesbank die Rede - in Richtung öffentliche Investitionen und in Bildungsinvestitionen umzulenken.
Es ist ein einfacher Weg. Aber aus ideologischer Verblendung heraus wollen Sie diesen Weg nicht gehen, der
ein Kernproblem unserer Volkswirtschaft lösen würde.
({42})
Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte - man
kann dies nicht oft genug tun -, ist die Lohnentwicklung in Deutschland. Sie ist leider die miserabelste aller
Industriestaaten. Seit zehn Jahren haben wir kein Reallohnplus mehr in Deutschland. Die Statistik weist einen
Rückgang von 0,9 Prozent aus. Vergleichbare Staaten
hatten in zehn Jahren ein Plus von real 20 Prozent wie
etwa die USA oder von 25 Prozent wie Großbritannien
und Schweden zu verzeichnen.
Nun werden Sie sagen: Wir haben damit gar nichts zu
tun. - Das ist allerdings noch nicht einmal die halbe
Wahrheit. Natürlich sind die Politik der Bundesregierung
und die Politik der Länderregierungen mit konstituierend
für die Möglichkeiten gewerkschaftlicher Durchsetzung
in Deutschland. Wenn Sie beispielsweise - um ein aktuelles Thema aufzugreifen - immer noch dem abgelutschten Bonbon der Arbeitszeitverlängerung als Motor der
Beschäftigungsentwicklung anhängen, sind Sie auf dem
völlig falschen Weg.
({43})
Die Arbeitszeitverlängerung ist eines der Betrugswörter
des Neoliberalismus, das Sie ununterbrochen gebrauchen. Die Arbeitszeitverlängerung ist ein Begriff, der etwas intendiert, worum es gar nicht geht. Es geht nicht
um eine Verlängerung der Arbeitszeit, sondern einzig
und allein um eine Verlängerung der Arbeitszeit bei gleichem Lohn, das heißt um eine Stundenlohnkürzung und
um nichts anderes.
({44})
Wer eine Stundenlohnkürzung will, soll das dann
auch sagen. Es ist ein Trauerspiel, dass eine Partei - ich
sehe sie hier -, die in ihrem Grundsatzprogramm, das ich
miterarbeitet habe, Arbeitszeitverkürzungen vorsieht
und nach wie vor die 30-Stunden-Woche propagiert, bei
dieser Arbeitszeitverlängerung bzw. Stundenlohnkürzung mitmacht. Das ist wirklich eine traurige Fehlentwicklung.
({45})
Wer allerdings glaubt, in der jetzigen Situation der lahmenden Binnennachfrage in Deutschland über Stundenlohnkürzungen irgendeinen Beitrag zu mehr Wachstum
und Beschäftigung leisten zu können, ist nicht mehr
ganz bei Trost; um dies einmal in aller Klarheit zu sagen.
({46})
Weil wir den verhängnisvollen Trend der negativen
Lohnentwicklung in Deutschland durchbrechen müssen,
wenn wir in irgendeiner Form etwas für Wachstum und
Beschäftigung erreichen wollen, vertritt meine Fraktion
nach wie vor die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Wir haben nun einmal eine solch negative
Lohnspirale in Deutschland, dass es für dieses Parlament
dringend geboten ist, diesen Negativtrend aufzuhalten.
Wir haben bereits Tariflöhne von unter 4 Euro pro
Stunde. Dies kann nicht mehr hingenommen werden.
Die Verfassung unseres Landes, die in Art. 1 die Menschenwürde schützt, verpflichtet uns dazu, in Deutschland Löhne sicherzustellen, von denen ein Arbeitnehmer,
der arbeitet, auch anständig leben kann. Das ist die Idee
des Mindestlohns.
({47})
Ich möchte noch etwas zu den sozialen Sicherungssystemen sagen. Sie haben eine enorme volkswirtschaftliche Bedeutung, die weitgehend verkannt wird. Wenn
man nur darüber redet, wie hoch der Beitragssatz sein
soll, verkennt man die Aufgabenstellung völlig. Wenn
man nur darüber redet, welchen Prozentsatz vom Nettooder Bruttolohn die Rente irgendwann einmal ausmachen soll, wird die entscheidende Frage ausgeklammert.
Es kann nicht sein, dass bei der Gestaltung der sozialen
Sicherungshöhe die Frage im Zentrum steht, wie hoch
der Beitragssatz sein darf. Im Hinblick auf die Rente
sollte man doch fragen, wie viel Geld ein älterer Mitbürger braucht, um anständig leben zu können.
({48})
Was soll diese ganze Beitragssatzphilosophie, die Sie
hier seit vielen Jahren fälschlicherweise vertreten? Diese
Beitragssatzphilosophie führt zu Fehlentscheidungen.
Auf den Beitrag starrend, verlieren Sie die entscheidende Frage bei den sozialen Sicherungssystemen völlig
aus dem Auge.
Sie haben sich zudem an dieser Stelle einer Irreführung schuldig gemacht, indem Sie gesagt haben, es gehe
um Beitragssatzstabilität. Es ging Ihnen ausschließlich
um Beitragssatzstabilität für die Unternehmerseite, während die Arbeitnehmer die Zusatzlasten in großem Umfang allein aufgebürdet bekamen. Diese schäbige Fehlentwicklung muss ich hier feststellen.
({49})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Es gab in den letzten Jahren eine Politik, die im Ergebnis
leider nicht bestätigt worden ist. Denn nur auf das Ergebnis kommt es an. Die Politik der letzten Jahre hatte
zum Ziel, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Das ist nicht
gelungen. Diese Politik, die Sie, meine Damen und Herren von der großen Koalition, fortsetzen, trägt nicht zu
mehr Wachstum und Beschäftigung bei. Sie wird also
die Arbeitslosigkeit ebenso steigern wie die Politik der
Vorgängerregierung.
({50})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hubertus Heil von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Kollege Gerhardt, ich möchte Sie ansprechen,
weil das möglicherweise die letzte längere Rede war, die
Sie als Fraktionsvorsitzender in diesem Haus gehalten
haben.
({0})
Ich möchte Ihnen durchaus unseren Respekt aussprechen. Ich bedauere es, dass Ihre Restlaufzeit durch Ihren
Nachfolger begrenzt wurde.
({1})
Ganz im Ernst: Wir möchten Ihnen persönlich alles Gute
wünschen und haben zumindest vor Ihren außenpolitischen Ansichten Respekt, auch wenn Ihre Rede heute inhaltlich wieder einmal daneben war.
({2})
Herr Lafontaine, ich kann mir vorstellen, dass es Sie
immer noch ein bisschen wurmt, dass die Westausdehnung der PDS in Deutschland,
({3})
die Sie betrieben haben, am vergangenen Sonntag grandios gescheitert ist.
({4})
Ich will Ihnen auch sagen, warum mich das freut: weil
Sie persönlich beispielsweise in Rheinland-Pfalz gegen
Kurt Beck in übelster Art und Weise Wahlkampf betrieben haben, auch mit Schlägen unter die Gürtellinie.
({5})
Aber dass Sie heute die Unverschämtheit haben, die Außenpolitik der Regierung unter Gerhard Schröder in einen Zusammenhang mit Oswald Spengler zu bringen,
finde ich schon ahistorisch, um es freundlich auszudrücken.
({6})
Wir haben in der Amtszeit von Gerhard Schröder eine
Außenpolitik begründet, die auf zwei Säulen fußt:
Deutschland ist unter den veränderten Bedingungen der
Welt bereit, internationale Verantwortung zu übernehmen und sich nicht wegzuducken. Aber Deutschland
entscheidet selbst, was es mitmacht und was nicht. Deshalb lassen wir die historisch richtige Entscheidung,
Nein zu sagen zum Irakkrieg, von Ihnen nicht im Nachhinein diskreditieren, auch nicht in diesem Hause.
({7})
Die große Koalition hatte einen guten Start; das ist
der Tenor der meisten Medien. Das ist auch notwendig,
weil in der Bevölkerung sehr hohe Erwartungen an die
große Koalition bestehen. In meinem Wahlkreis sagen
viele: Wenn ihr schon koalieren müsst, weil das Wahlergebnis entsprechend ist, dann müsst ihr auch Großes hinbekommen. - Die beiden großen Volksparteien sind
auch in der Lage, große Dinge in diesem Land zu bewegen, weil die Möglichkeit besteht, die institutionalisierHubertus Heil
ten Blockaden von Bundesrat und Bundestag vier Jahre
hinter sich zu lassen.
({8})
Bezogen auf die Wende in der Finanzpolitik, von der
so oft die Rede ist, möchte ich eines sagen:
({9})
Wir haben sie uns schon früher gewünscht, im Interesse
von Bund, Ländern und Kommunen. - Darauf hat Peer
Steinbrück hingewiesen. - Wir hätten es auch geschafft,
wenn wir früher mit dem Abbau von Steuersubventionen begonnen hätten. Wir haben dies jetzt gemeinsam
eingeleitet und ich finde, darauf können wir stolz sein.
Wir haben bei den Steuersubventionen angesetzt und
beispielsweise die Eigenheimzulage abgeschafft, damit
der Staat handlungsfähig bleibt. Das ist eine der Leistungen der großen Koalition in den ersten 100 Tagen.
({10})
Wir wollen einen Erfolg der großen Koalition. Wir
wissen aber, dass nicht die ersten 100 Tage, sondern die
nächsten 1 000 Tage über den Erfolg der Koalition für
unser Land entscheiden. Deshalb wollen wir Sozialdemokraten verantwortungsbewusst und durchaus selbstbewusst in dieser Koalition weiterarbeiten. Wir haben
große Aufgaben vor uns. Wir haben mit der Umsetzung
der Genshagener-Beschlüsse begonnen und Impulse für
Wachstum und Beschäftigung gesetzt. So haben wir ein
Gebäudesanierungsprogramm aufgelegt, das ein Vielfaches an privaten Investitionen auslösen wird. 30 Prozent
der Wärmekosten könnten in Deutschland eingespart
werden, wenn die Häuser vernünftig isoliert werden. Wir
wollen mit diesem Programm ein Zeichen setzen. Wir
investieren auch mehr in Bildung, Forschung und Wissenschaft. Wir investieren mehr in die Familien. Das ist
konkrete Politik zur Zukunftssicherung und das wurde
von der Koalition auch mit sozialdemokratischer Handschrift verwirklicht.
({11})
Wir konnten uns in den Koalitionsverhandlungen
nicht in jedem Punkt durchsetzen; aber das ist das Wesen
einer Koalition. Wir fühlen uns aber mit vielen Vereinbarungen durchaus wohl. Wir sagen, was mit uns geht und
was mit uns nicht geht. Die SPD wird in den nächsten
Wochen und Monaten, in den nächsten Jahren in dieser
Koalition Motor der Erneuerung sein, weil unser Land
Erneuerung braucht.
({12})
Der eingeschlagene Kurs muss konsequent fortgesetzt
werden. Es geht darum, in diesem Land die Zukunft zu
sichern. Deshalb müssen wir auf Erneuerung setzen. Wir
brauchen aber auch soziale Gerechtigkeit.
Wir sollten uns einmal damit auseinander setzen, dass
wir in diesem wunderbaren Deutschen Bundestag zwei
exaltierte Positionen haben: auf der einen Seite die FDP,
auf der anderen Seite die PDS. Ich finde, wir müssen
einmal darüber reden, was Sie gemeinsam haben. Sie betreiben ein gemeinsames Spiel. Sie spielen wechselseitig
wirtschaftliche Dynamik gegen soziale Gerechtigkeit
aus. Die einen machen das, indem sie sagen: „Der Markt
ist das Problem der Menschen“. Sie meinen, der Nationalstaat könne alle Probleme dieses Landes lösen, man
müsse nur die Einnahmen ordentlich erhöhen, die Instrumente stünden zur Verfügung.
({13})
All das, was sich verändert hat, wird als große Verschwörung des internationalen Finanzkapitals dargestellt.
Wir haben Probleme mit dem ungeregelten internationalen Kapitalverkehr, das ist keine Frage. Wir haben
aber auch hausgemachte Probleme in diesem Land, die
wir selbst lösen müssen. Es gibt Probleme in diesem
Land, die Sie nicht lösen wollen, weil Sie die Veränderungen der Zeit nicht begriffen haben und weil Sie immer noch glauben, dass die Mauer steht und der Nationalstaat alles allein lösen kann.
({14})
Das ist die eine Seite des Hauses. Sie erklären den
Staat zum Löser aller Probleme und den Markt für das
Problem der Menschen.
({15})
- Genau, jetzt sind Sie dran.
Die FDP erklärt den Menschen, der Staat sei ihr größtes Problem. Man müsste die Menschen nur vom Staat
befreien, weil der Markt alle Probleme lösen kann, und
zwar nach dem alten Motto: Wenn jeder an sich selbst
denkt, ist an alle gedacht.
({16})
Das ist das wechselseitige Spiel dieser beiden Fraktionen.
({17})
- Schreien Sie nicht so herum!
Wir als Sozialdemokraten wissen, dass wirtschaftliche Dynamik und soziale Gerechtigkeit sich wechselseitig bedingen. Die modernen Volkswirtschaften in
Europa, die es zum Teil besser als wir hinbekommen haben, beweisen, dass eine Volkswirtschaft wie die unsrige
es sich nicht leisten kann, Menschen massiv von der
Teilhabe an Bildungschancen auszugrenzen. Das ist die
harte Aufgabe, die wir bewältigen müssen.
Dass die soziale Herkunft in Deutschland stärker über
Bildungs- und Überlebenschancen entscheidet als in anderen Ländern Europas, ist nicht nur verdammt ungerecht, wir können es uns in Zukunft auch wirtschaftlich
nicht leisten, auch nur ein Kind in unserer Gesellschaft
zurück zu lassen.
({18})
Aber wir wissen auch, dass soziale Gerechtigkeit nur
dann zu verwirklichen ist, wenn wir eine dynamische
Wirtschaft haben. Wir wissen auch, dass sich die Dinge
verändert haben. Wir haben eine Globalisierung und
Europäisierung der Wirtschaft. Der technische Fortschritt hat unsere Arbeitswelt verändert. Die demografische Entwicklung können wir nicht wegdiskutieren. Diesen neuen Herausforderungen müssen wir uns stellen.
Diese Koalition tut das auch.
Wir müssen das beispielsweise auch auf dem Feld der
Gesundheitspolitik tun. Darüber wird in den nächsten
Tagen viel zu reden sein. Ich finde es gut, dass wir uns
miteinander vorgenommen haben, zu einer Lösung zu
kommen. Gesundheit ist schließlich das Kernversprechen unseres Sozialstaates. Das Kernversprechen unseres Staates heißt: Wenn du krank wirst, wird dir medizinisch geholfen und du musst nicht arm werden. Das ist
keine Banalität angesichts der Situation in anderen Ländern. Es gilt, dieses Versprechen zu halten und zu erneuern.
({19})
Im Gesundheitswesen müssen eine Reihe von Dingen
angepackt werden, beispielsweise die Ausgabenseite.
Nach wie vor mobilisieren wir alle Kräfte für das Gesundheitswesen, aber wir erzielen damit nicht immer das
beste Ergebnis. Wir müssen zunächst einmal darauf achten, dass mit dem Geld der Beitragszahler vernünftig
umgegangen wird. Es ist immer noch so, dass das Geld
im Gesundheitswesen an manchen Stellen mit vollen
Händen ausgegeben wird, während es an anderen Stellen
bereits fehlt, beispielsweise bei der Versorgung chronisch Kranker. Deshalb ist unsere erste Aufgabe, die
Strukturen auf der Ausgabeseite zu verändern. Das geht
nur, wenn wir das gemeinsam angehen und ein breites
Kreuz gegenüber den Lobbyisten, die hier in Berlin versuchen, ihre individuellen Interessen auf dem Rücken
der Versicherten durchzusetzen, haben. Wir wollen und
werden diese Aufgabe gemeinsam schultern. Dabei lassen wir uns auch nicht von Lobbyistenprotesten umblasen. Wir wollen, dass mit dem Geld der Krankenversicherten im Interesse der Menschen besser umgegangen
wird.
({20})
Wir müssen jetzt die Strukturen verändern. In den
letzten 30 Jahren haben wir uns bemüht, die Kosten zu
begrenzen. Wir brauchen aber langfristig eine breite
Grundlage für unser Gesundheitswesen. Das liegt an der
demografischen Entwicklung, an der guten Tatsache,
dass wir länger leben, und an der schlechten Tatsache,
dass immer weniger Menschen Beiträge an die Krankenversicherungen leisten. Das liegt darüber hinaus an der
Tatsache, dass wir zwar einen großartigen medizinischen
Fortschritt haben, der jedoch unglaublich teuer ist.
Wenn wir als Abgeordnete nicht in wenigen Jahren
den Menschen in unseren Wahlkreisen sagen wollen:
„Es gibt jetzt ein ganz modernes Instrument und Medikament gegen deine lebensbedrohliche Krankheit, wir
können es dir aber nicht geben, weil kein Geld dafür da
ist“, dann müssen wir miteinander die Anstrengung unternehmen, eine breite finanzielle Grundlage für unser
Gesundheitswesen zu schaffen. Die SPD ist zu den dafür
notwendigen Dingen bereit.
({21})
Wir werden intensive Verhandlungen führen. Diesen
Bereich konnten wir im Koalitionsvertrag zugegebenermaßen nicht hinreichend klären, weil es Zeit braucht, um
eine solide und vernünftige Lösung zu finden - Frau
Bundeskanzlerin, die wollen wir -, die etwas länger als
zwei oder drei Jahre trägt. Es geht nämlich darum, in
diesem Bereich in Zeiten des Wandels Sicherheit zu
schaffen. Die Menschen in Deutschland müssen sich auf
das Gesundheitswesen verlassen können.
Das ist wichtig, um Vertrauen zu schaffen. Vertrauen
ist inzwischen auch eine ökonomische Größe. Wer kein
Vertrauen in diese Gesellschaft und in seine persönliche
Zukunft hat, der ist so verunsichert, dass er sich beispielsweise beim Konsum zurückhält. „Was kommt
noch?“, ist eine oft gestellte Frage. Im Gesundheitswesen müssen wir das Prinzip des Miteinanders einhalten.
Die deutschen Sozialdemokraten sind dazu bereit.
Dieses Land bietet alle Entwicklungschancen. Ich
finde, dass wir trotz all der Probleme, die wir haben,
auch darüber reden sollten, welche Stärken dieses Land
hat. Woran können wir anknüpfen? Trotz mancher Probleme im Bildungsbereich ist die Qualifikation von Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmern immer noch hervorragend. Wissenschaft und Forschung ist in vielen
Bereichen immer noch hervorragend. Wir haben immer
noch eine hervorragende Infrastruktur und wir haben
- vergleichen Sie das mit aktuellen Ereignissen in anderen Ländern - immer noch sozialen Frieden in Deutschland. Das ist nicht nur für die Demokratie, sondern auch
für die wirtschaftliche Entwicklung wichtig. Wir haben
relativ wenig Streiks und soziale Unruhen haben wir in
Deutschland gar nicht. Diese vier Standortvorteile gilt es
zu erhalten. Dafür muss man arbeiten. Es gilt der Satz
von Willy Brandt:
Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen.
Das ist nach wie vor richtig.
({22})
Wir müssen beispielsweise dafür sorgen, dass die
Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
auch unter veränderten Rahmenbedingungen zum Tragen kommen. Deshalb war es richtig, dass wir darauf bestanden haben, dass die Tarifautonomie in Deutschland
gesichert wird. Wer in diesem Hause, wie zum Beispiel
die FDP, den Gewerkschaften das Kreuz brechen will,
wird auf den massiven Widerstand von Sozialdemokraten treffen. Das gilt nach wie vor.
({23})
Wir wissen - Herr Westerwelle -, dass die meisten
Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
nicht im Gesetzblatt stehen, sondern in Tarifauseinandersetzungen hart erstritten wurden. Wir wissen, dass es
unter dem Dach des Flächentarifvertrages Flexibilität
geben muss. Es gibt sie in Deutschland aber schon tausendfach. Schauen Sie sich das einmal an!
In meinem Wahlkreis stellen sich die Betriebsräte vor
die Belegschaft, wenn es schwierig wird, und scheuen
sich nicht, ihren Kolleginnen und Kollegen schlechte
Mitteilungen zu machen, wenn es darum geht, das Unternehmen zu erhalten. Die in deutschen Unternehmen
gemachten Fehler sind meist von Managern zu verantworten. Das muss man einmal deutlich sagen.
({24})
Die Gewerkschaften in Deutschland sind nicht das Problem. Kluge Unternehmer wissen, dass man Probleme
gemeinsam mit Arbeitnehmervertretern lösen kann. Das
gelingt in vielen Bereichen, ohne dass darüber groß berichtet wird.
Insofern betone ich: Es bleibt bei der Tarifautonomie,
es bleibt auch bei der Mitbestimmung. Mitbestimmung
ist ein wichtiges Thema bei den Betriebsratswahlen, die
in diesen Tagen stattfinden: In Deutschland muss es eine
Garantie für die Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer am Haben und am Sagen geben.
Es bleibt auch beim geordneten Ausstieg aus der
Atomenergie.
({25})
Das ist ganz wichtig. Machen wir uns nichts vor. Herr
Glos, wir müssen damit leben, dass es in der Koalition
zu diesem Thema unterschiedliche Auffassungen gibt.
Das ist nicht schlimm. Ich betone nur, warum wir der
Meinung sind, dass wir diese rückwärts gewandte Debatte jetzt hinter uns lassen sollten, und warum wir uns
um andere Bereiche der Energiepolitik zu kümmern haben: Energiepolitik ist eine zentrale Frage der wirtschaftlichen Zukunft dieses Landes, ist eine Frage, die etwas
mit der Zukunft der Menschheit im Bereich Klima und
Umweltschutz zu tun hat, und ist im Übrigen - das hat
Frank-Walter Steinmeier auf der Münchener Sicherheitskonferenz deutlich gemacht - eine zentrale Frage der
Außen- und Sicherheitspolitik geworden.
In den nächsten 20 bis 30 Jahren, am Ende des Erdölzeitalters, werden wir nationale Konflikte um Ressourcen erleben. Es gibt sie schon heute. Deshalb war es
richtig, zu fordern, dass Deutschland eine Vorreiterrolle
übernimmt - Rot-Grün hat damit angefangen -, die auf
drei Prinzipien basiert: erstens auf Versorgungssicherheit, zweitens auf erneuerbaren Energien und drittens auf
Energieeffizienz.
Wir wollen in dieser Koalition miteinander nach Lösungen suchen, um in Deutschland neue Investitionen in
moderne Kraftwerkstechnologien auszulösen. Neben
dem notwendigen Wettbewerb auf den Strom- und Gasmärkten, den wir wollen, müssen wir in Deutschland
neue Investitionen in moderne Kraftwerkstechnik auslösen. Dies ist das Bestreben der Sozialdemokraten.
Meine Auffassung ist - die müssen Sie nicht teilen -,
dass verlängerte Restlaufzeiten für alte, abgeschriebene
Atommeiler möglicherweise die Renditen für die großen
Energieversorger erhöht hätten - das ist gar keine Frage;
alte, abgeschriebene Meiler länger laufen zu lassen, das
ist die Lizenz zum Gelddrucken -, aber Investitionen in
moderne Kraftwerkstechnik wären damit auf die längere
Bank geschoben worden. Deshalb lassen Sie uns beim
geordneten Ausstieg bleiben. Das ist schon vernünftig;
das ist gar keine Frage. Wir hatten in Deutschland
30 Jahre lang einen Konflikt zwischen Atomkraftbefürwortern und -gegnern. Wir haben es geschafft, diesen zu
befrieden. Es gibt in Deutschland einen Vertrag zwischen der Energiewirtschaft und der Politik. Auch da
gilt: Pacta sunt servanda, Verträge sind einzuhalten. Wir
bleiben dabei.
({26})
Aber in der Energiepolitik gibt es eine Fülle von anderen Dingen, die wir trotz des Meinungsunterschiedes
in dieser Frage miteinander bewegen können. Ich
glaube, dass es notwendig ist, Energieeffizienz wirklich
zu einem Exportschlager werden zu lassen. Bei dem
Energiehunger, den Länder wie China und Indien haben,
ist es so, dass wir einen Beitrag zur Sicherung von Arbeitsplätzen in Deutschland leisten können, wenn wir
unsere Technologien hier entwickeln und exportieren.
Gleichzeitig können wir einen Beitrag leisten, um Energiekrisen in der Welt zu entschärfen. Wir brauchen deshalb in Deutschland einen intelligenten Energiemix, der
nicht darauf verzichtet, auch Kohle als eine Brücke in
eine energiepolitische Zukunft zu begreifen, aber dabei
auf höhere Wirkungsgrade setzt.
({27})
Ich sage ganz deutlich. Es gibt in China Kohlekraftwerke, die grottenschlechte Wirkungsgrade haben. Wir
in Deutschland haben in diesem Bereich Fortschritte erzielt. Wir müssen die Möglichkeit ergreifen, diese zu exportieren. Wir haben die Notwendigkeit, erneuerbare
Energien in diesem Land weiter auszubauen, damit wir
auch diese Technologie exportieren können. Auch das
sichert Arbeitsplätze und hilft, Krisen in der Welt zu vermeiden.
({28})
Diese große Koalition ist keine Liebesheirat - das haben wir hin und wieder betont -, sondern sie ist eine Lebensabschnittsgemeinschaft.
({29})
Aber sie ist ein Bündnis, das mehr bringen kann, als
viele vorher erwartet haben. Wir, Herr Kauder, haben im
letzten Jahr im Wahlkampf gegeneinander gestanden
und wir haben uns, wenn ich mich recht erinnere, nicht
geschont. Richtig ist auch, dass das Wahlergebnis keine
andere verantwortbare Mehrheit für dieses Land mit sich
gebracht hat. Ich sage aber auch aus Überzeugung, dass
es mir nicht nur darum geht, eine große Koalition zu haben, weil es nicht anders ging. Wir wollen die Chancen
dieser großen Koalition durchaus gemeinsam begreifen.
Ich habe es vorhin schon gesagt: Wir können miteinander Großes bewegen. Wir können die Blockaden zwischen Bundesrat und Bundestag hinter uns lassen. Wer,
wie viele der Kollegen hier im Haus, einmal in Arbeitsgruppen des Vermittlungsausschusses gearbeitet hat, der
kann mit Fug und Recht sagen: Dagegen ist ein orientalischer Bazar hin und wieder eine hochseriöse Veranstaltung.
Insofern sollten wir die Verantwortung in Deutschland klar strukturieren. Es ist nicht nur eine Frage der
Qualität und der Blockaden. Es ist auch eine Frage des
Vertrauens der Menschen in Politik. Wenn Menschen
nicht mehr klar zuordnen können, wer was auf welcher
Ebene zu verantworten hat, dann schafft das Verdruss.
Es ist wichtig, klar zu machen, dass der Bund, der Deutsche Bundestag mehr für sich alleine entscheiden kann
und dass die Länderparlamente mehr für sich allein entscheiden können. Deshalb wollen wir die Föderalismusreform. Dass man in den nächsten Tagen über das
eine oder andere reden können muss, das ist unbeschadet.
({30})
Aber ich bekunde: Wir wollen diese Staatsreform für
Deutschland, damit die Verantwortlichkeiten der Ebenen
klarer getrennt sind und damit die Menschen den Politikern Verantwortlichkeiten klarer zuordnen können.
({31})
- Ja, jetzt könnt ihr auch einmal klatschen, oder?
({32})
Ich möchte zum Schluss sagen: Wir wollen Motor der
Erneuerung in Deutschland sein. Diese Koalition ist gut
gestartet. Die nächsten tausend Tage werden nicht einfach. Wir wollen in diesem Jahr beispielsweise mit der
Reform des Gesundheitswesens nachvollziehbare Zukunftssicherheit schaffen. Ich bin mir sicher, dass Gesundheit bzw. das Krankheitsrisiko in diesem Land nur
solidarisch abzusichern ist, dass man dazu auch die
Schultern heranziehen muss, die breiter sind. Wir haben
die Situation, dass 10 Prozent der Menschen in Deutschland privat krankenversichert und 90 Prozent gesetzlich
krankenversichert sind. Aber die 10 Prozent haben
30 Prozent des Einkommens. Daher werden wir über einen Ausgleich in diesem Bereich zumindest reden müssen.
({33})
Die Situation, dass immer mehr Menschen in unserem
Land gar nicht mehr krankenversichert sind, muss uns
auch beschäftigen. Diese Aufgabe haben wir uns im Koalitionsvertrag gestellt. Es kann nicht sein, dass immer
mehr Menschen ohne Krankenversicherung sind. Wenn
sie dann krank werden, fallen sie ins Bergfreie oder den
Kommunen vor die Tür. Deshalb müssen wir darüber reden, was wir tun können. Wer als Abgeordneter Bürgersprechstunden durchführt, der weiß, wovon ich rede.
Das betrifft unter anderem kleine selbstständige Unternehmer, die gescheitert sind und nicht mehr in die gesetzliche Krankenversicherung zurückkehren können.
Wir müssen diesen Menschen helfen und dürfen sie
nicht im Regen stehen lassen. Das sind die Aufgaben,
die vor uns liegen.
({34})
Auch in der Familienpolitik haben wir viel zu schultern. Keine Angst: Die Produktionsmittel bleiben in Privatbesitz. Aber wir müssen uns darüber unterhalten, wie
wir ein familien- und kinderfreundliches Land werden.
Hier geht es um die zentralen Investitionen in die Zukunft dieses Landes. Bildung, Wissenschaft, Forschung
und Familienpolitik sind die Zukunftsfelder, die uns in
Deutschland langfristig voranbringen. Das wird die SPD
in der großen Koalition deutlich machen.
({35})
Wir wollen und werden in der Außenpolitik Kurs
halten. Wir lassen uns nicht beirren von Leuten, die in
der Außenpolitik - das sage ich an die Adresse der
PDS - nichts anderes predigen als organisierte Verantwortungslosigkeit.
({36})
Ein gestörtes Verhältnis zur Realität hat aber auch die
FDP. Die FDP verkündet: Mit der Realität muss man
sich abfinden. - Ich kann mich an einen FDP-Politiker
erinnern, der den grandiosen Satz gesagt hat, im Zeitalter
der wirtschaftlichen Globalisierung könne Politik nicht
mehr gestalten. Wer so etwas denkt, der sollte sich selbst
als Politiker abschaffen. Natürlich müssen wir gestalten,
allerdings mit anderen Instrumenten als bisher. Unsere
Aufgabe besteht darin, die Entwicklung im Interesse der
Menschen zu gestalten.
Die PDS geht einen anderen Weg.
({37})
- Nein, Sie bleiben die PDS, die WASG oder wer auch
immer Sie sind.
({38})
Mit „links“ hat Ihre linkskonservative Art, Politik zu
machen, nicht viel zu tun. „Links“ hat etwas mit Aufklärung zu tun. „Links“ hat etwas mit Weltoffenheit zu tun.
„Links“ hat etwas damit zu tun, den Menschen die
Wahrheit zu sagen.
({39})
Deshalb sage ich: Die SPD bleibt die linke Volkspartei in Deutschland.
({40})
Auf diese Weise werden wir unseren Beitrag zum Gelingen der großen Koalition leisten.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({41})
Das Wort hat jetzt der Kollege Fritz Kuhn vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Bundeskanzlerin! Ich finde, wir müssen uns
etwas stärker den Problemen, die vor uns liegen, zuwenden, als es in den bisherigen Beiträgen von FDP und
PDS/WASG getan wurde. Sie haben in Ihrer Regierungserklärung klar gemacht, dass Sie eine „Koalition
der Möglichkeiten“ sein wollen, die den Bürgerinnen
und Bürgern in unserem Land systematisch neue Möglichkeiten eröffnet. Sie wollen die Freiheitsspielräume
für alle Menschen in Deutschland unter der Parole
„Mehr Freiheit wagen!“ vergrößern. Diese beiden Sätze
sind die Prüfsteine für die Reformen, die jetzt vor uns
liegen. Daran will ich mich bei dem, was ich für das
Bündnis 90/Die Grünen sagen werde, orientieren.
Ich möchte mit der Außenpolitik beginnen. In der
Außenpolitik haben Sie einen viel gelobten Start hingelegt; er sei Ihnen gegönnt. Aber klar ist: Jetzt liegen eine
ganze Reihe von großen Problemen vor uns. Eines von
ihnen will ich ansprechen: Der Iran strebt nach dem Besitz von Atomwaffen und ist nicht mehr sehr weit davon
entfernt, dieses Ziel zu erreichen. Wir alle machen uns
zu Recht Sorgen aufgrund der Bedrohungen, die dies für
Europa und insbesondere für Israel bedeuten würde.
In diesem Umfeld fand der Besuch Bushs, des Präsidenten der Vereinigten Staaten, in Indien statt. Das
Atomwaffenabkommen, über das dort verhandelt wurde,
ist ein Abkommen zwischen Amerika und Indien. Indien
hat den Nichtverbreitungsvertrag jahrzehntelang nicht
unterzeichnet. Im Zusammenhang mit der internationalen Diskussion über atomare Abrüstung bedeutet dies
nichts anderes, als dass Indien, ein Land, das sich bewusst nicht an die atomare Abrüstungspolitik der letzten
zehn Jahre gehalten hat, nun belohnt und offiziell in den
Status einer Atommacht gehoben wird, positiv sanktioniert durch die Vereinigten Staaten. An dieser Stelle
muss die Regierung der Bundesrepublik Deutschland,
wenn sie sich dazu bekennt, dass Deutschland zur weltweiten atomaren Abrüstung steht, öffentlich deutlich
machen, dass sie dies für falsch hält.
({0})
Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Außenminister
Steinmeier gesagt hat, er hätte sich einen besseren Zeitpunkt für dieses Geschäft vorstellen können. Vielleicht
ist das eine Form diplomatischer Kritik. Ich habe gelesen, dass Sie, Frau Merkel, mit Präsident Bush telefoniert haben. So einfach funktioniert das aber nicht.
({1})
Wir von den Grünen und viele in diesem Parlament
erwarten, dass Sie die internationale Politik der atomaren Abrüstung fortsetzen. Wenn diese durch eine strategische Fehlentscheidung wie die der Amerikaner bezüglich Indiens gefährdet wird, erwarten wir, dass Sie das
klar und deutlich sagen. Wie wollen wir denn sonst dem
Iran, Nordkorea, Saudi-Arabien oder anderen Ländern
- darüber wird wenig diskutiert - klar machen, dass sie
keine Atomwaffen haben dürfen, wenn wir nicht deutlich sagen, dass das internationale Regime der atomaren
Abrüstung gilt? Ich finde, dass Sie dazu ein klares Wort
sagen müssen.
({2})
Ich komme nun zum Bereich Innenpolitik und möchte
hier mit dem Thema Arbeitsmarktpolitik beginnen.
Die Maßnahmen, die Sie bisher ergriffen haben, nämlich
den Rentenzuschuss beim Arbeitslosengeld II zu kürzen
und die Pauschalen bei den Minijobs anzuheben, sind
rein fiskalischer Art. Das ist keine Arbeitsmarktpolitik,
die hilft, die Menschen aus der Dauerarbeitslosigkeit herauszuholen. Es wird nur eine Diskussion um Mindestlöhne und Kombilöhne geführt. Wie wollen Sie den
Menschen, die lange arbeitslos sind, oder den älteren Arbeitslosen, die eigentlich keine Chance mehr auf einen
Arbeitsplatz haben, helfen, wieder in Arbeit zu kommen? Ich finde, bisher liegt von Ihrer Regierung hierzu
nichts vor. Auch in den einzelnen Etats des Bundeshaushalts sind keine entsprechenden Zahlen zu finden. Es
liegt kein klares Konzept vor.
({3})
Ihre Antwort ist: Sie wollen die Lohnnebenkosten
senken. Sie tun dies aber nicht signifikant. Ich kann Ihnen nicht ersparen, das so deutlich zu sagen. Sie wollen,
wenn alles gut geht, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte senken. Den Beitrag zur
Rentenversicherung wollen Sie um 0,4 Prozentpunkte
erhöhen. Sie werden, so wie die Dinge im Gesundheitsbereich aussehen, die Sozialversicherungsbeiträge um
fast 1 Prozentpunkt anheben müssen. Sie gehen hier ein
bisschen runter, dort ein bisschen rauf. Das ist kein Konzept für eine signifikante Senkung.
({4})
Frau Merkel, ich möchte von Ihnen hierzu eine klare
Antwort. Sie können nicht so tun, als würde die Mehrwertsteuererhöhung die Kosten für Gesundheit nicht erhöhen. Sie wissen auch, dass die Verlagerung von Steuermitteln auf die Beiträge Auswirkungen haben wird und
die Krankenversicherungsbeiträge steigen werden. Die
Politik, die Sie betreiben, ist nicht konsistent.
({5})
Ich habe die Sorge, dass sich der Anspruch, die große
Koalition stemme große Strukturprobleme, bei Ihnen
nicht in die Wirklichkeit umsetzen lässt. So wie bisher
die Diskussion über Mindest- und Kombilöhne geführt
wurde, spricht alles dafür, dass auch das schief gehen
wird. Die einen sind für Mindestlöhne. Ich will für
meine Fraktion sagen: Wenn man das gut macht, also regional und branchenspezifisch differenziert vorgeht und
entsprechende Übergangsregelungen vorsieht, dann ist
das Konzept der Mindestlöhne richtig. Vor allem wenn
man einen internationalen Vergleich vornimmt, lassen
sich viele Argumente dafür finden.
Aber die Kombination von flächendeckendem Kombilohn mit Mindestlöhnen ist ökonomisch der größte Unsinn, den Sie überhaupt anrichten können.
({6})
Ihre Vorstellung ist doch: Es wird ein Mindestlohn vorgegeben. Wenn die real existierenden Löhne unterhalb
des Mindestlohns liegen, gleicht der Staat die Differenz
aus. Wenn Sie das ernsthaft vorhaben - das war in der
Diskussion -, dann sage ich: Das wird keinen einzigen
Arbeitsplatz schaffen. Das ist eine flächendeckende Milliardensubvention des Arbeitsmarkts, wodurch Dauerarbeitslose aber keine bessere Perspektive bekommen. Das
wird dazu führen, dass die Wirtschaft, zum Teil mit Augenzwinkern gegenüber den Gewerkschaften, in diesem
Bereich Arbeitsplätze schafft nach dem Motto: Wenn der
Staat draufzahlt, kann es nicht verkehrt sein. So ein Konzept brauchen Sie uns in den nächsten Monaten nicht als
Reformkonzept für den Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik Deutschland auf den Tisch zu legen.
({7})
Frau Merkel, man muss feststellen, dass Sie für die
Lösung der Probleme in diesem Land bislang keine konsistente Antwort haben. Die beiden vordringlichen Probleme sind, wie wir erstens neue Jobs im Niedriglohnbereich schaffen können, sodass Arbeit auf dem
Erwerbsarbeitssektor endlich möglich ist, und wie wir
zweitens die Schwarzarbeit effektiv bekämpfen können.
Rechnerisch entspricht das Schwarzarbeitsvolumen
5 Millionen Vollerwerbsarbeitsplätzen. Dazu habe ich
bisher nichts von Ihnen gehört.
Wir Grünen haben ein Konzept. Da wir festgestellt
haben, dass die Schwarzarbeit deswegen so hoch ist,
weil das Entstehen von Jobs auf dem Arbeitsmarkt gerade im unteren Lohnbereich durch die Lohnzusatzkosten faktisch unmöglich gemacht wird, wollen wir das
Ganze verändern: Die Lohnzusatzkosten, die das größte
Problem sind, müssen wir im unteren Lohnbereich niedriger ansetzen, nämlich nicht gleich mit 42 Prozent, wie
es heute der Fall ist. Ab dem ersten Euro muss ein geringerer Beitrag für die Sozialversicherungssysteme erhoben werden. Erst bei circa 1 800 bis 2 000 Euro wollen
wir beim vollen Satz sein. Das ist ein grünes Progressionsmodell für die Sozialversicherungsbeiträge.
({8})
Frau Merkel, der springende Punkt ist, dass Sie bei
diesem Konzept mit einer bestimmten Summe Geld - sagen wir, mit 15 Milliarden Euro - wesentlich mehr Arbeitsplatzeffekte erreichen können, als wenn Sie dies bezogen auf die ganze Breite der Lohn- und
Einkommensskala tun würden. Das IAB schätzt, dass
Sie mit 15 Milliarden Euro bei Umsetzung unserer Vorschläge 500 000 Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich
schaffen könnten, während Sie ansonsten nur
200 000 Arbeitsplätze schaffen könnten. Wir haben in
Deutschland das Problem, dass die Dauerarbeitslosen
keine Chance mehr haben. Deshalb müssen Sie Ihre Politik auf diesen Bereich konzentrieren und nicht die gesamte Skala der Löhne und der Beschäftigung heranziehen.
({9})
Ich möchte nun zur Gesundheitspolitik kommen. Soweit wir das verfolgen können, sehen wir, dass sich in
den Diskussionen hier einiges Wildes abspielt. Heute
Nachmittag gibt es ja wieder ein entsprechendes Treffen.
Ich will es einmal ganz einfach sagen. Wir haben folgende Situation: Wir haben ein sehr teures Gesundheitssystem und wir belasten die Löhne falsch, weil wir zu
viel über den Lohn finanzieren.
Übrigens, Herr Lafontaine, in Ihrer simplen Ökonomieanalyse kommen Sie immer mit der Steuer- und Abgabenquote; Sie stellen aber nicht die Frage, wie hoch
die Lohngesamtkosten im internationalen Vergleich sind.
Gestern wurde die Zahl deutlich genannt: Im internationalen Vergleich haben wir die zweithöchsten Lohngesamtkosten nach Dänemark, und zwar deswegen, weil
wir mit den Lohnnebenkosten an der falschen Stelle ansetzen. Sie halten das für eine neoliberale Diskussion.
Mit Ihrem ökonomischen Dogmatismus, der etwas Eitles
hat und aus der Vergangenheit stammt - ich will mich
nicht näher damit beschäftigen -, verabschieden Sie sich
aus jeder ökonomischen Klarheit bezüglich der Investitionen.
({10})
Frau Merkel, ich will hier ein klares Konzept sehen.
Irgendein Mischmaschkonzept werden wir Ihnen nicht
durchgehen lassen. Aus dem Konzept muss erstens klar
werden, wie wir in Deutschland zu mehr Prävention
kommen. Das beste Gesundheitssystem ist nämlich eines, das die Kosten vermeidbarer Krankheiten reduziert.
({11})
Im Jahre 2005 haben Sie ein Präventionsgesetz - der
Umfang der Zahlungen sollte immerhin 250 Millionen
Euro betragen - im Bundesrat scheitern lassen. Bislang
ist an dieser Stelle nichts von Ihnen gefolgt. Wir könnten
also einsparen, indem die Leute weniger krank werden
und wir hier in Deutschland eine vernünftige Prävention
durchführen. Hier sind wir im internationalen Vergleich
schwächer als andere vergleichbare Länder. Das muss
sich ändern. Kommen Sie nicht mit einem Kompromiss,
in dem zur Prävention nichts essentiell Neues formuliert
ist.
({12})
Zweitens. Kommen Sie nicht mit einem Kompromiss,
der nur auf der Einnahmenseite greift. Ich sage Ihnen:
Wenn Sie neues Geld für das Gesundheitssystem herschaffen, den Verteilmechanismus zwischen der ÄrzteFritz Kuhn
schaft und den Kassen, zwischen denen, die heute von
dem Ganzen profitieren, aber nicht substanziell verändern, dann wird das neue Geld so schnell weg sein, so
schnell können Sie gar nicht schauen, wodurch Sie
nichts zur Reform des Gesundheitssystems in Deutschland beigetragen haben.
({13})
Deswegen sind die Frage nach mehr Wettbewerb im
Gesundheitssystem, die Frage nach Transparenz für die
Patientinnen und Patienten und die Frage nach Prävention essenziell. Wir müssen nämlich auch die Ausgabenseite des Gesundheitssystems - und nicht nur die Einnahmenseite - bearbeiten.
Sie wissen, dass wir bei der Strukturreform für eine
Bürgerversicherung sind, durch die die Finanzierung
des Gesundheitssystems auf eine breitere und solidarischere Grundlage gestellt wird. Ich habe die Sorge, dass
Sie aufgrund der Aufstellung, die Sie nun einmal
haben - die Kopfpauschale auf der einen Seite und die
Bürgerversicherung auf der anderen Seite -, zu einem
richtig miesen, faulen Kompromiss kommen werden.
({14})
In der Diskussion sind die lohnbezogenen Arbeitgeberbeiträge - gedeckelt oder nicht gedeckelt -, die Arbeitnehmerbeiträge auf der breiteren Grundlage aller
Einkunftsarten, ein kleines Kopfgeld bzw. eine kleine
Kopfprämie und schließlich ein Gesundheitssoli. Ich
sage Ihnen klipp und klar voraus: Dieses Gemisch, das
Sie hier vorhaben, wird schlechtere Ergebnisse zur Folge
haben als jedes der einzelnen Modell allein, die vorher in
der Diskussion waren. Darauf können Sie Gift nehmen.
({15})
Deswegen müssen Sie, Frau Merkel, wenn Sie den
Anspruch haben, mit der großen Koalition die großen
Strukturprobleme in unserem Land zu lösen, schon mehr
Mut beweisen als mit dieser Kompromissmischtechnik,
die Sie in anderen Bereichen, so wie es im Koalitionsvertrag steht, angewendet haben.
Wenn Sie die Frage zum Verhältnis zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und der PKV nicht aufgreifen und Sie keinen Risikostrukturausgleich zwischen
diesen beiden Versicherungssystemen schaffen, dann
können Sie alles, was Sie hier machen wollen, einpacken. Was soll das für ein System sein, wenn nur die
Kapital- oder Mieteinkünfte der Mitglieder in der gesetzlichen Krankenversicherung herangezogen werden, aber
nicht die der Mitglieder in der PKV?
({16})
Das heißt, dass Sie an das Vermögen der kleinen Leute,
falls diese Mieteinnahmen zur Alterssicherung haben,
herangehen, dass aber die Gutverdienenden in der PKV
außen vor bleiben. Das ist keine Verbreiterung; das, was
Sie offensichtlich anstreben, ist vielmehr ein richtig mieser Kompromiss.
Wir werden die Diskussion begleiten. Aber wir lassen
es Ihnen nicht durchgehen, dass Sie um des Koalitionsfriedens willen - ich sage noch einmal: Der Honeymoon,
also die Phase des netten Lächelns, ist vorbei - einen
Kompromiss schließen, der keine tatsächlichen Strukturreformen im Gesundheitssystem bedeutet.
Ich möchte etwas zum Thema Wirtschaft und Innovationen sagen. Auf diesem Gebiet sind Sie richtig
schwach. Sie stellen für vier Jahre 6 Milliarden Euro für
die Forschung zur Verfügung. Eine kleine Bemerkung
am Rande: In Deutschland geben wir jedes Jahr
6 Milliarden Euro für Agrarsubventionen aus. - Aber
ansonsten beschließen Sie in diesem Bereich Kürzungen. Der EU-Finanzkompromiss im Dezember bedeutet
nichts anderes als eine Kürzung der Mittel für Forschung
und Wissenschaft auf europäischer Ebene. Sie, liebe
Frau Merkel, haben dem zugestimmt.
({17})
Alle Welt weiß, dass die Zukunft der Arbeitsplätze in
der Wissensgesellschaft liegt. Die einzige Chance für
Deutschland besteht darin, eine Spitzenstellung in der
Wissensgesellschaft mit Innovationen, also mit neuen
Produkten und Dienstleistungen, zu erreichen, die andere, egal mit welchen Lohnkosten, noch nicht bereitstellen können. Was machen Sie? Sie flüchten sich unter
dem Namen „Mutter aller Reformen“ der Föderalismusreform in die Kleinstaaterei und geben als Bundesregierung auf einem Gebiet, wo es gilt, die Wissensgesellschaft zu gestalten, den Anspruch auf, an dieser Stelle
ein Wort mitzureden.
({18})
Damit Ihnen der Koalitionskompromiss nicht um die
Ohren fliegt, sitzen Sie mit dem dicken Hintern der großen Koalition auf dem vereinbarten Paket der Föderalismusreform,
({19})
anstatt endlich das zu machen, was in den Ländern
- zum Teil auch von der SPD - als Notwendigkeit erkannt wird, nämlich das Bildungssystem der Zukunft gemeinsam zu gestalten.
({20})
Ich frage: Frau Merkel, wo ist eigentlich der Wirtschaftsminister?
({21})
- Er ist jetzt also da.
Wenn es darum geht, für Deutschland Innovationspolitik zu gestalten, dann kann ich nur sagen: Der Autismus, Herr Glos, mit dem Sie zweimal in der Woche eine
Presseerklärung herausjagen, man solle den Ausstieg aus
der Atomenergie rückgängig machen, ist keine wirtschaftspolitische Gestaltung für ein zukunftsfähiges Industrieland.
({22})
Lieber Michael Glos, ich habe in der Zeitung gelesen,
dass Sie sich beim Besteigen eines Hybridautos anlässlich eines Besuches in Japan den Kopf gestoßen hätten.
({23})
Nehmen Sie das als Wink Gottes.
({24})
Der Herrgott, lieber Herr Glos, wollte Ihnen sagen, dass
Sie sich einmal systematisch um Themen wie ökologische Modernisierung, nachhaltige Mobilität und eine
neue Energiepolitik kümmern sollen; denn da liegt die industriepolitische Zukunft der Bundesrepublik Deutschland.
({25})
Frau Merkel, ich erhebe den Vorwurf, dass Sie sich
vor der Beantwortung der Fragen, mit was wir in Zukunft unser Geld verdienen wollen, welche Visionen wir
in der Industriepolitik und beim Aufbruch Deutschlands
in eine neue Wirtschaftspolitik haben, und vor Ihrer Verantwortung für die Zukunft, die Sie an dieser Stelle haben, mit Ihren kleinen Trippelschritten aus dem Staub
machen.
({26})
Wenn Herr Glos so weitermacht, werden Sie in der
Wirtschaftspolitik keinen Blumentopf gewinnen. Herr
Glos, Sie haben sich etwas vorschnell in die Tradition
von Ludwig Erhard gestellt. Ludwig Erhard hatte eine
klare Vorstellung von der Marktwirtschaft. Er wusste,
dass man die Wirtschaft auf der einen Seite in Ruhe lassen muss, aber auf der anderen Seite einen echten Rahmen schaffen muss, der den Wettbewerb erst ermöglicht.
Wo ist Ihr Engagement für mehr Wettbewerb in der
Bundesrepublik Deutschland? Was machen Sie zum Beispiel im Energiebereich? Vier große Energiekonzerne
beherrschen den Markt und können die mittelständische
Energiewirtschaft, die es bei uns schließlich auch gibt,
mit den Durchleitungsgebühren richtig in die Knie zwingen. Dazu habe ich von Ihnen noch nichts gehört, Herr
Glos. Vor dieser Frage haben Sie sich gedrückt. Deswegen sind Sie kein guter Wirtschaftsminister.
({27})
Wir müssen auch über den Haushalt reden, Frau
Merkel. Dieser Haushaltsplanentwurf entspricht nicht
der Gestaltung neuer Möglichkeiten - ich beziehe mich
damit auf Ihre Regierungserklärung -; es ist vielmehr ein
ziemlich bequemer Haushalt, weil er die Konsolidierung nicht an der Stelle in Angriff nimmt, an der sie beginnen müsste.
Die Einnahmen brummen. Wir werden in Deutschland 6 Milliarden bis 7 Milliarden Euro - die Angaben
schwanken je nach Institut - zusätzlich einnehmen. Die
Einnahmen brummen, aber was machen Sie? Statt sich
um Zukunftsgestaltung, Gestaltung neuer Möglichkeiten
und Freiheit für künftige Generationen zu bemühen, erhöhen Sie im Jahr 2006 in dem Moment, wo die Einnahmen brummen, die Verschuldung um weitere 7 Milliarden Euro.
Gestern hat uns der Finanzminister erklärt, dies sei
ein Jahr der Konjunkturunterstützung. Die Konjunktur,
wie sie sich derzeit entwickelt, braucht keine Unterstützung in Form einer Neuverschuldung um 7 Milliarden Euro. Notwendig ist vielmehr eine Haushaltskonsolidierung, die Sie in diesem Jahr aber nicht angehen.
({28})
Ich nenne Ihnen auch den Grund dafür. Es ist eine billige Nummer: Sie wollen im ersten Jahr der großen
Koalition den schwierigen und unbequemen Weg der
Haushaltskonsolidierung nicht einschlagen. Sie haben
den Haushalt einer Honeymoon-Koalition vorgelegt; es
ist kein Haushalt einer Koalition, die die Zukunft gestalten will.
({29})
Es ist ganz einfach. Hans Eichel kam immer in Bedrängnis und Panik, wenn zu wenig Einnahmen erzielt
wurden. Peer Steinbrück kommt in Panik, weil die Einnahmen plötzlich zu hoch sind. Anders ist doch die Hektik, mit der Sie die Mehrwertsteuererhöhung beschließen
wollen, nicht zu erklären.
Sie betreiben in diesem Jahr eine schöne Honeymoon-Haushaltspolitik und verüben im nächsten Jahr
mit der Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte
einen Anschlag auf die Konjunktur und die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Die
Theorie, die der Finanzminister gestern erläutert hat - er
ist leider gerade nicht anwesend -, hatte ein bisschen mit
Voodoo zu tun. Sie handeln nach dem Motto „Jetzt so
viel Anlauf nehmen, dass der Anschlag auf die Konjunktur im nächsten Jahr verdaut werden kann“. Frau Merkel,
das ist so, als wenn Sie über das Wasser laufen und der
Gefahr des Einsinkens dadurch begegnen wollten, dass
Sie schneller Anlauf nehmen.
({30})
Was Sie vorgelegt haben, ist wirtschaftlicher Unsinn.
Es gibt eine Alternative, und zwar den Subventionsabbau. Alle Institute - das Kieler Institut für Weltwirtschaft, das DIW und andere - rechnen Ihnen vor, dass
Sie schon in diesem Jahr unter der Defizitgrenze von
3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bleiben könnten
und auf einen solchen Anschlag auf die Konjunktur verzichten könnten. Unser Bundeshaushalt steckt noch voller Subventionen, die wir abbauen können. Wir werden
Ihnen das in den Beratungen im Einzelnen zahlengenau
vorrechnen.
Ich möchte noch etwas zum Thema Entwicklungsfinanzierung sagen, Frau Merkel. Davor haben Sie sich
völlig gedrückt. Sie haben sich in der Regierungserklärung dazu bekannt, dass die Bundesregierung ihr Ziel,
0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Entwicklungsfinanzierung einzusetzen, bis 2015 erreichen will.
Aber der Haushalt gibt keinerlei Aufschluss über die
Frage, wie Sie das tun wollen. Sie haben keinen Umsetzungsplan und Sie haben die französische Initiative einer
Flugticketbesteuerung, aus der das Vorhaben finanziert
werden könnte - 13 Staaten haben dem Vorschlag zugestimmt -, durch Schweigen und Wegschauen nicht gerade positiv begleitet. Sie haben keine Antwort auf die
entscheidende Frage, wie wir in Zukunft die Entwicklung finanzieren sollen.
({31})
Ich sage Ihnen ohne düstere Prophetie - der düstere
Prophet Oskar Lafontaine hält sich jetzt an Oswald
Spengler mit seinem Hauptwerk „Der Untergang des
Abendlandes“; ich würde sagen, das passt zu Ihnen, lieber Herr Lafontaine -:
({32})
Was wir an der Entwicklungsfinanzierung einer gerechten Weltordnung fehlen lassen, werden wir später teuer
zu bezahlen haben. Deswegen ist es notwendig, unser
Versprechen hinsichtlich der 0,7 Prozent endlich einzulösen.
({33})
Ich möchte noch zwei Punkte im Zusammenhang mit
der Gesellschaftspolitik ansprechen, Frau Merkel. Denn
ob eine Koalition groß ist oder nur faul und behäbig,
zeigt sich auch daran, ob sie zentrale Probleme unserer
Gesellschaft wahrnimmt, angeht und löst.
Das Erste ist die Kinderpolitik. Davon wird erstaunlich viel geredet; aber es wird sehr wenig gemacht. Die
Vereinbarkeit von Beruf, Karriere und Kindern ist in
Deutschland im internationalen Maßstab nicht ausreichend gewährleistet. Wir sind an dieser Stelle ein Entwicklungsland. Der Hauptgrund ist, dass in Deutschland,
vor allem in den süddeutschen Bundesländern, in Bayern
und Baden-Württemberg, Plätze für Kinder unter drei
Jahren in den Kinderkrippen fehlen. Ich rede nicht über
die Qualität der Betreuung - darüber müssten wir eigentlich auch diskutieren -, sondern nur darüber, dass viele
Mütter und Väter keine Betreuungsplätze für ihre unter
dreijährigen Kinder finden. Mit dem Elterngeld - das ist
durchaus ein diskutables Konzept, auch wenn es viel
kostet - machen Sie aber den dritten bzw. den vierten
Schritt vor dem ersten. Deswegen fordern wir vom
Bündnis 90/Die Grünen Sie auf: Schaffen Sie zuerst eine
ausreichende Zahl an Betreuungsplätzen für Kinder unter drei Jahre! Wenn dann noch Geld übrig ist, können
wir darüber reden, was noch Sinnvolles gemacht werden
kann. Aber es darf nicht umgekehrt sein.
({34})
Was hat denn eine junge Mutter davon, ein Jahr lang das
von Ihnen geplante Elterngeld in Anspruch zu nehmen,
wenn sie weiß, dass es anschließend schief geht, weil sie
keinen Betreuungsplatz für ihr Kind hat?
Sie haben im Koalitionsvertrag eine Überprüfung der
Entwicklung bei den Kinderkrippen bis 2010 vorgesehen. Wer weiß schon, ob es, wenn Sie 2010 feststellen,
dass die Situation bei den Kinderkrippen noch immer so
mies ist wie heute, nicht wieder vier, fünf Jahre dauert,
bis eine vernünftige Zahl an Betreuungsplätzen erreicht
wird? Aus heutiger Perspektive bedeutet Ihre Ankündigung: Zehn Jahre werdet ihr auf jeden Fall noch warten,
bis etwas Vernünftiges passiert. Sie sagen ständig, dass
Sie in zehn Jahren im internationalen Vergleich überall
auf Platz drei stehen wollen. Ich sage Ihnen angesichts
Ihrer Politik aber: Sie werden auch in zehn Jahren bei
der Kinderbetreuung auf dem letzten Platz stehen. Sie
müssen dringend etwas ändern, wenn Sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Sie sich auf die Fahne
geschrieben haben, tatsächlich gewährleisten wollen.
({35})
Wir sollten aufhören, den Streit über die Lösung des
demografischen Problems, also die Tatsache, dass es in
Deutschland zu wenige Kinder gibt, auf dem Rücken der
jungen Frauen und Männer auszutragen.
({36})
Wenn diese noch zehn Jahre die blöde Diskussion, die
nach dem Muster verläuft, diejenigen, die heute 20 oder
25 sind, seien an der demografischen Entwicklung
schuld, verfolgen müssen, dann werden sie noch weniger
Kinder bekommen. Vielmehr sollte sich die Politik auf
ihr Kerngeschäft besinnen, die Rahmenbedingungen für
Familienfreundlichkeit und Kinderfreundlichkeit sowie
für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern. Alles andere werden dann die Menschen machen.
Weiter sollten wir uns nicht einmischen. Aber den Druck
müssen wir herausnehmen. Sonst sagen die jungen
Leute: Von euch lassen wir uns das nicht mehr vorhalten!
({37})
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Thema Integration und Einwanderung sagen. Frau Merkel, Sie haben
sich in Ihrer Regierungserklärung und in vielen anderen
öffentlichen Äußerungen zur Integration bekannt. Aber
das wird durch Ihre Haushaltspolitik nicht bestätigt;
denn Sie haben die Mittel für Integrationskurse um
67 Millionen Euro gekürzt. Das sind 32 Prozent des betreffenden Gesamtetats. Sie bekennen sich zwar in Sonntagsreden zur Integration. Aber dort, wo es um Sprachkurse und Landeskunde geht, kürzen Sie rabiat. Ich halte
das für nicht verantwortbar.
({38})
Frau Böhmer wird sicherlich sagen, dass 2005 nicht alle
Mittel abgerufen worden seien und dass daher die Kürzungen gerechtfertigt seien. Aber es ist logisch, dass wir
zunehmend mehr Sprachkurse in Deutschland brauchen.
Diese Kurse sind ein Renner. Wenn Sie nachgedacht hätten, dann wäre Ihnen bestimmt eingefallen, wie Sie die
nun gestrichenen Mittel hätten vernünftig einsetzen können.
({39})
Stattdessen nerven Sie die Menschen mit albernen
Einbürgerungstests. Sie sollten sich einmal die Parallelität vor Augen führen. Auf der einen Seite werden die
Mittel für Integration gekürzt. Auf der anderen Seite ist
das, was von Baden-Württemberg vorgeschlagen wurde,
nichts anderes als ein Idiotentest.
({40})
Den von Hessen vorgeschlagenen Einbürgerungstest
hätte selbst die Hälfte der Deutschen nicht bestanden.
Deutschland würde wirklich aussterben, wenn wir die
Einwanderung mit solchen Tests regelten.
Frau Merkel - ich sage das in erster Linie an die
Adresse der Union -, Sie haben noch immer ein ideologisches Problem. Wir sind faktisch ein Einwanderungsland und sind in wirtschaftlicher Hinsicht sogar auf Einwanderung angewiesen. Es gibt keine innovative
Ökonomie, die nicht systematisch Einwanderung zulässt. Schauen Sie doch auf die USA oder nach Großbritannien! Aber Sie wollen es nicht. Sie haben nicht begriffen, dass wir hier einen Sprung nach vorn machen
müssen,
({41})
zum Beispiel bei der konsequenten Anwendung des Einwanderungsgesetzes. Ich wünsche mir, dass Sie da mehr
tun.
Zeigen Sie mir ein Land in Europa oder auf der Welt,
das systematisch hoch ausgebildete junge Schüler und
Schülerinnen oder Studenten und Studentinnen, die Besten, abschiebt wie zum Beispiel die junge Kurdin, die
beim Bundespräsidenten eingeladen war und vier Wochen später abgeschoben werden sollte, und das nur aus
Dogmatismus, nur weil wir nicht in der Lage sind, eine
vernünftige Einwanderung solcher Menschen in
Deutschland zu realisieren!
({42})
Frau Merkel, wir können uns das, was Sie da - ich behaupte: aus ideologischer Verblendung - veranstalten,
weder gesellschaftlich noch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten und schon gar nicht unter Wirtschaftsgesichtspunkten leisten, weil wir gut ausgebildete Leute in
unserem Land brauchen. Deswegen fordere Sie auf, Ihr
ideologisches Konzept zu überdenken; sonst werden Sie
Deutschland nicht zu einem Land der Möglichkeiten und
der neuen Freiheiten machen.
({43})
Ich komme zum Schluss. Wenn ich sehe, was Sie bisher auf den Tisch gelegt haben, dann bekomme ich nicht
den Eindruck, dass Ihre Koalition groß ist. Sie ist eher
breit. Sie arbeitet nach dem Mechanismus „Von diesem
ein bisschen, von jenem ein bisschen“, aber vermeidet
klare Strukturreformen. Dabei haben wir alle zusammen
in den letzten Jahren gelernt, dass es auf strukturelle Reformen ankommt und dass es nicht damit getan ist, lediglich hier und dort ein bisschen zu verändern.
Deswegen sage ich: Wenn Sie diese Politik nicht ändern, werden Sie bei der ökologischen Modernisierung
nichts erreichen und auch bei den Innovationen nicht.
Sie werden nicht in sozial gerechter Weise mehr Freiheit
für alle bewirken und vor allem werden Sie keine nachhaltige Politik im Interesse künftiger Generationen realisieren. Dieser Haushalt wäre eine Chance, zu springen.
Ich hoffe, dass Sie in den Beratungen der nächsten Monate wenigstens an der einen oder anderen Stelle ein
Stück vorankommen.
Vielen Dank.
({44})
Das Wort hat jetzt die Bundeskanzlerin Dr. Angela
Merkel.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten
Sie mir zunächst eine Vorbemerkung. Wir alle haben
gestern die Nachricht von der Freilassung des Afghanen
Abdul Rahman gehört. Ich denke, wir sind uns in diesem Hohen Hause einig: Wir haben diese Nachricht mit
großer Erleichterung aufgenommen.
({0})
Es war für uns schon erschütternd, zu hören, dass
Herrn Rahman der Tod drohte, nur weil er zum Christentum konvertiert ist. Ich möchte deshalb allen danken, die
die Bemühungen der Bundesregierung um seine Freilassung unterstützt haben. Denn es war die einhellige Unterstützung in unserem Land und international, die dazu
geführt hat, dass er freigelassen worden ist.
({1})
Warum sage ich das zu Beginn? Ich sage das, weil wir
damit deutlich gemacht haben, dass wir es nicht akzeptieren, wenn Menschenrechte missachtet werden, dass
wir es nicht akzeptieren, wenn die Religionsfreiheit einfach außer Kraft gesetzt wird. Wir akzeptieren das aus
zwei Gründen nicht: weil es zum einen um das Schicksal
einzelner Menschen geht, weil wir es den Betroffenen
schuldig sind, zum anderen aber auch uns selbst. Denn in
einer Zeit globaler Märkte, in einer Zeit, in der wir international vor großen Herausforderungen stehen, in einer
solchen Zeit dürfen wir unsere Werte der Demokratie
und der Menschenrechte nicht nur im Munde führen,
sondern wir müssen sie auch behaupten. Das können wir
nur, wenn wir entschlossen und ohne Zögern für sie eintreten, damit auch außerhalb unseres Landes erkennbar
wird, dass wir sie behaupten wollen.
({2})
Wir müssen uns immer wieder selbst vergewissern,
dass wir das wollen; denn wir leben am Anfang des
21. Jahrhunderts in einer veränderten Welt, in einer Welt,
die nach dem Ende des Kalten Krieges neue Gefährdungen kennt, in einer Welt, in der wir neue Wettbewerber
haben. Das heißt, unser demokratisches Selbstverständnis steht insoweit auf dem Prüfstand, als wir in jedem
einzelnen Fall beweisen müssen, ob wir es mit unserer
Politik ernst meinen oder nicht.
Wir sind in den letzten 130 Tagen schon mit vielen
Dingen konfrontiert worden. Ich denke nur an den Karikaturenstreit, durch den uns bewusst geworden ist, dass
auch unsere Grundwerte - auf der einen Seite die Pressefreiheit, auf der anderen Seite die Religionsfreiheit - immer wieder in einem Spannungsverhältnis stehen. Ich
denke auch - das wurde heute schon angesprochen - an
die Diskussion über den Iran und die Frage, inwieweit
wir verhindern können, dass der Iran in den Besitz von
Atomwaffen kommt, und inwieweit Deutschland in diesem Prozess - im Übrigen seit Jahren - Verantwortung
übernommen hat.
Die Tatsache, dass drei Mitgliedstaaten der Europäischen Union - Frankreich, Großbritannien, Deutschland - gemeinsam Verhandlungen geführt haben und
weiter in diesen Prozess eingebunden sind, stellt uns vor
die Herausforderung, nicht nur passiv zu kommentieren,
ob die Diplomatie eine Chance hat, sondern aktiv jeden
Tag dafür zu arbeiten, dass Diplomatie zum Erfolg führt.
Wenn an diesem Donnerstag ein Treffen der Außenminister von sechs Staaten stattfindet, dann beweist
Deutschland damit, dass es seine Chance in diesem Prozess nutzen und deutlich machen will, was in der internationalen Gemeinschaft geht und was nicht geht und
wo Schranken gesetzt werden müssen.
({3})
Wir haben in dieser Woche über die Frage gesprochen, ob sich Deutschland im Rahmen der Europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Kongo engagieren soll. Das ist eine schwierige Frage. Es kann niemand sagen, dass es im Kongo keinerlei Risiken gibt.
Wir haben uns aber seit Jahren in einem diplomatischen
Prozess und in der Entwicklungshilfe engagiert und wir
haben dafür gesorgt, dass demokratische Strukturen
langsam eine Chance bekommen können. Wir haben
Geld investiert, wir haben Polizisten ausgebildet und wir
haben dafür Sorge getragen, dass dort heute nicht mehr
Millionen von Menschen umkommen. Das ist ein Riesenerfolg und diejenigen, die das selber beobachtet haben, wie das einige Kollegen getan haben, haben davon
berichten können.
Jetzt stellt sich eine ganz entscheidende Frage: Gelingt es, dort Wahlen durchzuführen, und soll sich die
Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik dort
für einen begrenzten Zeitraum engagieren? Darüber
muss intensiv diskutiert werden. Aber das, was nicht
geht, ist, traurig zu gucken, wenn uns eines Tages wieder
Bilder von der Straße von Gibraltar erreichen, die zeigen, wie Flüchtlinge aus Afrika nach Europa kommen
wollen, auf der anderen Seite aber dann, wenn wir von
der UNO um Hilfe gebeten werden, Nein zu sagen und
nicht mitzumachen. Das geht nicht.
