Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/29/2006

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir einen Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung behandeln. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD haben fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung des Antrags „Belarus nach den Präsidentschaftswahlen“ zu erweitern. Der Antrag soll in der Aussprache zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes beraten werden. Die Dauer der Aussprache zu diesem Geschäftsbereich soll um eine halbe Stunde verlängert werden. Wir kommen zur Abstimmung über den Aufsetzungsantrag. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist angenommen mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke. ({0}) Wir setzen die Haushaltsberatungen - Tagesord- nungspunkt 1 - fort: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2006 ({1}) - Drucksache 16/750 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Finanzplan des Bundes 2005 bis 2009 - Drucksache 16/751 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss Ich erinnere daran, dass wir für die heutige Aussprache insgesamt neun Stunden beschlossen haben. Wir beginnen die heutige Haushaltsberatung mit dem Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin und des Bundeskanzleramtes, Einzelplan 04. Das Wort hat als erster Redner der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Dr. Wolfgang Gerhardt. ({2})

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jede Bundesregierung hat natürlich -

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Gerhardt, einen Moment bitte. - Kann ich darum bitten, dass vor der Regierungsbank kein Personalverkehr und keine Diskussionen stattfinden? Danke. ({0})

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jede neue Bundesregierung hat natürlich die Chance eines Neuanfangs. Sie bekommt sozusagen die ersten 100 Tage als Rabatt. Dann beginnt die Diskussion; dann sieht man genauer hin. Wenn wir jetzt genauer hinsehen, Frau Bundeskanzlerin, müssen wir eines feststellen: Maßstab der Beurteilung ist nicht das Arrangement, das die beiden großen Parteien in der Koalitionsvereinbarung getroffen haben, Maßstab ist die Wirklichkeit. Diese zeigt eines: Ein Personalwechsel reicht nicht; ein Politikwechsel ist für die Bundesrepublik Deutschland notwendig. ({0}) Die entscheidenden Themen für die Menschen sind Arbeit und Zukunftschancen. Aber es wird noch so getan, als gäbe es nur Deutschland und seine Branchen. Die Tarifverhandlungen werden so geführt. Die alten Wohlfahrtsversprechen werden von Ihrer Koalition noch so gemacht. Die soziale Begleitung von Arbeitslosigkeit nimmt Sie so in Anspruch, dass das Prinzip „Vorfahrt für Arbeit“, über das wir uns mit Ihnen noch wenige Wochen vor der Wahl einig waren, wieder in den Redetext Hintergrund getreten ist. Es gehört aber nach vorne. Deshalb muss ein Politikwechsel erfolgen. ({1}) Er muss in einem Land erfolgen, das eigentlich darauf achten muss, dass Marktwirtschaft, Innovation und moderne Arbeitsmarktpolitik nicht an kultureller Bodenhaftung verlieren. Unser Land hat wie kein anderes sein Selbstbewusstsein aus wirtschaftlichem Erfolg gezogen. Aber als ich die gestrige Debatte verfolgt habe - die Rede des Finanzministers und insbesondere die Rede des Kollegen Poß -, habe ich festgestellt, dass bei Ihnen die ganze alte, wirkungslose sozialdemokratische Apotheke der Arbeitsmarktpolitik voll in Kraft bleibt. Diese hat zu 5 Millionen Arbeitslosen geführt. ({2}) Sie sprechen von Kontinuität. Ich weiß, warum Sie „Kontinuität“ sagen müssen. Sie müssen vermeiden, Ihrem Koalitionspartner heute selbst zu sagen, dass er mit dieser ältlichen Politik die Verantwortung für 5 Millionen Arbeitslose trägt. Wenn Sie das nicht tun, sind diese Arbeitslosen ab heute auch Ihre Arbeitslosen. ({3}) Sie müssen Ihre Arbeitsmarktpolitik ändern. ({4}) Lassen Sie mich nur wenige Punkte ansprechen - da reicht nämlich kein Schulterklopfen in den Reihen der Koalition und keine Wohlfühlpolitik -: Die ältliche Politik, die Sie machen, zeigt sich zum Beispiel an den IchAGs. Sie haben die Abgaben für Minijobs erhöht. Sie müssen sich in diesem Zusammenhang auch die Diskussion über Mindestlöhne vor Augen halten. Frau Bundeskanzlerin, ich kann Ihnen schon jetzt sagen, wozu die Einführung von Mindestlöhnen führen würde: Dadurch würde kein einziger Arbeitsplatz geschaffen, sondern es würden die Arbeitsplätze derjenigen vernichtet, die sie am dringendsten brauchen: die der Geringverdiener. Das weiß jedermann. ({5}) Aber das dringt in Ihrer Koalition nicht durch. Ihre alte Arbeitsmarktpolitik hat nur eine Wirkung: Sie stiftet Frieden zwischen Ihren Sozialausschüssen und dem Programm der Sozialdemokratischen Partei. Als Kanzlerin haben Sie aber keine Verantwortung für ein Arrangement dieser beiden Flügel, sondern Sie haben Verantwortung für Deutschland. Daher ist diese Politik falsch. ({6}) Ein weiterer Aspekt, der gerne erwähnt wird, ist die volkswirtschaftliche Steuerquote. Jeder kennt sie ({7}) und jeder sagt, dass sie in Deutschland statistisch gering ist. Ja, das ist richtig. Aber die entscheidende Steuerquote für Investitionen, durch die in Deutschland Arbeitsplätze geschaffen werden, ist statistisch nicht gering. Sie ist hoch. ({8}) Deshalb ist die Frage, ob wir die Steuern senken wollen, keine Frage eines beliebigen Parteiprogramms. Wir wollen die Steuern doch nicht, wie Sie meinen, senken, um Geld zu verteilen. Wir wollen sie senken, weil die größte soziale Sicherheit nicht die alte Arbeitsapotheke der SPD bietet, sondern ein Arbeitsplatz in der Bundesrepublik Deutschland. ({9}) Das ist unser Ziel. Deshalb kommen Sie nicht darum herum - das ist auch an Sie in den Reihen der Union gerichtet -, sich wieder an die Politik zu erinnern, die Sie wie wir in der letzten Legislaturperiode für richtig gehalten haben, als wir uns gemeinsam für Steuervereinfachungen und Steuersenkungen eingesetzt haben. ({10}) Dass Sie diese Politik mit Ihrem jetzigen Partner nicht durchsetzen können, müsste Ihnen zumindest ein schlechtes Gewissen verschaffen. Daran will ich hier erinnern. ({11}) Sie wissen, dass der Flächentarif mittleren und kleinen Unternehmen schadet. Das nimmt die linke Seite dieses Hauses aber nicht zur Kenntnis. Sie sollten die Courage haben, das zu sagen. Denn es ist wahr, dass Arbeitsplätze durch Flächentarife eher vernichtet als geschaffen werden ({12}) und dass wir den Mittelständlern Chancen geben müssen. Sie haben beschlossen, ein 25-Milliarden-Euro-Programm aufzulegen. Dabei geht es um Verteilungen zugunsten von Familien mit Kindern, um die steuerliche Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen und vieles andere. Aber können Sie sich einmal ins Gedächtnis rufen, dass Sie den Bürgern mit diesen 25 Milliarden Euro nur ein Fünftel von dem geben, was Sie ihnen in den vier Jahren dieser Legislaturperiode wegnehmen? Davon können Sie doch keine Arbeitsmarkteffekte erwarten. ({13}) Sie nehmen zu viel und Sie geben zu wenig. Sie verfahren nach dem Prinzip Hoffnung und versuchen, mit diesen 25 Milliarden Euro die Mehrwertsteuererhöhung zu Beginn des nächsten Jahres auszugleichen. Das ist kein Programm und kein Ziel. Das werden Sie nicht erreichen. Das Verbraucherverhalten ist in Deutschland anders als in Amerika. Die Deutschen haben eine „sparsame“ Mentalität. Wir üben selbst bei geringen Wachstumsraten und zarten Wachstumspflänzchen immer noch große Zurückhaltung. Meinen Sie, die Bürger geben diese Zurückhaltung im Verhältnis fünf zu eins auf, nur weil Sie sie ermuntern, noch in diesem Jahr zu konsumieren? Wenn sie das täten, würden sie sich im nächsten Jahr zurückhalten. Das ist eine ganz gefährliche Politik, die nicht ausreicht, um einen Umschwung einzuleiten. ({14}) Über unsere großen sozialen Sicherungssysteme hat Barbier in der vorletzten Woche einen bemerkenswert klugen Satz in der „FAZ“ geschrieben: Die Generation der „wenigen“ wird in der Reformverweigerung ihrer Eltern kein Argument sehen, einen Generationenvertrag einzuhalten, den sie nie geschlossen hat. Wie wahr! Jetzt warten wir auf die Antwort der großen Koalition. Die meisten Bürger sagen: Diese Koalition ist so groß; sie muss das jetzt packen. Dabei muss es um die Reform unserer sozialen Sicherungssysteme gehen. Herr Müntefering weiß wie ich, dass das zarte Pflänzchen, das er als großes Reformvorhaben angekündigt hat - die Rente mit 67 -, eigentlich eher dazu gedient hat, dass er es umgehen konnte, im Rentenbericht zu erwähnen, dass die Beiträge erhöht werden müssen. ({15}) Das ist doch kein Reformbeitrag. Vielmehr geht es um höhere Abschläge als vorher. Man leistet doch keinen Beitrag zur Reform eines Rentensystems, indem man die gesetzliche Rente unter Naturschutz stellt, so wie das ein Teil der Union und die ganze SPD machen, obwohl man weiß, dass sie nur noch eine Grundsicherung im Alter sein wird. Eine Beitragsentwicklung nach oben ist kaum zu stoppen. Sie sagen, Sie möchten die Arbeitslosenversicherung umorganisieren und durch Mittel aus der Mehrwertsteuererhöhung entlasten. Uns wurde jahrelang gesagt - Frau Bundeskanzlerin, Sie waren mit uns in der Opposition -, dass die Rentenversicherungsbeiträge durch die Einnahmen aus der Ökosteuer stabil gehalten werden sollen. Die Ökosteuer ist dauernd erhöht worden; die Beiträge sind aber nicht stabil geblieben. Wer das sehenden Auges weiter hinnimmt und auf Kontinuität verweist, der ist zu einem Reformschritt wirklich nicht in der Lage. ({16}) Es ist doch ganz simples Einmaleins - das weiß die Bevölkerung auch -: Wenn die Menschen in Deutschland später in den Beruf eintreten, früher aus dem Beruf ausscheiden und die Lebenserwartung steigt, dann ist ein solches System nicht mehr über stabile Beiträge zu finanzieren. Ich kann nur jedem jungen Menschen raten, sein Geld zur Bank zu tragen und es anzulegen; denn so hat er eine größere Sicherheit als über die gesetzliche Rente. ({17}) Sie informieren die Öffentlichkeit nicht richtig. In dieser Woche führen Sie Gespräche zur Gesundheitsreform. Ich befürchte, dass die Reform am Ende so aussehen wird, wie Spekulationen das andeuten: Es wird ein versicherungspolitisches Ungetüm geben mit ein bisschen Bürgerversicherung, ein bisschen Kopfpauschale und ein bisschen Umlage. Frau Bundeskanzlerin, es wird keine vernünftige Reform werden, wenn Sie nur neue Geldquellen erschließen wollen. Sie müssen sich der unbequemen Aufgabe stellen, den Menschen Wahlfreiheit zu geben. Sie müssen sich selbst entscheiden können, bei wem sie sich wie hoch versichern. ({18}) Die Diskussion über die Föderalismusreform ist eigentlich noch gar nicht abgeschlossen. Wir haben vielleicht ein erstes Stück des Weges geschafft. Wenn nicht auch die Frage der Finanzbeziehungen geklärt wird, wird diese Reform ihre Wirkung verfehlen. Aber selbst die jetzige Reform ist hoch umstritten. Ich möchte auf den Punkt Bildung zu sprechen kommen. Egal welche Ebene verfassungsrechtlich für die Schulen oder für die Hochschulen zuständig ist, es muss klar sein: Die Hochschulen gehören weder dem Bund noch den Ländern. Die Hochschulen gehören in ihre eigene Verantwortung. Wenn die Länder sie übernehmen wollen, müssen sie den Hochschulen Autonomie geben. ({19}) Wenn die Länder verfassungsrechtlich für die Schulen zuständig bleiben wollen, müssen sie ihre Kultusminister in Bewegung setzen und gleiche Qualitätsmaßstäbe für die Schulen in der Bundesrepublik Deutschland erarbeiten. Es kann doch nicht sein, dass die Kinder, wenn die Familie umzieht, mit derart unterschiedlichen Qualitätsmaßstäben an den Schulen konfrontiert werden. Das muss ein Ende haben. ({20}) - Der Bund ist nicht klüger als die Länder, Frau Künast. ({21}) Wenn die Länder verfassungsrechtlich zuständig sind, dann müssen sie die Maßstäbe festlegen. Daran führt kein Weg vorbei. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Union, der SPD und der Grünen, es ist ein Irrglaube, anzunehmen, dass Sie letztendlich das erreichen, was Sie wollen, wenn Sie bestimmte Forschungsfelder in den Biowissenschaften in Deutschland verbieten. Sie können wissenschaftliche Neugier nicht verbieten. Es waren nicht nur die Grünen, die uns daran gehindert haben, in diese Wachstumsmärkte zu gehen; es waren auch viele aus den Bereichen der großen Koalition, die eine Art moralische Letztbegründung abgegeben haben. Denjenigen möchte ich von den Freien Demokraten entgegensetzen: Es ist Ausdruck von Moral und Ethik, wenn Gesellschaften sagen, dass es legitim ist, eine Brandmauer bezüglich des Nichteingreifens in die Keimzelle menschlichen Lebens einzuziehen. Es muss aber möglich sein, Medikamente zu entwickeln, die das Leiden von Menschen lindern. Auch das ist eine hohe moralische und eine klare ethische Position. Wer die Forschung in diesen Feldern in Deutschland verweigern will, der muss auch die Konsequenzen darlegen. Es werden nämlich andere von dem technologischen Vorsprung und dem Wissensvorsprung profitieren. Auf unseren Markt werden die Ergebnisse erst Jahre später und zu viel höheren Preisen kommen. Zwischenzeitlich werden wir Arbeitsplätze verlieren. Das ist der Sachverhalt. ({22}) Sie können dort nicht nur Kontinuität fordern, es muss auch Änderungen geben. Frau Bundeskanzlerin, Sie sind Naturwissenschaftlerin und wissen das viel besser: Entweder ist ein Kernkraftwerk sicher oder nicht. Wenn es nicht sicher ist, muss es abgeschaltet werden. Wenn es sicher ist, kann es doch keine Restlaufzeit geben, die Sie bestimmen. ({23}) Zu diesem Punkt gehört auch: Sie führen jetzt den Energiegipfel durch und wissen so wie ich, dass der Verbrauch fossiler Brennstoffe in der Welt ansteigt. Dem kann man doch nur mit einem Mix begegnen, zu dem auch die Kernenergie gehört. Es kann doch nicht wahr sein, dass die Kompetenz Deutschlands im Bereich der Kernenergie nur wegen eines Koalitionspartners, der dauernd von Kontinuität spricht, verloren geht. Es geht nicht um den Neubau von Kraftwerken, es geht um die Kompetenz in dieser Technologie. ({24}) Die Bürgerrechte gehören zu einer Vertrauensbeziehung zwischen dem Staat und den Bürgern. In der alten Koalition haben Sie unter kräftiger Mitwirkung der Grünen Einblicke in Konten ermöglicht, wodurch der gläserne Bürger geschaffen wurde. Mit Datenabfragen haben Sie den gläsernen Steuerzahler geschaffen. In der alten rot-grünen Koalition haben Sie die Abwehrrechte der Bürger geschwächt. Meine Damen und Herren von der SPD, es wäre eine Kurskorrektur notwendig: Nicht der Staat gewährt den Bürgern gnädig Freiheit, ({25}) sondern die Bürger gewähren dem Staat Einschränkungen ihrer Rechte zum Schutz und im Interesse aller. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Deshalb gilt hier: Erforderlich ist keine Kontinuität, sondern eine Kurskorrektur. ({26}) Das gilt auch für einen Teil der deutschen Außenpolitik. Wir alle wissen, dass das im europäischen Rahmen notwendig ist. ({27}) Das bedeutet aber kein Outsourcing nach Brüssel. Es ist eine Kurskorrektur notwendig, die ja auch durchgeführt wird. Es wird nicht darüber geredet; das ist richtig. Frau Bundeskanzlerin, ich will Sie an dieser Stelle ausdrücklich loben. Sie haben erkannt, dass es notwendig ist, ab und zu eine Zwischenlandung in den baltischen Staaten sowie in Budapest und Prag einzulegen, wenn man Moskau besucht. Das hat Ihr Vorgänger nie begriffen. Diese Kurskorrektur haben Sie vorgenommen. Wir begrüßen das ausdrücklich. ({28}) Es muss aber noch eine andere erfolgen. Die Politik in der Europäischen Union muss in den ganzen Diskussionen eines klarstellen - das ist auf dem letzten Gipfel mit der Stilblüte der Linguistik in der französischen Sprache wieder deutlich geworden -: Die Identität Europas besteht nicht aus einer rückwärts gewandten Definition eines alten Sozialpaktes; die Identität und die Zukunftschance Europas bestehen aus der Wettbewerbsfähigkeit, dem Willen zum Wettbewerb, dem Willen zur Innovation und aus all dem, was die ganze politische und Kulturgeschichte Europas ausmacht. ({29}) Nein, meine Damen und Herren, es ist nicht wahr, dass es in Deutschland keine reformorientierte Mehrheit gibt. Wahr ist, dass die große Koalition nicht den Willen zu einer wirklich innovativen Politik hat. Sie lösen sich möglicherweise wegen Ihres Koalitionspartners zu schwer vom Alten. Sie bemühen sich dauernd um Konsens und Ausgleichsaktivitäten. Ich weiß, dass Sie alle Hände voll zu tun haben, um jedem Wunsch entgegenzukommen. ({30}) Ich sage Ihnen aber: Weltweit werden sich nur die Gesellschaften behaupten, die Kompetenz im Wandel entfalten. Dafür müssen Sie Ihre Politik ändern. Es geht nicht nur ums Geld. Wir trainieren in Deutschland zu wenig eine Mentalität, durch die das Land auch jenseits von materiellen Anreizen wieder nach vorne gebracht wird. Darauf kommt es aber an. ({31}) Das tun Sie nicht. Genau das ist aber die Aufgabe einer Opposition. Wir von der FDP werden das tun. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({32})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Peter Ramsauer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Ramsauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001772, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Gerhardt, ich glaube, wir haben viel mehr Gemeinsamkeiten in unseren politischen Vorhaben und in unserem politischen Denken, als dies Ihre erregte Eröffnungsrede heute vermuten lässt. ({0}) - Das lasse ich einmal so in die Öffentlichkeit hallen. Sie haben, lieber Herr Kollege Gerhardt, einen Politikwechsel eingefordert. Dieser erste Haushalt der großen Koalition ist das Kursbuch für einen neuen Kurs, für den Politikwechsel, von dem Sie gesprochen haben. Er ist ein Kursbuch für einen Kurs der Verantwortung und des Vertrauens. Herr Kollege Gerhardt, Sie haben auch kulturelle Bodenhaftung eingefordert. Das könnte ein Wort aus meiner Fraktion und meiner Partei, der CSU, sein. Der CDU und der CSU liegt bei jeder von ihnen gemachten Politik ganz besonders an kultureller Bodenhaftung. Sie haben davon gesprochen, wir hätten vor, die gesetzliche Rentenversicherung unter Naturschutz zu stellen. Das klang fast wie eine Anklage. Dazu muss ich Ihnen allerdings sagen: Es gehört zu unserer sozialpolitisch-kulturellen Bodenhaftung, dass wir uns klipp und klar zur gesetzlichen Rentenversicherung bekennen. Darauf müssen sich die Menschen verlassen können. ({1}) Auch ich bin des liberalen Denkens fähig und denke liberal und wirtschaftsliberal. Aber eines habe ich in den vielen Jahren im Ausschuss für Arbeit und Soziales gelernt: dass die Vergleiche hinsichtlich der Rendite zwischen der privaten Altersversorgung und der gesetzlichen Rente verdammt stark hinken. Am Ende kochen alle mit Wasser. Wenn man in die private Altersversorgung, die eben das Institut der Solidarität nicht kennt, die Risiken des Lebens einrechnet, ({2}) dann können wir nur froh sein, dass wir die gesetzliche Rentenversicherung in unserem Lande haben, und dabei bleibt es. ({3}) Die große Koalition leitet mit dem Haushalt 2006 und - das füge ich ausdrücklich hinzu - mit dem Haushalt 2007 die Wende aus einer schwierigen Lage der Bundesfinanzen ein. Vor wenigen Jahren wurde versprochen, im Jahr 2004 nur 10 Milliarden Euro und im Jahr 2005 nur 5 Milliarden Euro Neuverschuldung einzuplanen. Tatsächlich waren es dann aber 39 Milliarden Euro anstatt 10 Milliarden Euro und 31 Milliarden Euro anstatt 5 Milliarden Euro. So weit klafften Wunsch und Wirklichkeit leider auseinander. Die neue Regierung setzt deshalb neue Akzente. Wir nehmen unsere Vereinbarungen und Zusagen ernst. Der Bundestag berät in dieser Woche einen Haushalt der ehrlichen Zahlen. Haushalt und Haushaltsbegleitgesetz führen zu einer Abkehr von wachsender Staatsverschuldung. Herr Bundesfinanzminister Steinbrück, Sie haben gestern eine höchst beachtliche Einbringungsrede gehalten. Sie hat mir imponiert. Das sage ich in aller freundschaftlichen Offenheit. Ich möchte Ihnen dazu ganz herzlich gratulieren. ({4}) Ich hätte Ihnen gestern gerne noch länger zugehört. Sie haben ganz offen viele richtige Dinge angesprochen, beispielsweise die Entwicklung unserer Investitionsquote. Das Wichtigste war vielleicht die Überschrift, die Sie gewählt haben: Wir müssen - das waren Ihre Worte mit diesem Haushalt den Weg in die Realität beschreiten. ({5}) Ich kann Ihnen für meine Fraktion versprechen: Auf diesem Weg in die Realität und bei der Verwirklichung der finanzpolitischen Erfordernisse haben Sie uns fest an Ihrer Seite. Hier können Sie sich auf die CDU/CSU-Fraktion verlassen. ({6}) Die neue Regierung pflegt auch einen neuen Stil, nämlich die Übereinstimmung von Reden und Handeln. Die neue Regierung schafft neues Vertrauen. ({7}) Deutschland wird auf internationaler Ebene wieder ernst genommen. ({8}) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben der Stimme Deutschlands mit klaren Worten und einem klaren Kurs wieder Beachtung verschafft. ({9}) Wie wir vom Kollegen Gerhardt gehört haben, liegen wir damit völlig auf einer Linie. Das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten wird Gott sei Dank wieder von einer guten Partnerschaft geprägt. Sie sprechen nicht nur gelegentlich über Menschenrechte, Frau Bundeskanzlerin, sondern auch, wenn Sie in Moskau sind. ({10}) Außen- und Sicherheitspolitik finden in unserem politischen Geschehen leider nicht immer die angemessene Beachtung. Deutschland ist mehr als jedes andere Land vom Exporterfolg abhängig. ({11}) - Aber man kann es nicht oft genug sagen, Frau Künast, und zwar gerade an die Adresse Ihrer Partei gerichtet. Denn dort sitzen viel zu viele Realitätsverweigerer. Auch sie sollten das endlich zur Kenntnis nehmen. - Wir sind mehr als jedes andere Land von sicheren Handelswegen, fairen Wettbewerbsregeln und einer verlässlichen Rohstoffversorgung abhängig. Auch ist kaum jemand reiselustiger als wir Deutschen. Deutschland braucht Partner, damit für seine Bürger und Betriebe die Welt sicher, aber auch voller Chancen ist. Klar ist deshalb: Wer Partner braucht und von Partnerschaft profitiert, muss auch selbst ein verlässlicher Partner sein. Dazu gehört die Bereitschaft zur Übernahme internationaler Verantwortung, soweit Deutschland dazu in der Lage ist. Aber wir dürfen uns nicht überfordern lassen. Frau Bundeskanzlerin, es war klug und richtig, Ihre Kanzlerschaft mit einem Schwerpunkt in der Außenund Europapolitik zu beginnen. Je größer Deutschlands Einfluss in der Außen- und Europapolitik ist, desto besser kann es auch weltweit Einfluss geltend machen und desto erfolgreicher können wir die Probleme unseres Landes in einer immer stärker globalisierten Welt lösen. Deutschland steht wieder im Zentrum europäischer Entscheidungen. Wir werden in absehbarer Zeit die Präsidentschaft in der Europäischen Union übernehmen. Die Lage unseres Landes mitten in Europa ist für uns ein unschätzbarer Vorteil, solange die Europäische Union stabil und erfolgreich ist. Ich glaube, Europa hat mit den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza große Sprünge nach vorn gemacht. Das war nicht immer einfach, aber der Weg - die Einführung einer gemeinsamen Währung und die Aufnahme von zehn neuen Mitgliedstaaten vor zwei Jahren - war richtig. Das Nein zum Verfassungsvertrag in Frankreich und in Holland kam nicht etwa dadurch zustande, dass die Menschen dort den Verfassungsvertragsentwurf von der ersten bis zur letzten Seite durchgelesen und sich dann nach Abwägung aller Umstände überwiegend für die Ablehnung entschieden hätten; das Nein kam in diesen Ländern vielmehr dadurch zustande, dass sich die Menschen durch die Entwicklungen in Europa, durch einen immer stärkeren Zentralismus und eine uferlos erscheinende Erweiterung überfordert gefühlt haben. Deswegen muss es für uns in der Europapolitik darum gehen, die Menschen mit dieser Entwicklung nicht zu überfordern. Europa muss sich über die Herzen der Menschen entwickeln und gedeihen. Wenn wir das beherzigen, dann werden wir einen erfolgreichen europapolitischen Kurs verfolgen. ({12}) Die neue Regierung in Deutschland gibt auch den Bemühungen Europas den Schwung, der wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum zu werden. Es ist eine gute Nachricht für ganz Europa, dass die neue Regierung in Deutschland wieder Politik für die größte europäische Volkswirtschaft macht und Deutschland damit zu einem Wirtschaftsmotor in Europa werden kann. Deswegen geht die neue Regierung auch mutige Reformaufgaben an. Wir haben die Föderalismusreform angepackt. Wir werden diese Reform gemeinsam zu einem guten Ende bringen.Wir sind das nicht zuletzt - das sage ich ganz deutlich im Deutschen Bundestag und vor der deutschen Öffentlichkeit - unseren Kommunen schuldig; denn die beklagenswerten Kommunen in Deutschland sind so ausgeblutet wie keine andere öffentliche Hand. Wir werden mit der Föderalismusreform deshalb auch den Kommunen helfen. Erst wenn die Kommunen wieder hinreichende Spielräume in ihren Budgets haben, entstehen beispielsweise auch Spielräume für geringere Kindergartengebühren - erst dadurch und nicht durch das Verschieben von Finanzmassen, die gar nicht vorhanden sind. ({13}) Lang ist über die Notwendigkeit gesprochen worden, das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre anzuheben. Selbst Gerhard Schröder schloss das damals nicht aus. Die große Koalition packt dies an. Wohlgemerkt ist es nicht so, wie manchmal getan wird, dass das schon morgen Wirklichkeit ist. Vielmehr erhöht sich das Renteneintrittsalter schrittweise ab 2012 und zieht sich dann - das wird ständig verschwiegen - über 18 Jahre hin. Wir werden deshalb manchmal im Ausland belächelt, weil man der Meinung ist: Wenn mit einem Prozess, der unvermeidlich ist, erst in sechs Jahren begonnen wird und sich dieser dann über 18 Jahre erstreckt, ist das eine regelrechte Reformbremse. Die große Koalition wird auch die Reform der Gesundheitsversorgung rechtzeitig auf den Weg bringen. Die Krankenkassen dürfen nicht mehr in einem so tiefen Defizitsumpf versinken, wie das im Jahr 2003 der Fall war. Richtig ist zwar, dass die Partner in der großen Koalition mit unterschiedlichen Konzepten antreten. Aber ich bin zuversichtlich, ja ich bin mir sicher, dass wir die richtigen Elemente in den Vorschlägen beider Partner in einem sehr guten Konzept miteinander verbinden werden. Die Landtagswahlen vom vergangenen Sonntag haben den Vertrauensvorschuss für die große Koalition erneuert. Die Mehrheit der Wähler setzt auf eine gute und maßvolle Reformpolitik. Wie gefestigt übrigens die Reformbereitschaft der großen Koalition selbst in kleinen Dingen ist, hat jüngst der Kollege Müntefering unter Beweis gestellt. Er beginnt neuerdings seine Briefe an die Fraktionsmitglieder der großen Koalition mit „Liebe Kolleginnen und Kollegen“ und nicht mehr mit „Liebe Genossinnen und Genossen“. ({14}) Das stimmt hoffnungsfroh; denn wer so mutig alte Zöpfe abschneidet, der springt auch über den eigenen Schatten, wenn es erforderlich ist. ({15}) Reformen bringen immer Veränderungen. Die einen empfinden diese Veränderungen als Chance. Die anderen empfinden sie als schmerzlichen Abschied von Bewährtem, von Besitzständen. Dies gilt auch im Hinblick auf unseren regulierten Arbeitsmarkt. Die Koalition hat sich im Interesse der Arbeitsuchenden auf Schritte hin zu einem flexibleren Arbeitsrecht und eine Überprüfung arbeitsmarktpolitischer Instrumente verständigt. Ob allerdings diese Schritte ausreichen werden, um die Bereitschaft zu Neueinstellungen vor allem in kleinen und mittleren Unternehmen zu stärken, werden wir ganz genau beobachten. Denkverbote dürfen wir uns jedenfalls hier nicht auferlegen. Solche Verbote würden den 5 Millionen Arbeitsuchenden in unserem Land nämlich nicht weiterhelfen. ({16}) Reformen werden akzeptiert, wenn sie als notwendig und gerecht empfunden werden. Oft hört man den Vorwurf, diejenigen mit starken und breiten Schultern würden hierzulande zu wenig tragen. Häufige Wiederholungen machen dieses Argument auch nicht wahr. Ich möchte dies mit zwei Zahlen belegen. Ein Blick auf die Einkommensteuerstatistik des Finanzministeriums verhilft zu einer besseren Einsicht. Die 5 Prozent der Steuerpflichtigen mit dem höchsten Einkommen schultern knapp 43 Prozent des gesamten Einkommensteueraufkommens. ({17}) Auf die Steuerpflichtigen in der oberen Hälfte der Einkommensstatistik entfallen sage und schreibe 92 Prozent des Einkommensteueraufkommens. Man mag ja über exzessive Auswüchse in Einzelfällen streiten. Aber unser Steuersystem unter den Generalverdacht der Ungerechtigkeit zu stellen, das geht an den Realitäten weit vorbei. ({18}) Reformen können den Hauptteil der Bundesausgaben leider nicht aussparen. Die große Koalition wird dem Sozialstaat neue Ziele setzen: weniger Verteilungsstaat herkömmlicher Prägung, mehr Gewicht auf Sozialinvestitionen, um es mit einem Wort des Tübinger Philosophen Otfried Höffe zu sagen - damit der Begriff „Sozialinvestitionen“ den richtigen Klang bekommt. Deshalb tut die neue Regierung mehr für junge Familien. Der erste Schritt war die Verbesserung der steuerlichen Anerkennung der Kosten für Kindererziehung. Dieser Weg wird beim Elterngeld fortgesetzt. Der Standpunkt von CDU und CSU ist klar: Der Staat muss die Lebensplanung junger Familien respektieren. An der Wahlfreiheit von Vater und Mutter darf nicht gerüttelt werden. ({19}) Im Monatsbericht des Finanzministeriums vom September 2005 wird der finanzielle Umfang der geltenden Familienförderung mit 59 Milliarden Euro angegeben, wovon 41 Milliarden Euro auf steuerliche und 18 Milliarden Euro auf sozialpolitische Maßnahmen entfallen. Die große Koalition will in die Vielzahl der Maßnahmen mehr Transparenz bringen, damit alle von dieser Förderung besser profitieren können. Die Reformpolitik der großen Koalition orientiert sich am Leitbild der Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit bezieht sich nicht nur auf Ökologie, sondern auch auf weite Gebiete der Sozialpolitik; dabei geht es um Generationengerechtigkeit und um eine solide Finanzpolitik. Die Wirtschaftspolitik muss auf ein nachhaltiges Wachstum zielen und nicht auf kurzfristige Strohfeuer. Die Staatshaushalte dürfen nicht zu einer immer stärker drückenden Last für die nachfolgenden Generationen werden. ({20}) Die Beziehungen zwischen den Generationen müssen auf eine für die ältere und für die jüngere Generation gleichermaßen faire und gerechte Grundlage gestellt werden. Die Politik der neuen Regierung gewinnt Vertrauen durch Wahrheit und Klarheit - Steinbrücks Worte: „Weg in die Realität“. Die große Koalition sorgt für klare Perspektiven angesichts der Chancen und Risiken der Globalisierung. Deshalb werden wir auch mehr für Forschung und Entwicklung tun. Wir sind gerade dabei, mit der Dienstleistungsrichtlinie die Märkte in Europa für exzellente deutsche Dienstleistungen zu öffnen. ({21}) Wir sagen die Wahrheit über den Zustand der Staatsfinanzen, aber auch über die Lage bei Rente, Gesundheit und Pflege. Der Grundakkord unserer Politik lautet: Sanieren, Investieren, Reformieren. Nur durch Reformen gelingt die Überwindung der Investitionsschwäche. Nur durch mehr Investitionen kommen wir zu mehr Beschäftigung und nur durch entschlossenes Sanieren erwirtschaften wir bei den öffentlichen Finanzen die Handlungsspielräume, die wir zur Finanzierung dringender Zukunftsinvestitionen benötigen. ({22}) Der Stimmungswandel und das anziehende Wirtschaftswachstum erleichtern die Konsolidierung. Aber das alleine reicht nicht aus, ({23}) um das strukturelle Defizit des Bundeshaushaltes in Höhe von etwa 60 Milliarden Euro zu beheben. Unsere erste Priorität lautet natürlich: eisern sparen, sparen und sparen. ({24}) Aber die dramatische Lage des Bundeshaushalts macht auch eine Erhöhung der Einnahmen unvermeidlich. Wir haben das bereits im Wahlkampf unmissverständlich deutlich gemacht - ich spreche jetzt für CDU und CSU -; das war ein Stück Wahrheit, für die wir vielleicht etwas haben büßen müssen. ({25}) Aber heute sind wir froh und glücklich, dass wir dies offen gesagt haben. ({26}) Was wir für Soziales, Zinsen und Tilgungen sowie für Personal aufzuwenden haben, übersteigt die Steuereinnahmen. Da wird jedem deutlich, dass wir um Einnahmeerhöhungen nicht herumkommen. Der Verzicht auf die Mehrwertsteuererhöhung wäre nicht ohne drastische Einschnitte bei den Sozialausgaben möglich. Wer wollte massive Rentenkürzungen oder etwa die Kürzung des Kindergeldes? Nein, meine Damen und Herren, davor müssen wir zurückschrecken. Wir müssen den Weg alternativer Einnahmeerhöhungen gehen. Ich weiß natürlich, dass wir uns damit herber Kritik ausgesetzt haben. Aber Mut und das Fehlen von Denkverboten müssen die Politik dieser Koalition auszeichnen. Wir setzen gemeinsam auf wirksame Instrumente für mehr Wachstum und Beschäftigung. Der Haushaltsentwurf setzt unser Impulsprogramm um. Das muss so schnell wie irgend möglich geschehen. Wir setzen vor allen Dingen Anreize für Investitionen. Neuinvestitionen - ich sage dies noch einmal - sichern und schaffen Arbeitsplätze. Der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung wird wie versprochen von 6,5 Prozent auf 4,5 Prozent gesenkt. Das bringt mehr Geld für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Wir haben uns auch zum Ziel gesetzt, entschlossen zu entbürokratisieren. Unter Bürokratie leiden die Investoren am meisten. Wir haben jetzt schon - rückwirkend zum 1. Januar - die degressive Abschreibung verbessert. Das bringt rasch und wirksam Investitionsimpulse. Wir werden die engen Spielräume des Bundeshaushalts bis an die Grenzen des Möglichen auch für Investitionen nutzen. So wurde die steuerliche Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen durch private Haushalte erweitert. Ich sage dies vor allen Dingen im Hinblick darauf, dass wir aus dem Bereich des Handwerks - als Müllermeister komme ich selbst aus dem Handwerk mit Briefen bombardiert werden - ich verstehe jeden Briefschreiber -, in denen Bedenken gegen die Mehrwertsteuererhöhung geäußert werden. Deshalb ist es richtig, dass wir Investitionsimpulse setzen, wozu auch die steuerliche Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen durch Privathaushalte zählt. Das ist eine alte und berechtigte Forderung des deutschen Handwerks. ({27}) Mehr Mittel für Verkehrsbauten, mehr Mittel für Forschung und Technologie! Deutschlands Kapital sind die Köpfe. Deshalb ist jeder Euro dort gut angelegt. Die Regierung schafft wieder Vertrauen. Die Zukunftserwartungen der deutschen Wirtschaft sind so positiv wie seit fünf Jahren nicht mehr. Alle Frühindikatoren zeigen nach oben. Ich freue mich darüber zusammen mit unserem Bundeswirtschaftsminister Michael Glos. Das ist ein hervorragender Weg in eine gedeihliche wirtschaftliche Zukunft Deutschlands, Herr Bundeswirtschaftsminister. ({28}) Das Verbrauchervertrauen hat zuletzt den höchsten Wert seit dem Jahr 2000 erreicht. Aber auch die harten Faktoren sprechen dieselbe Sprache. Die Auftragseingänge nehmen zu. Der Maschinenbau und der Großanlagenbau melden eine spürbare Belebung der Inlandsnachfrage. Ebenso verdeutlichen die jüngst wieder ansteigenden Steuereinnahmen, vor allen Dingen bei der Gewerbesteuer, die wirtschaftliche Trendwende. Besonders freut mich, dass der Stimmungsumschwung den Mittelstand erreicht hat. Der Mittelstand ist mehr denn je das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, mehr vielleicht als manches DAX-Unternehmen. Der Aufschwung gewinnt an Fahrt und Breite. Wie in der Vergangenheit müssen wir auch gegenwärtig die Wachstumsprognosen korrigieren, aber diesmal Gott sei Dank erstmals nach oben, und darauf können wir alle miteinander stolz sein. ({29}) Es wird - es gehört zur Ehrlichkeit, das zu sagen, und es ist die Realität - noch eine geraume Zeit dauern, bis wir zu einer grundlegenden Wende gelangen; denn die Wende auf dem Arbeitsmarkt ist bekanntlich ein traditioneller Spätindikator einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung. Vier Monate nach dem Regierungswechsel wird aber für jeden die Änderung im Stil der Politik deutlich. Das Vertrauen der Menschen in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes ist gestiegen. Dies ist vor allem ein Verdienst von Ihnen, liebe Frau Bundeskanzlerin, und Ihres Kabinetts. Die Unionsparteien werden auf der Basis ihrer Grundsatzpositionen ihren Beitrag dazu leisten, dass die zunächst von keiner Seite gewollte große Koalition am Ende eine Erfolgsgeschichte wird. Herzlichen Dank. ({30})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Oskar Lafontaine von der Fraktion Die Linke. ({0})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kollege Ramsauer hat, wie zu erwarten war, davon gesprochen, dass die große Koalition das Kursbuch für einen neuen Kurs vorgelegt hat. Wenn man eine Werbeagentur zurate ziehen würde, würde sie für den Verkauf immer empfehlen, von etwas Neuem, von einer Innovation zu sprechen und zu unterstreichen, dass wirklich ein Aufbruch in Deutschland stattgefunden hat, dass man also zu neuen Ufern aufbrechen will. Ich will für meine Fraktion sagen, dass die Situation sich für uns weniger vorwärts gewandt darstellt. Wir stellen zunächst einmal fest, dass die Politik der Regierung Merkel die Politik der Regierung Schröder/Fischer fortsetzt, und zwar in der Außenpolitik ebenso wie in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. ({0}) - Es freut mich, dass hier teilweise Beifall gespendet wird. Dies ist unsere Überzeugung. Sie können eine andere Auffassung haben. Wir begründen unsere Haltung damit, dass die wichtigen Entscheidungen der letzten Jahre - ob das Hartz IV war, ob das die Agenda 2010 war oder ob das die Beteiligung Deutschlands an völkerrechtswidrigen Kriegen war - von allen Fraktionen dieses Hauses getragen worden sind. Also sehen wir keine Veränderung der Politik durch den Wechsel zur großen Koalition. ({1}) Ich beginne mit der Außenpolitik - davon war schon die Rede - und stelle fest, dass die Außenpolitik auch dieser Regierung keine klare Grundlage hat. Ich will darauf hinweisen, dass derjenige, der sich zu politischen Themen äußert, zunächst gehalten ist, die Begriffe zu klären. Wenn man zum Beispiel sagt, man stelle in den Mittelpunkt seiner Außenpolitik den Kampf gegen den internationalen Terrorismus, dann muss man definieren können - ich wiederhole das -, was man unter „internationalem Terrorismus“ versteht. Wenn man dies nicht kann, dann gerät man in die Gefahr, eine Außenpolitik zu betreiben, die keine klare Grundlage hat. ({2}) Deshalb will ich für die Linke hier noch einmal feststellen, dass von keiner der beteiligten Parteien bis zum heutigen Tage eine Antwort auf die Frage gegeben worden ist, was wir eigentlich unter Terrorismus und damit unter internationalem Terrorismus verstehen. Für uns ist Terrorismus das Töten unschuldiger Menschen zum Erreichen politischer Ziele. ({3}) Unter diesem Gesichtspunkt waren die Attentäter, die in das World Trade Center geflogen sind und 3 000 Unschuldige umgebracht haben, natürlich Terroristen. Unter diesem Gesichtspunkt sind natürlich auch die jungen Menschen, die als Selbstmordattentäter in tragischer Weise sich ihr Leben nehmen und Unschuldige mit in den Tod ziehen, Terroristen. Unter diesem Gesichtspunkt sind aber auch - dieser Erkenntnis verschließt sich die Mehrheit in diesem Hause - die Bombardierungen von Städten und Dörfern in Afghanistan oder im Irak terroristische Akte, ({4}) die man genauso qualifizieren muss wie die Handlungen, die ich vorher beschrieben habe. Da Sie diesem Urteil ausweichen, hat Ihre Außenpolitik an dieser Stelle keine klare Grundlage. Die zweite Frage ist, ob Sie tatsächlich der Auffassung sind, dass die Kriege im Vorderen Orient Kriege für Freiheit und Demokratie sind. Wir haben eine ganz andere Auffassung. Ich habe schon des Öfteren Oswald Spengler zitiert, der in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Außenpolitik definierte als Kämpfe um Rohstoffe und Absatzmärkte. Nach unserer Auffassung trifft diese konservative Definition auf die Außenpolitik der führenden Supermacht des Westens nach wie vor zu: Ihre Außenpolitik ist kein Kampf um Demokratie und Frieden, sondern sie ist nach wie vor ein Kampf um Rohstoffe und Absatzmärkte. Das gilt in vollem Umfang in Bezug auf den Vorderen Orient. ({5}) Die dritte Frage, die Sie nicht beantwortet haben, ist, ob Sie sich im Rahmen der Außenpolitik an das Völkerrecht halten wollen. Das ist doch eine relevante Frage. ({6}) - Darauf komme ich bei Gelegenheit zu sprechen. Verehrte Frau Roth, Sie waren Menschenrechtsbeauftragte, als zahlreiche Rechtsbrüche hier in Deutschland - Entführungen, Folter - stattgefunden haben. ({7}) Offensichtlich haben Sie in dieser Zeit gepennt. Für meine Fraktion möchte ich Ihnen noch einmal sagen: Wer durch die Unterstützung völkerrechtswidriger Kriege für den Tod Tausender Unschuldiger mitverantwortlich ist, der soll in diesem Hause nicht über Menschenrechte reden. Das ist unsere Position in dieser Frage. ({8}) Ich werfe also noch einmal die Frage auf, ob Sie sich an das Völkerrecht halten wollen. ({9}) - Ja, regen Sie sich nur auf! Das macht durchaus Freude. Dann weiß man, dass Sie getroffen sind. ({10}) Ich stelle also die Frage, ob Sie sich an das Völkerrecht halten wollen. Es ist bekannt, dass weder der Jugoslawienfeldzug ({11}) noch der Afghanistankrieg mit dem Völkerrecht zu vereinbaren waren. Weniger bekannt ist, dass auch der Irakfeldzug von Deutschland mit getragen worden ist. Wenn das Bundesverwaltungsgericht feststellt, dass Deutschland Beihilfe zum Irakkrieg geleistet hat ({12}) und dass die Beihilfe zu einem völkerrechtswidrigen Krieg ebenfalls ein völkerrechtswidriges Handeln darstellt, dann wäre doch zu erwarten, dass sich dieses Haus mit diesem höchstrichterlichen Urteil beschäftigt. Aber das ist in den letzten Wochen und Monaten nicht geschehen. ({13}) Die Außenpolitik hat keine klare Grundlage. Weder definiert sie, was Terrorismus ist, noch erklärt sie sich zu der Frage, ob es hier um Freiheit und Demokratie oder um Rohstoffsicherung geht, noch hat sie klar erkannt, dass das Völkerrecht beachtet werden muss, wenn wir überhaupt Friedenspolitik betreiben wollen. Insofern steht die Außenpolitik auf tönernen Füßen. Es besteht nachher Gelegenheit, diese drei Sachargumente zu entkräften. ({14}) Wir sind sehr gespannt darauf. ({15}) Ich komme zur Europapolitik und damit auch zur Frage der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Herr Kollege Ramsauer, Sie haben die Europapolitik der neuen Regierung, die eine Fortsetzung der bisherigen ist, für richtig befunden. Wir glauben, dass es in den letzten Jahren zwei gravierende strukturelle Fehlentwicklungen gegeben hat. Das eine ist der Maastrichtvertrag und das andere ist die Verfassung der Europäischen Zentralbank. Niemand im angelsächsischen Raum käme auf die Idee, eine Zentralbankverfassung zu verabschieden, wie wir sie in Europa haben. Eine Zentralbank, die ausschließlich dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet ist, neigt zu gravierenden Fehlentscheidungen, die insbesondere Wachstum und Beschäftigung hemmen. Wir haben das in den letzten Jahren oft genug erlebt. Ich möchte also für meine Fraktion hier feststellen, dass es das Mindeste wäre, die Verfassung der Europäischen Zentralbank an die Verfassung der amerikanischen Notenbank anzupassen. ({16}) Die amerikanische Notenbank ist nämlich nicht nur auf Preisstabilität verpflichtet, sondern sie ist ebenso verpflichtet, Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Es ist bedauerlich, dass die Europäische Zentralbank in der jetzigen Situation, in der es in Europa noch keine klare Aufwärtsbewegung gibt, wiederum dabei ist, den Kurs der Zinspolitik zu ändern. Wir werden das in einiger Zeit, insbesondere in Deutschland, zu spüren bekommen. Nun zum Maastrichtvertrag. Vorhin war von naturwissenschaftlicher Ausbildung die Rede. Einen Grundsatz lernt man bei dieser Ausbildung, nämlich dass man die Theorie überprüft, wenn das Experiment sie permanent widerlegt. ({17}) Dass der Maastrichtvertrag durch das Experiment bestätigt worden ist, kann nur jemand behaupten, der sehr, sehr kühn ist. Der Maastrichtvertrag ist eine Fehlkonstruktion von Anfang an. Er hindert die Mitgliedstaaten der Europäischen Union daran, eine vernünftige Fiskalpolitik zu betreiben. ({18}) Daher müsste er nicht nur ein bisschen korrigiert werden, sondern er müsste grundlegend reformiert werden, wenn wir Wachstum und Beschäftigung in Europa tatsächlich wollen. ({19}) Ich komme zur Innenpolitik und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Dabei spreche ich zwei Felder an. Das eine ist die Finanzpolitik. Das andere ist die Lohnpolitik. Der Bundesfinanzminister hat hier davon gesprochen, dass seine Finanzpolitik nach seinem Urteil eine Finanzpolitik der doppelten Tonlage sei. Ich kann diese Selbsteinschätzung nicht in vollem Umfang teilen, Herr Finanzminister. Ich glaube, dass Sie hier weiterhin das eintönige Lied des Neoliberalismus gesungen haben; insofern konnte ich von doppelter Tonlage leider nichts erkennen. ({20}) - Herr Kollege Westerwelle, manchmal ist das Lied des Neoliberalismus auch sehr farbig, aber es ist besonders eintönig und bitter für diejenigen in unserem Land, die davon negativ betroffen sind, und das sind in den letzten Jahren immer mehr geworden. ({21}) Zunächst noch zur Grundausrichtung der Finanzpolitik. Wenn Sie sagen, Herr Bundesfinanzminister, die Finanzpolitik unterstütze Wachstum und Beschäftigung, dann müssen Sie das irgendwie begründen können. Sie müssen zumindest irgendwie belegen können, dass die Finanzpolitik expansiv ist. Das ist sie aber nicht. Sie werden hier kein Institut zitieren können, das Ihrer Finanzpolitik einen expansiven Impuls bestätigt. Vielmehr ist es so, dass nicht nur der Bundeshaushalt zurückgeht, sondern auch die Gesamtheit der öffentlichen Haushalte. Wenn die Gesamtheit der öffentlichen Haushalte zurückgeht, ist die Finanzpolitik - das sollte man hier feststellen - nicht expansiv, sondern eher restriktiv. Über Zahlen kann man nicht streiten, es sei denn, man redet sich die Welt schön oder verliert sich in irgendwelchen ideologischen Betrachtungen, die mit einer sachlichen Erörterung überhaupt nichts zu tun haben. ({22}) Aber nicht nur die Haushaltspolitik ist der gegenwärtigen konjunkturellen Lage nicht angemessen. Noch viel mehr gilt das für die Steuerpolitik. Aber dazu möchte ich das nach unserer Auffassung bestehende Kernproblem der gegenwärtigen ökonomischen Entwicklung in Deutschland formulieren, nämlich wie man die Ersparnisse wieder zurücklenkt in Investitionen. Wenn man dies als Kernaufgabe akzeptiert, dann muss man zunächst feststellen, dass dazu von Ihrer Regierung überhaupt nichts angeboten wird. Das, was vorgelegt wird, sind allenfalls Trippelschrittchen; in Wirklichkeit geschieht viel zu wenig. Dass dies das Kernproblem ist, können Sie dem jüngsten Bericht der Bundesbank entnehmen. Dort steht, bezogen auf das letzte Jahr, schlicht und einfach: Somit wurde das inländische Sparaufkommen, anders als in den 90er-Jahren, nicht mehr in vollem Umfang von der gesamtwirtschaftlichen Sachkapitalbildung im Inland absorbiert. Anders ausgedrückt: Es gelingt eben nicht mehr, die Ersparnisse in unserem Lande in die Investitionen zu lenken. Vielmehr wurde ein beträchtlicher und steigender Teil dem Ausland zur Verfügung gestellt. Die deutsche Wirtschaftspolitik darf nicht zulassen, dass die Ersparnisse, die hier gebildet werden, nicht mehr hier in Investitionen fließen, sondern dem Ausland zur Verfügung gestellt werden. Die Frage ist, wie wir das ändern können. ({23}) Wenn wir überlegen, wohin unsere Investitionen gelenkt werden können, dann müssen wir uns auf die einzelnen Felder konzentrieren. Zunächst einmal - darauf hat meine Kollegin Gesine Lötzsch gestern bereits hingewiesen - ist die Quote öffentlicher Investitionen Deutschlands anzusprechen. Das ist einfach nicht mehr zu fassen. Wieso glauben wir, dass wir uns als ein Industriestaat, der in seiner Bedeutung für Europa von Ihnen, Herr Kollege Ramsauer, gepriesen worden ist, weiter eine Quote öffentlicher Investitionen erlauben können, die seit vielen Jahren nur halb so hoch ist wie im Durchschnitt der EU-Mitgliedstaaten? Wieso glauben wir, wir können das auf Dauer durchhalten? ({24}) Keine Volkswirtschaft kann auf Dauer zu Wachstum und Beschäftigung finden, wenn nicht die öffentlichen Investitionen einen entsprechenden Anteil an der gesamten volkswirtschaftlichen Entwicklung haben. ({25}) Seit vielen Jahren werden an dieser Stelle gravierende Fehler gemacht. Noch wichtiger als Investitionen in die öffentliche Infrastruktur sind Investitionen in die geistige Infrastruktur. Auch hier kann man nur sagen: Es ist angesichts der Tradition dieses Landes nicht zu fassen, dass wir bei den Bildungs- und Forschungsausgaben im unteren Drittel der OECD-Statistik liegen. Das ist ein unhaltbarer Zustand. ({26}) Auch die jetzigen Entscheidungen der Regierung Merkel ändern nichts daran. Wenn wir wirklich zu den Industriestaaten aufschließen wollen, die in den letzten Jahren mehr Wachstum und Beschäftigung geschaffen haben, brauchen wir eine andere Quote öffentlicher Investitionen und deutlich mehr Ausgaben für Forschung und Bildung. Das ist die beste Investition in die Zukunft eines Volkes. ({27}) Nun stellt sich natürlich die Frage, wie man dies bewerkstelligen kann. Damit komme ich zur Steuer- und Abgabenquote. Ich hatte Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, beim letzten Mal die simple Frage gestellt, welche Steuer- und Abgabenquote Sie eigentlich anstreben. In einer seriösen Debatte über Haushaltspolitik müsste diese Frage beantwortet werden können. Man müsste doch wissen, was man eigentlich will. Wenn man einen Haushaltsplan aufstellt, muss man sich die Frage stellen, wie man die Einnahmeseite und die Ausgabenseite gestaltet. Aber offensichtlich ist diese Frage aufgrund irgendwelcher ideologischer oder anderer Barrieren in Deutschland überhaupt nicht mehr zu stellen. Deshalb sage ich hier noch einmal: Wir haben eine völlig unterdurchschnittliche Steuer- und Abgabenquote. Sie liegt nach der jetzigen Statistik bei 34 Prozent. Wir liegen damit um 6 Prozent unter dem europäischen Durchschnitt. Umgerechnet auf unser Sozialprodukt sind das rund 130 Milliarden Euro. Das werden wir auf Dauer nicht durchhalten können, meine Damen und Herren. ({28}) Dabei ist noch nicht einmal eingerechnet, dass wir die Einheit finanzieren müssen. Das ist eine unglaubliche Fehlentwicklung der Haushaltssteuerung in den letzten Jahren, die hier nur ganz bescheiden korrigiert werden soll. Sie haben darauf hingewiesen, dass sie korrigiert werde, und sprachen dann von der Mehrwertsteuer. Es war nun wirklich nicht akzeptabel, dass Sie, Herr Kollege Ramsauer, in diesem Zusammenhang von einer Übereinstimmung zwischen Reden und Handeln sprachen. Die Mehrwertsteuer ist leider ein eklatantes Beispiel dafür, wie Parteien dazu beitragen, dass die Bevölkerung immer politikverdrossener wird und sich immer mehr Menschen weigern, zur Wahlurne zu gehen. ({29}) Hier haben sich die beiden Parteien der großen Koalition eines Wahlbetruges schuldig gemacht. ({30}) Das möchte ich im Rahmen der Generaldebatte ansprechen. Wenn eine Partei sagt, sie befürworte eine Mehrwertsteuererhöhung um 2 Prozent, die andere Partei heilige Eide auf 0 Prozent Mehrwertsteuererhöhung schwört und am Schluss 3 Prozent herauskommen, dann ist die Bevölkerung der Bundesrepublik erbost, weil sie sich betrogen fühlt, und geht eben nicht mehr zu den Wahlurnen. ({31}) Das kann man Ihnen nicht so ohne weiteres durchgehen lassen. Dass Ihre Steuerpolitik, und zwar die Steuerpolitik aller mit uns konkurrierenden Parteien, in den letzten Jahren auf einem völlig falschen Pfad war, hat die Bundesbank ebenfalls festgestellt. Ich zitiere: Die Untersuchung zeigt, dass für den starken Defizitanstieg nach dem Jahr 2000 zwar auch konjunkturelle Einflüsse eine Rolle gespielt haben. Ausschlaggebend war aber der Rückgang der strukturellen Einnahmequote … Deutlicher kann man dies nicht sagen. Ich will es einmal anders formulieren: Hätten Sie die Steuerreform 2000 nicht beschlossen, hätten Sie kein einziges Jahr die Maastrichtkriterien verfehlt. Auch dies ist in ungezählten Untersuchungen dargestellt worden. Also stimmt die Steuer- und Abgabenquote nicht. So einfach wie der Bundesfinanzminister darf man es sich nicht machen: Wenn er sagt, die einzige Alternative, die wir hätten, sei entweder eine Mehrwertsteuererhöhung oder eine drastische Kürzung bei Renten oder anderen Sozialausgaben, dann ist dies eine Irreführung der Bevölkerung, die wir Ihnen nicht durchgehen lassen können, Herr Bundesfinanzminister. ({32}) Sie haben diese Behauptung zwar vielfach wiederholt, trotzdem bleibt sie schlicht und einfach eine Irreführung der Bevölkerung. Es sind 20 bis 30 andere Alternativen denkbar. Sie wissen, dass wir eine Alternative immer wieder ins Gespräch bringen: Statt dem Volk ständig in die Tasche zu greifen, sollten Sie einmal den Mut haben, auch den Wohlhabenden in Deutschland in die Tasche zu greifen. ({33}) Denn die Entwicklung der Einkommen und Vermögen läuft so stark auseinander, dass dies dringend geboten ist. An dieser Stelle haben Sie, Herr Bundesfinanzminister, den freundlichen Hinweis gegeben - ich bin ja dankbar, wenn ich von Ihnen etwas lernen kann -, ({34}) dass das Kapital mobil sei. Sie waren also der Meinung, diese Tatsache sei mir nicht geläufig. Herr Bundesfinanzminister, ich wohne an der deutsch-luxemburgischen Grenze und ich habe mich schon, als Sie noch andere Funktionen hatten, mit der Kapitalflucht beschäftigt. ({35}) - Ich habe noch keinen von euch erwischt. Deswegen braucht ihr jetzt nicht zu lachen. ({36}) Gehen Sie einmal getrost davon aus, dass ich sehr wohl weiß, dass die Kapitalflucht ein Problem ist. So wie ich vorhin auf die Methoden der Naturwissenschaft verwiesen habe, möchte ich Ihnen einen hilfreichen Hinweis zur Wirtschafts- und Finanzpolitik geben. Wenn wir in der Schule die uns gestellten Aufgaben nicht lösen konnten, dann waren wir zumindest so schlau, ({37}) vom Nachbarn abzugucken, der es besser gewusst hat. ({38}) Das ist eigentlich auch etwas, was man von Ihnen erwarten könnte. Anscheinend ist das aber zuviel verlangt. Wenn Sie hier mit der Ihnen eigenen Chuzpe sagen, wegen der drohenden Kapitalflucht könnten wir die Vermögen in Deutschland nicht besteuern, dann muss man doch die Frage stellen, warum in vielen anderen Industriestaaten eine ordentliche Vermögensbesteuerung möglich ist. Täuschen Sie das Volk nicht in dieser unverOskar Lafontaine schämten Art und Weise, wenn es darum geht, Vermögen in Deutschland zu besteuern! ({39}) Wir sollten nicht so tun, als wären wir allein auf der Welt und als hätten die anderen Staaten keine Erfahrungen auf diesem Gebiet gemacht. Es dürfte Ihnen sicher möglich sein, sich in Ihrem Hause die OECD-Statistik über die Vermögensbesteuerung zu beschaffen. Dann könnten Sie sehen, dass wir hinsichtlich der Vermögensbesteuerung im Vergleich zu anderen Industriestaaten weit zurückliegen, insbesondere im Vergleich zu den angelsächsischen Staaten. Ich möchte noch einmal einen Vorschlag machen, den ich hier schon einmal vortragen durfte. Dieser Vorschlag ist für jeden überprüfbar; man kann Ja oder Nein dazu sagen. Das deutsche Geldvermögen - betroffen sind also nicht das Sachkapitalvermögen und das Immobilienvermögen - beträgt 4 000 Milliarden Euro. Die Hälfte davon gehört dem einen Prozent der Bevölkerung, das Sie vorhin teilweise angesprochen haben, Herr Kollege Ramsauer. Das sind 2 000 Milliarden Euro. Wenn man dieses Vermögen mit 5 Prozent besteuert - ich sage zum Verständnis, dass die Durchschnittsrendite für dieses Geldvermögen derzeit weit über 7 Prozent liegt -, dann kann man 100 Milliarden Euro pro Jahr an Mehreinnahmen für die öffentliche Hand erzielen. ({40}) Wieso greifen Sie über die Mehrwertsteuererhöhung nur dem Volk in die Tasche und wieso sind Sie nicht in der Lage, an das Vermögen der Wohlhabenden zu gehen? Das ist eine durchaus beschämende Entwicklung. Weil ich gerade in Richtung der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands blicke, möchte ich Sie daran erinnern, dass die stolze Feststellung des Bundesfinanzministers, dass wir mit die niedrigste Steuerquote in Europa haben, vor Jahren auf jedem SPD-Parteitag mit großem Missfallen entgegengenommen worden wäre. Dass Sie dies jetzt als eine große Leistung verkünden, zeigt, wie sehr sich diese Partei gewandelt hat. ({41}) Es zeigt auch, wie sehr sich Ihre Einstellung zu den Staatsaufgaben und zu den Aufgaben der öffentlichen Hand grundsätzlich verändert hat. Das hat große Nachteile für die Beschäftigten und die Arbeitslosen in diesem Land. Wir brauchen eine andere Steuerpolitik. Ich habe Ihnen dazu Vorschläge gemacht. Es bestände dann die Möglichkeit, das Barvermögen - davon ist im Bericht der Bundesbank die Rede - in Richtung öffentliche Investitionen und in Bildungsinvestitionen umzulenken. Es ist ein einfacher Weg. Aber aus ideologischer Verblendung heraus wollen Sie diesen Weg nicht gehen, der ein Kernproblem unserer Volkswirtschaft lösen würde. ({42}) Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte - man kann dies nicht oft genug tun -, ist die Lohnentwicklung in Deutschland. Sie ist leider die miserabelste aller Industriestaaten. Seit zehn Jahren haben wir kein Reallohnplus mehr in Deutschland. Die Statistik weist einen Rückgang von 0,9 Prozent aus. Vergleichbare Staaten hatten in zehn Jahren ein Plus von real 20 Prozent wie etwa die USA oder von 25 Prozent wie Großbritannien und Schweden zu verzeichnen. Nun werden Sie sagen: Wir haben damit gar nichts zu tun. - Das ist allerdings noch nicht einmal die halbe Wahrheit. Natürlich sind die Politik der Bundesregierung und die Politik der Länderregierungen mit konstituierend für die Möglichkeiten gewerkschaftlicher Durchsetzung in Deutschland. Wenn Sie beispielsweise - um ein aktuelles Thema aufzugreifen - immer noch dem abgelutschten Bonbon der Arbeitszeitverlängerung als Motor der Beschäftigungsentwicklung anhängen, sind Sie auf dem völlig falschen Weg. ({43}) Die Arbeitszeitverlängerung ist eines der Betrugswörter des Neoliberalismus, das Sie ununterbrochen gebrauchen. Die Arbeitszeitverlängerung ist ein Begriff, der etwas intendiert, worum es gar nicht geht. Es geht nicht um eine Verlängerung der Arbeitszeit, sondern einzig und allein um eine Verlängerung der Arbeitszeit bei gleichem Lohn, das heißt um eine Stundenlohnkürzung und um nichts anderes. ({44}) Wer eine Stundenlohnkürzung will, soll das dann auch sagen. Es ist ein Trauerspiel, dass eine Partei - ich sehe sie hier -, die in ihrem Grundsatzprogramm, das ich miterarbeitet habe, Arbeitszeitverkürzungen vorsieht und nach wie vor die 30-Stunden-Woche propagiert, bei dieser Arbeitszeitverlängerung bzw. Stundenlohnkürzung mitmacht. Das ist wirklich eine traurige Fehlentwicklung. ({45}) Wer allerdings glaubt, in der jetzigen Situation der lahmenden Binnennachfrage in Deutschland über Stundenlohnkürzungen irgendeinen Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigung leisten zu können, ist nicht mehr ganz bei Trost; um dies einmal in aller Klarheit zu sagen. ({46}) Weil wir den verhängnisvollen Trend der negativen Lohnentwicklung in Deutschland durchbrechen müssen, wenn wir in irgendeiner Form etwas für Wachstum und Beschäftigung erreichen wollen, vertritt meine Fraktion nach wie vor die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Wir haben nun einmal eine solch negative Lohnspirale in Deutschland, dass es für dieses Parlament dringend geboten ist, diesen Negativtrend aufzuhalten. Wir haben bereits Tariflöhne von unter 4 Euro pro Stunde. Dies kann nicht mehr hingenommen werden. Die Verfassung unseres Landes, die in Art. 1 die Menschenwürde schützt, verpflichtet uns dazu, in Deutschland Löhne sicherzustellen, von denen ein Arbeitnehmer, der arbeitet, auch anständig leben kann. Das ist die Idee des Mindestlohns. ({47}) Ich möchte noch etwas zu den sozialen Sicherungssystemen sagen. Sie haben eine enorme volkswirtschaftliche Bedeutung, die weitgehend verkannt wird. Wenn man nur darüber redet, wie hoch der Beitragssatz sein soll, verkennt man die Aufgabenstellung völlig. Wenn man nur darüber redet, welchen Prozentsatz vom Nettooder Bruttolohn die Rente irgendwann einmal ausmachen soll, wird die entscheidende Frage ausgeklammert. Es kann nicht sein, dass bei der Gestaltung der sozialen Sicherungshöhe die Frage im Zentrum steht, wie hoch der Beitragssatz sein darf. Im Hinblick auf die Rente sollte man doch fragen, wie viel Geld ein älterer Mitbürger braucht, um anständig leben zu können. ({48}) Was soll diese ganze Beitragssatzphilosophie, die Sie hier seit vielen Jahren fälschlicherweise vertreten? Diese Beitragssatzphilosophie führt zu Fehlentscheidungen. Auf den Beitrag starrend, verlieren Sie die entscheidende Frage bei den sozialen Sicherungssystemen völlig aus dem Auge. Sie haben sich zudem an dieser Stelle einer Irreführung schuldig gemacht, indem Sie gesagt haben, es gehe um Beitragssatzstabilität. Es ging Ihnen ausschließlich um Beitragssatzstabilität für die Unternehmerseite, während die Arbeitnehmer die Zusatzlasten in großem Umfang allein aufgebürdet bekamen. Diese schäbige Fehlentwicklung muss ich hier feststellen. ({49}) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Es gab in den letzten Jahren eine Politik, die im Ergebnis leider nicht bestätigt worden ist. Denn nur auf das Ergebnis kommt es an. Die Politik der letzten Jahre hatte zum Ziel, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Das ist nicht gelungen. Diese Politik, die Sie, meine Damen und Herren von der großen Koalition, fortsetzen, trägt nicht zu mehr Wachstum und Beschäftigung bei. Sie wird also die Arbeitslosigkeit ebenso steigern wie die Politik der Vorgängerregierung. ({50})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hubertus Heil von der SPD-Fraktion. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Kollege Gerhardt, ich möchte Sie ansprechen, weil das möglicherweise die letzte längere Rede war, die Sie als Fraktionsvorsitzender in diesem Haus gehalten haben. ({0}) Ich möchte Ihnen durchaus unseren Respekt aussprechen. Ich bedauere es, dass Ihre Restlaufzeit durch Ihren Nachfolger begrenzt wurde. ({1}) Ganz im Ernst: Wir möchten Ihnen persönlich alles Gute wünschen und haben zumindest vor Ihren außenpolitischen Ansichten Respekt, auch wenn Ihre Rede heute inhaltlich wieder einmal daneben war. ({2}) Herr Lafontaine, ich kann mir vorstellen, dass es Sie immer noch ein bisschen wurmt, dass die Westausdehnung der PDS in Deutschland, ({3}) die Sie betrieben haben, am vergangenen Sonntag grandios gescheitert ist. ({4}) Ich will Ihnen auch sagen, warum mich das freut: weil Sie persönlich beispielsweise in Rheinland-Pfalz gegen Kurt Beck in übelster Art und Weise Wahlkampf betrieben haben, auch mit Schlägen unter die Gürtellinie. ({5}) Aber dass Sie heute die Unverschämtheit haben, die Außenpolitik der Regierung unter Gerhard Schröder in einen Zusammenhang mit Oswald Spengler zu bringen, finde ich schon ahistorisch, um es freundlich auszudrücken. ({6}) Wir haben in der Amtszeit von Gerhard Schröder eine Außenpolitik begründet, die auf zwei Säulen fußt: Deutschland ist unter den veränderten Bedingungen der Welt bereit, internationale Verantwortung zu übernehmen und sich nicht wegzuducken. Aber Deutschland entscheidet selbst, was es mitmacht und was nicht. Deshalb lassen wir die historisch richtige Entscheidung, Nein zu sagen zum Irakkrieg, von Ihnen nicht im Nachhinein diskreditieren, auch nicht in diesem Hause. ({7}) Die große Koalition hatte einen guten Start; das ist der Tenor der meisten Medien. Das ist auch notwendig, weil in der Bevölkerung sehr hohe Erwartungen an die große Koalition bestehen. In meinem Wahlkreis sagen viele: Wenn ihr schon koalieren müsst, weil das Wahlergebnis entsprechend ist, dann müsst ihr auch Großes hinbekommen. - Die beiden großen Volksparteien sind auch in der Lage, große Dinge in diesem Land zu bewegen, weil die Möglichkeit besteht, die institutionalisierHubertus Heil ten Blockaden von Bundesrat und Bundestag vier Jahre hinter sich zu lassen. ({8}) Bezogen auf die Wende in der Finanzpolitik, von der so oft die Rede ist, möchte ich eines sagen: ({9}) Wir haben sie uns schon früher gewünscht, im Interesse von Bund, Ländern und Kommunen. - Darauf hat Peer Steinbrück hingewiesen. - Wir hätten es auch geschafft, wenn wir früher mit dem Abbau von Steuersubventionen begonnen hätten. Wir haben dies jetzt gemeinsam eingeleitet und ich finde, darauf können wir stolz sein. Wir haben bei den Steuersubventionen angesetzt und beispielsweise die Eigenheimzulage abgeschafft, damit der Staat handlungsfähig bleibt. Das ist eine der Leistungen der großen Koalition in den ersten 100 Tagen. ({10}) Wir wollen einen Erfolg der großen Koalition. Wir wissen aber, dass nicht die ersten 100 Tage, sondern die nächsten 1 000 Tage über den Erfolg der Koalition für unser Land entscheiden. Deshalb wollen wir Sozialdemokraten verantwortungsbewusst und durchaus selbstbewusst in dieser Koalition weiterarbeiten. Wir haben große Aufgaben vor uns. Wir haben mit der Umsetzung der Genshagener-Beschlüsse begonnen und Impulse für Wachstum und Beschäftigung gesetzt. So haben wir ein Gebäudesanierungsprogramm aufgelegt, das ein Vielfaches an privaten Investitionen auslösen wird. 30 Prozent der Wärmekosten könnten in Deutschland eingespart werden, wenn die Häuser vernünftig isoliert werden. Wir wollen mit diesem Programm ein Zeichen setzen. Wir investieren auch mehr in Bildung, Forschung und Wissenschaft. Wir investieren mehr in die Familien. Das ist konkrete Politik zur Zukunftssicherung und das wurde von der Koalition auch mit sozialdemokratischer Handschrift verwirklicht. ({11}) Wir konnten uns in den Koalitionsverhandlungen nicht in jedem Punkt durchsetzen; aber das ist das Wesen einer Koalition. Wir fühlen uns aber mit vielen Vereinbarungen durchaus wohl. Wir sagen, was mit uns geht und was mit uns nicht geht. Die SPD wird in den nächsten Wochen und Monaten, in den nächsten Jahren in dieser Koalition Motor der Erneuerung sein, weil unser Land Erneuerung braucht. ({12}) Der eingeschlagene Kurs muss konsequent fortgesetzt werden. Es geht darum, in diesem Land die Zukunft zu sichern. Deshalb müssen wir auf Erneuerung setzen. Wir brauchen aber auch soziale Gerechtigkeit. Wir sollten uns einmal damit auseinander setzen, dass wir in diesem wunderbaren Deutschen Bundestag zwei exaltierte Positionen haben: auf der einen Seite die FDP, auf der anderen Seite die PDS. Ich finde, wir müssen einmal darüber reden, was Sie gemeinsam haben. Sie betreiben ein gemeinsames Spiel. Sie spielen wechselseitig wirtschaftliche Dynamik gegen soziale Gerechtigkeit aus. Die einen machen das, indem sie sagen: „Der Markt ist das Problem der Menschen“. Sie meinen, der Nationalstaat könne alle Probleme dieses Landes lösen, man müsse nur die Einnahmen ordentlich erhöhen, die Instrumente stünden zur Verfügung. ({13}) All das, was sich verändert hat, wird als große Verschwörung des internationalen Finanzkapitals dargestellt. Wir haben Probleme mit dem ungeregelten internationalen Kapitalverkehr, das ist keine Frage. Wir haben aber auch hausgemachte Probleme in diesem Land, die wir selbst lösen müssen. Es gibt Probleme in diesem Land, die Sie nicht lösen wollen, weil Sie die Veränderungen der Zeit nicht begriffen haben und weil Sie immer noch glauben, dass die Mauer steht und der Nationalstaat alles allein lösen kann. ({14}) Das ist die eine Seite des Hauses. Sie erklären den Staat zum Löser aller Probleme und den Markt für das Problem der Menschen. ({15}) - Genau, jetzt sind Sie dran. Die FDP erklärt den Menschen, der Staat sei ihr größtes Problem. Man müsste die Menschen nur vom Staat befreien, weil der Markt alle Probleme lösen kann, und zwar nach dem alten Motto: Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht. ({16}) Das ist das wechselseitige Spiel dieser beiden Fraktionen. ({17}) - Schreien Sie nicht so herum! Wir als Sozialdemokraten wissen, dass wirtschaftliche Dynamik und soziale Gerechtigkeit sich wechselseitig bedingen. Die modernen Volkswirtschaften in Europa, die es zum Teil besser als wir hinbekommen haben, beweisen, dass eine Volkswirtschaft wie die unsrige es sich nicht leisten kann, Menschen massiv von der Teilhabe an Bildungschancen auszugrenzen. Das ist die harte Aufgabe, die wir bewältigen müssen. Dass die soziale Herkunft in Deutschland stärker über Bildungs- und Überlebenschancen entscheidet als in anderen Ländern Europas, ist nicht nur verdammt ungerecht, wir können es uns in Zukunft auch wirtschaftlich nicht leisten, auch nur ein Kind in unserer Gesellschaft zurück zu lassen. ({18}) Aber wir wissen auch, dass soziale Gerechtigkeit nur dann zu verwirklichen ist, wenn wir eine dynamische Wirtschaft haben. Wir wissen auch, dass sich die Dinge verändert haben. Wir haben eine Globalisierung und Europäisierung der Wirtschaft. Der technische Fortschritt hat unsere Arbeitswelt verändert. Die demografische Entwicklung können wir nicht wegdiskutieren. Diesen neuen Herausforderungen müssen wir uns stellen. Diese Koalition tut das auch. Wir müssen das beispielsweise auch auf dem Feld der Gesundheitspolitik tun. Darüber wird in den nächsten Tagen viel zu reden sein. Ich finde es gut, dass wir uns miteinander vorgenommen haben, zu einer Lösung zu kommen. Gesundheit ist schließlich das Kernversprechen unseres Sozialstaates. Das Kernversprechen unseres Staates heißt: Wenn du krank wirst, wird dir medizinisch geholfen und du musst nicht arm werden. Das ist keine Banalität angesichts der Situation in anderen Ländern. Es gilt, dieses Versprechen zu halten und zu erneuern. ({19}) Im Gesundheitswesen müssen eine Reihe von Dingen angepackt werden, beispielsweise die Ausgabenseite. Nach wie vor mobilisieren wir alle Kräfte für das Gesundheitswesen, aber wir erzielen damit nicht immer das beste Ergebnis. Wir müssen zunächst einmal darauf achten, dass mit dem Geld der Beitragszahler vernünftig umgegangen wird. Es ist immer noch so, dass das Geld im Gesundheitswesen an manchen Stellen mit vollen Händen ausgegeben wird, während es an anderen Stellen bereits fehlt, beispielsweise bei der Versorgung chronisch Kranker. Deshalb ist unsere erste Aufgabe, die Strukturen auf der Ausgabeseite zu verändern. Das geht nur, wenn wir das gemeinsam angehen und ein breites Kreuz gegenüber den Lobbyisten, die hier in Berlin versuchen, ihre individuellen Interessen auf dem Rücken der Versicherten durchzusetzen, haben. Wir wollen und werden diese Aufgabe gemeinsam schultern. Dabei lassen wir uns auch nicht von Lobbyistenprotesten umblasen. Wir wollen, dass mit dem Geld der Krankenversicherten im Interesse der Menschen besser umgegangen wird. ({20}) Wir müssen jetzt die Strukturen verändern. In den letzten 30 Jahren haben wir uns bemüht, die Kosten zu begrenzen. Wir brauchen aber langfristig eine breite Grundlage für unser Gesundheitswesen. Das liegt an der demografischen Entwicklung, an der guten Tatsache, dass wir länger leben, und an der schlechten Tatsache, dass immer weniger Menschen Beiträge an die Krankenversicherungen leisten. Das liegt darüber hinaus an der Tatsache, dass wir zwar einen großartigen medizinischen Fortschritt haben, der jedoch unglaublich teuer ist. Wenn wir als Abgeordnete nicht in wenigen Jahren den Menschen in unseren Wahlkreisen sagen wollen: „Es gibt jetzt ein ganz modernes Instrument und Medikament gegen deine lebensbedrohliche Krankheit, wir können es dir aber nicht geben, weil kein Geld dafür da ist“, dann müssen wir miteinander die Anstrengung unternehmen, eine breite finanzielle Grundlage für unser Gesundheitswesen zu schaffen. Die SPD ist zu den dafür notwendigen Dingen bereit. ({21}) Wir werden intensive Verhandlungen führen. Diesen Bereich konnten wir im Koalitionsvertrag zugegebenermaßen nicht hinreichend klären, weil es Zeit braucht, um eine solide und vernünftige Lösung zu finden - Frau Bundeskanzlerin, die wollen wir -, die etwas länger als zwei oder drei Jahre trägt. Es geht nämlich darum, in diesem Bereich in Zeiten des Wandels Sicherheit zu schaffen. Die Menschen in Deutschland müssen sich auf das Gesundheitswesen verlassen können. Das ist wichtig, um Vertrauen zu schaffen. Vertrauen ist inzwischen auch eine ökonomische Größe. Wer kein Vertrauen in diese Gesellschaft und in seine persönliche Zukunft hat, der ist so verunsichert, dass er sich beispielsweise beim Konsum zurückhält. „Was kommt noch?