({4})
Natürlich geht es bei diesen Fragen nicht nur um militärische Unterstützung. Der Prozess im Kongo zeigt das.
Ich kann das für den gesamten Bereich der Entwicklungspolitik sagen. Herr Kuhn, ich bekenne mich heute
noch einmal zu der ODA-Quote. Ich sage Ihnen aber
auch, dass die Wege, die dorthin führen, noch nicht genau beschrieben sind. Unsere Glaubwürdigkeit wird aber
auch davon abhängen, ob wir unsere internationalen Verpflichtungen einhalten.
Ich muss allerdings leise darauf hinweisen, dass auch
vergangene Regierungen - nicht nur die letzte, sondern
auch schon die vorletzte - nicht immer konsequent waren. Ich sage Ihnen nur: Die Herausforderungen des
21. Jahrhunderts werden uns immer stärker dazu zwingen, auch an dieser Stelle deutlich zu machen, dass wir
glaubwürdig sind, weil ansonsten andere auf der Welt
uns und unsere Wertvorstellungen nicht ernst nehmen.
Ich glaube, dass die Dringlichkeit in den nächsten Jahren
zunimmt. Daraus wird sich die Erfüllung unserer Verpflichtungen ergeben.
({5})
Ich bin froh, dass wir uns im Zusammenhang mit
Weißrussland in der Europäischen Union, aber auch
hier in Deutschland ganz klar geäußert haben. Die dortige Opposition bedarf unserer Unterstützung, weil Opposition zu einem demokratischen Gemeinwesen gehört.
Als demokratisches Gemeinwesen kann man Weißrussland leider noch nicht bezeichnen. Es gab dort massive
Wahlfälschungen und das muss benannt werden.
({6})
Ich sage das deshalb zu Beginn meiner Rede, weil das
Eintreten für Werte unsererseits von anderen außerhalb
Deutschlands, außerhalb Europas beobachtet wird und
weil das konsequente Eintreten für Werte natürlich auch
Respekt verschafft, und zwar in einer Welt, in der wir
auch ökonomisch vor neuen Herausforderungen stehen.
Diese neuen Herausforderungen haben damit zu tun,
dass Menschen in China, in Indien, in den mittel- und
osteuropäischen Staaten plötzlich sagen: Auch wir haben
jetzt die Möglichkeit, am Wettbewerb teilzunehmen;
auch wir wollen, dass unser Lebensstandard steigt. Wir
können nicht erklären, warum wir zwar für uns etwas in
Anspruch nehmen, es anderen aber nicht gönnen. Das
wäre keine demokratische Haltung.
Wegen des verstärkten Wettbewerbs sind wir aufgefordert, deutlich zu machen, was wir wollen. Wir sind
für das Modell der sozialen Marktwirtschaft, für den
Ausgleich zwischen sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Stärke, für die Teilhabe jedes Einzelnen, für
die Unteilbarkeit der Menschenrechte, für die Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Das sind unsere Maßstäbe. Sie müssen sich jetzt in einer Welt beweisen, die
wir nicht durch Abschottung gestalten können. Nachdem
wir die Mauer durch Deutschland beseitigt haben, können wir jetzt nicht eine Mauer um Deutschland ziehen.
Nach meiner Auffassung müssen wir deutlich machen,
dass wir nur durch Offenheit und durch ein Bekenntnis
zur Freiheit bestehen können. Ich meine eine verantwortete Freiheit, die neue Gerechtigkeit schafft. Das ist der
Ansatz, mit dem Deutschland seine Probleme lösen
muss.
({7})
Daraus erwächst die Aufgabe dieser Regierung. Wir
haben gesagt, sanieren, investieren, reformieren. Mit
dieser Etappe haben wir losgelegt und dabei haben wir
einiges zustande gebracht. Ich will mich damit heute
nicht lange aufhalten. Ich will nur sagen: Der Haushalt,
über den wir heute debattieren, ist ein Haushalt in einer
Legislaturperiode, die sich das Sanieren zur Aufgabe
gemacht hat. Dieses Sanieren darf Wachstum aber nicht
abkoppeln und nicht verhindern, sondern muss es sehr
wohl möglich machen. Deshalb ist dieser Haushalt im
Zusammenhang mit anderen Haushalten zu sehen.
({8})
Selbstverständlich haben wir gesagt: Wir investieren.
Herr Gerhardt, Sie haben heute gesagt, wir geben den
Menschen nicht alles zurück, was wir zusätzlich investieren. Aber Sie haben dabei nicht gesagt, dass wir auf
einem Schuldenberg sitzen und dass wir diesen Schuldenberg abbauen müssen, dass wir zumindest die Neuverschuldung abbremsen müssen. Das ist schwer genug.
({9})
- Ich finde wirklich, Sie sollten sich das einmal ganz ruhig anhören.
({10})
Das ist wirklich besser so. 130 Tage nach Regierungsbeginn kann man noch ruhig zuhören.
({11})
- Es ist das demokratische Recht, dazwischenzurufen.
Aber noch schöner ist, wenn auch die Opposition auf der
Zeitschiene konsistent und glaubwürdig ist. Das trägt
dazu bei, dass das Zutrauen zur Politik wieder besser
wird.
({12})
Wenn wir Schulden abbauen und neue Investitionsspielräume schaffen wollen, dann können wir nicht alles
gleichzeitig machen - Wachstum plus Haushaltskonsolidierung -, ohne über die Einnahmeseite zu sprechen. Ich
muss der FDP nun wirklich sagen - Sie wissen es ganz
genau -: Wenn Sie sich einmal den Bleistift nehmen, alles in aller Ruhe richtig addieren und das, was Sie vorhaben, in Gesetzesform gießen, dann zeigt sich, dass bei all
Ihren Vorschlägen riesige Lücken klaffen. Man kann
keine Steuerreform durchführen, die Mindereinnahmen
in Höhe von 27 Milliarden Euro vorsieht, und so tun, als
ob man nicht gleichzeitig über Mehreinnahmen nachdenken muss.
({13})
Ich finde ehrlich, was wir tun. Ehrlichkeit ist die Grundlage für Vertrauensgewinn. Es ist vernünftig, so vorzugehen: sanieren, investieren - 25 Milliarden Euro - und reformieren.
({14})
Es ist gesagt worden, dass keine Strukturreformen
sichtbar sind. Herr Kuhn und andere, Sie wissen genau,
diese große Koalition hat entschieden - diese Entscheidung wurde übrigens in den ersten 130 Tagen, vor und
nicht nach den Landtagswahlen getroffen -, den Menschen im Zusammenhang mit dem Rentenversicherungsbericht deutlich zu sagen: Unsere demografische Entwicklung bedingt, dass wir miteinander auch über eine
verlängerte Lebensarbeitszeit sprechen müssen. Diese
Aussage war richtig und sie war mutig. Weil wir eine
große Koalition sind, war es auch so, dass die Volksparteien nicht gegeneinander, sondern miteinander argumentiert haben. Jeder kann sich vorstellen - das kann
sich auch jede Regierungskoalition vorstellen -, wie die
Landtagswahlkämpfe abgelaufen wären, wenn wir nicht
zusammen gewesen wären. Da haben wir eine Chance
dieser großen Koalition genutzt. Sie hat uns - auch das
ist ein Ergebnis der Wahlen - nicht geschadet. Darauf
können wir ein Stück stolz sein.
({15})
Ich sage ganz klar: Das war die erste Etappe. Jetzt
folgt die zweite; denn was wir gemacht haben, reicht mir
nicht, reicht der Koalition nicht und - das ist das Wichtige - reicht nicht für Deutschland. Zu dieser Zeit, wo
wir hier im Deutschen Bundestag miteinander debattieren, werden die neuen Arbeitslosenzahlen verkündet.
Es sind wohl knapp unter 5 Millionen Arbeitslose. Aber
es sind fast 2 Millionen Menschen, die langzeitarbeitslos
sind, und es sind 600 000 junge Menschen unter
25 Jahren, die keine Perspektive für sich sehen. Das
kann uns natürlich nicht ruhen lassen. Deshalb beginnen
wir mit der zweiten Etappe mit acht wichtigen Projekten,
die ich Ihnen darstellen möchte, mit denen wir deutlich
machen, dass wir unseren Weg sehr konsequent fortsetzen.
Lassen Sie mich mit der Föderalismusreform beginnen. Ich bin etwas bedrückt - ich will das unverhohlen
sagen - darüber, dass über die Föderalismusreform in
letzter Zeit beschränkt auf ganz wenige Punkte, die auch
noch relativ stark aus dem Zusammenhang gerissen wurden, diskutiert wird, während das Anliegen, das wir gegenüber den Menschen haben, aus meiner Sicht nicht
mehr in vollem Umfang dargestellt wird.
In den Jahrzehnten seit Verkündung des Grundgesetzes gab es in der Bundesrepublik Deutschland eine Entwicklung, in der sich die Zahl der zustimmungsbedürftiBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
gen Gesetze immer weiter erhöht hat - mit dem
bekannten Phänomen, dass im Vermittlungsausschuss
Lösungen gefunden werden, über deren Zustandekommen keine Transparenz herrscht, weil aus dem Vermittlungsausschuss nicht berichtet werden darf. Diese Tatsache hat einen Beitrag zur Politikverdrossenheit geleistet.
Sie hat im Übrigen zu einer schleichenden Verantwortungslosigkeit geführt,
({16})
weil man niemals sagen kann, ob nun der Bund oder die
Länder die Verantwortung haben.
({17})
Sie hat sogar dazu geführt - wenn man ehrlich ist, muss
man das zugeben -, dass in den Ausschüssen im Deutschen Bundestag zum Teil gar nicht mehr debattiert
wurde, weil man wusste: Wenn man schon Kompromisse schließen muss, dann schließt man sie bitte schön
im Vermittlungsausschuss, aber doch nicht schon vor
den Augen der Öffentlichkeit im Bundestag.
Wenn wir jetzt davon wegkommen, dass 60 Prozent
der Gesetzgebungsvorhaben zustimmungsbedürftig sind,
und dahin kommen, dass es nur noch 40 Prozent oder
unter 40 Prozent sind, dann haben wir geschafft, dass bei
mehr Gesetzgebungsvorhaben - die Differenz ist
20 Prozentpunkte oder mehr - die Verantwortlichkeit
wieder zugeordnet werden kann, dass wir, wenn wir im
Bundestag zum Schluss verantwortlich sind, Rede und
Antwort stehen müssen, dass auf der anderen Seite auch
ein Land, das sich ein merkwürdiges Verfahren für den
Vollzug eines Gesetzes ausgedacht hat, Rede und Antwort stehen muss, wenn gefragt wird, warum ein anderes
Land das besser macht. Ich kann Ihnen heute schon voraussagen, wie schön die Länder untereinander darauf
achten werden, ob sie denn ein vernünftiges Verfahren
haben, weil sie natürlich sehen, wo es besser läuft und
wo es schlechter läuft.
Jetzt kommt ein zweiter Punkt: Ist die Antwort auf
Globalisierung eigentlich Zentralisierung auf Bundesebene? Wenn ich die Diskussion über die Bildungspolitik höre, gewinne ich den Eindruck: Das Allerbeste
wäre, wir würden ein Schulministerium zentraler Art
hier in Berlin errichten und von dort aus die Schulpolitik
machen.
({18})
Wenn Sie das wollen, dann muss ich Ihnen aber sagen:
Sie kommen damit doch nicht einmal bis zu Ihren eigenen Landtagsfraktionen.
({19})
Mit Verlaub - ich möchte den Kollegen Tauss jetzt nicht
angreifen -, der Kollege Tauss als Generalsekretär der
baden-württembergischen SPD hat im Landtagswahlkampf doch eine bittere Erfahrung gemacht. Man hat
ihm angeboten, in den Landtag zu gehen, wenn er sich
für Schulpolitik interessiert, weil das einfach nicht die
Sache des Bundestages ist.
({20})
Das ist doch auch okay. Wer die Leidenschaft Schulpolitik hat, der ist im Bundestag falsch aufgehoben.
({21})
- Meine Damen und Herren, ganz still! Jetzt passen Sie
einmal ganz ruhig auf! Wir sind, finde ich, an einem
hochinteressanten Punkt angekommen.
({22})
Wer möchte, dass Schulpolitik Bundespolitik wird,
darf keine Föderalismusreform anstreben, sondern muss
darüber sprechen, ob wir in Deutschland noch Länder
brauchen. Das war aber nicht Gegenstand der Verabredung und fände, so wie das Grundgesetz derzeitig noch
ist, in der zweiten Kammer auch keine Zweidrittelmehrheit.
({23})
Sie und wir alle - bei uns in der CDU/CSU-Fraktion
sind die Diskussionen doch nicht anders - müssen miteinander überlegen, was sinnvoll ist und was nicht sinnvoll ist, aber auch, was machbar ist. Bei der Föderalismusreform wird es zum Schluss um eine Abwägung
gehen, ob das, was wir jetzt mit den Ländern gemeinsam
geschaffen haben, besser ist als das, was wir vorher hatten. Ich finde den Zustand, dass über die Frage von Studiengebühren, Juniorprofessuren und anderes jedes Mal
das Bundesverfassungsgericht entscheiden muss, weil
wir es nicht schaffen, unsere Kompetenzen zu ordnen,
absolut unzureichend. Deshalb sollten wir uns mit aller
Kraft der Föderalismusreform zuwenden.
({24})
Meine Damen und Herren, natürlich sind - wenn ich
noch einen Blick auf die Bildungspolitik in Deutschland
werfen darf - Innovationen in Bildung und Forschung
dringend nötig. Das gilt im Übrigen für alle. Alle Bundesländer haben es versäumt, auf eine ganz einfache Sache zu achten, was ganz wesentlich zum schlechten
PISA-Abschneiden beigetragen hat. Dass zum Beispiel
Kinder mit ausländischem Hintergrund, deren Eltern
ausländischer Herkunft sind, wenn sie in die Schule
kommen, Deutsch lernen müssen, müssen die Länder
jetzt durchsetzen.
({25})
Wir müssen durchsetzen, dass die Integrationskurse
schrittweise weiter aufgebaut werden und die Mittel dafür abfließen. Aber das kann man - das wissen auch
Sie - nicht in einem halben Jahr schaffen, sondern das
wird ein längerer Prozess sein. Dass die Integrationsbeauftragte im Kanzleramt sitzt, ist ein deutlicher Beweis
dafür, dass diese Bundesregierung Integration schwerpunktmäßig als Gemeinschafts-, als Querschnittsaufgabe
sieht. Ich glaube, das war eine richtige Entscheidung.
({26})
Im Zusammenhang mit mehr Freiheiten und mehr
Spielräumen möchte ich als zweiten Punkt das Thema
Bürokratieabbau nennen. Wir erarbeiten jetzt ein Infrastrukturbeschleunigungsgesetz unter der Federführung
des Bundesverkehrsministers. Dieses Infrastrukturbeschleunigungsgesetz ist etwas, was diese große Koalition zustande bekommen wird und was Rot-Grün nicht
geschafft hat, weil Sie, Herr Kuhn und andere, das nicht
wollten. Wir müssen Folgendes sehen: Wenn wir in
Deutschland 5 Millionen Arbeitslose haben, dann ist es
eben nicht egal, ob ein Frankfurter Flughafen, ein Schönefelder Flughafen oder bestimmte andere Infrastrukturobjekte in fünf, zehn, 15 oder 20 Jahren gebaut werden.
({27})
Denn dahinter stehen Menschen, Tausende von Arbeitsplätzen. Ob die 15 000 Arbeitsplätze im Zusammenhang
mit dem Ausbau des Frankfurter Flughafens im Jahre
2010, 2015 oder 2020 entstehen, wird über das Schicksal
von einzelnen Menschen, von jungen Menschen entscheiden. Diese Sichtweise gilt auch in Bezug auf mittelständische Unternehmen.
Wir müssen uns doch einmal die Frage stellen: Welches Recht haben wir eigentlich, Minderheiten über
Zeitspannen entscheiden zu lassen, was dazu führt, dass
Mehrheiten ihre Lebenschancen nicht verwirklichen
können? Ich finde, darüber müssen wir gemeinsam
nachdenken und deutlich machen, wie es laufen muss.
({28})
Wir werden als Bundesregierung dafür sorgen, dass
das Thema Bürokratieabbau konzeptioneller angegangen
wird - das haben wir in der Koalitionsvereinbarung gemeinsam festgelegt -: Normenkontrollrat, Standardkostenmodell, wie die Holländer es uns vorgemacht haben.
Der Bundeswirtschaftsminister wird ein Mittelstandsentlastungsgesetz erarbeiten lassen, in dem die Dinge konkret umgesetzt werden.
Ich möchte Sie auf eine Sache aufmerksam machen,
über die interessanterweise in Deutschland weniger diskutiert wird als in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Es gibt die so genannte Better-Regulation-Offensive, also bessere Gesetzgebung, bei der auch
der deutsche Kommissar Verheugen sehr intensiv mitarbeitet. Man hat sich auch in der Europäischen Union
zum ersten Mal seit Jahrzehnten vorgenommen, nicht
immer neue Richtlinien zu schaffen, sondern einmal zu
überlegen, ob die Abschaffung von Richtlinien nicht ein
Schritt wäre, der der gesamten Wachstumsstrategie sehr
viel besser bekommen würde.
({29})
Es ist jetzt gelungen, über 60 Richtlinien abzuschaffen.
Ich denke, dass wir gerade während der deutschen
Ratspräsidentschaft diesen Weg weitergehen sollten.
Jetzt wird zum Beispiel die Vogelschutzrichtlinie mit der
Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie vereinigt. Sie alle wissen
aus Ihren Wahlkreisen, was für Diskussionen wir genau
über diese Themen haben.
({30})
Zumindest diejenigen Abgeordneten wissen das, die
Wahlkreise haben, in denen es einen Fluss oder eine
Wiese gibt.
({31})
- Manch einer hat seinen Wahlkreis in einer Großstadt,
wo dies kein Problem ist.
Die Bürgernähe der Europäischen Union, die wir
brauchen, zeigt sich doch darin, dass man Regelungen,
die historisch gesehen nacheinander entstanden sind, zusammenführt. Das wird Freiräume schaffen und uns in
die Lage versetzen, uns auf die wirklich wichtigen Aufgaben Europas zu konzentrieren, von denen es hinreichend viele gibt. Wir werden diese Entwicklung während unserer Präsidentschaft voranbringen.
({32})
Ich möchte nun drittens zu dem aus meiner Sicht in
der Tat zentralen Punkt Forschung und Innovationen
kommen. Da stellt sich die Frage: Wo sind wir besser als
andere, damit wir unseren Lebensstandard halten können? Herr Kuhn, Sie müssen doch neidlos anerkennen,
dass wir in den nächsten vier Jahren 6 Milliarden Euro
mehr für Forschung und Entwicklung ausgeben.
({33})
- Sie werden es doch mittragen. - Das sind durchschnittlich 1,5 Milliarden Euro pro Jahr mehr. Wenn Sie sagen,
das sei genau das Geld, das wir pro Jahr für Landwirtschaftssubventionen ausgeben, dann muss ich erwidern:
Ich war es nicht, die 2002 zugestimmt hat, dass der
Agrarhaushalt, abgekoppelt von der Finanziellen Vorausschau 2007-2013, bis 2013 festgeschrieben wurde.
Ich war es nicht.
({34})
Es mag damals Gründe dafür gegeben haben, dass Sie
die Entscheidung mitgetragen haben. Auch die Landwirtschaftsfachleute in unseren Reihen waren froh darüber. Man konnte den Mitgliedstaaten wie zum Beispiel
unseren französischen Freunden, mit denen dies 2002
verabredet wurde, doch 2005 nicht zumuten, dass man
diese Vereinbarung einfach vergisst und neu anfängt.
Man muss erkennen, dass man sich nicht einfach davon
verabschieden kann. Auch das gehört zur Redlichkeit in
der Argumentation.
({35})
Wir haben zwar die Erhöhung um 6 Milliarden Euro
beschlossen - ich hoffe, dass uns das Parlament mehrheitlich dabei folgt -, aber wir haben noch keine klar
ausgearbeitete Strategie. Deshalb befassen wir uns im
Rahmen eines unserer Projekte für die zweite Etappe mit
der Frage, an welcher Stelle wir diesen Beitrag in Höhe
von 6 Milliarden Euro ausgeben müssen, damit am Ende
der Legislaturperiode Deutschland insgesamt 3 Prozent
des Bruttoinlandsproduktes für Forschung und Entwicklung ausgibt. Diese Sache ist noch nicht in trockenen Tüchern, weil auf jeden Euro der öffentlichen Hand 2 Euro
privater Investitionen der Wirtschaft folgen müssen.
Die Bundesforschungsministerin wird jetzt in sehr intensive Gespräche eintreten müssen. Sie wird mit der
Wirtschaft darüber sprechen müssen, wie sie ihren Anteil leisten kann. Es handelt sich für die Wirtschaft um
keine langen Planungszeiträume. Es muss auch darüber
geredet werden, welche Rahmenbedingungen die Wirtschaft braucht.
Eines der Projekte, das wir zu Beginn der Legislaturperiode erfolgreich durchgeführt haben, befasste sich
mit der Chemikalienrichtlinie. Wir sind da zu einer vernünftigen Lösung gekommen - auch das war ein Erfolg
der großen Koalition -, die dazu führt, dass Chemiewerke wie zum Beispiel die BASF ihren Beitrag zur Forschung leisten können. Wenn wir ihnen diese Möglichkeit nicht eröffnen und ihnen Restriktionen auferlegen,
dann können sie in Deutschland auch nicht forschen.
Wer sich einmal mit dem gesamten Bereich der Enzymforschung befasst hat, der weiß: Wenn nicht die
Grüne Gentechnologie hinzukommt
({36})
- das hat nichts mit Lebensmitteln zu tun -, dann kann
die Forschung nicht in einfacher Weise durchgeführt
werden. Deshalb bin ich sehr froh, dass wir jetzt in diesen Dialog eintreten.
Wir werden, anknüpfend an das Projekt „Partner für
Innovation“, das vom vorherigen Bundeskanzler initiiert
wurde, einen Rat für Innovationen bilden. Dieser Rat
für Innovationen ist ein Beratungsgremium für die Bundesregierung und für die Minister, zu deren Zuständigkeitsbereich Forschung und Technologie gehören. Dieser
Rat soll sich mit der Frage beschäftigen, wo die Stärken
in der Grundlagenforschung liegen, die wir weiterentwickeln müssen, damit wir eine Chance haben, marktübergreifende Projekte durchzuführen. Denn es müssen Produkte entwickelt werden. Es ist zwar gut, ein Land der
Ideen zu sein, aber am Ende müssen Produkte stehen,
damit wir wirtschaftlich davon profitieren. Diesen Spannungsbogen müssen wir schaffen.
({37})
Unter diesen Projekten befinden sich auch Leuchttürme. Dazu gehört die Gesundheitskarte. Dieses Projekt zeigt, dass Deutschland ein modernes Land ist und
dass die Informationstechnologie in unser Alltagsleben
Einzug hält. Wir werden das mit aller politischen Gestaltungskraft vorantreiben. Diese ist notwendig, weil es immer wieder Einzelinteressen von Gruppen gibt, die sich
nicht über die Einführung der Gesundheitskarte freuen
und für die Transparenz ein gewisses Gefahrenmoment
bedeutet. Aber hier hat die Politik den Gemeinwohlauftrag auszuführen.
Wir werden dafür Sorge tragen, dass sich Deutschland
gerade im Bereich der Informationstechnologie wieder
stärker engagieren kann. Ich werde zu einem IT-Gipfel
einladen, um deutlich zu machen: Hier ist eine Branche,
in der neue Arbeitsplätze entstehen können. Dort wurden
im letzten Jahr 6 000 bis 8 000 Leute neu eingestellt.
Hier fehlen im Übrigen zum Teil Ingenieure. Wir müssen
den jungen Leuten sagen: Hier habt ihr eine Chance. Hier können wir vorne sein, auch wenn wir heute zum
Teil noch nicht so weit vorne sind, wie ich mir das wünschen würde.
Ich will einen weiteren Aspekt ansprechen. Hier ist
Deutschland Vorbild; hier haben wir riesige Chancen
und Stärken, die uns weiterbringen können. Wir haben es
jetzt auf europäischer Ebene geschafft, dass mit dem
Europäischen Forschungsrat eine Institution gegründet werden wird, die sich an das Begutachtungssystem
der deutschen Wissenschaft anlehnt und damit dem
Exzellenzgedanken in Deutschland zum Durchbruch
verhelfen wird. Es wird jetzt darauf ankommen, dass alle
Institute, die in Europa gegründet werden, alle europäischen Forschungs- und Innovationsinstitute, immer den
gleichen Maßstäben genügen. Dafür wird Deutschland
während seiner Präsidentschaft sorgen.
Für mich ist der in diesem Zusammenhang in Rede
stehende Betrag von 6 Milliarden Euro kein fiskalisches
Thema, kein Thema, bei dem jedes Ressort äußern kann,
worüber es schon immer einmal forschen wollte, sondern ein Thema, an dem wir eine Strategie aufbauen
wollen. Ich freue mich, dass hierbei eine sehr gute Zusammenarbeit zwischen allen Ressorts der Bundesregierung stattfindet, worüber wir gerne und intensiv mit dem
Parlament diskutieren wollen, weil wir nur so einen
wirklichen Nutzen für Deutschland zustande bringen
werden.
({38})
Ein Thema, bei dem Innovationen in der Tat eine
große Rolle spielen, ist der vierte Punkt, die Energiepolitik. Die Bedeutung der Energiepolitik - und damit
die Sorgen, Ängste oder Unsicherheiten der Menschen
in unserem Land in diesem Zusammenhang - hat sich
zwar in den letzten Monaten ganz elementar gezeigt, ist
aber eigentlich seit langem bekannt. Es gibt unter uns
- Herr Heil hat das angesprochen - keine Unterschiede:
Die Versorgungssicherheit, die Wirtschaftlichkeit und
die Umweltverträglichkeit müssen die drei großen Säulen sein. Sie existieren in einem permanenten Spannungsverhältnis zueinander. Sie müssen aber ausgefüllt
werden und sind gleichermaßen wichtig.
Es gibt unterschiedliche Bewertungen darüber, welche Rolle die einzelnen Energieträger spielen sollen. Das
haben wir vor Abschluss der Koalitionsvereinbarung
gewusst; wir haben in den ersten 130 Tagen erlebt, dass
das so bleiben wird. Das heißt aber nicht, dass wir uns
wegen dieser einen unterschiedlichen Bewertung in einer Frage um die Beantwortung der Frage drücken können, wie ein Energiekonzept bis zum Jahr 2020 aussieht.
Deshalb werden wir am nächsten Montag eine erste
Runde eines Energiegespräches abhalten, wobei zum
Schluss im zweiten Halbjahr 2007 ein Energiekonzept
bis zum Jahr 2020 stehen soll, in dem wir darlegen, wie
wir Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit, also auch
niedrige Strompreise, und Umweltverträglichkeit zusammenbringen.
Jenseits der unterschiedlichen Meinungen gibt es in
dieser Koalition ein breites Maß an Übereinstimmung
darin, dass wir Technologieexporteur werden können,
dass wir in der Energieeffizienz Spitze sein sollten und
dies von großer Bedeutung sein wird. Ich bin sehr froh,
dass wir endlich davon weggekommen sind, nur auf die
Wirtschaft zu schauen. Ich erinnere an die Diskussion
über den Biodiesel und die CO2-Einsparungen im KfzBereich. Die Biodieseldiskussion ist schwierig, weil wir
in bis 2009 bestehende Besitzstände eingreifen.
({39})
- Das ist nicht absurd. Wir werden das vernünftig regeln,
Herr Kuhn.
Ich sage Ihnen voraus: Wenn wir eine Beimischungspflicht eingeführt haben werden, werden Sie von den
Grünen die Ersten sein, die für sich proklamieren, dass
sie diese Idee hatten. Aber dann waren wir es, die die
Pflicht der Beimischung von Biodiesel für alle Kfz mit
Dieselmotor eingeführt haben werden, was den Markt
erheblich erweitern wird.
({40})
Dafür müssen wir die jetzigen Umstellungsschwierigkeiten in Kauf nehmen, vernünftig ausdiskutieren und trotzdem unsere Haushaltsziele erfüllen.
({41})
Sie wissen: Es muss gespart werden; zum Haushalt
komme ich gleich. Aber wo man auch mit dem Sparen
anfängt, ist es nicht recht. Irgendwann kommt es beim
Finanzminister oder im Zweifelsfalle manchmal auch
bei der Kanzlerin - vorher noch beim Kanzleramtsminister - zusammen.
({42})
Wenn wir sparen wollen, dann müssen wir es an bestimmten Stellen auch tun. Deshalb werden wir die
Dinge zusammenbringen.
({43})
Ich bin sehr erleichtert, dass diese große Koalition
bzw. der Bundesumweltminister zusammen mit dem
Bundeswirtschaftsminister bei der Ausarbeitung des Nationalen Allokationsplanes 2, also der Fortsetzung der
CO2-Einsparungen, nicht wieder das Theater aufführt,
das es in der vergangenen Legislaturperiode gegeben
hat, sondern versucht, Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Umweltverträglichkeit zusammenzubringen.
Dem Bundesaußenminister bin ich sehr dankbar dafür, dass er die Energiepolitik ausdrücklich als strategischen Teil unserer Außenpolitik definiert hat, und zwar
unter Berücksichtigung der Menschenrechte. Wir haben
es heute mit Ländern zu tun, zum Beispiel mit China, die
ganz bewusst eine einseitig auf Rohstoffe ausgerichtete
Außenpolitik betreiben. Wir müssen unsere Werte mit
unseren Interessen in Einklang bringen. Genau das werden wir auch tun.
({44})
Fünftens. Bezogen auf die Finanzpolitik habe ich bereits die Punkte angesprochen, die der Finanzminister
gestern sehr ausführlich dargestellt hat: Annäherung an
die Realität und keine falschen Versprechungen. Mir ist
es, ehrlich gesagt, lieber, wenn Sie uns in der ersten Lesung des Haushalts kritisieren, weil wir Schulden aufnehmen werden, die auch meiner Meinung nach besser
geringer wären - keiner in diesem Hause ist froh darüber -,
({45})
als dass wir nächstes Jahr um diese Zeit Krokodilstränen
weinen und sagen: Das haben wir voriges Jahr nicht gewusst. - Diese Spirale einer kurzsichtigen Haushaltspolitik wird durchbrochen. Das erfordert am Anfang
Mut, aber bringt am Ende Verlässlichkeit und schafft
Vertrauen. Ich bin der Meinung, dass es besser ist, Vertrauen zu schaffen.
({46})
Wir werden das große Projekt der Unternehmensteuerreform angehen. Das wird ein Projekt sein, das die
Mitarbeit vieler erfordert. Deutschland, dessen Stärken
im mittelständischen Bereich liegen - da sind wir uns in
diesem Haus wahrscheinlich wieder alle einig -, muss
eine rechtsformneutrale Besteuerung der Unternehmen
hinbekommen. Mit der Begründung, dass sich die
Rechtsformen der Unternehmen im 20. Jahrhundert nun
einmal so entwickelt haben, werden wir im Rahmen der
globalen Diskussionen des 21. Jahrhunderts nicht durchkommen. Die Leute werden uns sagen: Ihr seid doch
sonst so fix und helle. Lasst euch was einfallen! - Dass
aber die uns oft empfohlenen Modelle, die zu Steuermindereinnahmen jenseits der 25 Milliarden Euro führen
werden, angesichts der augenblicklichen Situation des
Haushalts nicht besonders hilfreich sind, muss auch jeder sehen. Insofern hat die Bundesregierung eine ziemlich komplizierte Aufgabe zu bewältigen, und zwar
gemeinsam mit den Verantwortlichen in dieser Gesellschaft, von den Kommunen über die Länder bis zum
Bund. Ich halte diese Reform für ausgesprochen wichtig
und deshalb werden wir sie auch durchführen.
Für mich ist auch wichtig, die Erbschaftsteuer zu
verändern, und zwar als klares Zeichen an die MittelBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
ständler. Wir müssen vor allen Dingen auch mental diejenigen unterstützen, die trotz der Globalisierung im
Erbschaftsfall das Geld nicht in irgendeine Kapitalanlage investieren, sondern ganz bewusst sagen: Ich lasse
das Geld in meinem Betrieb. Ich möchte in dem Betrieb,
der eine Tradition hat, weiterarbeiten. - Diesen Menschen müssen wir den Rücken stärken. Deshalb ist die
Erbschaftsteuerreform so wichtig.
({47})
Sechstens. Zur Familienpolitik kann ich an dieser
Stelle nur kurz etwas sagen. Wir haben ein demografisches Problem, wir sind kein kinderfreundliches Land
und wir haben in diesem Bereich viele Aufgaben zu lösen. Ich weiß nicht, ob man nach der Reihenfolge vorgehen kann, Herr Kuhn, „erst Betreuung, dann Elterngeld“.
Ich glaube, wir müssen auf verschiedenen Ebenen
gleichzeitig arbeiten.
Ich habe den Eindruck, dass hier in den letzten Jahren
ein erhebliches Umdenken erfolgt ist; das sage ich auch
für die CDU/CSU-Fraktion und für die CDU als Partei.
({48})
Schauen Sie sich einmal die Betreuung der unter Dreijährigen in Nordrhein-Westfalen, Bayern, BadenWürttemberg und Hamburg an! Die Situation ist in allen
Bundesländern nicht besonders befriedigend, in den
Städten ist sie fast noch am besten.
({49})
- Wir können die Statistiken gerne austauschen. - Aber
das ist nicht das Problem.
({50})
Tatsache ist, dass es für Kinder unter drei Jahren zu wenige Betreuungsmöglichkeiten gibt. Aber dafür sind
vorrangig die Länder zuständig. Durch die Mehrwertsteuererhöhung und die Übernahme der Kosten für die
Unterkunft leisten wir unseren Beitrag und verschaffen
den Ländern und Kommunen Spielräume, damit sie im
Bereich der Ganztagsbetreuung etwas machen können.
({51})
Das darf nicht in Vergessenheit geraten.
({52})
So verlässlich, wie wir an dieser Stelle waren, müssen
die Kommunen jetzt auch das Geld ausgeben.
({53})
Wir beschreiten mit dem Elterngeld einen neuen
Weg. Über diesen Weg müssen wir diskutieren, er wird
nicht ganz einfach sein. Denn zum ersten Mal wird die
Frage gestellt, wie wir gut ausgebildeten Frauen jenseits
der ganz kleinen Verdienste, die sich für Kinder und Beruf entscheiden, für eine begrenzte Zeit die Möglichkeit
eröffnen können, nicht einen wahnsinnigen Einkommensverlust zu erleiden, sondern diese Zeit zu überbrücken. Das ist nicht unumstritten. Bisher haben wir Familienpolitik sehr häufig vorrangig als Sozialpolitik für
Bedürftige verstanden. Diese Position will ich auch nicht
völlig aufgeben. Angesichts der Tatsache, dass 40 Prozent der Akademikerinnen in Deutschland keine Kinder
haben - die dazugehörigen Männer haben übrigens
ebenfalls keine, darüber wird nur nicht so oft gesprochen -, müssen wir uns aber überlegen, wie wir einen
Bruch in der Biografie dieser Frauen vermeiden können.
Diese Überlegungen halte ich für vernünftig. Daher ist
es richtig, dass wir die Diskussion über das Elterngeld
jetzt und nicht erst im Jahr 2015 führen.
({54})
Ich komme nun zu einem zentralen Bereich, der in der
Koalition hinsichtlich seiner Wirksamkeit unterschiedlich bewertet wird. Das sind - siebtens - die Fragen, die
mit der Arbeitsmarktpolitik, mit Hartz IV, also der Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe,
mit dem Niedrig- und dem Kombilohn zusammenhängen.
Lassen Sie mich wegen der aktuellen Situation ein
Wort zum Kündigungsschutz sagen. Wir haben nicht
wenig Zeit während der Erarbeitung der Koalitionsvereinbarung auf den Punkt Kündigungsschutz verwendet.
Wir haben viele Modelle betrachtet und Verbände befragt. Ich weiß, dass das Thema in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion einen etwas anderen Stellenwert hat als
in der SPD-Bundestagsfraktion, aber wir haben uns auf
etwas geeinigt. Zur Verlässlichkeit gehört, dass wir das,
was wir miteinander vereinbart haben, und zwar nicht im
Halbschlaf, sondern nach dem Verwerfen von Optionen
und dem Hinzunehmen von Optionen, als Grundlage heranziehen. Wir müssen das mit dem Ziel tun, dass wir
nur die Dinge umsetzen, die wir gemeinsam umsetzen
können. Wir wollen nur die Maßnahmen umsetzen, die
zu mehr Arbeitsplätzen führen. Mein Vorschlag ist, mit
der Verlässlichkeit dieser Koalitionsvereinbarung einen
Schritt voranzugehen.
({55})
Alles andere würde nur zu unergiebigen Diskussionen
führen und die Menschen würden nicht verstehen, was
wir vor 130 Tagen aufgeschrieben haben. Das ist das
Problem. Wir müssen zuerst das umsetzen, was wir vereinbart haben. Wenn wir in zwei Jahren merken, dass es
weitergehen muss, dann darf es kein Denkverbot geben.
In dieser Sache bin ich ganz nah bei Peter Ramsauer.
Aber lasst uns erst einmal das machen, was wir uns vorgenommen haben.
Das Kernproblem wird sein - Herr Kuhn, ich stimme
Ihnen zu -, Lösungen für den unteren Lohnbereich, für
über 55-Jährige, für junge Arbeitslose zu finden und
neue Erwerbstätigkeiten anzubieten. Wir haben uns vorgenommen, uns von bestimmten Dingen zu trennen und
Instrumente, die sich nicht bewährt haben - inzwischen
liegt der erste Revisionsbericht zu Hartz vor -, über
Bord zu werfen. Darüber hinaus wollen wir Maßnahmen
bündeln; denn das Dickicht ist immer noch groß.
Wir werden natürlich über die Frage der Kombilöhne
sprechen müssen. Ich schaue mir gern die Modelle der
Grünen an. Wir müssen aber aufpassen: Wenn wir Einstiegsszenarien vorsehen und die Sozialabgaben am Anfang kleiner halten, wie es bei den Hinzuverdienstmöglichkeiten heute schon der Fall ist, dann dürfen Sie den
Ausfall anschließend nicht der Bundesgesundheitsministerin oder dem Arbeitsminister zuweisen, damit diese sehen, wie sie damit klarkommen. Sie können nicht einfach annehmen, dass es so viel Mehrbeschäftigung
geben wird, dass die Fehlausgaben ausgeglichen werden.
Da, wo nichts abgegeben wird, gibt es auch keine Mehreinnahmen. Vielmehr müssen wir darüber sprechen, woher das Geld kommen soll.
({56})
Sie können uns dann nicht vorwerfen, wir würden einfach die Steuern erhöhen und Sie wüssten nicht, warum.
Es muss zusammenpassen.
Ich glaube trotzdem, dass die Diskussion sehr intensiv
geführt werden muss. Wir müssen uns auch mit der Tatsache auseinandersetzen, dass wir nicht in einem luftleeren Raum leben, sondern dass andere Länder - ich
verweise auf die Dienstleistungsrichtlinie - mit ganz anderen Mindestlöhnen arbeiten. Ich habe gestern den Ministerpräsidenten von Lettland empfangen. Dort ist die
Lage ganz anders. Er ist voller Sorge darüber - ich erwähne das, damit wir in Deutschland darüber Bescheid
wissen -, dass seine besten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Land verlassen, weil Irland und Großbritannien die Arbeitnehmerfreizügigkeit - anders als wir schon gestattet haben. Lettland hat ein großes Problem,
den eigenen Wirtschaftsaufbau voranzubringen, weil die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Land verlassen, da sie in anderen Ländern in Europa mehr verdienen
können. Dieser Prozess wird die Löhne in den betreffenden Ländern steigen lassen.
Das ist ein zentraler Punkt, den wir uns ansehen werden. Der Bundesarbeitsminister wird, mit Hilfe aller,
eine Lösung finden. Wir müssen uns aber darüber einig
sein, dass am Ende mehr Arbeitsplätze entstehen müssen und es nicht weniger werden dürfen. Das ist die Bedingung, an der sich die Lösung messen lassen muss.
({57})
Ein achtes Projekt, das in diesen Tagen in aller Munde
ist, ist die Gesundheitsreform. Im Koalitionsvertrag haben wir uns viel vorgenommen: Steuerzuschüsse aus
dem Bundeshaushalt werden zurückgebaut. Einer der
Gründe dafür war, neben dem der Haushaltskonsolidierung, dass wir uns selbst ein Stück weit unter Druck setzen wollten, um strukturell etwas zu verändern.
Ich will an das Gesundheitsmodernisierungsgesetz erinnern, das damals in Gemeinschaftsarbeit von Union
und SPD erarbeitet wurde. Es hat seine Wirkung durchaus entfaltet. Die Krankenkassen sind heute weitgehend
schuldenfrei. Ich muss aber auch daran erinnern, dass
schon bei der Verabschiedung des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes gesagt wurde: „Das hält für die Dauer
der Legislaturperiode. Danach brauchen wir eine umfassende Strukturreform.“ Das hat im Übrigen dazu geführt,
dass die Parteien unterschiedliche Konzepte ausgearbeitet haben. Alle waren sich bewusst, dass wir eine Strukturreform brauchen.
Ich glaube, dass wir, wenn wir jetzt in die entscheidenden politischen Diskussionen eintreten - sie müssen
wechselseitig von den Fachpolitikern und den politischen Führungen bestritten werden, weil das Projekt zu
groß ist, als dass es den Fachpolitikern allein überantwortet werden könnte; das ist als Unterstützung zu verstehen -, zunächst eine Lagebeurteilung brauchen: Erstens. In dieser Legislaturperiode fehlen zwischen 7 und
10 Milliarden Euro in diesem System. Darin sind wir uns
einig. Zweitens. Es ist vollkommen klar - ich bin dankbar, dass sich diese Auffassung durchsetzt -, dass es
Wettbewerbsspielräume gibt. Wir müssen eine Struktur
finden, in der der Wettbewerb besser funktionieren kann.
Angesichts des medizinischen Fortschritts, den wir
glücklicherweise haben, und der demografischen Entwicklung dürfen wir den Menschen als Ergebnis einer
Reform nicht nennen, dass wir Geld gefunden haben.
Wir müssen sagen, dass es tendenziell teurer wird. Der
Anstieg kann zwar gedämpft werden, aber die Gesundheitsversorgung wird im Laufe der nächsten zehn bis
15 Jahre tendenziell teurer, wenn wir nicht wollen, dass
Menschen aus materieller Not heraus am medizinischtechnischen Fortschritt nicht beteiligt werden. Das ist
unser gemeinsames Anliegen.
({58})
Wir müssen ganz nüchtern überlegen - ich glaube,
wir haben die Kraft dazu -, wie wir dafür sorgen können,
dass die historisch gewachsene Kopplung an die Lohnzusatzkosten am Schluss nicht dazu führt, dass wir weniger Arbeitsplätze haben. Wir können nicht eine Gesundheitsreform machen, die alle anderen Ziele der
Koalition konterkariert. Dabei gibt es viel Spielraum. Ich
glaube, wir können ganz intensiv, aber auch sehr ruhig
und selbstbewusst, in dem Tempo, das wir vorgeben, arbeiten. Ich habe gesagt, die Reform muss bis zum Sommer fertig sein. Bis zum Sommer heißt aber nicht: vor
Ostern.
({59})
Insbesondere in diesem Jahr, wo der Winter nur sehr
langsam geht, heißt „bis zum Sommer“ so viel wie
„nicht vor Ostern“.
({60})
Es gibt eine öffentliche Diskussion. Das ist eine
Chance, die die große Koalition bietet: Es gibt ein öffentliches Interesse an schnellen Ergebnissen und eine
hohe öffentliche Bereitschaft, anschließend zu kritisieren, wenn das Ganze nicht durchdacht war.
({61})
Im Namen der Bundesregierung und auch der Koalitionsfraktionen sage ich: Wir wissen um den Zeitdruck,
wir machen die Reform aber in unserem Tempo. Es gilt:
Qualität vor Schnelligkeit.
({62})
Wenn ich zum Schluss über das Thema Gesundheit
gesprochen habe - ähnlich wird es sich im Pflegebereich
verhalten -, dann weiß ich, dass dieses Thema so
schwierig ist wie kaum ein anderes, weil es jeden Menschen betreffen kann. Krank kann ich jeden Tag werden,
und zwar so krank, dass es meine finanziellen Möglichkeiten überschreitet, mich dagegen allein zu schützen.
Ich glaube, dass an der Frage, wie wir die Gesundheitsreform miteinander gestalten, natürlich auch deutlich
werden kann, welche Haltung wir haben, um politische
Probleme, die es nun einmal gibt, zu lösen. Diese Haltung bzw. dieser Stil wird bedeuten - das sage ich für
mich und auch für andere -, dass man immer auch über
den eigenen Schatten springen muss, dass das Gemeinwohl über das Partikularinteresse gehen muss. Das ist im
Gesundheitsbereich stark ausgeprägt.
Das heißt, wir müssen Schutzmauern aufbrechen und
die Kraft haben, neue Wege zu gehen.
({63})
Das heißt, wir müssen Prinzipien anwenden und nicht
Prinzipienanwendung und heilige Kühe durcheinander
bringen. Nicht jede heilige Kuh kann mit einem Prinzip
gerechtfertigt werden.
({64})
Diese Anforderungen stelle ich an uns. Ich spreche
für die Bundesregierung und ich bitte die Koalitionsfraktionen darum. Aber es würde in Deutschland Eindruck
machen, wenn sich auch die Oppositionsfraktionen diesem Geist verpflichtet fühlen würden, weil wir es natürlich weit über dieses Parlament hinaus von allen Gruppen in dieser Gesellschaft erwarten: von den
Gewerkschaften, von den Arbeitgebern, von den Umweltverbänden und von den vielen Nichtregierungsorganisationen.
Wir können nicht auf Maximalforderungen bestehen.
Das gilt für alle Bereiche, die ich hier genannt habe. Ich
habe in meiner ersten Regierungserklärung - ich tue es
heute in dieser Debatte wieder - bewusst gesagt: Wir gehen kleine Schritte, die aber konsequent und mit einer
klaren Richtung. Ich glaube, dass, wenn wir diese Politik
machen - Werte, Prinzipien, Schritte, den Menschen
nichts Falsches versprechen -, wieder ein Stück Vertrauen in das, was wir vor uns haben, entstehen kann.
Ohne das Vertrauen der Bevölkerung in das, was wir tun,
können wir die Veränderungen nicht schaffen. Wenn wir
das aber schaffen - daran glaube ich ganz fest -, dann
hat Deutschland eine vernünftige Zukunft und wir können vielen, vielen Menschen ein besseres Leben garantieren.
Herzlichen Dank.
({65})
Das Wort hat nun der Abgeordnete Dr. Guido
Westerwelle für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Begeisterung der SPD-Fraktion nach der Rede
der Bundeskanzlerin war in diesem Raum an den Händen zu sehen. Ich möchte aber, Frau Bundeskanzlerin,
meine Rede mit dem beginnen, was aus unserer Sicht
sehr wohl positiv als Richtungswechsel gegenüber der
alten Regierung zu verzeichnen ist. Das ist Ihr Anfang in
der Außen- und Europapolitik.
({0})
Dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, bei Ihrem Antrittsbesuch in Washington das Thema Guantanamo angesprochen haben, war richtig und es ist eine Freude, dass
das endlich wieder jemand an dieser Stelle getan hat.
({1})
Dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, zu Ihrem Antrittsbesuch nach Moskau gereist sind und sich in Moskau als
Regierungschefin auch die Zeit genommen haben, sich
öffentlich mit Vertretern der Opposition zu treffen, war
ein wohltuender Unterschied zu Ihrem Vorgänger, der
von Präsident Putin noch als einem lupenreinen Demokraten sprach.
({2})
Sie haben gleich zu Beginn Ihrer Rede völlig zu
Recht auf die Erleichterung Ihrer Regierung - ich bin sicher: auch die Erleichterung des ganzen Hohen Hauses über die Freilassung von Herrn Rahman hingewiesen.
An dieser Stelle will ich hinzufügen: Die Tatsache,
dass dieser Bürger nicht zum Tode verurteilt worden ist,
ist das eine. Aber die Tatsache, dass er sich überhaupt
- nur, weil er zum christlichen Glauben übergetreten ist vor Gericht verantworten musste, zeigt, dass die Religionsfreiheit in Afghanistan nicht gewährleistet ist.
Auch das müssen Sie im Kopf haben; denn dort sind unsere Soldaten für Freiheit und Werte im Einsatz, nicht
aber für Unfreiheit.
({3})
Nun will ich auf den Bereich zu sprechen kommen,
der in dieser Debatte naturgemäß im Vordergrund steht:
die Innenpolitik. Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben
gleich zu Beginn Ihrer Rede angeführt, dass sich das,
was Ihnen die Freien Demokraten vortragen, nicht
rechne und dass das nicht funktioniere; denn eine solche
Steuerpolitik könne man in Deutschland nicht machen.
Ich habe Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, etwas mitgebracht. Dieses Schriftstück trägt die Unterschrift von
Herrn Stoiber, es trägt meine Unterschrift und es trägt
Ihre Unterschrift. Es ist nicht aus dem letzten Jahrhundert, sondern etwa ein halbes Jahr alt. Es datiert vom
1. September 2005. Wenn Sie sagen, die FDP solle mit
ihrem Reden über ein einfacheres und gerechteres Steuersystem mit niedrigen Steuersätzen aufhören, so möchte
ich Sie darauf aufmerksam machen, dass wir dieses Dokument wenige Tage vor der Bundestagswahl gemeinsam veröffentlicht haben. Halten Sie sich doch an das,
was Sie selbst eigentlich für richtig halten!
({4})
Ich kann verstehen, dass es in Zeiten der großen Koalition so ist, dass die Roten schwärzer werden und die
Schwarzen erröten. Wenn Sie aber all unsere Vorschläge
als irreal bezeichnen und einwenden, sie seien nicht umzusetzen und rechneten sich nicht, muss ich Ihnen sagen:
Entschuldigen Sie, aber Sie haben doch auf Ihrem Leipziger Bundesparteitag einen Bierdeckelbeschluss gefasst.
({5})
So weit wie Sie sind wir an dieser Stelle niemals gegangen. Unsere Vorschläge waren viel vernünftiger und realitätsnäher als Ihr Bierdeckelbeschluss. Aber ich sage Ihnen: Sie lösen die Probleme unserer Staatsfinanzen nicht
durch höhere Steuern, sondern nur durch Wachstum und
die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Das setzt ein neues
Steuersystem voraus.
({6})
All das waren übrigens auch Ihre Worte, bis Sie dann
Kanzlerin wurden.
Jetzt kommen wir zur zweiten tragenden Säule der
großen Koalition, zu Herrn Müntefering.
({7})
Machen wir uns doch einmal die Freude, nachzulesen,
was der Vizekanzler, der jetzt neben Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, sitzt, gesagt hat, und zwar nicht irgendwann im letzten Jahrhundert,
({8})
sondern vor wenigen Monaten im Bundestagswahlkampf, als er noch Vorsitzender der SPD war. Er hat gesagt, dass wir wirtschaftliche Probleme haben, weil die
Binnennachfrage in Deutschland nicht anspringt. Würden wir die Mehrwertsteuer jetzt erhöhen, also Produkte und Dienstleistungen spürbar teurer machen,
würde das die Binnennachfrage noch weiter abwürgen.
Dann hat er gesagt: Wer stöhnt, weil die Benzinpreise so
hoch sind, gleichzeitig aber eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ankündigt, der hat die Interessenlage der
Menschen nicht im Blick.
({9})
Am 3. September des Jahres 2005 hat er gesagt: „Die
Mehrwertsteuererhöhung kostet Arbeitsplätze.“ Ja, wenn
sie Arbeitsplätze kostet, sollten Sie sie lassen, Herr Vizekanzler.
({10})
Das alles trage ich nicht etwa mit oppositioneller Polemik vor. All das sind Aussagen aus Ihren eigenen Reden.
({11})
Folgendes will ich festhalten: An dieser Debatte nehmen jetzt noch 30 bis 40 Abgeordnete der SPD-Fraktion
teil,
({12})
natürlich die Wichtigsten und die Schönsten; das ist
keine Frage.
({13})
Um ungefähr so viele Abgeordnete, wie jetzt noch von
Ihnen anwesend sind, wäre Ihre Fraktion im Deutschen
Bundestag kleiner, hätten Sie Ihren Wortbruch beim
Thema Mehrwertsteuer vor der Wahl angekündigt.
({14})
Der Vizekanzler hat heilige Eide geschworen. Gestern
hat Herr Steinbrück seine Rede zum Haushalt vorgetragen, ein Finanzminister, der nur auf der Regierungsbank
sitzt, weil Sie, als es um die Mehrwertsteuer ging, gelogen haben. Sie haben vor der Wahl etwas anderes als
nach der Wahl gesagt.
({15})
Dieser sozialdemokratische Finanzminister hat uns gestern erzählt - Sie haben es ja gehört -: Egal wie sich die
Haushaltslage entwickelt und egal ob die Staatsfinanzen
in diesem Jahr auch so ausreichen würden, die Mehrwertsteuer wird auf jeden Fall erhöht.
({16})
Vom Saulus zum Paulus? Ich würde sagen: vom Paulus
zum Saulus. Darüber müssen wir uns auseinander setzen.
({17})
Es war geradezu bezeichnend, wie die Rede des Kollegen Heil bei Ihnen von der CDU/CSU aufgenommen
worden ist und umgekehrt die Rede von Frau Merkel bei
Ihnen von der SPD.
Nach dem vergangenen Wahlsonntag kann man sagen: Keine Regierung zuvor hat eine so große Machtfülle in Bundestag und Bundesrat besessen wie die jetDr. Guido Westerwelle
zige, aber noch nie war der gemeinsame Nenner einer
Regierung so klein wie jetzt bei Schwarz-Rot.
({18})
Jetzt gibt es, Frau Bundeskanzlerin, Herr Vizekanzler,
keine Ausreden mehr. Sie können nicht mehr auf andere
Häuser verweisen. Sie können nichts mehr auf die böse
Opposition schieben, die Sie nicht so lässt, wie Sie es
gerne hätten. Jetzt tragen Sie die volle Verantwortung.
Sie, Frau Bundeskanzlerin, können nicht mehr philosophisch sagen: Liebe Genossen, Sie kennen doch unsere
Probleme in der Union. Sie, Herr Vizekanzler, können
nicht mehr sagen: Liebe Unionsleute, das kriege ich in
meiner Partei nicht durch. - Sie wollten zusammen regieren. Sie stehen in der Verantwortung gegenüber dem
Volk. Sie haben sich auf die Regierungsbank gesetzt.
Jetzt müssen Sie Deutschland auch dienen. Fangen Sie
endlich damit an!
({19})
Kommen wir nun zu den Herausforderungen, die angegangen werden müssen. Wenn wir die Arbeitslosigkeit in Deutschland signifikant senken wollen, dann
müssen wir zuallererst die Strukturen in Deutschland
verändern. Das ist nichts Neues, sondern war schon immer, bisher jedenfalls, Programm der Kolleginnen und
Kollegen der Unionsfraktion. Sie, Frau Merkel, sind in
Ihrer Rede über die Punkte Arbeitsmarkt und Kündigungsschutz elegant hinweggegangen, indem Sie von einer aktuellen Diskussion gesprochen haben. Wir haben
das versteinerte Gesicht von Herrn Müntefering gesehen.
({20})
- Sie lachen.
({21})
Sie mögen sich. Sie herzen sich.
({22})
Das ist prima. Da will ich nicht stören.
({23})
Angela und Franz, das ist das neue Traumpaar.
Ich komme nun zu dem, was Herr Müntefering heute
im „Handelsblatt“ zum Kündigungsschutz schreibt. Ihnen hat das gefallen, deswegen waren Sie auch so zurückhaltend und haben auf Ihren Händen gesessen, als
Frau Merkel geredet hat. Zitat von Herrn Müntefering,
der nun wirklich nicht der liberalen Opposition zugerechnet werden kann:
Eigentlich stand auch noch der Kündigungsschutz
auf der Tagesordnung. ... Ich habe das gestoppt,
nachdem Teile der Union sich Schritt für Schritt
von der Koalitionsvereinbarung in diesem Punkt
verabschiedet haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Koalition, wenn Sie regieren wollen und die großen Chancen von Schwarz-Rot beschreiben, was alles möglich
sei, was man mit anderen Mehrheiten niemals machen
könne, dann müssen Sie wenigstens beim Arbeitsmarkt
anfangen. Man muss doch kenntlich machen: Bei einer
Lockerung des Kündigungsschutzes geht es nicht darum,
dass Menschen leichter entlassen werden können; es
geht darum, dass Menschen leichter eingestellt werden
können.
({24})
Wo sind Ihre hehren Prinzipien an dieser Stelle?
Wenn man sich nicht einig ist, sagt man, man gehe
kleine Schritte in die richtige Richtung. Schneckentempo ist das neue politische Prinzip. Ich zitiere die
Bundeskanzlerin Angela Merkel, und zwar was sie als
damalige CDU-Vorsitzende und Oppositionsabgeordnete auf dem Parteitag der CDU gesagt hat:
Ja, meine Güte, eine Schnecke kann auch in die
richtige Richtung kriechen. Aber was wir in
Deutschland brauchen, ist nicht eine Schneckenspur, sondern ist ein Sprung nach vorne.
Ich will festhalten: Diese große Koalition muss erst
noch beweisen, ob sie wirklich groß ist. Groß werden Sie
nicht dadurch, dass Sie von großer Zahl sind; groß werden Sie erst dadurch, dass Sie endlich die Strukturreformen in diesem Lande angehen. Sie sagen, nach den
Landtagswahlen beginne die zweite Welle. Wir warten
noch auf die erste, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({25})
Zur Gesundheitspolitik. Was wir in der Gesundheitspolitik erleben, ist bemerkenswert. Schon in der letzten
Legislaturperiode gab es in diesem Bereich sozusagen
eine große Koalition. Man konnte verfolgen - das war
beeindruckend -, wie Sie, Frau Bundeskanzlerin, Frau
Schmidt die Streicheleinheiten gegeben haben, die sie
braucht. Man muss sich das einmal vorstellen: Da will
sich eine Koalition in der Gesundheitspolitik einigen,
vorher wird aber erst einmal vereinbart, dass die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt bitte nicht dabei sein
soll, weil sie stören könnte.
({26})
- Sie wird durch Herrn Seehofer vertreten.
Von Herrn Seehofer haben wir alle noch ein Bonmot
im Kopf, als es vor drei Jahren die informelle große Koalition in der Gesundheitspolitik gab. Morgens um vier
Uhr haben Sie in die Kamera gesagt: Das wird jetzt die
große Jahrhundertreform.
({27})
Eine Jahrhundertreform sollte es werden. Die Jahrhundertreformen haben mittlerweile Halbwertszeiten von
Monaten.
({28})
Herr Seehofer, es ist wirklich so: Ich erinnere mich
noch genau daran, dass Sie morgens neben Frau Schmidt
vor den Kameras standen und erklärten, das sei eine der
schönsten Nächte Ihres Lebens gewesen.
({29})
- Sie rufen jetzt: „Das stimmt“. Das führt mich dazu, zu
sagen: Jeder soll nach seiner Fasson selig werden.
({30})
- Beruhigen Sie sich. Oder wollen Sie mich jetzt auch
noch verklagen?
Solange Sie in der Gesundheitspolitik glauben, dass
die Planwirtschaft funktionieren könne, so lange werden
Sie scheitern. In Wahrheit bereiten Sie derzeit die Bürgerversicherung vor, nämlich die Zwangskasse durch die
Hintertür. Das wird Ihr gemeinsamer Nenner sein. Sie
werden sich in der Gesundheitspolitik einigen - da machen wir uns gar nichts vor -, und zwar genau auf den
sozialdemokratischen Weg, den Ihre Genossen und zugleich auch die Sozialdemokraten der Union immer
wollten, nämlich die Zwangskasse. Da sage ich: Planwirtschaft hat noch niemals funktioniert.
({31})
Warum sollte sie ausgerechnet in der Gesundheitspolitik
funktionieren können? Freiheit und Wettbewerb - das
müsste der Ansatz in der Gesundheitspolitik sein. Von
Ihnen kommt nichts dazu.
({32})
Zur Rente. Sie rühmen sich damit, dass bei der Rente
etwas verändert worden ist, dass nämlich die Lebensarbeitszeit auf 67 Jahre erhöht wird. Wir wollen zunächst
festhalten: Wenn Sie die Arbeitsmarktreformen unterlassen, dann bedeutet die Rente mit 67 für Millionen Menschen, nämlich für die Mehrzahl der Betroffenen, nichts
anderes als eine um zwei Jahre längere Arbeitslosigkeit.
Darüber reden wir jetzt.
Nichts beim Arbeitsmarkt tun, keine betrieblichen
Bündnisse erlauben, die Flächentarife bleiben, der Kündigungsschutz bleibt, die Änderung des Steuersystems
wird vertagt: Wenn Sie trotzdem glauben, Sie könnten
die sozialen Sicherungssysteme stabil machen, so ist das
ein historischer Irrtum. Das kann nicht funktionieren,
wenn Sie die Strukturen in unserem Lande nicht verändern.
Die Rente wird nur sicher, die Gesundheit wird nur
bezahlbar bleiben und die soziale Sicherheit für die
Ärmsten wird nur funktionieren, wenn Sie die Wachstumskräfte in Deutschland wieder anregen.
({33})
Das geht nur durch mehr Freiheit und indem Sie den
Menschen weniger abnehmen. Sie betreiben die Politik
von Rot-Grün weiter: Steuererhöhungen, Abkassieren,
mehr Schulden. Ob Sie das jetzt Schwarz-Rot nennen
oder ob es vorher Rot-Grün war: Unter dem Strich bleibt
es für die Bürger zu teuer. Das kostet Leistungskräfte
und soziale Gerechtigkeit in diesem Lande.
({34})
Übrigens: Es ist bemerkenswert, was gestern dazu
veröffentlicht worden ist. Auch darauf möchte ich Sie
aufmerksam machen.
({35})
- Das muss man einmal zur Kenntnis nehmen. - Es ist ja
berichtet worden, dass gesagt worden sei, die ökonomische Vernunft stehe in einem Widerspruch zur sozialen
Gerechtigkeit; ich glaube, Herr Heil war es.
({36})
- Er hat genau gesagt, unsere ökonomische Politik sei
ein Gegensatz zur sozialen Gerechtigkeit und Verantwortung.
({37})
- Der Weltökonom Poß hat einen Zwischenruf gemacht.
Jetzt sind wir aber eingeschüchtert. Wirklich! Oje!
({38})
Meine Damen und Herren, wir wollen an dieser Stelle
einmal festhalten: Die Armutskonferenz hat gestern veröffentlicht, dass im letzten Jahr eine halbe Million Kinder mehr auf Sozialhilfeniveau oder darunter leben
mussten, als das ein Jahr vorher der Fall gewesen ist.
Das ist eben der feine Unterschied. Es gibt eine Politik
der besten sozialen Absichten; die machen Sie. Es gibt
eine Politik der besten sozialen Ergebnisse; die machen
wir. Das ist besser.
({39})
Jetzt vertagen Sie die Steuerreformen. Sie verschieben die Unternehmensteuerreform auf den 1. Januar
2008. Gleichzeitig haben Sie die Idee einer Einkommensteuerreform fallen gelassen, weil Sie an dieses Thema
nicht herangehen wollen. Ihre Begründung: Deutschland
kann sich Steuersenkungen nicht leisten. - Wir sagen Ihnen: Deutschland kann es sich nicht leisten, auf ein
neues Steuersystem zu verzichten; das ist der eigentliche
Punkt. Glauben Sie wirklich, Österreich wartet, bis Herr
Steinbrück in die Puschen kommt?
({40})
Glauben Sie etwa, die Welt wartet auf die deutsche Bundesregierung? Die anderen Länder haben längst niedrigere, einfachere und gerechtere Steuersätze mit dem Ergebnis, dass sie halb so viele Arbeitslose haben, wie wir
sie in Deutschland leider - das ist traurig - noch immer
verzeichnen müssen.
Das ist in Wahrheit eine Frage der ökonomischen Vernunft. Es ist Unfug, zu glauben, dass die ökonomische
Vernunft der Freien Demokratischen Partei in einem Widerspruch zur sozialen Gerechtigkeit stehe, im Gegenteil: Wir sind eine weit sozialere Partei als die, die Sie
derzeit vertreten. Das merkt man bei Ihren Kundgebungen am 1. Mai und wo immer Sie noch sprechen werden.
({41})
Kommen wir zu dem nächsten Punkt, den Sie, Frau
Bundeskanzlerin, angesprochen haben, dem Bereich Bildung und neue Technologien. Über die Bildungspolitik
haben Sie vieles gesagt, was ich, insbesondere was die
Kompetenzen der Ebenen angeht, ähnlich sehe. Aber wir
müssen noch einen wesentlichen Punkt hinsichtlich der
neuen Technologien erwähnen. Wir werden in Deutschland davon leben, dass wir Vorsprung vermarkten. Diesen Vorsprung erreichen wir nur dann, wenn wir neue
Technologien zulassen. Nun haben wir gehört, wie sich
Herr Kuhn über die Energiepolitik und die Energiemonopole kritisch ausgelassen hat. Wir haben gesehen, was
er für einen Purzelbaum geschlagen hat. Diese ganzen
monopolistischen Strukturen auf dem Energiemarkt
gäbe es gar nicht, wenn Rot-Grün nicht diese ideologische Politik gemacht hätte; das wollen wir an dieser
Stelle einmal festhalten.
({42})
Was machen Sie jetzt bei den neuen Technologien?
Werden Sie die Laufzeiten der Kernkraftwerke wieder
verlängern oder bleibt es bei dem vorzeitigen Ausstieg?
Dazu habe ich von Ihnen keinen Ton gehört. Dadurch
werden 30 bis 40 Milliarden Euro volkswirtschaftliches
Vermögen vernichtet.
({43})
Das einzige Ergebnis wird sein, dass der Strom aus sehr
viel unsicheren Kraftwerken, vorzugsweise aus Osteuropa, nach Deutschland kommen wird. Das ist ökonomischer und ökologischer Irrsinn! Sie wissen das; Sie
haben das immer gesagt. Aber Sie finden nicht zusammen. Der kleinste gemeinsame Nenner ist nicht das richtige Rezept für Deutschland. Mut zu echten Neuanfängen und zu einem Politikwechsel, genau das braucht
Deutschland.
({44})
Wer in diesen Zeiten noch nicht verstanden hat, dass
neue Schulden und höhere Steuern nicht die Antwort
sind, der wird nur erleben, dass die Arbeitslosigkeit weiter steigt. Im letzten Jahr sind pro Woche 2 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in
Deutschland weggefallen. Das ist das Ergebnis von verschlafenen Reformen. Deswegen müssen Sie endlich mit
den Strukturreformen anfangen. Sie können sich nicht
damit herausreden, dass andere Sie behindern. Sie haben
die größte Machtfülle, die jemals eine Regierung gehabt
hat, und rühmen sich ihrer. Dann müssen Sie jetzt auch
endlich in die Gänge kommen und anfangen, Deutschland zu dienen! Das haben Sie unserem Land versprochen. Fangen Sie endlich damit an!
({45})
Das Wort hat nun der Vorsitzende der SPD-Fraktion,
Dr. Peter Struck.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Westerwelle, Ihre inhaltsleere Dröhnung ging mir
wirklich auf den Geist. Ich verstehe Ihre Fraktion nicht.
({0})
Ich gratuliere Ihnen herzlich dazu, Frau Kanzlerin, dass
Ihnen dieser Koalitionspartner erspart geblieben ist.
({1})
Sie haben null Alternativen angeboten. Was ist Ihre Antwort auf die Frage, wie die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen ist? Was sind Ihre Antworten hinsichtlich der Beschäftigungsförderungspolitik und der Familienpolitik?
({2})
Dazu haben Sie nichts gesagt. Stattdessen machen Sie
große Sprüche. So wird Ihnen der Wähler nie wieder
Vertrauen schenken - Gott sei Dank, füge ich hinzu.
({3})
Wir erleben heute eine besondere Situation. Uns liegt
zum ersten Mal ein Haushalt vor, den Peer Steinbrück
und die jetzige Bundesregierung zu verantworten haben.
Ich habe seit 1980 schon viele Haushaltsdebatten im
Bundestag mitgemacht und ich bedanke mich bei Ihnen,
Herr Finanzminister: Es ist ein Haushalt der Vernunft,
der den Anforderungen des kommenden Jahres entspricht.
({4})
Ich gratuliere Ihnen auch zu der soliden Haushaltsführung, die Sie damit bewiesen haben.
({5})
Das heißt zwar nicht, Herr Finanzminister, liebe Kolleginnen und Kollegen im Kabinett, dass wir alle Maßnahmen so beschließen werden, wie sie vorgelegt wurden. Wir werden im Haushaltsausschuss mit Sicherheit
noch einiges korrigieren.
Ich will einige Punkte nennen, bei denen mir Korrekturen wichtig sind. Das ist zum einen die Kürzung des
Weihnachtsgeldes für Angehörige des öffentlichen
Dienstes. Wir wollen eine soziale Staffelung erreichen.
Gerade in diesem Bereich kann man nicht alles über einen Kamm scheren.
({6})
Zum anderen müssen wir - das wird auch noch im
Rahmen der Einzelplanberatungen angesprochen werden - bei Maßnahmen zur Unterstützung von Menschen,
die sich gegen rechtsextremistische Bestrebungen in
Deutschland wehren, auf Kürzungen verzichten oder sogar mehr Mittel einsetzen. In diesem Bereich gibt es
viele Bürgerinitiativen. Ich will nicht, dass an dieser
Stelle gestrichen wird.
({7})
Außerdem müssen wir die Ansätze für die Bundeszentrale für politische Bildung korrigieren.
({8})
Herr Westerwelle hat einen Punkt besonders angesprochen, in dem ich ihm ausdrücklich Recht gebe. Dabei geht es um die großen Mehrheiten in dieser Koalition. Nie zuvor in der Geschichte unseres Landes hat es
die Situation gegeben, dass etwa 72 Prozent der Abgeordneten im Parlament die Regierung stützen und gleichzeitig auch im Bundesrat entsprechende Mehrheitsverhältnisse gegeben sind.
Ich sehe es so: Die große Mehrheit, die wir haben, bedeutet eine große Verantwortung. Das bedeutet auch,
dass wir die großen Zukunftsfragen unseres Landes lösen müssen. Wir können nicht davon ausgehen, dass die
Koalition nur bis zur Wahl 2009 besteht, und uns mit
Hinweis darauf, dass es dann andere Mehrheiten gibt
und die das dann machen sollen, nicht einfach davonstehlen.
Wir müssen stattdessen selbst die Zukunftsfragen lösen. Aus meiner Sicht geht es dabei erstens um die Arbeitslosigkeit, zweitens um Gesundheit, Pflege und
Rente und drittens um Familie. Von der Außenpolitik
will ich jetzt noch nicht sprechen.
Was die Arbeitsmarktpolitik angeht, haben Sie zu
Recht festgestellt, Herr Westerwelle: Das sieht ja noch
nicht so gut aus; es müsste mehr sein. Aber ich meine
nicht - auch im Gegensatz zur Kanzlerin -, wir hätten in
den ersten Monaten noch nichts gemacht. Wir haben
doch etwas gemacht: Wir haben ein Steuergesetz gemacht und die Abschreibungsbedingungen verbessert.
Diese Maßnahmen greifen auch. Dass das alles von
heute auf morgen wirkt, glaubt kein Mensch. Aber ich
bin fest davon überzeugt, dass sich die Arbeitsmarktentwicklung verbessern wird. Daran habe ich keinen Zweifel.
({9})
Der Arbeitsminister, Franz Müntefering, hat festgestellt, dass es zwei Problemgruppen gibt. Das sind die
unter 25-jährigen und die über 50-jährigen Arbeitslosen.
Für diese Gruppen müssen wir - gerade im Zusammenhang mit der Rente ab 67 - etwas tun.
Erlauben Sie mir dazu noch eine Bemerkung. Dass
wir vor den Landtagswahlen, die ziemlich bedeutend
waren, weil sie in drei Ländern stattfanden und für viele
Parteien sozusagen ein Gradmesser waren, ein Thema
wie die Rente mit 67 im Kabinett angepackt und entschieden haben, zeugt nicht gerade von politischer Feigheit, sondern von dem Mut, die Zukunftsfragen anzugehen.
({10})
Hinsichtlich der Rente mit 67 waren wir uns klar darüber, dass wir gerade für die über 50-Jährigen etwas tun
müssen.
Lassen Sie mich einen persönlichen Einschub machen. Ich kann Folgendes nicht verstehen: Auf Bilanzpressekonferenzen verkünden Unternehmen voller Stolz
die besten Gewinne in ihrer Unternehmensgeschichte
und hohe Dividenden und kündigen im nächsten Atemzug an, dass sie noch 10 000 Leute entlassen müssten.
Dafür habe ich kein Verständnis.
({11})
Ich erwarte auch von deutschen Unternehmen, dass
sie sich patriotisch verhalten.
({12})
Sie müssen dafür sorgen, dass nicht der ShareholderValue der Maßstab aller Dinge ist.
Zurück zum Thema Arbeitslosigkeit und insbesondere zum Thema Jugendarbeitslosigkeit: Wir werden die
Programme von Franz Müntefering noch intensivieren
müssen. Wir sind auf dem Weg, gerade in diesen Problembereichen etwas zu tun. Ich fahre morgen Nachmittag zu einer Firma in Berlin, die früher den Namen
Orenstein & Koppel trug. Diese Traditionsfirma in
Deutschland wurde von einem italienischen Konzern,
dessen Namen ich hier nicht nennen möchte, übernommen und macht Gewinn. Obwohl vorher noch Investitionen genehmigt worden sind, entscheidet die Konzernspitze: Wir machen den Laden dicht. - Ich habe dafür
kein Verständnis. Ich werde daher morgen den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern meine Solidarität zeigen; denn so geht es in unserem Land nicht.
({13})
Ich komme nun zum Gesundheits- und Pflegebereich.
Dass die Menschen von uns erwarten, eine Gesundheitsreform zu machen, die von Dauer ist und nachhaltig wirkt, brauche ich Ihnen nicht zu erläutern. Wir haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, das zu
schaffen. Wir schaffen es mit Ulla Schmidt an der Spitze
auch. Nun wird viel darüber spekuliert, wohin die Reise
geht. Auch ich weiß, dass die Unionsfraktion mit Frau
Merkel und Herrn Kauder, meinem Freund Kauder, an
der Spitze gegen eine Bürgerversicherung ist. Das kann
ich zwar nicht verstehen, aber dem ist wohl so.
({14})
Herr Kauder ist für eine Kopfpauschale.
({15})
- Nein, es heißt Kopfpauschale.
({16})
Es wird jedenfalls weder eine Bürgerversicherung
noch eine Kopfpauschale geben; das können wir festhalten. Aber davon, dass wir uns einigen werden, Herr
Kuhn - Sie haben ebenfalls spekuliert -, können Sie ausgehen. Wenn wir es nicht schaffen, einen „dritten Weg“
zu finden, dann haben wir es nicht verdient, weiter zu regieren; denn die Bevölkerung erwartet, dass wir dieses
Kernproblem lösen. Dafür haben wir die große Mehrheit. Wir werden es auf jeden Fall schaffen. Aber es wird
ein Ergebnis herauskommen, angesichts dessen viele
über uns herfallen werden; darin bin ich ganz sicher.
Denn bei den vielen Lobbyisten, die hier sind und auf
das Ministerium von Ulla Schmidt einzuwirken versuchen, gibt es keine Lösung, über die alle sagen: Das ist
das Ei des Kolumbus. - Wir müssen dann zu dem stehen,
was wir vereinbart haben. Ich habe keinen Zweifel daran, dass SPD und Union das tun werden.
({17})
Ich will noch ein Wort zur Familienpolitik sagen. Es
gab einige Probleme nach dem Genshagener Beschluss
zur steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten. Wir haben das nun ordentlich geregelt. In diesem
Zusammenhang ist mir eines aufgefallen - das sage ich
als Vater von drei erwachsenen Kindern und als Großvater von fünf Enkelkindern -: Wir geben in Deutschland
rund 100 Milliarden Euro - Peter Ramsauer hat vorhin
eine niedrigere Zahl genannt; das ist jedenfalls die Zahl,
die man mir mitgeteilt hat - für die Familienförderung
aus.
({18})
Zu diesem Ergebnis kommt man, wenn man alles, auch
die steuerlichen Vorteile, berücksichtigt. Ich finde, es
muss möglich sein, 1 Milliarde oder 2 Milliarden Euro
aus diesen 100 Milliarden Euro quasi herauszuschneiden, damit jeder Kindergartenplatz in Deutschland gebührenfrei ist.
({19})
Darin sind wir uns, Frau von der Leyen, mit der Kanzlerin einig. Wir müssen das nun auf den Weg bringen. Es
muss doch möglich sein, in unserem so gut organisierten
Staat einen Schnitt an dieser Stelle vorzunehmen und es
anders zu machen.
Das Elterngeld ist ein wichtiger Schritt auf einem
richtigen Weg. Ich möchte nur eine persönliche Bemerkung dazu machen: Der Staat kann so viel Geld für Kinder- und Familienförderung in die Hand nehmen, wie er
will. Aber das Entscheidende sollte eigentlich sein, dass
man Kinder in die Welt setzt, weil sie eine Freude und
eine Bereicherung des Lebens sind, und nicht, weil man
soziale Sicherungssysteme finanzieren will.
({20})
Noch ein kurzes Wort zur Außenpolitik - dann
komme ich zu Ihrer Kritik an meinem Kollegen Jörg
Tauss, Frau Kanzlerin, die ich so natürlich überhaupt
nicht akzeptieren kann -: Wir sind von Ihnen, Frau
Merkel, sowie vom Außenminister und vom Verteidigungsminister zum Thema Kongo informiert worden.
Ich halte an meiner Position fest, dass Europa eine große
Verantwortung für den afrikanischen Kontinent hat.
Wer denn, wenn nicht wir, soll da helfen?
({21})
Das ist so, und nicht nur aus den Gründen, die Sie genannt haben, Frau Merkel: Sie sehen ja die Flüchtlingsströme, die über den Maghreb zu uns kommen. Dieser
arme, geschundene Kontinent ist damals nämlich von
den Europäern kaputtgemacht worden. Also müssen
auch wir dabei helfen, ihn wieder aufzubauen; das ist
meine persönliche Einstellung.
({22})
Also: Generell Ja zu dem Einsatz. Wir brauchen allerdings einen klaren Auftrag für die Soldatinnen und Soldaten, eine klare Arbeitsteilung der europäischen Nationen und eine klare örtliche und zeitliche Begrenzung.
Ich werbe in meiner Fraktion um Zustimmung für den
Einsatz und ich habe keinen Zweifel, dass meine Fraktion diesen Einsatz mit großer Mehrheit mittragen wird.
Dieser Einsatz bedeutet übrigens keine Überforderung
der Bundeswehr. Herr Jung, da werden wir uns einig
sein: Diesen Einsatz mit diesem Kontingent kann die
Bundeswehr noch leisten.
Im Übrigen ist das, was wir anderswo, zum Beispiel
in Afghanistan, machen, hier nach wie vor besonders
hervorzuheben. Dass die Bundesregierung da in der
Kontinuität zu unserer rot-grünen Außenpolitik steht, ist
zu loben und dafür bedanke ich mich. Das ist ein Beitrag
von Steinmeier.
({23})
Zu Weißrussland haben wir etwas gesagt: Wir haben
einen gemeinsamen Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU, SPD, FDP und der Grünen; es ist gut, dass es diesen gemeinsamen Antrag gibt.
({24})
Man muss nur fragen, warum andere nicht dabei sind.
({25})
Ich sage nur: Wir in den Koalitionsfraktionen haben eine
klare Position zu den Menschenrechtsverletzungen in
Weißrussland.
Zum Föderalismus. Frau Merkel, ein Wort der Kritik
muss erlaubt sein, auch wenn ich Ihre Politik mittrage
- wie Sie wissen -, mal mehr und mal weniger.
({26})
- Ja, im Augenblick gerade weniger. - Es ist nicht so,
dass wir der Meinung wären, dass der Bund im Rahmen
der Föderalismusreform die Zuständigkeit für die Schulen bekommen sollte. Manche dröhnen so - ich habe einen Kollegen genannt; er spricht aber nicht für die Fraktion -,
({27})
aber das wollen wir nicht, das will niemand, weil jeder
weiß: Das geht ja gar nicht.
({28})
Ich habe in meiner ersten Rede zur Föderalismusreform,
die, wie ich gehört habe, auf der Regierungsbank nicht
nur Freude hervorgerufen haben soll - das ist mir aber
auch egal -,
({29})
einen Punkt nicht angesprochen, auf den ich jetzt ausdrücklich eingehen will: Ich glaube, dass in zehn oder
15 Jahren unsere Nachfolgerinnen und Nachfolger
- manche von uns werden auch noch dabei sein -, die
hier in diesem Plenarsaal sitzen und über Politik, über
die Probleme des Landes diskutieren werden, die Frage
aufwerfen, ob wir nicht zu viele Bundesländer haben, ob
wir wirklich 16 Bundesländer brauchen. Brauchen wir
die? Ich sage Nein.
({30})
Ich weiß, wie schwierig das ist; mein Freund Jens
Bullerjahn in Sachsen-Anhalt hat ja gerade in seinem
Wahlkampf gesagt, dass wir nicht so viele brauchen.
Auch an diesem Punkt muss man ansetzen, wenn man
eine wirkliche Föderalismusreform durchführen will.
Es bleibt dabei - das will ich noch als ernste Bemerkung zum Schluss sagen; Volker Kauder weiß das
auch -: Ich will im Rahmen der Föderalismusreform
keine Zuständigkeit des Bundes für die Schulen bekommen. Ich möchte lediglich erreichen, dass die Länder bereit sind, sich nicht dagegen zu wehren - das so genannte
Kooperationsverbot -, wenn der Bund in der Lage und
willens ist, ihnen Geld für Bildung zukommen zu lassen.
({31})
Ich begreife es tatsächlich nicht - da schaue ich auch in
Richtung FDP; auch Sie sind in Landesregierungen vertreten -,
({32})
dass in der Debatte so getan wird, als ob wir die Länder
zwingen wollten, Geld von uns anzunehmen. Ich will
darüber reden, wie wir eine Kooperation organisieren
können, wenn der Bund der Meinung ist, dass im Bildungsbereich, an Hochschulen oder Fachhochschulen etwas gemacht werden soll - nur darum geht es. Wenn wir
in dieser Frage zu einem Kompromiss kommen, habe ich
keinen Zweifel, dass die Föderalismusreform kommen
wird, und es ist auch gut, dass sie kommt.
Dem Finanzminister und der Kanzlerin wünsche ich
bei ihrem ersten Haushalt viel Erfolg - wir werden dazu
beitragen. Vielleicht können wir ein bisschen mehr sparen, Herr Finanzminister, sagen meine Haushälter jedenfalls; wir müssen aber vorsichtig sein dabei.
({33})
Insgesamt sind wir, glaube ich, auf einem guten Weg und
das Land kann sich auf diese Regierung verlassen.
Vielen Dank.
({34})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Oskar
Lafontaine noch einmal um das Wort gebeten.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Reihenfolge der Redner geht etwas durcheinander.
({0})
Wir dachten, es sei jetzt schon der Kulturetat an der
Reihe. Leider ist das nicht der Fall. Das gibt mir die Gelegenheit, auf einige der Argumente, die hier vorgetragen worden sind, kurz einzugehen.
Zunächst zu der Feststellung des Fraktionsvorsitzenden der SPD, dass er es bedauert, dass eine Reihe gut
verdienender Unternehmen nach wie vor Arbeitsplätze
abbauen. Ich begrüße es, Herr Fraktionsvorsitzender
Struck, dass Sie dies hier angesprochen haben, möchte
aber darauf hinweisen, dass der Appell an Unternehmen, sie müssten sich patriotisch verhalten, in unserer
wirtschaftlichen Ordnung schlicht und einfach ins Leere
geht. Unternehmen verhalten sich nicht patriotisch, Unternehmen wollen schlicht und einfach ihre Gewinne optimieren.
Ich will die Unterhaltung mit der Kanzlerin nicht stören, möchte aber trotzdem einen wichtigen Punkt ansprechen.
({1})
Die Situation, dass die Unternehmen zurzeit auf der einen Seite exorbitante Gewinne machen, auf der anderen
Seite aber Massenentlassungen ankündigen, ist ein unhaltbarer Zustand in unserer Gesellschaft.
({2})
Unsere Fraktion belässt es nicht bei dem Appell an
die Unternehmen, sich patriotisch zu verhalten - das haben wir nun schon jahrzehntelang getan -, sondern wir
machen zwei Vorschläge: Einmal wollen wir die so genannte Heuschreckendebatte aufgreifen, die der Arbeitsminister vor einigen Monaten angestoßen hat, und die
Zulassung solcher Fonds in Deutschland reregulieren.
Wir können dann hier testen, ob Sie es mit der Kritik
ernst gemeint haben, dass Unternehmen aufgekauft, ausgeschlachtet und dann wieder verkauft werden, oder ob
das schlicht und einfach wieder Wahlkampfgetöse war,
das keine reale Grundlage hatte. Wir werden einen solchen Vorschlag auf jeden Fall einbringen und namentliche Abstimmung beantragen.
({3})
Das Zweite betrifft - da könnte dem sehr beschäftigten Kollegen Struck weitergeholfen werden - die Bindung der Managergehälter an Aktienoptionen. Das ist
nämlich die Erklärung dafür, warum sich Vorstände
nicht mehr patriotisch verhalten. Auch Vorstände neigen
in unserer Wirtschaftsordnung dazu, ihre Einkommen
maximieren zu wollen. Solange Aktienoptionen in der
Vorstandsentlohnung in großem Umfang angeboten werden, werden die Vorstände auch bei exorbitanten Gewinnen weiterhin Personalabbaupläne ausarbeiten, weil sie
damit ihr eigenes Einkommen maximieren. Das muss
unterbunden werden. Einen entsprechenden Vorschlag
werden wir machen. Sie können dann zu diesem Vorschlag Ja oder Nein sagen.
({4})
Ich wollte noch einige Bemerkungen zu den Ausführungen der Bundeskanzlerin machen, die jetzt auch verschwunden ist. Ich frage für das Parlament, ob es überhaupt noch Sinn hat, zuzuhören, wenn diejenigen, die
sich geäußert haben, gleich verschwinden oder in tiefe
Unterhaltungen verstrickt sind.
({5})
Das ist auf jeden Fall keine Verfahrensweise, die dem
Parlament zum Ansehen gereicht.
({6})
Die Bundeskanzlerin hat ein paar Bemerkungen zu
ihrer Politik gemacht. Entscheidend aber war der Vorhalt, den der Kollege Westerwelle gemacht hat, als er
darauf verwiesen hat, dass sie vor einigen Monaten ein
Konzept zur Steuerpolitik unterschrieben hat, das zwar
nicht unser Konzept, aber immerhin ein Konzept war.
Wenn jemand einige Monate später etwas ganz anderes
vertritt, dann stellt sich die Frage, welche Konzeption
der Betreffende überhaupt hat. Das gilt nicht nur für die
Steuerpolitik, das gilt auch für die Gesundheitspolitik
und eine ganze Reihe anderer Politikbereiche. Die Frage,
wofür diese Regierung steht, kann nicht beantwortet
werden, wenn die Chefin dieser Regierung nicht in der
Lage ist, deutlich zu machen, für welche längerfristige
Konzeption sie eigentlich steht. Das ist das Bedauerliche an dem Vorhalt, den Herr Westerwelle hier gemacht
hat.
({7})
Ich habe einige Fragen zur Außenpolitik gestellt, die
alle nicht beantwortet worden sind. Es wäre erstens von
Interesse, zu erfahren, was die Kanzlerin unter Terrorismus versteht. Das könnte die Deutschen ja interessieren.
Offensichtlich ist sie nicht in der Lage, darauf eine Antwort zu geben. Es wäre zweitens von Interesse, zu erfahren, ob sie tatsächlich die Auseinandersetzungen im Vorderen Orient als Auseinandersetzungen über Freiheit und
Demokratie versteht oder ob sie erkennt, dass es hier um
die militärische Sicherung der Rohstoffe geht. Es wäre
von Interesse für die Deutschen, das zu erfahren. Die
Frage, ob eine Regierung in Zukunft das Völkerrecht respektiert, kann doch nicht so abenteuerlich sein, dass
man darauf keine Antwort weiß.
({8})
Die Frage ist, welchem Zweck Debatten überhaupt noch
dienen. Der Kollege Kuhn, der leider auch nicht mehr
anwesend ist, hat eine Frage aufgeworfen, die auch relevant ist, nämlich auf welcher Grundlage man mit dem
Iran verhandelt.
({9})
Wenn man mit dem Iran verhandelt, dann muss man
doch eine klare Antwort auf eine Kernfrage der atomaren Rüstung haben: Meint man, eine gerechte Weltordnung könne aufgebaut werden, wenn die einen Atomwaffen für sich beanspruchen, während man sie den
anderen im gleichen Atemzug verbietet? Diese Frage
muss doch beantwortet werden.
({10})
Eine Regierung muss doch irgendeinen gedanklichen
Ansatz dazu vortragen können. Es ist erschütternd, zu
sehen, wie heute das Prinzip der Beliebigkeit gilt.
({11})
Man erzählt irgendetwas Gefälliges und glaubt, es werde
irgendwie ankommen. Das ist mittlerweile Grundlage
der Politik.
Ich will zu zwei Punkten, die die Kanzlerin angesprochen hat, noch kurz etwas sagen:
Sie hat die Rentenpolitik der Regierung mit der Aussage gerechtfertigt, die demografische Entwicklung erfordere zwingend die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Diese Aussage stößt zwar auf große Zustimmung,
ist aber schlicht und einfach grundfalsch. Das Lebensalter darf nicht über die Rentengesetzgebung entscheiden.
Entscheidend ist nun einmal die Produktivitätsentwicklung unserer Volkswirtschaft. Schon seit langem steigt
die Lebenserwartung der Menschen. Trotzdem haben
wir das Rentensystem aufgrund enormer Produktivitätssteigerungen in diesem Umfang bewahren können. Deshalb ist es schlicht falsch, zu behaupten, die demografische Entwicklung bestimme die Rentengesetzgebung.
Entscheidend ist die Entwicklung der Produktivität unserer Volkswirtschaft.
({12})
Leider wird von diesem zentralen Begriff überhaupt
nicht geredet, wenn diese Frage hier angesprochen wird.
Ich will noch etwas zur Familienpolitik sagen. Es
war wieder sehr spannend, festzustellen, dass man darauf verweist, dass die Geburtenrate zurückgegangen ist.
Ich sage hier für meine Fraktion: Die Geburtenrate eines
Volkes ist das Urteil ebendieses Volkes über die Wirtschafts- und Sozialpolitik seiner Regierung.
({13})
Diesen Zusammenhang muss man sehen. Wenn man ihn
nicht sieht, dann kann man keine Familienpolitik machen, die zu anderen Geburtenraten führt.
In diesem Zusammenhang sprach die Kanzlerin von
der Verlässlichkeit und vom Kündigungsschutz. Sie
meinte, beim Kündigungsschutz komme es darauf an,
beim Abbau des Kündigungsschutzes verlässlich zu
sein. Hier möchte ich noch einmal sagen: Wenn Menschen eine Familie gründen wollen - um diese Menschen geht es -, dann suchen sie eine ganz andere Form
von Verlässlichkeit als die Scheinverlässlichkeit, von der
die Kanzlerin hier gesprochen hat. Diese Menschen
möchten verlässlich wissen, ob sie in ein paar Monaten
noch Geld auf dem Konto haben.
Solange Arbeitsmarktpolitik darin besteht, alles abzubauen, was den jungen Menschen diese Verlässlichkeit
geben könnte, so lange werden keine Familien gegründet
und so lange werden in Deutschland immer weniger
Kinder zur Welt kommen.
({14})
Ich erteile das Wort nun dem Staatsminister im Kanzleramt, Bernd Neumann.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung am
30. November 2005 gesagt - ich zitiere -:
Deshalb ist Kulturförderung für diese Bundesregierung keine Subvention. ... Sie ist eine Investition,
und zwar eine Investition in ein lebenswertes
Deutschland.
Ich wiederhole das gern. Die Bundesregierung bekennt
sich zu ihrer kulturpolitischen Verantwortung. Kunst
und Kultur stärken das geistige Fundament und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Eine lebenswerte, eine
kreative und eine offene Gesellschaft ist ohne Impulse,
die die Künste geben, nicht denkbar.
({0})
Mit diesem Haushalt unterstreicht die Bundesregierung, dass sie ihrer kulturpolitischen Verantwortung gerecht wird. Ich konnte mich mit meiner Zielsetzung
durchsetzen, den Kulturhaushalt vor Kürzungen zu bewahren, obwohl im früheren Entwurf eine erneute globale Minderausgabe vorgesehen war. Mehr noch: Es ist
gelungen, den Ansatz für die Kulturförderung im vorliegenden Gesetzentwurf zu erhöhen.
({1})
Es steigt der verfügbare Gesamtbetrag für 2006 gegenüber dem Haushaltsjahr 2005 um 2,1 Prozent. Die
von uns geförderten Einrichtungen werden von Kürzungen also verschont. Sie haben im BKM einen verlässlichen Partner.
({2})
In Zeiten knapper Kassen und dramatischer Sparzwänge ist dies für die Kultur in Deutschland ein wichtiges positives Signal, auch in Richtung Länder und Kommunen.
({3})
Die Kultur darf eben nicht zum Steinbruch bei der Sanierung der Staatsfinanzen werden.
({4})
Sie ist die geistige Basis, die Klammer, die unsere Gesellschaft bei zunehmender Globalisierung und Orientierungslosigkeit zusammenhält. Sie gibt uns Halt, Heimat
und Identität zugleich.
({5})
Im Zeitraum von 2001 bis 2004 verzeichnen wir auf
der Länderseite einen Rückgang der Kulturausgaben um
250 Millionen Euro und bei den Gemeinden einen Rückgang um 230 Millionen Euro.
({6})
- Herr Otto, das war die Antwort auf die von Ihnen gestellte Frage. Das ist ein Minus von 6,8 Prozent bzw.
6,2 Prozent.
({7})
Die Kulturausgaben des Bundes bleiben dagegen im
Prinzip stabil. Wir haben im letzten Jahr, 2005, mit
1,038 Milliarden Euro etwa die gleiche Ausgabenhöhe
wie 2001.
Es verwundert daher nicht, dass in diesen Tagen die
Städte Wittenberg, Wolfenbüttel und Weimar ihre Thesen zur kulturpolitischen Situation in Deutschland vorgestellt haben. Das hat seinen Grund. Die Autoren stellen fest, man könne nicht die kulturpolitischen
Kompetenzen auf Bundesebene beschneiden wollen bei
gleichzeitiger Absenkung der Kulturfinanzierung auf
Länder- und Kommunalebene; das schade dem Anspruch Deutschlands als Kulturstaat.
({8})
Ihre Schlussfolgerung angesichts der sinkenden Ausgaben der Länder ist ein Appell an den Bund, hier stärker tätig zu werden. Das ist gut gemeint, aber der Bund
kann nicht finanziell das ausgleichen, was die Länder
einsparen,
({9})
zumal sich seine Verantwortung auf Bereiche von nationaler und gesamtstaatlicher Bedeutung beschränkt.
Diese nimmt er sehr engagiert wahr.
Ich habe in der vergangenen Woche Weimar - international Inbegriff deutscher Kultur - besucht. Hier
kommt der Bund seiner gesamtstaatlichen Verantwortung nach. Wir unterstützen die Klassik Stiftung Weimar
mit 11 Millionen Euro im Jahr und wir verlängern die
Traditionslinien Weimars zur zeitgenössischen Kunst
auch in diesem Jahr, indem wir, anders als geplant, das
Kunstfest Weimar erneut fördern. Hier wird das Bekenntnis zur Kulturnation mit Taten unterlegt.
({10})
Nicht alles ist finanzierbar. Deutschland ist kein Staatenbund, sondern ein Bundesstaat. Deutschland ist eine
europäische Kulturnation. Daraus ergibt sich für mich
geradezu eine Verpflichtung zu föderaler Kooperation
zwischen Bund und Ländern. Dieser Verpflichtung
kommt die Bundesregierung nicht nur durch einen stabilen Haushalt, sondern auch durch Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Kultur nach. Wir haben im letzten Vierteljahr die Beibehaltung des ermäßigten
Mehrwertsteuersatzes für Kulturgüter beschlossen.
({11})
Wir haben mit dem Folgerecht im Kunsthandel für
Künstler EU-weit vergleichbare Bedingungen geschaffen.
({12})
Wir haben mit der UNESCO-Konvention zum Verbot
der rechtswidrigen Übereignung von Kulturgut auch
dem Kunsthandel weltweit eine sichere Grundlage gegeben. Wir haben mit der im Kabinett beschlossenen Novelle des Urheberrechts mit dem Wegfall der Bagatellklausel, die an sich vorgesehen gewesen ist, ein
wichtiges Signal für den Schutz des geistigen Eigentums
von Künstlern und Autoren gesetzt.
({13})
Die kulturpolitische Rolle des Bundes liegt ganz konkret in der Förderung dessen, was von nationaler gesamtstaatlicher Bedeutung ist. Das gilt nicht nur, aber
auch für die Hauptstadt.
({14})
Unser größtes Projekt in Berlin ist die Fertigstellung der
Museumsinsel. Das ist ein nationales Projekt mit internationaler Ausstrahlung. Schon jetzt ist dieses WelterbeEnsemble einer der bedeutendsten Orte der Kunst in der
Welt. Unser Haushalt macht es möglich, ohne Zeitverzug an der weiteren Umsetzung des so genannten Masterplans zur Sanierung der Museumsinsel in Berlin-Mitte
zu arbeiten. Es ist unser größtes Bauvorhaben und es
zeigt eindrucksvoll, was es heißt, in Kultur zu investieren.
({15})
Es bedarf einer gemeinsamen Anstrengung, der Bedeutung der Kultur und ihrer Förderung auch mit Blick
auf den Haushalt Nachdruck zu verleihen.
({16})
Diese Anstrengung muss sich jährlich wiederholen, auch
für den Haushalt 2007, Herr Kollege Kampeter.
({17})
Ich bin der Überzeugung: Der vorgelegte
Haushaltsentwurf 2006 ist eine Basis, die fraktionsübergreifend tragfähig ist und die an sich von allen Parteien
unterstützt werden könnte.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Dr. Angelica
Schwall-Düren für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern war die positive Nachricht zu vernehmen, dass
der Geschäftsklimaindex erneut, zum vierten Mal in
Folge, angestiegen und auf ein Niveau geklettert ist wie
seit 1991 nicht mehr. Wahrlich eine erfreuliche Botschaft; aber die FDP, insbesondere Herr Gerhardt und
Herr Westerwelle, setzt das Schlechtreden Deutschlands
fort
({0})
und trägt damit weiterhin zu einem Klima bei, das den
Investitionen nicht gerade zuträglich ist.
({1})
Deutschland ist auf einem guten Weg. Das ist auch
wichtig; denn Deutschland wird als Motor in Europa
gebraucht. Gleichzeitig profitiert unser Land aber auch
von der Europäischen Gemeinschaft
({2})
und ihren Initiativen. Deshalb ist es richtig und wichtig,
dass sich die Regierung der großen Koalition zusammen
mit den Regierungen der anderen EU-Mitgliedstaaten
für eine koordinierte Wachstumspolitik mit sozialem Gesicht einsetzt. Damit steht sie in der Tradition der sozialdemokratisch geführten Vorgängerregierungen, die sich
mit den Reformen der Agenda 2010 den Herausforderungen der Zeit gestellt hatten.
Zugegeben: Die unter mehrheitlich sozialdemokratischen Regierungschefs im Jahr 2000 aus der Taufe gehobene Lissabonstrategie war in den vergangenen Jahren
nur mäßig erfolgreich. Vielleicht fehlte hier der starke
Impuls aus Deutschland; denn Reformen waren ja nicht
leicht umzusetzen. Nicht umsonst - so weit mein dezenter Hinweis - wollen wir einen Teil der Blockademöglichkeiten durch eine Föderalismusreform aufheben.
Dies ist aber kein Grund, an den Zielen der Lissabonstrategie zu zweifeln. Die EU hat einen neuen Anlauf
genommen. Die Mitgliedstaaten haben sich verpflichtet,
nationale Reformprogramme zu erstellen. Die wesentlichen Elemente des deutschen nationalen Reformprogramms sind in die Koalitionsvereinbarung eingegangen. Unser Programm setzt die begonnenen
Strukturreformen der Vorgängerregierungen fort.
({3})
Heute ist schon viel zu den einzelnen Schwerpunkten in
den Bereichen Arbeitsmarkt, Altersversorgung und Familienpolitik gesagt worden. Ich will hier nur betonen,
dass die EU-Kommission uns in ihrem Bericht zu den
nationalen Reformprogrammen ausdrücklich bescheinigt
hat, dass wir auf einem guten Wege sind.
Das nationale Reformprogramm zeigt: Wir werden in
unserem Land mehr investieren und private Investitionen unterstützen. Im Bereich Forschung und Entwicklung werden bis 2009 mehrere Milliarden zusätzlich
zur Verfügung gestellt, sodass wir realistischerweise bis
2010 das Ziel der Investitionen in Höhe von 3 Prozent
des Bruttoinlandsproduktes erreichen können.
Wir investieren in die Verkehrsinfrastruktur bis 2009
zusätzlich insgesamt 4,3 Milliarden Euro.
({4})
Wir geben Bürgern, Unternehmen und Kommunen Unterstützung für ihre Investitionen. Dazu haben wir unter
anderem ein ehrgeiziges CO2-Minderungsprogramm
aufgelegt. Wir schaffen die Möglichkeit, bis zu 600 Euro
an Handwerksleistungen von der Steuerschuld abzuziehen. Damit ermöglichen wir nicht nur Einsparungen von
Kosten und Energieverbrauch; wir sorgen auch für günstige Voraussetzungen für die Schaffung und Erhaltung
von Arbeitsplätzen.
({5})
Deutschland und Europa können im weltweiten Wettbewerb nur dann ihre starke Position behalten, wenn den
Innovationen freie Bahn geschaffen wird. Im Gegensatz
zu dem, was Sie, Herr Kuhn, ausgeführt haben, unterstützen wir den Technologietransfer und den Marktzugang von innovativen Produktionsmethoden und Produkten. Die nachhaltige Energiepolitik - wir stehen da in
einer guten gemeinsamen Tradition - mit dem Ausbau
regenerativer Energiequellen sowie der Weiterentwicklung von Effizienz- und Einspartechnologien ist deshalb
ein gutes und wichtiges Beispiel für diese Strategie. Die
dafür notwendige Kreativität und Flexibilität finden sich
vor allem bei den kleinen und mittleren Unternehmen.
Deshalb setzt die Bundesregierung im Einklang mit der
EU hier einen Förderschwerpunkt.
({6})
Wie schon in der Vergangenheit wird auch in dieser
Legislaturperiode daran gearbeitet, die Unternehmen in
Deutschland und in der Europäischen Union von unnötigem bürokratischem Ballast zu befreien. Die Kanzlerin
hat bereits darauf hingewiesen. Bürokratieabbau darf
aber nicht Deregulierung um ihrer selbst willen bedeuten
nach dem neoliberalen Motto der FDP „Der Markt wird
schon alles regeln“.
({7})
- Ich sage das deswegen, weil es richtig ist. - Der Markt
kann gerade nicht die menschlichen Beziehungen regeln.
Inzwischen weiß es fast jeder, vielleicht mit Ausnahme
der FDP: Der soziale Zusammenhalt, den wir in
Deutschland und in Europa gewöhnt sind, ist ein ganz
wichtiger Produktionsfaktor, dem wir unsere hohe Produktivität entscheidend zu verdanken haben.
({8})
Darum ist es unabdingbar, dass wir in Deutschland
und in Europa die soziale Dimension stärken. Ich bin
deshalb der Bundeskanzlerin sehr dankbar, dass sie vergangene Woche auf dem Frühjahrsgipfel für den Kompromiss bei der Dienstleistungsrichtlinie eingetreten
ist, den das Europäische Parlament erarbeitet hat. Wir
können Europa nur gemeinsam mit der Bevölkerung
bauen, wenn wir den Menschen nicht jegliche Sicherheit
nehmen. Deshalb sage ich: Dynamisierung des Dienstleistungsmarktes durch freien Marktzugang für alle EUBürger: ja, aber unter Einhaltung der jeweiligen Sozial-,
Qualitäts- und Verbraucherschutzstandards am Ort der
Erbringung der Dienstleistungen.
({9})
Wir setzen darauf, dass die Bundesregierung im weiteren Beratungsverlauf zur Erarbeitung eines gemeinsamen Standpunktes des Rates die noch offenen Fragen
sorgfältig klärt und in Abstimmung mit dem Bundestag
die Präzisierung der Dienstleistungsrichtlinie voranbringt.
Freier Marktzugang für Dienstleister und Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Ablauf der Übergangsfrist verlangen auch nach einer Regelung heimischer Mindeststandards. Ich bin deshalb sehr froh, dass Arbeitsminister
Franz Müntefering bis zum Herbst ein Paket vorlegen
will, mit dem der Niedriglohnbereich geregelt werden
soll. Ob hier Kombilöhne eine stärkere Rolle als in der
Vergangenheit spielen können, halte ich für sehr fraglich. Sicher müssen wir Lösungen für das Entsendegesetz und für die Mindestlöhne finden. Denn wer hart arbeitet, braucht eine anständige und existenzsichernde
Entlohnung.
Eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung kann
nur gelingen, wenn die ökonomischen Zusammenhänge
beachtet werden. Dabei sind tragfähige öffentliche Finanzen ein zentrales Element. Das gilt für Deutschland
und für Europa. Beim Europäischen Rat im Dezember
2005 haben die Staats- und Regierungschefs eine Einigung über die künftige Finanzierung der EU erzielt.
Die Bundesregierung konnte maßgeblich zum Zustandekommen dieses Kompromisses beitragen.
({10})
Mit dieser Einigung wurde die finanzielle Grundlage
für die künftige europäische Politik geschaffen. Gleichzeitig überfordert der gefundene Kompromiss die Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten nicht, sondern er
unterstützt die notwendigen Konsolidierungsanstrengungen. Es ist nun wichtig, dass dieser Kompromiss zusammen mit dem Europäischen Parlament und der Kommission umgesetzt wird. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass
rechtzeitig eine Einigung gelingt, damit die europäischen Politiken kontinuierlich fortgesetzt werden können.
({11})
Im Hinblick auf die nationalen öffentlichen Finanzen
wurde mit der Reform des europäischen Stabilitätsund Wachstumspaktes - das sage ich auch in Richtung
Herrn Lafontaine - die Voraussetzung für eine ökonomisch sinnvolle Anwendung des Paktes geschaffen. Unser Finanzminister Peer Steinbrück hat gestern klar gemacht, dass wir einerseits den Pakt künftig wieder
einhalten werden, dass aber andererseits eine nachhaltige Konsolidierung nicht allein durch Einsparungen erreicht werden kann.
({12})
Wir müssen die Konjunktur stärken und entsprechende
Anreize schaffen.
({13})
- Das tun wir auch. Wir sparen jede Menge.
({14})
Das in Genshagen beschlossene Investitionsprogramm trägt dazu bei, die Wachstumsschwäche in
Deutschland zu überwinden, und schafft damit die Voraussetzung für eine nachhaltige Haushaltskonsolidierung. Der Ansatz, die konjunkturelle Belebung im laufenden Jahr zu stützen und dann die Maastrichtkriterien
in 2007 wieder einzuhalten,
({15})
ist ökonomisch geboten und macht den Stabilitäts- und
Wachstumspakt bei den übrigen Mitgliedstaaten glaubwürdiger.
({16})
Viele Menschen sind durch die Auswirkungen des
internationalen Wettbewerbs verunsichert. Sie haben
die EU im Verdacht, für den Verlust von Arbeitsplätzen
verantwortlich zu sein. In der Summe ist das Gegenteil
der Fall. Die Erweiterung der Europäischen Union hat
ökonomisch positive Auswirkungen insbesondere auf
Deutschland. Die Zahl der deutschen Exporte in die Beitrittsländer ist enorm gestiegen. Deutschland und Österreich haben bislang von der erweiterten europäischen
Arbeitsteilung am meisten profitiert. Die Gewinner sind
allerdings vor allem technologisch fortgeschrittene, kapitalintensive Wirtschaftszweige wie der Maschinenund Anlagenbau, die Chemie- und Kraftfahrzeugindustrie und die Umwelttechnologien.
Wir wissen aber auch, dass Direktinvestitionen westeuropäischer Unternehmen in die neuen Mitgliedstaaten
nicht nur durch das Interesse der Markterschließung,
sondern ganz wesentlich auch durch teilweise niedrigere
Steuern und Lohnkosten bestimmt werden. Standortverlagerungen dienen dazu, Teile der Wertschöpfungskette in Niedriglohnländer zu verlagern und damit die
Vorleistungen für die Produktion im Stammland zu verbilligen. Damit lässt sich zwar die Position der Unternehmen im globalen Wettbewerb stärken. Doch fallen
die sozialen Kosten insbesondere für Arbeitsplätze, für
die eine geringe Qualifizierung nötig ist, im Stammland
an. Importwettbewerb und die Verlegung von Produktionsstandorten erzeugen in den betroffenen Branchen
einen enormen Druck auf die Löhne, vor allem auf diejenigen niedrig qualifizierter Beschäftigter.
Um Europapolitik für die betroffenen Menschen positiv erfahrbar zu machen, müssen neben Standards im
Verbraucherschutz, bei der Produktionssicherheit und im
Umweltschutz dringend notwendige Regelungen getroffen werden, zum Beispiel die Festlegung von Mindestlöhnen, die ich schon erwähnt habe. Es gilt, lange Versäumtes unverzüglich nachzuholen.
({17})
- Das war unter anderem deswegen nicht möglich, weil
die Debatte in den Gewerkschaften noch nicht weit genug vorangekommen ist.
({18})
Aber wir kommen in dieser Frage voran und werden
dazu noch in diesem Herbst eine Entscheidung treffen.
Mit uns wird Deutschland ein Land mit hohen Löhnen und hoher sozialer Sicherheit bleiben.
({19})
Angesichts der angespannten Situation am deutschen
Arbeitsmarkt kann gegenwärtig die generelle Öffnung
für Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten nicht ernsthaft
erwogen werden. Ein Zuzug besonders von gering qualifizierten Arbeitnehmern würde zu weiteren Verwerfungen führen und von unseren Bürgern und Bürgerinnen
nicht verstanden. Der Beschluss der Bundesregierung
beweist, dass die Sorgen und Nöte der Menschen in unserem Land ernst genommen werden und sie die konkrete Politik beeinflussen. Das schafft Akzeptanz für
deutsche Politik und für die europäische Integration.
Dies wirft aber auch die Frage nach den nächsten Erweiterungsschritten auf. Der Vertrag über den Beitritt
Bulgariens und Rumäniens zur EU wurde am
25. April 2005 in Luxemburg unterzeichnet und muss
von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Die deutsche Bundesregierung steht zu unterzeichneten Verträgen. In der Koalitionsvereinbarung haben wir verabredet, im Lichte der für Mai angekündigten Berichte und
der Empfehlung der EU-Kommission über die Ratifizierung zu entscheiden. Der Deutsche Bundestag wird ausführlich darüber beraten. Wir wissen, dass die Länder
derzeit noch Defizite bei der Implementierung des Gemeinschaftsrechts aufweisen. Wenn wir die Bürger in allen Mitgliedstaaten von der Richtigkeit der europäischen
Politik überzeugen wollen, müssen die Beitrittskandidaten die vereinbarten Kriterien für die Aufnahme in die
EU einhalten. Rumänien und Bulgarien stehen also vor
einer großen Aufgabe, die in sehr kurzer Zeit gelöst werden muss. Aber beide Länder wissen Deutschland an ihrer Seite. Wir werden, soweit möglich, Unterstützung
leisten.
({20})
An der Entscheidung über die Beitrittsverhandlungen
mit Kroatien und der Türkei mit dem Ziel, ihnen die
Vollmitgliedschaft zu eröffnen, halten wir ebenso fest.
({21})
Die Verhandlungen werden ergebnisoffen geführt und
wir wissen, dass sie noch viele Jahre dauern werden.
Deutschland wird weiter daran arbeiten, mit einer umsichtigen Erweiterungspolitik, die die Aufnahmefähigkeit der EU nicht überfordert, einen wichtigen Beitrag zu
Frieden und Stabilität auf unserem Kontinent zu leisten.
Wir werden auch zukünftig in Europa keine religiösen
Grenzen ziehen. Die EU ist eine Werte-, aber keine Religionsgemeinschaft. Das muss auch für Ministerpräsidenten deutscher Bundesländer gelten.
({22})
Gleichwohl sind wir in der Pflicht, das Spannungsverhältnis zwischen der außen- und sicherheitspolitisch gebotenen und erwarteten Fortführung des Erweiterungsprozesses und den europapolitischen Notwendigkeiten
einer Konsolidierung der Grundlagen der EU aufzulösen. Die EU muss ihre Glaubwürdigkeit nach außen und
nach innen erhalten und gleichzeitig ihre Handlungsspielräume erweitern. Ich bin deswegen überzeugt, dass
die Ausgestaltung der europäischen Nachbarschaftspolitik von enormer Bedeutung sein wird. Die Attraktivität
dieses Instruments muss im Sinne der EU und der betroffenen Länder gesteigert werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das größere Europa
braucht veränderte Regeln. Die Ursachen, die zur
Ablehnung des Vertrags über eine europäische Verfassung in Frankreich und den Niederlanden geführt
haben, müssen wir in einer gemeinsamen Kraftanstrengung bekämpfen. Wir wollen und müssen den Menschen
deutlicher machen, wie nützlich gemeinsame Politik in
Europa für alle ist. Dem Unbehagen gegenüber den sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Globalisierung
sowie der mangelnden Transparenz von europäischen
Entscheidungen muss eine deutlich soziale und demokratische Politik entgegengesetzt werden.
Lange Jahre war die EU für die Bürger Garant für
Frieden und Sicherheit in Europa. Sie wurde nicht infrage gestellt, aber auch wenig beachtet. Heute bezweifeln die Menschen, ob die EU angesichts der rasanten
Globalisierung und des verschärften internationalen
Wettbewerbs den Lebensstandard ihrer Bürger sichern
kann. Wir befinden uns also nicht in einer Verfassungskrise, sondern in einer Vertrauenskrise und wir müssen
aus der Ratifizierungskrise herauskommen. Die vereinbarte Reflexionsphase sollten alle nationalen Parlamente, das Europäische Parlament, die Regierungen, die
Sozialpartner, die zivilgesellschaftlichen Gruppen und
die politischen Parteien nutzen, um eine öffentliche Debatte zu führen.
Wir unterstützen ausdrücklich die Vereinbarungen der
Kabinettsklausur in Genshagen vom Januar 2006. Ich
zitiere:
Wir wollen in Europa ein günstiges politisches
Klima schaffen, das es ermöglicht, unter deutscher
EU-Präsidentschaft neue Anstöße für einen erfolgreichen Abschluss des Verfassungsprozesses zu geben.
Es steht außer Frage, dass dabei der sozialen Dimension der EU eine herausragende Rolle zukommt. Es gibt
großen Diskussionsbedarf, um Ideen und Vorschläge zu
formulieren, die von den Staats- und Regierungschefs
aufgegriffen werden können. Auch wir als Deutscher
Bundestag sind hier in der Pflicht. Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich aktiv und engagiert in die Debatte einbringen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({23})
Nächster Redner ist der Kollege Markus Meckel,
SPD-Fraktion.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Debatte über den Haushalt des Bundeskanzleramtes nähert sich dem Ende und gleich beginnt
die Debatte über die Außenpolitik. An dieser Schnittstelle versuche ich, den Blick auf unsere europäischen
Nachbarn, das heißt auf Weißrussland und die Ukraine,
zu richten.
({0})
Einige von uns haben die Wahl in Weißrussland beobachtet. Wir haben gemeinsam feststellen müssen, dass
diese Wahl, so die formale Sprache der OSZE, weder
fair noch frei war. Wir könnten auch sagen: Es war eine
gut organisierte Wahlfarce, die wir miteinander erlebt
haben.
({1})
Das war nichts Neues, wir haben das vorher schon bei
einem Referendum und früheren Wahlen erlebt. Neu ist
aber - das ist ein Zeichen der Hoffnung -, dass es diesmal mit Milinkewitsch einen gemeinsamen Kandidaten
der Opposition gab und dass der Wahlkampf gut organisiert war. Neu war auch, dass die Sozialdemokraten im
Vorfeld kooperiert haben, auch wenn die Sozialdemokraten aus der Koalition - wir müssen das leider bekennen später nicht mitgemacht haben.
({2})
Ihre Kooperation war wichtig. Wir können nur hoffen
und sie auffordern, die Gemeinsamkeit der Opposition
auch in Zukunft weiter zu erhalten. Das ist eine Schlüsselfrage für die Zukunft von Belarus.
({3})
Wir haben mit Zittern auf den Sonntagnachmittag und
-abend gewartet, weil angekündigt war, dass Blut fließen
würde. Gewalt wurde angekündigt, und zwar durch verschiedenste Intrigen und Mittel. Es wurden öffentliche
SMS versandt, in denen davor gewarnt wurde, zum Oktoberplatz zu kommen. Es war ungeheuer bewundernswert, dass plötzlich 10 000 Menschen zum Oktoberplatz
kamen, die viele Stunden lang in großer Kälte trotz der
Drohungen für Freiheit und Demokratie protestiert haben. Es war ein großes Erlebnis für diejenigen, die dabei
waren. Diese Menschen haben deutlich gemacht: Wir
lassen uns die Zukunft durch den Wahlbetrug und das
autoritäre System nicht verbauen.
({4})
Es hat hundertfache Verhaftungen gegeben.
({5})
- Zu den 700 muss man noch die hinzuzählen, die schon
vorher in Haft waren. Wir müssen Lukaschenko in aller
Deutlichkeit auffordern, diese Menschen freizulassen.
Darüber hinaus müssen wir auch Präsident Putin auffordern, sich für die schnelle Freilassung der Menschen einzusetzen.
({6})
Die Vorkommnisse machen deutlich: Belarus und die
Ukraine sind eine europäische Herausforderung. Wir
müssen deutlich machen, dass wir an der Seite der Demokratiebewegung stehen. Es ist daher gut, dass der Europäische Rat vorgeschlagen hat, Milinkewitsch im
April einzuladen, um mit ihm über die Zukunft zu sprechen.
Wir müssen uns auch fragen: Was tun wir? Es ist richtig und gut, dass wir in der EU beschlossen haben, die
Sanktionen bei der Visaerteilung deutlich zu erweitern.
Ich sage: Jeder Polizist, von dem man namentlich weiß,
dass er Gewalt angewandt hat, jeder Richter, der an Verurteilungen beteiligt war, und jeder Schuldirektor oder
Universitätsrektor, der Menschen, die sich an den Demonstrationen beteiligt haben, von der Schule oder Universität verweist, gehört auf die Liste derjenigen, die
kein Visum für Länder der Europäischen Union erhalten.
({7})
Wir müssen natürlich auch die Nachbarländer, das heißt
die Ukraine, Kroatien, Rumänien und Bulgarien - die
Länder, in die die Nomenklatura gern in Urlaub fährt -,
für dieses Vorhaben gewinnen, damit diese Liste Geltung erhält.
Wir müssen aber noch mehr tun. Wir müssen die
Kontakte in die Gesellschaft hinein befördern. In diesem
Zusammenhang wäre es eine Katastrophe, wenn in Zukunft die Schengenvisa nach Polen und Litauen, in die
unmittelbaren Nachbarländer - bisher kosteten die Visa
60 Euro -, bezahlt werden müssten. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass die Gebühren für Schengenvisa für
Leute, die sich in NGOs oder der Opposition engagieren,
billiger sind. Ansonsten würden wir die Kommunikation
abbrechen, indem wir Barrieren schaffen. Das wäre eine
Katastrophe.
Ebenso sollten wir neue und bessere Instrumente zur
Unterstützung von NGOs schaffen. In der EU haben wir
durchaus manches versucht. Das ist aber zu bürokratisch
und zu schwerfällig. Das reicht nicht wirklich. Ich trete
daher sehr dafür ein, dass wir eine europäische Stiftung
für Demokratie schaffen, die kurzfristig kleinere Summen zur Verfügung stellen kann, damit wir NGOs in
Belarus und anderen Ländern flexibel unterstützen können. Wir wissen, dass eine Zivilgesellschaft oft keine
Unterstützung in Millionenhöhe braucht, sondern kleinere Summen, die schnell, flexibel und auf direktem
Weg von einer kompetenten Stiftung zur Verfügung gestellt werden können. Das sollten wir, so denke ich, miteinander auf den Weg bringen.
Klar ist, dass die Länder zwischen Russland und der
Europäischen Union - Belarus ist im Augenblick am
stärksten gefährdet - in Zukunft unsere Aufmerksamkeit
brauchen werden. Ich hoffe sehr, dass es uns während
der deutschen EU-Präsidentschaft im nächsten Jahr gelingen wird, europäische Initiativen zu entwickeln, damit
wir gerade diesem Raum mehr Aufmerksamkeit schenken und ihm mehr Unterstützung für eine demokratische
und Wohlfahrtsentwicklung bieten können.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Monika Griefahn, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich schlage den Bogen zurück zur Kultur. Die
Goethe-Institute können im Bereich der Kultur, also
unterhalb der politischen Ebene, durch ihre Programme
und Begegnungen in den Ländern, in denen die politischen Bedingungen noch nicht so gut sind, sehr viel erreichen. Das gilt auch für Belarus. Insofern ist die Kulturpolitik für uns ein sehr wichtiger Faktor.
Wenn man die Struktur eines Haushaltsentwurfs als
Gradmesser dafür nimmt, welche Bedeutung man einem
bestimmten Bereich beimisst, dann kann man zur Kulturpolitik vielleicht sagen: 1 Milliarde Euro im Haushalt
des Kulturstaatsministers und etwa 545 Millionen Euro
im Haushalt des Auswärtigen Amtes - das ist nicht wirklich viel. Wenn man aber berücksichtigt, was wir damit
bewegen und dass im Haushalt des Kulturstaatsministers
eine Erhöhung stattgefunden hat, sieht das anders aus.
Mit den Mitteln, die wir für den Dialog zur Verfügung
stellen, haben wir viele Kontakte mit den NGOs und Oppositionsbewegungen vor Ort ermöglichen können. Die
Kulturpolitik ist daher ein sehr wichtiger Faktor, den wir
alle unterstützen müssen.
Deswegen freue ich mich, dass wir in diesem Jahr sowohl im Haushalt des BKM als auch bei den Stipendien
- auch das ist ein wichtiger Austauschfaktor - eine Steigerung verzeichnen können. Aus dem 6-Milliarden-Programm werden dem DAAD, der Humboldt-Stiftung und
anderen zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt. Dadurch haben wir die Möglichkeit, in den Ländern direkt
Multiplikatoren zu gewinnen.
({0})
Damit haben wir das umgesetzt, was wir im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben.
Der Etat für Kultur ist der kleinste und damit sensibelste Etat im Bundeshaushalt. Deswegen sollte er vorsichtig behandelt werden. Wir beschreiben Kulturpolitik
als sehr wichtiges Politikfeld. Wenn es auch noch Kürzungen, zum Beispiel in der Programmarbeit oder in der
auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, gibt - daran
müssen wir noch arbeiten -, so haben wir doch einen guten Einstieg gefunden. Von diesem Punkt aus müssen
wir uns jetzt auf den Weg machen.
({1})
Günther Oettinger hat gestern bei Sandra Maischberger
gesagt, wir müssten in Deutschland nicht nur Ökonomie
und Wirtschaft, sondern ganz besonders unsere Kultur
und Werte betonen. Ich denke, damit hat er einen guten
Satz gesagt, den wir alle hier umsetzen sollten.
({2})
- Ich fand es beeindruckend, dass er so etwas sagt.
({3})
- Dass von einem Schwaben so etwas kommt - genau
das habe auch ich gedacht.
Ich finde, dass ein wichtiger Satz in unserer Koalitionsvereinbarung lautet: „Kulturförderung ist keine
Subvention, sondern Investition in die Zukunft.“
({4})
Mit der Förderung von Künstlerinnen und Künstlern engagieren wir uns für kulturelle Kreativität. Das ist
nicht nur ein Lebensmittel für Menschen, sondern auch
Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
Denn nur mit Kreativität können wir neue Produkte und
Designs entwickeln und damit in der Welt konkurrenzfähig sein.
({5})
Kulturelle Kompetenz schafft auch fachliche Kompetenz. Wer beispielsweise ein Musikinstrument erlernt,
erlangt bessere Fähigkeiten in den Bereichen Sprache
und Mathematik. Das müssen wir alle erkennen und unterstützen. So, wie unser Körper täglich Vitamine
braucht, so braucht unser Geist Kunst und Kultur.
({6})
Genauso brauchen Künstlerinnen und Künstler die Freiheit, um künstlerisch tätig zu sein. Aus diesem Grund
bleibt es - das ist mir ganz wichtig - Aufgabe des Staates, zu gewährleisten, dass Kunst und Kultur unbelasteter von ökonomischen Zwängen entstehen können. Wir
werden sie nicht ganz unbelastet machen können, aber
ein bisschen unbelasteter. Das ist ein wichtiger Punkt.
Wir brauchen allerdings auch Stiftungen und Privatpersonen als Förderer, um die kulturelle Vielfalt, die wir
glücklicherweise immer noch haben, zu gewährleisten.
Die Kombination macht es. Aber ich sage ausdrücklich:
Der Staat hat hierbei eine wichtige Aufgabe.
({7})
Als wunderbares Beispiel für einen sehr guten Beitrag
zur freien Entfaltung der Künste können wir die Kulturstiftung des Bundes erwähnen. Der Etat von nunmehr
knapp 38 Millionen Euro bedeutet eine Erhöhung der
Mittel um knapp 2,2 Millionen Euro als letzten der drei
Erhöhungsschritte.
({8})
So können wir innovative Programme und Projekte mit
nationaler und internationaler Ausstrahlung fördern und
wir können Deutschland im Dialog mit vielen Ländern
als Kulturnation präsentieren. Herr Otto - ich komme
dazu -, wir hoffen, dass die Fusion mit der Kulturstiftung der Länder die Möglichkeit für zusätzliche Projekte, also für einen Mehrwert, schafft, den wir gemeinsam mit den Ländern erreichen können. Ich glaube, dass
das eine gute Perspektive ist.
({9})
Zur Außendarstellung Deutschlands trägt in ganz besonderem Maße die Deutsche Welle bei. Auch ihr
kommt in diesem Haushalt eine kleine Steigerung zugute. Ich denke, das ist nötig. Denn der Etat der Deutschen Welle ist seit 1998 erheblich geschrumpft. Wenn
wir wollen, dass die Deutsche Welle weiterhin die Dialogarbeit und die Präsentation Deutschlands in der Welt
leistet, wenn wir wollen, dass unsere Sichtweisen zu
Politik, Kultur und Wirtschaft in vielen Ländern vermittelt werden, und wenn wir wollen, dass die deutsche
Sprache gefördert wird, dann müssen wir uns auch finanziell zur Deutschen Welle bekennen.
({10})
Ganz besonders begrüße ich die immer stärker werdende Zusammenarbeit der Deutschen Welle mit den öffentlich-rechtlichen Anstalten. Nachdem deutlich geworden ist, dass German TV kein tragfähiges Konzept
darstellt, arbeiten die Sender nun mit Hochdruck zusammen daran, das Deutsche Welle Fernsehen zu einem attraktiven Angebot zusammenzuführen und damit allen
Menschen in der Welt anzubieten. Ich glaube, das ist ein
ganz wichtiger Punkt.
({11})
Mit diesem Haushalt wollen wir deutlich machen,
dass der Dialog der Kulturen für uns einen besonderen
Stellenwert hat. Mit Programmen in den Sprachen Dari
und Paschtu zur Unterstützung der Afghanen, jetzt
selbstständig zu werden, mit einem arabischen Fernsehprogramm, mit der Ausbildung von Journalisten und mit
dem Internetportal der Deutschen Welle in 30 Sprachen
gehen wir einen guten Weg. Wenn wir einen friedlichen
Dialog wollen, müssen wir auch die Verständigung fördern. Das geht über diese Medien sicherlich ganz besonders gut.
Die Wahrnehmung Deutschlands im Ausland wird
aber nicht nur durch die mediale Außenvertretung gefördert, sondern auch durch seine Hauptstadt. Vieles davon
ist deutlich zu sehen und begründet den Ruf Berlins als
eine Kulturmetropole im Herzen Europas. Das zeigen
die steigenden Zahlen von Besuchern, die wir nicht nur
hier im Reichstag, sondern auch auf der Museumsinsel
haben. Tatsache ist, dass Berlin mittlerweile viele Künstler und Kulturschaffende aus aller Welt fast magisch anzuziehen scheint. Das liegt an der
({12})
hohen Qualität und Vielfalt dessen, was es in Berlin zu
sehen gibt. Es liegt aber auch an dem Klima von Innovation und Offenheit für Kultur. Dies wird auch durch
Bundesmittel gefördert, nämlich für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, für viele Einzeleinrichtungen, aber
auch zum Beispiel für den Hauptstadtkulturfonds, also
von der individuellen Szene bis hin zu den großen traditionellen Einrichtungen. Ich glaube, das ist ganz wichtig.
({13})
Wenn wir über Berlin reden, dann liegen das Faszinierende und die Kraft von Innovation und Fortschritt
darin, dass wir auch Vergangenes einbeziehen und bewusst machen. Die Kultur einer Gesellschaft wird auch
dadurch geprägt, dass sie sich an das, was sie war, erinnert und daraus Schlüsse zieht. Insofern spielt auch unsere Gedenkstätten- und Erinnerungsarbeit eine ganz
wesentliche Rolle für die Bundeskulturarbeit und damit
auch für diesen Haushalt.
({14})
Nachdem wir in den vergangenen Legislaturperioden
bereits ein Gesamtkonzept zur Aufarbeitung der NSDiktatur erarbeitet haben, werden wir jetzt auch die jüngere deutsch-deutsche Geschichte in ein Gesamtkonzept
fassen.
({15})
Wir haben die Birthler-Behörde in den Aufgabenbereich
des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien überführt. Wir arbeiten an einem Gesamtkonzept zur stärkeren Vernetzung und systematischen Förderung der gesellschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte und der
Folgen der SED-Diktatur. Den verantwortungsvollen
Umgang mit der Zukunft der Birthler-Behörde, die ja
eine ganz besondere Behörde ist, werden wir dann auch
in den maßgeblichen haushaltsrelevanten Entscheidungen zum Ausdruck bringen. Zum Beispiel wollen wir
endlich ein Modellprojekt angehen, um die alten, zerrissenen Akten wieder zusammenzusetzen; ich meine das
berühmte „Schnipselprojekt“.
({16})
Das wollen wir im Rahmen eines Modellprojekts ausprobieren. Dann wird sich zeigen, ob das funktioniert.
Die Aufarbeitung von Geschichte spielt auch in einem anderen Zusammenhang eine wichtige Rolle. Das
Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität
wird im Haushalt 2006 erstmals mit 300 000 Euro etatisiert. Damit stellen wir als Koalition klar, dass wir die
Themen Flucht, Vertreibung und Zwangsmigration in einem europäischen Kontext angehen, insbesondere mit
unseren Partnern in Polen, Ungarn, der Slowakei und
Österreich; weitere sollen hinzukommen.
({17})
Ich glaube, das ist der richtige Ansatz, um die vielfältigen bereits bestehenden Institutionen und Initiativen in
diese Netzwerkstruktur einzubinden und in einen Dialog
über diesen Teil der europäischen Vergangenheit zu treten.
({18})
Da der Etat für das Haus der Geschichte in Bonn um
2,5 Millionen Euro erhöht wurde, kann auch das Konzept der Ausstellung zum Thema Vertreibung weitergeführt werden. Diese Ausstellung wird bald auch in Berlin zu sehen sein, später vielleicht auch in Polen.
({19})
Das entspricht unserer gemeinsamen Forderung, die wir
auch in den Koalitionsvertrag aufgenommen haben, dass
wir mit Bedacht sichtbare Zeichen für unsere Auseinandersetzung mit der Vertreibung in Europa setzen wollen.
Für das Jüdische Museum in Berlin wird es eine
Bauerweiterung geben. Für die geplante Überdachung
des Innenhofes, die so genannte Laubhütte, wurde in den
Haushalt eine Verpflichtungsermächtigung von 2,5 Millionen Euro eingestellt. An dieser Stelle möchte ich
Michael Blumenthal, dem Direktor des Jüdischen Museums, Dank sagen;
({20})
denn er hat in bewundernswerter Weise private Sponsorengelder eingeworben, um dieses Projekt verwirklichen
zu können.
({21})
Jetzt kann eine sinnvolle und architektonisch gute Erweiterung realisiert werden, um die jährlich 700 000 Besucher dieses Museums - das muss man sich einmal vorstellen; das hat man nie erwartet - sehr ausführlich über
die Geschichte der Juden in Deutschland zu informieren,
damit sie nicht nur durch das Mahnmal mit dem Holocaust konfrontiert werden, sondern die gesamte und sehr
vielfältige Geschichte der Juden erfahren, sowohl unter
kulturellen als auch unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Das ist, wie ich glaube, ein wichtiger Aspekt.
An diesem Beispiel wird auch deutlich, wie Public
Private Partnership tatsächlich funktionieren kann. Ich
habe dafür geworben, dass sich einerseits der Staat zur
Kulturförderung bekennt, andererseits aber auch die Verantwortung von Stiftungen, Einzelpersonen und Firmen
nicht zu unterschätzen. Denn jeder muss sich auch in finanzieller Hinsicht für Kunst und Kultur einsetzen. Das
kann nicht einfach dem einen oder dem anderen übertragen werden. Ich denke, das sollte weder allein von Privaten und Stiftungen noch allein vom Staat gemacht
werden. Das ist der richtige Ansatz, an dem wir weiterarbeiten müssen.
Der Zusammenhang von privatem Engagement und
Investment spielt auch beim Thema Filmfinanzierung
eine wichtige Rolle. Ich freue mich, dass wir mit
14,3 Millionen Euro einen Teil der 90 Millionen Euro in
den Haushalt eingestellt haben, die für ein neues Modell
der Filmfinanzierung zur Verfügung stehen werden. Hier
knüpft Herr Neumann an die gute Arbeit seiner Vorgängerin, der Staatsministerin Weiss, an. Ich hoffe, dass wir
bis zum Sommer ein Modell erarbeitet haben, mit dem
wir dann tatsächlich die staatlichen Mittel mit privaten
Mitteln vervielfachen können, wie es in vielen anderen
europäischen Ländern gang und gäbe ist.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
({0})
Wir haben noch viel vor. Das gilt für die auswärtige
Kultur- und Bildungspolitik wie auch für die gemeinsame Arbeit mit den Ländern im Rahmen der Föderalismusreform. Wir müssen immer aufs Neue für den entsprechenden Platz der Kultur kämpfen. Das gilt auch für
das Staatsziel Kultur, das wir noch erkämpfen müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen Sie mit!
({0})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes, Einzelplan 05.
Außerdem rufe ich Zusatzpunkt 1 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Belarus nach den Präsidentschaftswahlen
- Drucksache 16/1077 Das Wort hat der Bundesaußenminister Dr. FrankWalter Steinmeier.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Vor wenigen Wochen haben
wir Johannes Rau in einem Staatsakt verabschiedet.
Viele, die ihn kannten, wissen, dass ihn in den letzten
Jahren vor allen Dingen eine Frage umgetrieben hat,
nämlich die Frage der Möglichkeiten von Politik angesichts radikal veränderter Politikbedingungen. Viele von
Ihnen waren so wie ich Gast bei seiner Berliner Rede
2002, in der er schon fast beschwörend an uns alle appelliert hat:
Wir müssen die Globalisierung als politische Herausforderung verstehen und politisch handeln.
Damit wir die Globalisierung gestalten können,
brauchen wir neue politische Antworten.
Ich sage: Um beides müssen wir uns bemühen, auch
und gerade in der großen Koalition: um politische Antworten auf Veränderungen, die von vielen Menschen als
bedrohlich empfunden werden, und um neue Antworten,
um den Menschen Mut zu machen. Ich finde, wir brauchen Mut zur Veränderung, Mut, manchen ausgetretenen
Pfad zu verlassen, Mut, der der allgemeinen Mutlosigkeit ohne Arroganz, aber mit Selbstbewusstsein begegnet.
({0})
Meine Damen und Herren, das ist sicherlich zuvörderst Aufgabe der Innenpolitik. Es ist, wie ich mittlerweile erfahren habe, aber auch und gerade Aufgabe der
Außenpolitik; denn Globalisierung bedeutet, dass die
Kontinente zusammenrücken, dass Informationen in
Echtzeit überall verfügbar sind. Das verändert die Rahmenbedingungen unserer Außenpolitik, und zwar ganz
gravierend. Das möchte ich an drei kleinen Beispielen
erläutern.
Erstens. Mit fortschreitender Globalisierung wächst
der Anspruch an Tempo und Qualität der Informationsverarbeitung. Ob es sich um Naturkatastrophen
oder Bürgerkriege handelt, die Menschen in aller Welt
verfügen nach kurzer Zeit über einen Wust von Informationen, deren schnelle und zuverlässige Bewertung und
Einordnung oft kaum möglich ist. Gleichwohl oder vielleicht sogar deswegen erwarten sie von uns rasche und
überzeugende Reaktionen.