“, ist eine oft gestellte Frage. Im Gesundheitswesen müssen wir das Prinzip des Miteinanders einhalten. Die deutschen Sozialdemokraten sind dazu bereit. Dieses Land bietet alle Entwicklungschancen. Ich finde, dass wir trotz all der Probleme, die wir haben, auch darüber reden sollten, welche Stärken dieses Land hat. Woran können wir anknüpfen? Trotz mancher Probleme im Bildungsbereich ist die Qualifikation von Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmern immer noch hervorragend. Wissenschaft und Forschung ist in vielen Bereichen immer noch hervorragend. Wir haben immer noch eine hervorragende Infrastruktur und wir haben - vergleichen Sie das mit aktuellen Ereignissen in anderen Ländern - immer noch sozialen Frieden in Deutschland. Das ist nicht nur für die Demokratie, sondern auch für die wirtschaftliche Entwicklung wichtig. Wir haben relativ wenig Streiks und soziale Unruhen haben wir in Deutschland gar nicht. Diese vier Standortvorteile gilt es zu erhalten. Dafür muss man arbeiten. Es gilt der Satz von Willy Brandt: Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen. Das ist nach wie vor richtig. ({22}) Wir müssen beispielsweise dafür sorgen, dass die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch unter veränderten Rahmenbedingungen zum Tragen kommen. Deshalb war es richtig, dass wir darauf bestanden haben, dass die Tarifautonomie in Deutschland gesichert wird. Wer in diesem Hause, wie zum Beispiel die FDP, den Gewerkschaften das Kreuz brechen will, wird auf den massiven Widerstand von Sozialdemokraten treffen. Das gilt nach wie vor. ({23}) Wir wissen - Herr Westerwelle -, dass die meisten Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht im Gesetzblatt stehen, sondern in Tarifauseinandersetzungen hart erstritten wurden. Wir wissen, dass es unter dem Dach des Flächentarifvertrages Flexibilität geben muss. Es gibt sie in Deutschland aber schon tausendfach. Schauen Sie sich das einmal an! In meinem Wahlkreis stellen sich die Betriebsräte vor die Belegschaft, wenn es schwierig wird, und scheuen sich nicht, ihren Kolleginnen und Kollegen schlechte Mitteilungen zu machen, wenn es darum geht, das Unternehmen zu erhalten. Die in deutschen Unternehmen gemachten Fehler sind meist von Managern zu verantworten. Das muss man einmal deutlich sagen. ({24}) Die Gewerkschaften in Deutschland sind nicht das Problem. Kluge Unternehmer wissen, dass man Probleme gemeinsam mit Arbeitnehmervertretern lösen kann. Das gelingt in vielen Bereichen, ohne dass darüber groß berichtet wird. Insofern betone ich: Es bleibt bei der Tarifautonomie, es bleibt auch bei der Mitbestimmung. Mitbestimmung ist ein wichtiges Thema bei den Betriebsratswahlen, die in diesen Tagen stattfinden: In Deutschland muss es eine Garantie für die Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Haben und am Sagen geben. Es bleibt auch beim geordneten Ausstieg aus der Atomenergie. ({25}) Das ist ganz wichtig. Machen wir uns nichts vor. Herr Glos, wir müssen damit leben, dass es in der Koalition zu diesem Thema unterschiedliche Auffassungen gibt. Das ist nicht schlimm. Ich betone nur, warum wir der Meinung sind, dass wir diese rückwärts gewandte Debatte jetzt hinter uns lassen sollten, und warum wir uns um andere Bereiche der Energiepolitik zu kümmern haben: Energiepolitik ist eine zentrale Frage der wirtschaftlichen Zukunft dieses Landes, ist eine Frage, die etwas mit der Zukunft der Menschheit im Bereich Klima und Umweltschutz zu tun hat, und ist im Übrigen - das hat Frank-Walter Steinmeier auf der Münchener Sicherheitskonferenz deutlich gemacht - eine zentrale Frage der Außen- und Sicherheitspolitik geworden. In den nächsten 20 bis 30 Jahren, am Ende des Erdölzeitalters, werden wir nationale Konflikte um Ressourcen erleben. Es gibt sie schon heute. Deshalb war es richtig, zu fordern, dass Deutschland eine Vorreiterrolle übernimmt - Rot-Grün hat damit angefangen -, die auf drei Prinzipien basiert: erstens auf Versorgungssicherheit, zweitens auf erneuerbaren Energien und drittens auf Energieeffizienz. Wir wollen in dieser Koalition miteinander nach Lösungen suchen, um in Deutschland neue Investitionen in moderne Kraftwerkstechnologien auszulösen. Neben dem notwendigen Wettbewerb auf den Strom- und Gasmärkten, den wir wollen, müssen wir in Deutschland neue Investitionen in moderne Kraftwerkstechnik auslösen. Dies ist das Bestreben der Sozialdemokraten. Meine Auffassung ist - die müssen Sie nicht teilen -, dass verlängerte Restlaufzeiten für alte, abgeschriebene Atommeiler möglicherweise die Renditen für die großen Energieversorger erhöht hätten - das ist gar keine Frage; alte, abgeschriebene Meiler länger laufen zu lassen, das ist die Lizenz zum Gelddrucken -, aber Investitionen in moderne Kraftwerkstechnik wären damit auf die längere Bank geschoben worden. Deshalb lassen Sie uns beim geordneten Ausstieg bleiben. Das ist schon vernünftig; das ist gar keine Frage. Wir hatten in Deutschland 30 Jahre lang einen Konflikt zwischen Atomkraftbefürwortern und -gegnern. Wir haben es geschafft, diesen zu befrieden. Es gibt in Deutschland einen Vertrag zwischen der Energiewirtschaft und der Politik. Auch da gilt: Pacta sunt servanda, Verträge sind einzuhalten. Wir bleiben dabei. ({26}) Aber in der Energiepolitik gibt es eine Fülle von anderen Dingen, die wir trotz des Meinungsunterschiedes in dieser Frage miteinander bewegen können. Ich glaube, dass es notwendig ist, Energieeffizienz wirklich zu einem Exportschlager werden zu lassen. Bei dem Energiehunger, den Länder wie China und Indien haben, ist es so, dass wir einen Beitrag zur Sicherung von Arbeitsplätzen in Deutschland leisten können, wenn wir unsere Technologien hier entwickeln und exportieren. Gleichzeitig können wir einen Beitrag leisten, um Energiekrisen in der Welt zu entschärfen. Wir brauchen deshalb in Deutschland einen intelligenten Energiemix, der nicht darauf verzichtet, auch Kohle als eine Brücke in eine energiepolitische Zukunft zu begreifen, aber dabei auf höhere Wirkungsgrade setzt. ({27}) Ich sage ganz deutlich. Es gibt in China Kohlekraftwerke, die grottenschlechte Wirkungsgrade haben. Wir in Deutschland haben in diesem Bereich Fortschritte erzielt. Wir müssen die Möglichkeit ergreifen, diese zu exportieren. Wir haben die Notwendigkeit, erneuerbare Energien in diesem Land weiter auszubauen, damit wir auch diese Technologie exportieren können. Auch das sichert Arbeitsplätze und hilft, Krisen in der Welt zu vermeiden. ({28}) Diese große Koalition ist keine Liebesheirat - das haben wir hin und wieder betont -, sondern sie ist eine Lebensabschnittsgemeinschaft. ({29}) Aber sie ist ein Bündnis, das mehr bringen kann, als viele vorher erwartet haben. Wir, Herr Kauder, haben im letzten Jahr im Wahlkampf gegeneinander gestanden und wir haben uns, wenn ich mich recht erinnere, nicht geschont. Richtig ist auch, dass das Wahlergebnis keine andere verantwortbare Mehrheit für dieses Land mit sich gebracht hat. Ich sage aber auch aus Überzeugung, dass es mir nicht nur darum geht, eine große Koalition zu haben, weil es nicht anders ging. Wir wollen die Chancen dieser großen Koalition durchaus gemeinsam begreifen. Ich habe es vorhin schon gesagt: Wir können miteinander Großes bewegen. Wir können die Blockaden zwischen Bundesrat und Bundestag hinter uns lassen. Wer, wie viele der Kollegen hier im Haus, einmal in Arbeitsgruppen des Vermittlungsausschusses gearbeitet hat, der kann mit Fug und Recht sagen: Dagegen ist ein orientalischer Bazar hin und wieder eine hochseriöse Veranstaltung. Insofern sollten wir die Verantwortung in Deutschland klar strukturieren. Es ist nicht nur eine Frage der Qualität und der Blockaden. Es ist auch eine Frage des Vertrauens der Menschen in Politik. Wenn Menschen nicht mehr klar zuordnen können, wer was auf welcher Ebene zu verantworten hat, dann schafft das Verdruss. Es ist wichtig, klar zu machen, dass der Bund, der Deutsche Bundestag mehr für sich alleine entscheiden kann und dass die Länderparlamente mehr für sich allein entscheiden können. Deshalb wollen wir die Föderalismusreform. Dass man in den nächsten Tagen über das eine oder andere reden können muss, das ist unbeschadet. ({30}) Aber ich bekunde: Wir wollen diese Staatsreform für Deutschland, damit die Verantwortlichkeiten der Ebenen klarer getrennt sind und damit die Menschen den Politikern Verantwortlichkeiten klarer zuordnen können. ({31}) - Ja, jetzt könnt ihr auch einmal klatschen, oder? ({32}) Ich möchte zum Schluss sagen: Wir wollen Motor der Erneuerung in Deutschland sein. Diese Koalition ist gut gestartet. Die nächsten tausend Tage werden nicht einfach. Wir wollen in diesem Jahr beispielsweise mit der Reform des Gesundheitswesens nachvollziehbare Zukunftssicherheit schaffen. Ich bin mir sicher, dass Gesundheit bzw. das Krankheitsrisiko in diesem Land nur solidarisch abzusichern ist, dass man dazu auch die Schultern heranziehen muss, die breiter sind. Wir haben die Situation, dass 10 Prozent der Menschen in Deutschland privat krankenversichert und 90 Prozent gesetzlich krankenversichert sind. Aber die 10 Prozent haben 30 Prozent des Einkommens. Daher werden wir über einen Ausgleich in diesem Bereich zumindest reden müssen. ({33}) Die Situation, dass immer mehr Menschen in unserem Land gar nicht mehr krankenversichert sind, muss uns auch beschäftigen. Diese Aufgabe haben wir uns im Koalitionsvertrag gestellt. Es kann nicht sein, dass immer mehr Menschen ohne Krankenversicherung sind. Wenn sie dann krank werden, fallen sie ins Bergfreie oder den Kommunen vor die Tür. Deshalb müssen wir darüber reden, was wir tun können. Wer als Abgeordneter Bürgersprechstunden durchführt, der weiß, wovon ich rede. Das betrifft unter anderem kleine selbstständige Unternehmer, die gescheitert sind und nicht mehr in die gesetzliche Krankenversicherung zurückkehren können. Wir müssen diesen Menschen helfen und dürfen sie nicht im Regen stehen lassen. Das sind die Aufgaben, die vor uns liegen. ({34}) Auch in der Familienpolitik haben wir viel zu schultern. Keine Angst: Die Produktionsmittel bleiben in Privatbesitz. Aber wir müssen uns darüber unterhalten, wie wir ein familien- und kinderfreundliches Land werden. Hier geht es um die zentralen Investitionen in die Zukunft dieses Landes. Bildung, Wissenschaft, Forschung und Familienpolitik sind die Zukunftsfelder, die uns in Deutschland langfristig voranbringen. Das wird die SPD in der großen Koalition deutlich machen. ({35}) Wir wollen und werden in der Außenpolitik Kurs halten. Wir lassen uns nicht beirren von Leuten, die in der Außenpolitik - das sage ich an die Adresse der PDS - nichts anderes predigen als organisierte Verantwortungslosigkeit. ({36}) Ein gestörtes Verhältnis zur Realität hat aber auch die FDP. Die FDP verkündet: Mit der Realität muss man sich abfinden. - Ich kann mich an einen FDP-Politiker erinnern, der den grandiosen Satz gesagt hat, im Zeitalter der wirtschaftlichen Globalisierung könne Politik nicht mehr gestalten. Wer so etwas denkt, der sollte sich selbst als Politiker abschaffen. Natürlich müssen wir gestalten, allerdings mit anderen Instrumenten als bisher. Unsere Aufgabe besteht darin, die Entwicklung im Interesse der Menschen zu gestalten. Die PDS geht einen anderen Weg. ({37}) - Nein, Sie bleiben die PDS, die WASG oder wer auch immer Sie sind. ({38}) Mit „links“ hat Ihre linkskonservative Art, Politik zu machen, nicht viel zu tun. „Links“ hat etwas mit Aufklärung zu tun. „Links“ hat etwas mit Weltoffenheit zu tun. „Links“ hat etwas damit zu tun, den Menschen die Wahrheit zu sagen. ({39}) Deshalb sage ich: Die SPD bleibt die linke Volkspartei in Deutschland. ({40}) Auf diese Weise werden wir unseren Beitrag zum Gelingen der großen Koalition leisten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({41})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Fritz Kuhn vom Bündnis 90/Die Grünen.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Bundeskanzlerin! Ich finde, wir müssen uns etwas stärker den Problemen, die vor uns liegen, zuwenden, als es in den bisherigen Beiträgen von FDP und PDS/WASG getan wurde. Sie haben in Ihrer Regierungserklärung klar gemacht, dass Sie eine „Koalition der Möglichkeiten“ sein wollen, die den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land systematisch neue Möglichkeiten eröffnet. Sie wollen die Freiheitsspielräume für alle Menschen in Deutschland unter der Parole „Mehr Freiheit wagen!“ vergrößern. Diese beiden Sätze sind die Prüfsteine für die Reformen, die jetzt vor uns liegen. Daran will ich mich bei dem, was ich für das Bündnis 90/Die Grünen sagen werde, orientieren. Ich möchte mit der Außenpolitik beginnen. In der Außenpolitik haben Sie einen viel gelobten Start hingelegt; er sei Ihnen gegönnt. Aber klar ist: Jetzt liegen eine ganze Reihe von großen Problemen vor uns. Eines von ihnen will ich ansprechen: Der Iran strebt nach dem Besitz von Atomwaffen und ist nicht mehr sehr weit davon entfernt, dieses Ziel zu erreichen. Wir alle machen uns zu Recht Sorgen aufgrund der Bedrohungen, die dies für Europa und insbesondere für Israel bedeuten würde. In diesem Umfeld fand der Besuch Bushs, des Präsidenten der Vereinigten Staaten, in Indien statt. Das Atomwaffenabkommen, über das dort verhandelt wurde, ist ein Abkommen zwischen Amerika und Indien. Indien hat den Nichtverbreitungsvertrag jahrzehntelang nicht unterzeichnet. Im Zusammenhang mit der internationalen Diskussion über atomare Abrüstung bedeutet dies nichts anderes, als dass Indien, ein Land, das sich bewusst nicht an die atomare Abrüstungspolitik der letzten zehn Jahre gehalten hat, nun belohnt und offiziell in den Status einer Atommacht gehoben wird, positiv sanktioniert durch die Vereinigten Staaten. An dieser Stelle muss die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, wenn sie sich dazu bekennt, dass Deutschland zur weltweiten atomaren Abrüstung steht, öffentlich deutlich machen, dass sie dies für falsch hält. ({0}) Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Außenminister Steinmeier gesagt hat, er hätte sich einen besseren Zeitpunkt für dieses Geschäft vorstellen können. Vielleicht ist das eine Form diplomatischer Kritik. Ich habe gelesen, dass Sie, Frau Merkel, mit Präsident Bush telefoniert haben. So einfach funktioniert das aber nicht. ({1}) Wir von den Grünen und viele in diesem Parlament erwarten, dass Sie die internationale Politik der atomaren Abrüstung fortsetzen. Wenn diese durch eine strategische Fehlentscheidung wie die der Amerikaner bezüglich Indiens gefährdet wird, erwarten wir, dass Sie das klar und deutlich sagen. Wie wollen wir denn sonst dem Iran, Nordkorea, Saudi-Arabien oder anderen Ländern - darüber wird wenig diskutiert - klar machen, dass sie keine Atomwaffen haben dürfen, wenn wir nicht deutlich sagen, dass das internationale Regime der atomaren Abrüstung gilt? Ich finde, dass Sie dazu ein klares Wort sagen müssen. ({2}) Ich komme nun zum Bereich Innenpolitik und möchte hier mit dem Thema Arbeitsmarktpolitik beginnen. Die Maßnahmen, die Sie bisher ergriffen haben, nämlich den Rentenzuschuss beim Arbeitslosengeld II zu kürzen und die Pauschalen bei den Minijobs anzuheben, sind rein fiskalischer Art. Das ist keine Arbeitsmarktpolitik, die hilft, die Menschen aus der Dauerarbeitslosigkeit herauszuholen. Es wird nur eine Diskussion um Mindestlöhne und Kombilöhne geführt. Wie wollen Sie den Menschen, die lange arbeitslos sind, oder den älteren Arbeitslosen, die eigentlich keine Chance mehr auf einen Arbeitsplatz haben, helfen, wieder in Arbeit zu kommen? Ich finde, bisher liegt von Ihrer Regierung hierzu nichts vor. Auch in den einzelnen Etats des Bundeshaushalts sind keine entsprechenden Zahlen zu finden. Es liegt kein klares Konzept vor. ({3}) Ihre Antwort ist: Sie wollen die Lohnnebenkosten senken. Sie tun dies aber nicht signifikant. Ich kann Ihnen nicht ersparen, das so deutlich zu sagen. Sie wollen, wenn alles gut geht, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte senken. Den Beitrag zur Rentenversicherung wollen Sie um 0,4 Prozentpunkte erhöhen. Sie werden, so wie die Dinge im Gesundheitsbereich aussehen, die Sozialversicherungsbeiträge um fast 1 Prozentpunkt anheben müssen. Sie gehen hier ein bisschen runter, dort ein bisschen rauf. Das ist kein Konzept für eine signifikante Senkung. ({4}) Frau Merkel, ich möchte von Ihnen hierzu eine klare Antwort. Sie können nicht so tun, als würde die Mehrwertsteuererhöhung die Kosten für Gesundheit nicht erhöhen. Sie wissen auch, dass die Verlagerung von Steuermitteln auf die Beiträge Auswirkungen haben wird und die Krankenversicherungsbeiträge steigen werden. Die Politik, die Sie betreiben, ist nicht konsistent. ({5}) Ich habe die Sorge, dass sich der Anspruch, die große Koalition stemme große Strukturprobleme, bei Ihnen nicht in die Wirklichkeit umsetzen lässt. So wie bisher die Diskussion über Mindest- und Kombilöhne geführt wurde, spricht alles dafür, dass auch das schief gehen wird. Die einen sind für Mindestlöhne. Ich will für meine Fraktion sagen: Wenn man das gut macht, also regional und branchenspezifisch differenziert vorgeht und entsprechende Übergangsregelungen vorsieht, dann ist das Konzept der Mindestlöhne richtig. Vor allem wenn man einen internationalen Vergleich vornimmt, lassen sich viele Argumente dafür finden. Aber die Kombination von flächendeckendem Kombilohn mit Mindestlöhnen ist ökonomisch der größte Unsinn, den Sie überhaupt anrichten können. ({6}) Ihre Vorstellung ist doch: Es wird ein Mindestlohn vorgegeben. Wenn die real existierenden Löhne unterhalb des Mindestlohns liegen, gleicht der Staat die Differenz aus. Wenn Sie das ernsthaft vorhaben - das war in der Diskussion -, dann sage ich: Das wird keinen einzigen Arbeitsplatz schaffen. Das ist eine flächendeckende Milliardensubvention des Arbeitsmarkts, wodurch Dauerarbeitslose aber keine bessere Perspektive bekommen. Das wird dazu führen, dass die Wirtschaft, zum Teil mit Augenzwinkern gegenüber den Gewerkschaften, in diesem Bereich Arbeitsplätze schafft nach dem Motto: Wenn der Staat draufzahlt, kann es nicht verkehrt sein. So ein Konzept brauchen Sie uns in den nächsten Monaten nicht als Reformkonzept für den Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik Deutschland auf den Tisch zu legen. ({7}) Frau Merkel, man muss feststellen, dass Sie für die Lösung der Probleme in diesem Land bislang keine konsistente Antwort haben. Die beiden vordringlichen Probleme sind, wie wir erstens neue Jobs im Niedriglohnbereich schaffen können, sodass Arbeit auf dem Erwerbsarbeitssektor endlich möglich ist, und wie wir zweitens die Schwarzarbeit effektiv bekämpfen können. Rechnerisch entspricht das Schwarzarbeitsvolumen 5 Millionen Vollerwerbsarbeitsplätzen. Dazu habe ich bisher nichts von Ihnen gehört. Wir Grünen haben ein Konzept. Da wir festgestellt haben, dass die Schwarzarbeit deswegen so hoch ist, weil das Entstehen von Jobs auf dem Arbeitsmarkt gerade im unteren Lohnbereich durch die Lohnzusatzkosten faktisch unmöglich gemacht wird, wollen wir das Ganze verändern: Die Lohnzusatzkosten, die das größte Problem sind, müssen wir im unteren Lohnbereich niedriger ansetzen, nämlich nicht gleich mit 42 Prozent, wie es heute der Fall ist. Ab dem ersten Euro muss ein geringerer Beitrag für die Sozialversicherungssysteme erhoben werden. Erst bei circa 1 800 bis 2 000 Euro wollen wir beim vollen Satz sein. Das ist ein grünes Progressionsmodell für die Sozialversicherungsbeiträge. ({8}) Frau Merkel, der springende Punkt ist, dass Sie bei diesem Konzept mit einer bestimmten Summe Geld - sagen wir, mit 15 Milliarden Euro - wesentlich mehr Arbeitsplatzeffekte erreichen können, als wenn Sie dies bezogen auf die ganze Breite der Lohn- und Einkommensskala tun würden. Das IAB schätzt, dass Sie mit 15 Milliarden Euro bei Umsetzung unserer Vorschläge 500 000 Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich schaffen könnten, während Sie ansonsten nur 200 000 Arbeitsplätze schaffen könnten. Wir haben in Deutschland das Problem, dass die Dauerarbeitslosen keine Chance mehr haben. Deshalb müssen Sie Ihre Politik auf diesen Bereich konzentrieren und nicht die gesamte Skala der Löhne und der Beschäftigung heranziehen. ({9}) Ich möchte nun zur Gesundheitspolitik kommen. Soweit wir das verfolgen können, sehen wir, dass sich in den Diskussionen hier einiges Wildes abspielt. Heute Nachmittag gibt es ja wieder ein entsprechendes Treffen. Ich will es einmal ganz einfach sagen. Wir haben folgende Situation: Wir haben ein sehr teures Gesundheitssystem und wir belasten die Löhne falsch, weil wir zu viel über den Lohn finanzieren. Übrigens, Herr Lafontaine, in Ihrer simplen Ökonomieanalyse kommen Sie immer mit der Steuer- und Abgabenquote; Sie stellen aber nicht die Frage, wie hoch die Lohngesamtkosten im internationalen Vergleich sind. Gestern wurde die Zahl deutlich genannt: Im internationalen Vergleich haben wir die zweithöchsten Lohngesamtkosten nach Dänemark, und zwar deswegen, weil wir mit den Lohnnebenkosten an der falschen Stelle ansetzen. Sie halten das für eine neoliberale Diskussion. Mit Ihrem ökonomischen Dogmatismus, der etwas Eitles hat und aus der Vergangenheit stammt - ich will mich nicht näher damit beschäftigen -, verabschieden Sie sich aus jeder ökonomischen Klarheit bezüglich der Investitionen. ({10}) Frau Merkel, ich will hier ein klares Konzept sehen. Irgendein Mischmaschkonzept werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Aus dem Konzept muss erstens klar werden, wie wir in Deutschland zu mehr Prävention kommen. Das beste Gesundheitssystem ist nämlich eines, das die Kosten vermeidbarer Krankheiten reduziert. ({11}) Im Jahre 2005 haben Sie ein Präventionsgesetz - der Umfang der Zahlungen sollte immerhin 250 Millionen Euro betragen - im Bundesrat scheitern lassen. Bislang ist an dieser Stelle nichts von Ihnen gefolgt. Wir könnten also einsparen, indem die Leute weniger krank werden und wir hier in Deutschland eine vernünftige Prävention durchführen. Hier sind wir im internationalen Vergleich schwächer als andere vergleichbare Länder. Das muss sich ändern. Kommen Sie nicht mit einem Kompromiss, in dem zur Prävention nichts essentiell Neues formuliert ist. ({12}) Zweitens. Kommen Sie nicht mit einem Kompromiss, der nur auf der Einnahmenseite greift. Ich sage Ihnen: Wenn Sie neues Geld für das Gesundheitssystem herschaffen, den Verteilmechanismus zwischen der ÄrzteFritz Kuhn schaft und den Kassen, zwischen denen, die heute von dem Ganzen profitieren, aber nicht substanziell verändern, dann wird das neue Geld so schnell weg sein, so schnell können Sie gar nicht schauen, wodurch Sie nichts zur Reform des Gesundheitssystems in Deutschland beigetragen haben. ({13}) Deswegen sind die Frage nach mehr Wettbewerb im Gesundheitssystem, die Frage nach Transparenz für die Patientinnen und Patienten und die Frage nach Prävention essenziell. Wir müssen nämlich auch die Ausgabenseite des Gesundheitssystems - und nicht nur die Einnahmenseite - bearbeiten. Sie wissen, dass wir bei der Strukturreform für eine Bürgerversicherung sind, durch die die Finanzierung des Gesundheitssystems auf eine breitere und solidarischere Grundlage gestellt wird. Ich habe die Sorge, dass Sie aufgrund der Aufstellung, die Sie nun einmal haben - die Kopfpauschale auf der einen Seite und die Bürgerversicherung auf der anderen Seite -, zu einem richtig miesen, faulen Kompromiss kommen werden. ({14}) In der Diskussion sind die lohnbezogenen Arbeitgeberbeiträge - gedeckelt oder nicht gedeckelt -, die Arbeitnehmerbeiträge auf der breiteren Grundlage aller Einkunftsarten, ein kleines Kopfgeld bzw. eine kleine Kopfprämie und schließlich ein Gesundheitssoli. Ich sage Ihnen klipp und klar voraus: Dieses Gemisch, das Sie hier vorhaben, wird schlechtere Ergebnisse zur Folge haben als jedes der einzelnen Modell allein, die vorher in der Diskussion waren. Darauf können Sie Gift nehmen. ({15}) Deswegen müssen Sie, Frau Merkel, wenn Sie den Anspruch haben, mit der großen Koalition die großen Strukturprobleme in unserem Land zu lösen, schon mehr Mut beweisen als mit dieser Kompromissmischtechnik, die Sie in anderen Bereichen, so wie es im Koalitionsvertrag steht, angewendet haben. Wenn Sie die Frage zum Verhältnis zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und der PKV nicht aufgreifen und Sie keinen Risikostrukturausgleich zwischen diesen beiden Versicherungssystemen schaffen, dann können Sie alles, was Sie hier machen wollen, einpacken. Was soll das für ein System sein, wenn nur die Kapital- oder Mieteinkünfte der Mitglieder in der gesetzlichen Krankenversicherung herangezogen werden, aber nicht die der Mitglieder in der PKV? ({16}) Das heißt, dass Sie an das Vermögen der kleinen Leute, falls diese Mieteinnahmen zur Alterssicherung haben, herangehen, dass aber die Gutverdienenden in der PKV außen vor bleiben. Das ist keine Verbreiterung; das, was Sie offensichtlich anstreben, ist vielmehr ein richtig mieser Kompromiss. Wir werden die Diskussion begleiten. Aber wir lassen es Ihnen nicht durchgehen, dass Sie um des Koalitionsfriedens willen - ich sage noch einmal: Der Honeymoon, also die Phase des netten Lächelns, ist vorbei - einen Kompromiss schließen, der keine tatsächlichen Strukturreformen im Gesundheitssystem bedeutet. Ich möchte etwas zum Thema Wirtschaft und Innovationen sagen. Auf diesem Gebiet sind Sie richtig schwach. Sie stellen für vier Jahre 6 Milliarden Euro für die Forschung zur Verfügung. Eine kleine Bemerkung am Rande: In Deutschland geben wir jedes Jahr 6 Milliarden Euro für Agrarsubventionen aus. - Aber ansonsten beschließen Sie in diesem Bereich Kürzungen. Der EU-Finanzkompromiss im Dezember bedeutet nichts anderes als eine Kürzung der Mittel für Forschung und Wissenschaft auf europäischer Ebene. Sie, liebe Frau Merkel, haben dem zugestimmt. ({17}) Alle Welt weiß, dass die Zukunft der Arbeitsplätze in der Wissensgesellschaft liegt. Die einzige Chance für Deutschland besteht darin, eine Spitzenstellung in der Wissensgesellschaft mit Innovationen, also mit neuen Produkten und Dienstleistungen, zu erreichen, die andere, egal mit welchen Lohnkosten, noch nicht bereitstellen können. Was machen Sie? Sie flüchten sich unter dem Namen „Mutter aller Reformen“ der Föderalismusreform in die Kleinstaaterei und geben als Bundesregierung auf einem Gebiet, wo es gilt, die Wissensgesellschaft zu gestalten, den Anspruch auf, an dieser Stelle ein Wort mitzureden. ({18}) Damit Ihnen der Koalitionskompromiss nicht um die Ohren fliegt, sitzen Sie mit dem dicken Hintern der großen Koalition auf dem vereinbarten Paket der Föderalismusreform, ({19}) anstatt endlich das zu machen, was in den Ländern - zum Teil auch von der SPD - als Notwendigkeit erkannt wird, nämlich das Bildungssystem der Zukunft gemeinsam zu gestalten. ({20}) Ich frage: Frau Merkel, wo ist eigentlich der Wirtschaftsminister? ({21}) - Er ist jetzt also da. Wenn es darum geht, für Deutschland Innovationspolitik zu gestalten, dann kann ich nur sagen: Der Autismus, Herr Glos, mit dem Sie zweimal in der Woche eine Presseerklärung herausjagen, man solle den Ausstieg aus der Atomenergie rückgängig machen, ist keine wirtschaftspolitische Gestaltung für ein zukunftsfähiges Industrieland. ({22}) Lieber Michael Glos, ich habe in der Zeitung gelesen, dass Sie sich beim Besteigen eines Hybridautos anlässlich eines Besuches in Japan den Kopf gestoßen hätten. ({23}) Nehmen Sie das als Wink Gottes. ({24}) Der Herrgott, lieber Herr Glos, wollte Ihnen sagen, dass Sie sich einmal systematisch um Themen wie ökologische Modernisierung, nachhaltige Mobilität und eine neue Energiepolitik kümmern sollen; denn da liegt die industriepolitische Zukunft der Bundesrepublik Deutschland. ({25}) Frau Merkel, ich erhebe den Vorwurf, dass Sie sich vor der Beantwortung der Fragen, mit was wir in Zukunft unser Geld verdienen wollen, welche Visionen wir in der Industriepolitik und beim Aufbruch Deutschlands in eine neue Wirtschaftspolitik haben, und vor Ihrer Verantwortung für die Zukunft, die Sie an dieser Stelle haben, mit Ihren kleinen Trippelschritten aus dem Staub machen. ({26}) Wenn Herr Glos so weitermacht, werden Sie in der Wirtschaftspolitik keinen Blumentopf gewinnen. Herr Glos, Sie haben sich etwas vorschnell in die Tradition von Ludwig Erhard gestellt. Ludwig Erhard hatte eine klare Vorstellung von der Marktwirtschaft. Er wusste, dass man die Wirtschaft auf der einen Seite in Ruhe lassen muss, aber auf der anderen Seite einen echten Rahmen schaffen muss, der den Wettbewerb erst ermöglicht. Wo ist Ihr Engagement für mehr Wettbewerb in der Bundesrepublik Deutschland? Was machen Sie zum Beispiel im Energiebereich? Vier große Energiekonzerne beherrschen den Markt und können die mittelständische Energiewirtschaft, die es bei uns schließlich auch gibt, mit den Durchleitungsgebühren richtig in die Knie zwingen. Dazu habe ich von Ihnen noch nichts gehört, Herr Glos. Vor dieser Frage haben Sie sich gedrückt. Deswegen sind Sie kein guter Wirtschaftsminister. ({27}) Wir müssen auch über den Haushalt reden, Frau Merkel. Dieser Haushaltsplanentwurf entspricht nicht der Gestaltung neuer Möglichkeiten - ich beziehe mich damit auf Ihre Regierungserklärung -; es ist vielmehr ein ziemlich bequemer Haushalt, weil er die Konsolidierung nicht an der Stelle in Angriff nimmt, an der sie beginnen müsste. Die Einnahmen brummen. Wir werden in Deutschland 6 Milliarden bis 7 Milliarden Euro - die Angaben schwanken je nach Institut - zusätzlich einnehmen. Die Einnahmen brummen, aber was machen Sie? Statt sich um Zukunftsgestaltung, Gestaltung neuer Möglichkeiten und Freiheit für künftige Generationen zu bemühen, erhöhen Sie im Jahr 2006 in dem Moment, wo die Einnahmen brummen, die Verschuldung um weitere 7 Milliarden Euro. Gestern hat uns der Finanzminister erklärt, dies sei ein Jahr der Konjunkturunterstützung. Die Konjunktur, wie sie sich derzeit entwickelt, braucht keine Unterstützung in Form einer Neuverschuldung um 7 Milliarden Euro. Notwendig ist vielmehr eine Haushaltskonsolidierung, die Sie in diesem Jahr aber nicht angehen. ({28}) Ich nenne Ihnen auch den Grund dafür. Es ist eine billige Nummer: Sie wollen im ersten Jahr der großen Koalition den schwierigen und unbequemen Weg der Haushaltskonsolidierung nicht einschlagen. Sie haben den Haushalt einer Honeymoon-Koalition vorgelegt; es ist kein Haushalt einer Koalition, die die Zukunft gestalten will. ({29}) Es ist ganz einfach. Hans Eichel kam immer in Bedrängnis und Panik, wenn zu wenig Einnahmen erzielt wurden. Peer Steinbrück kommt in Panik, weil die Einnahmen plötzlich zu hoch sind. Anders ist doch die Hektik, mit der Sie die Mehrwertsteuererhöhung beschließen wollen, nicht zu erklären. Sie betreiben in diesem Jahr eine schöne Honeymoon-Haushaltspolitik und verüben im nächsten Jahr mit der Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte einen Anschlag auf die Konjunktur und die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Die Theorie, die der Finanzminister gestern erläutert hat - er ist leider gerade nicht anwesend -, hatte ein bisschen mit Voodoo zu tun. Sie handeln nach dem Motto „Jetzt so viel Anlauf nehmen, dass der Anschlag auf die Konjunktur im nächsten Jahr verdaut werden kann“. Frau Merkel, das ist so, als wenn Sie über das Wasser laufen und der Gefahr des Einsinkens dadurch begegnen wollten, dass Sie schneller Anlauf nehmen. ({30}) Was Sie vorgelegt haben, ist wirtschaftlicher Unsinn. Es gibt eine Alternative, und zwar den Subventionsabbau. Alle Institute - das Kieler Institut für Weltwirtschaft, das DIW und andere - rechnen Ihnen vor, dass Sie schon in diesem Jahr unter der Defizitgrenze von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bleiben könnten und auf einen solchen Anschlag auf die Konjunktur verzichten könnten. Unser Bundeshaushalt steckt noch voller Subventionen, die wir abbauen können. Wir werden Ihnen das in den Beratungen im Einzelnen zahlengenau vorrechnen. Ich möchte noch etwas zum Thema Entwicklungsfinanzierung sagen, Frau Merkel. Davor haben Sie sich völlig gedrückt. Sie haben sich in der Regierungserklärung dazu bekannt, dass die Bundesregierung ihr Ziel, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Entwicklungsfinanzierung einzusetzen, bis 2015 erreichen will. Aber der Haushalt gibt keinerlei Aufschluss über die Frage, wie Sie das tun wollen. Sie haben keinen Umsetzungsplan und Sie haben die französische Initiative einer Flugticketbesteuerung, aus der das Vorhaben finanziert werden könnte - 13 Staaten haben dem Vorschlag zugestimmt -, durch Schweigen und Wegschauen nicht gerade positiv begleitet. Sie haben keine Antwort auf die entscheidende Frage, wie wir in Zukunft die Entwicklung finanzieren sollen. ({31}) Ich sage Ihnen ohne düstere Prophetie - der düstere Prophet Oskar Lafontaine hält sich jetzt an Oswald Spengler mit seinem Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“; ich würde sagen, das passt zu Ihnen, lieber Herr Lafontaine -: ({32}) Was wir an der Entwicklungsfinanzierung einer gerechten Weltordnung fehlen lassen, werden wir später teuer zu bezahlen haben. Deswegen ist es notwendig, unser Versprechen hinsichtlich der 0,7 Prozent endlich einzulösen. ({33}) Ich möchte noch zwei Punkte im Zusammenhang mit der Gesellschaftspolitik ansprechen, Frau Merkel. Denn ob eine Koalition groß ist oder nur faul und behäbig, zeigt sich auch daran, ob sie zentrale Probleme unserer Gesellschaft wahrnimmt, angeht und löst. Das Erste ist die Kinderpolitik. Davon wird erstaunlich viel geredet; aber es wird sehr wenig gemacht. Die Vereinbarkeit von Beruf, Karriere und Kindern ist in Deutschland im internationalen Maßstab nicht ausreichend gewährleistet. Wir sind an dieser Stelle ein Entwicklungsland. Der Hauptgrund ist, dass in Deutschland, vor allem in den süddeutschen Bundesländern, in Bayern und Baden-Württemberg, Plätze für Kinder unter drei Jahren in den Kinderkrippen fehlen. Ich rede nicht über die Qualität der Betreuung - darüber müssten wir eigentlich auch diskutieren -, sondern nur darüber, dass viele Mütter und Väter keine Betreuungsplätze für ihre unter dreijährigen Kinder finden. Mit dem Elterngeld - das ist durchaus ein diskutables Konzept, auch wenn es viel kostet - machen Sie aber den dritten bzw. den vierten Schritt vor dem ersten. Deswegen fordern wir vom Bündnis 90/Die Grünen Sie auf: Schaffen Sie zuerst eine ausreichende Zahl an Betreuungsplätzen für Kinder unter drei Jahre! Wenn dann noch Geld übrig ist, können wir darüber reden, was noch Sinnvolles gemacht werden kann. Aber es darf nicht umgekehrt sein. ({34}) Was hat denn eine junge Mutter davon, ein Jahr lang das von Ihnen geplante Elterngeld in Anspruch zu nehmen, wenn sie weiß, dass es anschließend schief geht, weil sie keinen Betreuungsplatz für ihr Kind hat? Sie haben im Koalitionsvertrag eine Überprüfung der Entwicklung bei den Kinderkrippen bis 2010 vorgesehen. Wer weiß schon, ob es, wenn Sie 2010 feststellen, dass die Situation bei den Kinderkrippen noch immer so mies ist wie heute, nicht wieder vier, fünf Jahre dauert, bis eine vernünftige Zahl an Betreuungsplätzen erreicht wird? Aus heutiger Perspektive bedeutet Ihre Ankündigung: Zehn Jahre werdet ihr auf jeden Fall noch warten, bis etwas Vernünftiges passiert. Sie sagen ständig, dass Sie in zehn Jahren im internationalen Vergleich überall auf Platz drei stehen wollen. Ich sage Ihnen angesichts Ihrer Politik aber: Sie werden auch in zehn Jahren bei der Kinderbetreuung auf dem letzten Platz stehen. Sie müssen dringend etwas ändern, wenn Sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Sie sich auf die Fahne geschrieben haben, tatsächlich gewährleisten wollen. ({35}) Wir sollten aufhören, den Streit über die Lösung des demografischen Problems, also die Tatsache, dass es in Deutschland zu wenige Kinder gibt, auf dem Rücken der jungen Frauen und Männer auszutragen. ({36}) Wenn diese noch zehn Jahre die blöde Diskussion, die nach dem Muster verläuft, diejenigen, die heute 20 oder 25 sind, seien an der demografischen Entwicklung schuld, verfolgen müssen, dann werden sie noch weniger Kinder bekommen. Vielmehr sollte sich die Politik auf ihr Kerngeschäft besinnen, die Rahmenbedingungen für Familienfreundlichkeit und Kinderfreundlichkeit sowie für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern. Alles andere werden dann die Menschen machen. Weiter sollten wir uns nicht einmischen. Aber den Druck müssen wir herausnehmen. Sonst sagen die jungen Leute: Von euch lassen wir uns das nicht mehr vorhalten! ({37}) Lassen Sie mich noch ein Wort zum Thema Integration und Einwanderung sagen. Frau Merkel, Sie haben sich in Ihrer Regierungserklärung und in vielen anderen öffentlichen Äußerungen zur Integration bekannt. Aber das wird durch Ihre Haushaltspolitik nicht bestätigt; denn Sie haben die Mittel für Integrationskurse um 67 Millionen Euro gekürzt. Das sind 32 Prozent des betreffenden Gesamtetats. Sie bekennen sich zwar in Sonntagsreden zur Integration. Aber dort, wo es um Sprachkurse und Landeskunde geht, kürzen Sie rabiat. Ich halte das für nicht verantwortbar. ({38}) Frau Böhmer wird sicherlich sagen, dass 2005 nicht alle Mittel abgerufen worden seien und dass daher die Kürzungen gerechtfertigt seien. Aber es ist logisch, dass wir zunehmend mehr Sprachkurse in Deutschland brauchen. Diese Kurse sind ein Renner. Wenn Sie nachgedacht hätten, dann wäre Ihnen bestimmt eingefallen, wie Sie die nun gestrichenen Mittel hätten vernünftig einsetzen können. ({39}) Stattdessen nerven Sie die Menschen mit albernen Einbürgerungstests. Sie sollten sich einmal die Parallelität vor Augen führen. Auf der einen Seite werden die Mittel für Integration gekürzt. Auf der anderen Seite ist das, was von Baden-Württemberg vorgeschlagen wurde, nichts anderes als ein Idiotentest. ({40}) Den von Hessen vorgeschlagenen Einbürgerungstest hätte selbst die Hälfte der Deutschen nicht bestanden. Deutschland würde wirklich aussterben, wenn wir die Einwanderung mit solchen Tests regelten. Frau Merkel - ich sage das in erster Linie an die Adresse der Union -, Sie haben noch immer ein ideologisches Problem. Wir sind faktisch ein Einwanderungsland und sind in wirtschaftlicher Hinsicht sogar auf Einwanderung angewiesen. Es gibt keine innovative Ökonomie, die nicht systematisch Einwanderung zulässt. Schauen Sie doch auf die USA oder nach Großbritannien! Aber Sie wollen es nicht. Sie haben nicht begriffen, dass wir hier einen Sprung nach vorn machen müssen, ({41}) zum Beispiel bei der konsequenten Anwendung des Einwanderungsgesetzes. Ich wünsche mir, dass Sie da mehr tun. Zeigen Sie mir ein Land in Europa oder auf der Welt, das systematisch hoch ausgebildete junge Schüler und Schülerinnen oder Studenten und Studentinnen, die Besten, abschiebt wie zum Beispiel die junge Kurdin, die beim Bundespräsidenten eingeladen war und vier Wochen später abgeschoben werden sollte, und das nur aus Dogmatismus, nur weil wir nicht in der Lage sind, eine vernünftige Einwanderung solcher Menschen in Deutschland zu realisieren! ({42}) Frau Merkel, wir können uns das, was Sie da - ich behaupte: aus ideologischer Verblendung - veranstalten, weder gesellschaftlich noch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten und schon gar nicht unter Wirtschaftsgesichtspunkten leisten, weil wir gut ausgebildete Leute in unserem Land brauchen. Deswegen fordere Sie auf, Ihr ideologisches Konzept zu überdenken; sonst werden Sie Deutschland nicht zu einem Land der Möglichkeiten und der neuen Freiheiten machen. ({43}) Ich komme zum Schluss. Wenn ich sehe, was Sie bisher auf den Tisch gelegt haben, dann bekomme ich nicht den Eindruck, dass Ihre Koalition groß ist. Sie ist eher breit. Sie arbeitet nach dem Mechanismus „Von diesem ein bisschen, von jenem ein bisschen“, aber vermeidet klare Strukturreformen. Dabei haben wir alle zusammen in den letzten Jahren gelernt, dass es auf strukturelle Reformen ankommt und dass es nicht damit getan ist, lediglich hier und dort ein bisschen zu verändern. Deswegen sage ich: Wenn Sie diese Politik nicht ändern, werden Sie bei der ökologischen Modernisierung nichts erreichen und auch bei den Innovationen nicht. Sie werden nicht in sozial gerechter Weise mehr Freiheit für alle bewirken und vor allem werden Sie keine nachhaltige Politik im Interesse künftiger Generationen realisieren. Dieser Haushalt wäre eine Chance, zu springen. Ich hoffe, dass Sie in den Beratungen der nächsten Monate wenigstens an der einen oder anderen Stelle ein Stück vorankommen. Vielen Dank. ({44})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel. ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir zunächst eine Vorbemerkung. Wir alle haben gestern die Nachricht von der Freilassung des Afghanen Abdul Rahman gehört. Ich denke, wir sind uns in diesem Hohen Hause einig: Wir haben diese Nachricht mit großer Erleichterung aufgenommen. ({0}) Es war für uns schon erschütternd, zu hören, dass Herrn Rahman der Tod drohte, nur weil er zum Christentum konvertiert ist. Ich möchte deshalb allen danken, die die Bemühungen der Bundesregierung um seine Freilassung unterstützt haben. Denn es war die einhellige Unterstützung in unserem Land und international, die dazu geführt hat, dass er freigelassen worden ist. ({1}) Warum sage ich das zu Beginn? Ich sage das, weil wir damit deutlich gemacht haben, dass wir es nicht akzeptieren, wenn Menschenrechte missachtet werden, dass wir es nicht akzeptieren, wenn die Religionsfreiheit einfach außer Kraft gesetzt wird. Wir akzeptieren das aus zwei Gründen nicht: weil es zum einen um das Schicksal einzelner Menschen geht, weil wir es den Betroffenen schuldig sind, zum anderen aber auch uns selbst. Denn in einer Zeit globaler Märkte, in einer Zeit, in der wir international vor großen Herausforderungen stehen, in einer solchen Zeit dürfen wir unsere Werte der Demokratie und der Menschenrechte nicht nur im Munde führen, sondern wir müssen sie auch behaupten. Das können wir nur, wenn wir entschlossen und ohne Zögern für sie eintreten, damit auch außerhalb unseres Landes erkennbar wird, dass wir sie behaupten wollen. ({2}) Wir müssen uns immer wieder selbst vergewissern, dass wir das wollen; denn wir leben am Anfang des 21. Jahrhunderts in einer veränderten Welt, in einer Welt, die nach dem Ende des Kalten Krieges neue Gefährdungen kennt, in einer Welt, in der wir neue Wettbewerber haben. Das heißt, unser demokratisches Selbstverständnis steht insoweit auf dem Prüfstand, als wir in jedem einzelnen Fall beweisen müssen, ob wir es mit unserer Politik ernst meinen oder nicht. Wir sind in den letzten 130 Tagen schon mit vielen Dingen konfrontiert worden. Ich denke nur an den Karikaturenstreit, durch den uns bewusst geworden ist, dass auch unsere Grundwerte - auf der einen Seite die Pressefreiheit, auf der anderen Seite die Religionsfreiheit - immer wieder in einem Spannungsverhältnis stehen. Ich denke auch - das wurde heute schon angesprochen - an die Diskussion über den Iran und die Frage, inwieweit wir verhindern können, dass der Iran in den Besitz von Atomwaffen kommt, und inwieweit Deutschland in diesem Prozess - im Übrigen seit Jahren - Verantwortung übernommen hat. Die Tatsache, dass drei Mitgliedstaaten der Europäischen Union - Frankreich, Großbritannien, Deutschland - gemeinsam Verhandlungen geführt haben und weiter in diesen Prozess eingebunden sind, stellt uns vor die Herausforderung, nicht nur passiv zu kommentieren, ob die Diplomatie eine Chance hat, sondern aktiv jeden Tag dafür zu arbeiten, dass Diplomatie zum Erfolg führt. Wenn an diesem Donnerstag ein Treffen der Außenminister von sechs Staaten stattfindet, dann beweist Deutschland damit, dass es seine Chance in diesem Prozess nutzen und deutlich machen will, was in der internationalen Gemeinschaft geht und was nicht geht und wo Schranken gesetzt werden müssen. ({3}) Wir haben in dieser Woche über die Frage gesprochen, ob sich Deutschland im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Kongo engagieren soll. Das ist eine schwierige Frage. Es kann niemand sagen, dass es im Kongo keinerlei Risiken gibt. Wir haben uns aber seit Jahren in einem diplomatischen Prozess und in der Entwicklungshilfe engagiert und wir haben dafür gesorgt, dass demokratische Strukturen langsam eine Chance bekommen können. Wir haben Geld investiert, wir haben Polizisten ausgebildet und wir haben dafür Sorge getragen, dass dort heute nicht mehr Millionen von Menschen umkommen. Das ist ein Riesenerfolg und diejenigen, die das selber beobachtet haben, wie das einige Kollegen getan haben, haben davon berichten können. Jetzt stellt sich eine ganz entscheidende Frage: Gelingt es, dort Wahlen durchzuführen, und soll sich die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik dort für einen begrenzten Zeitraum engagieren? Darüber muss intensiv diskutiert werden. Aber das, was nicht geht, ist, traurig zu gucken, wenn uns eines Tages wieder Bilder von der Straße von Gibraltar erreichen, die zeigen, wie Flüchtlinge aus Afrika nach Europa kommen wollen, auf der anderen Seite aber dann, wenn wir von der UNO um Hilfe gebeten werden, Nein zu sagen und nicht mitzumachen. Das geht nicht. ({4}) Natürlich geht es bei diesen Fragen nicht nur um militärische Unterstützung. Der Prozess im Kongo zeigt das. Ich kann das für den gesamten Bereich der Entwicklungspolitik sagen. Herr Kuhn, ich bekenne mich heute noch einmal zu der ODA-Quote. Ich sage Ihnen aber auch, dass die Wege, die dorthin führen, noch nicht genau beschrieben sind. Unsere Glaubwürdigkeit wird aber auch davon abhängen, ob wir unsere internationalen Verpflichtungen einhalten. Ich muss allerdings leise darauf hinweisen, dass auch vergangene Regierungen - nicht nur die letzte, sondern auch schon die vorletzte - nicht immer konsequent waren. Ich sage Ihnen nur: Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts werden uns immer stärker dazu zwingen, auch an dieser Stelle deutlich zu machen, dass wir glaubwürdig sind, weil ansonsten andere auf der Welt uns und unsere Wertvorstellungen nicht ernst nehmen. Ich glaube, dass die Dringlichkeit in den nächsten Jahren zunimmt. Daraus wird sich die Erfüllung unserer Verpflichtungen ergeben. ({5}) Ich bin froh, dass wir uns im Zusammenhang mit Weißrussland in der Europäischen Union, aber auch hier in Deutschland ganz klar geäußert haben. Die dortige Opposition bedarf unserer Unterstützung, weil Opposition zu einem demokratischen Gemeinwesen gehört. Als demokratisches Gemeinwesen kann man Weißrussland leider noch nicht bezeichnen. Es gab dort massive Wahlfälschungen und das muss benannt werden. ({6}) Ich sage das deshalb zu Beginn meiner Rede, weil das Eintreten für Werte unsererseits von anderen außerhalb Deutschlands, außerhalb Europas beobachtet wird und weil das konsequente Eintreten für Werte natürlich auch Respekt verschafft, und zwar in einer Welt, in der wir auch ökonomisch vor neuen Herausforderungen stehen. Diese neuen Herausforderungen haben damit zu tun, dass Menschen in China, in Indien, in den mittel- und osteuropäischen Staaten plötzlich sagen: Auch wir haben jetzt die Möglichkeit, am Wettbewerb teilzunehmen; auch wir wollen, dass unser Lebensstandard steigt. Wir können nicht erklären, warum wir zwar für uns etwas in Anspruch nehmen, es anderen aber nicht gönnen. Das wäre keine demokratische Haltung. Wegen des verstärkten Wettbewerbs sind wir aufgefordert, deutlich zu machen, was wir wollen. Wir sind für das Modell der sozialen Marktwirtschaft, für den Ausgleich zwischen sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Stärke, für die Teilhabe jedes Einzelnen, für die Unteilbarkeit der Menschenrechte, für die Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Das sind unsere Maßstäbe. Sie müssen sich jetzt in einer Welt beweisen, die wir nicht durch Abschottung gestalten können. Nachdem wir die Mauer durch Deutschland beseitigt haben, können wir jetzt nicht eine Mauer um Deutschland ziehen. Nach meiner Auffassung müssen wir deutlich machen, dass wir nur durch Offenheit und durch ein Bekenntnis zur Freiheit bestehen können. Ich meine eine verantwortete Freiheit, die neue Gerechtigkeit schafft. Das ist der Ansatz, mit dem Deutschland seine Probleme lösen muss. ({7}) Daraus erwächst die Aufgabe dieser Regierung. Wir haben gesagt, sanieren, investieren, reformieren. Mit dieser Etappe haben wir losgelegt und dabei haben wir einiges zustande gebracht. Ich will mich damit heute nicht lange aufhalten. Ich will nur sagen: Der Haushalt, über den wir heute debattieren, ist ein Haushalt in einer Legislaturperiode, die sich das Sanieren zur Aufgabe gemacht hat. Dieses Sanieren darf Wachstum aber nicht abkoppeln und nicht verhindern, sondern muss es sehr wohl möglich machen. Deshalb ist dieser Haushalt im Zusammenhang mit anderen Haushalten zu sehen. ({8}) Selbstverständlich haben wir gesagt: Wir investieren. Herr Gerhardt, Sie haben heute gesagt, wir geben den Menschen nicht alles zurück, was wir zusätzlich investieren. Aber Sie haben dabei nicht gesagt, dass wir auf einem Schuldenberg sitzen und dass wir diesen Schuldenberg abbauen müssen, dass wir zumindest die Neuverschuldung abbremsen müssen. Das ist schwer genug. ({9}) - Ich finde wirklich, Sie sollten sich das einmal ganz ruhig anhören. ({10}) Das ist wirklich besser so. 130 Tage nach Regierungsbeginn kann man noch ruhig zuhören. ({11}) - Es ist das demokratische Recht, dazwischenzurufen. Aber noch schöner ist, wenn auch die Opposition auf der Zeitschiene konsistent und glaubwürdig ist. Das trägt dazu bei, dass das Zutrauen zur Politik wieder besser wird. ({12}) Wenn wir Schulden abbauen und neue Investitionsspielräume schaffen wollen, dann können wir nicht alles gleichzeitig machen - Wachstum plus Haushaltskonsolidierung -, ohne über die Einnahmeseite zu sprechen. Ich muss der FDP nun wirklich sagen - Sie wissen es ganz genau -: Wenn Sie sich einmal den Bleistift nehmen, alles in aller Ruhe richtig addieren und das, was Sie vorhaben, in Gesetzesform gießen, dann zeigt sich, dass bei all Ihren Vorschlägen riesige Lücken klaffen. Man kann keine Steuerreform durchführen, die Mindereinnahmen in Höhe von 27 Milliarden Euro vorsieht, und so tun, als ob man nicht gleichzeitig über Mehreinnahmen nachdenken muss. ({13}) Ich finde ehrlich, was wir tun. Ehrlichkeit ist die Grundlage für Vertrauensgewinn. Es ist vernünftig, so vorzugehen: sanieren, investieren - 25 Milliarden Euro - und reformieren. ({14}) Es ist gesagt worden, dass keine Strukturreformen sichtbar sind. Herr Kuhn und andere, Sie wissen genau, diese große Koalition hat entschieden - diese Entscheidung wurde übrigens in den ersten 130 Tagen, vor und nicht nach den Landtagswahlen getroffen -, den Menschen im Zusammenhang mit dem Rentenversicherungsbericht deutlich zu sagen: Unsere demografische Entwicklung bedingt, dass wir miteinander auch über eine verlängerte Lebensarbeitszeit sprechen müssen. Diese Aussage war richtig und sie war mutig. Weil wir eine große Koalition sind, war es auch so, dass die Volksparteien nicht gegeneinander, sondern miteinander argumentiert haben. Jeder kann sich vorstellen - das kann sich auch jede Regierungskoalition vorstellen -, wie die Landtagswahlkämpfe abgelaufen wären, wenn wir nicht zusammen gewesen wären. Da haben wir eine Chance dieser großen Koalition genutzt. Sie hat uns - auch das ist ein Ergebnis der Wahlen - nicht geschadet. Darauf können wir ein Stück stolz sein. ({15}) Ich sage ganz klar: Das war die erste Etappe. Jetzt folgt die zweite; denn was wir gemacht haben, reicht mir nicht, reicht der Koalition nicht und - das ist das Wichtige - reicht nicht für Deutschland. Zu dieser Zeit, wo wir hier im Deutschen Bundestag miteinander debattieren, werden die neuen Arbeitslosenzahlen verkündet. Es sind wohl knapp unter 5 Millionen Arbeitslose. Aber es sind fast 2 Millionen Menschen, die langzeitarbeitslos sind, und es sind 600 000 junge Menschen unter 25 Jahren, die keine Perspektive für sich sehen. Das kann uns natürlich nicht ruhen lassen. Deshalb beginnen wir mit der zweiten Etappe mit acht wichtigen Projekten, die ich Ihnen darstellen möchte, mit denen wir deutlich machen, dass wir unseren Weg sehr konsequent fortsetzen. Lassen Sie mich mit der Föderalismusreform beginnen. Ich bin etwas bedrückt - ich will das unverhohlen sagen - darüber, dass über die Föderalismusreform in letzter Zeit beschränkt auf ganz wenige Punkte, die auch noch relativ stark aus dem Zusammenhang gerissen wurden, diskutiert wird, während das Anliegen, das wir gegenüber den Menschen haben, aus meiner Sicht nicht mehr in vollem Umfang dargestellt wird. In den Jahrzehnten seit Verkündung des Grundgesetzes gab es in der Bundesrepublik Deutschland eine Entwicklung, in der sich die Zahl der zustimmungsbedürftiBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel gen Gesetze immer weiter erhöht hat - mit dem bekannten Phänomen, dass im Vermittlungsausschuss Lösungen gefunden werden, über deren Zustandekommen keine Transparenz herrscht, weil aus dem Vermittlungsausschuss nicht berichtet werden darf. Diese Tatsache hat einen Beitrag zur Politikverdrossenheit geleistet. Sie hat im Übrigen zu einer schleichenden Verantwortungslosigkeit geführt, ({16}) weil man niemals sagen kann, ob nun der Bund oder die Länder die Verantwortung haben. ({17}) Sie hat sogar dazu geführt - wenn man ehrlich ist, muss man das zugeben -, dass in den Ausschüssen im Deutschen Bundestag zum Teil gar nicht mehr debattiert wurde, weil man wusste: Wenn man schon Kompromisse schließen muss, dann schließt man sie bitte schön im Vermittlungsausschuss, aber doch nicht schon vor den Augen der Öffentlichkeit im Bundestag. Wenn wir jetzt davon wegkommen, dass 60 Prozent der Gesetzgebungsvorhaben zustimmungsbedürftig sind, und dahin kommen, dass es nur noch 40 Prozent oder unter 40 Prozent sind, dann haben wir geschafft, dass bei mehr Gesetzgebungsvorhaben - die Differenz ist 20 Prozentpunkte oder mehr - die Verantwortlichkeit wieder zugeordnet werden kann, dass wir, wenn wir im Bundestag zum Schluss verantwortlich sind, Rede und Antwort stehen müssen, dass auf der anderen Seite auch ein Land, das sich ein merkwürdiges Verfahren für den Vollzug eines Gesetzes ausgedacht hat, Rede und Antwort stehen muss, wenn gefragt wird, warum ein anderes Land das besser macht. Ich kann Ihnen heute schon voraussagen, wie schön die Länder untereinander darauf achten werden, ob sie denn ein vernünftiges Verfahren haben, weil sie natürlich sehen, wo es besser läuft und wo es schlechter läuft. Jetzt kommt ein zweiter Punkt: Ist die Antwort auf Globalisierung eigentlich Zentralisierung auf Bundesebene? Wenn ich die Diskussion über die Bildungspolitik höre, gewinne ich den Eindruck: Das Allerbeste wäre, wir würden ein Schulministerium zentraler Art hier in Berlin errichten und von dort aus die Schulpolitik machen. ({18}) Wenn Sie das wollen, dann muss ich Ihnen aber sagen: Sie kommen damit doch nicht einmal bis zu Ihren eigenen Landtagsfraktionen. ({19}) Mit Verlaub - ich möchte den Kollegen Tauss jetzt nicht angreifen -, der Kollege Tauss als Generalsekretär der baden-württembergischen SPD hat im Landtagswahlkampf doch eine bittere Erfahrung gemacht. Man hat ihm angeboten, in den Landtag zu gehen, wenn er sich für Schulpolitik interessiert, weil das einfach nicht die Sache des Bundestages ist. ({20}) Das ist doch auch okay. Wer die Leidenschaft Schulpolitik hat, der ist im Bundestag falsch aufgehoben. ({21}) - Meine Damen und Herren, ganz still! Jetzt passen Sie einmal ganz ruhig auf! Wir sind, finde ich, an einem hochinteressanten Punkt angekommen. ({22}) Wer möchte, dass Schulpolitik Bundespolitik wird, darf keine Föderalismusreform anstreben, sondern muss darüber sprechen, ob wir in Deutschland noch Länder brauchen. Das war aber nicht Gegenstand der Verabredung und fände, so wie das Grundgesetz derzeitig noch ist, in der zweiten Kammer auch keine Zweidrittelmehrheit. ({23}) Sie und wir alle - bei uns in der CDU/CSU-Fraktion sind die Diskussionen doch nicht anders - müssen miteinander überlegen, was sinnvoll ist und was nicht sinnvoll ist, aber auch, was machbar ist. Bei der Föderalismusreform wird es zum Schluss um eine Abwägung gehen, ob das, was wir jetzt mit den Ländern gemeinsam geschaffen haben, besser ist als das, was wir vorher hatten. Ich finde den Zustand, dass über die Frage von Studiengebühren, Juniorprofessuren und anderes jedes Mal das Bundesverfassungsgericht entscheiden muss, weil wir es nicht schaffen, unsere Kompetenzen zu ordnen, absolut unzureichend. Deshalb sollten wir uns mit aller Kraft der Föderalismusreform zuwenden. ({24}) Meine Damen und Herren, natürlich sind - wenn ich noch einen Blick auf die Bildungspolitik in Deutschland werfen darf - Innovationen in Bildung und Forschung dringend nötig. Das gilt im Übrigen für alle. Alle Bundesländer haben es versäumt, auf eine ganz einfache Sache zu achten, was ganz wesentlich zum schlechten PISA-Abschneiden beigetragen hat. Dass zum Beispiel Kinder mit ausländischem Hintergrund, deren Eltern ausländischer Herkunft sind, wenn sie in die Schule kommen, Deutsch lernen müssen, müssen die Länder jetzt durchsetzen. ({25}) Wir müssen durchsetzen, dass die Integrationskurse schrittweise weiter aufgebaut werden und die Mittel dafür abfließen. Aber das kann man - das wissen auch Sie - nicht in einem halben Jahr schaffen, sondern das wird ein längerer Prozess sein. Dass die Integrationsbeauftragte im Kanzleramt sitzt, ist ein deutlicher Beweis dafür, dass diese Bundesregierung Integration schwerpunktmäßig als Gemeinschafts-, als Querschnittsaufgabe sieht. Ich glaube, das war eine richtige Entscheidung. ({26}) Im Zusammenhang mit mehr Freiheiten und mehr Spielräumen möchte ich als zweiten Punkt das Thema Bürokratieabbau nennen. Wir erarbeiten jetzt ein Infrastrukturbeschleunigungsgesetz unter der Federführung des Bundesverkehrsministers. Dieses Infrastrukturbeschleunigungsgesetz ist etwas, was diese große Koalition zustande bekommen wird und was Rot-Grün nicht geschafft hat, weil Sie, Herr Kuhn und andere, das nicht wollten. Wir müssen Folgendes sehen: Wenn wir in Deutschland 5 Millionen Arbeitslose haben, dann ist es eben nicht egal, ob ein Frankfurter Flughafen, ein Schönefelder Flughafen oder bestimmte andere Infrastrukturobjekte in fünf, zehn, 15 oder 20 Jahren gebaut werden. ({27}) Denn dahinter stehen Menschen, Tausende von Arbeitsplätzen. Ob die 15 000 Arbeitsplätze im Zusammenhang mit dem Ausbau des Frankfurter Flughafens im Jahre 2010, 2015 oder 2020 entstehen, wird über das Schicksal von einzelnen Menschen, von jungen Menschen entscheiden. Diese Sichtweise gilt auch in Bezug auf mittelständische Unternehmen. Wir müssen uns doch einmal die Frage stellen: Welches Recht haben wir eigentlich, Minderheiten über Zeitspannen entscheiden zu lassen, was dazu führt, dass Mehrheiten ihre Lebenschancen nicht verwirklichen können? Ich finde, darüber müssen wir gemeinsam nachdenken und deutlich machen, wie es laufen muss. ({28}) Wir werden als Bundesregierung dafür sorgen, dass das Thema Bürokratieabbau konzeptioneller angegangen wird - das haben wir in der Koalitionsvereinbarung gemeinsam festgelegt -: Normenkontrollrat, Standardkostenmodell, wie die Holländer es uns vorgemacht haben. Der Bundeswirtschaftsminister wird ein Mittelstandsentlastungsgesetz erarbeiten lassen, in dem die Dinge konkret umgesetzt werden. Ich möchte Sie auf eine Sache aufmerksam machen, über die interessanterweise in Deutschland weniger diskutiert wird als in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Es gibt die so genannte Better-Regulation-Offensive, also bessere Gesetzgebung, bei der auch der deutsche Kommissar Verheugen sehr intensiv mitarbeitet. Man hat sich auch in der Europäischen Union zum ersten Mal seit Jahrzehnten vorgenommen, nicht immer neue Richtlinien zu schaffen, sondern einmal zu überlegen, ob die Abschaffung von Richtlinien nicht ein Schritt wäre, der der gesamten Wachstumsstrategie sehr viel besser bekommen würde. ({29}) Es ist jetzt gelungen, über 60 Richtlinien abzuschaffen. Ich denke, dass wir gerade während der deutschen Ratspräsidentschaft diesen Weg weitergehen sollten. Jetzt wird zum Beispiel die Vogelschutzrichtlinie mit der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie vereinigt. Sie alle wissen aus Ihren Wahlkreisen, was für Diskussionen wir genau über diese Themen haben. ({30}) Zumindest diejenigen Abgeordneten wissen das, die Wahlkreise haben, in denen es einen Fluss oder eine Wiese gibt. ({31}) - Manch einer hat seinen Wahlkreis in einer Großstadt, wo dies kein Problem ist. Die Bürgernähe der Europäischen Union, die wir brauchen, zeigt sich doch darin, dass man Regelungen, die historisch gesehen nacheinander entstanden sind, zusammenführt. Das wird Freiräume schaffen und uns in die Lage versetzen, uns auf die wirklich wichtigen Aufgaben Europas zu konzentrieren, von denen es hinreichend viele gibt. Wir werden diese Entwicklung während unserer Präsidentschaft voranbringen. ({32}) Ich möchte nun drittens zu dem aus meiner Sicht in der Tat zentralen Punkt Forschung und Innovationen kommen. Da stellt sich die Frage: Wo sind wir besser als andere, damit wir unseren Lebensstandard halten können? Herr Kuhn, Sie müssen doch neidlos anerkennen, dass wir in den nächsten vier Jahren 6 Milliarden Euro mehr für Forschung und Entwicklung ausgeben. ({33}) - Sie werden es doch mittragen. - Das sind durchschnittlich 1,5 Milliarden Euro pro Jahr mehr. Wenn Sie sagen, das sei genau das Geld, das wir pro Jahr für Landwirtschaftssubventionen ausgeben, dann muss ich erwidern: Ich war es nicht, die 2002 zugestimmt hat, dass der Agrarhaushalt, abgekoppelt von der Finanziellen Vorausschau 2007-2013, bis 2013 festgeschrieben wurde. Ich war es nicht. ({34}) Es mag damals Gründe dafür gegeben haben, dass Sie die Entscheidung mitgetragen haben. Auch die Landwirtschaftsfachleute in unseren Reihen waren froh darüber. Man konnte den Mitgliedstaaten wie zum Beispiel unseren französischen Freunden, mit denen dies 2002 verabredet wurde, doch 2005 nicht zumuten, dass man diese Vereinbarung einfach vergisst und neu anfängt. Man muss erkennen, dass man sich nicht einfach davon verabschieden kann. Auch das gehört zur Redlichkeit in der Argumentation. ({35}) Wir haben zwar die Erhöhung um 6 Milliarden Euro beschlossen - ich hoffe, dass uns das Parlament mehrheitlich dabei folgt -, aber wir haben noch keine klar ausgearbeitete Strategie. Deshalb befassen wir uns im Rahmen eines unserer Projekte für die zweite Etappe mit der Frage, an welcher Stelle wir diesen Beitrag in Höhe von 6 Milliarden Euro ausgeben müssen, damit am Ende der Legislaturperiode Deutschland insgesamt 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Forschung und Entwicklung ausgibt. Diese Sache ist noch nicht in trockenen Tüchern, weil auf jeden Euro der öffentlichen Hand 2 Euro privater Investitionen der Wirtschaft folgen müssen. Die Bundesforschungsministerin wird jetzt in sehr intensive Gespräche eintreten müssen. Sie wird mit der Wirtschaft darüber sprechen müssen, wie sie ihren Anteil leisten kann. Es handelt sich für die Wirtschaft um keine langen Planungszeiträume. Es muss auch darüber geredet werden, welche Rahmenbedingungen die Wirtschaft braucht. Eines der Projekte, das wir zu Beginn der Legislaturperiode erfolgreich durchgeführt haben, befasste sich mit der Chemikalienrichtlinie. Wir sind da zu einer vernünftigen Lösung gekommen - auch das war ein Erfolg der großen Koalition -, die dazu führt, dass Chemiewerke wie zum Beispiel die BASF ihren Beitrag zur Forschung leisten können. Wenn wir ihnen diese Möglichkeit nicht eröffnen und ihnen Restriktionen auferlegen, dann können sie in Deutschland auch nicht forschen. Wer sich einmal mit dem gesamten Bereich der Enzymforschung befasst hat, der weiß: Wenn nicht die Grüne Gentechnologie hinzukommt ({36}) - das hat nichts mit Lebensmitteln zu tun -, dann kann die Forschung nicht in einfacher Weise durchgeführt werden. Deshalb bin ich sehr froh, dass wir jetzt in diesen Dialog eintreten. Wir werden, anknüpfend an das Projekt „Partner für Innovation“, das vom vorherigen Bundeskanzler initiiert wurde, einen Rat für Innovationen bilden. Dieser Rat für Innovationen ist ein Beratungsgremium für die Bundesregierung und für die Minister, zu deren Zuständigkeitsbereich Forschung und Technologie gehören. Dieser Rat soll sich mit der Frage beschäftigen, wo die Stärken in der Grundlagenforschung liegen, die wir weiterentwickeln müssen, damit wir eine Chance haben, marktübergreifende Projekte durchzuführen. Denn es müssen Produkte entwickelt werden. Es ist zwar gut, ein Land der Ideen zu sein, aber am Ende müssen Produkte stehen, damit wir wirtschaftlich davon profitieren. Diesen Spannungsbogen müssen wir schaffen. ({37}) Unter diesen Projekten befinden sich auch Leuchttürme. Dazu gehört die Gesundheitskarte. Dieses Projekt zeigt, dass Deutschland ein modernes Land ist und dass die Informationstechnologie in unser Alltagsleben Einzug hält. Wir werden das mit aller politischen Gestaltungskraft vorantreiben. Diese ist notwendig, weil es immer wieder Einzelinteressen von Gruppen gibt, die sich nicht über die Einführung der Gesundheitskarte freuen und für die Transparenz ein gewisses Gefahrenmoment bedeutet. Aber hier hat die Politik den Gemeinwohlauftrag auszuführen. Wir werden dafür Sorge tragen, dass sich Deutschland gerade im Bereich der Informationstechnologie wieder stärker engagieren kann. Ich werde zu einem IT-Gipfel einladen, um deutlich zu machen: Hier ist eine Branche, in der neue Arbeitsplätze entstehen können. Dort wurden im letzten Jahr 6 000 bis 8 000 Leute neu eingestellt. Hier fehlen im Übrigen zum Teil Ingenieure. Wir müssen den jungen Leuten sagen: Hier habt ihr eine Chance. Hier können wir vorne sein, auch wenn wir heute zum Teil noch nicht so weit vorne sind, wie ich mir das wünschen würde. Ich will einen weiteren Aspekt ansprechen. Hier ist Deutschland Vorbild; hier haben wir riesige Chancen und Stärken, die uns weiterbringen können. Wir haben es jetzt auf europäischer Ebene geschafft, dass mit dem Europäischen Forschungsrat eine Institution gegründet werden wird, die sich an das Begutachtungssystem der deutschen Wissenschaft anlehnt und damit dem Exzellenzgedanken in Deutschland zum Durchbruch verhelfen wird. Es wird jetzt darauf ankommen, dass alle Institute, die in Europa gegründet werden, alle europäischen Forschungs- und Innovationsinstitute, immer den gleichen Maßstäben genügen. Dafür wird Deutschland während seiner Präsidentschaft sorgen. Für mich ist der in diesem Zusammenhang in Rede stehende Betrag von 6 Milliarden Euro kein fiskalisches Thema, kein Thema, bei dem jedes Ressort äußern kann, worüber es schon immer einmal forschen wollte, sondern ein Thema, an dem wir eine Strategie aufbauen wollen. Ich freue mich, dass hierbei eine sehr gute Zusammenarbeit zwischen allen Ressorts der Bundesregierung stattfindet, worüber wir gerne und intensiv mit dem Parlament diskutieren wollen, weil wir nur so einen wirklichen Nutzen für Deutschland zustande bringen werden. ({38}) Ein Thema, bei dem Innovationen in der Tat eine große Rolle spielen, ist der vierte Punkt, die Energiepolitik. Die Bedeutung der Energiepolitik - und damit die Sorgen, Ängste oder Unsicherheiten der Menschen in unserem Land in diesem Zusammenhang - hat sich zwar in den letzten Monaten ganz elementar gezeigt, ist aber eigentlich seit langem bekannt. Es gibt unter uns - Herr Heil hat das angesprochen - keine Unterschiede: Die Versorgungssicherheit, die Wirtschaftlichkeit und die Umweltverträglichkeit müssen die drei großen Säulen sein. Sie existieren in einem permanenten Spannungsverhältnis zueinander. Sie müssen aber ausgefüllt werden und sind gleichermaßen wichtig. Es gibt unterschiedliche Bewertungen darüber, welche Rolle die einzelnen Energieträger spielen sollen. Das haben wir vor Abschluss der Koalitionsvereinbarung gewusst; wir haben in den ersten 130 Tagen erlebt, dass das so bleiben wird. Das heißt aber nicht, dass wir uns wegen dieser einen unterschiedlichen Bewertung in einer Frage um die Beantwortung der Frage drücken können, wie ein Energiekonzept bis zum Jahr 2020 aussieht. Deshalb werden wir am nächsten Montag eine erste Runde eines Energiegespräches abhalten, wobei zum Schluss im zweiten Halbjahr 2007 ein Energiekonzept bis zum Jahr 2020 stehen soll, in dem wir darlegen, wie wir Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit, also auch niedrige Strompreise, und Umweltverträglichkeit zusammenbringen. Jenseits der unterschiedlichen Meinungen gibt es in dieser Koalition ein breites Maß an Übereinstimmung darin, dass wir Technologieexporteur werden können, dass wir in der Energieeffizienz Spitze sein sollten und dies von großer Bedeutung sein wird. Ich bin sehr froh, dass wir endlich davon weggekommen sind, nur auf die Wirtschaft zu schauen. Ich erinnere an die Diskussion über den Biodiesel und die CO2-Einsparungen im KfzBereich. Die Biodieseldiskussion ist schwierig, weil wir in bis 2009 bestehende Besitzstände eingreifen. ({39}) - Das ist nicht absurd. Wir werden das vernünftig regeln, Herr Kuhn. Ich sage Ihnen voraus: Wenn wir eine Beimischungspflicht eingeführt haben werden, werden Sie von den Grünen die Ersten sein, die für sich proklamieren, dass sie diese Idee hatten. Aber dann waren wir es, die die Pflicht der Beimischung von Biodiesel für alle Kfz mit Dieselmotor eingeführt haben werden, was den Markt erheblich erweitern wird. ({40}) Dafür müssen wir die jetzigen Umstellungsschwierigkeiten in Kauf nehmen, vernünftig ausdiskutieren und trotzdem unsere Haushaltsziele erfüllen. ({41}) Sie wissen: Es muss gespart werden; zum Haushalt komme ich gleich. Aber wo man auch mit dem Sparen anfängt, ist es nicht recht. Irgendwann kommt es beim Finanzminister oder im Zweifelsfalle manchmal auch bei der Kanzlerin - vorher noch beim Kanzleramtsminister - zusammen. ({42}) Wenn wir sparen wollen, dann müssen wir es an bestimmten Stellen auch tun. Deshalb werden wir die Dinge zusammenbringen. ({43}) Ich bin sehr erleichtert, dass diese große Koalition bzw. der Bundesumweltminister zusammen mit dem Bundeswirtschaftsminister bei der Ausarbeitung des Nationalen Allokationsplanes 2, also der Fortsetzung der CO2-Einsparungen, nicht wieder das Theater aufführt, das es in der vergangenen Legislaturperiode gegeben hat, sondern versucht, Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Umweltverträglichkeit zusammenzubringen. Dem Bundesaußenminister bin ich sehr dankbar dafür, dass er die Energiepolitik ausdrücklich als strategischen Teil unserer Außenpolitik definiert hat, und zwar unter Berücksichtigung der Menschenrechte. Wir haben es heute mit Ländern zu tun, zum Beispiel mit China, die ganz bewusst eine einseitig auf Rohstoffe ausgerichtete Außenpolitik betreiben. Wir müssen unsere Werte mit unseren Interessen in Einklang bringen. Genau das werden wir auch tun. ({44}) Fünftens. Bezogen auf die Finanzpolitik habe ich bereits die Punkte angesprochen, die der Finanzminister gestern sehr ausführlich dargestellt hat: Annäherung an die Realität und keine falschen Versprechungen. Mir ist es, ehrlich gesagt, lieber, wenn Sie uns in der ersten Lesung des Haushalts kritisieren, weil wir Schulden aufnehmen werden, die auch meiner Meinung nach besser geringer wären - keiner in diesem Hause ist froh darüber -, ({45}) als dass wir nächstes Jahr um diese Zeit Krokodilstränen weinen und sagen: Das haben wir voriges Jahr nicht gewusst. - Diese Spirale einer kurzsichtigen Haushaltspolitik wird durchbrochen. Das erfordert am Anfang Mut, aber bringt am Ende Verlässlichkeit und schafft Vertrauen. Ich bin der Meinung, dass es besser ist, Vertrauen zu schaffen. ({46}) Wir werden das große Projekt der Unternehmensteuerreform angehen. Das wird ein Projekt sein, das die Mitarbeit vieler erfordert. Deutschland, dessen Stärken im mittelständischen Bereich liegen - da sind wir uns in diesem Haus wahrscheinlich wieder alle einig -, muss eine rechtsformneutrale Besteuerung der Unternehmen hinbekommen. Mit der Begründung, dass sich die Rechtsformen der Unternehmen im 20. Jahrhundert nun einmal so entwickelt haben, werden wir im Rahmen der globalen Diskussionen des 21. Jahrhunderts nicht durchkommen. Die Leute werden uns sagen: Ihr seid doch sonst so fix und helle. Lasst euch was einfallen! - Dass aber die uns oft empfohlenen Modelle, die zu Steuermindereinnahmen jenseits der 25 Milliarden Euro führen werden, angesichts der augenblicklichen Situation des Haushalts nicht besonders hilfreich sind, muss auch jeder sehen. Insofern hat die Bundesregierung eine ziemlich komplizierte Aufgabe zu bewältigen, und zwar gemeinsam mit den Verantwortlichen in dieser Gesellschaft, von den Kommunen über die Länder bis zum Bund. Ich halte diese Reform für ausgesprochen wichtig und deshalb werden wir sie auch durchführen. Für mich ist auch wichtig, die Erbschaftsteuer zu verändern, und zwar als klares Zeichen an die MittelBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel ständler. Wir müssen vor allen Dingen auch mental diejenigen unterstützen, die trotz der Globalisierung im Erbschaftsfall das Geld nicht in irgendeine Kapitalanlage investieren, sondern ganz bewusst sagen: Ich lasse das Geld in meinem Betrieb. Ich möchte in dem Betrieb, der eine Tradition hat, weiterarbeiten. - Diesen Menschen müssen wir den Rücken stärken. Deshalb ist die Erbschaftsteuerreform so wichtig. ({47}) Sechstens. Zur Familienpolitik kann ich an dieser Stelle nur kurz etwas sagen. Wir haben ein demografisches Problem, wir sind kein kinderfreundliches Land und wir haben in diesem Bereich viele Aufgaben zu lösen. Ich weiß nicht, ob man nach der Reihenfolge vorgehen kann, Herr Kuhn, „erst Betreuung, dann Elterngeld“. Ich glaube, wir müssen auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig arbeiten. Ich habe den Eindruck, dass hier in den letzten Jahren ein erhebliches Umdenken erfolgt ist; das sage ich auch für die CDU/CSU-Fraktion und für die CDU als Partei. ({48}) Schauen Sie sich einmal die Betreuung der unter Dreijährigen in Nordrhein-Westfalen, Bayern, BadenWürttemberg und Hamburg an! Die Situation ist in allen Bundesländern nicht besonders befriedigend, in den Städten ist sie fast noch am besten. ({49}) - Wir können die Statistiken gerne austauschen. - Aber das ist nicht das Problem. ({50}) Tatsache ist, dass es für Kinder unter drei Jahren zu wenige Betreuungsmöglichkeiten gibt. Aber dafür sind vorrangig die Länder zuständig. Durch die Mehrwertsteuererhöhung und die Übernahme der Kosten für die Unterkunft leisten wir unseren Beitrag und verschaffen den Ländern und Kommunen Spielräume, damit sie im Bereich der Ganztagsbetreuung etwas machen können. ({51}) Das darf nicht in Vergessenheit geraten. ({52}) So verlässlich, wie wir an dieser Stelle waren, müssen die Kommunen jetzt auch das Geld ausgeben. ({53}) Wir beschreiten mit dem Elterngeld einen neuen Weg. Über diesen Weg müssen wir diskutieren, er wird nicht ganz einfach sein. Denn zum ersten Mal wird die Frage gestellt, wie wir gut ausgebildeten Frauen jenseits der ganz kleinen Verdienste, die sich für Kinder und Beruf entscheiden, für eine begrenzte Zeit die Möglichkeit eröffnen können, nicht einen wahnsinnigen Einkommensverlust zu erleiden, sondern diese Zeit zu überbrücken. Das ist nicht unumstritten. Bisher haben wir Familienpolitik sehr häufig vorrangig als Sozialpolitik für Bedürftige verstanden. Diese Position will ich auch nicht völlig aufgeben. Angesichts der Tatsache, dass 40 Prozent der Akademikerinnen in Deutschland keine Kinder haben - die dazugehörigen Männer haben übrigens ebenfalls keine, darüber wird nur nicht so oft gesprochen -, müssen wir uns aber überlegen, wie wir einen Bruch in der Biografie dieser Frauen vermeiden können. Diese Überlegungen halte ich für vernünftig. Daher ist es richtig, dass wir die Diskussion über das Elterngeld jetzt und nicht erst im Jahr 2015 führen. ({54}) Ich komme nun zu einem zentralen Bereich, der in der Koalition hinsichtlich seiner Wirksamkeit unterschiedlich bewertet wird. Das sind - siebtens - die Fragen, die mit der Arbeitsmarktpolitik, mit Hartz IV, also der Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe, mit dem Niedrig- und dem Kombilohn zusammenhängen. Lassen Sie mich wegen der aktuellen Situation ein Wort zum Kündigungsschutz sagen. Wir haben nicht wenig Zeit während der Erarbeitung der Koalitionsvereinbarung auf den Punkt Kündigungsschutz verwendet. Wir haben viele Modelle betrachtet und Verbände befragt. Ich weiß, dass das Thema in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion einen etwas anderen Stellenwert hat als in der SPD-Bundestagsfraktion, aber wir haben uns auf etwas geeinigt. Zur Verlässlichkeit gehört, dass wir das, was wir miteinander vereinbart haben, und zwar nicht im Halbschlaf, sondern nach dem Verwerfen von Optionen und dem Hinzunehmen von Optionen, als Grundlage heranziehen. Wir müssen das mit dem Ziel tun, dass wir nur die Dinge umsetzen, die wir gemeinsam umsetzen können. Wir wollen nur die Maßnahmen umsetzen, die zu mehr Arbeitsplätzen führen. Mein Vorschlag ist, mit der Verlässlichkeit dieser Koalitionsvereinbarung einen Schritt voranzugehen. ({55}) Alles andere würde nur zu unergiebigen Diskussionen führen und die Menschen würden nicht verstehen, was wir vor 130 Tagen aufgeschrieben haben. Das ist das Problem. Wir müssen zuerst das umsetzen, was wir vereinbart haben. Wenn wir in zwei Jahren merken, dass es weitergehen muss, dann darf es kein Denkverbot geben. In dieser Sache bin ich ganz nah bei Peter Ramsauer. Aber lasst uns erst einmal das machen, was wir uns vorgenommen haben. Das Kernproblem wird sein - Herr Kuhn, ich stimme Ihnen zu -, Lösungen für den unteren Lohnbereich, für über 55-Jährige, für junge Arbeitslose zu finden und neue Erwerbstätigkeiten anzubieten. Wir haben uns vorgenommen, uns von bestimmten Dingen zu trennen und Instrumente, die sich nicht bewährt haben - inzwischen liegt der erste Revisionsbericht zu Hartz vor -, über Bord zu werfen. Darüber hinaus wollen wir Maßnahmen bündeln; denn das Dickicht ist immer noch groß. Wir werden natürlich über die Frage der Kombilöhne sprechen müssen. Ich schaue mir gern die Modelle der Grünen an. Wir müssen aber aufpassen: Wenn wir Einstiegsszenarien vorsehen und die Sozialabgaben am Anfang kleiner halten, wie es bei den Hinzuverdienstmöglichkeiten heute schon der Fall ist, dann dürfen Sie den Ausfall anschließend nicht der Bundesgesundheitsministerin oder dem Arbeitsminister zuweisen, damit diese sehen, wie sie damit klarkommen. Sie können nicht einfach annehmen, dass es so viel Mehrbeschäftigung geben wird, dass die Fehlausgaben ausgeglichen werden. Da, wo nichts abgegeben wird, gibt es auch keine Mehreinnahmen. Vielmehr müssen wir darüber sprechen, woher das Geld kommen soll. ({56}) Sie können uns dann nicht vorwerfen, wir würden einfach die Steuern erhöhen und Sie wüssten nicht, warum. Es muss zusammenpassen. Ich glaube trotzdem, dass die Diskussion sehr intensiv geführt werden muss. Wir müssen uns auch mit der Tatsache auseinandersetzen, dass wir nicht in einem luftleeren Raum leben, sondern dass andere Länder - ich verweise auf die Dienstleistungsrichtlinie - mit ganz anderen Mindestlöhnen arbeiten. Ich habe gestern den Ministerpräsidenten von Lettland empfangen. Dort ist die Lage ganz anders. Er ist voller Sorge darüber - ich erwähne das, damit wir in Deutschland darüber Bescheid wissen -, dass seine besten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Land verlassen, weil Irland und Großbritannien die Arbeitnehmerfreizügigkeit - anders als wir schon gestattet haben. Lettland hat ein großes Problem, den eigenen Wirtschaftsaufbau voranzubringen, weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Land verlassen, da sie in anderen Ländern in Europa mehr verdienen können. Dieser Prozess wird die Löhne in den betreffenden Ländern steigen lassen. Das ist ein zentraler Punkt, den wir uns ansehen werden. Der Bundesarbeitsminister wird, mit Hilfe aller, eine Lösung finden. Wir müssen uns aber darüber einig sein, dass am Ende mehr Arbeitsplätze entstehen müssen und es nicht weniger werden dürfen. Das ist die Bedingung, an der sich die Lösung messen lassen muss. ({57}) Ein achtes Projekt, das in diesen Tagen in aller Munde ist, ist die Gesundheitsreform. Im Koalitionsvertrag haben wir uns viel vorgenommen: Steuerzuschüsse aus dem Bundeshaushalt werden zurückgebaut. Einer der Gründe dafür war, neben dem der Haushaltskonsolidierung, dass wir uns selbst ein Stück weit unter Druck setzen wollten, um strukturell etwas zu verändern. Ich will an das Gesundheitsmodernisierungsgesetz erinnern, das damals in Gemeinschaftsarbeit von Union und SPD erarbeitet wurde. Es hat seine Wirkung durchaus entfaltet. Die Krankenkassen sind heute weitgehend schuldenfrei. Ich muss aber auch daran erinnern, dass schon bei der Verabschiedung des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes gesagt wurde: „Das hält für die Dauer der Legislaturperiode. Danach brauchen wir eine umfassende Strukturreform.