({1})
Aus meiner Sicht als Außenminister sage ich: Wo früher möglicherweise die Weisung an eine Botschaft genügt hat, um eine Reaktion auszulösen, ist heute eine
ganze Kaskade von Abstimmungen notwendig: mit Partnern in Europa und den Vereinten Nationen, es gibt öffentliche Erklärungen, Erläuterungen im Parlament und
Gespräche mit den NGOs.
Zweitens. In den letzten Jahren haben immer mehr
Staaten demokratische Transformationsprozesse
durchlaufen; das haben Sie intensiv verfolgt, auch hier
im Parlament. Auch wenn man das beim Zeitunglesen
nicht glauben mag: Die Mehrzahl der Weltbevölkerung
wird heute demokratisch regiert. Trotzdem ist die Welt
- Sie wissen das - kein krisenfreier Raum. Auf dem Balkan, im Irak, auch im Kongo - worauf noch zu kommen
sein wird - oder in Afghanistan erleben wir, wie fragil,
wie unterstützungsbedürftig diese Transformationsprozesse oft über eine lange Dauer sind. Wir sehen tagtäglich auch, welch verheerende Konsequenzen ihr Scheitern haben kann und wie ganze Regionen in Bürgerkrieg
und Anarchie versinken können. Was den islamistischen
Terrorismus angeht, so sind wir natürlich seit einer
Reihe von Jahren mit einer ganz neuen Qualität von Bedrohung konfrontiert.
Drittes und letztes Beispiel zu diesem Thema: Auch
Deutschland selbst ist in zunehmendem Maße von weltweiten Krisen betroffen. Ob es nun Touristen aus
Deutschland sind, die während ihres Urlaubs zu Opfern
von Naturkatastrophen oder terroristischen Gewaltakten
werden, ob es unsere Wirtschaft ist, die mit Korruption
und fehlender Rechtssicherheit in einzelnen Staaten
kämpfen muss, oder ob es Bürgerinnen und Bürger sind,
die sich angesichts steigender Gas-, Öl- und Energiepreise Gedanken um unsere Energiesicherheit machen:
Instabilität, Krisen und Krieg in unserer nahen und fernen Nachbarschaft haben unmittelbare Auswirkungen
auf unsere Sicherheit und auf unseren Wohlstand.
Dem muss eine verantwortungsvolle Außenpolitik
Rechnung tragen. Sie muss auf akute Krisen rasch und
effizient reagieren, negative Entwicklungen frühzeitig
erkennen und in enger Zusammenarbeit mit unseren
Partnern abzuwenden versuchen. Dies muss, wie ich
finde - das ist mein Plädoyer -, frei von Aktionismus
und mit Augenmaß, mit Besonnenheit und verantwortungsvoll geschehen.
({2})
Mit Bezug auf eine Erfahrung aus dieser Woche sage
ich: Wir legen bei all dem großen Wert auf Prävention.
Deutschland hat sich gerade auf diesem Gebiet ein großes Maß an Renommee und Reputation erworben. Das
ist nicht zu unterschätzen. Nicht nur deshalb bleibt die
zivile Krisenprävention ein wichtiges Forschungs- und
Handlungsfeld für die deutsche Außen- und Entwicklungshilfepolitik.
({3})
Das Auswärtige Amt beschäftigt sich seit vielen Jahren sehr intensiv mit der zivilen Katastrophenvorsorge
und setzt sich in Wissenschaft, Politik und Praxis dafür
ein. Ich selbst habe in dieser Woche gemerkt, wie erfolgreich wir dabei sind, ohne dass das die breite Öffentlichkeit bisher zur Kenntnis genommen hat. Deutschland
war in dieser Woche Veranstaltungsort der Dritten Internationalen Frühwarnkonferenz, die nicht nur deshalb bedeutsam war, weil Bill Clinton dort war. Die Anwesenheit von Bill Clinton war aber natürlich auch ein
Ausdruck dafür, auf welches Maß an Respekt diese Veranstaltungen und die Bemühungen im Zuge dieser drei
Veranstaltungen in Deutschland inzwischen stoßen.
({4})
Meine Damen und Herren, die Anforderungen - Sie
können sie mühelos aus den drei Beispielen entnehmen verlangen allen Beteiligten in der Außen- und Sicherheitspolitik erhebliche Anpassungsleistungen ab. Ich
freue mich, dass wir den Menschen, die sich im Ausland
für deutsche Interessen engagieren - Soldaten, Entwicklungshelfer und Diplomaten -, in unserer Koalitionsvereinbarung ausdrücklich gedankt haben und ich möchte
dies auch heute tun. Ich sage auch hier noch einmal ausdrücklich: Wir im Parlament brauchen diese Helfer für
die Durchführung der Tätigkeiten, die wir auf finanziellem Wege unterstützen.
({5})
Europäische Integration und soziale Marktwirtschaft sind die zwei zentralen Pfeiler, auf denen unser
Frieden und unser Wohlstand ruhen. Gerade angesichts
der europäischen Krise nach den verlorenen Referenden
in Frankreich und in den Niederlanden müssen wir wieder deutlich machen - hier haben alle Recht, die das im
Verlaufe der Debatte schon gesagt haben -, dass das
Haus, das wir auf diesen Pfeilern bauen, ein menschliches Maß hat und so solide gebaut ist, dass es den Stürmen der Globalisierung standhalten kann.
({6})
Ich sage das deshalb, weil in unsere Ratspräsidentschaft
der 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen
Verträge fällt. Ich finde, dies ist ein guter Anlass, selbstbewusst auf das Erreichte zurückzusehen - das ist ganz
sicher -, aber auch mit neuem Mut die drängenden Verfassungsfragen in Angriff zu nehmen.
Jürgen Habermas hat gerade - Sie werden erstaunt
sein - auf Einladung von Wolfgang Schüssel in Salzburg
mit ihm und anderen über die Zukunft Europas diskutiert. Er hat in seinem Beitrag appelliert, die Frage nach
der Zukunft Europas energisch anzugehen, andernfalls
stünde Europa erstmals in der Gefahr eines Rückfalls
hinter den erreichten Stand der Integration. In diesem
Fall müssten wir zusehen - ich zitiere -,
wie sogar die bestehende politische Handlungsmacht der Europäischen Union zugunsten einer diffus erweiterten europäischen Freihandelszone abgewickelt wird.
Diese Sichtweise wird nicht nur von ihm geteilt. Weil sie
vermutlich die Gefahr durchaus richtig beschreibt, müssen wir dem umso engagierter entgegentreten. Ich bin
zuversichtlich, dass uns das gelingen wird. Das sage ich
nicht einfach nur aus einem Gefühl der Hoffnung heraus,
sondern weil mich die Erfahrungen der letzten vier Monate, die hinter uns liegen, zuversichtlich machen.
Ich habe hier schon einmal darauf hingewiesen: Entgegen manchen Erwartungen ist es gelungen, uns über
die finanzielle Vorausschau zu verständigen. Entgegen
manchen Erwartungen ist es gelungen, in der Balance
zwischen Binnenmarkt und sozialem Ausgleich einen
tragfähigen Kompromiss bei der Dienstleistungsrichtlinie zustande zu bringen. Auch die Schlussfolgerungen,
die die Regierungschefs auf dem letzten europäischen
Gipfel zur Energiepolitik gezogen haben, zeigen, dass
Europa in der Lage ist, sich in wichtigen neuen Fragen
gemeinsamen strategischen Ansätzen zu öffnen.
({7})
Ich darf sagen: Die deutsche Regierung war bei jedem
dieser drei Ergebnisse nicht ganz unbeteiligt.
({8})
Diese Linie wollen wir während der Ratspräsidentschaft im Jahre 2007 weiter verfolgen. Wir wollen die
Ergebnisse der so genannten Reflexionsphase ordnen
und dem Verfassungsprozess einen neuen Impuls geben.
Unser Ziel bleibt klar: ein nach innen und nach außen
handlungsfähiges Europa, das seine Vorbildwirkung weit
über unsere Grenzen hinaus entfaltet. Europa ist mehr
als Binnenmarkt und Verfassung.
({9})
Lassen Sie mich zum nächsten Thema kommen. Orientiert an einem erweiterten Sicherheitsbegriff, unterstützt Deutschland gemeinsam mit seinen Partnern die
Transformationsprozesse in vielen Regionen. Gegenwärtig engagiert sich die EU in über zehn Krisenmanagementoperationen. Wir stehen im Augenblick - das
ist heute Morgen mehrfach angeklungen - vor der Frage
der Beteiligung an einer europäischen Mission, gestützt
durch VN-Mandat, im Kongo.
Frau Bundeskanzlerin hat die Argumente, wie ich
finde, heute Morgen völlig richtig genannt. Es ist darauf
hinzuweisen, dass wir mit der Entscheidung zugunsten
der Beteiligung an einer solchen Mission nicht am Anfang der europäischen Bemühungen stehen, sondern
nach meiner Hoffnung eher am Ende unseres jahrelangen EU-Engagements. In Europa haben wir jahrelang
enorme Summen für die demokratische Zukunft im
Kongo aufgebracht, zuletzt 150 Millionen Euro für die
Durchführung von Wahlen. Deutschland hat bilateral
noch einmal 10 Millionen Euro beigetragen.
Wir haben Tausende von Polizisten ausgebildet. Wir
haben über Europa den Aufbau einer Armee unterstützt.
Wir finanzieren - das darf auch nicht ganz verschwiegen
werden, selbst wenn wir den Unterschied zwischen einer
europäischen Mission und der MONUC-Mission immer
im Auge haben - über die Europäische Union und ihre
Mitgliedstaaten einen großen Teil dieser größten militärisch gestützten Mission im Kongo selbst mit insgesamt
17 000 Soldaten über mehrere Jahre.
Vieles ist in den letzten Jahren in diesem Stabilisierungsprozess erreicht worden - ich hatte Gelegenheit, es
hier schon einmal vorzustellen -: ein friedliches Referendum, ein neues Wahlgesetz, die Aufstellung von
Wahllisten und die Festlegung eines Wahltermins. Jetzt
geht es darum, den erreichten Stand der Stabilisierung
nicht noch kurz vor dem Ziel zu gefährden.
Bei all dem - das sage ich mit Blick auf die Stabilisierung - ist von den 4 Millionen Toten in den Bürgerkriegen seit Mitte der 90er-Jahre noch nicht die Rede. DesBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
halb ist meine Meinung: Wenn wir über diese Frage zu
entscheiden haben, müssen wir unseren Beitrag dazu
leisten, dass sich das Morden im Kongo nicht wiederholt.
({10})
Ich weise aber darauf hin, dass die Vereinten Nationen
und die kongolesischen Streitkräfte die Hauptverantwortung für die Sicherheit im Land tragen. Die Rolle der
EU-Mission wird zeitlich und räumlich begrenzt sein.
Wir werden mit dem Mandat all den Fragen und Bedenken, die in der Vergangenheit dazu vorgebracht worden
sind, entsprechend Rechnung tragen.
Wir haben Wert darauf gelegt, dass die Mission nicht
gegen den Willen der Regierung im Kongo zustande
kommt. Deshalb sind wir mit dem erzielten Ergebnis zufrieden, wonach nicht nur Kabila selbst, sondern auch
die Vertreter der anderen ethnischen Gruppen im Kongo
ihr Einverständnis und ihre Absicht erklärt haben, dass
die Mission mit europäischer Präsenz stattfinden soll.
({11})
Natürlich bedarf es dazu eines VN-Mandats, das in den
nächsten 14 Tagen diskutiert wird. Wir gehen davon aus
- das war unsere Voraussetzung -, dass ein Einsatz nach
diesem VN-Mandat zeitlich und räumlich befristet ist.
Sollten alle diese Voraussetzungen erfüllt sein, dann
sollte sich Deutschland aus meiner Sicht der Teilnahme
an einer solchen Mission nicht entziehen.
({12})
Ich bin zuversichtlich, dass der Bundestag - wenn die
genannten Bedingungen erfüllt sind - einer solchen Mission seine Zustimmung erteilen wird.
Ein anderes Beispiel für fortgeschrittene Transformationsprozesse ist in diesen Tagen der Balkan. Der Tod
von Milošević hat uns gerade die Bilder aus den 90erJahren noch einmal in Erinnerung gerufen: die Toten von
Srebrenica, die massiven Menschenrechtsverletzungen
im Kosovo und die tausendfache Gewalt gegen Frauen,
Kinder und Greise.
Dieses in Erinnerung habend frage ich: Welches Bild
zeigt sich heute? Slowenien ist Mitglied der EU. Kroatien steht in Beitrittsverhandlungen. Mazedonien hat den
Status eines Beitrittskandidaten. Mit Serbien und Bosnien haben Verhandlungen über den Abschluss von
Assoziierungsabkommen begonnen.
Auf diesen Erfolgen dürfen wir uns aber nicht ausruhen. Gerade die Region, von der ich spreche, bedarf unserer besonderen Aufmerksamkeit. Das gilt nicht nur für
die Zukunft, sondern besonders jetzt, in einem Jahr, in
dem wir in entscheidenden Verhandlungen zur Klärung
des endgültigen Status des Kosovos stehen und in dem in
Bosnien eine neue Regierung gewählt wird und das Ende
der Verwaltung durch den Hohen Repräsentanten absehbar ist und die Regierungsgewalt vollständig in bosnische Hände übergehen soll. Diesen Vorgang hat
Christian Schwarz-Schilling für unser Land in hervorragender Weise begleitet.
({13})
Auch dies ist übrigens nicht nur ein Zeichen für die besondere Verantwortung in der Region, die wir dort wahrnehmen, sondern auch für die Anerkennung, die unsere
Politik in den letzten Jahren auf dem Balkan gefunden
hat.
Eine endgültige Befriedung des Balkans, der ja wirklich vor unserer Haustür liegt, ist in unserem ureigenen
Interesse. Deshalb werden wir uns darauf einstellen
müssen, unseren Beitrag dazu politisch, finanziell und
- soweit erforderlich - militärisch auch auf längere Sicht
leisten zu müssen.
Das wichtigste Thema, das uns derzeit alle miteinander umtreibt, ist unsere gestiegene Verantwortung in einem grundlegend veränderten Sicherheitsumfeld, die
sich bei unseren Bemühungen im Zusammenhang mit
dem iranischen Nuklearprogramm zeigt. Wie Sie wissen, wird derzeit im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen über die nuklearen Ambitionen des Irans verhandelt.
Morgen Vormittag kommen die Vertreter der EU 3, der
USA, Russlands und Chinas in Berlin zusammen, um
über das weitere Vorgehen zu beraten. Wir sind - das ist
leider zu bekennen - trotz monatelanger Bemühungen
noch nicht am Ziel. Das Ziel muss sein, dass der Iran alle
Zweifel an einer eventuellen militärischen Nutzung seines Atomprogramms ausräumt und das Vertrauen der internationalen Staatengemeinschaft wieder herstellt.
({14})
Es bleibt unsere Pflicht - darauf wird auch morgen Wert
zu legen sein -, weiter nach diplomatischen Lösungen zu
suchen. Wege dafür sind aufgezeigt. Es kommt nun darauf an, dass der Iran mit der gleichen Ernsthaftigkeit an
den Gesprächen teilnimmt, wie wir es in der Vergangenheit getan haben. Die Ernsthaftigkeit kann, wie wir ständig betonen, nur unterstrichen werden, wenn die Anreicherungsaktivitäten suspendiert werden.
({15})
Herr Kuhn, Sie haben einige Ausführungen zu den
Nuklearvereinbarungen zwischen Indien und den
USA gemacht. Ich will Ihnen sagen: Ganz so einfach,
wie Sie es sich machen, geht es nicht und ist es auch
nicht. Sie haben, quasi aus oppositioneller Verzweiflung,
die zu treffende Entscheidung vorweggenommen, indem
Sie den Gegenstand der Vereinbarung von vornherein als
einen Akt der Belohnung qualifizieren, und so uns die
Ablehnung nahe gelegt. Ich finde, so können wir mit dieser Sache nicht umgehen. Ich räume gerne noch einmal
ein, was ich schon öffentlich gesagt habe: Der Zeitpunkt
dieser Vereinbarung war vor dem Hintergrund unserer
laufenden Gespräche über das iranische Atomprogramm
ganz sicher nicht hilfreich.
({16})
- Ich komme gleich zu den Inhalten. - Aber das zeichnet
aus meiner Sicht den Weg zu einem Nein Deutschlands
in der Nuclear Suppliers Group, wie Sie es unterstellt haben, nicht ohne weiteres vor; denn die entscheidende
Frage ist, ob mit dieser Vereinbarung ein Prozess angestoßen worden ist, mit dem wir - darüber haben wir
schon im Ausschuss diskutiert - Indien Zug um Zug in
das Nichtverbreitungsregime einbeziehen. Herr Kuhn,
wenn diese Möglichkeit gegeben wäre, dann wäre es
nicht sehr verantwortlich, sozusagen Ihnen zuliebe auf
eine sorgfältige Bewertung dieser Kooperationsvereinbarung zu verzichten.
({17})
Was ich Sie gerne fragen möchte, ist: Gibt es Ihnen
denn nicht zu denken, wenn al-Baradei als Vertreter der
IAEO in Gesprächen mit uns, der Bundesregierung, aber
auch, wie ich gehört habe, in Gesprächen mit Ihnen, den
Abgeordneten, dafür wirbt, den politischen Mehrwert
dieser Vereinbarung für die internationale Staatengemeinschaft angemessen zu bewerten? Gibt es Ihnen
nicht zu denken, wenn der Träger des Friedensnobelpreises, den nicht nur wir, sondern auch Sie beglückwünscht
haben, dafür wirbt, sich den Bemühungen um größere
Transparenz im indischen Atomprogramm sowie verbesserte - wenn auch nicht ausreichende - Zugangsmöglichkeiten, die Safeguards und eine Stabilisierung des
Teststoppabkommens nicht in den Weg zu stellen? Gibt
es Ihnen nicht zu denken, wenn sowohl in der indischen
Öffentlichkeit als auch im indischen Parlament darüber
gestritten wird, ob die indische Regierung durch diese
Vereinbarung zu viel von ihrer Autonomie in der Atompolitik aufgegeben hat? Ich verlange von Ihnen nicht,
dass Sie diese amerikanisch-indische Vereinbarung bejubeln; darum geht es nicht. Was ich aber erwarte, sind
- dies hat die Haltung der Grünen in der Außen- und Sicherheitspolitik in den letzten Jahren immer ausgezeichnet - eine redliche Nachdenklichkeit und ein Verzicht
auf Schnellschüsse.
({18})
Einige wenige Worte zum Thema Naher Osten, auf
den wir nach den israelischen Wahlen mit besonderer
Aufmerksamkeit schauen. Ich habe schon in meiner letzten Rede gesagt, dass der Erfolg der Hamas bei den palästinensischen Wahlen die Bemühungen um eine Fortsetzung des Friedensprozesses nicht einfacher macht,
jedenfalls solange nicht unsere drei Kriterien erfüllt sind:
Gewaltverzicht, Anerkennung Israels und Akzeptanz der
bisherigen Verhandlungsergebnisse.
Was sagt uns das Ergebnis der Wahlen vom gestrigen
Tage? Ich finde, wir dürfen sie so interpretieren: Die
Wählerinnen und Wähler in Israel wollen, dass es zu
Fortschritten auf dem Weg zu Frieden und Sicherheit
kommt. Deshalb darf ich für mich sagen: Ich begrüße es,
dass Olmert in seinen ersten öffentlichen Ausführungen
Bereitschaft hat erkennen lassen, die Friedensverhandlungen wieder aufzunehmen. Wir werden alles dafür tun,
um gemeinsam mit unseren Partnern auf eine Friedenslösung auf der Basis der Roadmap hinzuwirken.
({19})
Spätestens seit dem Gasstreit zwischen Russland und
der Ukraine sind uns die Augen geöffnet worden für ein
Thema, dessen Bedeutung, wie ich überzeugt bin, in der
Zukunft eher noch zunehmen wird: die Frage der Energiesicherheit. Deshalb ist es überhaupt nicht überraschend, dass dieses Thema sowohl auf der nationalen
Ebene als auch auf der europäischen Ebene höchste Priorität gefunden hat. Ich glaube, wir sind in der Tat aufgerufen, uns zugunsten einer Sicherung der Energieversorgung unseres Landes entschlossen zu engagieren: für
politische Stabilität in den Krisenregionen, für konsensuale Lösung für Verteilungs- und Zugangskonflikte und
für ein System kooperativer Energiesicherheit. Ich bitte
darum, auf eines zu achten: All das ist eingegangen in
die Schlussfolgerungen des Gipfels in Brüssels. Ich
finde, wir dürfen aus deutscher Sicht durchaus zufrieden
sein, dass diese Schlussfolgerungen erkennbar deutsche
Handschrift tragen.
({20})
Ich habe an anderer Stelle deutlich gemacht, dass ich
glaube, dass ein solches energiepolitisches Gesamtkonzept, wie es in Deutschland mit dem nächste Woche beginnenden Energiegipfel entstehen wird, einer außenund europapolitischen Flankierung bedarf. Deswegen
werden wir uns bemühen, mit Norwegen, mit Russland
und mit den Staaten Nordafrikas zu klären, wie wir in einer engeren Kooperation zwischen Konsumentenstaaten,
Transit- und Förderländern mehr Planbarkeit, mehr
Transparenz und mehr Verlässlichkeit in die internationalen Energiebeziehungen bringen können.
Ein letztes Thema: Weißrussland. Natürlich erfüllen
uns die Ereignisse in Weißrussland mit tiefer Sorge.
Deutschland und seine europäischen Partner haben die
Behinderungen freier Wahlen und das gewaltsame Vorgehen gegen Demonstranten mit deutlichen Worten verurteilt und wir haben uns auf eine Reihe von gezielten
Sanktionsmöglichkeiten verständigt. Wir werden darüber hinaus die demokratischen Kräfte in Weißrussland
weiter unterstützen. Der Deutsche Bundestag wird sich
- darüber freuen wir uns - gleich im Anschluss mit dem
Weißrusslandantrag der Koalitionsfraktionen beschäftigen. Ich bin mir sicher: Auch die Menschen Weißrusslands werden den Weg zur Demokratie mit unserer Hilfe
finden.
({21})
Ich komme zum Schluss, meine Damen und Herren.
Wo immer man hinreist, überall spürt man: Deutschland
genießt hohes Ansehen als verlässlicher politischer Partner, als wirtschaftliches Schwergewicht. Ich habe in dieser Rede viel von Transformation gesprochen und von
dem Interesse, das wir daran haben, Stabilität und Frieden zu befördern. Zur politischen Gestaltung der GlobaBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
lisierung gehört aber auch ein waches Auge für die
kulturelle Dimension dieses Vorgangs. Gerade der Karikaturenstreit hat uns den Blick geschärft für die immense
Sprengkraft, die Fragen nach den kulturellen Identitäten
entfalten können. Deswegen will ich abschließen mit einem Plädoyer für die Bedeutung der deutschen auswärtigen Kulturpolitik. Gerade in einer globalisierten Welt
ist Kultur mehr als eine Feierabendbeschäftigung oder
ein Mittel zur Markierung feiner sozialer Distinktionen.
Kultur und Sprache sind das Medium, in dem sich Menschen und Völker begegnen oder aber verfehlen. Sie sind
die Grundlage für politische Verständigung und wirtschaftlichen Austausch. Wer die Chancen der Globalisierung nutzen will, darf deshalb diese kulturelle Grunddimension nie vergessen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({22})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach sieben Jahren rot-grüner Außenpolitik unter
Schröder war einiges an Nachjustierung, an Neuorientierung fällig. Das hat die Bundeskanzlerin in den letzten
Monaten teilweise in wirklich beachtlicher Weise hinbekommen. Mein Parteivorsitzender Guido Westerwelle
hat das vorhin gewürdigt. Dem schließe ich mich an. Das
war erforderlich und das war erfolgreich.
Ich möchte darauf nicht im Einzelnen eingehen, sondern nur einen Aspekt herausstellen. Die Situation in
Bezug auf Russland war besonders schwierig, weil
manche erwartet hatten, jetzt, da die schrödersche Kameraderie von einem neuen Politikansatz abgelöst ist,
werde gewissermaßen der russlandpolitische Rollback
stattfinden. Genau der hat nicht stattgefunden. Es war
auch richtig, dass er nicht stattgefunden hat. Vielmehr ist
deutlich geworden, dass es möglich ist, unser Interesse
an einer Zusammenarbeit mit diesem wichtigen strategischen Partner Russland, nicht nur dem Energielieferanten, in Übereinstimmung mit unserer klaren Positionierung in Menschenrechtsfragen und mit unserer
Auffassung über die nicht erfreuliche Entwicklung der
Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in Russland zu
bringen. Dazu muss ich sagen, Frau Bundeskanzlerin:
Chapeau!
({0})
Mein Kollege Markus Löning und mein Kollege
Harald Leibrecht werden noch auf Weißrussland und die
Ukraine eingehen. Ich will mich daher bei diesem
Thema beschränken. Aber ich finde es schon bedenklich
und indikativ für das, was in Russland vorgeht, wie Präsident Putin den Wahlausgang in der Ukraine kommentiert hat. Das bekräftigt unsere Bedenken.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch in
Washington ist es gelungen, neue Akzente zu setzen, und
zwar ohne dass man darauf verzichtet hat, klare Worte
dazu zu finden - ich glaube, diese Auffassung wird in
diesem Hause im Großen und Ganzen voll geteilt -, dass
es in der amerikanischen Politik Fehlentwicklungen gibt.
Die klaren Worte zu Guantanamo Bay im Vorfeld Ihrer
Reise waren fällig und gut.
({2})
Ich will diese Bilanz nicht fortsetzen, zumal ich bei
der Europapolitik sagen müsste, dass der Erfolg, der in
Brüssel im Dezember erreicht worden ist, teuer erkauft
worden ist. Darüber wird an anderer Stelle noch zu reden
sein. Insgesamt finde ich es richtig, dass gerade aufgrund
des anderen Umgangs mit unseren kleinen und mittleren
Partnern, auch den neuen in der Europäischen Union,
deutlich geworden ist, dass von Deutschland aus - gerade angesichts der Präsidentschaft im nächsten Jahr, auf
die viele in Europa große Hoffnungen setzen - ein Neubeginn in einer Situation erfolgt, in der eigentlich eine
große Griesgrämigkeit bezüglich des europäischen Integrationsprozesses herrscht und in der manche viel zu
früh, wie ich finde, den Verfassungsprozess für beendet
erklären wollen.
Der Außenminister hat bisher wenig Gelegenheit gehabt, seine Markierungen zu setzen. Er hat zugegebenermaßen auch Pech gehabt. Wer sich in den ersten Monaten seiner Amtszeit mit schlimmen Entführungsfällen
und ähnlichen Themen, die eher mit der Vergangenheit
zu tun haben als mit Zukunft und Gegenwart, beschäftigen musste, kann nicht so ohne weiteres die neuen
Weichenstellungen vornehmen. Ich möchte im Übrigen
sagen, dass ich das, was das Auswärtige Amt im Zusammenhang mit den Entführungsfällen geleistet hat und gegenwärtig in dem akuten Entführungsfall leistet, hoch
anerkenne. Sowohl das Auswärtige Amt als auch die beteiligten Sicherheitsbehörden leisten Tag und Nacht eine
großartige Arbeit. Selbstverständlich hoffen wir, dass
das gut ausgeht.
({3})
Herausforderungen, um einen außenpolitischen Stempel aufzudrücken, gibt es in der nächsten Zeit reichlich.
Der Minister hat sie angesprochen. Bei einer so langen
Rede kann man nicht alles kommentieren. Ich möchte
nur sagen, dass es in Bezug auf Israel und Palästina jetzt
eine Hoffnung gibt. Ich hoffe übrigens auch, dass wir in
der Frage des Umgangs mit einem Gesprächspartner, der
Äußerungen macht, die für uns völlig inakzeptabel sind,
eine Lernkurve zeigen. Hoffentlich brauchen wir heute
nicht so lange, wie es seinerzeit gedauert hat, bis wir
zum Beispiel mit der PLO einigermaßen gesprächsfähig
waren. Nur, eines muss klar sein: An dem Recht Israels
auf gesicherte Existenz als jüdischer Staat darf es keinen
Zweifel geben.
({4})
Zum Thema Iran. Angesichts der völlig unerträglichen Äußerungen des iranischen Staatspräsidenten über
Israel, über den Holocaust und über Antisemitismus lässt
sich sagen - man kann fast von einem direkten Übergang
sprechen -: Hier wird noch eine riesige Herausforderung
zu bewältigen sein. Die Bundesregierung bemüht sich
darum. Ich wünsche Ihnen für die Konferenz der P 5, die
hier in Berlin in den nächsten Tagen mit Vertretern der
EU und Deutschlands stattfinden wird, viel Erfolg.
Bei aller Klarheit der bisherigen Verhandlungsstrategie müssen wir uns auch darüber im Klaren sein, dass
wir nicht nur denjenigen, die gegenwärtig im Iran regieren, Angebote machen müssen - sie sind in dem bisherigen Verhandlungsprozess übrigens teilweise in beachtlicher Form gemacht worden -, sondern auch denjenigen
Menschen im Iran - ich denke an die große junge Generation; ihre Angehörigen sind gut ausgebildet und sehr
stark westlich orientiert -, die mit uns nur zu gern zusammenarbeiten würden. Interessanterweise teilen diese
Menschen in der Nuklearfrage eher die Position des Präsidenten als unsere.
Der Minister hat es gerade angesprochen: Angesichts
dessen ist die Entwicklung des amerikanisch-indischen
Nukleardeals so problematisch. Zumindest was das
Timing angeht, war die Botschaft falsch. Nicht nur Herr
Tharoor redet das schön, sondern auch Herr al-Baradei
hat sich dazu positiv geäußert, weil das Geschäft transparenter wird. Betrachtet allerdings ein völlig unbefangener Iraner diese Angelegenheit, so erhält er die Botschaft: Das, was in unserer Umgebung zu sehen ist,
zeigt, dass man über Nuklearmaterial verfügen muss, um
in dieser Welt ernst genommen zu werden. Wenn das so
läuft, dann ist das doch nicht in unserem Interesse.
({5})
Deutschland hat ein für allemal auf eine nukleare Option militärischer Art verzichtet. Dabei muss es auch bleiben. Auch unser Ansatz muss es sein, durch eine konsequente Abrüstungs- und Nonproliferationspolitik dafür
zu sorgen, dass diejenigen, die sich auch für die Zukunft
ganz bewusst als Habenichtse im nuklearen Sinne definieren, für andere Länder, die möglicherweise in Versuchung
geraten, eine Perspektive darstellen.
({6})
Herr Minister, ich würde es deswegen sehr begrüßen,
wenn die Bundesregierung eine Initiative zur Wahrung
der Interessen und zur Entwicklung einer Perspektive für
die Nichtnuklearmächte starten würde. Ich denke,
Deutschland ist ein glaubwürdiger Partner, nicht nur für
den Iran, sondern auch für viele andere Teile in der Welt,
die sich die Frage stellen, ob sie auf die nukleare Option
nicht verzichten könnten.
Wenn es im Zusammenhang mit der Klärung der Iranfrage nicht gelingt, dieses Thema einzudämmen, dann
stehen wir vor einem Scheitern der Nonproliferationspolitik und vor einem gigantischen neuen Rüstungswettlauf.
({7})
Ich möchte noch etwas zum Kongo sagen; denn diese
Frage bewegt uns alle sehr. Die Freien Demokraten werden sich dieses Thema mit Sicherheit nicht leicht machen. Das ist eine ganz schwierige Abwägung. Keiner
wird es sich leicht machen. Ich wehre mich dagegen,
dass der Eindruck erweckt wird, hier werde nicht abgewogen. Natürlich gibt es ein ganz starkes menschenrechtliches, ein entwicklungspolitisches Interesse. Es
gilt, Glaubwürdigkeit in Sachen Afrikapolitik zu verteidigen. Das ist gar keine Frage.
Wenn es darum geht, einen militärischen Einsatz zu
befürworten, dann steht dem - gewissermaßen im clausewitzschen Sinne - die Beantwortung einiger Fragen
entgegen:
Erstens. Was ist das politische Ziel, das erreicht werden soll? Wie kann man die Zielerreichung messen?
Zweitens. Was ist das militärische Ziel, dessen Erreichung dazu beitragen kann, das politische Ziel zu erreichen?
Drittens. Wie kommt man wieder heraus?
Wir haben sehr viele Fragen gestellt. Weder im Auswärtigen Ausschuss - dort hatten wir ganze 27 Minuten
Zeit dafür - noch im Verteidigungsausschuss - er war
unlängst in Brüssel - sind diese Fragen beantwortet worden. Es ist deutlich geworden, wie stümperhaft dieser
mögliche Einsatz bisher sowohl in Berlin als auch in
Brüssel vorbereitet worden ist.
({8})
Was sind das eigentlich für Konfliktparteien, mit denen wir es dort zu tun haben und von denen wir erwarten, dass sie das Wahlergebnis akzeptieren? Präsident
Kabila hat die Richtigkeit dieses Ergebnisses nach langem Zögern eingeräumt. Gelten seine Zusagen auch in
Bezug auf die anderen, die dort kandidieren? Amnesty
International und Human Rights Watch behaupten, dass
ein Vizepräsident dieses Landes - er hat dort kandidiert - sich schwerste Menschenrechtsverletzungen hat
zuschulden kommen lassen. Kann es eigentlich sein,
dass wir - wenn er die Wahlen gewinnt - ein solches
Wahlergebnis mit unseren Soldaten militärisch absichern? Das ist eine ziemlich heikle Frage. Der Hinweis
auf Demokratie und Wahlprozess allein kann in einer
solchen Frage nicht entscheidend sein.
({9})
Darüber muss diskutiert werden.
Dann fragt man sich: Ist die Bundesregierung möglicherweise in eine selbst gebaute Falle gelaufen, als sie
zunächst nach einer Internationalisierung gerufen hat?
Nachher hat sie gemerkt: Das Einzige, was es dann da
gibt, ist die EU-Battle-Group und die besteht nur aus
Deutschen.
Die Frage ist auch: Sollen das eigentlich Abschreckungsaktivitäten sein oder geht es letztlich darum, für
den Fall, dass etwas schief geht, eine Evakuierung vorzubereiten? Sollen die paar Hundert Soldaten, die tatsächlich vor Ort sein werden, in der Lage sein, eine solche Abschreckung zu gewährleisten? Was ist das
eigentlich für ein Konzept, das dahintersteht? Was ist das
für eine Denke? Wenn man mit französischen Kollegen
darüber spricht und sie fragt, ob es nicht ein ziemlich abgestandenes postkoloniales Gehabe sei, zu sagen:
„Hauptsache, es sind ein paar Hundert weiße Europäer
da; dann ist dort schon Ruhe“, bekommt man ohne weiteres die Antwort: Ja, das ist nun mal eben so. - Unsere
Denke im Zusammenhang mit Afrika war das bisher
nicht. Bis vor kurzem haben wir in jeder Rede zu diesem
Thema den Begriff „African Ownership“ gehört.
({10})
Das scheint gegenwärtig nicht mehr en vogue zu sein.
Weitere Fragen sind: Wie verhalten wir uns eigentlich
gegenüber MONUC? Wie ist da der Zusammenhang organisiert? Werden wir tatenlos zusehen, wenn MONUC
in Schwierigkeiten gerät und die europäischen Kräfte
helfen könnten?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es sind sehr
viele Fragen offen. Vor allem aber ist die Frage: Sind wir
nicht längst auf einer schiefen Ebene, weil die zeitliche,
quantitative und inhaltliche Eingrenzung dieses Einsatzes längst auch von Mitgliedern der Bundesregierung
und der Koalition selbst infrage gestellt wird?
Herr Kollege, Sie reden ein bisschen zulasten Ihrer
Kollegen.
Ich bin mit meiner Rede auch durch, Frau Präsidentin.
Ich möchte nur noch darauf hinweisen, dass von der
FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag eine Zustimmung - nach sorgfältiger Abwägung - erst dann erwartet
werden kann, wenn diese Fragen und die Fragen, die wir
in den Ausschüssen gestellt haben, befriedigend beantwortet worden sind.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Eckart von Klaeden, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Der Kollege Hoyer hat gerade den bevorstehenden
Einsatz der Bundeswehr im Kongo angesprochen. Herr
Kollege Hoyer, ich habe Verständnis dafür, dass Sie
viele kritische Fragen stellen; wir betreten dort in gewisser Weise auch Neuland. Ich habe ebenfalls Verständnis
dafür, dass Sie Wert darauf legen, dass alle diese Fragen
in den zuständigen Ausschüssen sorgfältig besprochen
werden. Aber kein Verständnis habe ich dafür, dass Ihr
Präsidium beschließt, das bisherige Verhalten der Bundesregierung in dieser Frage sei verfassungswidrig gewesen. Das ist nun wirklich grober Unsinn.
({0})
Das scheint mir der Versuch gewesen zu sein, vor den
Landtagswahlen am letzten Sonntag aus einem außenpolitischen Thema noch einmal Profit zu schlagen. Wenn
Sie das mit der Verfassungswidrigkeit des Verhaltens der
Bundesregierung bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene tatsächlich ernst meinen würden, dann wäre
die letzte Konsequenz daraus, dass die Bundesrepublik
Deutschland nicht mehr bündnisfähig ist.
({1})
Jeder weiß - die Bundesregierung weiß es; ich selbst
bin in Brüssel gewesen und habe mit Javier Solana über
diese Frage gesprochen -, dass ein Einsatz der Bundeswehr im Kongo natürlich unter dem Parlamentsvorbehalt
steht. Das Verfassungsgericht hat deutlich gemacht - das
ergibt sich aber auch aus dem Parlamentsbeteiligungsgesetz selbst -, dass es der Bundesregierung selbstverständlich möglich sein muss, entsprechende Vorbereitungen oder Verabredungen in internationalen Gremien, im
Rahmen der NATO, im Rahmen der Europäischen
Union, zu treffen. Wenn das nicht mehr möglich sein
sollte, dann wären wir in der Tat nicht mehr bündnisfähig.
({2})
Die Außenpolitik der Bundesregierung steht unter der
Überschrift „Kontinuität und Wandel“. Wenn man an
die zum Teil erbitterten Auseinandersetzungen zurückdenkt, die wir in den letzten Monaten und Jahren über
Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik geführt haben,
mag sich der eine oder andere darüber wundern, wie harmonisch und erfolgreich die neue Bundesregierung arbeitet. Zu diesem außerordentlich guten Start in der Außen- und Sicherheitspolitik will ich im Namen meiner
Fraktion Bundeskanzlerin Merkel, aber auch Außenminister Steinmeier sehr herzlich gratulieren.
({3})
Die Außenpolitik der Bundesregierung ist davon geprägt, dass das transatlantische Verhältnis wieder zu
einem Vertrauensverhältnis geworden ist. Die Bundesregierung hat deutlich gemacht - die Bundeskanzlerin hat
dies in ihrer Rede in München getan -, dass die NATO
wieder zum zentralen Ort des transatlantischen Dialogs
werden soll, dass man dort diskutieren, gemeinsam ent2260
scheiden und schließlich auch gemeinsam handeln will.
Die Überlegungen bezüglich einer Achse Paris-BerlinMoskau sind ad acta gelegt. Beide Partner der großen
Koalition legen Wert darauf, dass gerade im Hinblick auf
unsere Russlandpolitik die kleineren Partner, vor allem
aus Mittel- und Osteuropa, einbezogen werden. Deswegen freue ich mich, dass das Instrumentalisieren außenpolitischer Fragen für innenpolitische Zwecke ein Ende
hat.
({4})
Die Kontinuität besteht insbesondere aus vier Elementen: die Einigung Europas, die transatlantische
Werte- und Interessenpartnerschaft, unsere Verantwortung gegenüber Israel und die Verpflichtung, in internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen zusammenzuarbeiten und diese Organisationen zu stärken.
Gleichzeitig ist unsere Außenpolitik aber einem Wandel ausgesetzt. Wir stehen vor neuen Herausforderungen: Globalisierung, transnationaler Terrorismus, Auseinandersetzung mit den Modernisierungskonflikten in der
islamischen Welt, der Aufstieg neuer Mächte wie Indien
und China, der Versuch anderer Mächte, alte Macht zurückzugewinnen - ich erinnere hier insbesondere an
Russland -, die Energiepolitik, die Anfang des Jahres
endlich auch als Teil der Außenpolitik auf die deutsche
Agenda gekommen ist und nicht mehr nur aus dem
Blickwinkel der Wirtschaft und der Ökologie betrachtet
wird, die demografische Entwicklung, auch im internationalen Zusammenhang, die Rückkehr der Nuklearpolitik als ein Faktor der internationalen Politik sowohl in
ziviler wie auch in militärischer Hinsicht - über die
Frage des iranischen Nuklearprogramms hat der Außenminister gerade gesprochen; ich lobe ausdrücklich den
Verhandlungsstil der Bundesregierung im Rahmen der
EU 3 - und schließlich die Fortsetzung der Freiheitsund Selbstbestimmungsbestrebungen, die wir schon seit
Jahrzehnten beobachten können, die in den Jahren 1989
und 1990 durch die Überwindung der Teilung von Jalta
erfolgreich waren und die sich jetzt fortsetzen in der
Ukraine, in Georgien und auch in Weißrussland; dazu
wird der Kollege Grund später noch etwas sagen.
Wir brauchen also eine strategische Debatte über
Kontinuität und Wandel in unserer Außen- und Sicherheitspolitik. Wir müssen deutlich machen, wie wir die
Prinzipien und die Kontinuität, die ich zu Anfang beschrieben habe, mit den Herausforderungen durch den
Wandel, der sich in der Welt vollzieht, verbinden. Wir
haben unsere Außen- und Sicherheitspolitik in den letzten Jahren seit der Wiedervereinigung zu sehr vernachlässigt. Wir sind als Deutsche zu sehr selbst- und gegenwartsbezogen gewesen. Nun besteht die Möglichkeit,
den guten Start der neuen, großen Koalition dazu zu nutzen, eine Standortbestimmung unserer Außenpolitik vorzunehmen und die Kontinuität mit dem Wandel und dessen Herausforderungen zu verbinden.
Da stellt sich zunächst einmal die Frage, wie wir das
Verhältnis zu den Vereinigten Staaten gestalten und
die transatlantischen Beziehungen verbessern. Auf die
Einbeziehung der NATO habe ich schon hingewiesen.
Es ist ein historischer Fehler, zu glauben, unsere Verbindung zu den Vereinigten Staaten sei vor allem eine Konsequenz des Kalten Krieges. Es ist die Konsequenz
zweier Weltkriege, dass wir als Deutsche unseren Weg in
die Völkergemeinschaft an der Seite der Vereinigten
Staaten gesucht haben, dass Deutschland und Europa allein zu schwach sind, um eine weltpolitische Rolle spielen zu können. Diese Lehre haben wir zuletzt ziehen
müssen, als es um die Auseinandersetzung um den Irakkrieg gegangen ist.
Ich will hier nicht darüber sprechen, ob die Ablehnung des Irakkrieges richtig gewesen ist.
({5})
Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang der Punkt,
dass es falsch gewesen ist, zu versuchen, Europa als ein
Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten zu profilieren.
({6})
Das ist die Lehre, die wir als Europäer zu ziehen haben;
denn das hat Europa gespalten. Aber auch die Vereinigten Staaten haben ihre Lehre aus der Auseinandersetzung um den Irakkrieg gezogen. Sie wissen jetzt, dass
sie auf Bündnispartner angewiesen sind, dass es keine
Toolboxmentalität geben darf, dass man nicht eine
Coalition of the Willing durchsetzen kann, sondern in
den bewährten Bündnissen und insbesondere in der Zusammenarbeit mit den europäischen Bündnispartnern
dafür sorgen muss, dass man zu guten Ergebnissen
kommt.
({7})
Dazu gehört für uns insbesondere die Frage, wie wir uns
als Bündnispartner der Vereinigten Staaten profilieren
können, wie wir dafür sorgen können, dass die Amerikaner auf uns angewiesen sind.
Es geht kein Weg an der Weiterentwicklung eigener
Fähigkeiten und Kompetenzen vorbei. Dazu gehört
eben auch die Weiterentwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und ihres militärischen
Standbeins, der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wir müssen dafür sorgen, dass sich NATO
und EU stärker ergänzen und nicht gegeneinander eingesetzt werden.
Wir müssen auch ein Interesse daran haben, dass das
Berlin-Plus-Abkommen stärker mit Leben erfüllt werden kann. Wir sehen, dass diese Zusammenarbeit in Bosnien ein großer Erfolg ist. Aber wir wissen auch, dass es
in der NATO auf den Widerstand der Türkei trifft und
dass auf europäischer Seite die Franzosen und die Griechen dieser Zusammenarbeit skeptisch gegenüber stehen.
Wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union
werden will, muss sie beweisen, dass sie diesen eurotransatlantischen Ansatz unterstützt. Sie muss dafür sorgen, dass die gemeinsame Zusammenarbeit im Rahmen
des Berlin-Plus-Abkommens mit Leben erfüllt werden
kann. Die Forderung nach einer verstärkten Zusammenarbeit gilt, wie gesagt, auf NATO-Ebene für die Türkei
und genauso auf europäischer Ebene - auch das will ich
ganz deutlich sagen - für Frankreich.
Die euro-transatlantische Politik nach 1990 ist enorm
erfolgreich gewesen. Wir wollen und müssen diese Erfolge fortsetzen.
({8})
Wer heute einmal seinen Blick auf den Balkan richtet
und sich vor Augen führt, welche Situation wir dort damals vorgefunden haben - Genozid, Kriege, Massengräber -, und wer heute sieht, wie sich die Gesellschaften
und Staaten auf dem Balkan nach und nach in Richtung
mehr Demokratie und mehr Rechtsstaatlichkeit transformieren, der kann wirklich von einem großen Erfolg sprechen. Selbst die 80 000 Menschen, die zum Begräbnis
von Milošević in Belgrad von der dortigen Sozialistischen Partei zusammengekarrt worden sind, sind doch
eher ein Beweis für den Erfolg als für das Gegenteil.
Es ist diese euro-transatlantische Perspektive, die diesen Ländern Stabilität gegeben hat. Deswegen müssen
wir trotz aller Fragen, wie es mit der Erweiterung sowohl im Hinblick auf die NATO als auch auf die Europäische Union weitergeht, diese Perspektive fortentwickeln. Ich habe großes Verständnis dafür, dass wir über
die Frage der Vertiefung innerhalb der Europäischen
Union sprechen müssen. Aber wir dürfen diese europäisch-transatlantische Perspektive für die betroffenen
Länder nicht aufgeben.
({9})
Sie ist die Grundlage dafür, dass die demokratische Entwicklung in diesen Ländern erfolgreich fortgesetzt wird.
Es ist unsere gemeinsame Verpflichtung, diesen Weg
weiterzugehen.
({10})
Diese Perspektive, die Heranführung an die Europäische Union und eine mögliche Mitgliedschaft in der
NATO, gilt eben auch für die Ukraine. Der Ukraine
kommt aufgrund ihrer Größe, ihrer geostrategischen
Lage und ihrem Potenzial eine besondere Bedeutung zu,
die wir in den zurückliegenden Jahren nicht ausreichend
gewürdigt haben. Deswegen haben wir ein großes Interesse am Gelingen des Transformationsprozesses. Wir
würden unsere eigenen Prinzipien verraten, wenn wir die
Ukraine auf diesem Weg nicht unterstützen würden.
({11})
Das heißt zum Beispiel, dass wir alle Bitten aus der
Ukraine beachten sollten. Dazu gehören die Ausbildung
von Richtern, mit denen wir die Entwicklung zur
Rechtsstaatlichkeit unterstützen, und der Aufbau von
wirtschaftlichen Beziehungen. - Wir sollten der Ukraine
also all die Unterstützung zuteil werden lassen, die für
den Transformationsprozess erforderlich ist.
({12})
Dieses Projekt wird erfolgreich sein, wenn wir es auf
freundschaftlicher Basis und in enger Abstimmung mit
der Europäischen Union verfolgen.
Es ist ebenfalls wichtig, darauf hinzuweisen, dass die
Transformation der Ukraine und auch anderer Nachbarstaaten nicht gegen Russland gerichtet ist. Wir müssen
auch sagen, dass die Beziehungen zu Russland davon
abhängen, wie glaubwürdig sich Russland verhält, wenn
es um die Beachtung der Prinzipien des Europarates
geht. Ich denke da vor allem an den Umgang mit den eigenen Nachbarn und an die Frage, ob Russland Rechtsstaatlichkeit und Demokratiebewegung unterstützt oder
eher ein Hindernis dafür darstellt.
Es geht auch - auch dieser Punkt gehört dazu - um
die innenpolitische Entwicklung in Russland. Die letzten
Signale, die wir von dort empfangen haben, haben uns
nicht hoffnungsfroh gestimmt. Deswegen, Frau Bundeskanzlerin, meinen herzlichen Dank dafür, dass Sie in der
Botschaft in Moskau Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung und der Opposition empfangen haben.
Wir müssen alles dafür tun, Russland auf seinem Weg
zu mehr Demokratie und mehr Rechtsstaatlichkeit zu unterstützen. Ich glaube, dass das letztlich auch im Interesse Russlands, insbesondere im wirtschaftlichen Interesse Russlands, ist. Denn Rechtsstaatlichkeit ist auch
ein enormer Standortfaktor. Investitionen in Russland
und in anderen Transformationsländern werden sich
langfristig nur dann lohnen können, wenn man sich dort
auf rechtsstaatliche Verfahren verlassen kann.
({13})
Die Herausforderung, die vom Iran ausgeht, ist schon
vom Außenminister angesprochen worden. Auch dort
zeigt sich, dass die enge Kooperation zwischen Europa,
den EU 3, und den Vereinigten Staaten bisher erfolgreich
gewesen ist. Es hat immer wieder die Gefahr gegeben,
dass der Iran mit seinem Versuch, die P 5 im Sicherheitsrat voneinander oder die europäischen Drei von den Vereinigten Staaten zu trennen, Erfolg haben würde. Die
feste gemeinsame Überzeugung auf beiden Seiten des
Atlantiks, auf europäischer Seite und auf amerikanischer
Seite, hat dazu geführt, dass der Iran mit seinen Bemühungen bisher nicht erfolgreich gewesen ist. Ich begrüße, dass es im UN-Sicherheitsrat wohl zu einer so genannten präsidentiellen Erklärung kommen wird. Das ist
ein gutes Zeichen. Wir müssen auf dem Weg weitergehen, eine diplomatische Lösung zu suchen. Denn ein militärisches Nuklearprogrammm des Irans ist für uns unter
keinen Umständen akzeptabel.
Es ist der Iran gewesen - um daran zu erinnern -, der
internationales Vertrauen verletzt und internationale Verträge gebrochen hat. Die Europäische Union und die
Vereinigten Staaten haben dem Iran immer wieder goldene Brücken gebaut. Es ist nicht zuletzt die barbarische
Sprache des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad Is2262
rael gegenüber, die uns zeigt, dass wir dort eine besondere Verantwortung tragen. Deswegen ist es nicht zuletzt
zur Stärkung der Vereinten Nationen wichtig, dass wir
zusammenbleiben und unsere Interessen entschlossen
vertreten.
({14})
Das Erfordernis eines Zusammenspiels und der Koordination zwischen Europa und den Vereinigten Staaten
gilt nicht zuletzt für den Nahostfriedensprozess. An
dieser Stelle möchte ich auch im Namen meiner Fraktion
Ehud Olmert ganz herzlich zu seinem Wahlsieg gratulieren.
({15})
Beeindruckend ist für mich vor allem, dass er unmittelbar nach der Wahl angekündigt hat, neue Friedensgespräche mit den Palästinensern aufzunehmen, und angedeutet hat, dass er in diesem Zusammenhang zu
Zugeständnissen bereit ist. Das ist der Weg, auf dem wir
jetzt weitergehen müssen.
Auch bei meinen Gesprächen in Brüssel habe ich erfahren, dass es im Hinblick auf den Nahostfriedensprozess noch nie eine so starke Übereinstimmung zwischen
der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten gegeben hat, wie es derzeit der Fall ist. Das gilt insbesondere für die Aufstellung der Kriterien, was die Zusammenarbeit mit der Hamas angeht. Diese Kriterien hat die
Bundeskanzlerin Ende Januar bei ihrem Besuch in Israel
betont. Auch hier zeigt sich, dass die Kooperation zwischen Amerika und Europa neue Früchte trägt bzw. tragen kann.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die
Zusammenarbeit in den Vereinten Nationen und die
Weiterentwicklung der Vereinten Nationen. Wir müssen
alles dafür tun, um die Vereinten Nationen zu stärken.
Wir müssen sehen, dass wir das Völkerrecht in den Vereinten Nationen weiterentwickeln. Die Kanzlerin hat bei
ihrem Besuch der Vereinigten Staaten in Washington
entsprechende Anmerkungen dazu gemacht. Wir müssen
erkennen, dass die Vereinten Nationen das Forum sein
müssen, in dem wir versuchen, soweit es geht, globale
Verantwortung wahrzunehmen, und in dem wir uns für
die Durchsetzung von Demokratie, Menschenrechten
und Rechtsstaatlichkeit einsetzen.
Wenn wir einen Blick nach Afghanistan werfen, so
stellen wir fest, dass sich dort Staaten wie Australien und
Neuseeland engagieren und PRTs mit aufbauen. Das
sind gute Beispiele. Sie zeigen, dass globale Verantwortung eben nicht regional begrenzt ist, sondern es ein wesentlicher Auftrag ist, gemeinsam für Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit einzutreten und gemeinsam im Rahmen der Vereinten Nationen dafür zu sorgen, dass es
nicht zu weiteren Failing States kommt.
Das gilt auch für unsere Verantwortung, die wir in
Afrika wahrzunehmen haben. Dazu gehört aber auch,
dass wir uns strategisch auf diese neuen Herausforderungen einstellen, dass wir uns selber nicht in eine Situation
bringen, in der wir den Eindruck haben, Getriebene der
Entwicklung zu sein, und dass wir unsere eigenen strategischen Interessen definieren und nach diesen handeln.
Das wird die Aufgabe der Außen- und Sicherheitspolitik
in den nächsten Jahren sein.
Vielen Dank.
({16})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Knoche,
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine werten Herren
und Damen Abgeordnete! Ich möchte mich zunächst
gerne an Sie wenden, Herr Dr. Hoyer.
({0})
Mir haben Ihre letzten Ausführungen zum Kongo sehr
gut gefallen. Wer sich das EU-Mandat genau anschaut,
kann sich angesichts der Zusammensetzung der Formation des Eindrucks nicht erwehren, dass die ehemaligen
europäischen Kolonialmächte in Afrika wieder präsent
sind. Was wir auf gar keinen Fall akzeptieren können,
weder wir Linke noch der Deutsche Bundestag - ich
denke, hier spreche ich im Interesse der Menschen in der
gesamten Bundesrepublik -, ist eine neokoloniale Politik
in Afrika. Das muss auf jeden Fall vermieden werden.
({1})
Ich denke, der eleganteste, der beste, der politisch korrekteste Weg wäre es, deutsche Soldaten gar nicht erst
dorthin zu schicken.
({2})
Ich möchte jetzt den Zusammenhang herstellen und
aufgreifen, was der Außenminister an den Anfang seiner
Rede gestellt hat. Sie haben von der Globalisierung gesprochen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren,
dass die Menschen - auch durch die deutsche Politik erfahren, dass die Globalisierung latent immer ein kriegerisches, nicht friedliches Unterfangen sein wird. Wir
sehen, dass sich die Interessen in Afrika auf den Sudan
und jetzt auch auf den Kongo konzentrieren. Wir haben
erlebt, dass der Kampf gegen den Terror in einer globalisierten Welt in Afghanistan zu einem Krieg geführt hat.
Die Antworten auf die Globalisierung fallen aber auf anderen Kontinenten völlig anders aus als in Deutschland.
Schauen wir uns zum Beispiel den postneoliberalen Prozess in Lateinamerika an! Das ist eine Antwort auf die
Globalisierung, mit der man sich gegen den Verlust
staatlicher Sicherungssysteme und für die Beibehaltung
der Ressourcenwahrung in nationaler Hand ausspricht.
({3})
Man ist dort aus Erfahrung gegen die Privatisierung. Ich
kann nicht verstehen, warum in der Rede des AußenMonika Knoche
ministers kein einziges Wort zu dem Kontinent Lateinamerika gefallen ist.
({4})
Das muss doch allmählich in unseren Fokus aufgenommen werden, wenn wir über diese weltweiten Fragestellungen sprechen.
({5})
- Ich hätte nichts dagegen, wenn Sie sich über die demokratischen und zivilen Errungenschaften in Kuba Gedanken machen würden. Manches Bild, das Sie zeichnen, würde sich angesichts der Realität nicht mehr
behaupten können. Da bin ich mir sehr sicher.
({6})
Ich möchte jetzt aber keine Rede über Kuba oder Lateinamerika halten. Wir werden, wenn der EU-Gipfel in
Wien stattfindet, sicherlich noch über unsere Position zu
Lateinamerika sprechen können.
Ich halte es allerdings für sehr wichtig, dass sich dieses Haus Gedanken darüber macht, wie in dieser globalisierten Welt die Reform der UNO und des UN-Sicherheitsrates aussehen wird. Wir haben schon gelegentlich
unsere Vorstellung transportiert, dass in einem reformierten UN-Sicherheitsrat Lateinamerika unbedingt einen Sitz haben muss und dass es erforderlich ist, dass
auch Afrika mit einer eigenen Stimme spricht. Das zeigt
sich jetzt besonders deutlich, da die Afrikanische Union
in der Frage des Kongos sozusagen übergangen worden
ist.
({7})
Die UNO hat sich in dieser Sache an die EU-Ebene gewandt. Nun muss Solana in den Kongo reisen, um
Kabila davon zu überzeugen, dass er europäisches Militär zur Sicherung der Wahlen braucht.
Es bedarf unbedingt einer Veränderung unseres
Blicks auf die Welt, um die neue eine Welt als einen
friedlichen Prozess zu begreifen, der die Demokratisierung und die Gleichheit aller zum Ziel hat und dies mit
friedlichen Mitteln durchsetzt.
({8})
Eine solche UNO brauchen wir. Im Deutschen Bundestag brauchen wir eine Debatte darüber, was der originär
deutsche Anteil sein kann, um einen solchen Prozess
einzuleiten.
Herr Steinmeier, Sie haben über die Europäische
Verfassung gesprochen. Sie dürfen nicht übersehen,
dass es der europäische Verfassungskonvent nicht geschafft hat, die politische Willensbildung der Bevölkerungen in einen Verfassungsentwurf zu transportieren.
Manche Parlamente haben dem Entwurf zugestimmt,
manche Voten der Bevölkerung waren positiv, aber die
Europäische Verfassung ist im Ergebnis tot. Sie ist gescheitert. Viele osteuropäische Staaten, die neu hinzugekommen sind, wollen keine Renaissance des europäischen Verfassungsprozesses; sie haben vielmehr ein
großes Interesse daran, dass die Verträge überarbeitet
werden, wir von der Lissaboner Strategie loskommen
und die Ideologie des Neoliberalismus endlich in Europa
ein Ende findet.
({9})
In dieser Hinsicht wird im Deutschen Bundestag eine
Diskussion über die Frage, wie es mit der Europäischen
Verfassung weitergehen soll, notwendig sein. Sie dürfen
gewiss sein, dass wir als Linke dazu unseren proeuropäischen Beitrag leisten werden.
Die heutige Debatte beinhaltet viele wichtige Themen, die es wert wären, ausführlich darüber zu sprechen.
Ich kann deshalb beim besten Willen nicht verstehen,
warum es den Regierungsfraktionen, der FDP und den
Grünen so ungemein wichtig war, heute über Belarus
nach der Wahl zu sprechen.
({10})
Wir haben bereits vor der Wahl eine Debatte über Belarus geführt. Ihnen war es damals ein Anliegen, uns zu
diskreditieren, was Ihnen aber nachweislich nicht gelungen ist. Die Linke kann nicht als antidemokratische
Kraft diskreditiert werden.
({11})
- Ich glaube, Sie reden im Moment ziemlich heftigen
Unsinn. Sie sollten die Debatte nachlesen.
Ich finde es viel wichtiger, sich das Ergebnis der Wahl
in der Ukraine anzuschauen. Die orangene Revolution
kann als gescheitert betrachtet werden; denn die Bevölkerung hat ihre Erfahrung damit gemacht und ein Jahr
nach der Revolution völlig anders gewählt. Das sollte
Anlass für uns sein, mit den Staaten, die einen postsowjetischen Prozess durchgemacht haben, in eine andere
Form des Dialogs einzutreten.
({12})
Wir müssen uns hier im Parlament mit diesem Thema
anders befassen, als demokratische Revolutionen mit anzuzetteln, wie es die Kollegin Beck formulierte.
({13})
Ich glaube, es geht nicht um Menschenrechtspolitik,
wie wir sie uns vorstellen. Menschenrechtsfragen und
Menschenrechtspolitik dürfen nicht instrumentalisiert
werden, um Systemwechsel herbeizuführen. Das ist eine
wichtige Komponente einer wirklich aufgeklärten Menschenrechtspolitik.
({14})
Wir müssen jetzt eine Entscheidung bezüglich des
Kongos fällen und Sie lenken mit Debatten zu Weißrussland ab.
({15})
Mit dem Kongo müssen wir uns ausgiebig befassen, ich
will hier nur einige wenige Worte dazu sagen. Schauen
wir uns an, wie das Mandat zustande gekommen ist. Aller Voraussicht nach wird es ein UN-Mandat nach
Kap. VII sein. Es soll also ein militärischer Einsatz erfolgen, an dem sich die Deutschen vielleicht nicht aktiv,
aber passiv beteiligen, während die Franzosen die aktive
Rolle übernehmen. Ich möchte dazu sagen: Es sollte gewährleistet sein, dass freie demokratische Wahlen durchgeführt werden.
({16})
Die Menschen im Kongo haben nicht die Zuversicht
und den Glauben, dass Wahlen ihnen Frieden, Freiheit
und Demokratie bringen werden.
({17})
Denn es gibt dort verschiedene Milizen, deren Führer
demokratische Wahlen ablehnen. Niemand kann voraussagen, ob eine Wahl bürgerkriegsähnliche Zustände auslösen wird. Auch der Einsatz deutscher Soldaten im
Kongo kann nicht gewährleisten, dass die Präsidentschaftswahl friedlich verläuft.
({18})
Eine freie demokratische Wahl muss aber unser erstes
Ziel sein.
({19})
Was geschieht, wenn das Ziel nicht innerhalb des vorgesehenen Zeitraums von vier Monaten erreicht wird?
Sie werden doch hier nicht in aller Öffentlichkeit sagen
wollen, dass die Truppen dann unverrichteter Dinge wieder abziehen werden. Sie werden ein neues Mandat fordern und dann werden die europäischen Truppen zu einer Bürgerkriegspartei werden. Sie könnten Parteinahme
betreiben und genau das muss vermieden werden.
({20})
Wenn man den Prozess unterstützen will, dann darf
man keine europäischen Truppen dorthin führen.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.
Die Hierarchie der europäischen Entscheidungen erlaubt es de facto nicht - das ist ein zentrales Argument -,
dass wir das Mandat des Parlaments, das das beste Recht
des Parlaments ist, wahrnehmen und entscheiden, wo die
Truppen hingehen und was sie dort machen. Wenn das
EU-Mandat steht, werden wir diese demokratische Verantwortung für den soldatischen Auftrag nicht wahrnehmen können.
({0})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Trittin, Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrter Außenminister, ich wollte meine Rede eigentlich mit
der Bemerkung einleiten, dass, wenn Ihre Lageeinschätzung, dass die größte Gefahr für die Sicherheit von zerfallenden Staaten ausgeht und es die größte Herausforderung ist, für Stabilität und Sicherheit zu sorgen, richtig
ist, es dann ganz verkehrt ist, ausgerechnet die Mittel für
Krisenprävention und zivile Konfliktbewältigung, wie in
Ihrem Haushalt geschehen, zu kürzen, zumal in einem
Haushalt, der sich ansonsten nicht durch Konsolidierungsüberanstrengungen auszeichnet.
({0})
Ich lasse das aber weg, weil ich mit Interesse zur
Kenntnis genommen habe, dass es, verehrte Kollegin
Knoche, kein Grund zur Debatte in diesem Parlament
sein soll, wenn mitten in Europa Menschen, die bei einer
Wahl kandidiert und sich für Demokratie eingesetzt haben, von maskierten Polizeibeamten einkassiert und eingesperrt werden. Das ist ein Problem für Europa. Das
können wir in Europa nicht akzeptieren und es ist peinlich, wenn Sie dazu schweigen.
({1})
Ich bin der festen Überzeugung, dass deutsche Außenpolitik Friedenspolitik bleiben muss. Das heißt, sie
muss in die Politik der Vereinten Nationen eingebunden
sein. Sie muss im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik gestaltet werden.
Deswegen ist es notwendig, dass die Herausbildung einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik - gerade um diesen Teil des Verfassungsvertrages geht es tatsächlich Wirklichkeit wird. Wir müssen von den nationalen Alleingängen wegkommen.
Wenn man das aber sagt und wenn man das Mandat
der Vereinten Nationen am Anfang einer Rede hochhält,
dann muss man auch bereit sein, einen Beitrag zu leisten,
wenn es darauf ankommt. Wir können uns keine Debatte
über die Frage leisten, wie es zum Beispiel der Bundeswehrverband getan haben soll, ob es wohl möglich ist,
aus einer 250 000 Personen starken Armee 450 Soldaten
für vier Monate zur Absicherung eines Wahlprozesses zu
schicken. Das würde, wenn das wahr wäre, in der Tat
von einer falschen Prioritätensetzung zeugen.
({2})
Wir sollten auch nicht so tun, als wenn die Debatte
über den Kongo - darin stimme ich dem Bundesaußenminister ausdrücklich zu - erst jetzt begonnen hätte. Sie
ist sehr viel älter. Ich will an dieser Stelle all denen, die
von Neokolonialismus und ähnlichem Zeug schwätzen,
({3})
ganz deutlich sagen: Ich möchte mich bei den
17 000 MONUC-Soldaten aus Bangladesch, aus Indien,
aus Guinea-Bissau und aus Pakistan bedanken, die dort
seit Jahren im Einsatz sind.
({4})
Ich möchte mich bei ihnen bedanken, weil sie dazu beigetragen haben, dass über 80 Prozent der Kongolesen
gesagt haben: „Ja, wir wollen wählen.“ Sie haben dazu
beigetragen, dass über 16 000 Kindersoldaten jetzt nicht
mehr rauben, plündern und vergewaltigen, sondern demobilisiert worden sind.
Vor diesem Hintergrund muss man die Bitte der Vereinten Nationen sehen. Sie wollen, dass die Europäer für
einen befristeten Zeitraum von wenigen Monaten zur
Absicherung des Wahlprozesses in der Hauptstadt sind.
Die Europäer sollen diese mutigen Soldaten unterstützen. 60 MONUC-Soldaten haben ihr Leben für die Mission hergegeben. Diese mutigen Menschen wollen wir
nicht nur bezahlen. Wir wollen sichtbar Flagge zeigen,
damit diese Wahlen ordentlich zu Ende gehen.
Wir alle wissen, dass am Ende einer Wahl immer auch
einer feststeht, der die Wahl verloren hat. Wir haben uns
zwar angewöhnt, bei uns im Fernsehen so zu tun, als
würde das nicht stimmen. In Wirklichkeit verliert aber
jemand.
({5})
Dazu beizutragen, diese demokratische Normalität zu erfahren und das durchzustehen, das ist die Anforderung
an uns. Ich finde, die Bundesregierung muss hier folgende Fragen deutlich beantworten: Sind die Kräfte vor
Ort hinreichend? Sind sie hinreichend multinational?
Wie ist der zeitliche Rahmen abzusichern? Das ist die
Aufgabe der Bundesregierung.
Aber man kann sich hier nicht so schlank aus der Verantwortung stehlen, wie Sie von der Linkspartei das gemacht haben.
({6})
Lieber Herr Hoyer, ich glaube, von der heutigen Umarmung werden Sie sich so schnell nicht erholen.
({7})
Die Partei Hans-Dietrich Genschers steht heute in dieser
Frage Seite an Seite mit Oskar Lafontaine. Sie sollten in
dieser Situation noch einmal darüber nachdenken, ob das
wirklich zu den großen Traditionen Ihrer Partei gehört.
({8})
Wenn wir uns einig sind, dass das die Herausforderungen sind, dann werden wir gerade mit Blick auf den
Nahen Osten unsere Bemühungen, zu einem Dialog
beizutragen, der tatsächlich auf Verständigung zielt, fortsetzen. Ich habe die erste Reaktion von Herrn Olmert auf
seinen Wahlsieg mit großem Interesse zur Kenntnis genommen, nämlich die Ansage: Wir wollen auf der Basis
der Zweistaatlichkeit zu einer Lösung kommen. Wenn
als Ergebnis freier Wahlen in den palästinensischen Gebieten aber eine Bewegung gewonnen hat, deren Ziele
wir in Europa nicht teilen, sondern sogar als terroristisch
eingestuft haben, dann muss es in dieser Situation einen
Prozess des Aufeinanderzubewegens geben. Es muss
klar sein, dass das Existenzrecht Israels nicht infrage gestellt werden darf.