“ Das hat im Übrigen dazu geführt, dass die Parteien unterschiedliche Konzepte ausgearbeitet haben. Alle waren sich bewusst, dass wir eine Strukturreform brauchen. Ich glaube, dass wir, wenn wir jetzt in die entscheidenden politischen Diskussionen eintreten - sie müssen wechselseitig von den Fachpolitikern und den politischen Führungen bestritten werden, weil das Projekt zu groß ist, als dass es den Fachpolitikern allein überantwortet werden könnte; das ist als Unterstützung zu verstehen -, zunächst eine Lagebeurteilung brauchen: Erstens. In dieser Legislaturperiode fehlen zwischen 7 und 10 Milliarden Euro in diesem System. Darin sind wir uns einig. Zweitens. Es ist vollkommen klar - ich bin dankbar, dass sich diese Auffassung durchsetzt -, dass es Wettbewerbsspielräume gibt. Wir müssen eine Struktur finden, in der der Wettbewerb besser funktionieren kann. Angesichts des medizinischen Fortschritts, den wir glücklicherweise haben, und der demografischen Entwicklung dürfen wir den Menschen als Ergebnis einer Reform nicht nennen, dass wir Geld gefunden haben. Wir müssen sagen, dass es tendenziell teurer wird. Der Anstieg kann zwar gedämpft werden, aber die Gesundheitsversorgung wird im Laufe der nächsten zehn bis 15 Jahre tendenziell teurer, wenn wir nicht wollen, dass Menschen aus materieller Not heraus am medizinischtechnischen Fortschritt nicht beteiligt werden. Das ist unser gemeinsames Anliegen. ({58}) Wir müssen ganz nüchtern überlegen - ich glaube, wir haben die Kraft dazu -, wie wir dafür sorgen können, dass die historisch gewachsene Kopplung an die Lohnzusatzkosten am Schluss nicht dazu führt, dass wir weniger Arbeitsplätze haben. Wir können nicht eine Gesundheitsreform machen, die alle anderen Ziele der Koalition konterkariert. Dabei gibt es viel Spielraum. Ich glaube, wir können ganz intensiv, aber auch sehr ruhig und selbstbewusst, in dem Tempo, das wir vorgeben, arbeiten. Ich habe gesagt, die Reform muss bis zum Sommer fertig sein. Bis zum Sommer heißt aber nicht: vor Ostern. ({59}) Insbesondere in diesem Jahr, wo der Winter nur sehr langsam geht, heißt „bis zum Sommer“ so viel wie „nicht vor Ostern“. ({60}) Es gibt eine öffentliche Diskussion. Das ist eine Chance, die die große Koalition bietet: Es gibt ein öffentliches Interesse an schnellen Ergebnissen und eine hohe öffentliche Bereitschaft, anschließend zu kritisieren, wenn das Ganze nicht durchdacht war. ({61}) Im Namen der Bundesregierung und auch der Koalitionsfraktionen sage ich: Wir wissen um den Zeitdruck, wir machen die Reform aber in unserem Tempo. Es gilt: Qualität vor Schnelligkeit. ({62}) Wenn ich zum Schluss über das Thema Gesundheit gesprochen habe - ähnlich wird es sich im Pflegebereich verhalten -, dann weiß ich, dass dieses Thema so schwierig ist wie kaum ein anderes, weil es jeden Menschen betreffen kann. Krank kann ich jeden Tag werden, und zwar so krank, dass es meine finanziellen Möglichkeiten überschreitet, mich dagegen allein zu schützen. Ich glaube, dass an der Frage, wie wir die Gesundheitsreform miteinander gestalten, natürlich auch deutlich werden kann, welche Haltung wir haben, um politische Probleme, die es nun einmal gibt, zu lösen. Diese Haltung bzw. dieser Stil wird bedeuten - das sage ich für mich und auch für andere -, dass man immer auch über den eigenen Schatten springen muss, dass das Gemeinwohl über das Partikularinteresse gehen muss. Das ist im Gesundheitsbereich stark ausgeprägt. Das heißt, wir müssen Schutzmauern aufbrechen und die Kraft haben, neue Wege zu gehen. ({63}) Das heißt, wir müssen Prinzipien anwenden und nicht Prinzipienanwendung und heilige Kühe durcheinander bringen. Nicht jede heilige Kuh kann mit einem Prinzip gerechtfertigt werden. ({64}) Diese Anforderungen stelle ich an uns. Ich spreche für die Bundesregierung und ich bitte die Koalitionsfraktionen darum. Aber es würde in Deutschland Eindruck machen, wenn sich auch die Oppositionsfraktionen diesem Geist verpflichtet fühlen würden, weil wir es natürlich weit über dieses Parlament hinaus von allen Gruppen in dieser Gesellschaft erwarten: von den Gewerkschaften, von den Arbeitgebern, von den Umweltverbänden und von den vielen Nichtregierungsorganisationen. Wir können nicht auf Maximalforderungen bestehen. Das gilt für alle Bereiche, die ich hier genannt habe. Ich habe in meiner ersten Regierungserklärung - ich tue es heute in dieser Debatte wieder - bewusst gesagt: Wir gehen kleine Schritte, die aber konsequent und mit einer klaren Richtung. Ich glaube, dass, wenn wir diese Politik machen - Werte, Prinzipien, Schritte, den Menschen nichts Falsches versprechen -, wieder ein Stück Vertrauen in das, was wir vor uns haben, entstehen kann. Ohne das Vertrauen der Bevölkerung in das, was wir tun, können wir die Veränderungen nicht schaffen. Wenn wir das aber schaffen - daran glaube ich ganz fest -, dann hat Deutschland eine vernünftige Zukunft und wir können vielen, vielen Menschen ein besseres Leben garantieren. Herzlichen Dank. ({65})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Abgeordnete Dr. Guido Westerwelle für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Begeisterung der SPD-Fraktion nach der Rede der Bundeskanzlerin war in diesem Raum an den Händen zu sehen. Ich möchte aber, Frau Bundeskanzlerin, meine Rede mit dem beginnen, was aus unserer Sicht sehr wohl positiv als Richtungswechsel gegenüber der alten Regierung zu verzeichnen ist. Das ist Ihr Anfang in der Außen- und Europapolitik. ({0}) Dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, bei Ihrem Antrittsbesuch in Washington das Thema Guantanamo angesprochen haben, war richtig und es ist eine Freude, dass das endlich wieder jemand an dieser Stelle getan hat. ({1}) Dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, zu Ihrem Antrittsbesuch nach Moskau gereist sind und sich in Moskau als Regierungschefin auch die Zeit genommen haben, sich öffentlich mit Vertretern der Opposition zu treffen, war ein wohltuender Unterschied zu Ihrem Vorgänger, der von Präsident Putin noch als einem lupenreinen Demokraten sprach. ({2}) Sie haben gleich zu Beginn Ihrer Rede völlig zu Recht auf die Erleichterung Ihrer Regierung - ich bin sicher: auch die Erleichterung des ganzen Hohen Hauses über die Freilassung von Herrn Rahman hingewiesen. An dieser Stelle will ich hinzufügen: Die Tatsache, dass dieser Bürger nicht zum Tode verurteilt worden ist, ist das eine. Aber die Tatsache, dass er sich überhaupt - nur, weil er zum christlichen Glauben übergetreten ist vor Gericht verantworten musste, zeigt, dass die Religionsfreiheit in Afghanistan nicht gewährleistet ist. Auch das müssen Sie im Kopf haben; denn dort sind unsere Soldaten für Freiheit und Werte im Einsatz, nicht aber für Unfreiheit. ({3}) Nun will ich auf den Bereich zu sprechen kommen, der in dieser Debatte naturgemäß im Vordergrund steht: die Innenpolitik. Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben gleich zu Beginn Ihrer Rede angeführt, dass sich das, was Ihnen die Freien Demokraten vortragen, nicht rechne und dass das nicht funktioniere; denn eine solche Steuerpolitik könne man in Deutschland nicht machen. Ich habe Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, etwas mitgebracht. Dieses Schriftstück trägt die Unterschrift von Herrn Stoiber, es trägt meine Unterschrift und es trägt Ihre Unterschrift. Es ist nicht aus dem letzten Jahrhundert, sondern etwa ein halbes Jahr alt. Es datiert vom 1. September 2005. Wenn Sie sagen, die FDP solle mit ihrem Reden über ein einfacheres und gerechteres Steuersystem mit niedrigen Steuersätzen aufhören, so möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass wir dieses Dokument wenige Tage vor der Bundestagswahl gemeinsam veröffentlicht haben. Halten Sie sich doch an das, was Sie selbst eigentlich für richtig halten! ({4}) Ich kann verstehen, dass es in Zeiten der großen Koalition so ist, dass die Roten schwärzer werden und die Schwarzen erröten. Wenn Sie aber all unsere Vorschläge als irreal bezeichnen und einwenden, sie seien nicht umzusetzen und rechneten sich nicht, muss ich Ihnen sagen: Entschuldigen Sie, aber Sie haben doch auf Ihrem Leipziger Bundesparteitag einen Bierdeckelbeschluss gefasst. ({5}) So weit wie Sie sind wir an dieser Stelle niemals gegangen. Unsere Vorschläge waren viel vernünftiger und realitätsnäher als Ihr Bierdeckelbeschluss. Aber ich sage Ihnen: Sie lösen die Probleme unserer Staatsfinanzen nicht durch höhere Steuern, sondern nur durch Wachstum und die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Das setzt ein neues Steuersystem voraus. ({6}) All das waren übrigens auch Ihre Worte, bis Sie dann Kanzlerin wurden. Jetzt kommen wir zur zweiten tragenden Säule der großen Koalition, zu Herrn Müntefering. ({7}) Machen wir uns doch einmal die Freude, nachzulesen, was der Vizekanzler, der jetzt neben Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, sitzt, gesagt hat, und zwar nicht irgendwann im letzten Jahrhundert, ({8}) sondern vor wenigen Monaten im Bundestagswahlkampf, als er noch Vorsitzender der SPD war. Er hat gesagt, dass wir wirtschaftliche Probleme haben, weil die Binnennachfrage in Deutschland nicht anspringt. Würden wir die Mehrwertsteuer jetzt erhöhen, also Produkte und Dienstleistungen spürbar teurer machen, würde das die Binnennachfrage noch weiter abwürgen. Dann hat er gesagt: Wer stöhnt, weil die Benzinpreise so hoch sind, gleichzeitig aber eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ankündigt, der hat die Interessenlage der Menschen nicht im Blick. ({9}) Am 3. September des Jahres 2005 hat er gesagt: „Die Mehrwertsteuererhöhung kostet Arbeitsplätze.“ Ja, wenn sie Arbeitsplätze kostet, sollten Sie sie lassen, Herr Vizekanzler. ({10}) Das alles trage ich nicht etwa mit oppositioneller Polemik vor. All das sind Aussagen aus Ihren eigenen Reden. ({11}) Folgendes will ich festhalten: An dieser Debatte nehmen jetzt noch 30 bis 40 Abgeordnete der SPD-Fraktion teil, ({12}) natürlich die Wichtigsten und die Schönsten; das ist keine Frage. ({13}) Um ungefähr so viele Abgeordnete, wie jetzt noch von Ihnen anwesend sind, wäre Ihre Fraktion im Deutschen Bundestag kleiner, hätten Sie Ihren Wortbruch beim Thema Mehrwertsteuer vor der Wahl angekündigt. ({14}) Der Vizekanzler hat heilige Eide geschworen. Gestern hat Herr Steinbrück seine Rede zum Haushalt vorgetragen, ein Finanzminister, der nur auf der Regierungsbank sitzt, weil Sie, als es um die Mehrwertsteuer ging, gelogen haben. Sie haben vor der Wahl etwas anderes als nach der Wahl gesagt. ({15}) Dieser sozialdemokratische Finanzminister hat uns gestern erzählt - Sie haben es ja gehört -: Egal wie sich die Haushaltslage entwickelt und egal ob die Staatsfinanzen in diesem Jahr auch so ausreichen würden, die Mehrwertsteuer wird auf jeden Fall erhöht. ({16}) Vom Saulus zum Paulus? Ich würde sagen: vom Paulus zum Saulus. Darüber müssen wir uns auseinander setzen. ({17}) Es war geradezu bezeichnend, wie die Rede des Kollegen Heil bei Ihnen von der CDU/CSU aufgenommen worden ist und umgekehrt die Rede von Frau Merkel bei Ihnen von der SPD. Nach dem vergangenen Wahlsonntag kann man sagen: Keine Regierung zuvor hat eine so große Machtfülle in Bundestag und Bundesrat besessen wie die jetDr. Guido Westerwelle zige, aber noch nie war der gemeinsame Nenner einer Regierung so klein wie jetzt bei Schwarz-Rot. ({18}) Jetzt gibt es, Frau Bundeskanzlerin, Herr Vizekanzler, keine Ausreden mehr. Sie können nicht mehr auf andere Häuser verweisen. Sie können nichts mehr auf die böse Opposition schieben, die Sie nicht so lässt, wie Sie es gerne hätten. Jetzt tragen Sie die volle Verantwortung. Sie, Frau Bundeskanzlerin, können nicht mehr philosophisch sagen: Liebe Genossen, Sie kennen doch unsere Probleme in der Union. Sie, Herr Vizekanzler, können nicht mehr sagen: Liebe Unionsleute, das kriege ich in meiner Partei nicht durch. - Sie wollten zusammen regieren. Sie stehen in der Verantwortung gegenüber dem Volk. Sie haben sich auf die Regierungsbank gesetzt. Jetzt müssen Sie Deutschland auch dienen. Fangen Sie endlich damit an! ({19}) Kommen wir nun zu den Herausforderungen, die angegangen werden müssen. Wenn wir die Arbeitslosigkeit in Deutschland signifikant senken wollen, dann müssen wir zuallererst die Strukturen in Deutschland verändern. Das ist nichts Neues, sondern war schon immer, bisher jedenfalls, Programm der Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion. Sie, Frau Merkel, sind in Ihrer Rede über die Punkte Arbeitsmarkt und Kündigungsschutz elegant hinweggegangen, indem Sie von einer aktuellen Diskussion gesprochen haben. Wir haben das versteinerte Gesicht von Herrn Müntefering gesehen. ({20}) - Sie lachen. ({21}) Sie mögen sich. Sie herzen sich. ({22}) Das ist prima. Da will ich nicht stören. ({23}) Angela und Franz, das ist das neue Traumpaar. Ich komme nun zu dem, was Herr Müntefering heute im „Handelsblatt“ zum Kündigungsschutz schreibt. Ihnen hat das gefallen, deswegen waren Sie auch so zurückhaltend und haben auf Ihren Händen gesessen, als Frau Merkel geredet hat. Zitat von Herrn Müntefering, der nun wirklich nicht der liberalen Opposition zugerechnet werden kann: Eigentlich stand auch noch der Kündigungsschutz auf der Tagesordnung. ... Ich habe das gestoppt, nachdem Teile der Union sich Schritt für Schritt von der Koalitionsvereinbarung in diesem Punkt verabschiedet haben. Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Koalition, wenn Sie regieren wollen und die großen Chancen von Schwarz-Rot beschreiben, was alles möglich sei, was man mit anderen Mehrheiten niemals machen könne, dann müssen Sie wenigstens beim Arbeitsmarkt anfangen. Man muss doch kenntlich machen: Bei einer Lockerung des Kündigungsschutzes geht es nicht darum, dass Menschen leichter entlassen werden können; es geht darum, dass Menschen leichter eingestellt werden können. ({24}) Wo sind Ihre hehren Prinzipien an dieser Stelle? Wenn man sich nicht einig ist, sagt man, man gehe kleine Schritte in die richtige Richtung. Schneckentempo ist das neue politische Prinzip. Ich zitiere die Bundeskanzlerin Angela Merkel, und zwar was sie als damalige CDU-Vorsitzende und Oppositionsabgeordnete auf dem Parteitag der CDU gesagt hat: Ja, meine Güte, eine Schnecke kann auch in die richtige Richtung kriechen. Aber was wir in Deutschland brauchen, ist nicht eine Schneckenspur, sondern ist ein Sprung nach vorne. Ich will festhalten: Diese große Koalition muss erst noch beweisen, ob sie wirklich groß ist. Groß werden Sie nicht dadurch, dass Sie von großer Zahl sind; groß werden Sie erst dadurch, dass Sie endlich die Strukturreformen in diesem Lande angehen. Sie sagen, nach den Landtagswahlen beginne die zweite Welle. Wir warten noch auf die erste, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({25}) Zur Gesundheitspolitik. Was wir in der Gesundheitspolitik erleben, ist bemerkenswert. Schon in der letzten Legislaturperiode gab es in diesem Bereich sozusagen eine große Koalition. Man konnte verfolgen - das war beeindruckend -, wie Sie, Frau Bundeskanzlerin, Frau Schmidt die Streicheleinheiten gegeben haben, die sie braucht. Man muss sich das einmal vorstellen: Da will sich eine Koalition in der Gesundheitspolitik einigen, vorher wird aber erst einmal vereinbart, dass die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt bitte nicht dabei sein soll, weil sie stören könnte. ({26}) - Sie wird durch Herrn Seehofer vertreten. Von Herrn Seehofer haben wir alle noch ein Bonmot im Kopf, als es vor drei Jahren die informelle große Koalition in der Gesundheitspolitik gab. Morgens um vier Uhr haben Sie in die Kamera gesagt: Das wird jetzt die große Jahrhundertreform. ({27}) Eine Jahrhundertreform sollte es werden. Die Jahrhundertreformen haben mittlerweile Halbwertszeiten von Monaten. ({28}) Herr Seehofer, es ist wirklich so: Ich erinnere mich noch genau daran, dass Sie morgens neben Frau Schmidt vor den Kameras standen und erklärten, das sei eine der schönsten Nächte Ihres Lebens gewesen. ({29}) - Sie rufen jetzt: „Das stimmt“. Das führt mich dazu, zu sagen: Jeder soll nach seiner Fasson selig werden. ({30}) - Beruhigen Sie sich. Oder wollen Sie mich jetzt auch noch verklagen? Solange Sie in der Gesundheitspolitik glauben, dass die Planwirtschaft funktionieren könne, so lange werden Sie scheitern. In Wahrheit bereiten Sie derzeit die Bürgerversicherung vor, nämlich die Zwangskasse durch die Hintertür. Das wird Ihr gemeinsamer Nenner sein. Sie werden sich in der Gesundheitspolitik einigen - da machen wir uns gar nichts vor -, und zwar genau auf den sozialdemokratischen Weg, den Ihre Genossen und zugleich auch die Sozialdemokraten der Union immer wollten, nämlich die Zwangskasse. Da sage ich: Planwirtschaft hat noch niemals funktioniert. ({31}) Warum sollte sie ausgerechnet in der Gesundheitspolitik funktionieren können? Freiheit und Wettbewerb - das müsste der Ansatz in der Gesundheitspolitik sein. Von Ihnen kommt nichts dazu. ({32}) Zur Rente. Sie rühmen sich damit, dass bei der Rente etwas verändert worden ist, dass nämlich die Lebensarbeitszeit auf 67 Jahre erhöht wird. Wir wollen zunächst festhalten: Wenn Sie die Arbeitsmarktreformen unterlassen, dann bedeutet die Rente mit 67 für Millionen Menschen, nämlich für die Mehrzahl der Betroffenen, nichts anderes als eine um zwei Jahre längere Arbeitslosigkeit. Darüber reden wir jetzt. Nichts beim Arbeitsmarkt tun, keine betrieblichen Bündnisse erlauben, die Flächentarife bleiben, der Kündigungsschutz bleibt, die Änderung des Steuersystems wird vertagt: Wenn Sie trotzdem glauben, Sie könnten die sozialen Sicherungssysteme stabil machen, so ist das ein historischer Irrtum. Das kann nicht funktionieren, wenn Sie die Strukturen in unserem Lande nicht verändern. Die Rente wird nur sicher, die Gesundheit wird nur bezahlbar bleiben und die soziale Sicherheit für die Ärmsten wird nur funktionieren, wenn Sie die Wachstumskräfte in Deutschland wieder anregen. ({33}) Das geht nur durch mehr Freiheit und indem Sie den Menschen weniger abnehmen. Sie betreiben die Politik von Rot-Grün weiter: Steuererhöhungen, Abkassieren, mehr Schulden. Ob Sie das jetzt Schwarz-Rot nennen oder ob es vorher Rot-Grün war: Unter dem Strich bleibt es für die Bürger zu teuer. Das kostet Leistungskräfte und soziale Gerechtigkeit in diesem Lande. ({34}) Übrigens: Es ist bemerkenswert, was gestern dazu veröffentlicht worden ist. Auch darauf möchte ich Sie aufmerksam machen. ({35}) - Das muss man einmal zur Kenntnis nehmen. - Es ist ja berichtet worden, dass gesagt worden sei, die ökonomische Vernunft stehe in einem Widerspruch zur sozialen Gerechtigkeit; ich glaube, Herr Heil war es. ({36}) - Er hat genau gesagt, unsere ökonomische Politik sei ein Gegensatz zur sozialen Gerechtigkeit und Verantwortung. ({37}) - Der Weltökonom Poß hat einen Zwischenruf gemacht. Jetzt sind wir aber eingeschüchtert. Wirklich! Oje! ({38}) Meine Damen und Herren, wir wollen an dieser Stelle einmal festhalten: Die Armutskonferenz hat gestern veröffentlicht, dass im letzten Jahr eine halbe Million Kinder mehr auf Sozialhilfeniveau oder darunter leben mussten, als das ein Jahr vorher der Fall gewesen ist. Das ist eben der feine Unterschied. Es gibt eine Politik der besten sozialen Absichten; die machen Sie. Es gibt eine Politik der besten sozialen Ergebnisse; die machen wir. Das ist besser. ({39}) Jetzt vertagen Sie die Steuerreformen. Sie verschieben die Unternehmensteuerreform auf den 1. Januar 2008. Gleichzeitig haben Sie die Idee einer Einkommensteuerreform fallen gelassen, weil Sie an dieses Thema nicht herangehen wollen. Ihre Begründung: Deutschland kann sich Steuersenkungen nicht leisten. - Wir sagen Ihnen: Deutschland kann es sich nicht leisten, auf ein neues Steuersystem zu verzichten; das ist der eigentliche Punkt. Glauben Sie wirklich, Österreich wartet, bis Herr Steinbrück in die Puschen kommt? ({40}) Glauben Sie etwa, die Welt wartet auf die deutsche Bundesregierung? Die anderen Länder haben längst niedrigere, einfachere und gerechtere Steuersätze mit dem Ergebnis, dass sie halb so viele Arbeitslose haben, wie wir sie in Deutschland leider - das ist traurig - noch immer verzeichnen müssen. Das ist in Wahrheit eine Frage der ökonomischen Vernunft. Es ist Unfug, zu glauben, dass die ökonomische Vernunft der Freien Demokratischen Partei in einem Widerspruch zur sozialen Gerechtigkeit stehe, im Gegenteil: Wir sind eine weit sozialere Partei als die, die Sie derzeit vertreten. Das merkt man bei Ihren Kundgebungen am 1. Mai und wo immer Sie noch sprechen werden. ({41}) Kommen wir zu dem nächsten Punkt, den Sie, Frau Bundeskanzlerin, angesprochen haben, dem Bereich Bildung und neue Technologien. Über die Bildungspolitik haben Sie vieles gesagt, was ich, insbesondere was die Kompetenzen der Ebenen angeht, ähnlich sehe. Aber wir müssen noch einen wesentlichen Punkt hinsichtlich der neuen Technologien erwähnen. Wir werden in Deutschland davon leben, dass wir Vorsprung vermarkten. Diesen Vorsprung erreichen wir nur dann, wenn wir neue Technologien zulassen. Nun haben wir gehört, wie sich Herr Kuhn über die Energiepolitik und die Energiemonopole kritisch ausgelassen hat. Wir haben gesehen, was er für einen Purzelbaum geschlagen hat. Diese ganzen monopolistischen Strukturen auf dem Energiemarkt gäbe es gar nicht, wenn Rot-Grün nicht diese ideologische Politik gemacht hätte; das wollen wir an dieser Stelle einmal festhalten. ({42}) Was machen Sie jetzt bei den neuen Technologien? Werden Sie die Laufzeiten der Kernkraftwerke wieder verlängern oder bleibt es bei dem vorzeitigen Ausstieg? Dazu habe ich von Ihnen keinen Ton gehört. Dadurch werden 30 bis 40 Milliarden Euro volkswirtschaftliches Vermögen vernichtet. ({43}) Das einzige Ergebnis wird sein, dass der Strom aus sehr viel unsicheren Kraftwerken, vorzugsweise aus Osteuropa, nach Deutschland kommen wird. Das ist ökonomischer und ökologischer Irrsinn! Sie wissen das; Sie haben das immer gesagt. Aber Sie finden nicht zusammen. Der kleinste gemeinsame Nenner ist nicht das richtige Rezept für Deutschland. Mut zu echten Neuanfängen und zu einem Politikwechsel, genau das braucht Deutschland. ({44}) Wer in diesen Zeiten noch nicht verstanden hat, dass neue Schulden und höhere Steuern nicht die Antwort sind, der wird nur erleben, dass die Arbeitslosigkeit weiter steigt. Im letzten Jahr sind pro Woche 2 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland weggefallen. Das ist das Ergebnis von verschlafenen Reformen. Deswegen müssen Sie endlich mit den Strukturreformen anfangen. Sie können sich nicht damit herausreden, dass andere Sie behindern. Sie haben die größte Machtfülle, die jemals eine Regierung gehabt hat, und rühmen sich ihrer. Dann müssen Sie jetzt auch endlich in die Gänge kommen und anfangen, Deutschland zu dienen! Das haben Sie unserem Land versprochen. Fangen Sie endlich damit an! ({45})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Dr. Peter Struck. ({0})

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Westerwelle, Ihre inhaltsleere Dröhnung ging mir wirklich auf den Geist. Ich verstehe Ihre Fraktion nicht. ({0}) Ich gratuliere Ihnen herzlich dazu, Frau Kanzlerin, dass Ihnen dieser Koalitionspartner erspart geblieben ist. ({1}) Sie haben null Alternativen angeboten. Was ist Ihre Antwort auf die Frage, wie die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen ist? Was sind Ihre Antworten hinsichtlich der Beschäftigungsförderungspolitik und der Familienpolitik? ({2}) Dazu haben Sie nichts gesagt. Stattdessen machen Sie große Sprüche. So wird Ihnen der Wähler nie wieder Vertrauen schenken - Gott sei Dank, füge ich hinzu. ({3}) Wir erleben heute eine besondere Situation. Uns liegt zum ersten Mal ein Haushalt vor, den Peer Steinbrück und die jetzige Bundesregierung zu verantworten haben. Ich habe seit 1980 schon viele Haushaltsdebatten im Bundestag mitgemacht und ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Finanzminister: Es ist ein Haushalt der Vernunft, der den Anforderungen des kommenden Jahres entspricht. ({4}) Ich gratuliere Ihnen auch zu der soliden Haushaltsführung, die Sie damit bewiesen haben. ({5}) Das heißt zwar nicht, Herr Finanzminister, liebe Kolleginnen und Kollegen im Kabinett, dass wir alle Maßnahmen so beschließen werden, wie sie vorgelegt wurden. Wir werden im Haushaltsausschuss mit Sicherheit noch einiges korrigieren. Ich will einige Punkte nennen, bei denen mir Korrekturen wichtig sind. Das ist zum einen die Kürzung des Weihnachtsgeldes für Angehörige des öffentlichen Dienstes. Wir wollen eine soziale Staffelung erreichen. Gerade in diesem Bereich kann man nicht alles über einen Kamm scheren. ({6}) Zum anderen müssen wir - das wird auch noch im Rahmen der Einzelplanberatungen angesprochen werden - bei Maßnahmen zur Unterstützung von Menschen, die sich gegen rechtsextremistische Bestrebungen in Deutschland wehren, auf Kürzungen verzichten oder sogar mehr Mittel einsetzen. In diesem Bereich gibt es viele Bürgerinitiativen. Ich will nicht, dass an dieser Stelle gestrichen wird. ({7}) Außerdem müssen wir die Ansätze für die Bundeszentrale für politische Bildung korrigieren. ({8}) Herr Westerwelle hat einen Punkt besonders angesprochen, in dem ich ihm ausdrücklich Recht gebe. Dabei geht es um die großen Mehrheiten in dieser Koalition. Nie zuvor in der Geschichte unseres Landes hat es die Situation gegeben, dass etwa 72 Prozent der Abgeordneten im Parlament die Regierung stützen und gleichzeitig auch im Bundesrat entsprechende Mehrheitsverhältnisse gegeben sind. Ich sehe es so: Die große Mehrheit, die wir haben, bedeutet eine große Verantwortung. Das bedeutet auch, dass wir die großen Zukunftsfragen unseres Landes lösen müssen. Wir können nicht davon ausgehen, dass die Koalition nur bis zur Wahl 2009 besteht, und uns mit Hinweis darauf, dass es dann andere Mehrheiten gibt und die das dann machen sollen, nicht einfach davonstehlen. Wir müssen stattdessen selbst die Zukunftsfragen lösen. Aus meiner Sicht geht es dabei erstens um die Arbeitslosigkeit, zweitens um Gesundheit, Pflege und Rente und drittens um Familie. Von der Außenpolitik will ich jetzt noch nicht sprechen. Was die Arbeitsmarktpolitik angeht, haben Sie zu Recht festgestellt, Herr Westerwelle: Das sieht ja noch nicht so gut aus; es müsste mehr sein. Aber ich meine nicht - auch im Gegensatz zur Kanzlerin -, wir hätten in den ersten Monaten noch nichts gemacht. Wir haben doch etwas gemacht: Wir haben ein Steuergesetz gemacht und die Abschreibungsbedingungen verbessert. Diese Maßnahmen greifen auch. Dass das alles von heute auf morgen wirkt, glaubt kein Mensch. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass sich die Arbeitsmarktentwicklung verbessern wird. Daran habe ich keinen Zweifel. ({9}) Der Arbeitsminister, Franz Müntefering, hat festgestellt, dass es zwei Problemgruppen gibt. Das sind die unter 25-jährigen und die über 50-jährigen Arbeitslosen. Für diese Gruppen müssen wir - gerade im Zusammenhang mit der Rente ab 67 - etwas tun. Erlauben Sie mir dazu noch eine Bemerkung. Dass wir vor den Landtagswahlen, die ziemlich bedeutend waren, weil sie in drei Ländern stattfanden und für viele Parteien sozusagen ein Gradmesser waren, ein Thema wie die Rente mit 67 im Kabinett angepackt und entschieden haben, zeugt nicht gerade von politischer Feigheit, sondern von dem Mut, die Zukunftsfragen anzugehen. ({10}) Hinsichtlich der Rente mit 67 waren wir uns klar darüber, dass wir gerade für die über 50-Jährigen etwas tun müssen. Lassen Sie mich einen persönlichen Einschub machen. Ich kann Folgendes nicht verstehen: Auf Bilanzpressekonferenzen verkünden Unternehmen voller Stolz die besten Gewinne in ihrer Unternehmensgeschichte und hohe Dividenden und kündigen im nächsten Atemzug an, dass sie noch 10 000 Leute entlassen müssten. Dafür habe ich kein Verständnis. ({11}) Ich erwarte auch von deutschen Unternehmen, dass sie sich patriotisch verhalten. ({12}) Sie müssen dafür sorgen, dass nicht der ShareholderValue der Maßstab aller Dinge ist. Zurück zum Thema Arbeitslosigkeit und insbesondere zum Thema Jugendarbeitslosigkeit: Wir werden die Programme von Franz Müntefering noch intensivieren müssen. Wir sind auf dem Weg, gerade in diesen Problembereichen etwas zu tun. Ich fahre morgen Nachmittag zu einer Firma in Berlin, die früher den Namen Orenstein & Koppel trug. Diese Traditionsfirma in Deutschland wurde von einem italienischen Konzern, dessen Namen ich hier nicht nennen möchte, übernommen und macht Gewinn. Obwohl vorher noch Investitionen genehmigt worden sind, entscheidet die Konzernspitze: Wir machen den Laden dicht. - Ich habe dafür kein Verständnis. Ich werde daher morgen den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern meine Solidarität zeigen; denn so geht es in unserem Land nicht. ({13}) Ich komme nun zum Gesundheits- und Pflegebereich. Dass die Menschen von uns erwarten, eine Gesundheitsreform zu machen, die von Dauer ist und nachhaltig wirkt, brauche ich Ihnen nicht zu erläutern. Wir haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, das zu schaffen. Wir schaffen es mit Ulla Schmidt an der Spitze auch. Nun wird viel darüber spekuliert, wohin die Reise geht. Auch ich weiß, dass die Unionsfraktion mit Frau Merkel und Herrn Kauder, meinem Freund Kauder, an der Spitze gegen eine Bürgerversicherung ist. Das kann ich zwar nicht verstehen, aber dem ist wohl so. ({14}) Herr Kauder ist für eine Kopfpauschale. ({15}) - Nein, es heißt Kopfpauschale. ({16}) Es wird jedenfalls weder eine Bürgerversicherung noch eine Kopfpauschale geben; das können wir festhalten. Aber davon, dass wir uns einigen werden, Herr Kuhn - Sie haben ebenfalls spekuliert -, können Sie ausgehen. Wenn wir es nicht schaffen, einen „dritten Weg“ zu finden, dann haben wir es nicht verdient, weiter zu regieren; denn die Bevölkerung erwartet, dass wir dieses Kernproblem lösen. Dafür haben wir die große Mehrheit. Wir werden es auf jeden Fall schaffen. Aber es wird ein Ergebnis herauskommen, angesichts dessen viele über uns herfallen werden; darin bin ich ganz sicher. Denn bei den vielen Lobbyisten, die hier sind und auf das Ministerium von Ulla Schmidt einzuwirken versuchen, gibt es keine Lösung, über die alle sagen: Das ist das Ei des Kolumbus. - Wir müssen dann zu dem stehen, was wir vereinbart haben. Ich habe keinen Zweifel daran, dass SPD und Union das tun werden. ({17}) Ich will noch ein Wort zur Familienpolitik sagen. Es gab einige Probleme nach dem Genshagener Beschluss zur steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten. Wir haben das nun ordentlich geregelt. In diesem Zusammenhang ist mir eines aufgefallen - das sage ich als Vater von drei erwachsenen Kindern und als Großvater von fünf Enkelkindern -: Wir geben in Deutschland rund 100 Milliarden Euro - Peter Ramsauer hat vorhin eine niedrigere Zahl genannt; das ist jedenfalls die Zahl, die man mir mitgeteilt hat - für die Familienförderung aus. ({18}) Zu diesem Ergebnis kommt man, wenn man alles, auch die steuerlichen Vorteile, berücksichtigt. Ich finde, es muss möglich sein, 1 Milliarde oder 2 Milliarden Euro aus diesen 100 Milliarden Euro quasi herauszuschneiden, damit jeder Kindergartenplatz in Deutschland gebührenfrei ist. ({19}) Darin sind wir uns, Frau von der Leyen, mit der Kanzlerin einig. Wir müssen das nun auf den Weg bringen. Es muss doch möglich sein, in unserem so gut organisierten Staat einen Schnitt an dieser Stelle vorzunehmen und es anders zu machen. Das Elterngeld ist ein wichtiger Schritt auf einem richtigen Weg. Ich möchte nur eine persönliche Bemerkung dazu machen: Der Staat kann so viel Geld für Kinder- und Familienförderung in die Hand nehmen, wie er will. Aber das Entscheidende sollte eigentlich sein, dass man Kinder in die Welt setzt, weil sie eine Freude und eine Bereicherung des Lebens sind, und nicht, weil man soziale Sicherungssysteme finanzieren will. ({20}) Noch ein kurzes Wort zur Außenpolitik - dann komme ich zu Ihrer Kritik an meinem Kollegen Jörg Tauss, Frau Kanzlerin, die ich so natürlich überhaupt nicht akzeptieren kann -: Wir sind von Ihnen, Frau Merkel, sowie vom Außenminister und vom Verteidigungsminister zum Thema Kongo informiert worden. Ich halte an meiner Position fest, dass Europa eine große Verantwortung für den afrikanischen Kontinent hat. Wer denn, wenn nicht wir, soll da helfen? ({21}) Das ist so, und nicht nur aus den Gründen, die Sie genannt haben, Frau Merkel: Sie sehen ja die Flüchtlingsströme, die über den Maghreb zu uns kommen. Dieser arme, geschundene Kontinent ist damals nämlich von den Europäern kaputtgemacht worden. Also müssen auch wir dabei helfen, ihn wieder aufzubauen; das ist meine persönliche Einstellung. ({22}) Also: Generell Ja zu dem Einsatz. Wir brauchen allerdings einen klaren Auftrag für die Soldatinnen und Soldaten, eine klare Arbeitsteilung der europäischen Nationen und eine klare örtliche und zeitliche Begrenzung. Ich werbe in meiner Fraktion um Zustimmung für den Einsatz und ich habe keinen Zweifel, dass meine Fraktion diesen Einsatz mit großer Mehrheit mittragen wird. Dieser Einsatz bedeutet übrigens keine Überforderung der Bundeswehr. Herr Jung, da werden wir uns einig sein: Diesen Einsatz mit diesem Kontingent kann die Bundeswehr noch leisten. Im Übrigen ist das, was wir anderswo, zum Beispiel in Afghanistan, machen, hier nach wie vor besonders hervorzuheben. Dass die Bundesregierung da in der Kontinuität zu unserer rot-grünen Außenpolitik steht, ist zu loben und dafür bedanke ich mich. Das ist ein Beitrag von Steinmeier. ({23}) Zu Weißrussland haben wir etwas gesagt: Wir haben einen gemeinsamen Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD, FDP und der Grünen; es ist gut, dass es diesen gemeinsamen Antrag gibt. ({24}) Man muss nur fragen, warum andere nicht dabei sind. ({25}) Ich sage nur: Wir in den Koalitionsfraktionen haben eine klare Position zu den Menschenrechtsverletzungen in Weißrussland. Zum Föderalismus. Frau Merkel, ein Wort der Kritik muss erlaubt