({9})
Es muss klar sein, dass es einen Gewaltverzicht gibt.
Und es muss klar sein, dass die Zweistaatlichkeit wirklich anerkannt wird. Das ist eine unabdingbare Forderung an jede palästinensische Regierung.
({10})
Das ist - ich füge das an dieser Stelle hinzu - aber natürlich auch eine Anforderung an die israelische Regierung.
Es gehört sich bei Zweistaatlichkeit nicht, dass man Gefängnisse im anderen Staat besetzt, um das einmal
freundlich auszudrücken.
Schließlich komme ich zu den Themen Iran und
weltweite Abrüstung. Wir wollen, dass dieser Konflikt
zivil gelöst wird. Ich sage Ihnen deutlich: Solch eine Lösung wird es nur geben, wenn sie gemeinsam mit
Europa, mit Russland, mit China und, ich füge hinzu:
mit den USA gefunden wird.
({11})
Denn der Iran wird zu Recht darauf beharren, dass er Sicherheitsgarantien bekommt. Sie wird er nicht akzeptieren, wenn er sie nicht auch von den USA bekommt. Das
ist aber genau der Hintergrund, vor dem, lieber Frank
Steinmeier, der Deal zwischen Indien und den USA so
kontraproduktiv gewesen ist. Wie sieht denn die Situation weltweit aus? Es ist doch frappierend, dass sehr
energiereiche Länder - nicht nur der Iran, sondern auch
Brasilien - Atomkraftwerke möchten. Sie wollen sie
doch nicht, weil sie sie für die Energieversorgung nötig
haben, sondern weil ihnen klar ist, dass mit der Urananreicherung ein wunderbares Instrument besteht, um Uran
als Rückversicherung für nicht friedliche Mittel zur Verfügung zu haben.
({12})
Das ist der Kern des Ganzen.
Wenn wir wollen, dass der Iran seine Urananreicherung aussetzt, wenn wir auf die Strategie setzen, im
Rahmen der Nichtverbreitung zu sagen, dass Urananreicherung und, ich füge hinzu: Wiederaufbereitung konsequent internationalisiert werden sollen, dann ist es vor
diesem Hintergrund kein Fortschritt, dass Inspektoren in
Indien künftig alle Bereiche ansehen dürfen, aber genau
diesen Schlüsselbereich nicht. Ich habe Verständnis,
wenn Mohammed al-Baradei sagt: Ich finde es schön,
dass ich da überhaupt einmal reinkomme. - Aber wir als
Staatengemeinschaft, die wir an dem Regime der Nichtverbreitung interessiert sein müssen, dürfen uns dieses
Interesse nicht zu Eigen machen. Dieser Deal war kontraproduktiv und falsch. Ich finde, dass dieser falsche
Schritt, der den Iran in seiner Verhandlungsposition gestärkt hat, nicht auch noch nachträglich damit belohnt
werden darf, dass hier nun nuklear verwendbares Material geliefert wird. Sie stehen nun in der Verantwortung,
bei Ihrem Einsatz für die Errichtung eines globalen
Nichtverbreitungsregimes tatsächlich Standhaftigkeit zu
zeigen und diesem Deal nicht hinterherzulaufen.
({13})
Ich glaube, dass wir uns zurzeit in einer Phase befinden - das wird auch an der Debatte über die Energiepolitik deutlich -, in der Europa, das bei Klimaverhandlungen, bei Fragen des Welthandels und der Gestaltung
der Globalisierung bisher eigentlich eine treibende und
produktive Kraft war, seltsam ziellos daherkommt.
Diese Ziellosigkeit hat auch etwas mit der Haltung und
dem Verhalten der Mitgliedstaaten zu tun.
Ich habe heute bereits einige erstaunliche Aussagen
gehört. Herr von Klaeden zum Beispiel befürwortet
plötzlich die Visumfreiheit für die Ukraine.
({14})
- Das ist doch Ihre neue Position. - Aber mit noch größerem Erstaunen habe ich zur Kenntnis genommen, dass
ausgerechnet die Linkspartei erklärt hat, die Position der
polnischen Regierung, die den europäischen Verfassungsprozess für tot erklärt, sei richtig.
({15})
Das, was dazu in der Verfassung steht, ist das komplette
Gegenteil von neoliberal.
({16})
Die polnische Regierung möchte nichts anderes als die
Schaffung eines gigantischen Binnenmarktes, um ihre
korporativen Vorteile nutzen zu können. Sie will aber
keine politische Vertiefung, also keine Demokratisierung
der Europäischen Union.
({17})
Mit Blick auf die EU-Präsidentschaft der Bundesrepublik im nächsten Jahr sage ich: Es ist gerade kein Zeichen einer ambitionierten europäischen Orientierung,
wenn sich Deutschland in einer Situation, in der die
Kommission zu Recht sagt, dass wir eine europäische
Energiepolitik brauchen, mit den Staaten an die Spitze
setzt, die der Meinung sind, dass das Letztentscheidungsrecht in der Energiepolitik auch weiterhin bei den
nationalen Großunternehmen - in Deutschland also bei
RWE, Eon, EnBW und anderen - bleiben soll. Das ist
kein Schritt in Richtung mehr Versorgungssicherheit, genauso wenig wie eine erneute Subventionierung der
Atomkraft. Das ist das Ziel.
Wir werden Europa nur dann für die Bürger überzeugender gestalten können, wenn wir mehr Europa wagen.
Daher müssen wir Schluss damit machen, uns immer,
wenn es - wie in diesem Fall in der Energiepolitik - hart
auf hart kommt, auf den nationalen Vorbehalt zurückzuziehen. Wir brauchen in dieser Frage eine Europäisierung.
({18})
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Knoche.
Herr Trittin, Sie waren sehr bemüht, Allianzen zwischen der FDP und der Linken und womöglich auch zwischen der polnischen rechtskonservativen Regierung und
der Linken herzustellen.
({0})
Ich möchte Ihnen sagen: Das war ein sehr kurzes Vergnügen für Sie; denn nichts davon trifft zu.
({1})
- Ja, in dieser Einschätzung besteht zwischen der FDP
und der Linken keine Differenz.
({2})
Was ich aber bedenklich finde, ist, dass Sie die Argumente gegen den Einsatz der Parlamentsarmee im Falle
eines EU-Mandats für den Kongo, die ich vorgetragen
habe, einfach von sich gewiesen haben. Das wundert
mich sehr. Vielleicht sind Ihnen die Institutionen und die
Entscheidungswege nicht sehr vertraut. Aber wenn diese
Entscheidung auf EU-Ebene angesiedelt und das Mandat
erst einmal erteilt ist, werden interne Vereinbarungen
und Übereinstimmungen getroffen, was eine Krise ist
und was im Falle einer Krise zu tun ist. Dann wird das
deutsche Parlament nicht mehr gefragt sein.
Nun sagen Sie, die Parteien, die sich hier im Hause
für ein verfassungskonformes Vorgehen ausgesprochen
haben, gingen schräge Allianzen ein. Ich denke, die ArMonika Knoche
gumentation von Frau Homburger ist nicht ganz treffend. Aber zumindest einen wichtigen Punkt hat sie angesprochen: dass ab dem Moment, ab dem die
europäische Armee unter europäischem Mandat steht,
kein nationales Parlament mehr seine Pflichten erfüllen
kann. Das kann niemanden kalt lassen, der sich Demokrat nennt und die Demokratie in anderen Teilen Europas verteidigen will.
({3})
Als wir über das Thema Belarus schon einmal diskutiert haben, habe ich unzweideutig zum Ausdruck gebracht, wie sehr wir das dortige diktatorische System
verurteilen.
({4})
In dieser Debatte habe ich vorgeschlagen, diese Frage
einmal kompakt zu behandeln und dabei auch einzubeziehen, welche Wege der Demokratisierung - auch welche nicht importierbaren oder exportierbaren Wege der
Demokratisierung - es beim Prozess der Transformation
postsowjetischer Staaten gibt. Man muss eine ernsthafte
Politik betreiben und darf sich nicht in ideologische
Schlagwörter verlieben, die man hier im Bundestag verbreitet. Man darf andere Positionen nicht diskreditieren.
({5})
Wir werden Ihren Antrag nicht ablehnen, wir werden
ihm nur nicht zustimmen. Sie wissen auch, warum. Sie
haben uns bewusst nicht an diesem Prozess beteiligt. Sie
wollen uns außen vor haben. Wir karten nicht nach. Wir
verlangen, dass eine solche Debatte als eine eigenständige Debatte in diesem Haus geführt wird.
Zu Ihrer Bemerkung, wir würden darüber hinwegsehen, dass Demonstranten abgeführt wurden, möchte ich
sagen: Zwei Abgeordnete der Linksfraktion werden
demnächst als Prozessbeobachter nach Genua reisen.
({6})
Dort hat es schwerste Verletzungen - wenn Sie so wollen: Menschenrechtsverletzungen - gegeben; schließlich
kam jemand zu Tode. Es ging gegen das Demonstrationsrecht, das die Menschen beim G-8-Gipfel wahrgenommen haben.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit von drei Minuten ist um.
Wenn es um ein Europa der Demokratie geht, dann
müssen wir zum Beispiel die Vorgänge in Italien in unsere Beobachtung mit einschließen.
({0})
Herr Kollege Trittin, bitte.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin Knoche, das unterscheidet uns. Wir sind der Auffassung, dass es egal ist,
ob Demonstranten wie beispielsweise bei dem G-8-Gipfel durch die italienische Polizei misshandelt und unrechtmäßig inhaftiert wurden oder ob das in Weißrussland passiert.
({0})
Wir wollen nicht mit unterschiedlichen Maßstäben messen. Dazu gehört auch, dass man das Unrecht auf der einen Seite nicht dadurch entschuldigt, dass es auf der anderen Seite auch Unrecht gibt.
({1})
Meine zweite Bemerkung bezieht sich auf intellektuelle Redlichkeit. Ich bin gerne bereit, Ihren Text nachzulesen. Ich habe gehört, Sie haben sich zur Haltung der
osteuropäischen Regierungen zum Verfassungsprozess
explizit positiv geäußert. Es tut mir Leid, wenn ich das
falsch verstanden habe. Ich meine aber, dass ich das
richtig verstanden habe.
({2})
Es gibt in diesem Zusammenhang nur eine fundierte
Aussage, und das ist die Aussage des polnischen Staatspräsidenten. Das fand ich in der Tat bemerkenswert.
Es passt im Übrigen auch. Als ich mir angehört habe,
was die Vertreterinnen und Vertreter der Linksfraktion
bei der gemeinsamen Ausschusssitzung mit dem französischen Europaausschuss über die Frage, wie es in
Europa weitergeht, vertreten haben, habe ich eine verblüffende Übereinstimmung bis ins Wörtliche mit den
Anhängern von Sarkozy festgestellt. Das ist nicht mein
Europa. Mein Europa ist ein Europa der Demokratie und
der sozialen Rechte. Sie finden in dieser Verfassung sehr
viele demokratische und soziale Rechte, die wir im
Grundgesetz übrigens vermissen.
({3})
Dritte Bemerkung. Wenn man über die Rolle des Parlamentes beim Einsatz der Bundeswehr und dessen
Rechte spricht, dann brauchen wir keine Belehrung. Ich
sage Ihnen: Es wird auch in Europa Zusagen über den
Einsatz deutscher Soldaten generell nur unter dem Vorbehalt des Parlamentes geben.
Ich finde, dass man solche Anfragen seriös prüft und
nicht nach dem Motto verfährt: Weil die Anfrage von
den Vereinten Nationen kommt, können wir nicht Nein
sagen. Nicht dass Sie mich missverstehen! Ich hätte von
Ihnen erwartet, auf die Anfrage der Vereinten Nationen
nicht mit einem einfachen Verweis auf Neokolonialismus zu reagieren, sondern sich ernsthaft mit der Situation vor Ort zu beschäftigen und mit der Frage, wie es
gelingen kann, die Wahlen vernünftig über die Bühne zu
bringen. Das ist das Minimum, um außenpolitische
Glaubwürdigkeit zu beweisen.
({4})
Das Wort hat der Kollege Walter Kolbow, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Der Stand der Debatte lässt mich anders
beginnen als geplant. Es ist festzuhalten - das werden
auch der Kollege Grund, die Kollegin Zapf und der Kollege Bodewig, die Beobachter bei den Wahlen in Belarus
waren, noch zum Ausdruck bringen -, dass Ihre Position
gegenüber diesen unfairen Wahlen unhaltbar und diesem
Parlament unwürdig ist. Sie ist nicht hinzunehmen.
({0})
Das ist ein Schlag ins Gesicht von Alexander Konsulin
und der anderen Verhafteten sowie der Demokratiebewegung und der Zivilgesellschaft. Das können Sie von der
Linkspartei am besten dadurch wieder gutmachen, dass
Sie unserem Antrag zustimmen. Das wäre die richtige
Position.
({1})
Ich bin dem Kollegin Trittin sehr dankbar, dass er
noch einmal nicht nur auf die Notwendigkeit, sondern
auch auf die Selbstverständlichkeit des Parlamentsvorbehalts bei der Entscheidung darüber hingewiesen hat,
ob man sich auf Anfrage der UN an einer EU-Mission
im Kongo beteiligt. Das ist das Nonplusultra. Hier und
nirgendwo anders wird entschieden.
({2})
Bis zur Entscheidung werden alle Fragen zu stellen und
auch zu beantworten sein. Manchmal ist es auch so, dass
man sich diese Mandate erarbeiten und Informationslücken und Emotionen, die man durch Sozialisation
möglicherweise gewonnen hat, schließen bzw. überwinden muss, um zu richtigen Entscheidungen zu kommen.
Dies scheint doch eine zu gelingende Mission zu sein.
Sie wird gelungen sein, wenn wir die Wahlen erfolgreich
abgesichert haben, wenn zum Verfassungsprozess auch
noch der Demokratisierungsprozess - durch Wahlvorgänge zum Präsidentenamt und zum Parlament - hinzugekommen ist und wenn wir - auch das ist gesagt worden - 15 000 Kindersoldaten entwaffnen, demobilisieren
und wieder mit ihren Familien zusammenführen konnten. Wir wollen und müssen die gute Arbeit der NGOs
und der vielen, die als Zivilisten dort sind, militärisch ergänzen. Herr Hoppe, weil auch Kabila, Bemba, der Vorsitzende der Wahlkommission, der hier im Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit war und vorgetragen
hat, und der Verteidigungsausschuss das befürworten
und weil die Entsandten aus den Fraktionen - wenn ich
das so sagen darf -, die dort waren, zurückgekommen
sind und gesagt haben, dass vieles dafür spricht, sich an
dieser Mission zu beteiligen, ist es sicherlich richtig, die
Vorbereitungszeit zu nutzen und dann zu einer Entscheidung zu kommen, die den Menschen im Kongo und unserem strategisch wichtigen Nachbarkontinent Afrika
gerecht wird.
({3})
Der Herr Außenminister hat hier selbstverständlich
die strategischen und operativen Schwerpunkte der
deutschen Außenpolitik vorgetragen. Ja, die Globalisierung muss positiv gestaltet werden. Ja, die deutschen
Beiträge zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus sind zu leisten. Die EU muss vertieft und verträglich erweitert werden. Die transatlantischen Beziehungen sind zu intensivieren und die Reform der Vereinten
Nationen ist weiter zu betreiben. Dabei gilt es - auch das
ist in den Debattenbeiträgen angeklungen -, die Felder
Energieversorgung und internationale Sicherheit, Demografie und internationale Sicherheit sowie Migration und
internationale Sicherheit aktiv zu begleiten.
Ich denke, wir sind uns in diesem Haus einig, dass
auch für die neue Regierung das gilt, was bisher für alle
Bundesregierungen nach dem Krieg gegolten hat: Die
deutsche Außen-, Sicherheits-, Entwicklungshilfe- und
Menschenrechtspolitik dient dem Frieden. Das ist die
Grundkonstante unserer Politik, die Demokratie und soziale Gerechtigkeit auch außerhalb unseres Vaterlandes
fördert.
({4})
Ich denke, dass wir hier - das hat die Kanzlerin heute
Morgen zu Recht gesagt - unsere Werte mit unseren Interessen in Einklang bringen werden. Dabei wünschen
wir dem Außenminister, der einen guten Start hatte, viel
Erfolg. Herr Hoyer, Sie haben sich mit Ihren Anmerkungen fahrlässig oder sogar vorsätzlich an der Erschwerung dieses Starts beteiligt.
({5})
Wir als sozialdemokratische Bundestagsfraktion sind auf
diesem Weg an der Seite der Bundeskanzlerin. Wir wünschen Ihnen viel Glück und Erfolg bei diesen verantwortungsvollen Aufgaben.
Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik sowie die
Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik werden aufgrund ihrer Professionalität und Verlässlichkeit anerkannt und brauchen den weltweiten Vergleich nicht zu
scheuen. Die Markenzeichen der deutschen Politik sind
und bleiben Kontinuität und Verantwortungsbewusstsein. Die Anmerkung sei mir gestattet: Wer Überlegungen zu Veränderungen anstellt oder gar versehentlich das
Wort Revision in den Mund nimmt, der sollte diesen Teil
seiner Ausdrucksweise im Dialog privatissime et gratis
überdenken.
({6})
An dieser Stelle sollte unser Glückwunsch nicht nur
an Herrn Olmert, sondern auch an unseren Freund Peretz
von der Arbeiterpartei gehen. Diese beiden Politiker tragen eine große Verantwortung. Die neue israelische Regierung braucht alle Kräfte, um zu einer friedlichen Entwicklung zu kommen. Ich glaube, wir sind uns darüber
einig, dass nach den Wahlen die Hamas und die neue israelische Regierung endlich aufeinander zugehen können. Wir in Deutschland unterstützen die politische Forderung des Nahostquartetts nach einer schnellen
Wiederaufnahme der Roadmap.
({7})
Ich komme gerade von einer Balkanreise zurück. Ich
habe in Belgrad, aber auch in Priština gesehen, wie bei
den Wiener Verhandlungen um ein Ergebnis gerungen
wird. Wir müssen dafür Sorge tragen, Präsident Tadić in
Serbien in seinem Bemühen zu unterstützen, die demokratischen Kräfte gegen die radikalen Nationalisten und
gegen die Milošević-Sozialisten zu stärken, damit von
dort Friedens- und Verhandlungsbereitschaft erkennbar
ist,
({8})
die die Kosovaren signalisieren, die - darin sind sie sich
einig - zur Kooperation mit den Serben bereit sind. Umgekehrt scheint mir dies im Augenblick nicht der Fall zu
sein.
Herr Außenminister, Sie werden in der internationalen Gemeinschaft akzeptable, nicht besserwisserische,
aber engagierte deutsche Beiträge einbringen. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist an Ihrer Seite.
({9})
Ich erteile das Wort Kollegen Markus Löning, FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Steinmeier, Sie sagten vorhin, dass die EU mehr als nur
Binnenmarkt und Verfassung ist. Ich will Ihnen in diesem Punkt ausdrücklich zustimmen.
Als Vorbemerkung will ich deutlich machen, wie
wichtig es ist, dass wir unsere Werte in Osteuropa hochhalten und dort die Bemühungen um Demokratie unterstützen.
Die EU ist aber eben auch Binnenmarkt und Verfassung. Die Frage, die wir uns angesichts der Krise und
der fehlenden Glaubwürdigkeit der EU stellen müssen,
ist: Wie begegnen wir der Europamüdigkeit und Europaskepsis unserer Bevölkerung und wie überzeugen wir
sie davon, dass wir alle gemeinsam von der EU profitieren? Ich glaube, wir sind uns in diesem Hause weitgehend einig, dass wir eine starke Identifikation der Bevölkerung hinsichtlich der weiteren Integration in Europa
wollen.
({0})
Es ist für Europa entscheidend, Erfolge zu erzielen.
Ich glaube nicht, dass es wichtig ist, viele neue Politikgebiete zu besetzen, sondern es ist wichtig, in den Politikgebieten, für die die EU zuständig ist und in denen sie
handlungsfähig ist, Erfolge zu erzielen und sich darauf
zu konzentrieren, diese Erfolge nach außen deutlich zu
machen.
Ein gutes Beispiel dafür ist das, was die Kommissarin
Reding zurzeit macht. Sie hat die Handy-Verträge und
damit die Mobilfunkunternehmen kritisiert. Im Sinne der
Verbraucher muss für Handys ein Binnenmarkt entstehen; denn es kann nicht sein, dass beim transnationalen
Telefonieren abkassiert wird. Hier ist die EU gefragt und
sie kann an dieser Stelle deutlich machen, was für einen
Mehrwert sie uns Bürgern bietet. Das ist ein gutes Beispiel dafür, was nach außen vermittelt werden muss. Es
zeigt im Übrigen, wo der Binnenmarkt funktionieren
muss. Das muss auch vonseiten der Europäischen Union
durchgesetzt werden.
({1})
Lassen Sie mich zwei kurze Anmerkungen zur Energiepolitik der Europäischen Union machen. Ich glaube,
dass es auch in der Energiepolitik wichtig ist - darin widerspreche ich Ihnen ausdrücklich, Herr Trittin -, dass
die EU zunächst ihre ureigene Aufgabe wahrnimmt,
nämlich einen funktionierenden Binnenmarkt im Sinne
der Verbraucher sicherzustellen. Wir brauchen Wettbewerb auf dem Energiemarkt. Günter Rexrodt hat seinerzeit im Deutschen Bundestag damit begonnen, in
Deutschland auf diesen Wettbewerb hinzuarbeiten, und
Ihre Regierung, Herr Trittin, hat dann dafür gesorgt, dass
es kein Erfolg geworden ist.
Wir müssen für Wettbewerb auf dem Energiemarkt
sorgen, damit unsere Verbraucher davon profitieren können. Das ist die eine Seite.
({2})
Die andere Seite ist, dass wir unsere Energieinteressen
gegenüber Dritten gemeinsam vertreten müssen. Dass
die Energiepolitik ein Teil der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik wird, ist ein guter und wichtiger
Schritt. Gemeinsam sind wir stärker. Wir haben gemeinsame Interessen, die wir endlich einmal definieren müssen. Das Durcheinander am Schwarzen Meer, im kaukasischen Raum und anderswo, wo jeder der europäischen
Partner seine eigene Politik verfolgt, ist unerträglich und
kontraproduktiv. Es geht zu unseren Lasten. Andere machen deutlicher, was sie wollen, und sie profitieren davon.
Was wir in der Energiepolitik nicht brauchen - insoweit ist die Entscheidung des Gipfels zu begrüßen -,
sind weitere gemeinsame Institutionen und eine Erweiterung der Zuständigkeiten der EU. Die EU sollte zunächst
einmal das erfolgreich machen, wofür sie schon zuständig ist.
Ich möchte noch einige Bemerkungen zum Lissabonprozess machen. Das Abschlussdokument enthält eine
endlose Aufreihung von Punkten, die im Wesentlichen
richtig sind. Aber ich warne ausdrücklich davor, Ziele
wie die Schaffung von jährlich 2 Millionen neuer Arbeitsplätze innerhalb der EU festzuschreiben. Andere
Länder sind damit erfolgreich; wir sind es nicht. Damit
werden Erwartungen an die EU geweckt, die sie nicht erfüllen kann.
Es ist unredlich, wenn wir vom Europäischen Rat etwas beschließen lassen, das wir in Deutschland nicht
umsetzen. Das führt zu Verdrossenheit, weil dann, wenn
es nicht klappt, mit dem Finger auf die EU gezeigt und
der Vorwurf erhoben wird, dass nur große Sprüche gemacht werden, aber nichts umgesetzt wird. Dabei liegt
die Schuld dafür bei den nationalen Regierungen. Dort
müssen die Hausaufgaben gemacht werden, statt zu versuchen, die Schuld auf Brüssel zu schieben.
({3})
Auf dem EU-Gipfel wurde die Umsetzung der
Dienstleistungsrichtlinie begrüßt. Es ist zwar schön,
dass etwas passiert, aber es handelt sich in diesem Fall
um einen völlig mutlosen Schritt. Es fehlt der politische
Mut. Ich glaube, das müssen wir alle deutlicher nach außen vertreten. Der Erfolg der Europäischen Union besteht gerade darin, dass wir alle unsere Märkte geöffnet
und den politischen Mut gehabt haben, darauf zu bauen,
dass wir letztendlich alle gewinnen, wenn wir unsere
Märkte auch für unsere Nachbarn öffnen. Das war das
Erfolgsrezept der Europäischen Union. In diesem Sinne
ist der Kompromiss der Dienstleistungsrichtlinie außerordentlich enttäuschend.
An dieser Stelle lässt sich auch noch die Position der
Bundesregierung zur Freizügigkeit anführen, die ebenfalls von großer Mutlosigkeit geprägt ist. Es ist sehr
schade. Sie verschenken eine große Chance, zu zeigen,
welchen Mehrwert Europa bringen kann.
({4})
Lassen Sie mich zur Verfassungsdebatte nur so viel
feststellen: Sie haben sich im Koalitionsvertrag sehr viel
vorgenommen. Inzwischen haben Sie erkannt, dass das,
was Sie angepeilt haben - nämlich schnell neue Impulse
zu geben -, nicht realistisch ist, und jetzt rudern Sie zurück. Die Kanzlerin rudert zurück, auch öffentlich.
Ich glaube, dass es neben der Denkpause, die wir hinsichtlich der Verfassung einlegen müssen, wichtig ist, in
der Zeit bis zur Ratifikation der Verfassung Erfolge vorzuweisen. Es wird nicht genügen, den Text etwas zu ändern. Für die Stimmung in den Mitgliedsländern wird
vielmehr wichtig sein, klar zu machen, dass Europa ein
Erfolg und für die Bürger von Vorteil ist. Daran müssen
wir in den nächsten Monaten und Jahren arbeiten.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Manfred Grund, Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Es muss schon
etwas Besonderes passiert sein, wenn sich der Deutsche
Bundestag innerhalb von drei Wochen zweimal mit einem Thema, mit einem Land wie Belarus beschäftigt,
und dies sogar - abweichend von der Tagesordnung - in
der Haushaltswoche. Was ist passiert? Warum weichen
wir von der Tagesordnung ab? Es ist uns nicht egal,
wenn in einem europäischen Land, anderthalb Flugstunden von hier entfernt, Tausende Menschen mit Polizeiknüppeln durch die Straßen getrieben werden, nur
weil sie von ihrem Menschenrecht auf Demonstrationsund Versammlungsfreiheit Gebrauch machen.
({0})
Es ist uns nicht egal, wenn Tausende verhaftet und in
Gefängnisse gebracht werden - die Angehörigen erfahren noch nicht einmal, wo sie sind - und ihnen Haftstrafen von bis zu zwölf Jahren drohen, nur weil sie von diesem Recht Gebrauch gemacht haben. Es darf uns nicht
egal sein, wenn Menschen beginnen, ihre Angst vor einer Diktatur zu überwinden. Das bedarf unserer aktiven
Unterstützung.
({1})
Liebe Frau Knoche, ich verstehe oft nicht die möglicherweise besondere Affinität der Linkspartei zu Diktaturen. Ob es Milošević oder Saddam Hussein gewesen
ist, ob es Fidel Castro oder Lukaschenko ist, ich verstehe
nicht, was an der Politik dieser Diktatoren sozialistisch
oder demokratisch sein soll. Sie ist einfach reaktionär
und menschenverachtend.
({2})
Am 19. März dieses Jahres fanden Präsidentschaftswahlen in Belarus statt. Diese Wahlen waren per se illegitim; denn sie beruhten auf einer Verfassungsänderung,
auf einem Referendum vom 17. September 2004, mit
dem sich Lukaschenko die Möglichkeit verschafft hat,
zu einer dritten bzw. sogar zu einer vierten Amtszeit anzutreten. Die OSZE-Beobachter, die schon 2004 dort gewesen sind, bestätigen: Diese Wahlen waren gefälscht
und widersprachen der belarussischen Verfassung. Das
steht unzweifelhaft fest.
Nun hat sich Lukaschenko am 19. März selbst inthronisiert. Er hätte durchaus die Möglichkeit gehabt, sich
einen demokratischen Anschein zu geben; denn 50 bis
60 Prozent der belarussischen Gesellschaft - wir können
es nicht genauer quantifizieren - sind durchaus mit der
wirtschaftlichen Situation einverstanden. Hinzu kommt,
dass die Entwicklungen in den Nachbarländern alles andere als ermutigend sind. Den Belarussen fehlt es erstens
an Perspektiven und zweitens an Informationen.
Ich, der ich zusammen mit anderen Kollegen als
Wahlbeobachter dort gewesen bin - es wäre wünschenswert gewesen, wenn auch die Linksfraktion einen Wahlbeobachter gestellt hätte - und erlebt habe, wie man
Wahlen manipuliert und Menschen einschüchtert, weil
ich aus einer Diktatur komme, habe in Belarus die gleiche Situation vorgefunden, die ich bis 1989 in der DDR
zur Genüge erlebt habe. Den Menschen werden Informationen vorenthalten. Sie leben in Angst und Abhängigkeit und es fehlt ihnen an Perspektiven. Wir konzedieren
aber mit Freude, dass die Belarussen beginnen, ihre
Angst abzulegen, und dass sich die Oppositionsparteien
das erste Mal seit 1996 organisieren und sich mit
Alexander Milinkewitsch auf einen Kandidaten verständigt haben, der durchaus in der Lage ist, Vertrauen zu
vermitteln.
Die entscheidende Frage ist aber, wie die Menschen
nicht nur in Minsk, sondern auch in der belarussischen
Provinz informiert werden können. Hier haben wir, die
Europäische Union und insbesondere Deutschland, mit
Informationsprogrammen, mit Radioprogrammen zu
wirken begonnen, um das Meinungsmonopol des Staates
bzw. des Regimes zu brechen. Wir sollten an diesen Informationsprogrammen festhalten bzw. sie sogar ausdehnen.
({3})
Wir wollen keine Subversion ausüben. Aber wir wollen,
dass die Menschen Informationen bekommen. Das ist
der erste Punkt.
Zweitens. Mit unserem fraktionsübergreifenden Antrag - eine Fraktion trägt ihn nicht mit - fordern wir
Lukaschenko und sein Regime auf, die Verhafteten freizulassen bzw. für faire und transparente Verfahren zu
sorgen, zu denen auch die Öffentlichkeit zugelassen ist.
Wir möchten, dass Alexander Kosulin, einer der Oppositionsführer, umgehend freigelassen wird und dass ein intensiver Dialog darüber geführt wird - das sage ich an
die Adresse der Europäischen Union, aber auch an die
unserer Regierung -, wie wir in Zukunft mit dem Regime in Belarus umgehen sollen. Welches Angebot haben wir im Rahmen der europäischen Nachbarschaftspolitik zu machen? Bei welchen Angeboten ist das
Regime bereit, mit uns zusammenzuarbeiten? Wie können wir die Zivilgesellschaft und die Opposition stärken? Das hat viel mit Information zu tun.
Möglicherweise, Herr Kollege Trittin, müssen wir uns
auch überlegen, ob wir demnächst tatsächlich 60 Euro
für ein Schengenvisum nehmen können, das jemand aus
Belarus braucht, um in die baltischen Staaten, nach
Polen oder nach Deutschland zu kommen. Ich glaube,
dass wir in der Lage sind, Visaerleichterungen von Visamissbrauch zu trennen. Wir sind aufgefordert, der belarussischen Zivilgesellschaft Informationen zukommen
zu lassen und sie auf ihrem Weg zu ermutigen.
Bei den Gesprächen, die wir mit Russland führen,
dürfen wir Belarus nicht ausnehmen. Der Schlüssel für
die Lösung der Situation in Belarus liegt nämlich in
Russland. Russland subventioniert die belarussische
Wirtschaft mit wahrscheinlich 7 Milliarden Euro im
Jahr; ohne diese Mittel würde das System in sich zusammenbrechen.
Also: Dialog mit Russland und der Opposition in
Belarus, abgestimmte Initiativen innerhalb der Europäischen Union, in jeder Weise Ermutigung der belarussischen Zivilgesellschaft, die Gott sei Dank beginnt, ihre
Angst vor dem Diktator zu überwinden. Dazu braucht
unser Antrag eine breite Zustimmung. Wir selbst brauchen einen langen Atem, weil sich das Problem nicht
von heute auf morgen lösen lassen wird. Demokratischer
Wandel braucht eben etwas länger. Wir sind aber auf einem guten Weg und dafür bin ich uns und Ihnen allen
sehr dankbar.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Norman Paech, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesaußenminister, Sie haben es erwähnt: Morgen empfangen Sie Vertreter der fünf ständigen Mitglieder des
UNO-Sicherheitsrates, um mit ihnen ein Problem zu besprechen, das die USA als das größte außenpolitische
Problem der nächsten Zukunft bezeichnet haben, nämlich das iranische Atomprogramm. Nun haben die
USA sich entschlossen, wie damals im Falle des Iraks
den Schraubstock des UN-Sicherheitsrats auch dem Iran
anzulegen. Man weiß allerdings nie, wer dabei mehr in
die Klemme kommt: der, der dreht, oder der, der eingeklemmt werden soll.
({0})
Sie versichern zwar immer - ich glaube Ihnen das
auch -, Herr Steinmeier, dass es nicht zu militärischen
Sanktionen kommen soll. Aber was verleitet Sie eigentlich, Ihren Kollegen Rumsfeld und Cheney nicht zu
glauben, die immer wiederholen, dass nichts ausgeschlossen werden darf und damit auch nicht die militärische Option? Wer sich - das ist die Warnung - in den
Mechanismus des UNO-Sicherheitsrats begibt, wird es
schwer haben, sich aus ihm wieder herauszulösen, bevor
alle seine Mittel ausgeschöpft sind. Kapitel VII der
UNO-Charta ist in den Händen Ihrer Kollegen ein vergiftetes Friedensangebot, weil die militärische Option
immer enthalten ist.
({1})
Vor zwei Tagen erst hat das hier in Berlin eine große
Rolle gespielt, als der ehemalige US-Sicherheitsberater
Zbigniew Brzezinski auf einem Forum der Hessischen
Stiftung Friedens- und Konfliktforschung diese Option
als ein Hindernis für die Verhandlungen bezeichnet hat,
weil sie auf der Seite derer, mit denen man verhandeln
will, eigentlich nur Furcht erzeugt. Wenn Sie, Herr Bundesminister, den Verhandlungsweg noch nicht abgeschrieben haben, wird es morgen auch um einen Kompromissvorschlag an den Iran gehen, das heißt konkret:
um den Abschied von der Maximalforderung an den
Iran, vollständig und auf unbestimmte Zeit auf die Urananreicherung zu zivilen Zwecken zu verzichten. Staatsminister Erler hat einen solchen Schritt bereits angedeutet und das ist sehr positiv.
Machen wir uns Folgendes einmal klar: Da geben
sich die Staaten einen Atomwaffensperrvertrag als
Atomwaffenordnung und dann kommen die mächtigsten
Staaten daher und zwingen die schwächeren Staaten, auf
die Rechte aus diesem Vertrag zu verzichten. Gleichzeitig kümmern sich die stärksten Staaten einen Dreck um
ihre eigenen Verpflichtungen aus diesem Vertrag,
({2})
indem sie immer neue Generationen von Atomwaffen
- ob Mininukes oder Trident-Nachfolger - entwickeln.
Diesen Zynismus können Sie niemandem vermitteln; so
etwas ist zutiefst unglaubwürdig.
({3})
Eine Maxime jeder glaubwürdigen Außenpolitik lautet
doch: Behandle andere nach den gleichen Prinzipien,
nach denen du selbst behandelt werden möchtest!
Das gilt auch für einen zweiten Konflikt, den ich ansprechen möchte und der seit langem die Form eines
Zermürbungskrieges angenommen hat, den Konflikt
zwischen Palästina und Israel. Ohne eine Lösung wird
der ganze Nahe und Mittlere Osten nie zur Ruhe kommen. Sie kennen den Vorschlag, den wir gemacht haben:
eine Konferenz für Frieden und Zusammenarbeit im Nahen Osten einzuberufen, die nicht nur helfen soll, das Palästinaproblem, sondern auch das Problem des iranischen Atomprogramms zu lösen. Nach zwei Wahlen in
Palästina und in Israel kann die deutsche Außenpolitik
ihre immer zu Recht betonte Verantwortung für die Region nicht mehr dadurch erfüllen, dass sie auf der einen
Seite Druck erzeugt, der anderen Seite aber alles, was sie
macht, ohne einen offenen Kommentar durchgehen lässt.
Es ist vollkommen richtig, von einer von der Hamas
geführten Regierung die Anerkennung des Existenzrechts Israels, die Einhaltung der abgeschlossenen Verträge und der internationalen Verträge und die Einstellung aller Terrorakte und aller Gewalt zu fordern. Aber
fordern Sie auch von der neuen Regierung in Jerusalem
nicht nur die Einhaltung der Roadmap, die - auch durch
die vergangene israelische Regierung - vollkommen
verschlissen ist, sondern auch ganz konkret die Anerkennung eines souveränen palästinensischen Staates, die
Einhaltung aller Verträge und des Völkerrechts, die Aufgabe der Besatzung der Westbank und den Abzug aller
Siedler sowie die Einstellung des Terrors der gezielten
Tötungen.
({4})
Erst wenn Sie mutig auch an diese Seite des Konflikts
herangehen, zeigt sich die wahre Verantwortung der
deutschen Außenpolitik. Und nur dann kann es eine dauerhafte Lösung des Konflikts im Nahen und Mittleren
Osten geben.
Danke sehr.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegin Marieluise Beck, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur
ein Satz zu Herrn Paech: Wer sich in dieser Weise von
der Politik der Vereinten Nationen absetzt, für den bleibt
nur noch nationale oder nationalistische Politik. Das
möchte ich hier festhalten.
({0})
Ich bin dem Kollegen Grund sehr dankbar - wir waren uns über alle Fraktionen hinweg darin einig -, dass
er so eindringlich die Situation in Belarus geschildert
hat. Es gibt seitenlange Listen mit Verhafteten. Es gibt
Berichte von jungen Frauen, von Studentinnen, dass sie
in der Haft von Milizen mit Vergewaltigung bedroht
worden sind und ihnen gesagt worden ist, sie würden in
den Wald verschleppt und dort umgebracht. Es geht dort
also ganz fürchterlich zu.
Wir sollten uns darüber im Klaren sein: Das eigentlich Entscheidende wird sein, dass wir unser Interesse an
Belarus aufrechterhalten.
({1})
Wir haben in kurzer Zeit zweimal darüber debattiert. Sie
haben sicherlich eine realistische Einschätzung gegeben,
als Sie sagten, wir würden einen langen Atem brauchen.
Die Reformbewegung und die Opposition werden einen
langen Atem brauchen. Deswegen brauchen auch wir einen langen Atem.
Es gibt über ganz vieles Einigkeit: Das Regime
Lukaschenko ist diktatorisch. Die Wahlen waren weder
frei noch fair. Das Lukaschenko-Regime ist für uns kein
Partner. Es gibt Einigkeit in der Forderung nach Freilassung der Verhafteten. Ich möchte noch einmal daran
erinnern, dass es nach wie vor seit dem 16. September 1999 vier Verschwundene gibt, deren Schicksal nie
aufgeklärt worden ist, und es gibt einen ehemaligen
Marieluise Beck ({2})
Oppositionsführer, der auch schon sehr profiliert war,
Herrn Marinitsch, der mit seiner Verhaftung aus dem
Verkehr gezogen worden ist und fast schon vergessen zu
werden droht. Das darf nicht noch einmal mit
Milinkewitsch passieren.
({3})
Es gibt aber auch eine andere Entwicklung. Die Angst
scheint gebrochen zu sein. Es gibt eine sichtbare Opposition und es gibt Führungspersonen in dieser Opposition.
Wir können vor allen Dingen feststellen: Der nächste
Anlauf wird von einem höheren Niveau aus beginnen.
Die Frage ist jetzt, was es für uns zu tun gibt. Wir haben eben über die Informationspolitik gesprochen. Die
Reichweite des erwähnten Radiosenders ist vollkommen
unzulänglich. Da muss etwas passieren. Zum Beispiel
muss der Visabann auf diejenigen ausgeweitet werden,
die sich Verbrechen schuldig machen. Ich glaube, da
sind wir uns einig, Stichwort „Einfrierung von Auslandskonten“.
Sanktionen zu verhängen, ist ein zweischneidiges
Schwert. Wir wissen, dass Saddam Hussein ökonomische Misswirtschaft immer auf Sanktionen statt auf die
eigene Politik schieben konnte. Wir sollten wissen: Belarus exportiert Energie, die es billig von Russland bekommt, und erzeugt Düngemittel in großem Umfang.
Wir sind Abnehmer. Devisen sind ein mächtiges Mittel.
Über diesen Zusammenhang ist nachzudenken.
Das Wichtigste bleibt allerdings die Unterstützung
der mutigen Menschen in Belarus. Wir wissen, es sind
vor allen Dingen junge, gut ausgebildete Menschen, die
sich in dieses dumpfe System Lukaschenko nicht mehr
einbinden lassen wollen. Hier kommt jetzt unsere Verantwortung ins Spiel. Wir wissen, dass viele dieser jungen Menschen eine Exmatrikulation zu erwarten haben.
Uns ist bekannt, dass viele Wissenschaftler nicht mehr
werden weiterarbeiten können. Wir sollten dem Beispiel
der polnischen Rektorenkonferenz folgen. Sie hat sich
dazu bereit erklärt, 200 Studenten an polnischen Universitäten aufzunehmen.
({4})
Ich hoffe - damit verbunden ist ein eindringlicher Appell -, dass wir uns in Deutschland - vielleicht sogar zusammen mit Frankreich und Polen - zu einer solchen
Initiative durchringen können; denn sonst leisten wir
keine Unterstützung, sondern weinen nur Krokodilstränen. Das sollten wir nicht tun. Um es hier klar zu sagen:
Es wird dabei auch um Stipendien gehen, um Sprachkurse und Ähnliches mehr.
Über die Frage der restriktiven Visavergabe kann
hier anscheinend wieder rational gesprochen werden.
Wer sich isoliert, der darf sich nicht wundern, dass der
Informationsaustausch nicht funktioniert. Wir müssen
nach Wegen der Öffnung suchen. Die 60 Euro für ein
Schengenvisum sind ein Riesenproblem. Auch darüber
ist zu sprechen.
Wir alle wissen, dass der Schlüssel zur Lösung der
Probleme in Russland liegt. Deswegen möchte ich den
Blick sehr gern noch kurz auf die Entwicklung der russischen Innenpolitik lenken. Die Bundeskanzlerin hat gesagt, es geht um eine strategische Partnerschaft mit
Russland. Ich frage jetzt noch einmal: Was heißt das
konkret? Wir sehen mit ganz großer Sorge, dass durch
das NGO-Gesetz die demokratischen Strukturen und die
Zivilgesellschaft in Russland immer stärker unter Druck
gesetzt werden. Es gibt eine Kampagne gegen Nichtregierungsorganisationen, insbesondere gegen Bürgerrechtsorganisationen, an allererster Stelle gegen die Russisch-Tschetschenische Freundschaftsgesellschaft. Es
hat einen Grund, dass ein massiver Druck auf diese Organisation ausgeübt wird. Die Kampagne richtet sich
aber auch gegen Memorial, gegen die Moskauer Helsinki-Gruppe und gegen die Soldatenmütter.
Das alles muss uns interessieren, denn dort befindet
sich der Keim der Demokratie in Russland. Man versucht jetzt, ihn zu zerstören, indem man den Vorwurf erhebt, ausländische Gelder würden genutzt, um umstürzlerische Kräfte zu unterstützen. Putin weiß, dass das
nicht wahr ist. Der ihn stützende FSB weiß das auch.
Das müssen wir deutlich aussprechen und wir müssen an
der Seite dieser NGOs stehen.
({5})
Wir müssen in diesem Haus auch wieder über Tschetschenien reden. Die schwierigen Auseinandersetzungen
im Irak, der Extremismus eines Ahmadinedschad, das
weltweite islamistische Terrornetz, das alles rechtfertigt
nicht die nackte, oft ziellose und immer haltlosere Gewalt gegenüber den Tschetschenen, übrigens auch gegenüber Inguschen, Nordosseten und anderen nordkaukasischen Völkern. Entführungen, wahllose
Verhaftungen, Folter, erpresste Geständnisse, erzwungene Denunziationen, ein Marionettensystem Kadyrow,
das immer mehr paramilitärische Terrortruppen entwickelt, das alles dürfen wir hier nicht schweigend hinnehmen.
({6})
Derzeit hat niemand eine Antwort darauf, wie es in
Tschetschenien weitergehen soll.
Anders als damals aus Bosnien gibt es aus Tschetschenien keine Bilder. Ich fordere dieses Haus und auch
die Regierung auf, den Blick dennoch wieder in den
Nordkaukasus zu richten und dem strategischen Partner
Russland sehr deutlich zu sagen, dass G 8 zu G 7 wird,
wenn man nicht zu Rechtstaatlichkeit und Demokratie
zurückkehrt.
({7})
Für den Europarat heißt das: Einen Vorsitz kann nicht
haben, wer im Windschatten des Kampfes gegen den islamistischen Terror viele Menschen im Kaukasus zu Unrecht terrorisiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Menschenrechte
sind unteilbar. Wir sind uns in diesem Haus darüber
weitgehend einig. Ich wünsche mir sehr, dass wir auch in
diesem Hause, im Plenum und im Ausschuss, wieder
über das schwierige Thema Tschetschenien sprechen.
Schönen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Axel Schäfer, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist erfreulich, dass es in diesem Hause in der außen- und
europapolitischen Debatte unter vier Fraktionen eine
große Übereinstimmung gibt, vor allem weil das nicht
überall in Europa der Fall ist.
({0})
Dennoch sollten wir gerade auf dieser Grundlage durchaus unterschiedliche Pointierungen vornehmen. Es
kommt ja nicht nur darauf an, dass man diskutiert, sondern auch darauf, wie man diskutiert. Also: nach vorn
gewandt, mit Mut und nicht mit Kleinmut!
Der erste Punkt. Wir setzen den europäischen Verfassungsprozess fort. Ende dieses Jahres werden zwei
Drittel aller Länder ratifiziert haben; wir sind dabei. Wir
sollten diejenigen, die jetzt die Ratspräsidentschaft übernehmen - Portugal, Tschechien, Schweden -, daran erinnern, dass sie eine besondere Verantwortung haben, in
der Zeit ihrer Präsidentschaft die Ratifizierung erfolgreich durchzuführen.
({1})
Wenn wir diesen Prozess am Leben halten, setzen wir
auch ein eindeutiges Kontra zu Sprüchen wie „Die Verfassung ist tot“ oder „Nizza oder der Tod“. Wir können
seriös nicht vor 2009 entscheiden, wie bestimmte Probleme überwunden werden müssen; Stichwort: die beiden Referenden in den Niederlanden und in Frankreich.
Ein Zweites. Die Beitrittsperspektive bleibt. Europa
ist für europäische Länder offen, seit die Grenzen offen
sind. Es darf sich keine Methode entwickeln, die da
heißt: Das Boot ist voll. - Das Boot braucht wohl eine
neue Steuerung und einen stärkeren Motor, aber wir
müssen die von uns eingegangenen Verpflichtungen erfüllen und mit der europäischen Perspektive auch allen
Hoffnungen gerecht werden, die in den Ländern bestehen. Gleichzeitig müssen wir deutlich machen - da sind
wir wieder bei der Verfassung -, dass die Aufnahme
weiterer Staaten nur möglich ist, wenn wir eine gemeinsame europäische Verfassung beschlossen haben. Das
gehört zusammen.
({2})
Ein Drittes. Wir lösen Probleme. Die Europäische
Union ist in der Globalisierung - das sollten wir deutlich machen - ein Mittel, Politik zu gestalten, nicht ein
Teil des Problems. Deshalb ist es so wichtig, dass die
ersten Schritte der großen Koalition in Europa gemacht
wurden. Bei der Finanziellen Vorausschau und jetzt bei
der Dienstleistungsrichtlinie ist Übereinstimmung erzielt
worden und sind Dinge nach vorn gebracht worden.
Ein vierter Punkt. Wir widersprechen klar allen neonationalistischen oder populistischen Reden, auch dort,
wo das bis hin in hohe Regierungskreise oder bis an die
Spitze von Nachbarstaaten geht, selbst wenn diese Länder uns wichtig sind und wir alle die Menschen dort mögen. Das sage ich bewusst auf der einen Seite in Richtung Dänemark und auf der anderen Seite in Richtung
Polen.
({3})
Entsprechendes gilt aber auch für unser Land. Eine
Form, Euroskeptizismus und Nationalismus zu fördern,
ist das, was wir leider von der Linkspartei hören.
({4})
Das ist im Übrigen der Abschied von europäischen Traditionen, die von bedeutenden Menschen wie Altiero
Spinelli begründet worden sind.
Ein Fünftes. Wir Deutsche haben eine besondere Verantwortung. Das wird sich auch in der Ratspräsidentschaft zeigen. Aber wir müssen bestimmte Dinge schon
jetzt praktizieren. Wir fangen damit an, zum Beispiel mit
der Übereinkunft von Bundestag und Bundesregierung
über eine stärke Europäisierung des Parlaments. Ich
kündige hier für die SPD an: Wir werden einmal
schauen, ob es 2009 gelingt, dass unser Kandidat oder
unsere Kandidatin aus Deutschland für die EU-Kommission hier vor diesem Hause in einer öffentlichen Anhörung zu Europa Rede und Antwort steht, bevor er oder
sie in Brüssel angehört wird. Das wäre ein guter Beitrag.
({5})
Zusammenfassend Folgendes, liebe Kolleginnen und
Kollegen: Wir leisten als Deutsche einen Beitrag zu
Europa. Der deutsche Europabeitrag in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts waren der Griff danach, Weltmacht
zu werden, und der Weltkrieg. Der deutsche Beitrag in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, in einem
gemeinsamen Europa als Deutsche dem Frieden in der
Welt zu dienen. Daran arbeiten wir; das ist wichtig. Das
ist deutsche Politik in Europa; das ist europäische Politik
in Deutschland.
({6})
Kollege Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dehm? - Das verlängert Ihre Redezeit.
Meine Redezeit war schon zu Ende.
({0})
Ich frage Sie trotzdem sehr gerne, Kollege Schäfer.
Geben Sie mir Recht, dass es keinen Hauch von Nationalismus gibt, wenn man sich auf den heißen konstitutionellen Atem unseres Grundgesetzes von 1949 und nicht
auf den eiskalten Hauch des Neoliberalismus bezieht, indem man in einer neuen europäischen Verfassung, in einem neuen Europa die Sozialbindung des Eigentums
nach Art. 14 - „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch
soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ verankert, statt Neoliberalismus hineinzuwünschen?
({0})
Die europäische Verfassung hat wichtige, zentrale
Elemente des Grundgesetzes übernommen. Sie brauchen
hier keine Ausrede zu finden, warum Sie zusammen mit
den französischen Neofaschisten eine Kampagne gegen
die EU-Verfassung machen. Dafür gibt es keine Entschuldigung!
({0})
Ich erteile das Wort Kollegen Harald Leibrecht, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
weißrussische Volk hat gewählt; aber eine echte Wahl
war es nicht. Ich danke den Wahlbeobachtern, auch aus
diesem Hohen Haus, die nach Weißrussland gefahren
sind, sich die Sache dort angeschaut haben und schockiert zurückgekommen sind. Das weißrussische Volk
wurde einmal mehr von Lukaschenko betrogen; das
müssen wir deutlich und klar aussprechen.
({0})
Der Betrug fing bereits sehr viel früher an, schon bei der
Kandidatenaufstellung, und hat sich durch den ganzen
Wahlkampf gezogen.
Ein Regime wie in Weißrussland, das die Menschenrechte mit Füßen tritt, das seinem eigenen Volk freie
Wahlen abspricht, das friedliche Demonstranten mit
Knüppeln niederschlägt und unbequeme Kritiker ohne
Grund verhaften lässt, muss endlich deutlich und klar
von der internationalen Völkergemeinschaft in die
Schranken gewiesen werden.
({1})
Die Wahlen dort waren eine Farce und alle wissen das.
Ich hoffe, dass auch die Linken sich davon einmal überzeugen lassen.
Meine Damen und Herren, die weißrussische Opposition hat sich nach Kräften bemüht, den Wählern trotz aller Behinderungen, Einschüchterungen und Verhaftungen eine echte Alternative zu bieten; doch sie hatte von
Anfang an keine Chance. Ich bewundere den großen
Mut und die Zivilcourage der Menschen, die nach diesem Wahlbetrug in Minsk auf die Straße gingen.
({2})
Natürlich werden hier Erinnerungen an die orangene Revolution in der Ukraine wach, wo die Demokratie bei
den Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag letztendlich wieder beeindruckend bestätigt wurde.
Jetzt geht es darum, das weißrussische Volk, die Demokraten dort nicht allein zu lassen. Die Menschen in
Weißrussland haben wahrlich etwas Besseres verdient
als diesen ewiggestrigen Diktator Lukaschenko.
({3})
Ich danke Kollegen Grund, dass er klar ausgesprochen hat, dass gerade wir Deutschen im wiedervereinigten Deutschland eine besondere Verantwortung haben,
demokratische Kräfte in unterdrückten Staaten zu
unterstützen. Ich bin froh über die Debatte, die wir heute
hier führen, und über den interfraktionellen Antrag. Das
sind, glaube ich, ganz wichtige Signale, die zur richtigen
Zeit aus diesem Hohen Haus kommen. Solche Signale
der Unterstützung und der Solidarität werden in Weißrussland durchaus gehört, auch wenn es dort nach wie
vor große Unterdrückung und Einschränkungen der
Pressefreiheit gibt.
Mit dieser Debatte machen wir Lukaschenko und Co
unmissverständlich deutlich, dass wir die Existenz eines
Unterdrückungsregimes mitten in Europa nicht einfach
hinnehmen. Wir Deutschen, aber auch die anderen europäischen Regierungen müssen jetzt endlich handeln. Wir
müssen die Demokratiebewegung dort unterstützen, mit
Kontakten, Besuchen und Einladungen, aber natürlich
auch mit Geld, Material und Informationen. Wir müssen
auch Sanktionen gegenüber der weißrussischen Nomenklatura durchsetzen, also zum Beispiel Konten einfrieren
oder weitere Reisebeschränkungen für politische Führungskräfte aussprechen.
({4})
Da muss auch Russland mitmachen.
Ich bin Frau Kollegin Beck für ihre klaren Worte dankbar. Wir haben diese oft eingefordert. Aber ich hätte mir
diese kritischen Worte im Hinblick auf die demokratische
Entwicklung in Russland, über die wir sehr besorgt sind,
damals von unserem früheren Außenminister Fischer und
dem früheren Bundeskanzler Schröder gewünscht.
Danke schön.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Thomas Silberhorn,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Selten stand eine Bundesregierung in der Außen- und Europapolitik so kurz nach Regierungsantritt
vor so gewaltigen und auch drängenden Herausforderungen. Ich glaube, es ist sowohl der Bundeskanzlerin als
auch Ihnen, Herr Bundesaußenminister, ausgesprochen
gut gelungen, mit Umsicht, mit Hartnäckigkeit und mit
einigem Geschick diese Herausforderungen anzugehen
und zu zeigen, dass Sie Ihr Amt vom ersten Tag an im
Griff haben. Deswegen möchte ich die Gelegenheit nutzen, Ihnen dafür ein herzliches Dankeschön zu sagen.
({0})
Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind in
der Tat gewaltig. Gestatten Sie mir, dass ich mich hier
auf die europäischen Fragen beschränke.
Die Europäische Union hat nach der Osterweiterung
und nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages in den
Niederlanden und in Frankreich ihren neuen Rhythmus
ersichtlich noch nicht gefunden. Ganz im Gegenteil: Wir
müssen feststellen, dass die Heterogenität in den Mitgliedstaaten zugenommen hat. Wir müssen auch feststellen, dass ganz entgegengesetzte Vorstellungen in der
Ordnungspolitik und bei den integrationspolitischen Zielen vorherrschen. Wir müssen erneut folgende Fragen
beantworten: Wollen wir in Richtung Liberalisierung
oder in Richtung eines neuen Wirtschaftspatriotismus
gehen? Wollen wir weiterhin vertiefte Integration oder
wollen wir zurück zu einer gehobenen Freihandelszone?
Es ist an der Zeit, dass wir gemeinsam unsere Ziele
neu definieren und den Kurs neu bestimmen. Für mich
ist dabei klar: Wir können nicht den Weg zurück in Richtung einer neuen Abschottung gehen. Dieser Weg ist sicherlich nicht dazu geeignet, die vor uns stehenden Herausforderungen zu bewältigen. Wir müssen vielmehr
weiter nach vorne schauen. Dabei dürfen wir aber nicht
in eine operative Hektik verfallen, solange noch weitgehend geistige Windstille über den zukünftigen Kurs
herrscht. Ich rate uns deswegen, beim Vorwärtsgehen
nicht so schnell zu laufen, dass wir über die eigenen
Füße stolpern, wie das jetzt beim europäischen Verfassungsvertrag passiert ist. Ich hoffe, dass dies im Hinblick
auf die Erweiterungsstrategie nicht ein weiteres Mal passiert.
Ein erster denkbarer Schritt ist die Hinwendung zu einer soliden Finanzpolitik in der Europäischen Union.
Ich möchte dieses Thema im Rahmen dieser Haushaltsdebatte nur kurz streifen. Das betrifft zwar erst die
Haushalte ab 2007, aber ich denke, es muss auch in der
Europäischen Union deutlich werden, dass der von der
Regierungskoalition gewählte Dreiklang - sanieren, reformieren und investieren - auch in der Europäischen
Union beherzigt wird. Die Europäische Union darf sich
nicht von den internen Problemen, vor denen die Mitgliedstaaten stehen, abkoppeln. Eine solide Haushaltspolitik ist sicher nicht die allein selig machende Politik für
mehr Wachstum und Beschäftigung. Aber sie ist unabdingbar dafür, dass wir auf diesem Weg vorankommen.
Wir müssen deshalb an die Adresse unserer Kollegen
im Europäischen Parlament deutlich sagen, dass wir erwarten, dass auch die Europäische Union spart und eine
solide Haushaltspolitik betreibt. Ich möchte in diesem
Zusammenhang die Bundesregierung ermutigen, an der
Ausgabenobergrenze, die beim Europäischen Rat in
Brüssel im Dezember vereinbart worden ist, festzuhalten
und sie nicht neu zu verhandeln. Es gibt genügend
Gelegenheiten für die Kollegen aus dem Europäischen
Parlament, auf der Ausgabenseite Umschichtungen vorzunehmen. Ich erinnere daran, dass beim Forschungsrahmenprogramm 20 Prozent des Haushaltsvolumens für
die Verwaltung aufgewandt werden. Bei den Programmen SOKRATES und LEONARDO sind es etwa 40 Prozent. Daran erkennt man, dass es in der Tat eine ganze
Reihe von Punkten gibt, die das Europäische Parlament
verändern kann.
Kollege Silberhorn, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Dehm?
({0})
Ja, bitte schön.
Nachdem ich die Redezeit des einen Koalitionspartners verlängert habe, möchte ich das in paritätischer
Weise auch für den anderen Koalitionspartner tun.
Herr Kollege Silberhorn, Sie waren mit uns in Paris.
Dieses Treffen hat sowohl in der Rede des Kollegen
Trittin wie auch vorhin in der Rede des Kollegen Schäfer
eine Rolle gespielt. Als Kollege Schäfer die Nähe zu den
Neofaschisten aufgemacht hat, hat es ganz gewiss nicht
nur uns, sondern auch einigen anderen den Atem verschlagen. Können Sie sich wirklich dem Eindruck anschließen, dass die Gaullisten, Konservativen, Sozialdemokraten und andere, also diejenigen Kolleginnen und
Kollegen aus Frankreich, die mit uns zusammen saßen
und über die Parteigrenzen hinweg sagten, der Vertragsentwurf der europäischen Verfassung sei gescheitert,
man wolle nicht wieder zurück zu ihm, in irgendeiner
Nähe zu den Neofaschisten standen? Können Sie sich
vorstellen, warum ausgerechnet während der „NonKampagne“, die von Links dominiert wurde, die Akzeptanz von Le Pen, also der Neofaschisten, auf ein Drittel
gesunken ist?
Herr Kollege Dehm, Sie haben schon vorhin an den
heißen Atem appelliert, den Sie dem Grundgesetz entnehmen wollen. Ich meine, dass anstatt des heißen
Atems ein kühler Kopf angebracht wäre, damit Sie sich
in den politischen Aussagen, die Sie zum europäischen
Verfassungsvertrag treffen, nicht in einer Linie mit Parteien am rechten Rand wiederfinden.
({0})
Ich möchte darauf hinweisen, dass die Kollegen aus
der Assemblée Nationale in Paris den Verfassungsvertrag keineswegs für tot erklärt, uns aber die Problematik
geschildert haben, dass sie ihrer Bevölkerung nach dem
Scheitern des Referendums nicht ein zweites Mal einen
identischen Vertragstext zur Abstimmung vorlegen können, weil sich die Abgeordneten aus der Assemblée Nationale natürlich verpflichtet fühlen - das muss man anerkennen -, vor dem Votum ihrer Wähler Respekt zu
bezeugen.
({1})
Die Wähler könnten es möglicherweise als einen Affront
empfinden, wenn man den Eindruck erweckt, als müsse
man die Dinge nur richtig erklären und dann würden die
Menschen beim zweiten Mal schon richtig abstimmen.
Das war also keine Absage an den Verfassungsvertrag. Sie wissen sehr gut, dass es in Frankreich konkrete
Vorstellungen gibt, wie man in Bezug auf diesen Vertrag
weiter vorgehen könnte. Deswegen wird dieser Vertrag
auch von französischer Seite nicht beerdigt. Aber es
wird nach Möglichkeiten gesucht, wie man weiter vorgehen kann.
Ich rate dazu, dass wir uns die Denkpause, die die Europäische Kommission vorgeschlagen hat, auch wirklich
zu Herzen nehmen und sie möglicherweise bis Mitte
2007, bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die französischen
Wahlen stattgefunden haben, verlängern. Wir sollten
diese Zeit nutzen, von den hehren Zielen des Wünschenswerten hin zu dem zu kommen, was in der Situation, in der wir uns jetzt befinden, tatsächlich machbar
ist.
Wir werden - davon bin ich fest überzeugt - Handlungsdruck bekommen, die institutionelle Reform, die
mit diesem europäischen Verfassungsvertrag angegangen werden sollte, tatsächlich zu erledigen, denn wir sehen, dass wir nach dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens mit dem Vertrag von Nizza nicht weiterkommen.
Jeder weitere Beitritt setzt zwingend voraus, dass wir die
institutionelle Reform regeln, das heißt, die Europäische
Union tatsächlich handlungsfähig machen. Meine Empfehlung dazu wäre, dass wir spätestens den Beitritt, der
nach dem von Bulgarien und Rumänien folgt, als politischen Hebel nutzen, um Druck zu erzeugen, damit wir
mit der institutionellen Reform - ich füge hinzu: mit all
dem, was ansonsten im Verfassungsvertrag steht - tatsächlich vorankommen.
Ich darf dann einige Anmerkungen zum Thema
Binnenmarkt machen. Ich glaube, dass es sinnvoll ist,
sich in der Zeit, in der wir mit der institutionellen Reform nicht wirklich weiterkommen, denjenigen Herausforderungen zuzuwenden, die wir im Binnenmarkt haben. Mir scheint, dass auf dem Gipfel letzte Woche
einige Ansätze dazu entwickelt wurden. Es ist dringend
notwendig, dass wir die Dienstleistungsrichtlinie verabschieden und damit das deutliche Signal setzen, dass
wir den Binnenmarkt vollenden wollen. Es ist auch das
Signal erforderlich, dass die Überregulierung, die wir
auf der europäischen Ebene immer wieder spüren, abgebaut wird; denn auch das ist ein Wachstumshemmnis. Es
ist erfreulich und zu begrüßen, dass wir in der Energiepolitik nun ein europäisches Konzept erarbeiten wollen
und im ersten Halbjahr 2007 im Rahmen der deutschen
Ratspräsidentschaft die Gelegenheit haben werden, darüber zu beraten.
Ich meine, wir sind gut beraten, wenn wir mit diesen
Maßnahmen den Wettbewerb aufnehmen und dafür sorgen, dass wir uns in Europa so aufstellen, dass wir auch
im Verhältnis zu anderen Regionen dieser Welt, zu den
USA, zu Japan und zum asiatischen Raum insgesamt,
tatsächlich wettbewerbsfähig werden. Deswegen ist es
notwendig, dass wir in der Binnenmarktpolitik den Blick
nicht nur auf die Europäische Union richten, sondern
auch darauf achten, dass wir nach außen hin wettbewerbsfähig werden.
({2})
Wenn das gelingt, wenn wir eine neue wirtschaftliche
Dynamik und Wettbewerbsfähigkeit im Innern haben,
dann ist es auch möglich, das Vertrauen der Bürger in die
Europäische Union ein Stück weit zurückzugewinnen.
Lassen Sie mich zum Thema Erweiterung nur einige
wenige Sätze sagen. Ich glaube, wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn ausgerechnet die Europaskeptiker den
Eindruck erwecken, als ginge es ihnen gar nicht schnell
genug, möglichst viele Staaten in die Europäische Union
aufzunehmen. Das sollte uns unsererseits skeptisch machen. Wir sollten die Erwartungen an Beitrittskandidaten
und mögliche künftige Beitrittskandidaten aber nicht so
hoch setzen, dass die Ziele nicht erreichbar sind. Wir
müssen eine Strategie entwickeln, die berechenbar und
in sich schlüssig ist. Dazu gehört, dass wir die Beitrittskriterien ernst nehmen und keine politischen Rabatte
gewähren. Es ist eine Frage unserer eigenen Glaubwürdigkeit, die Einhaltung der Kriterien, die wir selbst aufgestellt haben, einzufordern. Die Kriterien müssen erfüllt werden, bevor es zu einem Beitritt kommt.
Zur Politik der europäischen Erweiterung gehört ein
Weiteres: Egal wie weit sich die Europäische Union
noch ausdehnen wird, es wird immer Staaten geben, die
jenseits der Außengrenze der Europäischen Union liegen. Deswegen ist es erforderlich, die Erweiterungsstrategie mit einer Nachbarschaftspolitik zu verbinden, die
aber etwas differenzierter ausfallen muss, als sie es heute
ist. Dazu gehört, dass wir Modelle entwickeln, die eine
enge Kooperation mit der Europäischen Union unterhalb
der Schwelle einer Mitgliedschaft ermöglichen. Dieses
„Alles oder nichts“ muss durch differenzierte Modelle
der Kooperation gedämpft werden. Dabei müssen wir jedoch nach Staaten und Regionen differenzieren. Denn es
muss deutlich werden, dass wir nicht denselben Instrumentenkasten für jeden Nachbarstaat anwenden können.
Lassen Sie mich zum Schluss einige Bemerkungen
über die Rolle des Bundestages in der Europapolitik
machen; das wird uns in den nächsten Wochen noch intensiv beschäftigen. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass
wir im Rahmen der Vereinbarung, die wir mit der Bundesregierung schließen wollen, deutlich machen, dass es
eine wirksamere Kontrolle der Bundesregierung durch
den Deutschen Bundestag geben muss, und zwar mit
dem Ziel, die demokratische Legitimation dessen, was
die Bundesregierung an Rechtsetzung im Rat leistet, zu
stärken. Zudem brauchen wir eine höhere Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit für das, was wir auf europäischer Ebene tun. Das Forum für diese öffentliche
Aufmerksamkeit ist der Deutsche Bundestag. Deswegen glaube ich, dass wir Abgeordnete einen ganz spezifischen Beitrag dazu leisten können, mehr Transparenz
und mehr demokratische Legitimation der europäischen
Rechtsetzung zu erreichen und damit auch eine höhere
Akzeptanz der Europapolitik in unserer Öffentlichkeit.
({3})
Das setzt voraus, dass wir als Bundestag mitgestalten
und damit Mitverantwortung übernehmen für das, was
Deutschland im Rahmen der Europapolitik in Brüssel
mitberät und mitentscheidet.
Vielen Dank.
({4})
Nun hat Kollege Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die
Linke, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, es lohnt sich, am Ende einer außenpolitischen
Debatte Bilanz zu ziehen, Herr Außenminister. Meine
erste rein sachliche Feststellung ist - ich glaube, da können alle zustimmen -, dass es in diesem Hause zwei verschiedene Grundlinien gibt - Meinungsverschiedenheiten en detail einmal ausgeblendet -: eine Grundlinie, wie
sie von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen als Konsens
in der Außenpolitik betrachtet wird, und eine entgegengesetzte meiner Fraktion Die Linke. Das ist mir wichtig
festzustellen.
Wenn man das akzeptiert, muss man sich die Frage
stellen, wo die Grunddifferenzen liegen. Es sind nicht
die, die der Kollege Trittin beschrieben hat. Ich verstehe,
warum er das getan hat; darüber brauchen wir nicht weiter zu reden. Die Hauptdifferenz ist jedoch eine andere.
({0})
Für die Mehrheit im Hause ist Krieg wieder zu einem
Mittel der Politik geworden; für die Minderheit in diesem Hause darf Krieg kein Mittel der Politik sein.
({1})
Das ist die Grunddifferenz. Zwischen diesen Positionen
kann man keine Brücke bauen. Deswegen verstehe ich
alle, die immer sagen, dass die Außenpolitik der Linken
es verhindere, regierungsfähig zu werden. Wenn der
Preis für eine Regierungsbeteiligung ist, Ja zu Militäreinsätzen, Ja zu Krieg zu sagen, dann - das würde ich
immer sagen - wollen wir nicht regieren, dann bleiben
wir Opposition.
({2})
Wenn man das akzeptiert - Sie können sich noch verändern! -, muss man sich im Weiteren die Frage stellen,
wo die strategischen Differenzen liegen. Ich möchte hier
ein paar Dinge aussprechen, die in diesem Hause normalerweise nicht so ausgesprochen werden. Die Mehrheit
hier im Hause - vier Fraktionen - wollen das Verhältnis
zu den USA enger bzw. wieder enger gestalten. Ich
möchte - das soll hier ausgesprochen werden -, dass
sich Deutschland und Europa von der imperialen Politik
der USA abkoppeln.
({3})
Das muss man aktiv betreiben. Das ist Gegenstand einer
selbstständigen, einer souveränen und dann auch gegen
Krieg gerichteten Politik.
({4})
- Hören Sie auf mit dem Unsinn! Es ist doch ein Problem, dass man bald die Haushaltsberatungen zur Außen- und zur Verteidigungspolitik zusammen abhalten
könnte, weil die deutsche Außenpolitik in so starkem
Maße zu Verteidigungs- und Militärpolitik geworden ist,
weil man die Bundeswehr immer stärker als ein Instrument der deutschen Außenpolitik betrachtet und eingesetzt hat.
({5})
Deswegen ist eine Abkoppelung von den USA angesagt.
Die Hauptgefahren für den Zustand der Welt gehen
heute von den USA aus. Das kann man auch politisch
nachweisen; es ist die Wahrheit.
({6})
Daran kommen auch Sie - gerade die Grünen - nicht
vorbei.
Wir wollen eine Agenda der Abrüstung. Das wäre
einmal etwas Neues. Wir wollen, dass mit den Militäreinsätzen Schluss gemacht wird, dass der Sozialstaat
- auch auf europäischer Ebene - endlich wieder eine
Rolle spielt. Wir wollen soziale Balance statt Marktradikalität. Ich möchte Ihnen zum Schluss noch einen guten
Rat mit auf den Weg geben - man redet manchmal in
den Wind, aber immerhin! -: Schauen Sie sorgfältig
nach Frankreich! Nehmen Sie zur Kenntnis, dass das,
was momentan in Frankreich abläuft, eine Frühwarnung
davor ist, was passiert, wenn man bei der jetzigen Politik
bleibt.
({7})
Die Zustände waren auch der Grund für das Nein der
Franzosen zum Verfassungsvertrag. Das könnte die Regierung berücksichtigen.
Ich sage meiner Fraktion - man kann auch der eigenen Fraktion Ratschläge geben -:
({8})
Wir müssen lernen, mit unserer Regierung, mit unseren
Unternehmern „französisch“ zu reden; denn die Sprache,
die in Frankreich gesprochen wird, versteht selbst eine
konservative Regierung. Auch die große Koalition
würde sie auf jeden Fall verstehen.
({9})
Das ist ein Weg, Politik zu gestalten.
Schönen Dank.
({10})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Fischer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Kollege, Sie haben eben gesagt, dass Sie hier im
Parlament mit Ihrem Beitrag wahrscheinlich in den
Wind reden. Sie sind heute der dritte von den Rednern
der Linken, die im Zusammenhang mit dem Kongo von
Krieg und Frieden gesprochen haben. Mich würde interessieren, ob ein Einziger von Ihnen in diesem Gebiet
gewesen ist, der die mit Macheten zerstückelten Kinder
gesehen hat, der in den Flüchtlingslagern gewesen ist,
der mit Mädchen gesprochen hat, die über Jahre hinweg
vergewaltigt worden sind, die seit drei Jahren sehen,
dass es die Chance gibt, zu einer Regierung zu kommen,
die von diesem Volk gewählt wird und das Land auf einen besseren Weg bringt. Das ist die Zielsetzung eines
solchen Einsatzes. Darüber sollten Sie sich unterhalten;
darüber sollten Sie reden.
({0})
Kollege Gehrcke, Sie haben die Chance zu einer Erwiderung.
Lieber Kollege, ich weiß nicht, bei welcher Rede Sie
zugehört haben.
({0})
Ich habe überhaupt nicht vom Kongo gesprochen.
({1})
Ich habe von Grunddifferenzen gesprochen, ich habe die
Frage von Krieg und Frieden angesprochen. Ich will
aber Ihre Frage beantworten.
Mich stören an diesem Einsatz folgende Punkte: Man
ist nicht bereit, öffentlich die schlimmen und tatsächlich
im Neokolonialismus wurzelnden Ursachen für den jahrzehntelangen Bürgerkrieg im Kongo sowie die Verantwortung von Belgien, anderen europäischen Ländern
({2})
und von großen europäischen Konzernen mit zu diskutieren. Mich stört, dass der kongolesische Staatspräsident Kabila das - sagen wir es einmal freundlich - Angebot, Truppen zu entsenden, der Presse entnehmen
musste und vorher nicht gefragt wurde. Dass er das Angebot von Solana nicht ablehnen konnte, versteht sich
von selbst. So springt man mit Kolonien, aber nicht mit
selbstständigen Staaten um. Das ist ein ungeheuerlicher
Zustand. Das wird keiner leugnen können.
({3})
Diese Information hat eine Reihe von Kollegen in diesem Hause in Gesprächen mit dem belgischen Außenminister erhalten. Das darf nicht sein.
Schlussendlich kann, so glaube ich, eine gut ausgebildete Polizei - die sollte man unterstützen - mehr ausrichten als die europäischen Truppen, denen man mehr
Durchsetzungsvermögen zutraut als der multinationalen
Armee, die schon im Kongo steht.
All das sind Argumente für die Feststellung: Um den
Schrecken im Kongo zu beenden, müssen wir mehr und
etwas anderes tun, als nur Militär dorthin zu schicken.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegin Erika Steinbach, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In der heutigen Debatte haben praktisch alle Fraktionen dieses Hauses, mit Ausnahme der Linken, deutlich gemacht: Deutsche Außenpolitik ist in einem
erheblichen Ausmaß Menschenrechtspolitik.
({0})
Natürlich ist deutsche Außenpolitik - das ist eine Binsenweisheit - auch Interessenpolitik für dieses Land. Zu
diesen Interessen gehören aber nicht nur gute Handelsbeziehungen, die wir als Exportnation brauchen, um unsere Produkte verkaufen zu können, und die wir als Importland brauchen, um Rohstoffe und Energie einkaufen
zu können; das ist elementar. Vielmehr brauchen und
wollen wir auch ein versöhntes Europa, ein Europa, in
dem die vielen Völker nach den Verwerfungen zweier
Weltkriege dauerhaft friedlich miteinander leben können. Davon ist die deutsche Außenpolitik geprägt.
So wie in Deutschland noch heute Millionen von
Menschen mit ihren Traumata und ihren unverarbeiteten
Kriegs- und Nachkriegserfahrungen leben, gibt es auch
in unseren Nachbarländern millionenfache Empfindlichkeiten und Schmerzen, die ihre Ursache in der Vergangenheit haben. Davon blieb und bleibt insbesondere die
deutsche Europapolitik bis heute nicht unberührt. Sie ist
vielmehr von dem Bestreben geleitet, das aufzuarbeiten.
Nahezu jede Begegnung mit mittel- und osteuropäischen Staatschefs ist von diesen Erfahrungen geprägt.
Aber auch in den Begegnungen zwischen einzelnen
Menschen, die glücklicherweise tagtäglich tausendfach
stattfinden, wird dem Rechnung getragen. Auf diesem
Feld brauchen wir eine sensible Politik, die einen Ausgleich zwischen Innen- und Außenpolitik findet, die die
Menschen in ihrer Würde und ihre Menschenrechte nicht
verletzt, sondern von dem Grundsatz, dass Menschenrechte unteilbar sind, geleitet ist.
Wir brauchen und wollen mit unseren weltweiten
Kontakten eine Frieden stiftende und Demokratie fördernde globale Außenpolitik. Die Grundlagen jedweder
Demokratie sind doch garantierte und gelebte Menschenrechte. Sie dürfen nicht nur auf dem Papier stehen
- Papier ist geduldig -, sondern das, was in den Verfassungen der Länder steht, muss mit Leben erfüllt sein.
Wir hören aber: Was geht uns Afrika an? Was geht
uns Afghanistan an? Was kümmert uns Tschetschenien?
Was kümmern uns Belarus, Kuba oder China? Diese
Fragen begegnen allen Politikern dieses Hauses tagtäglich. Wir müssen eines deutlich machen: In einer globalisierten, in einer klein gewordenen Welt geht uns das alle
etwas an. Wir alle müssen uns darum kümmern; denn
das Fehlen von elementaren Menschenrechten und Lebensmöglichkeiten in anderen Ländern führt zu Wanderungsbewegungen und zu Verwerfungen, die früher oder
später bis nach Deutschland reichen. Das können und
müssen wir den Menschen im Lande erklären und deutlich machen.
Eine engagierte Menschenrechtspolitik hat eine doppelte Wirkung:
Erstens die Wirkung - das stelle ich bewusst an den
Anfang, weil es mir am Herzen liegt -, dass sie geschundenen, unterdrückten und missbrauchten Menschen in
den Ländern hilft, mit denen wir Handel und Wandel
treiben. Hier haben wir die Verantwortung, nicht nur
Geschäfte zu machen, sondern auch zu schauen, unter
welchen Bedingungen die Menschen in diesen Ländern
leben, unter welchen Bedingungen diese Geschäfte am
Ende ablaufen und ob die Menschen, mit denen wir handeln, ein menschenwürdiges Dasein haben.
Zweitens - das ist für eine stabile Innenpolitik im
eigenen Lande wesentlich - dämmt eine menschenrechtsorientierte Außenpolitik millionenfache Wanderungsbewegungen nach Deutschland ein. So können wir
feststellen, dass Humanismus einerseits und Egoismus
andererseits - eigentlich zwei konträre Dinge - als Ausgangspunkte am Ende zum selben Ergebnis führen: Die
deutsche Außenpolitik muss Menschenrechte einbeziehen.
Der Menschenrechtsausschuss begleitet die deutsche
Außenpolitik intensiv und aufmerksam. Mit der großen
Koalition gibt es wieder eine Menschenrechtspolitik, die
diesen Namen wirklich verdient. Denn es reicht nicht,
Geld zur Verfügung zu stellen. Menschenrechtsverletzungen müssen in Gesprächen mit anderen Regierungen
angesprochen werden. Es dürfen nicht einfach Persilscheine ausgestellt werden. Putin ist eben kein lupenreiner Demokrat, wie der verflossene Bundeskanzler
meinte, feststellen zu müssen.
({1})
Ich begrüße sehr, dass Bundesaußenminister
Steinmeier und Bundeskanzlerin Merkel Menschenrechtsdefizite in ihren bilateralen Gesprächen nicht mit
einem Mantel falsch verstandener Rücksichtnahme bedecken, sondern den Finger in die Wunde legen und unser eigenes Wertefundament damit deutlich machen. Es
war ein bedeutsames Zeichen der Bundeskanzlerin, bei
ihrem Antrittsbesuch in Russland ein intensives Gespräch mit den Vertretern von Menschenrechtsgruppen
zu führen. Hier hat wirklich ein Paradigmenwechsel in
der deutschen Außenpolitik stattgefunden, der unterdrückten Menschen hilft und ihnen ein wenig das Gefühl
der Verlorenheit nimmt.
Ich bin mir sicher, dass bei dem anstehenden Besuch
der Bundeskanzlerin in China nicht über die gravierenden Defizite geschwiegen wird, die China vorzuweisen
hat, sondern dass die Menschenrechtsdefizite dort angesprochen werden, zum Beispiel die Laogai-Lager, die
von einer elementaren Menschenrechtsfeindlichkeit
sind.
Der heutige Tag hat eines deutlich gemacht: Die menschenrechtspolitischen Themen werden in der Außenpolitik Deutschlands heute wirksamer vertreten als zuvor.
Das ist gut so.
({2})
Die Bundeskanzlerin und der Außenminister haben das
beide deutlich gemacht. Ich danke Ihnen, Herr Außenminister Steinmeier. Ich begrüße das nachdrücklich und
sage nur eines: Weiter so!
({3})
Ich erteile das Wort Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, über die Frage, wer den Wettbewerb in Sachen
Menschenrechte gewinnt, sollten wir uns vielleicht ein
anderes Mal unterhalten, wenn wir etwas mehr Zeit dafür haben.
({0})
Wir haben heute schon, weil fast alle Redner Belarus
erwähnt haben, sehr viel über Menschenrechte gesprochen. Die letzten freien und fairen Wahlen in Belarus haben 1994 stattgefunden. Damals wurde Lukaschenko
zum Präsidenten gewählt; übrigens war er Herausforderer eines amtierenden Präsidenten. Seitdem hat es keine
freien und fairen Wahlen mehr gegeben. Ich habe diesmal mit fünf Kollegen und Kolleginnen dieses Hauses
die Wahlen beobachtet. Wir sind alle zum selben Ergebnis gekommen.
Dies war bereits die dritte Wahl, die ich in Belarus beobachtet habe. Sie wissen ja, dass ich mich seit über
zehn Jahren sehr intensiv mit diesem Land beschäftige.
Man kann nicht sagen, dass eine dieser Wahlen frei und
fair gewesen ist. Allerdings kann man sagen, dass es bei
all diesen Wahlen überhaupt nicht notwendig gewesen
wäre, Manipulationen vorzunehmen und Repressionen
auszuüben, weil Lukaschenko - das ist Ironie und Tragik
zugleich - vermutlich bei allen drei Wahlen zwar nicht
das prozentuale Ergebnis erreicht hätte, das er erreicht
zu haben vorgibt, dass er aber doch eine Mehrheit des
Volkes hinter sich gehabt hätte. Auch Herr Grund hat
darauf schon hingewiesen.
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2001 hat
die OSZE in ihrem Wahlbeobachtungsbericht festgestellt, dass es in diesem Land eine sehr lebendige, sehr
gute und sehr intensive zivile Gesellschaft gibt. Es gibt
sie immer noch. Aber seit 2001 beobachten wir, dass die
Repressionen gegen diese zivile Gesellschaft von Jahr zu
Jahr zunehmen. Es wird versucht, die freie Presse und
die politische Opposition mundtot zu machen, und die
Einhaltung der Menschenrechte gestaltet sich immer
problematischer.
Je stärker die Opposition wurde - sie hat sich zusammengefunden und sich geeinigt; sie hat ihren Wahlkampf
auf demokratische Weise geführt -, je stärker sich die
Zivilgesellschaft zu Wort gemeldet hat, desto brutaler ist
die Repression geworden, mit dem Ziel, den Menschen
Angst zu machen. Wir alle, die wir diese Wahl beobachtet haben, waren am letzten Sonntag auf dem Platz, auf
dem die Demonstrationen stattgefunden haben. Dort haben wir die Menschen gesehen und in ihre Gesichter geschaut. So wir ihrer Sprache mächtig waren - ich hatte
das Glück, einen Dolmetscher dabei zu haben -, haben
wir auch mit ihnen reden können.
Man konnte gegenüber früheren Wahlen deutlich spüren, dass sie sich nun getraut haben, in Mengen auf die
Straße zu gehen.
({1})
Sie haben ihre Angst verloren, weil der Druck so stark
ist, dass sie ihn nicht mehr ertragen können. Anschließend sahen sie sich natürlich enormen Repressionen
durch die Polizei ausgesetzt.
Ich danke Außenminister Steinmeier von Herzen,
dass er so schnell eine sehr deutliche Stellungnahme zu
den Vorgängen auf dem Oktoberplatz und zu den Wahlen
abgegeben hat.
({2})
Ich bin besonders dankbar, dass Herr Steinmeier den
Kontakt zu seinem russischen Kollegen Lawrow aufgenommen und mit ihm über die Situation in Belarus gesprochen hat. Danach haben beide erklärt, auch weiterhin die dortigen Vorgänge zu beobachten. Diesen Ansatz
müssen wir wählen. Wie bereits mehrfach erwähnt
wurde, führt der Weg über Russland.
Lukaschenko hat, wie ich gestern der Presse entnommen habe, die „tollen“ Polizisten gelobt, die dort abgeräumt haben. Er hat sie „tolle Kerle“ genannt, die einzelne Zwischenfälle schnell und genau geregelt und alles
wieder in Ordnung gebracht hätten. „In Ordnung gebracht“ heißt, dass im Moment Hunderte friedlicher Demonstranten - manche sprechen von bis zu 1 000 - im
Gefängnis sitzen. Dort werden sie unter Umständen
misshandelt; davon haben wir schon gehört. Ich weiß,
dass auch Freunde von mir darunter sind. Zum jetzigen
Zeitpunkt wissen wir nicht, wo sie sich befinden.
Rund 200 Personen sind bereits verurteilt worden, jeweils zu zehn bis 15 Tagen Gefängnis; das ist dort das
übliche Strafmaß. 42 Journalisten sitzen im Knast, zwölf
von ihnen sind aus dem Ausland. Von vielen fehlt ein
Lebenszeichen. Kosulin ist wegen Hooliganismus verhaftet worden. Das ist eine „schöne Sache“; aber nun
droht ihm unter Umständen eine Anklage wegen Terrorismus. Milinkewitsch ist zwar noch in Freiheit; aber
wir wissen nicht, was noch geschieht.
Ich bin froh, dass er nach Wien, nach Oslo und im
April zum Außenministertreffen nach Luxemburg eingeladen worden ist;
({3})
denn das wird dazu beitragen, dass man in Belarus
merkt, dass wir ein Auge auf die dortigen Geschehnisse
haben. Wir wollen ihn schützen. Wir wollen
Lukaschenko nicht stürzen. Wir wollen Milinkewitsch
nicht als Präsidenten etablieren. Aber wir wollen zeigen,
dass wir die Einhaltung der demokratischen Werte, zu
denen sich auch Lukaschenko bekannt hat, einfordern:
der Redefreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Medienfreiheit, der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte und
des Rechts auf Opposition, also des Rechts, anderer Meinung als Lukaschenko zu sein. Dafür ist Milinkewitsch
ein Symbol. Deshalb ist er als Person so wichtig.
({4})
Es ist vieles über Dialog und über Sanktionen gesagt
worden. Bei allem Ärger und bei aller Wut, die uns angesichts dessen, was dort passiert ist, erfüllen, müssen wir
dennoch den Dialog weiterführen.
({5})
Wir haben früher eine Politik der Sticks and Carrots betrieben. Aber sie essen die Karotten nicht und wir haben
auch nicht so viele Stöcke. Deshalb müssen wir über
eine ausgewogene Politik nachdenken; denn ohne Dialog wird es uns von außen nicht gelingen, diejenigen in
der Administration, die Demokratie wollen, auf den Weg
in eine bessere Zukunft für Belarus mitzunehmen. Auf
diesem Weg wollen wir Belarus begleiten und wollen
unsere Freunde, die heute schon so mutig sind, schützen.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Joachim Hörster, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin
der 17. und letzte Redner in dieser Debatte.
({0})
Ich habe mir also die Frage gestellt, welche Punkte ich
noch vortragen kann, die noch nicht erörtert worden
sind. Es gibt tatsächlich einige. Deshalb will ich die
Möglichkeit nutzen und sie im Folgenden konkretisieren.
Wir haben im Zusammenhang mit der Entwicklung in
Weißrussland eine sehr intensive Debatte über Menschenrechte geführt. Damit beschäftigt sich auch die
Parlamentarische Versammlung des Europarates, die
keine unbedeutende Einrichtung ist, die aber in diesem
Hohen Hause weitestgehend unbeachtet bleibt. Ihre
Chancen werden nach meinem Dafürhalten nur sehr unzureichend genutzt.
In der Parlamentarischen Versammlung des Europarates sind Parlamentarier aus 46 Ländern versammelt;
25 Länder von ihnen gehören der Europäischen Union
an. Die meisten der anderen Länder haben aller Voraussicht nach nie eine Chance, Mitglied der Europäischen
Union zu werden. Das wäre im Übrigen weder für diese
Länder noch für die Europäische Union gut. Gleichwohl
könnte der Europarat helfen, dass sich diese Länder, die
Nachbarstaaten der Europäischen Union sind, an die
Standards annähern, die wir zum Beispiel auf dem Gebiet der Menschenrechte oder durch die Europäische Sozialcharta haben. Deswegen wäre es sinnvoll, den Europarat in der deutschen Außenpolitik stärker und
intensiver wahrzunehmen und für diese Möglichkeiten
zu nutzen.
In diesem Zusammenhang halte ich es für ziemlich
kontraproduktiv, dass die Europäische Union darüber
nachdenkt, in Wien eine Menschenrechtsagentur einzurichten,
({1})
obwohl wir den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof haben, der seinesgleichen in der Welt sucht und der
eine unglaubliche Wirkung entfaltet. Leider ist der Kollege Bindig nicht mehr in diesem Hause. Er hat ausreichend in Monitoringverfahren und in sonstigen Verfahren bei Menschenrechtsinstitutionen mitgewirkt. Wir
brauchen keine Duplizität. Ich weiß nicht, was eine europäische Menschenrechtsagentur wem gegenüber vermitteln soll. Denn alle Mitglieder der Europäischen Union
wahren nach meiner Beobachtung die Menschenrechte,
sonst wären sie auch nicht aufgenommen worden.
Im Europarat sitzen zum Beispiel die Länder Russland - darüber ist eben schon gesprochen worden -,
Aserbaidschan und Georgien. Diese Länder befinden
sich in Bezug auf diese Fragen noch in der Entwicklung,
einer Entwicklung, die von den anderen Mitgliedstaaten
des Europarates befördert werden kann. Das tut den
Menschen in diesen Ländern gut, aber auch uns; denn je
demokratischer die Länder in unserem Umfeld sind,
umso sicherer können wir uns fühlen.
({2})
Ich richte also die Bitte an die Bundesregierung, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu prüfen, ob die Schaffung einer Menschenrechtsagentur wirklich zu den Prioritäten
der Europäischen Union gehören sollte.
Weil der Herr Bundesaußenminister so freundlich
war, am Schluss seiner Rede ein Plädoyer für die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik zu halten - ich
stimme völlig mit ihm überein - und die auswärtige
Kultur- und Bildungspolitik als kulturelle Grunddimension der deutschen Außenpolitik zu bezeichnen, will
ich anmerken, dass wir versuchen müssen, die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik in der praktischen Politik - je mehr, umso besser - tatsächlich auch zu instrumentalisieren und entsprechend einzusetzen; denn es
wird ja immer davon gesprochen, dass die auswärtige
Kultur- und Bildungspolitik die dritte Säule der deutschen Außenpolitik sei.
Ich glaube, wenn das so ist, dann können wir es auf
Dauer nicht dabei bewenden lassen, dass die Mittlerorganisationen - das Goethe-Institut, der Deutsche Akademische Austauschdienst, das ifa, die deutschen
Auslandsschulen usw. - diese Aufgaben wahrnehmen,
sondern dann müssen wir sie bündeln und in den Regionen der Welt zielgerichtet einsetzen, in denen es für uns
von größtem Interesse ist. Das betrifft auch den Wissenschaftsaustausch und den Bildungsaustausch.
Ich will ein praktisches Beispiel nennen. Ich habe
heute Morgen in einer Sitzung des Unterausschusses
Auswärtige Kulturpolitik des Auswärtigen Ausschusses
gehört, dass in Syrien eine deutsche Schule errichtet
wird. Die syrischen Absolventen deutscher Universitäten machen ungefähr 24 Prozent der dortigen Hochschullehrer aus. Das hängt noch mit unserer Vergangenheit aus der Zeit der Teilung zusammen. Das sind Leute,
die unserem Kulturkreis gegenüber aufgeschlossen sind.
Es macht keinen Sinn, dass wir dort eine entsprechende
Vereinigung haben, während wir gleichzeitig beim
Goethe-Institut Stellen abbauen.
In der arabischen Region gibt es ein Defizit in der Bildung und beim Zugang zu Informationen und die
Analphabetenrate ist besonders bei Frauen hoch. Deshalb bin ich der Auffassung, dass wir, wenn wir die deutsche auswärtige Kulturpolitik zielgerichteter einsetzen,
mithelfen können, diese Zustände dort abzubauen; denn
Bildung, Wissen und Kenntnisse sind die besten Mittel
gegen Fundamentalismus und gegen Risiken, die uns
von dort drohen.
In diesem Sinne wäre ich dankbar, wenn der auswärtigen Kulturpolitik die entsprechende Aufmerksamkeit
gewidmet würde und die Bereitschaft bestünde, im Rahmen der bestehenden Strukturen - vielleicht mit kleinen
Änderungen - die Voraussetzungen dafür zu schaffen,
dass die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik operativ
begleitend neben den anderen außenpolitischen Maßnahmen eingesetzt werden kann.
({3})
Herr Präsident, ich schenke den Kollegen, die hier anwesend sind, 30 Sekunden und bedanke mich für die
Aufmerksamkeit.
({4})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen damit zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und
des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Belarus
nach den Präsidentschaftswahlen“. Wer stimmt für den
Antrag auf Drucksache 16/1077? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Antrag stellenden Fraktionen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt
zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der
Verteidigung, Einzelplan 14. Ich erteile dem Bundesminister der Verteidigung, Franz Josef Jung, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn die Bundeswehr ihre hervorragende Arbeit für die Sicherheit Deutschlands positiv fortsetzen
soll, dann braucht sie dafür die notwendige finanzielle
Grundlage. Deshalb bin ich froh und dankbar, dass es bei
den Beratungen des Haushalts 2006 gelungen ist, eine
Stabilisierung zu erreichen und den Abwärtstrend zu
stoppen, weil dies zur Erledigung der Aufgaben der
Bundeswehr notwendig ist.
Gerade im Hinblick auf die Auslandseinsätze - sei es
der auf dem Balkan, der am Horn von Afrika oder der in
Afghanistan - brauchen wir die notwendige finanzielle
Unterstützung auch für den Schutz und die Ausbildung
unserer Soldatinnen und Soldaten. Ich finde, unsere Soldatinnen und Soldaten leisten dort einen hervorragenden
Einsatz. Ich möchte ihnen an dieser Stelle für den gefährlichen Einsatz danken, den sie im Interesse unserer
Sicherheit leisten.
({0})
Herr Lafontaine hat heute Morgen behauptet, unsere
Soldatinnen und Soldaten seien in Afghanistan an terroristischen Aktivitäten beteiligt. Ich halte eine solche Unterstellung für unsere Soldatinnen und Soldaten für geradezu ehrabschneidend und beleidigend und weise diese
Behauptung mit Nachdruck zurück. Sie leisten einen
Friedensdienst.
({1})
Ich bin dafür dankbar, dass die Auslandszulage der
Soldatinnen und Soldaten steuerfrei bleibt und diese Diskussion hier nicht fortgesetzt worden ist. Es ist ein Unterschied, in einem Büro in Brüssel zu arbeiten oder in
Kabul in einem gefährlichen Einsatz für unser Land zu
sein. Ich bin der Auffassung: Unsere Soldatinnen und
Soldaten haben diese steuerfreie Auslandszulage verdient.
({2})
Mit diesem Haushaltsentwurf schaffen wir die Grundlage dafür, den Transformationsprozess der Bundeswehr
fortzusetzen. Dabei füge ich hinzu: Unsere internationalen Verpflichtungen sind groß. Das gilt für unsere
Verpflichtungen im Zusammenhang mit den Vereinten
Nationen und der NATO, aber auch für unsere Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Europäischen Union.
Im Hinblick auf den Einsatz zur Gewährleistung eines
demokratischen Prozesses im Kongo, der notwendig ist,
diskutieren wir über diese Verpflichtungen.
Ich will hier nur noch folgende Bemerkung machen,
um die Debatte von vorhin nicht zu verlängern. Es
stimmt schon: Bisher sind im Kongo 4 500 Polizisten
ausgebildet worden, die selbstverständlich einen Beitrag
zur Gewährleistung der Sicherheit leisten. Aber es ist der
Wunsch der Vereinten Nationen und es entspringt ihrer
Lagebeurteilung, dass es zur Absicherung dieses demokratischen Prozesses eines Engagements der Europäischen Union bedarf. In diesem Sinne sollten wir die Stabilisierung und die demokratische Entwicklung dort
positiv unterstützen und unseren Beitrag leisten.
Wir sind mittlerweile der größte Truppensteller für
die von der NATO geführten Operationen; es sind rund
5 000. Wir leisten den größten Beitrag im Zusammenhang mit den europäischen Missionen. In Bosnien-Herzegowina sind rund 1 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten im Einsatz. Ich will vor diesem Haus sagen, dass
wir auch Verantwortung und Verpflichtung für die
schnelle Einsatztruppe haben. Es ist in der Bevölkerung
nicht jedem bekannt, dass wir im zweiten Halbjahr bei
der NATO-Response-Force, der schnellen Einsatztruppe
der NATO, mit 6 600 deutschen Soldatinnen und Soldaten im Einsatz sind.
Im Zusammenhang mit dem Einsatz im Kongo gab es
die Überlegung, die aufzustellende europäische BattleGroup mit zunächst 1 500 deutschen Soldaten und vier
französischen Soldaten in den Einsatz zu schicken. Das
haben wir jetzt anders geregelt. Aber ab dem 1. Januar
2007 sind wir bei der Battle-Group, also der schnellen
Einsatztruppe Europas, mit 1 200 oder 1 300 Soldatinnen und Soldaten dabei. Damit will ich deutlich machen,
welche internationalen Verpflichtungen wir übernommen haben und dass dafür eine finanzielle Grundlage geschaffen werden muss, damit solche Einsätze gewährleistet werden können.
Wir leisten unseren Beitrag bei den erwähnten Auslandseinsätzen, aber auch unseren Beitrag für die Sicherheit in Deutschland. Während der Amtszeit der neuen
Bundesregierung haben wir bereits in Bad Reichenhall
geholfen. Wir haben Hilfestellung bei der Bewältigung
der Schneekatastrophe in Bayern geleistet.
({3})
Wir haben ebenso auf Rügen geholfen, als dort die Vogelgrippe ausbrach.
({4})
Ein weiterer Einsatz betraf den Unfall, bei dem ein Lastwagen in einen Trauerzug gerast ist.
Ich will noch etwas zur Leistungsfähigkeit und Einsatzfähigkeit unserer Bundeswehr sagen. Der Anruf mit
der Bitte um Amtshilfe auf Rügen hat mich am Samstagnachmittag gegen 16.45 Uhr erreicht. Normalerweise ist
um diese Uhrzeit im öffentlichen Dienst und auch bei
privaten Unternehmen die Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt. Aber unsere Soldatinnen und Soldaten waren am Samstagabend um halb zehn auf Rügen, um dort
ihren Einsatz zu leisten. Ich finde, das zeigt die Leistungs- und Einsatzfähigkeit unserer Bundeswehr, für die
ich dankbar bin.
({5})
Deshalb werden wir diese Entwicklung jetzt weiter
ausbauen und die zivil-militärische Zusammenarbeit im
Zusammenhang mit den föderalen Strukturen ins Blickfeld nehmen. Wir werden uns auch mit den Verbindungsstellen befassen, bei denen wir insbesondere die Reservisten mit einbeziehen wollen, damit auch sie im
Hinblick auf den Schutz Deutschlands Unterstützung
leisten. Das ist ebenfalls ein wichtiger Beitrag, den die
Bundeswehr gewährleistet.
Zur Diskussion im Zusammenhang mit der vor uns
liegenden Fußballweltmeisterschaft: Zunächst war der
Einsatz von 2 000 Soldatinnen und Soldaten im Rahmen
unseres verfassungsgemäßen Auftrags vorgesehen. Aber
da uns mittlerweile hundert Anträge auf technische
Amtshilfe vorliegen, haben wir die Zahl um weitere
5 000 auf insgesamt 7 000 Soldatinnen und Soldaten erhöht, die zum Beispiel in der ABC-Abwehr, im Sanitätswesen und im Lufttransport eingesetzt werden. Das alles
sind wichtige Aufgaben zur Gewährleistung einer sicheren Weltmeisterschaft. Wir werden dann auch die
AWACS-Flugzeuge einsetzen; denn ich glaube, dass wir
dafür Sorge tragen müssen, dass die Weltmeisterschaft
unter dem Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ in sicheren Verhältnissen stattfinden kann. Dazu werden wir
auch unserem verfassungsgemäßen Auftrag entsprechend unseren Beitrag leisten.
({6})
Ich habe im Übrigen den Eindruck, dass wir, wenn
wir bei der Weltmeisterschaft im Fußball erfolgreich
sein wollen, auch dort noch die Verteidigung verstärken
müssen. Dann wären wir vielleicht auch in diesem Bereich effektiver.
({7})
Lassen Sie mich noch einen weiteren Gedanken ausführen. Ich denke, dass die Bundeswehr mit zum Ansehensgewinn Deutschlands beiträgt. Als vor kurzem die
Olympiade in Turin stattfand, haben wir uns alle darüber gefreut, dass Deutschland beim Medaillenspiegel
an erster Stelle lag. Tatsache ist aber: Ohne die Bundeswehr hätten wir an 13. Stelle gelegen. Die Bundeswehr
allein hätte an zweiter Stelle gelegen. Neun von elf
Goldmedaillen hat die Bundeswehr errungen, außerdem
acht Silbermedaillen und zwei Bronzemedaillen. Auch
das zeigt, welchen positiven Beitrag die Bundeswehr
leistet, wenn es um die Erhöhung des Ansehens
Deutschlands beispielsweise bei einer Olympiade geht.
({8})
Wir wollen selbstverständlich den Weg der Umstrukturierung im Innern fortsetzen. Damit geht eine erhebliche Personalreduktion einher. Die mit größten Reduzierungen am Personalbestand des Bundes werden
nämlich von der Bundeswehr geleistet. Die derzeitige
Zahl von etwa 120 000 zivilen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern soll den Planungen zufolge auf 75 000 reduziert werden. Wir wollen die Betriebskosten von
74 Prozent auf 68 Prozent des Gesamtplafonds senken.
Wir werden aber auch im Hinblick auf Planungssicherheit an der getroffenen Stationierungsentscheidung festhalten.
Wir wollen auch den Modernisierungsprozess innerhalb der Bundeswehr fortentwickeln und unter dem Aspekt der Effektivität unseren Beitrag leisten, um - auch
was die Entbürokratisierung anbelangt - weiter voranzukommen. Ich denke aber, dass wir auch hier die soziale
Verantwortung berücksichtigen müssen, die wir für unsere Soldatinnen und Soldaten haben. Deshalb muss der
Prozess sozialverträglich gestaltet werden.
Wir erarbeiten zurzeit einen Gesetzentwurf, der beispielsweise vorsieht, dass ein Soldat oder eine Soldatin,
der bzw. die in einem Einsatz eine gesundheitliche Beeinträchtigung erfährt, Anspruch auf Weiterbeschäftigung bei der Bundeswehr hat. Ich glaube, dass das der
Fürsorgepflicht dieses Landes entspricht.
({9})
Wir wollen die Bundeswehr als Wehrpflichtarmee
weiterentwickeln. Sie hat sich als Wehrpflichtarmee bewährt und ist tief in der Gesellschaft verwurzelt. Dadurch trägt sie zu einem positiven Ansehen der Bundeswehr in der Gesellschaft bei. Wir müssen aber auch die
Wehrgerechtigkeit bzw. die Einberufungsgerechtigkeit
im Blick behalten. Deshalb haben wir davon abgesehen,
die Zahl der Wehrpflichtigen auf 30 000 zu senken, sondern wir wollen sie bei 35 000 stabilisieren. Wir ziehen
jährlich rund 60 000 Wehrpflichtige ein. Davon verpflichten sich 25 000 freiwillig weiter und 35 000 leisten
ihren Grundwehrdienst. Ich bin dafür dankbar, dass es in
den Haushaltsberatungen gelungen ist, den Wehrpflichtigen das Weihnachtsgeld und das Entlassungsgeld zu
erhalten.
({10})
Es geht bei den Wehrpflichtigen um rund 250 Euro pro
Monat. Das entspricht noch nicht einmal dem Verdienst
eines Minijobbers. Wer in der Bundeswehr die allgemeine Dienstpflicht für unser Land erfüllt, der hat es aus
meiner Sicht verdient, 170 Euro Weihnachtsgeld und das
Entlassungsgeld zu behalten.
({11})
Wir sind dabei, ein Weißbuch zur sicherheitspolitischen und strategischen Standortbestimmung der Bundeswehr zu erarbeiten. Das ist richtig und gut. Seit 1994
gibt es ein solches Weißbuch nicht mehr. Die letzte Regierung hat diesbezüglich auch keine Kabinettsbeschlüsse gefasst. Es gibt nur die Verteidigungspolitischen Richtlinien. Ich finde aber, die Sicherheit unseres
Landes ist so wichtig, dass sie nicht nur Angelegenheit
eines einzelnen Ministers sein darf, sondern Angelegenheit der gesamten Bundesregierung sein muss. Deswegen werden wir das Weißbuch im Bundeskabinett verabschieden.
({12})
Die Bundeswehr leistet mit ihren Investitionen einen
erheblichen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung.
Im Jahreswirtschaftsbericht sind 6 Milliarden Euro Investitionen durch die Bundeswehr vorgesehen, und zwar
in verschiedensten Bereichen, vom Satellitenkommunikationssystem über den Eurofighter, Hubschrauber, Fregatten, das Luftverteidigungssystem bis hin zu Transportfahrzeugen. Ich will nicht alles aufführen, aber eines
sage ich Ihnen: Wir sind es unseren Soldaten schuldig,
ihnen eine optimale Ausrüstung für ihre gefährlichen
Einsätze im Ausland zu geben. Deshalb ist es notwendig,
die Investitionen in diesem Bereich weiter voranzutreiben.
({13})
Im Mittelpunkt unserer Überlegungen und unseres
Handelns stehen die Soldatinnen und Soldaten. Sie bedürfen - genauso wie die zivilen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeit - der Fürsorge. Sie riskieren Leib und Leben
für unsere Sicherheit und haben deshalb Anspruch auf
gesellschaftliche Würdigung und Unterstützung. Wir
dürfen aber auch nicht diejenigen vergessen, die im Einsatz für unsere Sicherheit sowie für Frieden und Freiheit
ihr Leben gelassen haben. Wir sollten ihnen in Berlin, an
dem Ort, der für die Bundeswehr steht, ein Ehrenmal
errichten. Ich bin der Meinung, dass wir dazu verpflichtet sind.
({14})
Die Belastungen der Truppe sind hoch. Deshalb ist es
unsere gemeinsame Verantwortung, die Bundeswehr
leistungsfähig zu halten. Dafür braucht sie im Hinblick
auf die Sicherheit Deutschlands und seiner Bürger sowie
den Erhalt von Frieden und Freiheit die notwendigen finanziellen Grundlagen.
Ich danke Ihnen.
({15})
Ich erteile das Wort Kollegin Elke Hoff, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Minister Jung, Sie haben in sehr eindrucksvollen Worten die vielfältige Aufgabenstellung
und Zielsetzung dargelegt, die die Bundeswehr erfüllen
soll. Aber der Blick auf den Verteidigungshaushalt lässt
an der einen oder anderen Stelle erhebliche Zweifel aufkommen.
({0})
Als Ausdruck all Ihrer hehren Zielsetzungen legen
Sie heute den Verteidigungshaushalt für das Jahr 2006
vor. Ihn kann man aber nur als Übergangshaushalt bezeichnen. Er orientiert sich nämlich weitgehend an der
bisherigen Bundeswehrplanung. Bei seiner Verabschiedung wird das Haushaltsjahr zur Hälfte vergangen sein
und die finanzpolitischen Grausamkeiten werden erst im
Jahr 2007 über den Einzelplan 14 hereinbrechen.
Der Transformationsprozess, den Sie eben angesprochen haben, Herr Minister, bleibt aber nicht stehen.
Aus diesem Grund wird auch dieser Haushalt den Anforderungen nicht gerecht.
({1})
Der investive Anteil ist mit 25 Prozent erneut viel zu gering veranschlagt. Ein investiver Anteil von annähernd
30 Prozent ist für die Aufgaben einer Armee im Einsatz,
die sich nach dem Willen der Bundesregierung darüber
hinaus verstärkt um den Heimat- und Katastrophenschutz kümmern soll, unerlässlich. Bis zum Jahr 2011
wird die Unterdeckung bei den Rüstungsinvestitionen
auf mehr als 6 Milliarden Euro anwachsen. Dass dies
unmittelbare Auswirkungen auf unsere Rüstungsindustrie und die damit verbundenen Arbeitsplätze haben
wird, steht außer Zweifel. Die notwendige deutliche Anhebung im investiven Bereich wird nur durch eine weitere Absenkung der Betriebs- und Personalkosten möglich sein. Ich kann an dieser Stelle aber wenig
Entschlossenheit zur Eröffnung neuer Spielräume erkennen, zum Beispiel indem Dienstleistungen wie das Travelmanagement der Bundeswehr, Teile der Ausbildung,
der Personalgewinnung und vieles mehr konsequent privatisiert werden.
({2})
Wie Sie, Herr Minister, bei den bestehenden Rahmenbedingungen das ehrgeizige Ziel erreichen wollen, die Zahl
der zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr von heute
100 000 auf 75 000 abzusenken, steht in den Sternen.
({3})
Der Transformationsprozess lebt unbestritten zu einem erheblichen Teil von der Einsicht in seine Notwendigkeit, er lebt aber auch von sicheren finanzpolitischen
Rahmenbedingungen. An dieser Stelle möchte ich mich
daher ausdrücklich bei allen Soldatinnen und Soldaten
der Bundeswehr bedanken, die diesen unsicheren Prozess bisher so bravourös begleitet und gemeistert haben.
({4})
Herr Minister, außerdem möchte ich noch sagen, dass
ich wenig Verständnis dafür habe, dass sich der Gesamtpersonalumfang der Bundeswehr seit 1989 halbiert hat,
während die Zahl der Spitzendienstgrade - der Besoldungsgruppe B 3 und höher - seither lediglich um
11 Prozent reduziert wurde. Gerade Streitkräfte mit hohen Belastungen brauchen im Verhältnis mehr und besser bezahlte Indianer als zu viele hoch dotierte Häuptlinge.
({5})
- Auch das wäre eine Lösung gewesen.
Herr Minister, Sie haben am 8. März in einer Pressemeldung der dpa angekündigt, noch in diesem Jahr - ich
betone: noch in diesem Jahr - 4 000 zusätzliche Stellen
für Wehrpflichtige zu schaffen. Offenbar ist diese Meldung Ihren Haushältern entgangen; denn gegenüber dem
Stellenansatz für das Jahr 2005 mit 38 000 Grundwehrdienstleistenden finden sich im aktuellen Entwurf gerade
einmal 32 000 wieder - auf den ersten Blick ein Minus
von 6 000 Stellen. Aber wie wir ja auch bei der Mehrwertsteuererhöhung gelernt haben, ist zwei plus nicht in
jedem Fall ein Mehr. Vielleicht kommen wir im Laufe
der Debatte auch in diesem Bereich des Haushalts zu belastbaren Zahlen.
({6})
Die Risiken dieses Haushaltsentwurfs sind allerdings
bereits vorgezeichnet: Die geplante Anhebung der Mehrwertsteuer um 3 Prozent im nächsten Jahr wird in den
Verteidigungsetat ein Loch von annähernd 300 Millionen Euro reißen.
({7})
Dazu kommen globale Minderausgaben; Preisstandanpassungen; die angekündigte, aber im Haushalt nicht
vorgesehene Erhöhung der Zahl der Wehrpflichtigen und
und und.
Dies alles lässt nach heutigem Ermessen die dringend
benötigte Anhebung des Investitionsanteils in weite
Ferne rücken, und das, obwohl wir Europäer von unseren amerikanischen Partnern immer wieder darauf hingewiesen wurden, dass unsere Verteidigungsetats chronisch unterfinanziert seien. Der kürzlich erschienene
„Quadrennial Defense Review“ des Pentagon kommt zu
dem Ergebnis, dass wir Europäer aufgrund fehlender Fähigkeiten nur noch für Stabilisierungsmissionen gefragt
seien, aber nicht mehr für Einsätze mit hoher Intensität.
Schon jetzt ist feststellbar, dass vieles, was unsere Soldatinnen und Soldaten für ihre aktuellen und zukünftigen
Einsätze zwingend benötigen, nicht beschafft wird, und
wenn, dann nicht in der vereinbarten Stückzahl.
Fast die Hälfte der Mittel für die militärische Beschaffung entfallen auf Fluggeräte, die nicht nur im Ankauf, sondern vor allem bei der Materialerhaltung, beim
Betrieb und in der Ausbildung wesentlich mehr Mittel
verschlingen werden als die bisherigen Geräte. Bei der
Ausstattung unserer Soldatinnen und Soldaten - dies haben Sie zu Recht betont, Herr Minister Jung - muss jedoch der Schutz im Einsatz oberste Priorität haben. Beschaffungsmaßnahmen, die für den tatsächlichen Einsatz
notwendig sind und sich zudem aus der neuen Aufgabenstruktur ergeben, beispielsweise der Unterstützungshubschrauber Tiger, das Allschutztransportfahrzeug
Dingo, der neue Schützenpanzer Puma oder auch der
Spähpanzer Fennek, sind deshalb unumgänglich.
({8})
Sie müssen in ausreichender Anzahl sowohl für den Einsatz als auch für eine qualifizierte Ausbildung beschafft
werden. Wenn die Soldaten erst im Einsatz lernen, mit
neuem und technisch hochwertigstem Gerät umzugehen,
darf man sich später nicht wundern, wenn daraus entstehende Bedienungsfehler das teure Material beschädigen.
Alle Beschaffungsmaßnahmen gehören erneut auf
den Prüfstand.
({9})
Wenn das Heer 60 Prozent aller Eingreifkräfte und mehr
als die Hälfte aller Stabilisierungskräfte stellt, benötigen
wir dann für die zukünftigen Einsätze der Bundeswehr
wirklich 180 Eurofighter und den A400M in der Stückzahl von 60? Wird MEADS tatsächlich den Schutz gewährleisten, der den Bedrohungen unseres Landes und
unserer Streitkräfte entspricht? Vor allem: Führt der
finanzielle Aufwand auch zu einem zusätzlichen Gewinn
von Fähigkeiten?
Durch weitere Privatisierungen gibt es noch eine
Vielzahl von Möglichkeiten, die ausufernden Betriebskosten des Unternehmens Bundeswehr in den Griff zu
bekommen. Die Bundesregierung muss daher endlich
definieren, was die Kernaufgaben der Bundeswehr sind,
sodass wir den Umbau der Bereiche, in denen Privatisierungen einen Sinn ergeben, weiter und schneller vorantreiben können. Ich hoffe, dass wir dazu etwas im Weißbuch wiederfinden werden.
({10})
Uns allen ist klar, dass der Verteidigungsetat weniger
Spielraum lässt, als uns lieb sein kann. Aber den Spielraum, den es gibt, müssen wir so kreativ und undogmatisch nutzen, wie es eben nur geht. Ansonsten werden
der außenpolitische Anspruch und die haushaltspolitische Realität immer weiter auseinander klaffen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({11})
Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Peter Bartels,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der
Haushalt 2006 ist der erste Haushalt, den die große Koalition vorlegt. Der Verteidigungsetat ordnet sich dabei
in ein Gesamtkonzept ein. Wir haben eine schwierige
Gratwanderung vor uns: auf der einen Seite einen klaren
Konsolidierungskurs, auf der anderen Seite die notwendigen Investitionen. Diese Gratwanderung betrifft alle
Ressorts. Der Verteidigungshaushalt bildet keine Ausnahme.
Dass nicht alles Wünschenswerte finanzierbar ist,
wissen wir. Wir leben schon eine ganze Weile damit,
dass die haushaltspolitischen Spielräume begrenzt sind.
Das ist gewissermaßen die Konstante der vergangenen
Jahre, ganz unabhängig davon, wer regierte. Der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe zum Beispiel hat
1997 in der Haushaltsdebatte einen schönen Sinnspruch
geprägt. Er sagte:
Welche Größenordnung eine Armee auch immer
hat, sie wird knapp bei Kasse sein, und … in einem
gewissen Umfang ist es auch notwendig. Ich kenne
keine Armee auf der ganzen Welt, die finanziell üppig versorgt wäre.
Ein anderer Minister, mein jetziger Fraktionsvorsitzender Peter Struck, formulierte seine Einsicht in die Notwendigkeit in der Debatte zum Bundeshaushalt 2004 so:
Auch ich hätte natürlich gerne mehr Geld; aber jeder von Ihnen weiß, dass wir in einer bestimmten
Finanzsituation sind.
Eine „bestimmte Finanzsituation“ - so ist das auch
heute.
Doch diskutieren wir hier nicht über einen aus der
blanken Not geborenen Sparhaushalt. Was uns vorliegt,
ist eine gute Grundlage, die Transformation der Bundeswehr konsequent weiterzuführen. Der Haushalt 2006
ist ein Dokument der Transformation. Transformation
heißt, Strukturen, Ausbildung und Ausrüstung der Streitkräfte den geänderten Erfordernissen anzupassen, damit
wir auch künftig ein verlässlicher Partner unserer
Freunde und Verbündeten bleiben, in Europa, in der
NATO und in den Vereinten Nationen.
In diesem Jahr stehen knapp 24 Milliarden Euro zur
Verfügung. Bis 2009 - das sieht der Finanzplan des
Bundes vor - soll der Etat dann um rund 1 Milliarde
Euro steigen. Das ist gut, aber das ist auch unbedingt
notwendig. Wichtiger vielleicht noch als die absoluten
Zahlen sind die Verschiebungen innerhalb des Verteidigungshaushaltes. Klar erkennbar ist die Tendenz,
dass die Betriebskosten sinken, die verteidigungsinvestiven Ausgaben aber steigen werden. Diese Entwicklung
ist nicht zufällig. Sie ist das Resultat einer Politik, die
von zwei sozialdemokratischen Verteidigungsministern
entschlossen eingeleitet wurde. Weil dieser eingeschlagene Kurs richtig ist, hält auch die neue Regierung an
ihm fest.
({0})
Ein Ziel der Transformation ist es, die vorhandenen
Finanzmittel besser und effektiver einzusetzen, um die
erforderlichen Ausrüstungsinvestitionen vornehmen zu
können. Das Stationierungskonzept, die Korrekturen bei
der Rüstungsplanung, die erweiterte Kooperation mit der
Wirtschaft - dies alles gehört zu einer Politik, die zunächst einmal vieles auf den Prüfstand gestellt hat, von
fliegenden Verbänden bis zum Gebäudemanagement.
Dabei stellte sich heraus: Nicht alles, was schon immer
so war, muss genau so bleiben. Es stellte sich aber auch
heraus, Frau Hoff: Nicht alles, was privat gemacht wird,
ist am Ende billiger und besser.
Die Transformation ist inzwischen an vielen Orten
mit Händen zu greifen. Als Abgeordneter aus der Marinestadt Kiel weiß ich, wie zügig und zielgerichtet etwa
die Aufstellung der neuen Einsatzflottille 1 vor sich
geht. Was vor kurzem noch Planung war, hat heute schon
Adresse, Namen und Gesichter.
In diesem Zusammenhang verdient das Engagement
der Soldatinnen und Soldaten und der Zivilangestellten
hohe Anerkennung. Für sie bedeutet Transformation
vielfach, neue Aufgaben an neuen Orten mit neuen Kollegen und Kameraden zu übernehmen. Hinzu kommen
Veränderungen im persönlichen Umfeld, wenn Standorte
geschlossen und Dienstposten verlegt werden. Es sind
gerade die gestandenen Soldaten und die erfahrenen
Zivilangehörigen, die wir vom Sinn und Nutzen der
neuen Bundeswehr überzeugen müssen. Das gelingt
umso besser, je mehr die neuen Strukturen sichtbar mit
Leben erfüllt werden. Bei aller Veränderung: Die Bundeswehr ist nicht auf der Suche nach neuen Aufgaben.
Sie soll nicht zur Ersatzpolizei werden. Das ist - trotz
aller richtigen zivilmilitärischen Zusammenarbeit - nicht
ihre Aufgabe.
Zur Transformation, die man erleben kann: Mit meinem Kollegen Sönke Rix war ich vor ein paar Wochen
- noch bei Schnee und Eis - in seinem Wahlkreis Rendsburg-Eckernförde unterwegs; das hätte auch anderswo in
Deutschland sein können. Wir waren beispielsweise in
Hohn. Da bereitet sich das Lufttransportgeschwader 63
auf die Aufnahme des A400M vor. 100 bis 140 Millionen Euro werden hier in den nächsten Jahren in eine
neue Infrastruktur investiert. Wir waren bei der U-Flottille in Eckernförde. Zwei neue Brennstoffzellen-U-Boote sind in Dienst gestellt, zwei sind in der Erprobung, zwei weitere gehen dieses Jahr unter Vertrag.
Neu aufgestellt sind dort die Marinesicherungskräfte und
die Spezialkräfte der Marine. Alles ist in neuer Organisation und zum Teil mit neuem Gerät.
Transformation bedeutet eben auch neue Ausrüstung
für die neuen Aufgaben. Ich nenne als Stichworte „Hubschrauber NH 90“ - dieses Projekt wird allmählich konkret - oder auch die im vergangenen Jahr getroffene,
wichtige Entscheidung, dass wir bei MEADS mitmachen. Eurofighter läuft, Tiger läuft, Puma läuft an. Diese
Projekte wären - da dürfen wir uns keine Illusionen machen - nicht finanzierbar, wenn wir nicht einen Kurs des
tiefgreifenden Umbaus der Streitkräfte eingeleitet hätten,
der auch vieles Gewohnte infrage stellt. Allein die Kategorisierung in Eingreif-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräfte war ein Befreiungsschlag. Dem Generalinspekteur sei Dank.
Man kann in diesen Tagen nicht über die Bundeswehr
reden, ohne etwas zum Kongo zu reden. Es wird bisweilen so getan, als ginge uns der Kongo - das so genannte
Herz der Finsternis, dunkel und weit weg - nichts an.
Wenn wir als Deutsche und Europäer aber glaubwürdig
bleiben wollen, wenn es mehr als Konferenzrhetorik sein
soll, dass wir stabile Staaten, Demokratie und Menschenrechte für die Menschen in Afrika fordern, dann
kann und darf es uns nicht egal sein, wie es im wichtigsten Land Zentralafrikas weitergeht. „Europa muss … bereit sein“ - so steht es in der EU-Sicherheitsstrategie -,
„Verantwortung für die globale Sicherheit und für eine
bessere Welt mitzutragen“. Diesem Anspruch sollten wir
gerecht werden.
Die UNO hat uns, die Europäer, darum gebeten, im
Kongo die Friedensbemühungen auch mit einer militärischen Komponente zu unterstützen. Wir haben kein Interesse daran, dass im Kongo irgendwann Verhältnisse
herrschen wie früher oder wie heute noch in Somalia, wo
es keine funktionierenden staatlichen Strukturen mehr
gibt, wo auf den Straßen das Recht des - häufig schwer
bewaffneten - Stärkeren gilt. Das geht uns an. Wir wollen keine Failing States.
({1})
Die Bundeskanzlerin hat in der Debatte heute Morgen zu
Recht gesagt: Wir können für Afrika mehr tun, als nur
traurig gucken.
Wir haben den Kongo auch nicht plötzlich entdeckt.
Vielmehr engagieren sich die Vereinten Nationen und
wir uns dort schon länger. Wir haben einen Prozess unterstützt, der Rückhalt im Land hat. Der Weg des Kongos
zu mehr Stabilität kann nur mit den bisherigen Konfliktparteien beschritten werden. Es geht eben nicht darum,
Rebellenarmeen niederzukämpfen oder das ganze große
Land zu besetzen. Deshalb können 1 500 Soldaten sehr
wohl ausreichen. Das wäre eine kleine Mission, die
durchaus einen größeren psychologischen Effekt haben
kann, zumal sie zivile europäische Anstrengungen flankiert: die Hilfe bei der Ausbildung einer neuen Polizei,
die Vorbereitung der Wahlen, die UNO-Soldaten der
MONUC in den alten Bürgerkriegsprovinzen, die internationalen Wahlbeobachter, darunter 200 Deutsche.
Es bedarf nicht notwendigerweise Tausender von Soldaten, um erfolgreich zu sein. Erinnern wir uns daran,
dass es in Mazedonien vor einigen Jahren gelungen ist,
mit einem sehr begrenzten Einsatz multinationaler
Streitkräfte - 400 Soldaten insgesamt - die friedliche
Entwaffnung der Milizen abzusichern und das Abrutschen in einen Bürgerkrieg zu verhindern! Das psychologische Signal war wichtiger als die Zahl der eingesetzten Soldaten.
Manche Bedenken, die gegen ein Kongomandat geäußert werden, könnten übrigens genauso gegen den Einsatz in Afghanistan vorgebracht werden. Auch das Land
ist weit weg und uns eher fremd. Nur wenige Soldaten
sprechen Paschtu. Auch dort gäbe es keine Aussicht auf
Frieden und Entwicklung, wenn nicht eine große Mehrheit der Bevölkerung und der ehemaligen Kontrahenten
diesen Kurs prinzipiell für richtig hielte. Wir unterstützen Afghanistan mit beträchtlichen Mitteln, weil in unserem Interesse nicht Chaos, sondern Ordnung, nicht
Gewalt, sondern ein demokratischer Anfang liegen. Da
ist noch viel zu tun.
Die Diskussion um das mögliche Kongomandat lehrt
uns schon jetzt, dass wir auch noch einmal über das
Konzept der EU-Battle-Groups und der NATOResponse-Force nachdenken sollten. Ob diese schnellen
Eingreiftruppen in ihrer bisherigen Form den praktischen Anforderungen von internationalen Einsätzen gerecht werden, ist, meine ich, zweifelhaft. Wir sollten genau beobachten, ob sich das Rotationsverfahren, an dem
auch Finanzierungsfragen hängen, in der Praxis bewährt.
Der NATO-Hilfseinsatz nach dem Erdbeben in Pakistan
ist so ein praktisches Beispiel dafür, dass die Hilfe am
Ende funktioniert hat, nicht aber der NRF-Mechanismus.
Es entspricht dem konzeptionellen Ansatz der Transformation, dass wir unsere Pläne und Konzepte ständig
auf ihre Wirksamkeit hin überprüfen. Das sollte auch auf
der Ebene von EU und NATO gelten.
Um in der Diskussion mit unseren Verbündeten Gehör zu finden, müssen wir in der Lage sein, mit der Bundeswehr einen ernsthaften eigenen Beitrag zu gemeinsamen Anstrengungen zu leisten. Mit dem vorliegenden
Haushaltsentwurf schaffen wir eine verlässliche Grundlage für die weitere Entwicklung der Bundeswehr.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegen Paul Schäfer, Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Eine Rüstungslast von
30 Milliarden Euro - so hoch ist sie nach NATO-Kriterien - ist meines Erachtens entschieden zu hoch. Der
Personalumfang der Streitkräfte ist mit 250 000 Soldaten
und Soldatinnen deutlich überdimensioniert. Der Prozess der Transformation der Bundeswehr zu einer Streitmacht, die global einsetzbar sein soll, ist in meinen Augen ein Irrweg, der unsere Sicherheit nicht erhöht; im
Gegenteil.
({0})
Meine Fraktion plädiert dafür, den Fokus wieder auf
die Landesverteidigung zu richten. Dafür wären
100 000 Soldatinnen und Soldaten ausreichend. Wir
könnten uns dann eine Reihe von sehr kostspieligen
Großprojekten sparen und dieses Geld nützlicheren Dingen zuführen.
Dass die Fraktion Die Linke ein überaus kritisches
Verhältnis zum Militär und zu Militäreinsätzen hat, wird
Sie nicht überraschen. Aber eines gilt auch für uns: Wir
wollen uns um die sozialen Belange der Soldatinnen
und Soldaten kümmern. Das sind Menschen aus Fleisch
und Blut, die auch Hilfreiches tun können - das Stichwort Berchtesgaden ist gefallen - und die - ich sage das
auch mit Blick auf das Gros der Zeitsoldaten - durchaus
nur einen schmalen Geldbeutel haben.
Aber auch für die Beamten des Bundes dort gilt, dass
ihnen in den letzten Jahren einiges zugemutet wurde. So
ist für uns die Senkung des schon einmal auf 60 Prozent
gekürzten Weihnachtsgeldes noch einmal um die Hälfte
nicht akzeptabel.
({1})
Wir werden deshalb zu diesem Haushalt eine Anhebung
beantragen. Wir halten diese Kürzung für unzumutbar.
An der Stelle sind wir auch etwas radikaler als der Bundeswehr-Verband.
Die Ost-West-Angleichung der Besoldung bis 2009
ist jetzt endlich ins Auge gefasst worden. Sie war längst
überfällig. Sie ist von uns lange gefordert worden.
({2})
Der Gesetzgeber wird sich auch ganz dringend um die
Rentenversorgung bei den Soldaten auf Zeit kümmern
müssen. Hier besteht Regelungsbedarf. Hierzu muss es
auch Vorschläge der Bundesregierung geben.
({3})
Schließlich müssen wir uns um die Sozialverträglichkeit bei der Umsetzung des Stationierungskonzepts
kümmern. Wir nehmen die Klagen der Soldatinnen und
Soldaten, aber auch der Zivilbeschäftigten sehr ernst. Sie
berichten über schwierige Zukunftsaussichten dort, wo
Stützpunkte in strukturschwachen Gebieten geschlossen
werden.
Es ist das alte Lied: Die Verantwortung darf nicht
zwischen Bund und Ländern hin und her geschoben werden. Bund, Länder und Kommunen sind zusammen in
der Pflicht, ein Konversionsprogramm zu entwickeln,
mit dem die Folgen solcher Umstrukturierungsprozesse
sozialverträglich aufgefangen werden.
({4})
Nur ein Punkt zur Fußballweltmeisterschaft: technische Amtshilfe. Herr Minister, Sie haben es angesprochen. Wenn es so viele Anforderungen aus den Ländern
gibt, in diesem Bereich aufzustocken, dann ist das doch
nur ein deftiger Hinweis darauf, wie sehr die Länder in
den letzten Jahren beim zivilen Katastrophenschutz und
bei der Polizei haben sparen müssen.
({5})
Darüber muss gesprochen und hier muss korrigiert werden.
Wir bleiben unserer Grundposition auch an einer anderen Stelle treu: Wir lehnen Privatisierungen und
Outsourcing ab. Das gilt gerade für einen so sensiblen
Bereich wie die Bundeswehr. Hier geht es um maximale
parlamentarische Kontrolle. Den bei der Bundeswehr
Beschäftigten muss die Chance gegeben werden, zu zeigen, dass sie die Dienstleistungen, die gefordert werden,
effektiv und kostengünstig erbringen können.
Sie wollen die Bundeswehr zu einer globalen Einsatzarmee transformieren. Das hat seinen Preis; ich habe die
Zahl genannt. Eben war ich bei den kleinen Zahlen, jetzt
sind wir bei den großen Zahlen. Dieser Etat bleibt auf
hohem Niveau. Er war nur dadurch zu halten, dass bei
der Marine Programme ausgelaufen sind und sich bei der
Luftwaffe einige Verzögerungen ergeben haben. Sonst
müssten Sie sogar noch aufstocken. Das ist eine Tatsache.
Ich will an drei Beispielen zeigen, warum wir es nach
unserer Meinung mit einer Fehlentwicklung bei der Einsatz- und Beschaffungsplanung zu tun haben. Dabei geht
es auch um die Einsatzdoktrin.
Beispiel Eurofighter. Dass die bestellten 180 Jagdflugzeuge viel zu viel sind, wusste man schon zu Volker
Rühes Zeiten. Wir konnten locker zwei Flugzeuge an
Österreich abgeben, dem es zu lange dauerte, bis seine
Maschinen geliefert wurden. Außerdem hat man sehr
schnell eine neue Einsatzrolle für diese Eurofighter gefunden, nämlich als Jagdbomber. Diese Rollenneuorientierung kostet einiges, eine schlappe halbe Milliarde
Euro. Die Steigerung der Ausgaben für Rüstungsforschung im Haushalt geht zu einem großen Teil auf diese
so genannte Rollenanpassung zurück. Dazu, dass hier in
großem Stil Jagdbomber beschafft werden sollen, sagen
wir ganz unmissverständlich: Jagdbomber für den nächsten Luftkrieg wollen wir nicht.
({6})
Deshalb sollte sich der Bundestag darüber verständigen, dass die zweite und dritte Tranche des Eurofighters
Paul Schäfer ({7})
nicht beschafft wird. In der SPD-Fraktion gab es Anfang
des Jahres in dieser Frage einmal ein kurzes Aufmucken
in der Richtung, dass man 2,8 Milliarden Euro sparen
könne, wenn die dritte Tranche nicht beschafft werde.
Davon hört man heute nichts mehr; man ist sehr schnell
eingeknickt. Hier hätte ich mir ein etwas couragierteres
Auftreten der SPD gewünscht.
({8})
Zweites Beispiel: Raketenabwehrsystem MEADS.
Die Kollegin von der FDP hat schon darauf hingewiesen. Es gibt auch ausführliche Studien, die zu dem
Schluss kommen, dass für die herkömmliche Flugabwehr die vorhandene Patriot reicht. Gegen die Bedrohungen durch ballistische Raketen ist das System ungenügend. Nur für den Schutz einer Truppe im Ausland
hätte MEADS logistische Vorteile, wenn man es mit
dem A400M verbindet. Allerdings hätten wir dann gern
gewusst, an welche Einsatzszenarien dabei gedacht ist.
Denn im Kongo oder im Sudan wird dieses Waffensystem nicht benötigt. Es ergibt höchstens Sinn, wenn man
gegen eine relativ hoch gerüstete Militärmacht zu Felde
zieht, zum Beispiel Pakistan oder Iran. Wollen wir das?
Das ist die Frage, die da zu stellen ist. Auch hier geht es
um schlappe 4 Milliarden Euro.
Welche Kosten der Eurofighter verursacht, habe ich
gar nicht erwähnt. Wir reden hier über einen zweistelligen Milliardenbetrag; er liegt zwischen 20 und 30 Milliarden Euro.
Bei MEADS geht es übrigens auch um industriepolitische Förderung. Das Flugzeugkapitel des Einzelplans 14 ist ohnehin ein Riesensubventionstopf für eine
Firma namens EADS. Keynesianismus ist ja ganz gut,
aber Rüstungskeynesianismus ist schlecht.
({9})
Drittes Beispiel: neue Korvetten und die geplante
neue Fregattenreihe F 125. Ihr besonderes Merkmal
soll die deutlich gesteigerte Fähigkeit sein, von der See
aus Landziele zu bekämpfen. Diese effektivierte See-/
Landkriegsführung wird offensichtlich benötigt, um auf
andere Länder einwirken zu können. Ich habe heute
Morgen bei der Kanzlerin gelernt, dass man dafür sorgen
muss, dass andere unsere Wertvorstellungen ernst nehmen. Das ist also das Szenario, an das da gedacht ist.
Der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Herr
Naumann, hat in einem Festvortrag kürzlich das Lob der
Marine gesungen und hat Folgendes gesagt:
Am wirkungsvollsten ist … eine Strategie, die sich
der Machtprojektion „onward from the sea“ bedienen kann, auch weil diese kaum von Überflug- und
Zugangsrechten abhängig ist.
Das ist Klartext. Da weiß man, wohin man mit diesen
schwimmenden Plattformen will. Diese Plattformen sind
geeignet für Expeditionary Forces, also für Eingreiftruppen, die langfristig Einsätze durchführen sollen. Auch
hier stellt sich die Frage: Was sind das für Expeditionen,
die da gestartet werden sollen?
({10})
Ich bin mit solchen Bewertungen sehr vorsichtig. Die
Kollegen aus dem Verteidigungsausschuss, die mich etwas besser kennen, wissen das. Diese Konzepte haben
für mich verdammt viele Anklänge an die alte Kanonenbootpolitik, nur eben Kanonenbootpolitik mit den militärischen Mitteln des 21. Jahrhunderts.
({11})
- Tut mir Leid, dies sagen zu müssen. Lesen Sie nach,
was der ehemalige Generalinspekteur Naumann gesagt
hat! - Wir können vor einer solchen Entwicklung nur
entschieden warnen. Die neuen Fregatten: nicht mit uns.
({12})
Die Bundeswehr ist, wie wir hören, eine Armee im
Einsatz. Dort, wo sie im Einsatz war, ist sie geblieben.
Die Einsätze haben länger gedauert, als man gedacht hat.
Es gibt immer mehr neue Einsatzszenarien: morgen im
Kongo, übermorgen möglicherweise - im Herbst werden
wir vielleicht diese Debatte führen - im Sudan.