sein, auch wenn ich Ihre Politik mittrage - wie Sie wissen -, mal mehr und mal weniger. ({26}) - Ja, im Augenblick gerade weniger. - Es ist nicht so, dass wir der Meinung wären, dass der Bund im Rahmen der Föderalismusreform die Zuständigkeit für die Schulen bekommen sollte. Manche dröhnen so - ich habe einen Kollegen genannt; er spricht aber nicht für die Fraktion -, ({27}) aber das wollen wir nicht, das will niemand, weil jeder weiß: Das geht ja gar nicht. ({28}) Ich habe in meiner ersten Rede zur Föderalismusreform, die, wie ich gehört habe, auf der Regierungsbank nicht nur Freude hervorgerufen haben soll - das ist mir aber auch egal -, ({29}) einen Punkt nicht angesprochen, auf den ich jetzt ausdrücklich eingehen will: Ich glaube, dass in zehn oder 15 Jahren unsere Nachfolgerinnen und Nachfolger - manche von uns werden auch noch dabei sein -, die hier in diesem Plenarsaal sitzen und über Politik, über die Probleme des Landes diskutieren werden, die Frage aufwerfen, ob wir nicht zu viele Bundesländer haben, ob wir wirklich 16 Bundesländer brauchen. Brauchen wir die? Ich sage Nein. ({30}) Ich weiß, wie schwierig das ist; mein Freund Jens Bullerjahn in Sachsen-Anhalt hat ja gerade in seinem Wahlkampf gesagt, dass wir nicht so viele brauchen. Auch an diesem Punkt muss man ansetzen, wenn man eine wirkliche Föderalismusreform durchführen will. Es bleibt dabei - das will ich noch als ernste Bemerkung zum Schluss sagen; Volker Kauder weiß das auch -: Ich will im Rahmen der Föderalismusreform keine Zuständigkeit des Bundes für die Schulen bekommen. Ich möchte lediglich erreichen, dass die Länder bereit sind, sich nicht dagegen zu wehren - das so genannte Kooperationsverbot -, wenn der Bund in der Lage und willens ist, ihnen Geld für Bildung zukommen zu lassen. ({31}) Ich begreife es tatsächlich nicht - da schaue ich auch in Richtung FDP; auch Sie sind in Landesregierungen vertreten -, ({32}) dass in der Debatte so getan wird, als ob wir die Länder zwingen wollten, Geld von uns anzunehmen. Ich will darüber reden, wie wir eine Kooperation organisieren können, wenn der Bund der Meinung ist, dass im Bildungsbereich, an Hochschulen oder Fachhochschulen etwas gemacht werden soll - nur darum geht es. Wenn wir in dieser Frage zu einem Kompromiss kommen, habe ich keinen Zweifel, dass die Föderalismusreform kommen wird, und es ist auch gut, dass sie kommt. Dem Finanzminister und der Kanzlerin wünsche ich bei ihrem ersten Haushalt viel Erfolg - wir werden dazu beitragen. Vielleicht können wir ein bisschen mehr sparen, Herr Finanzminister, sagen meine Haushälter jedenfalls; wir müssen aber vorsichtig sein dabei. ({33}) Insgesamt sind wir, glaube ich, auf einem guten Weg und das Land kann sich auf diese Regierung verlassen. Vielen Dank. ({34})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Oskar Lafontaine noch einmal um das Wort gebeten. ({0})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Reihenfolge der Redner geht etwas durcheinander. ({0}) Wir dachten, es sei jetzt schon der Kulturetat an der Reihe. Leider ist das nicht der Fall. Das gibt mir die Gelegenheit, auf einige der Argumente, die hier vorgetragen worden sind, kurz einzugehen. Zunächst zu der Feststellung des Fraktionsvorsitzenden der SPD, dass er es bedauert, dass eine Reihe gut verdienender Unternehmen nach wie vor Arbeitsplätze abbauen. Ich begrüße es, Herr Fraktionsvorsitzender Struck, dass Sie dies hier angesprochen haben, möchte aber darauf hinweisen, dass der Appell an Unternehmen, sie müssten sich patriotisch verhalten, in unserer wirtschaftlichen Ordnung schlicht und einfach ins Leere geht. Unternehmen verhalten sich nicht patriotisch, Unternehmen wollen schlicht und einfach ihre Gewinne optimieren. Ich will die Unterhaltung mit der Kanzlerin nicht stören, möchte aber trotzdem einen wichtigen Punkt ansprechen. ({1}) Die Situation, dass die Unternehmen zurzeit auf der einen Seite exorbitante Gewinne machen, auf der anderen Seite aber Massenentlassungen ankündigen, ist ein unhaltbarer Zustand in unserer Gesellschaft. ({2}) Unsere Fraktion belässt es nicht bei dem Appell an die Unternehmen, sich patriotisch zu verhalten - das haben wir nun schon jahrzehntelang getan -, sondern wir machen zwei Vorschläge: Einmal wollen wir die so genannte Heuschreckendebatte aufgreifen, die der Arbeitsminister vor einigen Monaten angestoßen hat, und die Zulassung solcher Fonds in Deutschland reregulieren. Wir können dann hier testen, ob Sie es mit der Kritik ernst gemeint haben, dass Unternehmen aufgekauft, ausgeschlachtet und dann wieder verkauft werden, oder ob das schlicht und einfach wieder Wahlkampfgetöse war, das keine reale Grundlage hatte. Wir werden einen solchen Vorschlag auf jeden Fall einbringen und namentliche Abstimmung beantragen. ({3}) Das Zweite betrifft - da könnte dem sehr beschäftigten Kollegen Struck weitergeholfen werden - die Bindung der Managergehälter an Aktienoptionen. Das ist nämlich die Erklärung dafür, warum sich Vorstände nicht mehr patriotisch verhalten. Auch Vorstände neigen in unserer Wirtschaftsordnung dazu, ihre Einkommen maximieren zu wollen. Solange Aktienoptionen in der Vorstandsentlohnung in großem Umfang angeboten werden, werden die Vorstände auch bei exorbitanten Gewinnen weiterhin Personalabbaupläne ausarbeiten, weil sie damit ihr eigenes Einkommen maximieren. Das muss unterbunden werden. Einen entsprechenden Vorschlag werden wir machen. Sie können dann zu diesem Vorschlag Ja oder Nein sagen. ({4}) Ich wollte noch einige Bemerkungen zu den Ausführungen der Bundeskanzlerin machen, die jetzt auch verschwunden ist. Ich frage für das Parlament, ob es überhaupt noch Sinn hat, zuzuhören, wenn diejenigen, die sich geäußert haben, gleich verschwinden oder in tiefe Unterhaltungen verstrickt sind. ({5}) Das ist auf jeden Fall keine Verfahrensweise, die dem Parlament zum Ansehen gereicht. ({6}) Die Bundeskanzlerin hat ein paar Bemerkungen zu ihrer Politik gemacht. Entscheidend aber war der Vorhalt, den der Kollege Westerwelle gemacht hat, als er darauf verwiesen hat, dass sie vor einigen Monaten ein Konzept zur Steuerpolitik unterschrieben hat, das zwar nicht unser Konzept, aber immerhin ein Konzept war. Wenn jemand einige Monate später etwas ganz anderes vertritt, dann stellt sich die Frage, welche Konzeption der Betreffende überhaupt hat. Das gilt nicht nur für die Steuerpolitik, das gilt auch für die Gesundheitspolitik und eine ganze Reihe anderer Politikbereiche. Die Frage, wofür diese Regierung steht, kann nicht beantwortet werden, wenn die Chefin dieser Regierung nicht in der Lage ist, deutlich zu machen, für welche längerfristige Konzeption sie eigentlich steht. Das ist das Bedauerliche an dem Vorhalt, den Herr Westerwelle hier gemacht hat. ({7}) Ich habe einige Fragen zur Außenpolitik gestellt, die alle nicht beantwortet worden sind. Es wäre erstens von Interesse, zu erfahren, was die Kanzlerin unter Terrorismus versteht. Das könnte die Deutschen ja interessieren. Offensichtlich ist sie nicht in der Lage, darauf eine Antwort zu geben. Es wäre zweitens von Interesse, zu erfahren, ob sie tatsächlich die Auseinandersetzungen im Vorderen Orient als Auseinandersetzungen über Freiheit und Demokratie versteht oder ob sie erkennt, dass es hier um die militärische Sicherung der Rohstoffe geht. Es wäre von Interesse für die Deutschen, das zu erfahren. Die Frage, ob eine Regierung in Zukunft das Völkerrecht respektiert, kann doch nicht so abenteuerlich sein, dass man darauf keine Antwort weiß. ({8}) Die Frage ist, welchem Zweck Debatten überhaupt noch dienen. Der Kollege Kuhn, der leider auch nicht mehr anwesend ist, hat eine Frage aufgeworfen, die auch relevant ist, nämlich auf welcher Grundlage man mit dem Iran verhandelt. ({9}) Wenn man mit dem Iran verhandelt, dann muss man doch eine klare Antwort auf eine Kernfrage der atomaren Rüstung haben: Meint man, eine gerechte Weltordnung könne aufgebaut werden, wenn die einen Atomwaffen für sich beanspruchen, während man sie den anderen im gleichen Atemzug verbietet? Diese Frage muss doch beantwortet werden. ({10}) Eine Regierung muss doch irgendeinen gedanklichen Ansatz dazu vortragen können. Es ist erschütternd, zu sehen, wie heute das Prinzip der Beliebigkeit gilt. ({11}) Man erzählt irgendetwas Gefälliges und glaubt, es werde irgendwie ankommen. Das ist mittlerweile Grundlage der Politik. Ich will zu zwei Punkten, die die Kanzlerin angesprochen hat, noch kurz etwas sagen: Sie hat die Rentenpolitik der Regierung mit der Aussage gerechtfertigt, die demografische Entwicklung erfordere zwingend die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Diese Aussage stößt zwar auf große Zustimmung, ist aber schlicht und einfach grundfalsch. Das Lebensalter darf nicht über die Rentengesetzgebung entscheiden. Entscheidend ist nun einmal die Produktivitätsentwicklung unserer Volkswirtschaft. Schon seit langem steigt die Lebenserwartung der Menschen. Trotzdem haben wir das Rentensystem aufgrund enormer Produktivitätssteigerungen in diesem Umfang bewahren können. Deshalb ist es schlicht falsch, zu behaupten, die demografische Entwicklung bestimme die Rentengesetzgebung. Entscheidend ist die Entwicklung der Produktivität unserer Volkswirtschaft. ({12}) Leider wird von diesem zentralen Begriff überhaupt nicht geredet, wenn diese Frage hier angesprochen wird. Ich will noch etwas zur Familienpolitik sagen. Es war wieder sehr spannend, festzustellen, dass man darauf verweist, dass die Geburtenrate zurückgegangen ist. Ich sage hier für meine Fraktion: Die Geburtenrate eines Volkes ist das Urteil ebendieses Volkes über die Wirtschafts- und Sozialpolitik seiner Regierung. ({13}) Diesen Zusammenhang muss man sehen. Wenn man ihn nicht sieht, dann kann man keine Familienpolitik machen, die zu anderen Geburtenraten führt. In diesem Zusammenhang sprach die Kanzlerin von der Verlässlichkeit und vom Kündigungsschutz. Sie meinte, beim Kündigungsschutz komme es darauf an, beim Abbau des Kündigungsschutzes verlässlich zu sein. Hier möchte ich noch einmal sagen: Wenn Menschen eine Familie gründen wollen - um diese Menschen geht es -, dann suchen sie eine ganz andere Form von Verlässlichkeit als die Scheinverlässlichkeit, von der die Kanzlerin hier gesprochen hat. Diese Menschen möchten verlässlich wissen, ob sie in ein paar Monaten noch Geld auf dem Konto haben. Solange Arbeitsmarktpolitik darin besteht, alles abzubauen, was den jungen Menschen diese Verlässlichkeit geben könnte, so lange werden keine Familien gegründet und so lange werden in Deutschland immer weniger Kinder zur Welt kommen. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort nun dem Staatsminister im Kanzleramt, Bernd Neumann. ({0})

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung am 30. November 2005 gesagt - ich zitiere -: Deshalb ist Kulturförderung für diese Bundesregierung keine Subvention. ... Sie ist eine Investition, und zwar eine Investition in ein lebenswertes Deutschland. Ich wiederhole das gern. Die Bundesregierung bekennt sich zu ihrer kulturpolitischen Verantwortung. Kunst und Kultur stärken das geistige Fundament und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Eine lebenswerte, eine kreative und eine offene Gesellschaft ist ohne Impulse, die die Künste geben, nicht denkbar. ({0}) Mit diesem Haushalt unterstreicht die Bundesregierung, dass sie ihrer kulturpolitischen Verantwortung gerecht wird. Ich konnte mich mit meiner Zielsetzung durchsetzen, den Kulturhaushalt vor Kürzungen zu bewahren, obwohl im früheren Entwurf eine erneute globale Minderausgabe vorgesehen war. Mehr noch: Es ist gelungen, den Ansatz für die Kulturförderung im vorliegenden Gesetzentwurf zu erhöhen. ({1}) Es steigt der verfügbare Gesamtbetrag für 2006 gegenüber dem Haushaltsjahr 2005 um 2,1 Prozent. Die von uns geförderten Einrichtungen werden von Kürzungen also verschont. Sie haben im BKM einen verlässlichen Partner. ({2}) In Zeiten knapper Kassen und dramatischer Sparzwänge ist dies für die Kultur in Deutschland ein wichtiges positives Signal, auch in Richtung Länder und Kommunen. ({3}) Die Kultur darf eben nicht zum Steinbruch bei der Sanierung der Staatsfinanzen werden. ({4}) Sie ist die geistige Basis, die Klammer, die unsere Gesellschaft bei zunehmender Globalisierung und Orientierungslosigkeit zusammenhält. Sie gibt uns Halt, Heimat und Identität zugleich. ({5}) Im Zeitraum von 2001 bis 2004 verzeichnen wir auf der Länderseite einen Rückgang der Kulturausgaben um 250 Millionen Euro und bei den Gemeinden einen Rückgang um 230 Millionen Euro. ({6}) - Herr Otto, das war die Antwort auf die von Ihnen gestellte Frage. Das ist ein Minus von 6,8 Prozent bzw. 6,2 Prozent. ({7}) Die Kulturausgaben des Bundes bleiben dagegen im Prinzip stabil. Wir haben im letzten Jahr, 2005, mit 1,038 Milliarden Euro etwa die gleiche Ausgabenhöhe wie 2001. Es verwundert daher nicht, dass in diesen Tagen die Städte Wittenberg, Wolfenbüttel und Weimar ihre Thesen zur kulturpolitischen Situation in Deutschland vorgestellt haben. Das hat seinen Grund. Die Autoren stellen fest, man könne nicht die kulturpolitischen Kompetenzen auf Bundesebene beschneiden wollen bei gleichzeitiger Absenkung der Kulturfinanzierung auf Länder- und Kommunalebene; das schade dem Anspruch Deutschlands als Kulturstaat. ({8}) Ihre Schlussfolgerung angesichts der sinkenden Ausgaben der Länder ist ein Appell an den Bund, hier stärker tätig zu werden. Das ist gut gemeint, aber der Bund kann nicht finanziell das ausgleichen, was die Länder einsparen, ({9}) zumal sich seine Verantwortung auf Bereiche von nationaler und gesamtstaatlicher Bedeutung beschränkt. Diese nimmt er sehr engagiert wahr. Ich habe in der vergangenen Woche Weimar - international Inbegriff deutscher Kultur - besucht. Hier kommt der Bund seiner gesamtstaatlichen Verantwortung nach. Wir unterstützen die Klassik Stiftung Weimar mit 11 Millionen Euro im Jahr und wir verlängern die Traditionslinien Weimars zur zeitgenössischen Kunst auch in diesem Jahr, indem wir, anders als geplant, das Kunstfest Weimar erneut fördern. Hier wird das Bekenntnis zur Kulturnation mit Taten unterlegt. ({10}) Nicht alles ist finanzierbar. Deutschland ist kein Staatenbund, sondern ein Bundesstaat. Deutschland ist eine europäische Kulturnation. Daraus ergibt sich für mich geradezu eine Verpflichtung zu föderaler Kooperation zwischen Bund und Ländern. Dieser Verpflichtung kommt die Bundesregierung nicht nur durch einen stabilen Haushalt, sondern auch durch Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Kultur nach. Wir haben im letzten Vierteljahr die Beibehaltung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für Kulturgüter beschlossen. ({11}) Wir haben mit dem Folgerecht im Kunsthandel für Künstler EU-weit vergleichbare Bedingungen geschaffen. ({12}) Wir haben mit der UNESCO-Konvention zum Verbot der rechtswidrigen Übereignung von Kulturgut auch dem Kunsthandel weltweit eine sichere Grundlage gegeben. Wir haben mit der im Kabinett beschlossenen Novelle des Urheberrechts mit dem Wegfall der Bagatellklausel, die an sich vorgesehen gewesen ist, ein wichtiges Signal für den Schutz des geistigen Eigentums von Künstlern und Autoren gesetzt. ({13}) Die kulturpolitische Rolle des Bundes liegt ganz konkret in der Förderung dessen, was von nationaler gesamtstaatlicher Bedeutung ist. Das gilt nicht nur, aber auch für die Hauptstadt. ({14}) Unser größtes Projekt in Berlin ist die Fertigstellung der Museumsinsel. Das ist ein nationales Projekt mit internationaler Ausstrahlung. Schon jetzt ist dieses WelterbeEnsemble einer der bedeutendsten Orte der Kunst in der Welt. Unser Haushalt macht es möglich, ohne Zeitverzug an der weiteren Umsetzung des so genannten Masterplans zur Sanierung der Museumsinsel in Berlin-Mitte zu arbeiten. Es ist unser größtes Bauvorhaben und es zeigt eindrucksvoll, was es heißt, in Kultur zu investieren. ({15}) Es bedarf einer gemeinsamen Anstrengung, der Bedeutung der Kultur und ihrer Förderung auch mit Blick auf den Haushalt Nachdruck zu verleihen. ({16}) Diese Anstrengung muss sich jährlich wiederholen, auch für den Haushalt 2007, Herr Kollege Kampeter. ({17}) Ich bin der Überzeugung: Der vorgelegte Haushaltsentwurf 2006 ist eine Basis, die fraktionsübergreifend tragfähig ist und die an sich von allen Parteien unterstützt werden könnte. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort nun der Kollegin Dr. Angelica Schwall-Düren für die SPD-Fraktion.

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern war die positive Nachricht zu vernehmen, dass der Geschäftsklimaindex erneut, zum vierten Mal in Folge, angestiegen und auf ein Niveau geklettert ist wie seit 1991 nicht mehr. Wahrlich eine erfreuliche Botschaft; aber die FDP, insbesondere Herr Gerhardt und Herr Westerwelle, setzt das Schlechtreden Deutschlands fort ({0}) und trägt damit weiterhin zu einem Klima bei, das den Investitionen nicht gerade zuträglich ist. ({1}) Deutschland ist auf einem guten Weg. Das ist auch wichtig; denn Deutschland wird als Motor in Europa gebraucht. Gleichzeitig profitiert unser Land aber auch von der Europäischen Gemeinschaft ({2}) und ihren Initiativen. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass sich die Regierung der großen Koalition zusammen mit den Regierungen der anderen EU-Mitgliedstaaten für eine koordinierte Wachstumspolitik mit sozialem Gesicht einsetzt. Damit steht sie in der Tradition der sozialdemokratisch geführten Vorgängerregierungen, die sich mit den Reformen der Agenda 2010 den Herausforderungen der Zeit gestellt hatten. Zugegeben: Die unter mehrheitlich sozialdemokratischen Regierungschefs im Jahr 2000 aus der Taufe gehobene Lissabonstrategie war in den vergangenen Jahren nur mäßig erfolgreich. Vielleicht fehlte hier der starke Impuls aus Deutschland; denn Reformen waren ja nicht leicht umzusetzen. Nicht umsonst - so weit mein dezenter Hinweis - wollen wir einen Teil der Blockademöglichkeiten durch eine Föderalismusreform aufheben. Dies ist aber kein Grund, an den Zielen der Lissabonstrategie zu zweifeln. Die EU hat einen neuen Anlauf genommen. Die Mitgliedstaaten haben sich verpflichtet, nationale Reformprogramme zu erstellen. Die wesentlichen Elemente des deutschen nationalen Reformprogramms sind in die Koalitionsvereinbarung eingegangen. Unser Programm setzt die begonnenen Strukturreformen der Vorgängerregierungen fort. ({3}) Heute ist schon viel zu den einzelnen Schwerpunkten in den Bereichen Arbeitsmarkt, Altersversorgung und Familienpolitik gesagt worden. Ich will hier nur betonen, dass die EU-Kommission uns in ihrem Bericht zu den nationalen Reformprogrammen ausdrücklich bescheinigt hat, dass wir auf einem guten Wege sind. Das nationale Reformprogramm zeigt: Wir werden in unserem Land mehr investieren und private Investitionen unterstützen. Im Bereich Forschung und Entwicklung werden bis 2009 mehrere Milliarden zusätzlich zur Verfügung gestellt, sodass wir realistischerweise bis 2010 das Ziel der Investitionen in Höhe von 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erreichen können. Wir investieren in die Verkehrsinfrastruktur bis 2009 zusätzlich insgesamt 4,3 Milliarden Euro. ({4}) Wir geben Bürgern, Unternehmen und Kommunen Unterstützung für ihre Investitionen. Dazu haben wir unter anderem ein ehrgeiziges CO2-Minderungsprogramm aufgelegt. Wir schaffen die Möglichkeit, bis zu 600 Euro an Handwerksleistungen von der Steuerschuld abzuziehen. Damit ermöglichen wir nicht nur Einsparungen von Kosten und Energieverbrauch; wir sorgen auch für günstige Voraussetzungen für die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen. ({5}) Deutschland und Europa können im weltweiten Wettbewerb nur dann ihre starke Position behalten, wenn den Innovationen freie Bahn geschaffen wird. Im Gegensatz zu dem, was Sie, Herr Kuhn, ausgeführt haben, unterstützen wir den Technologietransfer und den Marktzugang von innovativen Produktionsmethoden und Produkten. Die nachhaltige Energiepolitik - wir stehen da in einer guten gemeinsamen Tradition - mit dem Ausbau regenerativer Energiequellen sowie der Weiterentwicklung von Effizienz- und Einspartechnologien ist deshalb ein gutes und wichtiges Beispiel für diese Strategie. Die dafür notwendige Kreativität und Flexibilität finden sich vor allem bei den kleinen und mittleren Unternehmen. Deshalb setzt die Bundesregierung im Einklang mit der EU hier einen Förderschwerpunkt. ({6}) Wie schon in der Vergangenheit wird auch in dieser Legislaturperiode daran gearbeitet, die Unternehmen in Deutschland und in der Europäischen Union von unnötigem bürokratischem Ballast zu befreien. Die Kanzlerin hat bereits darauf hingewiesen. Bürokratieabbau darf aber nicht Deregulierung um ihrer selbst willen bedeuten nach dem neoliberalen Motto der FDP „Der Markt wird schon alles regeln“. ({7}) - Ich sage das deswegen, weil es richtig ist. - Der Markt kann gerade nicht die menschlichen Beziehungen regeln. Inzwischen weiß es fast jeder, vielleicht mit Ausnahme der FDP: Der soziale Zusammenhalt, den wir in Deutschland und in Europa gewöhnt sind, ist ein ganz wichtiger Produktionsfaktor, dem wir unsere hohe Produktivität entscheidend zu verdanken haben. ({8}) Darum ist es unabdingbar, dass wir in Deutschland und in Europa die soziale Dimension stärken. Ich bin deshalb der Bundeskanzlerin sehr dankbar, dass sie vergangene Woche auf dem Frühjahrsgipfel für den Kompromiss bei der Dienstleistungsrichtlinie eingetreten ist, den das Europäische Parlament erarbeitet hat. Wir können Europa nur gemeinsam mit der Bevölkerung bauen, wenn wir den Menschen nicht jegliche Sicherheit nehmen. Deshalb sage ich: Dynamisierung des Dienstleistungsmarktes durch freien Marktzugang für alle EUBürger: ja, aber unter Einhaltung der jeweiligen Sozial-, Qualitäts- und Verbraucherschutzstandards am Ort der Erbringung der Dienstleistungen. ({9}) Wir setzen darauf, dass die Bundesregierung im weiteren Beratungsverlauf zur Erarbeitung eines gemeinsamen Standpunktes des Rates die noch offenen Fragen sorgfältig klärt und in Abstimmung mit dem Bundestag die Präzisierung der Dienstleistungsrichtlinie voranbringt. Freier Marktzugang für Dienstleister und Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Ablauf der Übergangsfrist verlangen auch nach einer Regelung heimischer Mindeststandards. Ich bin deshalb sehr froh, dass Arbeitsminister Franz Müntefering bis zum Herbst ein Paket vorlegen will, mit dem der Niedriglohnbereich geregelt werden soll. Ob hier Kombilöhne eine stärkere Rolle als in der Vergangenheit spielen können, halte ich für sehr fraglich. Sicher müssen wir Lösungen für das Entsendegesetz und für die Mindestlöhne finden. Denn wer hart arbeitet, braucht eine anständige und existenzsichernde Entlohnung. Eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung kann nur gelingen, wenn die ökonomischen Zusammenhänge beachtet werden. Dabei sind tragfähige öffentliche Finanzen ein zentrales Element. Das gilt für Deutschland und für Europa. Beim Europäischen Rat im Dezember 2005 haben die Staats- und Regierungschefs eine Einigung über die künftige Finanzierung der EU erzielt. Die Bundesregierung konnte maßgeblich zum Zustandekommen dieses Kompromisses beitragen. ({10}) Mit dieser Einigung wurde die finanzielle Grundlage für die künftige europäische Politik geschaffen. Gleichzeitig überfordert der gefundene Kompromiss die Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten nicht, sondern er unterstützt die notwendigen Konsolidierungsanstrengungen. Es ist nun wichtig, dass dieser Kompromiss zusammen mit dem Europäischen Parlament und der Kommission umgesetzt wird. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass rechtzeitig eine Einigung gelingt, damit die europäischen Politiken kontinuierlich fortgesetzt werden können. ({11}) Im Hinblick auf die nationalen öffentlichen Finanzen wurde mit der Reform des europäischen Stabilitätsund Wachstumspaktes - das sage ich auch in Richtung Herrn Lafontaine - die Voraussetzung für eine ökonomisch sinnvolle Anwendung des Paktes geschaffen. Unser Finanzminister Peer Steinbrück hat gestern klar gemacht, dass wir einerseits den Pakt künftig wieder einhalten werden, dass aber andererseits eine nachhaltige Konsolidierung nicht allein durch Einsparungen erreicht werden kann. ({12}) Wir müssen die Konjunktur stärken und entsprechende Anreize schaffen. ({13}) - Das tun wir auch. Wir sparen jede Menge. ({14}) Das in Genshagen beschlossene Investitionsprogramm trägt dazu bei, die Wachstumsschwäche in Deutschland zu überwinden, und schafft damit die Voraussetzung für eine nachhaltige Haushaltskonsolidierung. Der Ansatz, die konjunkturelle Belebung im laufenden Jahr zu stützen und dann die Maastrichtkriterien in 2007 wieder einzuhalten, ({15}) ist ökonomisch geboten und macht den Stabilitäts- und Wachstumspakt bei den übrigen Mitgliedstaaten glaubwürdiger. ({16}) Viele Menschen sind durch die Auswirkungen des internationalen Wettbewerbs verunsichert. Sie haben die EU im Verdacht, für den Verlust von Arbeitsplätzen verantwortlich zu sein. In der Summe ist das Gegenteil der Fall. Die Erweiterung der Europäischen Union hat ökonomisch positive Auswirkungen insbesondere auf Deutschland. Die Zahl der deutschen Exporte in die Beitrittsländer ist enorm gestiegen. Deutschland und Österreich haben bislang von der erweiterten europäischen Arbeitsteilung am meisten profitiert. Die Gewinner sind allerdings vor allem technologisch fortgeschrittene, kapitalintensive Wirtschaftszweige wie der Maschinenund Anlagenbau, die Chemie- und Kraftfahrzeugindustrie und die Umwelttechnologien. Wir wissen aber auch, dass Direktinvestitionen westeuropäischer Unternehmen in die neuen Mitgliedstaaten nicht nur durch das Interesse der Markterschließung, sondern ganz wesentlich auch durch teilweise niedrigere Steuern und Lohnkosten bestimmt werden. Standortverlagerungen dienen dazu, Teile der Wertschöpfungskette in Niedriglohnländer zu verlagern und damit die Vorleistungen für die Produktion im Stammland zu verbilligen. Damit lässt sich zwar die Position der Unternehmen im globalen Wettbewerb stärken. Doch fallen die sozialen Kosten insbesondere für Arbeitsplätze, für die eine geringe Qualifizierung nötig ist, im Stammland an. Importwettbewerb und die Verlegung von Produktionsstandorten erzeugen in den betroffenen Branchen einen enormen Druck auf die Löhne, vor allem auf diejenigen niedrig qualifizierter Beschäftigter. Um Europapolitik für die betroffenen Menschen positiv erfahrbar zu machen, müssen neben Standards im Verbraucherschutz, bei der Produktionssicherheit und im Umweltschutz dringend notwendige Regelungen getroffen werden, zum Beispiel die Festlegung von Mindestlöhnen, die ich schon erwähnt habe. Es gilt, lange Versäumtes unverzüglich nachzuholen. ({17}) - Das war unter anderem deswegen nicht möglich, weil die Debatte in den Gewerkschaften noch nicht weit genug vorangekommen ist. ({18}) Aber wir kommen in dieser Frage voran und werden dazu noch in diesem Herbst eine Entscheidung treffen. Mit uns wird Deutschland ein Land mit hohen Löhnen und hoher sozialer Sicherheit bleiben. ({19}) Angesichts der angespannten Situation am deutschen Arbeitsmarkt kann gegenwärtig die generelle Öffnung für Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten nicht ernsthaft erwogen werden. Ein Zuzug besonders von gering qualifizierten Arbeitnehmern würde zu weiteren Verwerfungen führen und von unseren Bürgern und Bürgerinnen nicht verstanden. Der Beschluss der Bundesregierung beweist, dass die Sorgen und Nöte der Menschen in unserem Land ernst genommen werden und sie die konkrete Politik beeinflussen. Das schafft Akzeptanz für deutsche Politik und für die europäische Integration. Dies wirft aber auch die Frage nach den nächsten Erweiterungsschritten auf. Der Vertrag über den Beitritt Bulgariens und Rumäniens zur EU wurde am 25. April 2005 in Luxemburg unterzeichnet und muss von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Die deutsche Bundesregierung steht zu unterzeichneten Verträgen. In der Koalitionsvereinbarung haben wir verabredet, im Lichte der für Mai angekündigten Berichte und der Empfehlung der EU-Kommission über die Ratifizierung zu entscheiden. Der Deutsche Bundestag wird ausführlich darüber beraten. Wir wissen, dass die Länder derzeit noch Defizite bei der Implementierung des Gemeinschaftsrechts aufweisen. Wenn wir die Bürger in allen Mitgliedstaaten von der Richtigkeit der europäischen Politik überzeugen wollen, müssen die Beitrittskandidaten die vereinbarten Kriterien für die Aufnahme in die EU einhalten. Rumänien und Bulgarien stehen also vor einer großen Aufgabe, die in sehr kurzer Zeit gelöst werden muss. Aber beide Länder wissen Deutschland an ihrer Seite. Wir werden, soweit möglich, Unterstützung leisten. ({20}) An der Entscheidung über die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien und der Türkei mit dem Ziel, ihnen die Vollmitgliedschaft zu eröffnen, halten wir ebenso fest. ({21}) Die Verhandlungen werden ergebnisoffen geführt und wir wissen, dass sie noch viele Jahre dauern werden. Deutschland wird weiter daran arbeiten, mit einer umsichtigen Erweiterungspolitik, die die Aufnahmefähigkeit der EU nicht überfordert, einen wichtigen Beitrag zu Frieden und Stabilität auf unserem Kontinent zu leisten. Wir werden auch zukünftig in Europa keine religiösen Grenzen ziehen. Die EU ist eine Werte-, aber keine Religionsgemeinschaft. Das muss auch für Ministerpräsidenten deutscher Bundesländer gelten. ({22}) Gleichwohl sind wir in der Pflicht, das Spannungsverhältnis zwischen der außen- und sicherheitspolitisch gebotenen und erwarteten Fortführung des Erweiterungsprozesses und den europapolitischen Notwendigkeiten einer Konsolidierung der Grundlagen der EU aufzulösen. Die EU muss ihre Glaubwürdigkeit nach außen und nach innen erhalten und gleichzeitig ihre Handlungsspielräume erweitern. Ich bin deswegen überzeugt, dass die Ausgestaltung der europäischen Nachbarschaftspolitik von enormer Bedeutung sein wird. Die Attraktivität dieses Instruments muss im Sinne der EU und der betroffenen Länder gesteigert werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das größere Europa braucht veränderte Regeln. Die Ursachen, die zur Ablehnung des Vertrags über eine europäische Verfassung in Frankreich und den Niederlanden geführt haben, müssen wir in einer gemeinsamen Kraftanstrengung bekämpfen. Wir wollen und müssen den Menschen deutlicher machen, wie nützlich gemeinsame Politik in Europa für alle ist. Dem Unbehagen gegenüber den sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Globalisierung sowie der mangelnden Transparenz von europäischen Entscheidungen muss eine deutlich soziale und demokratische Politik entgegengesetzt werden. Lange Jahre war die EU für die Bürger Garant für Frieden und Sicherheit in Europa. Sie wurde nicht infrage gestellt, aber auch wenig beachtet. Heute bezweifeln die Menschen, ob die EU angesichts der rasanten Globalisierung und des verschärften internationalen Wettbewerbs den Lebensstandard ihrer Bürger sichern kann. Wir befinden uns also nicht in einer Verfassungskrise, sondern in einer Vertrauenskrise und wir müssen aus der Ratifizierungskrise herauskommen. Die vereinbarte Reflexionsphase sollten alle nationalen Parlamente, das Europäische Parlament, die Regierungen, die Sozialpartner, die zivilgesellschaftlichen Gruppen und die politischen Parteien nutzen, um eine öffentliche Debatte zu führen. Wir unterstützen ausdrücklich die Vereinbarungen der Kabinettsklausur in Genshagen vom Januar 2006. Ich zitiere: Wir wollen in Europa ein günstiges politisches Klima schaffen, das es ermöglicht, unter deutscher EU-Präsidentschaft neue Anstöße für einen erfolgreichen Abschluss des Verfassungsprozesses zu geben. Es steht außer Frage, dass dabei der sozialen Dimension der EU eine herausragende Rolle zukommt. Es gibt großen Diskussionsbedarf, um Ideen und Vorschläge zu formulieren, die von den Staats- und Regierungschefs aufgegriffen werden können. Auch wir als Deutscher Bundestag sind hier in der Pflicht. Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich aktiv und engagiert in die Debatte einbringen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({23})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Markus Meckel, SPD-Fraktion. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner ({0})

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte über den Haushalt des Bundeskanzleramtes nähert sich dem Ende und gleich beginnt die Debatte über die Außenpolitik. An dieser Schnittstelle versuche ich, den Blick auf unsere europäischen Nachbarn, das heißt auf Weißrussland und die Ukraine, zu richten. ({0}) Einige von uns haben die Wahl in Weißrussland beobachtet. Wir haben gemeinsam feststellen müssen, dass diese Wahl, so die formale Sprache der OSZE, weder fair noch frei war. Wir könnten auch sagen: Es war eine gut organisierte Wahlfarce, die wir miteinander erlebt haben. ({1}) Das war nichts Neues, wir haben das vorher schon bei einem Referendum und früheren Wahlen erlebt. Neu ist aber - das ist ein Zeichen der Hoffnung -, dass es diesmal mit Milinkewitsch einen gemeinsamen Kandidaten der Opposition gab und dass der Wahlkampf gut organisiert war. Neu war auch, dass die Sozialdemokraten im Vorfeld kooperiert haben, auch wenn die Sozialdemokraten aus der Koalition - wir müssen das leider bekennen später nicht mitgemacht haben. ({2}) Ihre Kooperation war wichtig. Wir können nur hoffen und sie auffordern, die Gemeinsamkeit der Opposition auch in Zukunft weiter zu erhalten. Das ist eine Schlüsselfrage für die Zukunft von Belarus. ({3}) Wir haben mit Zittern auf den Sonntagnachmittag und -abend gewartet, weil angekündigt war, dass Blut fließen würde. Gewalt wurde angekündigt, und zwar durch verschiedenste Intrigen und Mittel. Es wurden öffentliche SMS versandt, in denen davor gewarnt wurde, zum Oktoberplatz zu kommen. Es war ungeheuer bewundernswert, dass plötzlich 10 000 Menschen zum Oktoberplatz kamen, die viele Stunden lang in großer Kälte trotz der Drohungen für Freiheit und Demokratie protestiert haben. Es war ein großes Erlebnis für diejenigen, die dabei waren. Diese Menschen haben deutlich gemacht: Wir lassen uns die Zukunft durch den Wahlbetrug und das autoritäre System nicht verbauen. ({4}) Es hat hundertfache Verhaftungen gegeben. ({5}) - Zu den 700 muss man noch die hinzuzählen, die schon vorher in Haft waren. Wir müssen Lukaschenko in aller Deutlichkeit auffordern, diese Menschen freizulassen. Darüber hinaus müssen wir auch Präsident Putin auffordern, sich für die schnelle Freilassung der Menschen einzusetzen. ({6}) Die Vorkommnisse machen deutlich: Belarus und die Ukraine sind eine europäische Herausforderung. Wir müssen deutlich machen, dass wir an der Seite der Demokratiebewegung stehen. Es ist daher gut, dass der Europäische Rat vorgeschlagen hat, Milinkewitsch im April einzuladen, um mit ihm über die Zukunft zu sprechen. Wir müssen uns auch fragen: Was tun wir? Es ist richtig und gut, dass wir in der EU beschlossen haben, die Sanktionen bei der Visaerteilung deutlich zu erweitern. Ich sage: Jeder Polizist, von dem man namentlich weiß, dass er Gewalt angewandt hat, jeder Richter, der an Verurteilungen beteiligt war, und jeder Schuldirektor oder Universitätsrektor, der Menschen, die sich an den Demonstrationen beteiligt haben, von der Schule oder Universität verweist, gehört auf die Liste derjenigen, die kein Visum für Länder der Europäischen Union erhalten. ({7}) Wir müssen natürlich auch die Nachbarländer, das heißt die Ukraine, Kroatien, Rumänien und Bulgarien - die Länder, in die die Nomenklatura gern in Urlaub fährt -, für dieses Vorhaben gewinnen, damit diese Liste Geltung erhält. Wir müssen aber noch mehr tun. Wir müssen die Kontakte in die Gesellschaft hinein befördern. In diesem Zusammenhang wäre es eine Katastrophe, wenn in Zukunft die Schengenvisa nach Polen und Litauen, in die unmittelbaren Nachbarländer - bisher kosteten die Visa 60 Euro -, bezahlt werden müssten. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass die Gebühren für Schengenvisa für Leute, die sich in NGOs oder der Opposition engagieren, billiger sind. Ansonsten würden wir die Kommunikation abbrechen, indem wir Barrieren schaffen. Das wäre eine Katastrophe. Ebenso sollten wir neue und bessere Instrumente zur Unterstützung von NGOs schaffen. In der EU haben wir durchaus manches versucht. Das ist aber zu bürokratisch und zu schwerfällig. Das reicht nicht wirklich. Ich trete daher sehr dafür ein, dass wir eine europäische Stiftung für Demokratie schaffen, die kurzfristig kleinere Summen zur Verfügung stellen kann, damit wir NGOs in Belarus und anderen Ländern flexibel unterstützen können. Wir wissen, dass eine Zivilgesellschaft oft keine Unterstützung in Millionenhöhe braucht, sondern kleinere Summen, die schnell, flexibel und auf direktem Weg von einer kompetenten Stiftung zur Verfügung gestellt werden können. Das sollten wir, so denke ich, miteinander auf den Weg bringen. Klar ist, dass die Länder zwischen Russland und der Europäischen Union - Belarus ist im Augenblick am stärksten gefährdet - in Zukunft unsere Aufmerksamkeit brauchen werden. Ich hoffe sehr, dass es uns während der deutschen EU-Präsidentschaft im nächsten Jahr gelingen wird, europäische Initiativen zu entwickeln, damit wir gerade diesem Raum mehr Aufmerksamkeit schenken und ihm mehr Unterstützung für eine demokratische und Wohlfahrtsentwicklung bieten können. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Monika Griefahn, SPDFraktion.