Nun können wir gerne über die Sinnhaftigkeit der einzelnen Missionen diskutieren; ich bin sehr dafür. Aber
wenn es so ist, dass immer mehr militärische Zwangsmittel benötigt werden, um auf Konflikte einzuwirken,
dann stimmt etwas an der Grundrichtung der internationalen Politik nicht.
({13})
Dann müssen wir noch viel schärfer nach den Ursachen
der gewaltträchtigen Konflikte in vielen Teilen der Welt
fragen und noch viel gründlicher überlegen, wie man
durch langfristige und auf Deeskalation ausgerichtete
Entwicklungsstrategien diese Konflikte wirklich bewältigen kann.
Wenn Länder durch Strukturanpassungsprogramme
des IWF in noch größere Armut gestürzt werden und
wenn sich das Wettrennen um gewinnträchtige Rohstoffressourcen vor Ort verschärft und durch westliche Firmen angeheizt wird, dann müssen wir zuerst über eine
gerechtere Weltwirtschaftsordnung und über eine gerechtere Ressourcenverteilung reden und nicht über Eingreiftruppen der NATO und der EU.
({14})
Die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat jüngst mehrfach auf die Riesendiskrepanz zwischen den Weltmilitärausgaben und
den globalen Ausgaben für öffentliche Entwicklung hingewiesen: hie 1 Billion Dollar und da 58 Milliarden Dollar.
({15})
- Entschuldigung, 78 Milliarden Dollar. Die Diskrepanz
bleibt trotzdem bestehen. - Sie hat gefordert, dass die
deutsche Politik hier zu einer grundlegenden Gewichtsverschiebung beitragen müsse. Dumm ist nur, dass zwei
Drittel dieser Weltmilitärausgaben von der NATO aufgePaul Schäfer ({16})
bracht werden. Der NATO-Generalsekretär wird nicht
müde, eine Steigerung dieser Ausgaben zu fordern.
({17})
Hier wäre ein wichtiges Betätigungsfeld für die Bundesregierung. Sie könnte die Überprüfungskonferenz
hinsichtlich der konventionellen Streitkräfte in diesem
Jahr nutzen, um über eine qualitative Abrüstung zu reden. Sie könnte auch den diesjährigen NATO-Gipfel
nutzen, um eine Initiative einzubringen, wonach sich die
NATO-Mitgliedsländer zu einer jährlichen Absenkung
ihres Wehretats um 5 Prozent verpflichten.
({18})
Das wäre eine ganz tolle Initiative.
Herr Minister, setzen Sie sich doch einmal mit Ihrer
Fachkollegin zusammen. Sie könnten das sozusagen innerhessisch regeln und sich überlegen, ob nicht eine solche Initiative im November anlässlich des NATO-Gipfels eingebracht werden könnte. Abrüstung immer nur
woanders zu fordern, geht nicht. Nein, auch hier bei uns
geht es um Abrüstung.
Danke.
({19})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Alexander Bonde,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben es in dieser Debatte schon oft gehört:
Die Bundeswehr befindet sich in einer Transformationsphase und die Anforderungen an die Angehörigen der
Bundeswehr sind enorm.
Unsere Soldatinnen und Soldaten beweisen in vielfältigen Auslandseinsätzen, dass wir unter gewissen Voraussetzungen Sicherheit und Stabilität in Krisenregionen verbessern können. Aber nicht zuletzt seit dem
letzten Bericht des Wehrbeauftragten wissen wir alle
auch, dass die Bundeswehr in ihrer bisherigen Struktur
bei den aktuellen Einsätzen an der Belastungsgrenze angekommen ist.
Ich möchte an dieser Stelle im Namen meiner Fraktion den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ausdrücklich für ihr Engagement danken. Ebenso möchte
ich allen zivilen Helferinnen und Helfern der Polizei, aus
der Entwicklungshilfe, den NGOs und den internationalen Organisationen danken; denn ein Großteil unserer
Missionen findet in enger zivil-militärischer Kooperation statt.
({0})
Dieser Zusammenhang ist auch bei der Frage des
Mahnmals, die Sie, Herr Minister, angesprochen haben,
wichtig. Denn aus unserer Perspektive und bei einem
umfassenden Sicherheitsbegriff darf man nicht nur eines
Teils derjenigen, die bei Auslandseinsätzen zu Schaden
kommen, gedenken, während man einen anderen Teil
nicht mitberücksichtigt. Insofern sollte das Ganze breiter
anlegt werden als das Mahnmal, das Sie hier skizziert
haben.
({1})
Die Transformation der Bundeswehr bedeutet, wahrzunehmen, dass es neue außenpolitische Aufgaben gibt
und sich damit die Rolle der Streitkräfte ändert. Man
muss weg vom Schwerpunkt der reinen Landesverteidigung hin zu einer Bundeswehr, die dort, wo es nötig ist,
in der Lage ist, internationale und humanitäre Verantwortung in Bündnissen zu übernehmen. Für uns Grüne
und insgesamt in der Bundesrepublik war es ein langer
Diskussionsprozess, bis man zu der verantwortungsvollen Position gekommen ist, in einzelnen Fällen auch mit
militärischer Gewalt Friedenspolitik machen zu müssen.
Wir müssen in der Phase, in der wir uns im Moment
sicherheitspolitisch befinden, sehr viel mehr Bedacht an
den Tag legen, wenn wir über den Einsatz des Militärs
diskutieren. Erlauben Sie mir eine persönliche Bemerkung. Ich glaube, wir müssen aufpassen, nicht in einen
Automatismus bei den Einsätzen im militärischen Bereich hineinzurutschen. Wir müssen wieder darüber
sprechen, wie wir Einsätze verantwortungsvoll zu einem
Ende führen können. Wir müssen uns offen darüber unterhalten, dass es bei aller Notwendigkeit und allen
Gründen für Einsätze auch eine Grenze der verfügbaren
Kapazitäten und der Belastbarkeit der Soldatinnen und
Soldaten gibt. Ich persönlich betrachte es mit großer
Sorge, dass diese Fragestellungen bei dem Einsatz, in
den uns die Bundesregierung gerade manövriert, nicht
wirklich auf der Tagesordnung standen und nach meinem Verständnis eine zu geringe Rolle in der Debatte gespielt haben.
Zurück zur Bundeswehr. Bereits die alte Regierung,
die rot-grüne Mehrheit, hat den Transformationsprozess angestoßen und begleitet. Auch wenn wir in vielen
Punkten mit dem ehemaligen Verteidigungsminister im
Clinch lagen und seine Ansichten konstruktiv und kritisch hinterfragt haben, so haben wir diese Linie doch
verantwortungsvoll mitgetragen. Das galt in unserer Regierungszeit und das gilt auch heute in der Opposition.
({2})
Leider muss man aber sagen, dass sich der Transformationsprozess nicht in dem Maße, wie dies in den Reden betont wurde, in dem neuen von Schwarz-Rot vorgelegten Entwurf des Einzelplans 14 wiederfindet. Denn
an manchen Stellen wird unter Minister Jung bewusst
wieder der Weg in die falsche Richtung eingeschlagen.
Es werden zu viele Mittel für die herkömmliche Landesverteidigung und zu wenige für den bei den Auslandseinsätzen und der Krisenprävention bestehenden Bedarf
bereitgestellt. Es gibt zu viel Logik des Kalten Krieges
mit Bedrohungsszenarien, in denen von Kriegen zwischen hoch gerüsteten Staaten ausgegangen wird, und
eine zu geringe Anpassung an außenpolitische Herausforderungen, an reale Einsatzszenarien im Bereich der
asymmetrischen Bedrohung, der Nation Building und
der Stabilisierung.
({3})
Wenn man die tatsächliche Situation bei den Einsätzen dem Einzelplan gegenüberstellt, sieht man, dass immer noch eine zu geringe Ausstattung für die konkreten
Einsatzsituationen vor Ort vorgesehen ist. Wir erleben,
dass weder das richtige Personal noch das richtige Material für die tatsächlichen Einsätze eingeplant werden.
Vielmehr fließt ein Großteil der Investitionen in den Bereich der klassischen Landesverteidigung, in den Bereich dessen, wo man wieder sozusagen die großen, alten
Kriege befürchtet. Insofern ist das Problem der Bundeswehr nicht in erster Linie Geldmangel, sondern die richtige Prioritätensetzung. Diese, sehr geehrter Herr Bundesverteidigungsminister, setzen Sie falsch.
({4})
Sie selbst haben das im Bereich der Beschaffungen
sehr deutlich gemacht. Die Beschaffungen erfolgen weiter nach dem Produktkatalog der Industrie und weniger
nach dem aktuellen Bedarf. Ich will es an drei Beispielen
deutlich machen. Den Eurofighter haben Sie genannt.
Jeder von uns weiß: Wir brauchen keine 180 neuen
Kampfflugzeuge, weil die Bedrohungssituation dies
nicht erforderlich macht. Jeder weiß: Dies ist eine Verschwendung von Steuermitteln. Gleichwohl ist unser
Antrag, nun endlich Verhandlungen mit der Industrie
aufzunehmen, um aus der dritten Tranche des Eurofighters auszusteigen, im Haushaltsausschuss von der großen
Koalition abgelehnt worden - interessanterweise bei
Enthaltung der FDP, wenn ich das an dieser Stelle einmal kritisch äußern darf.
Zweites Stichwort: die IRIS-T-Anpassung für das
Flugabwehrsystem MEADS. Wir entwickeln ein Flugabwehrsystem, um uns gegen Flugkörper mit mittlerer
Reichweite anderer hochgerüsteter Staaten zu verteidigen. So weit, so schlecht. Jetzt will das Verteidigungsministerium dieses internationale Projekt aber noch mit einem nationalen Flugkörper aufmotzen, damit die
deutsche Flugkörperindustrie mehr Aufträge erhält. Das
System wird komplizierter, schwieriger zu warten und
teurer. Das ist sozusagen die Schweinslederlösung mit
Goldnahtkante; im Sprachgebrauch der MTV-Generation könnte man auch sagen: Pimp my MEADS.
({5})
Drittes Stichwort: PARS 3 Long Range. Das Panzerabwehrraketensystem für den Hubschrauber Tiger, von
Rot-Grün aus guten Gründen in die Mottenkiste gelegt,
ist wieder da. Ich weiß nicht, wo Sie herannahende Panzerarmeen vermuten. Bei den täglichen Einsätzen der
Bundeswehr reden wir über Minen, Heckenschützen und
Autobomben.
Keines der drei Systeme, die ich benannt habe, werden Sie jemals in Kabul oder auf dem Balkan einsetzen.
Auch im Kongo - sollte der Einsatz beschlossen werden - werden Sie keines dieser Systeme jemals einsetzen. Das Gleiche gilt für den Sudan und jeden anderen
Ort dieser Welt, wo ich mir im Moment einen sinnvollen
Einsatz der Bundeswehr vorstellen kann.
Lieber Herr Kollege Jung, die Bundeswehr braucht
Führung in der Transformation. Sie braucht keinen Zickzackkurs und niemanden, der in Abenteuer hineinstolpert. Bezüglich des Kongoeinsatzes kann man inhaltlich
unterschiedlicher Meinung sein. Ich bin wesentlich
skeptischer als große Teile meiner Fraktion, ob das hier
formulierte humanitäre Pathos von 100 bis 250 Soldaten
vor Ort tatsächlich umgesetzt werden kann. Darüber
kann man ernsthaft diskutieren.
Nicht diskutieren kann man über das Hin und Her, das
Sie auf europäischer Ebene veranstaltet haben. Sie haben
die Ausschüsse des Bundestages, den Bundestag und die
Öffentlichkeit über Wochen im Dunkeln darüber gelassen, was Sie eigentlich vorhaben: Es begann mit einem
Nein zum Einsatz seitens des Verteidigungsministers.
Einen französischen Handkuss später hat die Bundeskanzlerin dies revidiert. Der Verteidigungsminister
meinte anschließend: Ja, aber ohne Führungsrolle. Dann
haben Sie fahrlässig „Berlin plus“ ausgeschlagen. Zu guter Letzt übernimmt Deutschland die Führungsrolle und
hat den Einsatz am Bein. - Herr Jung, Führungsfähigkeit
und Demonstration von Handlungsfähigkeit sehen anders aus. Wenn das europäische Sicherheitspolitik sein
soll, dann kann ich nur sagen: Gute Nacht!
An einer anderen Stelle haben Sie die Führung übernommen. Sie haben gesagt, dass Sie den Personalhaushalt reduzieren wollen. Ich frage Sie aber, wie es dann
dazu passt, dass Sie nun zusätzlich 25 000 Wehrdienstleistende einberufen wollen. Aufgrund der militärischen
Planung Ihres Generalinspekteurs ist dies nicht notwendig. Sicherheitspolitische und sachliche Gründe gibt es
mitnichten. Was sollen diese 25 000 Wehrpflichtigen
also tun? An erster Stelle sollen sie die Wehrpflicht verteidigen. Ansonsten wird Zeit abgesessen und andernorts
notwendiges Material und Personal gebunden. Das ist
unwirtschaftlich und sicherheitspolitisch kontraproduktiv. Sie steigern weder die Leistungsfähigkeit der Streitkräfte noch entlasten Sie den Personalhaushalt und sparen an Betriebsmitteln, wie Sie es angekündigt haben.
Wenn Sie Gerechtigkeit bei der Wehrpflicht wollen,
dann tun Sie, was dringend notwendig ist: Schaffen Sie
die Wehrpflicht endlich ab! Sie wissen genau, sicherheitspolitisch braucht sie niemand.
({6})
Wenn man alles zusammennimmt, also Ihre Planungen bezüglich der Beschaffung und des Personals, dann
wundert es mich schon, dass die Sozialdemokraten den
alten Weg der Transformation überhaupt wiedererkennen; denn Sie nehmen die Reform des vorherigen Verteidigungsministers Struck mit Ihren Maßnahmen Stück für
Stück zurück.
Man kann darüber streiten, ob das nicht immer schon
das Ziel der CDU/CSU in diesem Bereich war. Wir sind
ja froh, dass zumindest Sie inzwischen, was den Einsatz
im Innern angeht, von der Bundeswehr bekehrt worden
sind. An dieser Stelle wünsche ich Ihnen viel Erfolg
beim Kampf gegen den Bundesinnenminister. Wir sind
gespannt, ob Sie sich wenigstens an dieser Stelle einmal
durchsetzen werden, Herr Jung.
({7})
Zusammenfassend möchte ich sagen: Sie haben mit
uns, der grünen Fraktion, einen Diskurspartner, der verantwortungsvolle Außen- und Sicherheitspolitik mitgestalten will und der sich solidarisch damit erklärt, dass es
in bestimmten Fällen geeigneter Streitkräfte bedarf. Wir
wissen, dass die Bundeswehr ein Partner bei vielen friedenserhaltenden Einsätzen ist. Wenn Gewalt als letztes
Mittel eingesetzt werden muss, wenn die Bundeswehr in
zivile und entwicklungspolitische Maßnahmen eingebunden werden soll, stehen wir mit Ihnen auf einer Seite.
Wir erwarten aber von der Bundesregierung, dass sie
die Herausforderung annimmt und Führung zeigt, dass
sie die Aufgabe als sicherheitspolitisches Projekt trägt
und nicht als industriepolitische Spielwiese versteht.
Herr Jung, Ihr heutiger Redebeitrag hat uns gezeigt, dass
Sie sich ein Stück weit als zweiter Wirtschaftsminister
dieser Bundesregierung sehen.
({8})
Ich kann gut nachvollziehen, dass man diese Lücke in
der Bundesregierung füllen möchte, weil keiner so recht
weiß, ob der bisherige Wirtschaftsminister diese Rolle
tatsächlich jemals ausfüllen kann.
({9})
Solange Sie, Herr Jung, die Rolle des Verteidigungsministers nicht gänzlich ausfüllen - uns scheint, es ist noch
ein langer Weg, bis das der Fall ist -, sollten Sie die Finger von den Ressorts anderer lassen. Betreiben Sie Sicherheitspolitik und hören Sie mit dem industriepolitischen Unsinn auf!
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Herrmann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Minister, Sie haben es eben angedeutet:
Die Sicherheitspolitik steht im 21. Jahrhundert vor
neuen großen Herausforderungen. Für uns Parlamentarier bedeutet dies, dass alle sicherheitspolitischen Instrumente daran gemessen werden müssen, wie effizient ihre
Wirksamkeit gegenüber heutigen, aber auch künftigen
Bedrohungen ist.
Bedrohungen, egal welcher Art, sind leider nicht kalkulierbar, weder was den Ort noch was das Profil des
Gegners angeht. Sie sind im Gegensatz zu früher meist
asymmetrisch. Ich sage aber auch ganz klar, dass die
symmetrische Bedrohung nicht außer Acht gelassen
werden darf.
({0})
Daran müssen unsere Sicherheitsstrukturen ausgerichtet
werden. Innere und äußere Sicherheit sind nicht mehr
voneinander zu trennen.
Sicherheitsvorsorge setzt sich aus verschiedenen
Bausteinen zusammen. Neben den rein militärischen Aspekten gehört eine Reihe von anderen Bereichen untrennbar dazu. Ich begrüße es deshalb sehr, dass wir unsere Vorstellungen zur inneren und äußeren Sicherheit
unter Berücksichtigung des erweiterten Sicherheitsbegriffes - Herr Minister, Sie haben es angekündigt - noch
in diesem Jahr in einem Weißbuch wiederfinden werden.
Ein wesentlicher Baustein der Sicherheitsstrategie ist die
Verteidigung. Dafür bietet der Einzelplan 14, mit dem
wir uns heute befassen, den entscheidenden Rahmen.
Angesichts des von der Bundesregierung vorgegebenen Kurses der Konsolidierung der Finanzen ist natürlich auch der Finanzrahmen des Verteidigungshaushaltes
nicht unbegrenzt. Das Volumen für 2006 hat sich bei
23,88 Milliarden Euro eingependelt. Durch Verkäufe
von Bundeswehrliegenschaften sollen noch circa
60 Millionen Euro hinzukommen. Vor dem Hintergrund
des Konsolidierungskurses sind Erhöhungen Grenzen
gesetzt. Daher müssen wir prüfen, wo Einsparungen
möglich und wo Erhöhungen notwendig sind. Der Regierungsentwurf, der uns heute vorliegt, ist ein Lösungsvorschlag, der den Spagat zwischen wirtschaftlicher
Haushaltsführung und nötigen Investitionen schafft.
Unsere Aufgabe als Parlamentarier besteht darin, diesen Prozess verantwortungsbewusst und kritisch zu begleiten. Dabei sollten wir uns erstens von der Maxime
leiten lassen, den bestmöglichen Schutz unserer Soldaten und Soldatinnen im Einsatz zu gewährleisten
und zu verbessern.
({1})
Herr Schäfer, ich möchte zu Ihren Einwürfen eben, zum
Beispiel zum Programm MEADS, sagen: Wir haben uns
in der Gruppe „Bodengebundene Luftverteidigung“
lange mit diesem Thema beschäftigt und sind mit großer
Mehrheit übereingekommen, dieses Projekt zu verwirklichen.
({2})
- Ja, in der Gruppe sogar einstimmig. Ich glaube nach
wie vor, dass es Sinn und Zweck hat, dieses Projekt zu
verwirklichen.
Zweitens sollten wir uns von der Maxime leiten lassen, die internationalen Verpflichtungen gegenüber
unseren Bündnispartnern einzuhalten. Herr Schäfer, Sie
haben vorgeschlagen, die Zahl der Bundeswehrsoldaten
auf 100 000 zu reduzieren. Sie müssen mir erklären, wie
wir uns dann überhaupt noch an internationalen Einsätzen beteiligen könnten. Die Politik, die Sie hier betreiben - Sie haben von Kanonenbootpolitik gesprochen -,
zeugt davon, dass Sie kein Interesse daran haben, Sicherheit für die Bundesrepublik zu gewährleisten. Das ist
pure Stimmungsmache. Ich kann nur davor warnen, den
bestehenden Konsens im Verteidigungsausschuss aufzukündigen.
({3})
Wir sollten uns drittens von der Maxime leiten lassen,
die wehrtechnische Industrie zu stärken. Es ist sicherlich wichtig, ihre Konkurrenzfähigkeit auf internationalem Parkett zu erhalten. Es liegt in unserem Interesse,
uns nicht von der ausländischen Rüstungsindustrie abhängig zu machen. Sie wartet nämlich nur darauf, dass
wir unsere Kernfähigkeiten vernachlässigen. Letztendlich zahlen wir einen hohen Preis, wenn wir nicht mehr
selbst produzieren.
Die Bundeswehr hat sich im Laufe des Transformationsprozesses zu einer Armee im Einsatz entwickelt,
deren Aufgabe darin besteht, Frieden sichernde und
Frieden erhaltenden Maßnahmen auszuführen. Ein Ende
dieser Entwicklung und der damit verbundenen Frage
nach weiteren Einsätzen im Ausland ist nicht absehbar.
Herr Minister, Sie haben vorhin die NATO-ResponseForce und die EU-Battle-Groups angesprochen. Das sind
Aufgaben, die wir in Zukunft zu bewältigen haben.
Es ist sicherlich wichtig, einen ausreichenden Plafond
bereitzuhalten, damit wir Truppen zur Verfügung stellen
können, wenn sie angefordert werden. Daher ist eine
Truppenstärke von 250 000 Männern und Frauen sicherlich angemessen.
Die Bundeswehr wird auch - der Minister hat das angesprochen - in Katastrophengebieten im In- und Ausland eingesetzt, in jüngster Zeit, um nur einige Beispiele
zu nennen, in Bad Reichenhall, in Hochwassergebieten,
im Erdbebengebiet in Pakistan und bei der Bekämpfung
der Vogelgrippe auf Rügen. Das ist das Aufgabenspektrum, dem sich unsere Bundeswehr gegenübersieht.
Unsere Soldaten stellen die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr tagtäglich - das muss man hier einmal sagen unter Beweis. Sie zeigen, zu welchen Leistungen sie
letztendlich bereit sind und dass sie verantwortlich handeln können. Die Organisationsstruktur und das Engagement jedes einzelnen Soldaten ist, das kann ich hier nur
feststellen, vorbildlich. Mein herzlicher Dank an die Soldatinnen und Soldaten, die dies immer wieder möglich
machen.
({4})
Eine ganze Reihe von Haushaltsstellen des
Einzelplans 14 ist dem Umbau zu einer modernen, effizienten sowie schnell einsatzfähigen und leicht verlegbaren Truppe geschuldet. Ich begrüße daher sehr, dass die
verteidigungsinvestiven Ausgaben, die bei 6 Milliarden Euro liegen, auf 25 Prozent des Etats angewachsen
sind. Wir müssen daran arbeiten, diesen Anteil noch zu
steigern. Wenn wir den begonnenen Transformationsprozess fortsetzen, sollte es uns gelingen, die Betriebsausgaben weiter zu reduzieren und damit Spielräume für Investitionen zu gewinnen.
Ich warne aber davor, alles zu privatisieren und alles
outzusourcen. Es gibt viele Bereiche, die von der Bundeswehr sicherlich nicht so kostendeckend betrieben
werden können, wie ein Privater dies könnte. Das heißt
aber nicht, dass dieser es auch besser machen würde. Ich
glaube, dass viele Bereiche in der Bundeswehr besser
aufgehoben sind, als sie es im privaten Sektor wären. Ich
denke, Frau Hoff, über den richtigen Weg werden wir
noch viel diskutieren. Ich halte es für notwendig und
richtig - das betone ich -, dass diejenigen, die es zu ähnlichen Konditionen besser machen können, den Zuschlag erhalten sollten.
Beachtlich ist, dass der Bereich „Wehrforschung,
wehrtechnische und sonstige militärische Entwicklung
und Erprobung“ jetzt ein Gesamtvolumen von
1,1 Milliarden Euro umfasst. Das ist eine Steigerung um
satte 15 Prozent.
Lassen Sie mich zu den zuvor genannten Eckpunkten
nur zwei Zahlen herausgreifen:
Wir fördern die Zukunftstechnik im Bereich der weltraumgestützten Aufklärung mit 325 Millionen Euro.
Das sind 50 Prozent mehr, als wir für derartige Zukunftstechnologien im letzten Jahr zur Verfügung hatten.
Im Übrigen wird gerade die Aufklärung bei zukünftigen
Einsätzen eine entscheidende Rolle spielen, um Erkenntnisse über den Gegner und die Infrastruktur zu erhalten.
Nur so können wir, neben den eben genannten Komponenten, einen umfassenden und effektiven Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten gewährleisten.
Wir stellen 400 Millionen Euro für die Nachfolgelösung der Breguet Atlantic, die Entwicklung des mobilen
Bodenüberwachungsradars und die weiträumige, abbildende Aufklärung der Boden- und Luftlage durch AGS
sowie durch Euro Hawk zur Verfügung. Das zeigt die
Maßnahmen auf, die heute dringend erforderlich sind.
Unser Blick sollte aber auch langfristige und für die
Einsatzfähigkeit der Bundeswehr bedeutsame Aspekte
berücksichtigen. Der Zulauf der Fregatte 125, aber auch
die Diskussion über einen weiteren Einsatzgruppenversorger muss geführt werden. Die Entwicklung einer
Nachfolgelösung für die CH 53 ist mit dem HTH, also
dem schweren Transporthubschrauber, bereits angedacht
und muss mit unseren Bündnispartnern gemeinsam umgesetzt werden.
Mit dem Haushaltsentwurf, der uns heute vorliegt,
schaffen wir eine Grundlage für die zukünftige Arbeit
der Bundeswehr, der Soldatinnen und Soldaten sowie
der Zivilangestellten. Sicherlich gibt es die Forderung,
noch etwas mehr Geld einzubringen. Nach oben hin sind
die Ausgaben aber zurzeit begrenzt.
Ich sage in aller Deutlichkeit: Diejenigen, die tagtäglich hervorragende Arbeit abliefern - die Soldatinnen
und Soldaten sowie Zivilangestellte -, haben ein Recht
darauf, von uns entsprechend ausgerüstet zu werden.
Dem kommen wir gerne nach. Ich wünsche allen Soldatinnen und Soldaten, dass sie immer heil aus dem Einsatz zurückkommen. Denn sie tun ihren Dienst für uns in
Deutschland.
Danke schön.
({5})
Nun hat das Wort die Kollegin Birgit Homburger von
der FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundeswehr muss sich auf die neuen Herausforderungen und auch auf neue Aufträge einstellen. Mit den
ihr zur Verfügung gestellten Mitteln hat sie diese Aufgabe bisher sehr gut gemeistert. Allerdings sind die politischen Vorgaben mit den zugebilligten Mitteln häufig
nicht kompatibel. Der in aller Munde geführte und hier
schon einige Male angesprochene Transformationsprozess hat nicht in allen Bereichen die richtige Zielsetzung,
vor allem nicht in der Grundsatzfrage der Struktur unserer Streitkräfte. Ich finde, da liegt das Grundproblem für
die Zukunft der Bundeswehr.
({0})
Allerdings - das hat sich in der heutigen Debatte gezeigt - ist eine Strukturkorrektur vonseiten der Regierung nicht ins Auge gefasst. Stattdessen beschäftigt sich
die Bundesregierung im Augenblick mit weiteren Auslandseinsätzen, beispielsweise in Afrika. Auch wir sehen
die dringende Notwendigkeit, uns mit Afrika zu beschäftigen, aber dann bitte mit einem klaren Konzept und in
internationalem Rahmen. Die Art und Weise, wie das im
Augenblick stattfindet - man hat kein klares Konzept
und dann legt die Bundesregierung auch noch das Parlament de facto im Vorhinein fest, indem sie international
bereits klare Zusagen macht -, ist inakzeptabel. Die
Bundeswehr ist und bleibt eine Parlamentsarmee. Daran
sollten wir weiter festhalten.
({1})
Der komplette Entscheidungsablauf bei der Bundesregierung in diesem Zusammenhang ist ein Desaster.
Beispielsweise ist nach wie vor völlig unklar, wie die
mittlerweile nur noch 200 für Kinshasa eingeplanten
Soldaten denn tatsächlich eine Abschreckung darstellen
sollen.
({2})
Und was passiert eigentlich, wenn sich die Sicherheitslage nach den Wahlen drastisch verschlechtert? Behalten
in einem solchen Fall Einsatzraum und Einsatzdauer tatsächlich ihre Gültigkeit? Ich weiß, dass die Kolleginnen
und Kollegen der SPD und CDU/CSU im Verteidigungsausschuss diese Fragen genauso gestellt haben wie die
Kolleginnen und Kollegen der Opposition. Aber bisher
blieben diese Fragen von der Bundesregierung komplett
unbeantwortet. Deshalb sagen wir ganz klar: Es besteht
die Gefahr, dass wir mit der Teilnahme an einer derartigen Mission in ein unkalkulierbares Risiko laufen. Wir
finden, dass die Bundesregierung diese Fragen aufzuklären hat, und zwar hier im Parlament.
({3})
Im Übrigen, Herr Verteidigungsminister Jung, haben
Sie wiederholt erklärt, dass Deutschland sich, wenn
überhaupt, lediglich in Form von logistischer und Lufttransportunterstützung beteiligen werde, aber auf gar
keinen Fall mit Kampftruppen. Sie haben zu Beginn der
Diskussion auch gesagt, Deutschland werde auf gar keinen Fall eine Führungsrolle übernehmen. Jetzt ist es so,
dass Deutschland nicht nur irgendeine Führungsrolle,
sondern sogar die Gesamtführung für diesen Einsatz
übernehmen soll.
Vor diesem Hintergrund muss ich schon sagen: Das
Hin und Her in der Diskussion war unnötig und ist verantwortungslos, weil die Soldatinnen und Soldaten der
Bundeswehr Sicherheit brauchen. Ich finde, man sollte
über solche Fragen erst diskutieren, wenn man Klarheit
hat, und nicht schon über alles Mögliche vorher in der
Öffentlichkeit diskutieren und es anschließend revidieren.
({4})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen der SPD-Fraktion?
Ja, gerne.
Frau Kollegin Homburger, ist Ihnen möglicherweise
entgangen, dass das Operation Headquarter in Potsdam
zwar auch national führen und den Beitrag für Afghanistan leisten soll, aber strukturell in erster Linie darauf
ausgerichtet ist, unter der politischen Verantwortung der
Europäer - multinational eingebettet, was sich auch im
Personal zeigt - zu führen? Insofern ist Ihre Aussage,
dass die Operation unter deutscher Führung stehe,
falsch. Es ist eine europäische Führung. Möglicherweise
haben Sie das übersehen.
({0})
Herr Kollege Arnold, das habe ich nicht übersehen.
Es ist in der Tat so, dass die Deutschen die gesamte Führungsverantwortung übernehmen sollen.
({0})
Selbstverständlich wird dieses Headquarter in Potsdam
teilweise auch mit Offizieren aus anderen Ländern besetzt; das ist völlig klar. Aber es stellt sich beispielsweise
die Frage, warum man in diesem Zusammenhang, was
die Führungsfrage angeht, nicht zunächst einmal mit der
NATO gesprochen hat. Auch hier herrscht eine Sprachlosigkeit, die völlig inakzeptabel ist.
({1})
Wir sagen Ihnen: Eine solche Art und Weise des Vorgehens - dass man erst öffentlich das eine sagt und anschließend das andere macht - ist zu kritisieren. Diesen
Punkt habe ich angesprochen.
({2})
Herr Minister, Sie haben das Weißbuch erwähnt. Im
Hinblick auf die Entwicklung der Bundeswehr hin zu einer Armee im Einsatz ist es tatsächlich unumgänglich,
endlich die sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands und in der Folge auch die Grenzen für zukünftige
Auslandseinsätze klar zu definieren. Das ist nach wie
vor noch nicht passiert.
Wir als FDP-Bundestagsfraktion hoffen, dass diese
Fragen im neuen Weißbuch beantwortet werden, weil es
dringend erforderlich ist, sowohl die sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands als auch die Grenzen für
zukünftige Auslandseinsätze klar zu definieren. Das ist
schon lange überfällig und muss in diesem Jahr endlich
gemacht werden.
Nun möchte ich eine Bemerkung zum Einsatz in
Afghanistan machen. Abdul Rahman, der zum Christentum übergetreten ist, wurde heute bereits in anderen
Debatten erwähnt. In der Debatte, die wir heute Morgen
geführt haben, war unser Informationsstand aber noch
ein anderer. Wir alle gingen davon aus, dass man ihn aus
dem Land ausreisen lässt. Zwischenzeitlich haben wir
erfahren, dass das afghanische Parlament einen Antrag
beschlossen hat, wonach man ihn nicht ausreisen lassen
will.
Ich finde, vor diesem Hintergrund sollten wir alle
deutlich machen: Es ist unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz in Afghanistan nur sehr schwer zu vermitteln, dass man Respekt vor einer anderen Religion zeigen und entwickeln soll, wenn man gleichzeitig erfährt,
dass der Respekt vor der eigenen Religion, die viele unserer Soldatinnen und Soldaten haben, in dieser Art und
Weise mit Füßen getreten wird. Das ist inakzeptabel und
das sollten wir als Parlament, aber das sollten auch Sie
als Regierung deutlich festhalten.
({3})
Trotz aller Einsparungspläne muss der bestmögliche
Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten gewährleistet
sein. Ausrüstung und Bewaffnung der Streitkräfte bereiten uns allerdings Sorgen. Deutsche Soldatinnen und
Soldaten, die in Afghanistan im Einsatz sind, sitzen in
Fahrzeugen, von denen lediglich die Hälfte Schutz gegen Sprengstoff- und Minenanschläge bietet. Im Bericht
des Wehrbeauftragten heißt es, das BMVg habe erklärt,
dass im Rahmen der Planung der für die NATO verbindlich zugesicherten NRF-Kräfte zunächst auch auf ungeschützte Fahrzeuge zurückgegriffen werden müsse.
Weiter wird ausgeführt, dass die Verantwortbarkeit eines
tatsächlichen Einsatzes in einer konkreten Krisenreaktion zu gegebener Zeit in jedem Einzelfall auch im Hinblick auf die Ausstattung mit geschützten Fahrzeugen
bewertet würde.
Wir sind der Auffassung, dass wir diese Investitionen
jetzt tätigen müssen, da der Wehrbeauftragte zu Recht
darauf hingewiesen hat, dass diese NRF-Kräfte kurzfristig einsetzbar sein müssen. Deshalb muss dafür gesorgt
werden, dass für die entsprechende Anschaffung Haushaltsmittel bereitgestellt werden. Die Soldatinnen und
Soldaten, die sich im Einsatz befinden, müssen im Übrigen nicht nur über geeignetes Gerät verfügen, sondern es
muss auch sichergestellt sein, dass sie zuvor an den jeweiligen Geräten ausgebildet werden. Das ist im Augenblick nicht sichergestellt. Auch hier sehen wir dringenden Nachbesserungsbedarf.
({4})
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Einen
Punkt möchte ich allerdings noch ansprechen. Die weitere Ungleichbehandlung von Soldaten in Ost und West
ist nicht akzeptabel. Wir sind der Meinung, dass im Rahmen dieses Haushaltsentwurfs für eine Gleichstellung
gesorgt werden muss. Die innere Einheit Deutschlands
ist in der Bundeswehr seit langem vollzogen. Es gibt keinerlei Unterschiede, weder was den Leistungswillen
noch was die Leistungsfähigkeit der Soldaten betrifft.
Deshalb setzen wir uns für die gleiche Bezahlung der
Soldatinnen und Soldaten in Ost und West ein.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Johannes Kahrs für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Der Regierungsentwurf, so wie er dem
Deutschen Bundestag vorliegt, sieht für den Verteidigungshaushalt einen Betrag in Höhe von 23,88 Milliarden Euro vor. Damit gehört der Verteidigungsetat
wieder, wie schon seit Jahren, trotz aller kleinen
Schwankungen zu den stabilen Haushalten. Dafür danke
ich insbesondere den Ministern Steinbrück und Jung;
denn das ist in dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit.
Auch vor dem Hintergrund der Schilderungen der Kolleginnen und Kollegen wird deutlich, dass das Geld dringend benötigt wird, damit die Soldaten, die im Einsatz
sind, vernünftig ausgestattet werden können.
Selbstverständlich leisten aber auch wir durch Kürzungen bei den sächlichen Verwaltungsaufgaben einen
Konsolidierungsbeitrag für den Gesamthaushalt. Das ist
auch gut so. Denn nur solide Staatsfinanzen garantieren
einen starken Staat.
Ich begrüße auch den Beschluss des 39. Finanzplans
durch das Bundeskabinett, da bis zum Jahr 2009 der Verteidigungshaushalt jährlich um 300 Millionen Euro
anwachsen soll. Das erlaubt eine solide und reelle Finanzierung unserer Bundeswehr entsprechend den Verteidigungspolitischen Richtlinien. Gleichzeitig gewährleistet
die Erhöhung des verfügbaren Finanzvolumens ab 2007
auch notwendige größere Beschaffungsvorhaben, die wir
alle kennen, ob es nun die Fregatte 125, das U-Boot 212,
der Schützenpanzer Puma oder der GTK Boxer sind.
Vielleicht sollte man in diesem Rahmen darüber diskutieren, ob die Priorisierung des EGV auf das Jahr 2014
sinnvoll ist oder ob der EGV nicht deutlich eher gebraucht werden könnte.
({0})
Der positive Ansatz des 39. Finanzplans darf nicht
durch die vorgesehene Mehrwertsteuererhöhung von 16
auf 19 Prozent, die auch auf die Bundeswehr zukommt,
zurückgenommen werden. Deshalb wird man mit den
Haushältern und Finanzpolitikern der großen Koalition
über die 300 Millionen Euro, mit denen der Verteidigungsetat dadurch belastet wird, noch diskutieren und
nach Lösungen suchen müssen. Ziel muss es sein, der
Bundeswehr einen ihren Aufträgen angemessenen Etat
zur Verfügung zu stellen. Hier stehen wir alle im Wort.
Lassen Sie mich einige Worte zur Struktur des
Haushaltes 2006 und dessen zukünftiger Entwicklung
sagen. Für Personal sind im Entwurf des Haushaltes
rund 11,8 Milliarden Euro veranschlagt. Mit 49,3 Prozent sinkt der Anteil der Personalkosten das erste Mal
seit der Wende auf unter 50 Prozent. Der Kollege
Schäfer von der PDS hat gefordert, dass wir laufend abrüsten. Wir haben, seit der real existierende Sozialismus
endlich untergegangen ist und mit ihm Ihr Verein, bei
der Zahl der Soldaten eine Einsparung und Abrüstung
erreicht, die ihresgleichen sucht. Dazu haben Sie durch
den planwirtschaftlichen Ruin dieses Staates beigetragen.
({1})
- Getroffene Hunde bellen. So ist das nun einmal. Abgesehen davon sind Sie Wessi, der in der DKP war.
Das Verteidigungsministerium hat in den letzten
15 Jahren deutlich mehr Personal abgebaut, als der Bundesfinanzminister das für die ganze Bundesverwaltung
vorgegeben hat. Ein Großteil der Einsparung insgesamt
ist also auf die Einsparungen bei der Bundeswehr zurückzuführen. Das muss auch den Haushältern der anderen Bereiche gesagt werden, wenn dort über Einsparungen gesprochen wird. Die Bundeswehr hat 85 Prozent
der gesamten Einsparungen beim Personal des Bundes
erbracht. Das muss man einmal zur Kenntnis nehmen.
Gleichzeitig muss man noch etwas anderes zur
Kenntnis nehmen: Obwohl der Personalumfang nahezu
halbiert wurde, sind die Personalkosten fast gleich geblieben. Das zeigt, wie schwierig Personalkosten beim
Bund generell und bei der Bundeswehr einzuschätzen
sind und mit wie viel sie zu Buche schlagen.
In den nächsten Jahren wird die Bewerbungslage
deutlich schwieriger. Die Zahl der jungen Männer und
Frauen, die zur Verfügung stehen, sinkt dramatisch. Die
Bundeswehr muss als Arbeitgeber daher attraktiver werden. Die Bundesminister Scharping und Struck haben
viele Einzelmaßnahmen im Rahmen des Attraktivitätsprogramms gestartet. Das werden wir mit Minister Jung
fortsetzen.
In guter und vertrauensvoller Zusammenarbeit mit
dem Bundeswehrverband und seinem Vorsitzenden
Oberst Gertz haben wir nicht nur in den letzten Jahren,
sondern auch in diesem Jahr wichtige Planstellenverbesserungen durchgesetzt.
({2})
Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle allen, die
bei der unverzichtbaren Nachwuchsgewinnung mitwirken. Unsere Soldatinnen und Soldaten sind gemeinsam
mit unseren zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
unser wichtigstes Kapital.
Für Materialerhaltung sind 1,9 Milliarden Euro veranschlagt; das sind 7,9 Prozent des Etats. Für die sonstigen Betriebsausgaben wie Verpflegung, Unterhalt von
Liegenschaften oder Kraftstoffe stehen 3,5 Milliarden
Euro im Entwurf; das sind 14,8 Prozent des Etats. Zusammen kommt man auf 72 Prozent des gesamten Verteidigungsetats für Personal- und Betriebsausgaben. Das
ist ein erschreckend hoher Anteil. Hier wird sich noch
einiges bewegen müssen. Das kann man mit aller Deutlichkeit feststellen. Ansonsten werden wir die angestrebte Investitionsquote nämlich nicht erreichen.
Die Betriebsausgaben sollen unter anderem durch
eine stärkere Kostensenkung in der Materialerhaltung,
zum Beispiel über weitere Kooperationen mit der Wirtschaft, und durch eine weitere Konsolidierung des Personalhaushalts - insbesondere beim Zivilpersonal reduziert werden. Der Anteil der Personal- und Betriebsausgaben wird bis 2009 auf 68 Prozent sinken, wobei der Anteil der Personalkosten dann nur noch 46 Prozent dieses Etats ausmachen soll. Das ist auch dringend
notwendig.
Durch Betreiberlösungen, die so genannten öffentlich-privaten Partnerschaften, lassen sich einige Kostensenkungen bewerkstelligen. Die Kooperationen mit der
Wirtschaft gewinnen bei uns an Gewicht. Seit der erstmaligen Veranschlagung im Jahre 2003 ist dieser Ausgabenbereich um mehr als das Zehnfache auf über
650 Millionen Euro angewachsen. Eines muss man bei
diesem Bereich allerdings auch sagen: Man muss hier
zur Vorsicht mahnen. Nicht jede Lösung, durch die Leistungen aus Kostengründen aus der Bundeswehr herausverlagert werden, ist unbedingt besser. Die Probephasen
und den späteren Betrieb dieser Kooperationslösungen
- wie zum Beispiel die BwFuhrpark-Service GmbH, die
HIL, die LH Bundeswehr Bekleidungsgesellschaft
GmbH und andere - müssen wir kritisch und konstruktiv
begleiten. Wir wollen das, wir wollen aber auch, dass es
funktioniert, und es muss für die Bundeswehr die bessere Lösung sein. Das ist nicht immer die preiswertere
Lösung.
({3})
Wirtschaftlichkeit kann nicht das einzige Kriterium sein.
Die Effizienz muss auch stimmen. Gleichzeitig darf man
aber auch nie vergessen, den innovativen und flexiblen
Mittelstand zu beteiligen. Das gerät hier manchmal unter
die Räder. Gerade als SPD-Fraktion werden wir deutlich
darauf schauen, dass sich das ändert.
Die Bundeswehr muss sich auf ihre Kernaufgaben
konzentrieren können. Das ist wichtig. Die Privatwirtschaft soll Aufgaben erfüllen, die sie besser und preiswerter leisten kann. Das geht aber eben auch nicht immer. Schauen Sie sich zum Beispiel das Marinearsenal
an. Dort haben wir gesehen, dass das so nicht funktioniert.
Ein Anheben der verteidigungsinvestiven Ausgaben
auf 30 Prozent kann bei einem gegebenen Plafond nur
durch eine Senkung der Betriebsausgaben erfolgen. Dies
werden wir entsprechend umsetzen. Gleichzeitig wollen
wir die Investitionsausgaben insbesondere für die Bereiche Forschung, Entwicklung und Erprobung sowie für
die militärische Beschaffung steigern. Alle großen Vorhaben, die unter Rudolf Scharping und Peter Struck angestoßen worden sind, sind hier abgebildet. Dies gilt
auch für den gültigen Finanzplan bis zum Jahre 2009.
Das ist auch gut so. Schwierigkeiten gibt es für die Jahre
danach. Wir alle werden darauf schauen müssen, dass
wir nicht Dinge beschließen und versprechen, die wir
dann in den Jahren 2010 ff. nicht halten können.
Weiterhin darf nie in Vergessenheit geraten, dass der
Transformationsprozess, die Anpassung der Bundeswehr
an sich immer wieder ändernde Aufträge, bedeutet, dass
sich auch Beschaffungsaufträge ändern können. Das
heißt, Dinge, die wir noch vor wenigen Jahren beschlossen haben, können in zwei oder drei Jahren schon falsch
oder nicht mehr ganz so richtig sein. Es kann sein, dass
man geringere Stückzahlen braucht, weil sich die Lage
verändert hat. Wenn wir die Bundeswehr immer mit dem
aktuellen und besten Gerät ausrüsten wollen, dann müssen wir auch hier flexibel sein und prüfen, wie man mit
solchen Verträgen umgeht. Man sollte also auch in
Deutschland im Bereich der Rüstungsbeschaffung innovative Wege gehen. Wir können uns ja einmal unsere
Nachbarländer anschauen. Vielleicht kann man von den
Partnern in der NATO ja das eine oder andere lernen.
({4})
Unsere Bundeswehr kann nur funktionieren, wenn unsere Soldatinnen und Soldaten optimal ausgerüstet sind.
Deswegen ist insbesondere die persönliche Ausstattung
der Soldaten wichtig.
({5})
Weiterhin haben wir die Zahl der Wehrübungsplätze
von 2 300 auf 2 400 erhöht. Insbesondere den Kollegen
Beck und Höfer sowie dem Verband der Reservisten der
Deutschen Bundeswehr muss man hierfür danken.
({6})
Ich begrüße insbesondere auch das klare Bekenntnis
zur Wehrpflicht, das unser Minister Jung hier heute abgegeben hat. Das ist richtig und gut. Die große Koalition
freut sich und steht dazu.
({7})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein kurzes Wort
zum Einsatz im Kongo sagen. Es ist hier heute ja schon
viel darüber gesprochen worden. Das, was innerhalb der
Koalition zu den Bedingungen, an die dieser Einsatz geknüpft wird, gesagt wird, muss eingehalten werden. Darüber werden wir in der Koalition kritisch diskutieren
und dies kritisch begleiten. Wenn gesagt wird, dass der
Einsatz vier Monate dauert, dann gelten vier Monate.
Wenn gesagt wird, dass das Einsatzgebiet begrenzt ist,
dann gilt auch ein begrenztes Einsatzgebiet. Wenn gesagt wird, dass wir nach vier Monaten rausgehen, dann
gilt das. Ich persönlich glaube, dass man uns in der
nächsten Woche einen klaren Beschluss vorlegen sollte.
Dann wissen wir, worüber wir abstimmen. Einmal
Kongo, immer Kongo - das darf, soll und wird es mit
uns nicht geben.
Glück auf!
({8})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Jürgen Koppelin.
Verehrter Herr Kollege Kahrs, auch ich bin Berichterstatter für den Einzelplan 14 im Haushaltsausschuss.
Deswegen kann ich die Bemerkung, die Sie zum Etat gemacht haben, natürlich so nicht stehen lassen.
Es mag sein - Minister Jung und Minister Steinbrück
sind gelobt worden -, dass der Etat in seiner Höhe unverändert geblieben ist. Gleichzeitig muss man sich aber
anschauen, was aus diesem Etat neuerdings bezahlt werden muss. Dazu hätte ich schon gerne die Meinung des
Abgeordneten Kahrs gehört. Aufgrund der Zeit, die für
eine Kurzintervention zur Verfügung steht, nenne ich nur
ein Beispiel.
Ist es in Ordnung, aus dem Verteidigungsetat, dem
Einzelplan 14, den deutschen Zuschuss für die Lieferung
von U-Booten nach Israel zu bezahlen? Wäre es nicht
besser - wenn man das politisch so entscheidet, wie RotGrün es gemacht hat -, diesen Zuschuss aus dem
Einzelplan 60 zu bezahlen? Wieso muss der Bundesverteidigungsminister den Zuschuss für die Lieferung der
U-Boote nach Israel aus seinem Etat bezahlen, auch
wenn - ich sage es noch einmal - die politische Entscheidung, den Kauf der U-Boote für Israel zu unterstützen, schon unter Rot-Grün getroffen wurde?
Ich finde das jedenfalls nicht in Ordnung; denn das ist
ein Minus im Einzelplan 14. Vielleicht sollte die Koalition überlegen, den Vorstellungen der FDP zu folgen,
dies aus dem Einzelplan 60 zu bezahlen, damit der Etat
des Verteidigungsministers nicht angetastet wird. Wir jedenfalls werden einen Antrag stellen, diesen Zuschuss
für die Lieferung der U-Boote nicht aus dem Etat des
Einzelplans 14 zu leisten.
({0})
Herr Kollege, wollen Sie darauf antworten? - Bitte
sehr.
Selbstverständlich will ich antworten. - Herr Kollege
Koppelin, Sie wissen ja, dass ich Sie sehr schätze. Wir
arbeiten schließlich eng und vertrauensvoll zusammen.
({0})
Ich möchte Sie an dieser Stelle aber gerne daran erinnern, dass schon früher drei U-Boote nach Israel geliefert worden sind. Damals setzte sich die Regierungskoalition anders zusammen. Über die Finanzierung
schweigen wir uns an dieser Stelle lieber ganz aus. Wenn
man ehrlich ist, muss man sagen, dass wir dieses Mal
nur ein Drittel der Kosten für die Lieferung der U-Boote
übernehmen. Ich glaube, das war früher ganz anders.
Wenn man sich anschaut, in welchen Tranchen dies im
Verteidigungsetat stattfindet, und wenn man sich außerdem die Einnahmen und Ausgaben dieses Etats ansieht,
dann ist das - das wissen Sie genauso gut wie ich - vertretbar.
Die Zuschüsse sind zurzeit noch im Einzelplan 60
enthalten. Trotzdem werden sie zulasten des Einzelplans 14 gehen. Deswegen ist das, was Sie sagen, richtig. Aber dies ist auch in der Sache gut und richtig. Wir
alle wollen, dass Israel diese U-Boote erhält. Wir kennen
die Probleme Israels. In der Vergangenheit wurden entsprechende Lieferungen - diese drei U-Boote - ganz anders gehandhabt. Deswegen glaube ich, dass der Beschluss, den Rot-Grün gefasst hat und der inzwischen
von Schwarz-Rot exekutiert wird, in diesem Hause mit
großer Mehrheit getragen wird.
({1})
Nun erteile ich das Wort der Kollegin Susanne Jaffke
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestatten Sie mir zu Beginn meiner Ausführungen drei
persönliche Bemerkungen.
Erstens. Frau Kollegin Homburger, ich kann Sie beruhigen. Die Tickermeldung von 16.43 Uhr lautet:
Der zum Christentum übergetretene Afghane
Abdur Rahman hat Angaben der Regierung in Kabul zufolge sein Heimatland verlassen.
In der Tickermeldung etwa eine Stunde später heißt es,
dass er auf dem Weg nach Italien ist und dort politisches
Asyl erhält. - Dieses Problem scheint also als solches
kein Problem mehr zu sein.
({0})
Dazu möchte ich unbedingt nicht nur der Bundeskanzlerin, sondern auch dem Außenminister und allen demokratischen Kräften in diesem Hohen Hause danken,
({1})
die sich sehr dafür eingesetzt haben, dass diese Lösung
möglich wurde.
({2})
Gestatten Sie mir eine zweite persönliche Bemerkung. Der Minister ist auf die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr eingegangen und hat lobend erwähnt, dass dieser Teil des öffentlichen Dienstes Einsatz auch nach dem
Ende der offiziellen Dienstzeit zeige. Ich möchte als Abgeordnete aus Mecklenburg-Vorpommern an dieser
Stelle der Bundeswehr ganz besonders für ihren dortigen
Einsatz - vor allen Dingen auf Rügen - im Zusammenhang mit der Vogelgrippe danken. Das sage ich als
Haushälterin auch im Hinblick darauf, dass wir es schaffen, die „Generosität“ so weit zu treiben, dass das Bundesland die Kosten dafür nicht übernehmen muss.
Ich möchte drittens auch im Namen des Kollegen
Bartholomäus Kalb der Bundeswehr danken, die bei der
Schneekatastrophe im Bayerischen Wald so tapfer gekämpft hat. Wir alle haben noch die Bilder in Erinnerung
und genießen jetzt die drei Tage, an denen das Wetter
schön war, ganz besonders. Was die vielen kleinen
Flüsse im Bayerischen Wald angeht, die eventuell von
Hochwasser betroffen sein könnten, bleibt abzuwarten,
ob wir die Bundeswehr nicht noch einmal brauchen können.
({3})
Des Weiteren möchte ich auch den Soldatinnen und
Soldaten, die sich im Einsatz befinden, meinen Dank
aussprechen. Denn sie sorgen sich um Freiheit und Menschenwürde. Das ist oft ein schwieriger Dienst. Die derzeit circa 7 500 Soldaten im weltweiten Einsatz tragen
also nicht nur unser Verständnis von Demokratie und
Toleranz im Wertegefüge in andere Kulturkreise, sondern sie sind auch im besten Sinne des Wortes Botschafter für die Bundesrepublik Deutschland.
Mit dem Ansatz von circa 23,9 Milliarden Euro hat
der Entwurf zum Wehretat eine Verstetigung erfahren.
Darüber ist schon berichtet worden. Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass auch der
Wehretat einen kleinen Einsparbeitrag leistet. Denn trotz
der Verstetigung ist er mit einem Anteil von 9,1 Prozent
am Bundeshaushalt im Vergleich zum vergangenen Jahr,
als der Wehretat noch 9,4 Prozent des Gesamtetats betrug, etwas abgeschmolzen worden.
Im Zuge der Strukturanpassungen bleibt auch die
Transformation der Bundeswehr mit einer Zielstruktur
von 250 000 Soldatinnen und Soldaten sowie
75 000 zivilen Angestellten, Beamten und Arbeitern im
Jahr 2010 eine besondere Herausforderung. Es ist unschwer zu erkennen, dass in den nächsten Monaten die
Durchplanung der neuen Strukturen im Mittelpunkt stehen muss. Die Regierungskoalition wird also zum Ende
dieses Jahres die Personalbedarfsermittlungen zur Zielstellenstruktur vor allem bei den Zivilbeschäftigten beim
Ministerium abfragen.
Kommen wir zu den großen Ausgabenblöcken. Es ist
bereits angesprochen worden, dass die Personalausgaben
mit 11,8 Milliarden Euro erstmalig unter 50 Prozent des
Wehretats gesunken sind. Des Weiteren sind 6,02 Milliarden Euro für die verteidigungsinvestiven Ausgaben
und 5,43 Milliarden Euro für allgemeine Betriebsausgaben und Materialerhaltung veranschlagt. 650 Millionen
Euro sind für so genannte Betreiberlösungen veranschlagt.
Zu den Betreiberlösungen möchte ich einiges ausführen. In diesem Parlament ist lange und heftig über die
Bereiche GEBB, HIL oder Herkules gestritten worden.
Nach dem Vorliegen erster Prüfberichte des Bundesrechnungshofes und den persönlichen Erfahrungen vieler
Kollegen in diesem Haus denke ich, dass der beschrittene Weg der Weiterentwicklung der Betreiberlösungen
begrüßt werden kann.
Erfahrungen, die im Bereich Liegenschaftsmanagement gesammelt wurden, sollen mit den Erfahrungen der
BImA verglichen werden und zu Optimierungen in der
Liegenschaftsverwaltung führen. Auch die BwFuhrparkservice GmbH und die Bekleidungsgesellschaft werden
strategisch weiterentwickelt und mit zusätzlichen Aufgaben betraut. Dass sie durch die Organisationsumstrukturierung im Ministerium mit der neu zu schaffenden
Abteilung M besser kontrolliert werden sollen, ist ebenfalls zu begrüßen.
Die weitere Einführung der Heeresinstandsetzungslogistik steht noch unter Parlamentskontrolle.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gleich. - Hier sehe ich unsere besondere Verantwortung, durch Transparenz in der Vergabe vor allen Dingen
dem Mittelstand weiterhin die Möglichkeit zu geben, an
Aufträgen zu partizipieren und die Kosten insgesamt zu
senken, damit Spielräume für notwendige Investitionsmaßnahmen geschaffen werden können.
({0})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bonde von den Grünen?
Ja.
Frau Kollegin Jaffke, darf ich Ihre Einlassungen so
verstehen, dass Ihre Fraktion den Antrag auf Streichung
der Haushaltsmittel für die GEBB und auf Beendigung
dieses Projektes - diesen hat Ihr Vorgänger als Berichterstatter, Herr Austermann, jahrelang eingebracht - ab
sofort nicht mehr stellen wird?
Herr Kollege Bonde, der Antrag wird so mit Sicherheit nicht wieder gestellt. Sie wissen genau, dass wir uns
bei dem einen oder anderen Verfahren in der Diskontinuität befinden. Deshalb ist es nach einer Überprüfung
und den Bemerkungen des Bundesrechnungshofes vernünftig, dass wir das Verteidigungsministerium bei der
Weiterentwicklung und der notwendigen Umstrukturierung unterstützen werden. Das ist in der Koalition abgestimmt. Sie sind eingeladen, diesem Wege nachhaltig zu
folgen.
({0})
Frau Kollegin, Sie sind zwar schon am Ende Ihrer
Rede. Aber gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des
Kollegen Koppelin?
Wir könnten noch viel reden.
Frau Kollegin, gestatten Sie?
Ja.
Bitte, Herr Koppelin.
Kollegin Jaffke, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die FDP den Antrag auf Streichung der Mittel
für die GEBB - dem haben Sie im letzten Jahr zugestimmt - stellen wird?
Wir werden über diesen Antrag inhaltlich genauso beraten und hoffen, dass Sie sich den neuen Gegebenheiten
anpassen. Dann können wir im Ausschuss in der Sache
trefflich diskutieren.
({0})
Wenn ich noch ein letztes Wort sagen darf? - Der
Wehretat ist ein schwieriger Etat. Große Herausforderungen werden nicht nur im Jahr 2006, sondern vor allen
Dingen auch im Jahr 2007 zu bewältigen sein. Wenn wir
es aber gemeinsam beherzt anpacken, können wir es
schaffen.
({1})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Gerd Höfer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kürze der Zeit erlaubt es mir nur, sporadisch
auf einige Ausführungen zu antworten. Ich möchte aber
versuchen, es so darzulegen, dass sich jeder wiederfindet.
Eine der Hauptschwierigkeiten bei der Aufstellung eines Verteidigungsetats - es heißt nicht „Wehretat“; darauf sollten wir uns einigen - ist, dass man über Szenarien unabhängig voneinander nachdenken muss. Der alte
Kalte Krieg und bestimmte schreckliche Dinge, die
schon passiert sind, vernebeln unsere Gedanken daran,
was wir eigentlich beschaffen sollten und was nicht. Ich
weise Sie darauf hin, dass - teilweise aufgrund von Erfindungen wie Dual-Use-Produkten - eine bedrohliche
Entwicklung entstehen kann, der man begegnen muss,
bevor man in die Nähe der Bedrohung kommt. Das
macht die Ausgestaltung der Ausrüstung der Bundeswehr sehr schwierig und führt dazu, dass manche Dinge
doppelt genutzt werden, sehr verehrte Frau Hoff. Die
Entwicklungshilfeministerin - sie ist leider nicht mehr
anwesend - wird froh sein, wenn statt 60 beispielsweise
80 A400M zur Verfügung stehen; denn ich vermute, dass
die Masse dieser Transportflugzeuge genutzt wird, um
humanitäre Hilfe zu leisten, und dass weniger militärisches Personal in diesen Flugzeugen transportiert wird
als ziviles Hilfspersonal. So wird es wahrscheinlich
kommen.
Der Kalte Krieg hätte zwar auf deutschem Boden
stattgefunden, wenn er sich erhitzt hätte. Aber man hätte
keine strategische Verlegefähigkeit zur See und in der
Luft gebraucht, genauso wenig wie manch andere Dinge.
Es ist gut, dass die Geschichte darüber hinweggegangen
ist; denn wenn wir uns anschauen würden, welches
Schutzpotenzial das alte Material bis 1989/90 hatte, kämen wir heute zu ganz anderen Erkenntnissen. Herr
Bonde, insofern handelt es sich nicht um eine Industriepolitik, die nur dann etwas tut und brav springt, wenn die
Industrie ein Stöckchen hochhält; so ist es tatsächlich
nicht. Wenn der Minister ein Doppelminister sein sollte,
dann hat er zumindest seine Verdienste um den Erhalt
bestimmter Kernfähigkeiten in der Bundesrepublik
Deutschland. Das ist auch gut so.
Herr Schäfer, man sollte immer das Ganze vor seinen
Teilen sehen. Ich kann jedenfalls nicht erkennen, dass
der Haushalt des Verteidigungsministers unverhältnismäßig hoch ist und den Gesamthaushalt übermäßig belastet. Das Spiel, das ich immer wieder von kleineren
Gruppen höre, ist natürlich beliebt - es ist immer das
Gleiche -: Schafft doch die ganze Bundeswehr ab, dann
wird die Rente schlagartig höher! - Mit so etwas kann
man nur bedingt Punkte sammeln: vielleicht für zwei,
drei Minuten. Sie sagen, in Ihrer Politik sei Deeskalation
das Ziel. Dann wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie
mir einmal die Mittel nennen würden, mit denen Sie eskalieren wollen, je nachdem, was gerade so passiert ist.
Seltsam finde ich die Diskussion über die Führungsrolle bei Einsätzen, sei es bei der NATO, bei Einsätzen
der Europäischen Union oder bei rein deutschen. Wenn
jemand die Führung übernehmen soll, dann ist das doch
nichts Schlimmes; dann kann er das auch. Die Sache mit
den Hüten ist schwer zu vermitteln, aber eigentlich ganz
einfach: Wenn ein deutscher General sich einen europäischen Hut aufsetzt, dann ist er eben kein deutscher General mehr, sondern er führt eine europäische Eingreiftruppe. Genauso hat ein deutscher General, der die
Kompetenz hat und in der NATO an führender Stelle
sitzt, den NATO-Hut auf, wodurch er ein NATO-General
ist, auch wenn er nach wie vor von der Bundesrepublik
Deutschland bezahlt wird. Nach der Führungsrolle und
nach der Verantwortung zu fragen, ist also Vernebelungstaktik. Wer Verantwortung übernehmen will, darf
sich auch vor Führung nicht drücken! Von daher ist diese
Diskussion unnütz.
({0})
Lassen Sie mich einen etwas dezidierteren Blick in
den Haushalt werfen. Art. 87 a des Grundgesetzes
schreibt vor, dass der Haushaltsplan die zahlenmäßige
Stärke der Bundeswehr und die Grundzüge ihrer Organisation erkennen lassen muss. Wer sich in Kapitel 1403
auskennt, sieht, wie die Bundeswehr gegliedert ist. Dass
die SKB die passende Stelle noch nicht gefunden hat,
liegt daran, dass die neue Gliederung der Bundeswehr
sich erst einspielen muss; diese Abbildung wird noch erfolgen.
Was mich nachdenklich stimmt - da möchte ich den
Kollegen Kahrs nachdrücklich unterstützen -, ist, wer die
Last der Einsätze trägt. Das ist natürlich überwiegend
das Heer; wobei die Verdienste von Luftwaffe, Marine,
SKB und Sanitätsdienst in keiner Weise geschmälert werden sollen. Es geht mir um etwas anderes: In Kapitel 1403
sind allein 30 012 A-7-plus-Zulage-Stellen - das sind die
Oberfeldwebel - ausgewiesen, 29 930 A-6-Stellen - das
sind die Stabsunteroffiziere -, 20 742 A-8-plus-ZulageStellen - die Hauptfeldwebel - und 19 188 A-4-plus-Zulage-Stellen - das sind die Hauptgefreiten. Die Last der
Einsätze tragen also die Soldatinnen und Soldaten des
mittleren Dienstes, den wir in einigen Bereichen der
Bundesrepublik Deutschland überhaupt nicht mehr haben.
Der Hinweis des Kollegen Kahrs auf die Nachwuchslage hat etwas mit der Attraktivität der Bezahlung zu
tun. Daran, dass andere sicherheitsrelevante Berufe Eingangsbesoldungen haben, die bei A 5 oder A 7 beginnen,
sehen wir, welche Schwierigkeiten auf uns zukommen.
Um die Attraktivität zu steigern, werden wir im mittleren Dienst, möglicherweise abgestuft, sicherlich etwas
tun müssen, damit wir die Leistungsträger, die die
Hauptlast der Einsätze tragen, also vom Hauptgefreiten
bis zum Hauptfeldwebel, in ausreichender Zahl und hoher Qualität bekommen können. Dies ist eine Zukunftsaufgabe, die sich sicherlich auch der Bundeswehrverband auf die Fahnen geschrieben hat. Wir sollten
möglichst zügig daran arbeiten.
({1})
Da der Name des Kollege Beck erwähnt worden ist,
lassen Sie mich abschließend etwas zu den Reservisten
sagen. Zunächst danke ich allen Kolleginnen und Kollegen, die am 14. März 2006 am Parlamentarischen Abend
im Haus der Deutschen Wirtschaft teilgenommen haben.
Dem Haus der Deutschen Wirtschaft vielen Dank für die
Gastfreundschaft und für die hervorragende Organisation dieses Abends!
Die Reservisten stellen bis zu 12 Prozent der an den
Auslandseinsätzen der Bundeswehr Beteiligten. Der
Kollege Beck und ich haben uns bei einer Reise in das
Kosovo ausschließlich mit der Frage der Reservisten befasst und sie dort besucht. Ohne Reservisten geht bei der
Bundeswehr gar nichts mehr, allerdings geht bei den Reservisten ohne die Bundeswehr auch nichts mehr.
({2})
Das ist so. Wir müssen der Transformation der Bundeswehr folgen. Wir haben schließlich den Ehrgeiz, die
Reservisten so auszubilden, dass sie in der Bundeswehr
jederzeit einsatzbereit sind und dass sie die Erfahrungen,
die sie bei der Bundeswehr gesammelt haben, nicht nur
bei uns einbringen, sondern auch bei der Industrie, die
daraus möglicherweise Vorteile zieht.
Ich bitte Sie herzlich, aufmerksam zu beobachten,
wenn der Reservistenverband im Verteidigungsausschuss seinen Rechenschaftsbericht wird abgeben müssen. Im Kap. 1403 auf Seite 30 steht klar, dass wir nicht
überflüssig sind:
Dem „Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr e. V.“ ist die Aufgabe übertragen worden,
aus der Bundeswehr ausgeschiedene Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften nach Richtlinien des
Bundesministeriums der Verteidigung im Rahmen
des Wehrrechts zu betreuen und fortzubilden.
Das wollen wir gerne tun. Dazu brauchen wir Ihre parlamentarische Unterstützung; denn von der Qualität der
dort organisierten Reservistinnen und Reservisten hängt
auch ab, wie sich die Bundeswehr demnächst in der Fläche präsentiert. Wir haben mit über 2 000 Reservistenkameradschaften eine ziemlich große Verbreitung in der
Bundesrepublik Deutschland. Den Bürgerinnen und Bürgern ist es egal, ob jemand, der in Bundeswehruniform
erscheint, ein Reservist oder ein Aktiver ist. Dieses
Potenzial weiterhin aufrecht zu erhalten und qualifiziert
zu begleiten, darum darf ich Sie auch im Namen des
Kollegen Beck, des Präsidenten des Verbandes, hier und
heute herzlich bitten.
Damit beende ich meine Rede.
({3})
Weitere Wortmeldungen zu dem Geschäftsbereich
Verteidigung liegen nicht vor.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung, Einzelplan 23.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte nicht folgen wollen, ihre Gespräche außerhalb des
Saales zu führen.
Ich erteile für die Bundesregierung der Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland wird in der Entwicklungszusammenarbeit
seine internationale Rolle und Verantwortung auf der
Grundlage folgender Prinzipien wahrnehmen: Globalisierung gerecht gestalten, Armut bekämpfen - das nach
wie vor überwölbende Ziel unserer Entwicklungszusammenarbeit ist die Orientierung auf die Armutsbekämpfung -, Frieden sichern oder stiften und Umwelt und natürliche Lebensgrundlagen bewahren. Ich möchte mich
an dieser Stelle ausdrücklich bei der Bundeskanzlerin
bedanken, die heute Morgen in ihrer Rede sehr deutlich
noch einmal den Stufenplan zur Steigerung der Mittel
für die Entwicklungszusammenarbeit betont hat.
Deutschland steht zu seinem Wort, jetzt und in Zukunft.
Vor fünf Jahren haben wir eine Zielmarke gesetzt.
2006 sollte eine Quote an Entwicklungszusammenarbeit
- ODA - von 0,33 Prozent erreicht werden. Dieses Versprechen lösen wir ein, übrigens bereits mit dem Jahr
2005. Die OECD wird in wenigen Tagen bekannt geben,
dass wir im Jahr 2005 eine ODA-Quote von 0,35 Prozent erreicht haben. Das ist, so finde ich, ein großer Erfolg und das sollten wir sehr deutlich machen.
Unsere Linie für die nächsten Schritte ist klar. Sie umfasst drei Elemente. Dazu zählen - erstens - mehr Haushaltsmittel. Ich will an dieser Stelle sagen: Unser Ressort
ist das Ressort, das für den Haushalt 2006 zusätzliche
Mittel in Höhe von 300 Millionen Euro erhalten hat. Ich
freue mich darüber; denn das ist eine Steigerung, die in
den letzten Jahren nicht zustande gekommen ist. Ich
freue mich, dass wir das erreicht haben. Wir brauchen
aber noch weitere Mittel. Das will ich auch ausdrücklich
sagen.
({0})
Wenn wir erreichen wollen, dass die ODA-Quote bis
2010 bei 0,51 Prozent und bis 2015 bei 0,7 Prozent liegt,
dann müssen wir nicht nur die entsprechenden Haushaltsmittel zur Verfügung stellen, sondern auch dafür
sorgen, dass - zweitens - weitere Schritte zur Entschuldung der Entwicklungsländer ergriffen und - drittens innovative Finanzierungsinstrumente gefunden werden.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich dem französischen Staatspräsidenten Chirac für seine antreibende
Rolle bei der Entwicklung von innovativen Finanzierungsinstrumenten danken. Eine Reihe von Ländern
schreitet voran: Frankreich, aber auch Brasilien und
Chile haben erklärt, dass sie in nächster Zeit eine Entwicklungsabgabe auf Flugtickets einführen werden. Wir
als Bundesregierung haben über die Frage eines bestimmten Instruments zur innovativen Finanzierung
noch nicht entschieden. Sie können aber ganz sicher
sein, dass wir darüber so rechtzeitig entscheiden, dass
wir die Zielmarke erreichen werden.
({1})
Das können wir anhand der jetzt erreichten 0,35 Prozent
belegen.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal sagen: Viele
Menschen in Deutschland, die helfen möchten, wollen
- wir haben das immer wieder gesehen -, dass der Skandal, dass an jedem Tag 30 000 Kinder an vermeidbaren Krankheiten sterben, ein Ende hat. Lassen Sie uns
alles dafür tun! Lassen Sie uns dazu unsere Beiträge
bündeln!
({2})
Ich möchte auf etwas zu sprechen kommen, was mit
der globalen Armutsbekämpfung und mit gerechter Globalisierung zusammenhängt: Es geht um die Energiepolitik. Am 3. April 2006 findet der Energiegipfel statt.
Gerade für Entwicklungsländer ist die effiziente Nutzung von Energie, auch von erneuerbarer Energie, besonders wichtig. Dieser Bereich ist zu einem Markenzeichen deutscher Entwicklungszusammenarbeit geworden.
Wir kooperieren auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien mit 35 Ländern in Afrika, Lateinamerika, Asien,
Südosteuropa und im Nahen Osten. Wir kooperieren auf
dem Gebiet der Energieeffizienz mit 28 Ländern.
Die Gründe liegen auf der Hand: Einheimische Quellen sind erreichbar und verlässlich; die Energie, die dort
produziert wird, hat erschwingliche Preise. Zugleich
sind diese Quellen ökologisch nachhaltig, weil durch
ihre Nutzung Klimarisiken abgewendet werden. Ihre
Nutzung bedeutet Sicherheit, weil sie die Abhängigkeit
vom Öl reduziert. Im Sinne einer friedlichen Lösung ist
dieser Weg sinnvoll.
({3})
Deshalb werden wir diesen Bereich besonders stärken.
({4})
Ich bin der Debatte den ganzen Tag gefolgt.
({5})
Ich hoffe, dass andere der Debatte über das Thema Entwicklungshilfe genauso zuhören. Lassen Sie mich daher
etwas zum Kongo sagen. Ich wende mich hier gerade
auch an die Linke.
Ich war im Jahr 2004 in diesem Land. Unsere Entwicklungsmitarbeiter sind dort seit 2003 tätig. Sie leisten
wirklich hervorragende Arbeit. Die Menschen dort, mit
denen ich gesprochen habe - damit meine ich jetzt nicht
die Politiker -, haben gesagt: Wir wollen mit unserer
Stimme dazu beitragen, dass der Gewalt ein Ende gesetzt wird.
({6})
Deshalb betone ich an dieser Stelle: Wenn wir die
Chance haben, einen Beitrag zur Stabilisierung dieses
Wahlprozesses und dieses Übergangsprozesses zu leisten, dann müssen wir sie nutzen, und zwar gerade dann,
wenn man sich als links versteht.
({7})
4 Millionen Menschen in dieser Region sind in den
90er-Jahren Opfer interner Auseinandersetzungen geworden. Dennoch fragen manche: Liegt es denn im deutschen Interesse, einzugreifen? Die Welt hat schwere
Fehler gemacht, als sie sich dem Völkermord in Ruanda
damals nicht entgegengestellt hat. Ruanda wird nur dann
auf Dauer sicher sein, wenn es einen stabilen Kongo
gibt. Wir sind gemeinsam überzeugt, dass wir alles tun
müssen, um dem Blutvergießen ein Ende zu setzen. Das
ist eine gemeinsame Verpflichtung und sie ist - das will
ich ausdrücklich sagen - nicht von der Hautfarbe abhängig.
({8})
Manche reden darüber wie der Blinde von der Farbe.
Man könnte besser darüber reden, wenn man einmal dort
gewesen wäre. Mittlerweile - das hat uns der UN-Untergeneralsekretär Egeland gestern gesagt - sind 1,6 Millionen Flüchtlinge ins Land zurückgekehrt. Wollen wir
nicht dazu beitragen, dass sie eine eigene Zukunftschance haben?
Heute ist gesagt worden - ich glaube, es war Herr
Schäfer -, das Militär sei dabei doch nicht alles. Was
machen wir in der Entwicklungszusammenarbeit? Was
machen wir schon bisher, was wir verstärkt voranbringen wollen? Wir tragen zur Wiedereingliederung von
Kämpfern in das zivile Leben bei. Wir helfen bei der Bekämpfung von Aids. Wir helfen Kindersoldaten zurück
in ein Leben ohne Gewalt. Wir unterstützen die Versorgung mit sauberem Trinkwasser. Wir helfen beim Schutz
und Management der natürlichen Ressourcen. Herr
Fischer, wer das einmal vor Ort erlebt hat, der dankt den
Entwicklungsmitarbeitern, die ihre Arbeit dort unter Bedingungen leisten, die - das will ich an dieser Stelle ausdrücklich sagen - wirklich schwierig sind.
({9})
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Die UN hat
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in dieser Region
eines der Probleme die Rohstoffextraktion und die
Ausbeutung im Interesse bestimmter Firmen und vielleicht auch mancher Länder ist. Es gibt den Friedensprozess in der Region der Großen Seen. Ein Teil dieses Friedensprozesses soll dabei sein - das soll beschlossen
werden -, eine Kommission einzurichten, die dazu beiträgt, dass es eine Kontrolle der Rohstoffnutzung und
eine Zertifizierung der Rohstoffe beim Export gibt.
Wir als Entwicklungsministerium werden diesen regionalen Ansatz unterstützen und dazu beitragen, dass
der Ausbeutung von Rohstoffen und Menschen ein Ende
gesetzt wird und die Mittel den Menschen in diesem
Land zugute kommen. Das ist ein Prozess, der alles zusammen umfasst. Man kann nicht einen Punkt herausnehmen.
Ich appelliere an Sie, gerade unter dem Gesichtspunkt
„links“, sich klar zu machen: Es gibt nichts Wichtigeres,
als Prozesse zu fördern, die dazu beitragen, Demokratie
und Menschenrechte voranzubringen. Bitte bedenken
Sie, dass unter diesen Gesichtspunkten niemand sagen
kann, da müsse man solche Einsätze ablehnen!
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
noch ein Wort zu Abdul Rahman sagen. Natürlich freuen
wir alle uns darüber, dass er freigelassen worden ist; wir
alle haben uns ja dafür engagiert. Ich sage an dieser
Stelle aber auch: Wir werden weiter alle Anstrengungen
dazu unternehmen, dass für die Menschen in Afghanistan Religionsfreiheit herrscht und die Menschenrechte
vorangebracht werden. Glaube und Religionszugehörigkeit dürfen kein Grund für Verfolgung, Verhaftung und
Bestrafung sein, nicht in Afghanistan und nirgendwo auf
der Welt.
({11})
Dafür müssen gerade wir uns, die wir in Afghanistan
beim Wiederaufbau helfen, engagieren.
Religionsfreiheit darf auch kein Gnadenakt sein.
Afghanistan hat die UN-Menschenrechtskonvention unterschrieben. Darin ist die Religionsfreiheit garantiert für alle.
({12})
Ausdrücklich will ich sagen, dass jemand, der zum
Christentum übergewechselt ist, deshalb nicht gezwungen sein darf, sein Land zu verlassen.
({13})
Ich weiß, wie es ist. Aber es gibt einfach Werte, für die
wir uns engagieren müssen, gerade wenn wir in diesem
Bereich tätig sind.
Lassen Sie mich zum Schluss ein Grundproblem ansprechen, das dabei wieder deutlich geworden ist. Fast
alle Verfassungen der Länder mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung - manche Journalisten haben das erst
jetzt festgestellt - legen den Islam als Staatsreligion
fest und weisen in der einen oder anderen Form darauf
hin, dass das islamische Recht als eine - ich zitiere Quelle, als eine Hauptquelle oder als relevante Richtschnur für die Gesetzgebung genutzt wird. Da die Länder in diesen Verfassungen aber gleichzeitig die völkerrechtlichen Verpflichtungen in Bezug auf die
Menschenrechte verankert haben, gibt es einen Gestaltungsspielraum, der in den islamischen Ländern in sehr
unterschiedlicher Art genutzt wird: bei manchen liberal
und bei anderen so, dass es fast in die extremistische
Position geht.
Frau Ministerin, ich darf Sie darauf hinweisen, dass
Ihre Redezeit abgelaufen ist; wenn Sie länger reden, geht
das zulasten Ihrer Kollegen.
Ich bin sozusagen in einer Sekunde fertig. Darf ich
nur diesen Punkt noch anschließen;
({0})
das ist ja doch eine sehr grundsätzliche Sache. - Danke.
Wir wollen durch unsere Entwicklungszusammenarbeit dazu beitragen, dass die innerislamischen und innergesellschaftlichen Prozesse der Verwirklichung der
Menschenrechte, gerade der Frauenrechte, vorankommen und dass sie in diese Richtung verlaufen. Dabei
müssen diejenigen unterstützt werden, die die Modernisierungsprozesse vorantreiben. Gleichzeitig gilt unsere
Unterstützung aber auch denjenigen, die von Menschenrechtsverletzungen betroffen sind oder sein könnten.
Zum Schluss sage ich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Gerade was die Frauen in Afghanistan betrifft,
habe ich nach vielen Gesprächen große Sorgen. Deshalb
an dieser Stelle die Aufforderung an die afghanische Regierung, dafür zu sorgen, dass diejenigen, die für die
Frauenrechte eintreten, nicht diskriminiert, benachteiligt
oder gar mit Gewalt überzogen werden. Das ist die
afghanische Regierung ihrem Volk, aber auch der internationalen Gemeinschaft schuldig.
Ich danke Ihnen.
({1})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege
Hellmut Königshaus.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Ministerin, es war ja erfrischend, dass Sie auch über politische Inhalte, über den Kongo, gesprochen haben. Wir
sprechen hier aber eigentlich über Ihren Haushalt und
Ihre Ziele. Sie haben zwar einige allgemeine Ziele genannt und die Zielmarke ist ein Erfolg für Sie; das muss
man anerkennen. Aber trotz allem muss man eines festhalten: Dieser Haushaltsentwurf schreibt ein Grundübel
früherer Haushaltspläne fort. Es geht in großen Teilen
überhaupt nicht um eine Haushaltsplanung. Der Entwurf
beschränkt sich weithin wieder darauf, eine Globalzuweisung an Dritte vorzunehmen, oftmals an internationale Organisationen, wo wir die Mittelverwendung
kaum steuern und erst recht nicht kontrollieren können.
Ich weiß, dass das nicht allein Ihre Schuld ist; aber
Sie setzen dieses Handeln fort. Nun, da die Koalition berechtigtermaßen die Haushaltsansätze in den kommenden Jahren unseren internationalen Verpflichtungen anpassen will, ist es wohl an der Zeit, dass wir uns mit
dieser Frage noch einmal befassen.
Die so genannte ODA-Quote scheint in der politischen Diskussion zum Selbstzweck zu werden. Aber es
geht in erster Linie, liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Frau Ministerin, darum, dass wir nicht einfach
mehr ausgeben, sondern mehr bewirken und besser helfen, darum, dass die Mittel dort ankommen, wo sie benötigt werden, und dass sie für die Zwecke verwendet werden, für die sie gedacht sind. Die vorrangige Frage nach
inhaltlichen und regionalen Prioritäten wird von Ihnen aber überhaupt nicht beantwortet und wurde auch
eben nicht angesprochen. Wir hören immer nur, dass
Deutschland bisher insgesamt zu wenig investiere; aber
wir haben nicht gehört, welche Ziele wir dabei eigentlich
strategisch verfolgen wollen.
Es ist im Übrigen auch zu bezweifeln, dass wir hierfür
das richtige Instrumentarium bereithalten. Es gibt eine
Zersplitterung der politischen Zuständigkeiten; das gilt
im Übrigen auch für Ihr Budget. Ein Drittel geht direkt
oder indirekt an internationale Institutionen, ein Drittel
an die EU und in das letzte Drittel regieren andere
Ministerien mit hinein. Es sind eben, wenn man das zusammenfasst, Globalzuweisungen mit gewissen Ausnahmen.
Noch undurchsichtiger ist das Dickicht der
Durchführungsorganisationen. Was die OECD in ihrem Peer-Review über die deutsche Entwicklungszusammenarbeit geurteilt hat, war von Ihnen als ein großer
Erfolg angesehen worden. Sie hat Ihnen aber bescheinigt, dass gerade dieses Geflecht an Beziehungen in den
verschiedenen Durchführungsorganisationen die Empfängerländer überlaste. Es belastet aber nicht nur diese,
sondern auch die Durchführungsorganisationen selbst.
Ich will, weil Sie vielen gedankt haben, diesen aber
nicht, hinzufügen, dass auch die Mitarbeiter der Durchführungsorganisationen vor Ort unter all dem leiden und
die Probleme, die damit verbunden sind, bewältigen
müssen.
Staatssekretär Stather hat kürzlich zugegeben, dass
die Institutionenvielfalt einen ungeheuren Koordinierungsbedarf nach sich ziehe. Er hat dafür aber keine Lösung und gibt stattdessen Gutachten in Auftrag. Das ist
doch nicht mehr als ein Ausdruck von Hilflosigkeit.
({0})
Wenn Sie uns das erlauben, wollen wir Ihnen hier einmal
helfen.
Was also ist zu tun? Wir kritisieren nicht die institutionelle Hilfe. Aber wir akzeptieren nicht, dass unser
Einfluss auf die Politik dieser Institutionen in keinem
Verhältnis zu den geleisteten Beiträgen steht. Wir Deutsche zahlen am meisten und haben am wenigsten zu sagen. Noch schlimmer: Wir als Parlament, auch Sie von
der Koalition, haben über große Teile Ihres Haushalts
keine Kontrolle.
Nehmen wir als Beispiel den Europäischen Entwicklungsfonds. Kein Parlament kann über die Verwendung der Mittel dieses Fonds mitentscheiden, geschweige denn die Mittelverwendung kontrollieren auch das Europäische Parlament nicht: kein Einfluss,
null Kontrolle. Das ist doch nicht zu akzeptieren.
({1})
Dabei geht es nicht um Peanuts. Wir reden hier über
661 Millionen Euro allein in diesem Jahr. Dieser Betrag
soll bis 2008 auf 900 Millionen Euro pro Jahr gesteigert
werden. Das ist mehr, als wir für die bilaterale technische und finanzielle Hilfe insgesamt jährlich aufwenden.
Das ist doch verrückt. Dabei ist schon die Zielrichtung
dieses Fonds, nämlich ausschließlich die Unterstützung
der AKP-Staaten, zweifelhaft. Wir zahlen dort - den Zuhörern sei dieses Betriebsgeheimnis einmal verraten im Grunde genommen nur für das gute Gewissen der
ehemaligen Kolonialmächte. Ich will von Ihnen schon
wissen, warum wir ausgerechnet in diesen großen Fonds
mehr einzahlen, als es die ehemaligen Kolonialmächte
selbst tun.
Es gibt noch ein haushaltstechnisches Risiko in Milliardenhöhe, über das weder die Kanzlerin heute Morgen
noch der Finanzminister noch Sie etwas gesagt haben.
Im letzten Jahr mussten Sie einen Mehrbedarf des EEF
von 97 Millionen Euro aus dem Haushalt erwirtschaften.
Was ist also in den kommenden Jahren? Sagen Sie dazu
einmal etwas! Wir wollen es wissen. Wir können es uns
einfach nicht leisten, weiterhin nicht abgerufene Mittel
aus den vergangenen Jahrzehnten nun nachzuschießen.
Wir haben in Zukunft eine völlig unübersichtliche Haushaltssituation, weil wir nicht wissen, über welche Mittel
wir tatsächlich verfügen können.
({2})
Die FDP fordert daher, die Mittel für den EEF zu
sperren, bis dieser Sachverhalt nachvollziehbar dargelegt
wird. Da gibt es mehrere Einzelpunkte, auf die ich aber
aus Zeitgründen nicht eingehen kann, es sei denn, der
Kollege Ruck würde mir einige Minuten seiner Redezeit
geben. Ich glaube aber nicht, dass er dazu bereit ist.
({3})
Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zur bilateralen Entwicklungszusammenarbeit machen. Es ist
klar, dass wir uns auch da bei den Zielen und Partnerländern beschränken müssen. Wir können nicht mit der
Gießkanne alles bedienen wollen.
({4})
Der Mitteleinsatz muss in Zukunft an der Bedürftigkeit und an der Kooperationswilligkeit der Empfängerländer orientiert werden. Good Governance, über die immer gesprochen wird, darf nicht zu einer Modephrase
verkommen, sondern sie muss die Grundlage für die
staatliche Entwicklungszusammenarbeit sein. Das gilt
für Afghanistan - Sie haben den Fall Rahman schon angesprochen - genauso wie für jeden anderen Landstrich
dieser Erde.
Frau Ministerin, Sie müssen auch loslassen lernen.
Die Länder, die auf eigenen Beinen stehen können, sollten dies auch tun. Wir brauchen jeden Cent für die wirklich Bedürftigen dieser Welt. Sie haben das gerade bei
der Vorstellung Ihrer Globalziele beschrieben. Entwicklungszusammenarbeit, nur um vor Ort präsent zu sein, ist
pure Geldverschwendung.
({5})
Wir müssen deshalb unsere Zusammenarbeit mit den
Schwellenländern überdenken. Ihr Ankerländerkonzept geht in die falsche Richtung. Länder wie China, Indien, Südafrika und Brasilien sind in der Lage, aus eigener Kraft zu wachsen. Wir müssen den Mut aufbringen,
Ländern, die es aus eigener Kraft geschafft haben, zu sagen: Ihr könnt es jetzt alleine; ihr braucht unser Geld
nicht mehr; wir konzentrieren die Mittel auf die, die sie
wirklich brauchen.
({6})
Wir konnten bei Vertretern dieser Länder eine positive Resonanz für diese Position finden. Von einem Land
wie beispielsweise China, das über die größten Währungsreserven der Erde verfügt, kann man aufgrund seiner Wirtschaftskraft verlangen, die Armutsursachenbekämpfung und die Armutsfolgenbekämpfung selber in
die Hand zu nehmen. Dazu sind diese Länder auch bereit. Das gilt natürlich nicht, wenn sie dazu nicht aufgefordert werden.
({7})
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Es ist gut,
dass sich die CDU/CSU ganz offenkundig dieser Position der FDP nun anzuschließen gedenkt. Der Kollege
Kampeter hat sich sehr glaubhaft und eindeutig in dieser
Richtung geäußert.
({8})
- Genau, ein kluger Mann. - Wir würden uns freuen,
wenn die Koalition insgesamt sich dem anschließen
würde. Nur Mut, Frau Ministerin! Schließen auch Sie
sich an!
Danke schön.
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Arnold Vaatz für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, es ist ein wichtiges Signal, dass unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre erste Rede zur
Verteidigung ihres Haushaltes damit begonnen hat, über
unsere entwicklungspolitischen Ziele zu reden.
({0})
Frau Bundesministerin, auch wenn Sie schon darauf
eingegangen sind, möchte ich dennoch einen Gesichtspunkt zum Thema Afghanistan hervorheben. Der afghanische Bürger Abdul Rahman, der lange Zeit in
Deutschland gelebt hat, zum Christentum übergetreten
ist und in einem politischen Prozess mit dem Tode bedroht war, wurde erwähnt. Es ist unbefriedigend, dass es
überhaupt zu diesem Prozess gekommen ist. Es ist unbefriedigend, dass Rahman mit der Begründung der Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen worden ist.
({1})
Es ist unbefriedigend, dass wir darüber nachdenken
müssen, ob er bei uns Asyl bekommen könnte.
({2})
Aber es ist ein riesiger Erfolg, dass dieser Prozess überhaupt vor den Augen der Weltöffentlichkeit stattgefunden hat. An diesem riesigen Erfolg haben unsere gemeinsame Außenpolitik und unsere Entwicklungspolitik
einen ganz wesentlichen Anteil.
({3})
Die Ministerin hat über den Kongo gesprochen. Es ist
unbefriedigend, dass es im Kongo noch immer einige
nicht demobilisierte Milizen gibt. Es ist unbefriedigend,
dass es dort noch Kindersoldaten gibt. Es ist unbefriedigend, dass sich dort noch Geschäftemacher die Bodenschätze dieses Landes auf dunklen Kanälen illegal aneignen. All das ist unbefriedigend. Aber es ist ein riesiger
Erfolg unserer gemeinsamen Politik und im Übrigen
auch der Koordination unserer Politik mit den Politiken
der afrikanischen Staaten, dass es zu Wahlen kommt und
der Präsident des Kongo bereit ist, internationale Truppen als Garant eines ordnungsgemäßen Verlaufs dieser
Wahlen in sein Land hineinzulassen.
({4})
Auch das ist ein Erfolg der Abstimmung der Außenpolitik und der Entwicklungspolitik sowie ein Erfolg der politischen Koordination der Staaten in Afrika, die letzten
Endes von den demokratischen Staaten Europas ihren
Ausgang genommen hat.
Aus diesem Grunde halte ich es für in höchstem Maße
unverantwortlich, wenn wir wie beispielsweise die FDP
im letzten Augenblick sagen: Okay, die Dinge sind gut
eingerichtet. Alles läuft auf Demokratie und eine positive Entwicklung zu. Aber für den letzten Schritt, um zur
Demokratie überzuleiten, nämlich für demokratische
Wahlen und die Respektierung des Ergebnisses, setzen
wir uns nicht mehr ein. Das lassen wir sie jetzt selber
machen. - Wenn wir so denken, dann machen wir die
jahrelangen Anstrengungen in der Entwicklungspolitik
mit einem Schlag zunichte.
({5})
Wir müssen uns in diesem Fall berechtigterweise fragen
lassen, welchen Sinn unsere Entwicklungspolitik hat,
wenn wir davor zurückscheuen, das letzte Ziel in Angriff
zu nehmen.
Meine Damen und Herren, wir reden über die Finanzierung unserer entwicklungspolitischen Ziele. Das ist
der Sinn einer Haushaltsdebatte. Die ODA-Quote, über
die wir heute auch reden, nämlich bis zum Jahr 2015 im
Haushalt die Marke von 0,7 Prozent des Bruttonationalproduktes für Entwicklungshilfe vorzusehen, ist ein sehr
ehrgeiziges Ziel. Wir haben dafür keine Zaubermittel.
Wir haben die Möglichkeit, die Haushaltsmittel zu erhöhen.
({6})
Wir haben die Möglichkeit, das Instrument des Schuldenerlasses zu nutzen. Wir haben die Möglichkeit, innovative Finanzierungsinstrumente zu mobilisieren, die die
Frau Ministerin eben genannt hat.
({7})
Zur Erhöhung der Haushaltsmittel: Wir haben es tatsächlich geschafft, 300 Millionen Euro zusätzlich - das
sind 8 Prozent mehr - in diesen Haushalt einzustellen.
Frau Ministerin, mein Kompliment, dass das gelungen
ist! Das ist das Ergebnis einer guten Gemeinschaftsleistung der Koalition. Darauf können wir stolz sein.
({8})
Wir sind uns natürlich darüber im Klaren, dass das Instrument des Schuldenerlasses zweischneidig ist. Schuldenerlass darf nicht dazu führen, dass sofort wieder neue
Schulden gemacht werden.
({9})
Darauf haben wir zu achten. Herr Kollege Löning, das
bedeutet aber nicht, dass wir das Instrument mit dem
pauschalen Argument, es würden nach dem Erlass neue
Schulden gemacht, von vornherein entwerten sollten.
Das darf nicht sein. Das Instrument des Schuldenerlasses
ist im Kontext der jeweiligen Situation zu betrachten.
Genau das werden wir tun. Entsprechend werden wir
2006 auf diesem Wege dem Irak und Nigeria - das Finanzministerium hat es errechnet - 1,6 Milliarden Euro
zukommen lassen.
({10})
- Herr Löning, das ist richtig. Sie wissen aber ganz genau, dass es in Nigeria nicht nur die von Ihnen angesprochenen ölreichen Küstengebiete gibt. Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass wir uns in diesem Land
entsprechend unserem Ziel, Haushaltsmittel als Katalysator für die Mobilisierung anderer Finanzquellen einzusetzen, engagieren.
Insbesondere in Nigeria hat sich die Gewährung von
Mikrokrediten als erfolgreiches und sehr effizientes Mittel zur Finanzierung von Existenzgründungen erwiesen.
({11})
Wenn es uns möglich ist, Haushaltsmittel nicht bloß auszugeben, sondern sie als Katalysator zur Entwicklung
von Eigeninitiative und zur Entwicklung von Existenzen
in diesem Lande zu nutzen, dann sollten wir das tun.
Man sollte die Länder, die aufgrund der hohen Verschuldung ihre Hände ausstrecken, nicht verhungern lassen.
({12})
- Sie wissen selber, dass die Mikrokredite nicht an Staaten, sondern an Privatpersonen gehen.
Meine Herren Kollegen, Sie können versuchen, eine
Zwischenfrage zu stellen. Vielleicht interessiert sich
dann der Redner.
Richtig. - Es ist außerdem wichtig, dass wir überlegen, was wir tun können, um die Privatwirtschaft in
Deutschland zu aktivieren und zu ermutigen, in Nigeria
zu investieren. Ich glaube, dass hier in der letzten Zeit zu
wenig über die Frage der Aktivitäten der Privatwirtschaft gesprochen worden ist. Wir müssen alles tun, um
Privaten die Möglichkeit zu geben, entwicklungspolitische Impulse zu setzen.
Unsere Entwicklungspolitik besteht aus mehreren
Komponenten. Eine davon ist die Armutsbekämpfung.
Auch hier muss das Stichwort „Hilfe zur Selbsthilfe“ als
Erstes genannt werden.
({0})
Wo das nicht reicht, ist es notwendig, auch über andere
Maßnahmen nachzudenken. Es ist außerordentlich wichtig, dass wir eine regionale Subsidiarität fordern. Was
bedeutet das? Wenn in einem Land eine Hungersnot ausbricht, ist es natürlich nicht allein die Aufgabe des weit
entfernten Deutschland, dort zu helfen. Es ist auch unsere Aufgabe; aber es ist ebenso notwendig, dass sich
ebenfalls die Anrainerländer in solchen Fällen verantwortlich fühlen und ihre Hilfe zur Verfügung stellen.
Darauf müssen wir in der Entwicklungshilfe drängen.
({1})
Wir müssen dabei auch stärker beachten, dass der
Multilateralismus in diesem Bereich effizienter gestaltet
werden muss als bisher. Das heißt, wir müssen etwas
tun, um die internationalen Institutionen, zum Beispiel
WTO, Weltbank und IWF, in ihrem Ansehen zu stärken.
Der Bürger der Bundesrepublik Deutschland wird berechtigterweise fragen, wie es um die Effizienz beim
Umgang mit dem Geld, das wir geben, gestellt sei. Deshalb stellt sich die Frage: Wie stark ist unser Einfluss in
diesen Institutionen? Es ist notwendig, unseren Einfluss
in Zukunft zu stärken.
Meine Damen und Herren, man könnte die Diskussion noch wesentlich weiter führen. Ich möchte - mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin - nur noch ein Wort
sagen: Unsere innere und äußere Sicherheit ist so gut,
wie es uns gelingt, die innere und äußere Sicherheit anderswo auf der Welt - Stichworte „Demokratie“ und
„gute Regierungsführung“ - zu entwickeln und stärken
zu helfen und daran auch die Intensität unseres entwicklungspolitischen Beitrags festzumachen. Das sollte eines
unserer Kernziele sein. Nicht Projektitis und Gießkanne,
sondern direkte Hilfe beim Aufbau von nachhaltigen
Strukturen!
Vielen Dank.
({2})
Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort die Kollegin Heike Hänsel.
({0})
Danke. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte kurz einen Satz aus der Koalitionsvereinbarung zitieren. Darin steht zum Thema Entwicklungspolitik unter anderem:
Die Folgen der sich verschärfenden Entwicklungsprobleme vor allem in Afrika, aber auch in Teilen
Asiens und Lateinamerikas, gefährden unmittelbar
Frieden und Wohlstand in Deutschland und Europa.
({0})
Wenn ich das lese, dann muss ich feststellen, dass das
eine völlig falsche Darstellung von Wirkung und Ursache mit weit reichenden Folgen ist.
({1})
Nicht wir sind bedroht; es ist genau umgekehrt: Die jahrhundertelange Ausbeutung der Länder des Südens sowie
die jetzige neoliberale Weltwirtschaftsordnung und die
Kriegspolitik bedeuten eine ständige Bedrohung für die
Existenz von Millionen von Menschen.
({2})
Genauso falsch sind die Antworten, die beispielsweise Frau Merkel heute in der Debatte gegeben hat. Sie
hat nämlich gesagt, dass wir unter anderem wegen des
Problems afrikanischer Flüchtlinge an europäischen
Grenzen Soldaten in den Kongo schickten. Da muss ich
Ihnen einmal sagen, Frau Wieczorek-Zeul: Wenn es um
die Stützung eines Wahlprozesses geht, wieso brauchen
wir dann Militär?
({3})
Ich habe sehr viel Wahlbeobachtung gemacht. Ich habe
Vertreter der MONUC gefragt: Wieso brauchen wir bewaffnete Wahlbeobachter? Sie konnten mir darauf keine
Antwort geben.
Solch ein Einsatz ist völlig unsinnig. Die entscheidenden Weichenstellungen für die Wahlen werden nicht am
Wahltag vorgenommen, sondern im Vorfeld des Wahlprozesses.
({4})
Wo sind denn jetzt Ihre Leute, die einen demokratischen
Wahlprozess und den Zugang zu Medien absichern?
({5})
50 bis 100 Dollar muss eine Person zahlen, um sich aufstellen zu lassen. 50 000 Dollar müssen von einem Präsidentschaftskandidaten gezahlt werden. Der Zugang zu
solchen Wahlen ist doch nicht demokratisch.
({6})
Sichern wir nachher den Sieger einer undemokratischen
Wahl militärisch ab? Das ist doch völlig unrealistisch.
Wir müssen jetzt aktiv werden und dort breite Prozesse
organisieren. Wir dürfen nicht meinen, mit dem Militär
dort etwas zu lösen.
({7})
Wir brauchen, was die Lösung der Flüchtlingsfrage
angeht, keine Soldaten in Afrika. Wir brauchen auch
keine höheren Zäune und dickeren Mauern an den europäischen Außengrenzen. Wir brauchen erst recht keine
Auffanglager, wie sie zum Beispiel in Tansania oder
Osteuropa geplant sind.
({8})
Das ist eine menschenfeindliche Politik. Das sind die
falschen Antworten auf eine falsche Analyse. Sie sind
schon gar kein Beitrag zur Entwicklungszusammenarbeit.
({9})
Ich lasse jetzt keine Zwischenfragen zu. Ich möchte
erst einmal meine Gedanken entwickeln. Sie können danach gerne eine Kurzintervention machen.
Das Problem ist, dass solche Auffanglager dann womöglich aus dem Haushalt finanziert werden. Wir müssen Fluchtursachen bekämpfen und nicht die Menschen,
die zu uns kommen. Wir müssen ganz klar aufzeigen,
was die herrschende Weltwirtschaftsordnung und unsere
Politik, die dazu beiträgt, bedeuten.
Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf
Nahrung, Jean Ziegler, sagt: Die Weltwirtschaftsordnung
tötet tagtäglich Menschen und verhindert eine selbstbestimmte Entwicklung der Menschen in den Ländern des
Südens.
Eine Säule dieser Weltwirtschaftsordnung ist die
Welthandelsorganisation WTO. Sie hat sich den freien
Markt und den Freihandel auf die Fahnen geschrieben;
das ist ihr oberstes Prinzip.
({0})
Wir lehnen diese Politik der WTO ab, die auf umfassende Handelsliberalisierung, auf Deregulierung und auf
Liberalisierung der öffentlichen Dienstleistungen setzt.
({1})
Wir haben in vielen Ländern, zum Beispiel Lateinamerikas, ganz klar gesehen, dass genau diese neoliberale
Ausrichtung den Menschen ihre Existenzgrundlagen entzieht, dass sie zu Armut, zu Ausgrenzung und zu fehlendem Zugang zur Grundversorgung führt.
({2})
Das sind fundamentale Menschenrechte, die ständig verletzt werden. Dazu habe ich heute in der Debatte zu den
Menschenrechten keinen einzigen Ton gehört.
Auch der Begriff „Armutsbekämpfung“ wurde viel zu
selten erwähnt. Die Millenniumsziele, auf die wir uns
alle stützen, wurden in der heutigen Debatte überhaupt
nicht genannt.
Entscheidend ist, dass wir konkrete Vorschläge machen, wie wir das Ziel der Halbierung der Armut bis
2015 erreichen wollen. Wir setzen ganz eindeutig auf
eine eigenständige Entwicklung der Länder des Südens.
Sie müssen vor einer aggressiven Marktöffnungspolitik
der Industrieländer und der multinationalen Konzerne
geschützt werden. Wir brauchen umfassende Entschuldungsinitiativen ohne daran geknüpfte neoliberale Bedingungen.
({3})
Die Entwicklung des ländlichen Raumes, kleinbäuerlicher Strukturen - sie wollen wir übrigens ohne die Verwendung gentechnisch veränderten Saatgutes schaffen und regionaler Märkte spielen dabei eine entscheidende
Rolle.
({4})
Frau Wieczorek-Zeul, Ihre Initiative zu den regenerativen Energien finde ich sehr gut. Dabei unterstützen wir
Sie. Die regenerativen Energien sind eine zentrale Säule
für die Entwicklung des ländlichen Raumes.
Wir setzen uns ganz klar nicht für eine Privatisierung
der Dienstleistungen und der Sicherungssysteme, sondern für den Aufbau und die Stärkung der Sicherungssysteme in den Ländern des Südens ein.
({5})
Leider wird diese Politik aber zum großen Teil nicht im
Entwicklungshilfeministerium, sondern im Wirtschaftsund im Finanzministerium sowie auf europäischer Ebene
gemacht.
So lange wir an dem Primat der Wettbewerbsfähigkeit, wie sie unter anderem in der Lissabonstrategie formuliert wurde, festhalten - die EU muss der dynamischste Wirtschaftsraum der Welt werden; wir in
Deutschland müssen vorankommen; wir müssen wieder
Nummer eins werden -, so lange wir das Prinzip von
Siegern und Verlierern in unserer Politik nach außen vertreten, haben die Länder des Südens keine Entwicklungschancen.
({6})
Diese Politik steht dem Prinzip der ökologischen Nachhaltigkeit und dem Vorhaben der weltweiten Armutsbekämpfung diametral entgegen.
In diesem Zusammenhang spielt die ODA-Quote eine
untergeordnete Rolle. Es ist gut, dass sie jetzt, nachdem
sie bei Rot-Grün ständig gesunken ist, erhöht werden
soll. Sie ist aber nur ein Bestandteil.
({7})
Wir brauchen eine grundsätzlich andere, eine solidarische Politik in den weltwirtschaftlichen Beziehungen.
({8})
Ich möchte einen weiteren für uns entscheidenden
Punkt anführen. Die Entwicklungspolitik ist laut Koalitionsvertrag integraler Bestandteil der deutschen Außenund Sicherheitspolitik. Wer die heutige Debatte verfolgt hat, hat aber erkannt, dass es in der Außenpolitik
hauptsächlich nur noch um wirtschaftliche und hegemoniale Interessen geht. Im Grunde ist das Ziel, die EU als
neue Großmacht in der Welt zu etablieren.
In diesem Zusammenhang wurde oft genug der
Kampf gegen den Terrorismus genannt. Unter diesem
Stichwort wird die Militarisierung der Politik vorangetrieben und der Kampf um den Zugang zu Energieressourcen geführt, der die zivile und soziale Entwicklung
weltweit hemmt.
Es geht nicht nur generell um Militäreinsätze, sondern
auch darum, dass sie zunehmend, wie nun zum Beispiel
im Sudan, aus Mitteln des Entwicklungshilfefonds der
EU finanziert werden sollen.
({9})
Wir lehnen den gesamten Komplex der zivilmilitärischen Zusammenarbeit ab. Das ist die falsche Entwicklung.
({10})
Wenn wir zivile und militärische Aufgaben, wie zum
Beispiel in Afghanistan, vermischen, sind Entwicklungshilfeorganisationen vor Ort gefährdet. Die Entwicklungshilfe wird instrumentalisiert. Infolgedessen braucht
das Militär noch mehr finanzielle Mittel.
Wir sind der Meinung: Soldaten sind keine Entwicklungshelfer. Wir brauchen eine Stärkung der zivilen Aufgaben und keine weitere Militarisierung der Politik.
({11})
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Frau Wieczorek-Zeul, insofern unterstützen wir den
zivilen Friedensdienst, den Sie angeregt haben. Wir
glauben aber, dass der zivile Friedensdienst nicht parallel zu Militärinterventionen stattfinden soll und nicht zur
Nachsorge von militärischen Interventionen geeignet ist,
sondern die Alternative zu der Politik, die hier formuliert
wurde, ist. Darum wünschen wir uns eine umfassende
Erhöhung der Mittel.
({0})
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ja. - Weltweit gibt es immer mehr Menschen, die gegen diese Politik aufstehen. Das erleben wir in vielen
Ländern und den Sozialforen. Die Linke versteht sich als
Teil dieser weltweiten Bewegung.
Danke.
({0})
Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede in diesem
Haus. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich dazu, verbunden
mit den besten Wünschen.
({0})
Nun hat das Wort der Kollege Thilo Hoppe von der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
({1})
Keine Attacke, ich bin friedlich.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor ich zum Haushalt spreche, muss ich kurz auf das
Vorangegangene eingehen. Liebe Kollegin Hänsel,
Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede! Ich teile durchaus einige, sogar viele Ihrer Positionen und die Kritik an ungerechten Strukturen der Weltwirtschaft. Aber ich hoffe
sehr, dass sich auch Ihre Fraktion einmal der Probleme
im Kongo intensiver annimmt und zu Lernprozessen
kommt.
({0})
Manchmal sind es sehr schmerzhafte Lernprozesse. Wir
haben nach Ruanda gesagt: Nie wieder zusehen. - Man
kann auch durch unterlassene Hilfeleistung schwere
Schuld auf sich laden.
({1})
Die Absicherung eines Wahlprozesses ist kein Kriegseinsatz. Ich hoffe sehr, dass Sie da zu einer differenzierteren Sichtweise kommen werden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Aydin?
Ja.
Vielen Dank, Herr Kollege Hoppe. - Bezüglich des
möglichen Kongoeinsatzes wird hier immer wieder behauptet, dass wir im Kongo Soldaten einsetzen müssen,
damit die Wahlen ordnungsgemäß organisiert und zu
Ende geführt werden können.
({0})
- Das ist ein Teil der Argumentation; ich habe heute gut
genug zugehört.
Für diese Wahl sollten sich bis morgen 500 Personen
als Kandidaten anmelden. Laut BBC haben sich bis
heute Morgen erst 100 Kandidaten angemeldet.
({1})
- Dazu komme ich jetzt. - Es hat nur ein einziger Präsidentschaftskandidat ohne Milizen die Kandidatur angemeldet; allerdings wird er wahrscheinlich die erforderlichen 50 000 Dollar nicht haben.
Jetzt frage ich Sie, all die Befürworter: Glauben Sie
erstens, dass die Wahlen unter diesen Bedingungen überhaupt im Juni stattfinden werden? Glauben Sie zweitens,
dass wir unter diesen Bedingungen mit militärischem
Einsatz eine demokratisch organisierte Wahl durchführen können?
({2})
Herr Kollege, haben Sie zur Kenntnis genommen,
dass die Wahl bereits um einige Wochen verschoben
worden ist, um genau diesen Unregelmäßigkeiten und
Problemen noch nachzugehen? Der Einsatz der Soldaten
dient nicht dazu, die Wahlurnen an den richtigen Ort zu
bringen, sondern es ist eine Absicherung, damit die
Wahlverlierer nicht in die Versuchung geraten, das
Wahlergebnis zu korrigieren. Das Ganze ist nicht die
Idee der Europäischen Union, sondern beruht auf einer
Anfrage der Vereinten Nationen, der MONUC, einer Anfrage von Kofi Annan. Es ist auch wichtig für Ihre Fraktion, zur Kenntnis zu nehmen, dass viele NGOs, die Ihnen sehr nahe stehen, diesen Einsatz befürworten.
({0})
- Und auch die Afrikanische Union. Danke für diesen
Hinweis.
Ich wollte eigentlich zum Haushalt sprechen, aber ich
muss noch eines vorwegschikken: All das, was von meinen Vorrednern, von Herrn Vaatz und von der Ministerin, zum Fall Abdul Rahman gesagt wurde, möchte ich
hier ausdrücklich unterstreichen und mit einem großen
Ausrufezeichen versehen.
({1})
Jetzt zum Haushalt. Wäre ich noch entwicklungspolitischer Sprecher einer Koalitionsfraktion, dann würde
ich sicherlich den erfreulichen Aufwuchs der Barmittel
im Einzelplan 23 loben. Jetzt gehöre ich zur Opposition,
aber mache das Gleiche.
({2})
Unter den gegebenen Rahmenbedingungen ist das ein
Schritt in die richtige Richtung. Es ist zwar weniger, als
eigentlich nötig wäre, wenn man sich der Erreichung der
Millenniumsziele konsequent verschriebe, aber ich weiß
um die Schwierigkeiten und sage: Immerhin.
Genauso hätte ich Folgendes getan und tue es jetzt
auch, egal ob aus einer Koalition oder aus der Opposition heraus: Ich kritisiere die deutliche Absenkung der
Verpflichtungsermächtigungen scharf. Das hat in der
Haushaltsdebatte bisher noch gar keine Rolle gespielt.
Einige werden sich noch an die Haushaltsdebatten in der
letzten Legislaturperiode erinnern. Auch da habe ich
kein Blatt vor den Mund genommen, egal ob die Kritik
sich an die eigene Regierung, an den Finanzminister
oder an die Opposition richtete.
Verpflichtungsermächtigungen stecken den Rahmen
dafür ab, was in den nächsten Jahren passieren soll.
Noch unter Rot-Grün - besonders auf Betreiben unserer
Fraktion, aber auch der Entwicklungsministerin - hat
sich die Bundesregierung darauf festgelegt und dazu verpflichtet, bis 2015 - das wissen wir alle - mindestens
0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe zur Verfügung zu stellen. Erfreulicherweise - das erkennen wir an hat die neue Koalition dies nicht widerrufen, sondern
ausdrücklich bestätigt.
({3})
Aber das darf kein Lippenbekenntnis bleiben. Das muss
durch Fakten, Zahlen und Verpflichtungsermächtigungen untermauert werden.
({4})
Eine Kürzung der Verpflichtungsermächtigungen wäre
das völlig falsche Signal.
Jetzt fordere ich insbesondere die CDU/CSU-Fraktion auf, die Haushaltsreden von Peter Weiß, der heute
nicht mehr in diesem Arbeitsbereich tätig ist, genau zu
lesen. Der Kollege Weiß hat die Regierung immer davor
gewarnt, sich bei der Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels
zu sehr auf den Schuldenerlass zu verlassen. Mit dem
Erlass der enormen Schulden, insbesondere des Iraks,
kann man die ODA-Quote kurzfristig in die Höhe treiben. Aber das wäre zu einem Großteil geschönte Statistik ohne jeden Mehrwert für die Entwicklungszusammenarbeit.
({5})
Wenn die Erreichung der Millenniumsziele ein ernst
gemeintes Ziel ist, dann müssten die Barmittel sowohl
im Einzelplan 23 als auch in den ODA-Quoten-wirksamen Titeln anderer Ministerien Jahr für Jahr erhöht werden. Als Beispiel nenne ich ausdrücklich das Auswärtige
Amt, den Bereich der humanitären Hilfe, die Minenräumprogramme und den Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“. Im
Kabinettsentwurf waren leider sogar Kürzungen vorgesehen.
Um in den Regierungsverhandlungen mit unseren
Partnerländern gerade für die Zukunft den nötigen Spielraum zu haben, müssen sich diese Erhöhungen der kommenden Jahre in den Verpflichtungsermächtigungen widerspiegeln. Ich kenne das Barmittelproblem, von dem
viele Projekte, gerade im letzten Quartal eines Rechnungsjahres, betroffen sind. Aber dieses Problem löst
man nicht durch eine Kürzung der VEs, sondern durch
eine noch kräftigere Erhöhung der Barmittelansätze.
Einige von Ihnen werden nun vielleicht sagen: Wenn
man in der Opposition ist, ist es leicht, mehr Geld zu fordern. Aber auch hier gilt: Wie wir es bereits letztes Mal,
als wir noch in der Regierungsverantwortung waren, getan haben, legen wir auch nun aus der Opposition heraus
eine Gegenfinanzierung, die durchgerechnet ist, auf den
Tisch. Wir sagen also, woher das Geld kommen kann.
Wir hätten uns zum Beispiel sehr gefreut, wenn Deutschland auf der Konferenz in Paris Seite an Seite mit Frankreich und elf anderen Ländern hinsichtlich der Einführung einer Flugticketabgabe schon Fakten geschaffen
hätte.
({6})
Wir wissen, dass auch die zuständige Ministerin dies
gern getan hätte. Aber dafür hatte sie im Kabinett - ich
sage hoffnungsvoll: noch - keine Rückendeckung und
keine Mehrheit.
({7})
Die Ticketabgabe, die Kerosinsteuer und die Devisenumsatzsteuer, die Tobin Tax, all diese innovativen Finanzierungsinstrumente müssen jetzt endlich in Angriff
genommen werden. Dabei sollte Deutschland eine führende Rolle spielen, statt ständig nur zu zaudern, zu zögern und sich wegzuducken.
({8})
Ich bin mir natürlich bewusst, dass es im Bereich der
Entwicklungszusammenarbeit auch, aber nicht nur auf
Geld ankommt. Wir müssen enorme Reformanstrengungen unternehmen, bei uns und in den Entwicklungsländern selbst. Wir müssen für gerechtere Strukturen im
Welthandel und in der internationalen Finanzarchitektur
sorgen.
In unserer Entwicklungszusammenarbeit stehen
große Reformen an; das wurde schon gesagt. In diesem
Zusammenhang ist bereits ein Gutachten in Auftrag gegeben worden.
Jetzt möchte ich im Namen des gesamten AWZ anmahnen: Wir Parlamentarier möchten in all diese Überlegungen eng einbezogen werden. Wir möchten nicht
vor vollendete Tatsachen gestellt werden, sowohl was
die Reform der Institutionen betrifft als auch was die
notwendige Reduzierung der Zahl der Partnerländer und
die Schwerpunktsetzung angeht.
({9})
Da es im Kampf gegen den Hunger keine Fortschritte
gibt - bei der Erreichung dieses Millenniumsziels haben
wir sogar die größten Rückschritte zu verzeichnen -,
brauchen wir eine enorme Aufwertung des ländlichen
Raumes.
({10})
In der Anhörung, die hierzu in der letzten Legislaturperiode durchgeführt wurde, war das fraktionsübergreifend Konsens. Aber auch das spiegelt sich bisher noch
nicht in der Politik des BMZ wider. Hier wünsche ich
mir vor allem von der SPD-Fraktion grundsätzlich mehr
Engagement für den ländlichen Raum. Von der CDU/
CSU-Fraktion wünsche ich mir, dass sie darauf verzichtet, dieses Thema immer sofort mit einem Werbefeldzug
für manipuliertes Saatgut, also für die grüne Gentechnik,
zu verbinden. Sie löst das Hungerproblem nicht, sondern
sie ist in einigen Teilen der Welt sogar ein Teil dieses
Problems und verschärft es sogar noch.
({11})
Da ich auf meine Vorredner eingegangen bin, läuft
mir meine Redezeit davon. Eigentlich wollte ich noch all
die Bereiche aufzählen, in denen mehr Engagement notwendig ist. So müsste zum Beispiel beim Thema Biodiversität ein Ruck durch die Entwicklungspolitik gehen.
({12})
- Ja. - Ähnliches gilt für den Bereich der erneuerbaren
Energien. Armutsbekämpfung und Umweltschutz müssen viel stärker als bisher miteinander verbunden werden, statt als Gegensatz betrachtet zu werden.
Ich schaffe es leider nicht mehr, alle weiteren Schwerpunkte aufzuzählen, da bereits das Licht am Rednerpult
blinkt.
Wir werden ein ressortübergreifendes Konzept vorlegen. Dieses Konzept ist schon ausgearbeitet. Es sieht
Aufwüchse bei den Barmitteln und vor allem bei den
Verpflichtungsermächtigungen vor. Das ist der
Schwachpunkt des vorgelegten Haushaltsentwurfs. Wir
wollen in diesem Bereich keine Stagnation, sondern Bewegung. Als betont konstruktiv-kritische Opposition
wollen wir unseren Teil dazu beitragen.
Ich danke Ihnen.
({13})
Nun hat die Kollegin Dr. Bärbel Kofler für die SPDFraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte zu Beginn meiner Rede von meinem Manuskript abweichen und auf zwei Vorredner eingehen.
Zunächst zum Beitrag der Kollegin Hänsel von der
Fraktion der Linken. Ich würde mich sehr freuen, wenn
Ihre Fraktion beim Thema Entwicklungspolitik endlich
die Realitäten zur Kenntnis nehmen würde.
({0})
Ich greife nur einen Punkt heraus. Sie haben in Ihrem
Beitrag den Sudan angesprochen. Man muss sich doch
die Frage stellen, wie die Entwicklungspolitik gestaltet
werden muss, damit sie den Menschen dient. Man muss
sich überlegen, wie man den Menschen den Zugang zu
Medikamenten, zu Ressourcen, zur Unterstützung und
zur Entwicklungshilfe gewähren kann, wenn in ihrem
Land Krieg herrscht und ihnen, wenn sie ein Flüchtlingslager verlassen, Gefahr für Leib und Leben droht. Es
reicht nicht, zu sagen, Militär sei prinzipiell etwas
Schlechtes.
({1})
Zum anderen möchte ich auf den Beitrag von Herrn
Königshaus eingehen. Herr Königshaus, wir werden gemeinsam nach China reisen und uns dort das eine oder
andere ansehen können. Vielleicht kommen Sie dann zu
einer anderen Einsicht, was die Entwicklungspolitik mit
Ländern wie China angeht.
Selbstverständlich ist nicht alles Gold und Sonnenschein; das hat von uns und von der Regierung auch niemand behauptet. Natürlich ist China als Geberland geDr. Bärbel Kofler
fordert, wenn es darum geht, Standards einzuhalten, zum
Beispiel bei der Kreditvergabe oder bei seiner Afrikapolitik. Sich aber aus der Entwicklungszusammenarbeit
mit Ländern wie China ausklinken zu wollen, halte ich
für extrem kontraproduktiv. Sie können die Zusammenarbeit mit China zum Beispiel im Bereich der erneuerbaren Energien nicht einfach beenden. China ist der weltgrößte Emittent von Schwefeldioxid und der zweitgrößte
Emittent von Kohlendioxid. China importiert aus Indonesien, aus Afrika und anderen Entwicklungsländern
Holz in enormen Mengen, was entsprechende Schädigungen der Natur und der Lebensgrundlagen der Menschen in diesen Ländern zur Folge hat.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Königshaus?
Bitte. Sie verlängern meine Redezeit.
Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich nicht gesagt habe, dass wir die Entwicklungszusammenarbeit einstellen sollen? Das habe ich
nicht gefordert. Wir erwarten aber, dass die Länder, die
dazu in der Lage sind, ihre Ressourcen und reichlichen
Finanzmittel dazu einsetzen - China ist eines der Länder
mit den größten Devisenreserven -, um etwas im eigenen Land für die Armutsbekämpfung und den Aufbau
entsprechender Systeme zu tun. Wir sind für Entwicklungszusammenarbeit mit diesen Ländern, aber diese
Länder sollen selber dafür bezahlen. Sie sind dazu auch
bereit. Warum sollten wir dort also Geld mit der Gießkanne verteilen, das dann woanders fehlt?
Herr Königshaus, das hört sich jetzt schon etwas moderater an als das, was Sie vorhin gesagt haben. Ich bin
der Meinung, dass wir nicht mit der Gießkanne Mittel in
anderen Ländern verteilen. Selbstverständlich sollen
diese Länder ihre eigenen Ressourcen in Anspruch nehmen. Aber ich habe gerade versucht, Ihnen an einem
Beispiel deutlich zu machen, wo Entwicklungszusammenarbeit besonders dringend ist. Ich bitte darum, nicht
mit einem Wisch alle diese Projekte vom Tisch zu fegen.
({0})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Bonde von der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen?
Gerne.
Frau Kollegin, können Sie bestätigen, dass der Vorschlag, die Entwicklungshilfe an China zu streichen,
nicht von der FDP kommt, sondern von Ihrem Koalitionspartner, nämlich von Herrn Kampeter aus dem
Haushaltsausschuss? Wie werden Sie diesen Konflikt in
der Koalition lösen?
Irren kann jeder.
({0})
Ich bin aber guten Mutes, dass wir in der Koalition eine
gute Zusammenarbeit pflegen und dass die Kollegen der
CDU/CSU mit ihrem Kollegen noch einmal ein Gespräch über diesen Punkt führen werden.
({1})
- Na also.
Ich komme noch einmal kurz auf den Energiebedarf
in China zurück. Ich bin der Meinung, dass wir damit ein
enorm wichtiges Projekt voranbringen können und werden. Das liegt übrigens gerade auch im Interesse der
deutschen Unternehmen, der deutschen Energiepolitik
und der deutschen Wirtschaft. Dieses Anliegen liegt Ihnen ja vielleicht auch am Herzen.
({2})
- Dann sind wir uns ja einmal einig, Herr Königshaus.
Auf einen Punkt wollte ich natürlich schon noch eingehen. Von der Kollegin Hänsel ist die Aussage gekommen, die ODA-Quote sei eigentlich gar nicht wichtig
und interessant. Ihrer Ansicht nach ist das, worüber wir
hier reden, eher Makulatur. Deswegen möchte ich noch
einmal feststellen, dass es nur mit finanziellen Mitteln
möglich ist, Entwicklungszusammenarbeit zu betreiben.
Wir haben jetzt 300 Millionen Euro mehr zur Verfügung.
Das ist ein enormer Aufwuchs in einem Haushalt wie
dem, den wir in diesem Jahr verabschieden werden. Es
ist bereits gesagt worden, dass die Mittel im Vergleich
zum Haushalt 2005 um knapp 8 Prozent steigen. Gerade
damit kann man nämlich auch im Sinne der Millennium
Development Goals, zu denen wir uns alle verpflichtet
haben, den Ressourcenschutz, die Armuts- und Krankheitsbekämpfung und den Zugang zur Bildung in den
Entwicklungsländern unterstützen und fördern. Wenn
ein Haushalt 300 Millionen Euro mehr umfasst und man
das als Makulatur und nicht wichtig bezeichnet, dann
halte ich das eigentlich für der Diskussion nicht ganz
würdig.
({3})
Die Industrienationen haben sich in Gleneagles auf
einen Schuldenerlass für die ärmsten Länder dieser
Welt verständigt. Ich halte das für eine wichtige und
richtige Maßnahme. Die Frau Ministerin hat dankenswerterweise auch über den Dreiklang gesprochen, der in
unseren Haushalt einziehen muss und durch den unsere
Finanzierungsmöglichkeiten im Haushalt des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit in den nächsten
Jahren gestaltet werden müssen.
Das Erste ist die Entschuldung; sie wurde angesprochen. Das Zweite ist die Aufstockung des Etats des
BMZ. Ich bin mir sehr sicher, dass dank der Energie unserer Ministerin in diesem Bereich noch etwas vorangehen wird. Das Dritte sind die innovativen Finanzierungsinstrumente. Auch hier möchte ich eines deutlich
machen: Es gibt viele gute Ideen im Bereich der innovativen Finanzierungsinstrumente. Die Ministerin hat eine
herausgegriffen, nämlich die Entwicklungsabgabe auf
Flugtickets.
({4})
- Ach, du meine Güte. Wollen wir jetzt ein Seminar daraus machen? Ich kann Ihnen die Kerosinsteuer, die
CO2-Abgabe, die Tobin Tax und sonst noch was nennen,
Herr Königshaus. Das können wir gerne tun.
({5})
Uns als Arbeitsgruppe der SPD ist es wichtig, deutlich zu machen, dass wir große Sympathien für die Entwicklungsabgabe auf Flugtickets empfinden und sie
entsprechend unterstützen wollen.
({6})
- Ja, so etwas tun wir.
({7})
- Das können Sie gerne tun, Frau Koczy.
({8})
Allerdings - auch das ist wichtig - dürfen wir uns
nicht von vornherein nur auf eines der vielen Instrumentarien festlegen, sondern wir müssen mit der Ministerin,
die uns in der Leading Group vertritt, die verschiedensten Instrumentarien intensiv prüfen und schauen, welche
Vor- und Nachteile diese verschiedenen Instrumentarien
bringen. Eine Frage muss dabei die Maßgabe sein: Was
bringt das meiste Geld für die Entwicklungspolitik?
({9})
Das kann ein Bündel von Maßnahmen sein. Es muss
nicht nur eine Maßnahme sein.
({10})
- „Umso besser“, eben.
({11})
- Danke, dass Sie meine Redezeit verkürzen, Herr
Königshaus.
Ich möchte gerne noch einen Punkt ansprechen, der
die Ausgewogenheit zwischen bilateralen und multilateralen Finanzierungsinstrumenten beinhaltet. Ich möchte
deutlich darauf verweisen, dass es nicht sein kann, hier
zu sagen, uns interessiert nicht mehr, welche Unterschriften wir unter internationale Verträge gesetzt haben,
die von uns abgeschlossen wurden.
Der EEF ist angesprochen worden. Mir ist wichtig,
zu betonen, dass die meisten Mittel des EEF nach Afrika
gehen. Ich halte das für ein wichtiges Moment in der
Entwicklungszusammenarbeit. Selbstverständlich müssen internationale, nationale und multinationale Geber
abgestimmt und koordiniert handeln und agieren. An
diesem Ziel - das gebe ich unumwunden zu - muss jede
Regierung, jedes Land arbeiten. Hier gibt es sicherlich
Verbesserungsmöglichkeiten. Aber die internationale
Zusammenarbeit für unmöglich zu erklären oder sie gar
einzustellen, halte ich auch aus Gründen der Transparenz
dem Parlament gegenüber für nicht richtig.
({12})
Frau Kollegin, Sie haben schon richtig gesehen, dass
Sie Ihre Redezeit überschritten haben.
Gut. Dann sage ich nicht mehr das, was ich zur bilateralen Zusammenarbeit sagen wollte, die ich aber explizit
erwähnen möchte, weil sie für uns sehr wichtig ist.
({0})
Das wird man auch im nächsten Haushalt sehen. Auch
hinsichtlich der Verpflichtungsermächtigungen ist noch
nicht aller Tage Abend.
({1})
Ich bedanke mich. Auf Wiedersehen!
({2})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun das Wort
der Kollege Dr. Christian Ruck von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie auch mich am Schluss dieser Debatte noch
einmal feststellen, dass wir uns trotz des Diktates knapper Kassen über eine Steigerung der Mittel im Entwurf
des Einzelplans 23 sehr freuen, die weit über die durchschnittliche Entwicklung des Gesamthaushaltes hinausgeht. Diese deutliche Steigerung in dem ersten Haushalt
dieser neuen Koalition ist ein gutes Signal für die Ernsthaftigkeit, die wir neue Koalitionäre der Entwicklungspolitik beimessen.
({0})
Wir haben im Koalitionsvertrag lange über die Inhalte
diskutiert. Das finde ich positiv, weil wir in der Sache
um ein gemeinsames Ziel gerungen haben. Wir waren
uns einig, dass wir die Entwicklungspolitik weiter stärken und sie national und international treffsicherer machen wollen. Der Etatentwurf setzt dazu auch in Richtung ODA-Stufenplan neue Akzente. Auch ich möchte
noch einmal sagen, dass ich mich über die klare Rückendeckung durch unsere Kanzlerin gefreut habe. Heute
Vormittag hat sie gesagt, dass sie an dem ODA-Stufenplan festhält. Allerdings hat sie auch erklärt, dass dies
sehr schwer werden wird, weil zwar das Ziel klar ist,
aber der Weg noch gefunden werden muss.
Das ist unsere Aufgabe. Wir sind gefordert, diesen
Weg mitzugehen. Wir müssen uns kreativ betätigen und
uns etwas einfallen lassen. In der Tat gibt es unglaublich
viele Einfälle zu Einnahmen aus allen möglichen Steuern. Da können wir aus dem Vollen schöpfen. Allerdings
sollten wir weiter darüber nachdenken, wie wir verschiedene Dinge unter einen Hut bekommen, zum Beispiel einen haushaltsschonenden Aufwuchs. Dies könnte in
Form neuer innovativer Finanzierungsinstrumente geschehen, zu denen wir uns auch als Diskussionsgrundlage ausdrücklich bekennen. Dabei müssen wir verschiedene Dinge bedenken, zum Beispiel die wirtschaftliche
Tragfähigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit und die Internationalität.
({1})
Das ist sehr wichtig, weil wir für dieses Problem eine
nachhaltige Lösung brauchen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Eid?
Ja. Die Kollegin Eid kennt sich in der Regel sehr gut
aus.
Bitte sehr, Frau Eid.
Herr Kollege Ruck, ich finde, wir brauchen gar nicht
so innovativ zu sein, wie Sie das eben angekündigt haben; denn Sie wissen, dass das mit der Umsetzung von
Ankündigungen immer so eine Sache ist.
Ihre Koalition hat die Erhöhung der Mehrwertsteuer
beschlossen. Ab dem nächsten Jahr werden Sie aufgrund
der Mehrwertsteuererhöhung mehr Geld in die Kasse bekommen. Wie wäre es denn, wenn diese Koalition, bevor
man über eine Abgabe auf Flugtickets nachdenkt - dafür
bin ich selbstverständlich -, einfach beschließen würde,
einen Teil der Einnahmen aus der erhöhten Mehrwertsteuer für die internationale Kooperation zu verwenden?
({0})
Dann müssten wir die Mehrwertsteuer noch weiter erhöhen. Wollten Sie darauf hinaus? Denn die Mehreinnahmen, die wir durch die Mehrwertsteuererhöhung um
3 Prozentpunkte erzielen werden, sind leider schon konzeptionell verplant.
({0})
Wir bekennen uns dazu, dass wir uns auf den Weg
machen. Dabei hoffen wir auf eine konstruktive Zuarbeit
von allen Seiten, um den Stufenplan für die ODA-Quote
mit Leben zu erfüllen. Es gibt viele Punkte, über die wir
noch nicht diskutiert haben und die wir andiskutieren
können, zum Beispiel eine vertiefte Zusammenarbeit mit
der Wirtschaft über PPP. Auch dabei gibt es noch Luft
für die ODA-Quote.
Wir sollten jedenfalls alles ausschöpfen, was uns auf
seriösem Weg weiterbringt. Dazu gehört auch die Frage
der Entschuldung. Ich kann mich gut erinnern, Herr
Kollege Hoppe, wer zuletzt die Entscheidung kritisiert
hat, den Irak zu entschulden: Das war ich.
({1})
- Ich weiß, was ich damals gesagt habe, und muss auch
nichts zurücknehmen.
Dabei ist eines wichtig - ich möchte in diesem Zusammenhang aufgreifen, was der Kollege Vaatz gesagt
hat -: Die Entschuldung ist, ob wir wollen oder nicht,
bereits ein Teil des Stufenplans, zumindest für die nächsten Jahre. Das ist völlig klar. Wir haben uns auch immer
dazu bekannt, dass wir uns an der Kampagne zur Entschuldung beteiligen. Wir lassen aber keine unkonditionierte Entschuldung zu. Um das Instrument der Entschuldung zu schärfen, haben wir im AWZ eine
Anhörung zu diesem Thema beschlossen. Ich glaube,
das ist eine gute Verfahrensweise. Wir sollten uns deshalb nicht jetzt schon gegenseitig Vorwürfe machen.
Aber bei allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen
- beispielsweise durch Mischfinanzierung aus privaten
und öffentlichen Mitteln -, kommen wir nicht umhin,
auch mehr Haushaltsmittel einzusetzen. Dabei müssen
wir darauf achten - insofern gebe ich Ihnen Recht -,
rechtzeitig eine vernünftige Politik der Verpflichtungsermächtigungen zu betreiben. Wir können in den nächsten
Wochen darüber diskutieren, wie wir dabei vorgehen
können.
({2})
Wichtig ist aber auch: Wenn wir in einer Zeit knapper
Kassen mit dem vorgesehenen Aufwuchs bis 2015 die
ODA-Quote erfüllen wollen - dabei geht es schließlich
um beträchtliche Summen -, dann müssen wir deutlich
machen, dass dies zum Nutzen aller - und zwar auch aller deutschen Bürger - ist. Wir müssen auch deutlich
machen - das ist bereits angeklungen -, dass es im Interesse von uns allen ist, soziale Zeitbomben und Fluchtursachen aus dem Weg zu räumen und Lebensperspektiven auch für den Süden zu schaffen. Denn es kostet
allemal mehr Geld, mit Notoperationen, UN-Missionen
oder gar Militäreinsätzen zu versuchen, die Probleme
einzudämmen.
Wir müssen auch daran erinnern, dass Entwicklungspolitik strategische Partnerschaften schafft. Man kann
sich zwar gerne über die Politik gegenüber den Schwellenländern unterhalten, aber man muss deutlich machen,
dass auch die Entwicklungspolitik Arbeitsplätze im eigenen Land schafft und erhält. Auch darauf müssen wir in
einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit hinweisen.
Wir müssen zudem deutlich machen, dass wir bestrebt sind, im Entwicklungshaushalt ein Portfolio zu
schaffen, das Win-Win-Situationen fördert, durch die
wir Deutschen und unsere Arbeitsplätze, aber auch die
Arbeitsplätze in Entwicklungsländern gewinnen. Ich
glaube, es ist wichtig, den Bundesbürgern deutlich zu
machen, dass es nicht nur um einen Akt der Humanität
geht, sondern dass die Entwicklungspolitik in unserem
ureigensten Interesse liegt.
({3})
Lassen Sie mich noch kurz betonen, dass es nicht nur
um Geld geht. Wir sollten nicht nur über Geld und die
ODA-Quote reden, sondern auch darüber, dass wir in
unserem Koalitionsvertrag Qualitätsverbesserungen vereinbart haben. Dazu gehört, die internationale wie auch
die nationale Arbeitsteilung zu verbessern; außerdem
müssen die Verteidigungs-, Sicherheits- und Außenpolitik besser verzahnt werden.
Damit komme ich zum Kongoeinsatz. Wir alle sind
als Entwicklungspolitiker von Grund auf friedfertige
Menschen. Aber wir haben viel Herzblut und viel Mühe
investiert, viele Reisen unternommen und auch viel Geld
aufgewendet, um den Kongo - auch in unserem Interesse - zu stabilisieren. Dieser Prozess ist natürlich weiterhin instabil; das bestreitet niemand. Dort geht es bei
Wahlen nicht zu wie in Deutschland. Aber der Kongo
hat nun eine Chance. Genau deswegen haben wir alle ein
Interesse daran, dass bei den anstehenden Wahlen der
Sack zugemacht wird, und deswegen sind die meisten,
wenn nicht sogar alle Entwicklungspolitiker der Koalition aus rein humanitären Gründen für einen Einsatz im
Kongo. Ich bitte, das zu bedenken. Frau Hänsel, wegen
Ihrer Rede wird jedenfalls kein Mensch im Kongo aufstehen und Sie bejubeln.
({4})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 30. März 2006,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.