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich schlage den Bogen zurück zur Kultur. Die Goethe-Institute können im Bereich der Kultur, also unterhalb der politischen Ebene, durch ihre Programme und Begegnungen in den Ländern, in denen die politischen Bedingungen noch nicht so gut sind, sehr viel erreichen. Das gilt auch für Belarus. Insofern ist die Kulturpolitik für uns ein sehr wichtiger Faktor. Wenn man die Struktur eines Haushaltsentwurfs als Gradmesser dafür nimmt, welche Bedeutung man einem bestimmten Bereich beimisst, dann kann man zur Kulturpolitik vielleicht sagen: 1 Milliarde Euro im Haushalt des Kulturstaatsministers und etwa 545 Millionen Euro im Haushalt des Auswärtigen Amtes - das ist nicht wirklich viel. Wenn man aber berücksichtigt, was wir damit bewegen und dass im Haushalt des Kulturstaatsministers eine Erhöhung stattgefunden hat, sieht das anders aus. Mit den Mitteln, die wir für den Dialog zur Verfügung stellen, haben wir viele Kontakte mit den NGOs und Oppositionsbewegungen vor Ort ermöglichen können. Die Kulturpolitik ist daher ein sehr wichtiger Faktor, den wir alle unterstützen müssen. Deswegen freue ich mich, dass wir in diesem Jahr sowohl im Haushalt des BKM als auch bei den Stipendien - auch das ist ein wichtiger Austauschfaktor - eine Steigerung verzeichnen können. Aus dem 6-Milliarden-Programm werden dem DAAD, der Humboldt-Stiftung und anderen zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt. Dadurch haben wir die Möglichkeit, in den Ländern direkt Multiplikatoren zu gewinnen. ({0}) Damit haben wir das umgesetzt, was wir im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben. Der Etat für Kultur ist der kleinste und damit sensibelste Etat im Bundeshaushalt. Deswegen sollte er vorsichtig behandelt werden. Wir beschreiben Kulturpolitik als sehr wichtiges Politikfeld. Wenn es auch noch Kürzungen, zum Beispiel in der Programmarbeit oder in der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, gibt - daran müssen wir noch arbeiten -, so haben wir doch einen guten Einstieg gefunden. Von diesem Punkt aus müssen wir uns jetzt auf den Weg machen. ({1}) Günther Oettinger hat gestern bei Sandra Maischberger gesagt, wir müssten in Deutschland nicht nur Ökonomie und Wirtschaft, sondern ganz besonders unsere Kultur und Werte betonen. Ich denke, damit hat er einen guten Satz gesagt, den wir alle hier umsetzen sollten. ({2}) - Ich fand es beeindruckend, dass er so etwas sagt. ({3}) - Dass von einem Schwaben so etwas kommt - genau das habe auch ich gedacht. Ich finde, dass ein wichtiger Satz in unserer Koalitionsvereinbarung lautet: „Kulturförderung ist keine Subvention, sondern Investition in die Zukunft.“ ({4}) Mit der Förderung von Künstlerinnen und Künstlern engagieren wir uns für kulturelle Kreativität. Das ist nicht nur ein Lebensmittel für Menschen, sondern auch Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Denn nur mit Kreativität können wir neue Produkte und Designs entwickeln und damit in der Welt konkurrenzfähig sein. ({5}) Kulturelle Kompetenz schafft auch fachliche Kompetenz. Wer beispielsweise ein Musikinstrument erlernt, erlangt bessere Fähigkeiten in den Bereichen Sprache und Mathematik. Das müssen wir alle erkennen und unterstützen. So, wie unser Körper täglich Vitamine braucht, so braucht unser Geist Kunst und Kultur. ({6}) Genauso brauchen Künstlerinnen und Künstler die Freiheit, um künstlerisch tätig zu sein. Aus diesem Grund bleibt es - das ist mir ganz wichtig - Aufgabe des Staates, zu gewährleisten, dass Kunst und Kultur unbelasteter von ökonomischen Zwängen entstehen können. Wir werden sie nicht ganz unbelastet machen können, aber ein bisschen unbelasteter. Das ist ein wichtiger Punkt. Wir brauchen allerdings auch Stiftungen und Privatpersonen als Förderer, um die kulturelle Vielfalt, die wir glücklicherweise immer noch haben, zu gewährleisten. Die Kombination macht es. Aber ich sage ausdrücklich: Der Staat hat hierbei eine wichtige Aufgabe. ({7}) Als wunderbares Beispiel für einen sehr guten Beitrag zur freien Entfaltung der Künste können wir die Kulturstiftung des Bundes erwähnen. Der Etat von nunmehr knapp 38 Millionen Euro bedeutet eine Erhöhung der Mittel um knapp 2,2 Millionen Euro als letzten der drei Erhöhungsschritte. ({8}) So können wir innovative Programme und Projekte mit nationaler und internationaler Ausstrahlung fördern und wir können Deutschland im Dialog mit vielen Ländern als Kulturnation präsentieren. Herr Otto - ich komme dazu -, wir hoffen, dass die Fusion mit der Kulturstiftung der Länder die Möglichkeit für zusätzliche Projekte, also für einen Mehrwert, schafft, den wir gemeinsam mit den Ländern erreichen können. Ich glaube, dass das eine gute Perspektive ist. ({9}) Zur Außendarstellung Deutschlands trägt in ganz besonderem Maße die Deutsche Welle bei. Auch ihr kommt in diesem Haushalt eine kleine Steigerung zugute. Ich denke, das ist nötig. Denn der Etat der Deutschen Welle ist seit 1998 erheblich geschrumpft. Wenn wir wollen, dass die Deutsche Welle weiterhin die Dialogarbeit und die Präsentation Deutschlands in der Welt leistet, wenn wir wollen, dass unsere Sichtweisen zu Politik, Kultur und Wirtschaft in vielen Ländern vermittelt werden, und wenn wir wollen, dass die deutsche Sprache gefördert wird, dann müssen wir uns auch finanziell zur Deutschen Welle bekennen. ({10}) Ganz besonders begrüße ich die immer stärker werdende Zusammenarbeit der Deutschen Welle mit den öffentlich-rechtlichen Anstalten. Nachdem deutlich geworden ist, dass German TV kein tragfähiges Konzept darstellt, arbeiten die Sender nun mit Hochdruck zusammen daran, das Deutsche Welle Fernsehen zu einem attraktiven Angebot zusammenzuführen und damit allen Menschen in der Welt anzubieten. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt. ({11}) Mit diesem Haushalt wollen wir deutlich machen, dass der Dialog der Kulturen für uns einen besonderen Stellenwert hat. Mit Programmen in den Sprachen Dari und Paschtu zur Unterstützung der Afghanen, jetzt selbstständig zu werden, mit einem arabischen Fernsehprogramm, mit der Ausbildung von Journalisten und mit dem Internetportal der Deutschen Welle in 30 Sprachen gehen wir einen guten Weg. Wenn wir einen friedlichen Dialog wollen, müssen wir auch die Verständigung fördern. Das geht über diese Medien sicherlich ganz besonders gut. Die Wahrnehmung Deutschlands im Ausland wird aber nicht nur durch die mediale Außenvertretung gefördert, sondern auch durch seine Hauptstadt. Vieles davon ist deutlich zu sehen und begründet den Ruf Berlins als eine Kulturmetropole im Herzen Europas. Das zeigen die steigenden Zahlen von Besuchern, die wir nicht nur hier im Reichstag, sondern auch auf der Museumsinsel haben. Tatsache ist, dass Berlin mittlerweile viele Künstler und Kulturschaffende aus aller Welt fast magisch anzuziehen scheint. Das liegt an der ({12}) hohen Qualität und Vielfalt dessen, was es in Berlin zu sehen gibt. Es liegt aber auch an dem Klima von Innovation und Offenheit für Kultur. Dies wird auch durch Bundesmittel gefördert, nämlich für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, für viele Einzeleinrichtungen, aber auch zum Beispiel für den Hauptstadtkulturfonds, also von der individuellen Szene bis hin zu den großen traditionellen Einrichtungen. Ich glaube, das ist ganz wichtig. ({13}) Wenn wir über Berlin reden, dann liegen das Faszinierende und die Kraft von Innovation und Fortschritt darin, dass wir auch Vergangenes einbeziehen und bewusst machen. Die Kultur einer Gesellschaft wird auch dadurch geprägt, dass sie sich an das, was sie war, erinnert und daraus Schlüsse zieht. Insofern spielt auch unsere Gedenkstätten- und Erinnerungsarbeit eine ganz wesentliche Rolle für die Bundeskulturarbeit und damit auch für diesen Haushalt. ({14}) Nachdem wir in den vergangenen Legislaturperioden bereits ein Gesamtkonzept zur Aufarbeitung der NSDiktatur erarbeitet haben, werden wir jetzt auch die jüngere deutsch-deutsche Geschichte in ein Gesamtkonzept fassen. ({15}) Wir haben die Birthler-Behörde in den Aufgabenbereich des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien überführt. Wir arbeiten an einem Gesamtkonzept zur stärkeren Vernetzung und systematischen Förderung der gesellschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur. Den verantwortungsvollen Umgang mit der Zukunft der Birthler-Behörde, die ja eine ganz besondere Behörde ist, werden wir dann auch in den maßgeblichen haushaltsrelevanten Entscheidungen zum Ausdruck bringen. Zum Beispiel wollen wir endlich ein Modellprojekt angehen, um die alten, zerrissenen Akten wieder zusammenzusetzen; ich meine das berühmte „Schnipselprojekt“. ({16}) Das wollen wir im Rahmen eines Modellprojekts ausprobieren. Dann wird sich zeigen, ob das funktioniert. Die Aufarbeitung von Geschichte spielt auch in einem anderen Zusammenhang eine wichtige Rolle. Das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität wird im Haushalt 2006 erstmals mit 300 000 Euro etatisiert. Damit stellen wir als Koalition klar, dass wir die Themen Flucht, Vertreibung und Zwangsmigration in einem europäischen Kontext angehen, insbesondere mit unseren Partnern in Polen, Ungarn, der Slowakei und Österreich; weitere sollen hinzukommen. ({17}) Ich glaube, das ist der richtige Ansatz, um die vielfältigen bereits bestehenden Institutionen und Initiativen in diese Netzwerkstruktur einzubinden und in einen Dialog über diesen Teil der europäischen Vergangenheit zu treten. ({18}) Da der Etat für das Haus der Geschichte in Bonn um 2,5 Millionen Euro erhöht wurde, kann auch das Konzept der Ausstellung zum Thema Vertreibung weitergeführt werden. Diese Ausstellung wird bald auch in Berlin zu sehen sein, später vielleicht auch in Polen. ({19}) Das entspricht unserer gemeinsamen Forderung, die wir auch in den Koalitionsvertrag aufgenommen haben, dass wir mit Bedacht sichtbare Zeichen für unsere Auseinandersetzung mit der Vertreibung in Europa setzen wollen. Für das Jüdische Museum in Berlin wird es eine Bauerweiterung geben. Für die geplante Überdachung des Innenhofes, die so genannte Laubhütte, wurde in den Haushalt eine Verpflichtungsermächtigung von 2,5 Millionen Euro eingestellt. An dieser Stelle möchte ich Michael Blumenthal, dem Direktor des Jüdischen Museums, Dank sagen; ({20}) denn er hat in bewundernswerter Weise private Sponsorengelder eingeworben, um dieses Projekt verwirklichen zu können. ({21}) Jetzt kann eine sinnvolle und architektonisch gute Erweiterung realisiert werden, um die jährlich 700 000 Besucher dieses Museums - das muss man sich einmal vorstellen; das hat man nie erwartet - sehr ausführlich über die Geschichte der Juden in Deutschland zu informieren, damit sie nicht nur durch das Mahnmal mit dem Holocaust konfrontiert werden, sondern die gesamte und sehr vielfältige Geschichte der Juden erfahren, sowohl unter kulturellen als auch unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Das ist, wie ich glaube, ein wichtiger Aspekt. An diesem Beispiel wird auch deutlich, wie Public Private Partnership tatsächlich funktionieren kann. Ich habe dafür geworben, dass sich einerseits der Staat zur Kulturförderung bekennt, andererseits aber auch die Verantwortung von Stiftungen, Einzelpersonen und Firmen nicht zu unterschätzen. Denn jeder muss sich auch in finanzieller Hinsicht für Kunst und Kultur einsetzen. Das kann nicht einfach dem einen oder dem anderen übertragen werden. Ich denke, das sollte weder allein von Privaten und Stiftungen noch allein vom Staat gemacht werden. Das ist der richtige Ansatz, an dem wir weiterarbeiten müssen. Der Zusammenhang von privatem Engagement und Investment spielt auch beim Thema Filmfinanzierung eine wichtige Rolle. Ich freue mich, dass wir mit 14,3 Millionen Euro einen Teil der 90 Millionen Euro in den Haushalt eingestellt haben, die für ein neues Modell der Filmfinanzierung zur Verfügung stehen werden. Hier knüpft Herr Neumann an die gute Arbeit seiner Vorgängerin, der Staatsministerin Weiss, an. Ich hoffe, dass wir bis zum Sommer ein Modell erarbeitet haben, mit dem wir dann tatsächlich die staatlichen Mittel mit privaten Mitteln vervielfachen können, wie es in vielen anderen europäischen Ländern gang und gäbe ist.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. ({0})

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir haben noch viel vor. Das gilt für die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik wie auch für die gemeinsame Arbeit mit den Ländern im Rahmen der Föderalismusreform. Wir müssen immer aufs Neue für den entsprechenden Platz der Kultur kämpfen. Das gilt auch für das Staatsziel Kultur, das wir noch erkämpfen müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen Sie mit! ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes, Einzelplan 05. Außerdem rufe ich Zusatzpunkt 1 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Belarus nach den Präsidentschaftswahlen - Drucksache 16/1077 Das Wort hat der Bundesaußenminister Dr. FrankWalter Steinmeier. ({0})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Vor wenigen Wochen haben wir Johannes Rau in einem Staatsakt verabschiedet. Viele, die ihn kannten, wissen, dass ihn in den letzten Jahren vor allen Dingen eine Frage umgetrieben hat, nämlich die Frage der Möglichkeiten von Politik angesichts radikal veränderter Politikbedingungen. Viele von Ihnen waren so wie ich Gast bei seiner Berliner Rede 2002, in der er schon fast beschwörend an uns alle appelliert hat: Wir müssen die Globalisierung als politische Herausforderung verstehen und politisch handeln. Damit wir die Globalisierung gestalten können, brauchen wir neue politische Antworten. Ich sage: Um beides müssen wir uns bemühen, auch und gerade in der großen Koalition: um politische Antworten auf Veränderungen, die von vielen Menschen als bedrohlich empfunden werden, und um neue Antworten, um den Menschen Mut zu machen. Ich finde, wir brauchen Mut zur Veränderung, Mut, manchen ausgetretenen Pfad zu verlassen, Mut, der der allgemeinen Mutlosigkeit ohne Arroganz, aber mit Selbstbewusstsein begegnet. ({0}) Meine Damen und Herren, das ist sicherlich zuvörderst Aufgabe der Innenpolitik. Es ist, wie ich mittlerweile erfahren habe, aber auch und gerade Aufgabe der Außenpolitik; denn Globalisierung bedeutet, dass die Kontinente zusammenrücken, dass Informationen in Echtzeit überall verfügbar sind. Das verändert die Rahmenbedingungen unserer Außenpolitik, und zwar ganz gravierend. Das möchte ich an drei kleinen Beispielen erläutern. Erstens. Mit fortschreitender Globalisierung wächst der Anspruch an Tempo und Qualität der Informationsverarbeitung. Ob es sich um Naturkatastrophen oder Bürgerkriege handelt, die Menschen in aller Welt verfügen nach kurzer Zeit über einen Wust von Informationen, deren schnelle und zuverlässige Bewertung und Einordnung oft kaum möglich ist. Gleichwohl oder vielleicht sogar deswegen erwarten sie von uns rasche und überzeugende Reaktionen. ({1}) Aus meiner Sicht als Außenminister sage ich: Wo früher möglicherweise die Weisung an eine Botschaft genügt hat, um eine Reaktion auszulösen, ist heute eine ganze Kaskade von Abstimmungen notwendig: mit Partnern in Europa und den Vereinten Nationen, es gibt öffentliche Erklärungen, Erläuterungen im Parlament und Gespräche mit den NGOs. Zweitens. In den letzten Jahren haben immer mehr Staaten demokratische Transformationsprozesse durchlaufen; das haben Sie intensiv verfolgt, auch hier im Parlament. Auch wenn man das beim Zeitunglesen nicht glauben mag: Die Mehrzahl der Weltbevölkerung wird heute demokratisch regiert. Trotzdem ist die Welt - Sie wissen das - kein krisenfreier Raum. Auf dem Balkan, im Irak, auch im Kongo - worauf noch zu kommen sein wird - oder in Afghanistan erleben wir, wie fragil, wie unterstützungsbedürftig diese Transformationsprozesse oft über eine lange Dauer sind. Wir sehen tagtäglich auch, welch verheerende Konsequenzen ihr Scheitern haben kann und wie ganze Regionen in Bürgerkrieg und Anarchie versinken können. Was den islamistischen Terrorismus angeht, so sind wir natürlich seit einer Reihe von Jahren mit einer ganz neuen Qualität von Bedrohung konfrontiert. Drittes und letztes Beispiel zu diesem Thema: Auch Deutschland selbst ist in zunehmendem Maße von weltweiten Krisen betroffen. Ob es nun Touristen aus Deutschland sind, die während ihres Urlaubs zu Opfern von Naturkatastrophen oder terroristischen Gewaltakten werden, ob es unsere Wirtschaft ist, die mit Korruption und fehlender Rechtssicherheit in einzelnen Staaten kämpfen muss, oder ob es Bürgerinnen und Bürger sind, die sich angesichts steigender Gas-, Öl- und Energiepreise Gedanken um unsere Energiesicherheit machen: Instabilität, Krisen und Krieg in unserer nahen und fernen Nachbarschaft haben unmittelbare Auswirkungen auf unsere Sicherheit und auf unseren Wohlstand. Dem muss eine verantwortungsvolle Außenpolitik Rechnung tragen. Sie muss auf akute Krisen rasch und effizient reagieren, negative Entwicklungen frühzeitig erkennen und in enger Zusammenarbeit mit unseren Partnern abzuwenden versuchen. Dies muss, wie ich finde - das ist mein Plädoyer -, frei von Aktionismus und mit Augenmaß, mit Besonnenheit und verantwortungsvoll geschehen. ({2}) Mit Bezug auf eine Erfahrung aus dieser Woche sage ich: Wir legen bei all dem großen Wert auf Prävention. Deutschland hat sich gerade auf diesem Gebiet ein großes Maß an Renommee und Reputation erworben. Das ist nicht zu unterschätzen. Nicht nur deshalb bleibt die zivile Krisenprävention ein wichtiges Forschungs- und Handlungsfeld für die deutsche Außen- und Entwicklungshilfepolitik. ({3}) Das Auswärtige Amt beschäftigt sich seit vielen Jahren sehr intensiv mit der zivilen Katastrophenvorsorge und setzt sich in Wissenschaft, Politik und Praxis dafür ein. Ich selbst habe in dieser Woche gemerkt, wie erfolgreich wir dabei sind, ohne dass das die breite Öffentlichkeit bisher zur Kenntnis genommen hat. Deutschland war in dieser Woche Veranstaltungsort der Dritten Internationalen Frühwarnkonferenz, die nicht nur deshalb bedeutsam war, weil Bill Clinton dort war. Die Anwesenheit von Bill Clinton war aber natürlich auch ein Ausdruck dafür, auf welches Maß an Respekt diese Veranstaltungen und die Bemühungen im Zuge dieser drei Veranstaltungen in Deutschland inzwischen stoßen. ({4}) Meine Damen und Herren, die Anforderungen - Sie können sie mühelos aus den drei Beispielen entnehmen verlangen allen Beteiligten in der Außen- und Sicherheitspolitik erhebliche Anpassungsleistungen ab. Ich freue mich, dass wir den Menschen, die sich im Ausland für deutsche Interessen engagieren - Soldaten, Entwicklungshelfer und Diplomaten -, in unserer Koalitionsvereinbarung ausdrücklich gedankt haben und ich möchte dies auch heute tun. Ich sage auch hier noch einmal ausdrücklich: Wir im Parlament brauchen diese Helfer für die Durchführung der Tätigkeiten, die wir auf finanziellem Wege unterstützen. ({5}) Europäische Integration und soziale Marktwirtschaft sind die zwei zentralen Pfeiler, auf denen unser Frieden und unser Wohlstand ruhen. Gerade angesichts der europäischen Krise nach den verlorenen Referenden in Frankreich und in den Niederlanden müssen wir wieder deutlich machen - hier haben alle Recht, die das im Verlaufe der Debatte schon gesagt haben -, dass das Haus, das wir auf diesen Pfeilern bauen, ein menschliches Maß hat und so solide gebaut ist, dass es den Stürmen der Globalisierung standhalten kann. ({6}) Ich sage das deshalb, weil in unsere Ratspräsidentschaft der 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge fällt. Ich finde, dies ist ein guter Anlass, selbstbewusst auf das Erreichte zurückzusehen - das ist ganz sicher -, aber auch mit neuem Mut die drängenden Verfassungsfragen in Angriff zu nehmen. Jürgen Habermas hat gerade - Sie werden erstaunt sein - auf Einladung von Wolfgang Schüssel in Salzburg mit ihm und anderen über die Zukunft Europas diskutiert. Er hat in seinem Beitrag appelliert, die Frage nach der Zukunft Europas energisch anzugehen, andernfalls stünde Europa erstmals in der Gefahr eines Rückfalls hinter den erreichten Stand der Integration. In diesem Fall müssten wir zusehen - ich zitiere -, wie sogar die bestehende politische Handlungsmacht der Europäischen Union zugunsten einer diffus erweiterten europäischen Freihandelszone abgewickelt wird. Diese Sichtweise wird nicht nur von ihm geteilt. Weil sie vermutlich die Gefahr durchaus richtig beschreibt, müssen wir dem umso engagierter entgegentreten. Ich bin zuversichtlich, dass uns das gelingen wird. Das sage ich nicht einfach nur aus einem Gefühl der Hoffnung heraus, sondern weil mich die Erfahrungen der letzten vier Monate, die hinter uns liegen, zuversichtlich machen. Ich habe hier schon einmal darauf hingewiesen: Entgegen manchen Erwartungen ist es gelungen, uns über die finanzielle Vorausschau zu verständigen. Entgegen manchen Erwartungen ist es gelungen, in der Balance zwischen Binnenmarkt und sozialem Ausgleich einen tragfähigen Kompromiss bei der Dienstleistungsrichtlinie zustande zu bringen. Auch die Schlussfolgerungen, die die Regierungschefs auf dem letzten europäischen Gipfel zur Energiepolitik gezogen haben, zeigen, dass Europa in der Lage ist, sich in wichtigen neuen Fragen gemeinsamen strategischen Ansätzen zu öffnen. ({7}) Ich darf sagen: Die deutsche Regierung war bei jedem dieser drei Ergebnisse nicht ganz unbeteiligt. ({8}) Diese Linie wollen wir während der Ratspräsidentschaft im Jahre 2007 weiter verfolgen. Wir wollen die Ergebnisse der so genannten Reflexionsphase ordnen und dem Verfassungsprozess einen neuen Impuls geben. Unser Ziel bleibt klar: ein nach innen und nach außen handlungsfähiges Europa, das seine Vorbildwirkung weit über unsere Grenzen hinaus entfaltet. Europa ist mehr als Binnenmarkt und Verfassung. ({9}) Lassen Sie mich zum nächsten Thema kommen. Orientiert an einem erweiterten Sicherheitsbegriff, unterstützt Deutschland gemeinsam mit seinen Partnern die Transformationsprozesse in vielen Regionen. Gegenwärtig engagiert sich die EU in über zehn Krisenmanagementoperationen. Wir stehen im Augenblick - das ist heute Morgen mehrfach angeklungen - vor der Frage der Beteiligung an einer europäischen Mission, gestützt durch VN-Mandat, im Kongo. Frau Bundeskanzlerin hat die Argumente, wie ich finde, heute Morgen völlig richtig genannt. Es ist darauf hinzuweisen, dass wir mit der Entscheidung zugunsten der Beteiligung an einer solchen Mission nicht am Anfang der europäischen Bemühungen stehen, sondern nach meiner Hoffnung eher am Ende unseres jahrelangen EU-Engagements. In Europa haben wir jahrelang enorme Summen für die demokratische Zukunft im Kongo aufgebracht, zuletzt 150 Millionen Euro für die Durchführung von Wahlen. Deutschland hat bilateral noch einmal 10 Millionen Euro beigetragen. Wir haben Tausende von Polizisten ausgebildet. Wir haben über Europa den Aufbau einer Armee unterstützt. Wir finanzieren - das darf auch nicht ganz verschwiegen werden, selbst wenn wir den Unterschied zwischen einer europäischen Mission und der MONUC-Mission immer im Auge haben - über die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten einen großen Teil dieser größten militärisch gestützten Mission im Kongo selbst mit insgesamt 17 000 Soldaten über mehrere Jahre. Vieles ist in den letzten Jahren in diesem Stabilisierungsprozess erreicht worden - ich hatte Gelegenheit, es hier schon einmal vorzustellen -: ein friedliches Referendum, ein neues Wahlgesetz, die Aufstellung von Wahllisten und die Festlegung eines Wahltermins. Jetzt geht es darum, den erreichten Stand der Stabilisierung nicht noch kurz vor dem Ziel zu gefährden. Bei all dem - das sage ich mit Blick auf die Stabilisierung - ist von den 4 Millionen Toten in den Bürgerkriegen seit Mitte der 90er-Jahre noch nicht die Rede. DesBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier halb ist meine Meinung: Wenn wir über diese Frage zu entscheiden haben, müssen wir unseren Beitrag dazu leisten, dass sich das Morden im Kongo nicht wiederholt. ({10}) Ich weise aber darauf hin, dass die Vereinten Nationen und die kongolesischen Streitkräfte die Hauptverantwortung für die Sicherheit im Land tragen. Die Rolle der EU-Mission wird zeitlich und räumlich begrenzt sein. Wir werden mit dem Mandat all den Fragen und Bedenken, die in der Vergangenheit dazu vorgebracht worden sind, entsprechend Rechnung tragen. Wir haben Wert darauf gelegt, dass die Mission nicht gegen den Willen der Regierung im Kongo zustande kommt. Deshalb sind wir mit dem erzielten Ergebnis zufrieden, wonach nicht nur Kabila selbst, sondern auch die Vertreter der anderen ethnischen Gruppen im Kongo ihr Einverständnis und ihre Absicht erklärt haben, dass die Mission mit europäischer Präsenz stattfinden soll. ({11}) Natürlich bedarf es dazu eines VN-Mandats, das in den nächsten 14 Tagen diskutiert wird. Wir gehen davon aus - das war unsere Voraussetzung -, dass ein Einsatz nach diesem VN-Mandat zeitlich und räumlich befristet ist. Sollten alle diese Voraussetzungen erfüllt sein, dann sollte sich Deutschland aus meiner Sicht der Teilnahme an einer solchen Mission nicht entziehen. ({12}) Ich bin zuversichtlich, dass der Bundestag - wenn die genannten Bedingungen erfüllt sind - einer solchen Mission seine Zustimmung erteilen wird. Ein anderes Beispiel für fortgeschrittene Transformationsprozesse ist in diesen Tagen der Balkan. Der Tod von Milošević hat uns gerade die Bilder aus den 90erJahren noch einmal in Erinnerung gerufen: die Toten von Srebrenica, die massiven Menschenrechtsverletzungen im Kosovo und die tausendfache Gewalt gegen Frauen, Kinder und Greise. Dieses in Erinnerung habend frage ich: Welches Bild zeigt sich heute? Slowenien ist Mitglied der EU. Kroatien steht in Beitrittsverhandlungen. Mazedonien hat den Status eines Beitrittskandidaten. Mit Serbien und Bosnien haben Verhandlungen über den Abschluss von Assoziierungsabkommen begonnen. Auf diesen Erfolgen dürfen wir uns aber nicht ausruhen. Gerade die Region, von der ich spreche, bedarf unserer besonderen Aufmerksamkeit. Das gilt nicht nur für die Zukunft, sondern besonders jetzt, in einem Jahr, in dem wir in entscheidenden Verhandlungen zur Klärung des endgültigen Status des Kosovos stehen und in dem in Bosnien eine neue Regierung gewählt wird und das Ende der Verwaltung durch den Hohen Repräsentanten absehbar ist und die Regierungsgewalt vollständig in bosnische Hände übergehen soll. Diesen Vorgang hat Christian Schwarz-Schilling für unser Land in hervorragender Weise begleitet. ({13}) Auch dies ist übrigens nicht nur ein Zeichen für die besondere Verantwortung in der Region, die wir dort wahrnehmen, sondern auch für die Anerkennung, die unsere Politik in den letzten Jahren auf dem Balkan gefunden hat. Eine endgültige Befriedung des Balkans, der ja wirklich vor unserer Haustür liegt, ist in unserem ureigenen Interesse. Deshalb werden wir uns darauf einstellen müssen, unseren Beitrag dazu politisch, finanziell und - soweit erforderlich - militärisch auch auf längere Sicht leisten zu müssen. Das wichtigste Thema, das uns derzeit alle miteinander umtreibt, ist unsere gestiegene Verantwortung in einem grundlegend veränderten Sicherheitsumfeld, die sich bei unseren Bemühungen im Zusammenhang mit dem iranischen Nuklearprogramm zeigt. Wie Sie wissen, wird derzeit im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen über die nuklearen Ambitionen des Irans verhandelt. Morgen Vormittag kommen die Vertreter der EU 3, der USA, Russlands und Chinas in Berlin zusammen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Wir sind - das ist leider zu bekennen - trotz monatelanger Bemühungen noch nicht am Ziel. Das Ziel muss sein, dass der Iran alle Zweifel an einer eventuellen militärischen Nutzung seines Atomprogramms ausräumt und das Vertrauen der internationalen Staatengemeinschaft wieder herstellt. ({14}) Es bleibt unsere Pflicht - darauf wird auch morgen Wert zu legen sein -, weiter nach diplomatischen Lösungen zu suchen. Wege dafür sind aufgezeigt. Es kommt nun darauf an, dass der Iran mit der gleichen Ernsthaftigkeit an den Gesprächen teilnimmt, wie wir es in der Vergangenheit getan haben. Die Ernsthaftigkeit kann, wie wir ständig betonen, nur unterstrichen werden, wenn die Anreicherungsaktivitäten suspendiert werden. ({15}) Herr Kuhn, Sie haben einige Ausführungen zu den Nuklearvereinbarungen zwischen Indien und den USA gemacht. Ich will Ihnen sagen: Ganz so einfach, wie Sie es sich machen, geht es nicht und ist es auch nicht. Sie haben, quasi aus oppositioneller Verzweiflung, die zu treffende Entscheidung vorweggenommen, indem Sie den Gegenstand der Vereinbarung von vornherein als einen Akt der Belohnung qualifizieren, und so uns die Ablehnung nahe gelegt. Ich finde, so können wir mit dieser Sache nicht umgehen. Ich räume gerne noch einmal ein, was ich schon öffentlich gesagt habe: Der Zeitpunkt dieser Vereinbarung war vor dem Hintergrund unserer laufenden Gespräche über das iranische Atomprogramm ganz sicher nicht hilfreich. ({16}) - Ich komme gleich zu den Inhalten. - Aber das zeichnet aus meiner Sicht den Weg zu einem Nein Deutschlands in der Nuclear Suppliers Group, wie Sie es unterstellt haben, nicht ohne weiteres vor; denn die entscheidende Frage ist, ob mit dieser Vereinbarung ein Prozess angestoßen worden ist, mit dem wir - darüber haben wir schon im Ausschuss diskutiert - Indien Zug um Zug in das Nichtverbreitungsregime einbeziehen. Herr Kuhn, wenn diese Möglichkeit gegeben wäre, dann wäre es nicht sehr verantwortlich, sozusagen Ihnen zuliebe auf eine sorgfältige Bewertung dieser Kooperationsvereinbarung zu verzichten. ({17}) Was ich Sie gerne fragen möchte, ist: Gibt es Ihnen denn nicht zu denken, wenn al-Baradei als Vertreter der IAEO in Gesprächen mit uns, der Bundesregierung, aber auch, wie ich gehört habe, in Gesprächen mit Ihnen, den Abgeordneten, dafür wirbt, den politischen Mehrwert dieser Vereinbarung für die internationale Staatengemeinschaft angemessen zu bewerten? Gibt es Ihnen nicht zu denken, wenn der Träger des Friedensnobelpreises, den nicht nur wir, sondern auch Sie beglückwünscht haben, dafür wirbt, sich den Bemühungen um größere Transparenz im indischen Atomprogramm sowie verbesserte - wenn auch nicht ausreichende - Zugangsmöglichkeiten, die Safeguards und eine Stabilisierung des Teststoppabkommens nicht in den Weg zu stellen? Gibt es Ihnen nicht zu denken, wenn sowohl in der indischen Öffentlichkeit als auch im indischen Parlament darüber gestritten wird, ob die indische Regierung durch diese Vereinbarung zu viel von ihrer Autonomie in der Atompolitik aufgegeben hat? Ich verlange von Ihnen nicht, dass Sie diese amerikanisch-indische Vereinbarung bejubeln; darum geht es nicht. Was ich aber erwarte, sind - dies hat die Haltung der Grünen in der Außen- und Sicherheitspolitik in den letzten Jahren immer ausgezeichnet - eine redliche Nachdenklichkeit und ein Verzicht auf Schnellschüsse. ({18}) Einige wenige Worte zum Thema Naher Osten, auf den wir nach den israelischen Wahlen mit besonderer Aufmerksamkeit schauen. Ich habe schon in meiner letzten Rede gesagt, dass der Erfolg der Hamas bei den palästinensischen Wahlen die Bemühungen um eine Fortsetzung des Friedensprozesses nicht einfacher macht, jedenfalls solange nicht unsere drei Kriterien erfüllt sind: Gewaltverzicht, Anerkennung Israels und Akzeptanz der bisherigen Verhandlungsergebnisse. Was sagt uns das Ergebnis der Wahlen vom gestrigen Tage? Ich finde, wir dürfen sie so interpretieren: Die Wählerinnen und Wähler in Israel wollen, dass es zu Fortschritten auf dem Weg zu Frieden und Sicherheit kommt. Deshalb darf ich für mich sagen: Ich begrüße es, dass Olmert in seinen ersten öffentlichen Ausführungen Bereitschaft hat erkennen lassen, die Friedensverhandlungen wieder aufzunehmen. Wir werden alles dafür tun, um gemeinsam mit unseren Partnern auf eine Friedenslösung auf der Basis der Roadmap hinzuwirken. ({19}) Spätestens seit dem Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine sind uns die Augen geöffnet worden für ein Thema, dessen Bedeutung, wie ich überzeugt bin, in der Zukunft eher noch zunehmen wird: die Frage der Energiesicherheit. Deshalb ist es überhaupt nicht überraschend, dass dieses Thema sowohl auf der nationalen Ebene als auch auf der europäischen Ebene höchste Priorität gefunden hat. Ich glaube, wir sind in der Tat aufgerufen, uns zugunsten einer Sicherung der Energieversorgung unseres Landes entschlossen zu engagieren: für politische Stabilität in den Krisenregionen, für konsensuale Lösung für Verteilungs- und Zugangskonflikte und für ein System kooperativer Energiesicherheit. Ich bitte darum, auf eines zu achten: All das ist eingegangen in die Schlussfolgerungen des Gipfels in Brüssels. Ich finde, wir dürfen aus deutscher Sicht durchaus zufrieden sein, dass diese Schlussfolgerungen erkennbar deutsche Handschrift tragen. ({20}) Ich habe an anderer Stelle deutlich gemacht, dass ich glaube, dass ein solches energiepolitisches Gesamtkonzept, wie es in Deutschland mit dem nächste Woche beginnenden Energiegipfel entstehen wird, einer außenund europapolitischen Flankierung bedarf. Deswegen werden wir uns bemühen, mit Norwegen, mit Russland und mit den Staaten Nordafrikas zu klären, wie wir in einer engeren Kooperation zwischen Konsumentenstaaten, Transit- und Förderländern mehr Planbarkeit, mehr Transparenz und mehr Verlässlichkeit in die internationalen Energiebeziehungen bringen können. Ein letztes Thema: Weißrussland. Natürlich erfüllen uns die Ereignisse in Weißrussland mit tiefer Sorge. Deutschland und seine europäischen Partner haben die Behinderungen freier Wahlen und das gewaltsame Vorgehen gegen Demonstranten mit deutlichen Worten verurteilt und wir haben uns auf eine Reihe von gezielten Sanktionsmöglichkeiten verständigt. Wir werden darüber hinaus die demokratischen Kräfte in Weißrussland weiter unterstützen. Der Deutsche Bundestag wird sich - darüber freuen wir uns - gleich im Anschluss mit dem Weißrusslandantrag der Koalitionsfraktionen beschäftigen. Ich bin mir sicher: Auch die Menschen Weißrusslands werden den Weg zur Demokratie mit unserer Hilfe finden. ({21}) Ich komme zum Schluss, meine Damen und Herren. Wo immer man hinreist, überall spürt man: Deutschland genießt hohes Ansehen als verlässlicher politischer Partner, als wirtschaftliches Schwergewicht. Ich habe in dieser Rede viel von Transformation gesprochen und von dem Interesse, das wir daran haben, Stabilität und Frieden zu befördern. Zur politischen Gestaltung der GlobaBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier lisierung gehört aber auch ein waches Auge für die kulturelle Dimension dieses Vorgangs. Gerade der Karikaturenstreit hat uns den Blick geschärft für die immense Sprengkraft, die Fragen nach den kulturellen Identitäten entfalten können. Deswegen will ich abschließen mit einem Plädoyer für die Bedeutung der deutschen auswärtigen Kulturpolitik. Gerade in einer globalisierten Welt ist Kultur mehr als eine Feierabendbeschäftigung oder ein Mittel zur Markierung feiner sozialer Distinktionen. Kultur und Sprache sind das Medium, in dem sich Menschen und Völker begegnen oder aber verfehlen. Sie sind die Grundlage für politische Verständigung und wirtschaftlichen Austausch. Wer die Chancen der Globalisierung nutzen will, darf deshalb diese kulturelle Grunddimension nie vergessen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({22})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach sieben Jahren rot-grüner Außenpolitik unter Schröder war einiges an Nachjustierung, an Neuorientierung fällig. Das hat die Bundeskanzlerin in den letzten Monaten teilweise in wirklich beachtlicher Weise hinbekommen. Mein Parteivorsitzender Guido Westerwelle hat das vorhin gewürdigt. Dem schließe ich mich an. Das war erforderlich und das war erfolgreich. Ich möchte darauf nicht im Einzelnen eingehen, sondern nur einen Aspekt herausstellen. Die Situation in Bezug auf Russland war besonders schwierig, weil manche erwartet hatten, jetzt, da die schrödersche Kameraderie von einem neuen Politikansatz abgelöst ist, werde gewissermaßen der russlandpolitische Rollback stattfinden. Genau der hat nicht stattgefunden. Es war auch richtig, dass er nicht stattgefunden hat. Vielmehr ist deutlich geworden, dass es möglich ist, unser Interesse an einer Zusammenarbeit mit diesem wichtigen strategischen Partner Russland, nicht nur dem Energielieferanten, in Übereinstimmung mit unserer klaren Positionierung in Menschenrechtsfragen und mit unserer Auffassung über die nicht erfreuliche Entwicklung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in Russland zu bringen. Dazu muss ich sagen, Frau Bundeskanzlerin: Chapeau! ({0}) Mein Kollege Markus Löning und mein Kollege Harald Leibrecht werden noch auf Weißrussland und die Ukraine eingehen. Ich will mich daher bei diesem Thema beschränken. Aber ich finde es schon bedenklich und indikativ für das, was in Russland vorgeht, wie Präsident Putin den Wahlausgang in der Ukraine kommentiert hat. Das bekräftigt unsere Bedenken. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch in Washington ist es gelungen, neue Akzente zu setzen, und zwar ohne dass man darauf verzichtet hat, klare Worte dazu zu finden - ich glaube, diese Auffassung wird in diesem Hause im Großen und Ganzen voll geteilt -, dass es in der amerikanischen Politik Fehlentwicklungen gibt. Die klaren Worte zu Guantanamo Bay im Vorfeld Ihrer Reise waren fällig und gut. ({2}) Ich will diese Bilanz nicht fortsetzen, zumal ich bei der Europapolitik sagen müsste, dass der Erfolg, der in Brüssel im Dezember erreicht worden ist, teuer erkauft worden ist. Darüber wird an anderer Stelle noch zu reden sein. Insgesamt finde ich es richtig, dass gerade aufgrund des anderen Umgangs mit unseren kleinen und mittleren Partnern, auch den neuen in der Europäischen Union, deutlich geworden ist, dass von Deutschland aus - gerade angesichts der Präsidentschaft im nächsten Jahr, auf die viele in Europa große Hoffnungen setzen - ein Neubeginn in einer Situation erfolgt, in der eigentlich eine große Griesgrämigkeit bezüglich des europäischen Integrationsprozesses herrscht und in der manche viel zu früh, wie ich finde, den Verfassungsprozess für beendet erklären wollen. Der Außenminister hat bisher wenig Gelegenheit gehabt, seine Markierungen zu setzen. Er hat zugegebenermaßen auch Pech gehabt. Wer sich in den ersten Monaten seiner Amtszeit mit schlimmen Entführungsfällen und ähnlichen Themen, die eher mit der Vergangenheit zu tun haben als mit Zukunft und Gegenwart, beschäftigen musste, kann nicht so ohne weiteres die neuen Weichenstellungen vornehmen. Ich möchte im Übrigen sagen, dass ich das, was das Auswärtige Amt im Zusammenhang mit den Entführungsfällen geleistet hat und gegenwärtig in dem akuten Entführungsfall leistet, hoch anerkenne. Sowohl das Auswärtige Amt als auch die beteiligten Sicherheitsbehörden leisten Tag und Nacht eine großartige Arbeit. Selbstverständlich hoffen wir, dass das gut ausgeht. ({3}) Herausforderungen, um einen außenpolitischen Stempel aufzudrücken, gibt es in der nächsten Zeit reichlich. Der Minister hat sie angesprochen. Bei einer so langen Rede kann man nicht alles kommentieren. Ich möchte nur sagen, dass es in Bezug auf Israel und Palästina jetzt eine Hoffnung gibt. Ich hoffe übrigens auch, dass wir in der Frage des Umgangs mit einem Gesprächspartner, der Äußerungen macht, die für uns völlig inakzeptabel sind, eine Lernkurve zeigen. Hoffentlich brauchen wir heute nicht so lange, wie es seinerzeit gedauert hat, bis wir zum Beispiel mit der PLO einigermaßen gesprächsfähig waren. Nur, eines muss klar sein: An dem Recht Israels auf gesicherte Existenz als jüdischer Staat darf es keinen Zweifel geben. ({4}) Zum Thema Iran. Angesichts der völlig unerträglichen Äußerungen des iranischen Staatspräsidenten über Israel, über den Holocaust und über Antisemitismus lässt sich sagen - man kann fast von einem direkten Übergang sprechen -: Hier wird noch eine riesige Herausforderung zu bewältigen sein. Die Bundesregierung bemüht sich darum. Ich wünsche Ihnen für die Konferenz der P 5, die hier in Berlin in den nächsten Tagen mit Vertretern der EU und Deutschlands stattfinden wird, viel Erfolg. Bei aller Klarheit der bisherigen Verhandlungsstrategie müssen wir uns auch darüber im Klaren sein, dass wir nicht nur denjenigen, die gegenwärtig im Iran regieren, Angebote machen müssen - sie sind in dem bisherigen Verhandlungsprozess übrigens teilweise in beachtlicher Form gemacht worden -, sondern auch denjenigen Menschen im Iran - ich denke an die große junge Generation; ihre Angehörigen sind gut ausgebildet und sehr stark westlich orientiert -, die mit uns nur zu gern zusammenarbeiten würden. Interessanterweise teilen diese Menschen in der Nuklearfrage eher die Position des Präsidenten als unsere. Der Minister hat es gerade angesprochen: Angesichts dessen ist die Entwicklung des amerikanisch-indischen Nukleardeals so problematisch. Zumindest was das Timing angeht, war die Botschaft falsch. Nicht nur Herr Tharoor redet das schön, sondern auch Herr al-Baradei hat sich dazu positiv geäußert, weil das Geschäft transparenter wird. Betrachtet allerdings ein völlig unbefangener Iraner diese Angelegenheit, so erhält er die Botschaft: Das, was in unserer Umgebung zu sehen ist, zeigt, dass man über Nuklearmaterial verfügen muss, um in dieser Welt ernst genommen zu werden. Wenn das so läuft, dann ist das doch nicht in unserem Interesse. ({5}) Deutschland hat ein für allemal auf eine nukleare Option militärischer Art verzichtet. Dabei muss es auch bleiben. Auch unser Ansatz muss es sein, durch eine konsequente Abrüstungs- und Nonproliferationspolitik dafür zu sorgen, dass diejenigen, die sich auch für die Zukunft ganz bewusst als Habenichtse im nuklearen Sinne definieren, für andere Länder, die möglicherweise in Versuchung geraten, eine Perspektive darstellen. ({6}) Herr Minister, ich würde es deswegen sehr begrüßen, wenn die Bundesregierung eine Initiative zur Wahrung der Interessen und zur Entwicklung einer Perspektive für die Nichtnuklearmächte starten würde. Ich denke, Deutschland ist ein glaubwürdiger Partner, nicht nur für den Iran, sondern auch für viele andere Teile in der Welt, die sich die Frage stellen, ob sie auf die nukleare Option nicht verzichten könnten. Wenn es im Zusammenhang mit der Klärung der Iranfrage nicht gelingt, dieses Thema einzudämmen, dann stehen wir vor einem Scheitern der Nonproliferationspolitik und vor einem gigantischen neuen Rüstungswettlauf. ({7}) Ich möchte noch etwas zum Kongo sagen; denn diese Frage bewegt uns alle sehr. Die Freien Demokraten werden sich dieses Thema mit Sicherheit nicht leicht machen. Das ist eine ganz schwierige Abwägung. Keiner wird es sich leicht machen. Ich wehre mich dagegen, dass der Eindruck erweckt wird, hier werde nicht abgewogen. Natürlich gibt es ein ganz starkes menschenrechtliches, ein entwicklungspolitisches Interesse. Es gilt, Glaubwürdigkeit in Sachen Afrikapolitik zu verteidigen. Das ist gar keine Frage. Wenn es darum geht, einen militärischen Einsatz zu befürworten, dann steht dem - gewissermaßen im clausewitzschen Sinne - die Beantwortung einiger Fragen entgegen: Erstens. Was ist das politische Ziel, das erreicht werden soll? Wie kann man die Zielerreichung messen? Zweitens. Was ist das militärische Ziel, dessen Erreichung dazu beitragen kann, das politische Ziel zu erreichen? Drittens. Wie kommt man wieder heraus? Wir haben sehr viele Fragen gestellt. Weder im Auswärtigen Ausschuss - dort hatten wir ganze 27 Minuten Zeit dafür - noch im Verteidigungsausschuss - er war unlängst in Brüssel - sind diese Fragen beantwortet worden. Es ist deutlich geworden, wie stümperhaft dieser mögliche Einsatz bisher sowohl in Berlin als auch in Brüssel vorbereitet worden ist. ({8}) Was sind das eigentlich für Konfliktparteien, mit denen wir es dort zu tun haben und von denen wir erwarten, dass sie das Wahlergebnis akzeptieren? Präsident Kabila hat die Richtigkeit dieses Ergebnisses nach langem Zögern eingeräumt. Gelten seine Zusagen auch in Bezug auf die anderen, die dort kandidieren? Amnesty International und Human Rights Watch behaupten, dass ein Vizepräsident dieses Landes - er hat dort kandidiert - sich schwerste Menschenrechtsverletzungen hat zuschulden kommen lassen. Kann es eigentlich sein, dass wir - wenn er die Wahlen gewinnt - ein solches Wahlergebnis mit unseren Soldaten militärisch absichern? Das ist eine ziemlich heikle Frage. Der Hinweis auf Demokratie und Wahlprozess allein kann in einer solchen Frage nicht entscheidend sein. ({9}) Darüber muss diskutiert werden. Dann fragt man sich: Ist die Bundesregierung möglicherweise in eine selbst gebaute Falle gelaufen, als sie zunächst nach einer Internationalisierung gerufen hat? Nachher hat sie gemerkt: Das Einzige, was es dann da gibt, ist die EU-Battle-Group und die besteht nur aus Deutschen. Die Frage ist auch: Sollen das eigentlich Abschreckungsaktivitäten sein oder geht es letztlich darum, für den Fall, dass etwas schief geht, eine Evakuierung vorzubereiten? Sollen die paar Hundert Soldaten, die tatsächlich vor Ort sein werden, in der Lage sein, eine solche Abschreckung zu gewährleisten? Was ist das eigentlich für ein Konzept, das dahintersteht? Was ist das für eine Denke? Wenn man mit französischen Kollegen darüber spricht und sie fragt, ob es nicht ein ziemlich abgestandenes postkoloniales Gehabe sei, zu sagen: „Hauptsache, es sind ein paar Hundert weiße Europäer da; dann ist dort schon Ruhe“, bekommt man ohne weiteres die Antwort: Ja, das ist nun mal eben so. - Unsere Denke im Zusammenhang mit Afrika war das bisher nicht. Bis vor kurzem haben wir in jeder Rede zu diesem Thema den Begriff „African Ownership“ gehört. ({10}) Das scheint gegenwärtig nicht mehr en vogue zu sein. Weitere Fragen sind: Wie verhalten wir uns eigentlich gegenüber MONUC? Wie ist da der Zusammenhang organisiert? Werden wir tatenlos zusehen, wenn MONUC in Schwierigkeiten gerät und die europäischen Kräfte helfen könnten? Meine sehr verehrten Damen und Herren, es sind sehr viele Fragen offen. Vor allem aber ist die Frage: Sind wir nicht längst auf einer schiefen Ebene, weil die zeitliche, quantitative und inhaltliche Eingrenzung dieses Einsatzes längst auch von Mitgliedern der Bundesregierung und der Koalition selbst infrage gestellt wird?

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie reden ein bisschen zulasten Ihrer Kollegen.

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin mit meiner Rede auch durch, Frau Präsidentin. Ich möchte nur noch darauf hinweisen, dass von der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag eine Zustimmung - nach sorgfältiger Abwägung - erst dann erwartet werden kann, wenn diese Fragen und die Fragen, die wir in den Ausschüssen gestellt haben, befriedigend beantwortet worden sind. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Eckart von Klaeden, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Der Kollege Hoyer hat gerade den bevorstehenden Einsatz der Bundeswehr im Kongo angesprochen. Herr Kollege Hoyer, ich habe Verständnis dafür, dass Sie viele kritische Fragen stellen; wir betreten dort in gewisser Weise auch Neuland. Ich habe ebenfalls Verständnis dafür, dass Sie Wert darauf legen, dass alle diese Fragen in den zuständigen Ausschüssen sorgfältig besprochen werden. Aber kein Verständnis habe ich dafür, dass Ihr Präsidium beschließt, das bisherige Verhalten der Bundesregierung in dieser Frage sei verfassungswidrig gewesen. Das ist nun wirklich grober Unsinn. ({0}) Das scheint mir der Versuch gewesen zu sein, vor den Landtagswahlen am letzten Sonntag aus einem außenpolitischen Thema noch einmal Profit zu schlagen. Wenn Sie das mit der Verfassungswidrigkeit des Verhaltens der Bundesregierung bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene tatsächlich ernst meinen würden, dann wäre die letzte Konsequenz daraus, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr bündnisfähig ist. ({1}) Jeder weiß - die Bundesregierung weiß es; ich selbst bin in Brüssel gewesen und habe mit Javier Solana über diese Frage gesprochen -, dass ein Einsatz der Bundeswehr im Kongo natürlich unter dem Parlamentsvorbehalt steht. Das Verfassungsgericht hat deutlich gemacht - das ergibt sich aber auch aus dem Parlamentsbeteiligungsgesetz selbst -, dass es der Bundesregierung selbstverständlich möglich sein muss, entsprechende Vorbereitungen oder Verabredungen in internationalen Gremien, im Rahmen der NATO, im Rahmen der Europäischen Union, zu treffen. Wenn das nicht mehr möglich sein sollte, dann wären wir in der Tat nicht mehr bündnisfähig. ({2}) Die Außenpolitik der Bundesregierung steht unter der Überschrift „Kontinuität und Wandel“. Wenn man an die zum Teil erbitterten Auseinandersetzungen zurückdenkt, die wir in den letzten Monaten und Jahren über Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik geführt haben, mag sich der eine oder andere darüber wundern, wie harmonisch und erfolgreich die neue Bundesregierung arbeitet. Zu diesem außerordentlich guten Start in der Außen- und Sicherheitspolitik will ich im Namen meiner Fraktion Bundeskanzlerin Merkel, aber auch Außenminister Steinmeier sehr herzlich gratulieren. ({3}) Die Außenpolitik der Bundesregierung ist davon geprägt, dass das transatlantische Verhältnis wieder zu einem Vertrauensverhältnis geworden ist. Die Bundesregierung hat deutlich gemacht - die Bundeskanzlerin hat dies in ihrer Rede in München getan -, dass die NATO wieder zum zentralen Ort des transatlantischen Dialogs werden soll, dass man dort diskutieren, gemeinsam ent2260 scheiden und schließlich auch gemeinsam handeln will. Die Überlegungen bezüglich einer Achse Paris-BerlinMoskau sind ad acta gelegt. Beide Partner der großen Koalition legen Wert darauf, dass gerade im Hinblick auf unsere Russlandpolitik die kleineren Partner, vor allem aus Mittel- und Osteuropa, einbezogen werden. Deswegen freue ich mich, dass das Instrumentalisieren außenpolitischer Fragen für innenpolitische Zwecke ein Ende hat. ({4}) Die Kontinuität besteht insbesondere aus vier Elementen: die Einigung Europas, die transatlantische Werte- und Interessenpartnerschaft, unsere Verantwortung gegenüber Israel und die Verpflichtung, in internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen zusammenzuarbeiten und diese Organisationen zu stärken. Gleichzeitig ist unsere Außenpolitik aber einem Wandel ausgesetzt. Wir stehen vor neuen Herausforderungen: Globalisierung, transnationaler Terrorismus, Auseinandersetzung mit den Modernisierungskonflikten in der islamischen Welt, der Aufstieg neuer Mächte wie Indien und China, der Versuch anderer Mächte, alte Macht zurückzugewinnen - ich erinnere hier insbesondere an Russland -, die Energiepolitik, die Anfang des Jahres endlich auch als Teil der Außenpolitik auf die deutsche Agenda gekommen ist und nicht mehr nur aus dem Blickwinkel der Wirtschaft und der Ökologie betrachtet wird, die demografische Entwicklung, auch im internationalen Zusammenhang, die Rückkehr der Nuklearpolitik als ein Faktor der internationalen Politik sowohl in ziviler wie auch in militärischer Hinsicht - über die Frage des iranischen Nuklearprogramms hat der Außenminister gerade gesprochen; ich lobe ausdrücklich den Verhandlungsstil der Bundesregierung im Rahmen der EU 3 - und schließlich die Fortsetzung der Freiheitsund Selbstbestimmungsbestrebungen, die wir schon seit Jahrzehnten beobachten können, die in den Jahren 1989 und 1990 durch die Überwindung der Teilung von Jalta erfolgreich waren und die sich jetzt fortsetzen in der Ukraine, in Georgien und auch in Weißrussland; dazu wird der Kollege Grund später noch etwas sagen. Wir brauchen also eine strategische Debatte über Kontinuität und Wandel in unserer Außen- und Sicherheitspolitik. Wir müssen deutlich machen, wie wir die Prinzipien und die Kontinuität, die ich zu Anfang beschrieben habe, mit den Herausforderungen durch den Wandel, der sich in der Welt vollzieht, verbinden. Wir haben unsere Außen- und Sicherheitspolitik in den letzten Jahren seit der Wiedervereinigung zu sehr vernachlässigt. Wir sind als Deutsche zu sehr selbst- und gegenwartsbezogen gewesen. Nun besteht die Möglichkeit, den guten Start der neuen, großen Koalition dazu zu nutzen, eine Standortbestimmung unserer Außenpolitik vorzunehmen und die Kontinuität mit dem Wandel und dessen Herausforderungen zu verbinden. Da stellt sich zunächst einmal die Frage, wie wir das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten gestalten und die transatlantischen Beziehungen verbessern. Auf die Einbeziehung der NATO habe ich schon hingewiesen. Es ist ein historischer Fehler, zu glauben, unsere Verbindung zu den Vereinigten Staaten sei vor allem eine Konsequenz des Kalten Krieges. Es ist die Konsequenz zweier Weltkriege, dass wir als Deutsche unseren Weg in die Völkergemeinschaft an der Seite der Vereinigten Staaten gesucht haben, dass Deutschland und Europa allein zu schwach sind, um eine weltpolitische Rolle spielen zu können. Diese Lehre haben wir zuletzt ziehen müssen, als es um die Auseinandersetzung um den Irakkrieg gegangen ist. Ich will hier nicht darüber sprechen, ob die Ablehnung des Irakkrieges richtig gewesen ist. ({5}) Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang der Punkt, dass es falsch gewesen ist, zu versuchen, Europa als ein Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten zu profilieren. ({6}) Das ist die Lehre, die wir als Europäer zu ziehen haben; denn das hat Europa gespalten. Aber auch die Vereinigten Staaten haben ihre Lehre aus der Auseinandersetzung um den Irakkrieg gezogen. Sie wissen jetzt, dass sie auf Bündnispartner angewiesen sind, dass es keine Toolboxmentalität geben darf, dass man nicht eine Coalition of the Willing durchsetzen kann, sondern in den bewährten Bündnissen und insbesondere in der Zusammenarbeit mit den europäischen Bündnispartnern dafür sorgen muss, dass man zu guten Ergebnissen kommt. ({7}) Dazu gehört für uns insbesondere die Frage, wie wir uns als Bündnispartner der Vereinigten Staaten profilieren können, wie wir dafür sorgen können, dass die Amerikaner auf uns angewiesen sind. Es geht kein Weg an der Weiterentwicklung eigener Fähigkeiten und Kompetenzen vorbei. Dazu gehört eben auch die Weiterentwicklung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und ihres militärischen Standbeins, der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wir müssen dafür sorgen, dass sich NATO und EU stärker ergänzen und nicht gegeneinander eingesetzt werden. Wir müssen auch ein Interesse daran haben, dass das Berlin-Plus-Abkommen stärker mit Leben erfüllt werden kann. Wir sehen, dass diese Zusammenarbeit in Bosnien ein großer Erfolg ist. Aber wir wissen auch, dass es in der NATO auf den Widerstand der Türkei trifft und dass auf europäischer Seite die Franzosen und die Griechen dieser Zusammenarbeit skeptisch gegenüber stehen. Wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden will, muss sie beweisen, dass sie diesen eurotransatlantischen Ansatz unterstützt. Sie muss dafür sorgen, dass die gemeinsame Zusammenarbeit im Rahmen des Berlin-Plus-Abkommens mit Leben erfüllt werden kann. Die Forderung nach einer verstärkten Zusammenarbeit gilt, wie gesagt, auf NATO-Ebene für die Türkei und genauso auf europäischer Ebene - auch das will ich ganz deutlich sagen - für Frankreich. Die euro-transatlantische Politik nach 1990 ist enorm erfolgreich gewesen. Wir wollen und müssen diese Erfolge fortsetzen. ({8}) Wer heute einmal seinen Blick auf den Balkan richtet und sich vor Augen führt, welche Situation wir dort damals vorgefunden haben - Genozid, Kriege, Massengräber -, und wer heute sieht, wie sich die Gesellschaften und Staaten auf dem Balkan nach und nach in Richtung mehr Demokratie und mehr Rechtsstaatlichkeit transformieren, der kann wirklich von einem großen Erfolg sprechen. Selbst die 80 000 Menschen, die zum Begräbnis von Milošević in Belgrad von der dortigen Sozialistischen Partei zusammengekarrt worden sind, sind doch eher ein Beweis für den Erfolg als für das Gegenteil. Es ist diese euro-transatlantische Perspektive, die diesen Ländern Stabilität gegeben hat. Deswegen müssen wir trotz aller Fragen, wie es mit der Erweiterung sowohl im Hinblick auf die NATO als auch auf die Europäische Union weitergeht, diese Perspektive fortentwickeln. Ich habe großes Verständnis dafür, dass wir über die Frage der Vertiefung innerhalb der Europäischen Union sprechen müssen. Aber wir dürfen diese europäisch-transatlantische Perspektive für die betroffenen Länder nicht aufgeben. ({9}) Sie ist die Grundlage dafür, dass die demokratische Entwicklung in diesen Ländern erfolgreich fortgesetzt wird. Es ist unsere gemeinsame Verpflichtung, diesen Weg weiterzugehen. ({10}) Diese Perspektive, die Heranführung an die Europäische Union und eine mögliche Mitgliedschaft in der NATO, gilt eben auch für die Ukraine. Der Ukraine kommt aufgrund ihrer Größe, ihrer geostrategischen Lage und ihrem Potenzial eine besondere Bedeutung zu, die wir in den zurückliegenden Jahren nicht ausreichend gewürdigt haben. Deswegen haben wir ein großes Interesse am Gelingen des Transformationsprozesses. Wir würden unsere eigenen Prinzipien verraten, wenn wir die Ukraine auf diesem Weg nicht unterstützen würden. ({11}) Das heißt zum Beispiel, dass wir alle Bitten aus der Ukraine beachten sollten. Dazu gehören die Ausbildung von Richtern, mit denen wir die Entwicklung zur Rechtsstaatlichkeit unterstützen, und der Aufbau von wirtschaftlichen Beziehungen. - Wir sollten der Ukraine also all die Unterstützung zuteil werden lassen, die für den Transformationsprozess erforderlich ist. ({12}) Dieses Projekt wird erfolgreich sein, wenn wir es auf freundschaftlicher Basis und in enger Abstimmung mit der Europäischen Union verfolgen. Es ist ebenfalls wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Transformation der Ukraine und auch anderer Nachbarstaaten nicht gegen Russland gerichtet ist. Wir müssen auch sagen, dass die Beziehungen zu Russland davon abhängen, wie glaubwürdig sich Russland verhält, wenn es um die Beachtung der Prinzipien des Europarates geht. Ich denke da vor allem an den Umgang mit den eigenen Nachbarn und an die Frage, ob Russland Rechtsstaatlichkeit und Demokratiebewegung unterstützt oder eher ein Hindernis dafür darstellt. Es geht auch - auch dieser Punkt gehört dazu - um die innenpolitische Entwicklung in Russland. Die letzten Signale, die wir von dort empfangen haben, haben uns nicht hoffnungsfroh gestimmt. Deswegen, Frau Bundeskanzlerin, meinen herzlichen Dank dafür, dass Sie in der Botschaft in Moskau Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung und der Opposition empfangen haben. Wir müssen alles dafür tun, Russland auf seinem Weg zu mehr Demokratie und mehr Rechtsstaatlichkeit zu unterstützen. Ich glaube, dass das letztlich auch im Interesse Russlands, insbesondere im wirtschaftlichen Interesse Russlands, ist. Denn Rechtsstaatlichkeit ist auch ein enormer Standortfaktor. Investitionen in Russland und in anderen Transformationsländern werden sich langfristig nur dann lohnen können, wenn man sich dort auf rechtsstaatliche Verfahren verlassen kann. ({13}) Die Herausforderung, die vom Iran ausgeht, ist schon vom Außenminister angesprochen worden. Auch dort zeigt sich, dass die enge Kooperation zwischen Europa, den EU 3, und den Vereinigten Staaten bisher erfolgreich gewesen ist. Es hat immer wieder die Gefahr gegeben, dass der Iran mit seinem Versuch, die P 5 im Sicherheitsrat voneinander oder die europäischen Drei von den Vereinigten Staaten zu trennen, Erfolg haben würde. Die feste gemeinsame Überzeugung auf beiden Seiten des Atlantiks, auf europäischer Seite und auf amerikanischer Seite, hat dazu geführt, dass der Iran mit seinen Bemühungen bisher nicht erfolgreich gewesen ist. Ich begrüße, dass es im UN-Sicherheitsrat wohl zu einer so genannten präsidentiellen Erklärung kommen wird. Das ist ein gutes Zeichen. Wir müssen auf dem Weg weitergehen, eine diplomatische Lösung zu suchen. Denn ein militärisches Nuklearprogrammm des Irans ist für uns unter keinen Umständen akzeptabel. Es ist der Iran gewesen - um daran zu erinnern -, der internationales Vertrauen verletzt und internationale Verträge gebrochen hat. Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten haben dem Iran immer wieder goldene Brücken gebaut. Es ist nicht zuletzt die barbarische Sprache des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad Is2262 rael gegenüber, die uns zeigt, dass wir dort eine besondere Verantwortung tragen. Deswegen ist es nicht zuletzt zur Stärkung der Vereinten Nationen wichtig, dass wir zusammenbleiben und unsere Interessen entschlossen vertreten. ({14}) Das Erfordernis eines Zusammenspiels und der Koordination zwischen Europa und den Vereinigten Staaten gilt nicht zuletzt für den Nahostfriedensprozess. An dieser Stelle möchte ich auch im Namen meiner Fraktion Ehud Olmert ganz herzlich zu seinem Wahlsieg gratulieren. ({15}) Beeindruckend ist für mich vor allem, dass er unmittelbar nach der Wahl angekündigt hat, neue Friedensgespräche mit den Palästinensern aufzunehmen, und angedeutet hat, dass er in diesem Zusammenhang zu Zugeständnissen bereit ist. Das ist der Weg, auf dem wir jetzt weitergehen müssen. Auch bei meinen Gesprächen in Brüssel habe ich erfahren, dass es im Hinblick auf den Nahostfriedensprozess noch nie eine so starke Übereinstimmung zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten gegeben hat, wie es derzeit der Fall ist. Das gilt insbesondere für die Aufstellung der Kriterien, was die Zusammenarbeit mit der Hamas angeht. Diese Kriterien hat die Bundeskanzlerin Ende Januar bei ihrem Besuch in Israel betont. Auch hier zeigt sich, dass die Kooperation zwischen Amerika und Europa neue Früchte trägt bzw. tragen kann. Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die Zusammenarbeit in den Vereinten Nationen und die Weiterentwicklung der Vereinten Nationen. Wir müssen alles dafür tun, um die Vereinten Nationen zu stärken. Wir müssen sehen, dass wir das Völkerrecht in den Vereinten Nationen weiterentwickeln. Die Kanzlerin hat bei ihrem Besuch der Vereinigten Staaten in Washington entsprechende Anmerkungen dazu gemacht. Wir müssen erkennen, dass die Vereinten Nationen das Forum sein müssen, in dem wir versuchen, soweit es geht, globale Verantwortung wahrzunehmen, und in dem wir uns für die Durchsetzung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit einsetzen. Wenn wir einen Blick nach Afghanistan werfen, so stellen wir fest, dass sich dort Staaten wie Australien und Neuseeland engagieren und PRTs mit aufbauen. Das sind gute Beispiele. Sie zeigen, dass globale Verantwortung eben nicht regional begrenzt ist, sondern es ein wesentlicher Auftrag ist, gemeinsam für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einzutreten und gemeinsam im Rahmen der Vereinten Nationen dafür zu sorgen, dass es nicht zu weiteren Failing States kommt. Das gilt auch für unsere Verantwortung, die wir in Afrika wahrzunehmen haben. Dazu gehört aber auch, dass wir uns strategisch auf diese neuen Herausforderungen einstellen, dass wir uns selber nicht in eine Situation bringen, in der wir den Eindruck haben, Getriebene der Entwicklung zu sein, und dass wir unsere eigenen strategischen Interessen definieren und nach diesen handeln. Das wird die Aufgabe der Außen- und Sicherheitspolitik in den nächsten Jahren sein. Vielen Dank. ({16})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Knoche, Fraktion Die Linke. ({0})

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine werten Herren und Damen Abgeordnete! Ich möchte mich zunächst gerne an Sie wenden, Herr Dr. Hoyer. ({0}) Mir haben Ihre letzten Ausführungen zum Kongo sehr gut gefallen. Wer sich das EU-Mandat genau anschaut, kann sich angesichts der Zusammensetzung der Formation des Eindrucks nicht erwehren, dass die ehemaligen europäischen Kolonialmächte in Afrika wieder präsent sind. Was wir auf gar keinen Fall akzeptieren können, weder wir Linke noch der Deutsche Bundestag - ich denke, hier spreche ich im Interesse der Menschen in der gesamten Bundesrepublik -, ist eine neokoloniale Politik in Afrika. Das muss auf jeden Fall vermieden werden. ({1}) Ich denke, der eleganteste, der beste, der politisch korrekteste Weg wäre es, deutsche Soldaten gar nicht erst dorthin zu schicken. ({2}) Ich möchte jetzt den Zusammenhang herstellen und aufgreifen, was der Außenminister an den Anfang seiner Rede gestellt hat. Sie haben von der Globalisierung gesprochen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Menschen - auch durch die deutsche Politik erfahren, dass die Globalisierung latent immer ein kriegerisches, nicht friedliches Unterfangen sein wird. Wir sehen, dass sich die Interessen in Afrika auf den Sudan und jetzt auch auf den Kongo konzentrieren. Wir haben erlebt, dass der Kampf gegen den Terror in einer globalisierten Welt in Afghanistan zu einem Krieg geführt hat. Die Antworten auf die Globalisierung fallen aber auf anderen Kontinenten völlig anders aus als in Deutschland. Schauen wir uns zum Beispiel den postneoliberalen Prozess in Lateinamerika an! Das ist eine Antwort auf die Globalisierung, mit der man sich gegen den Verlust staatlicher Sicherungssysteme und für die Beibehaltung der Ressourcenwahrung in nationaler Hand ausspricht. ({3}) Man ist dort aus Erfahrung gegen die Privatisierung. Ich kann nicht verstehen, warum in der Rede des AußenMonika Knoche ministers kein einziges Wort zu dem Kontinent Lateinamerika gefallen ist. ({4}) Das muss doch allmählich in unseren Fokus aufgenommen werden, wenn wir über diese weltweiten Fragestellungen sprechen. ({5}) - Ich hätte nichts dagegen, wenn Sie sich über die demokratischen und zivilen Errungenschaften in Kuba Gedanken machen würden. Manches Bild, das Sie zeichnen, würde sich angesichts der Realität nicht mehr behaupten können. Da bin ich mir sehr sicher. ({6}) Ich möchte jetzt aber keine Rede über Kuba oder Lateinamerika halten. Wir werden, wenn der EU-Gipfel in Wien stattfindet, sicherlich noch über unsere Position zu Lateinamerika sprechen können. Ich halte es allerdings für sehr wichtig, dass sich dieses Haus Gedanken darüber macht, wie in dieser globalisierten Welt die Reform der UNO und des UN-Sicherheitsrates aussehen wird. Wir haben schon gelegentlich unsere Vorstellung transportiert, dass in einem reformierten UN-Sicherheitsrat Lateinamerika unbedingt einen Sitz haben muss und dass es erforderlich ist, dass auch Afrika mit einer eigenen Stimme spricht. Das zeigt sich jetzt besonders deutlich, da die Afrikanische Union in der Frage des Kongos sozusagen übergangen worden ist. ({7}) Die UNO hat sich in dieser Sache an die EU-Ebene gewandt. Nun muss Solana in den Kongo reisen, um Kabila davon zu überzeugen, dass er europäisches Militär zur Sicherung der Wahlen braucht. Es bedarf unbedingt einer Veränderung unseres Blicks auf die Welt, um die neue eine Welt als einen friedlichen Prozess zu begreifen, der die Demokratisierung und die Gleichheit aller zum Ziel hat und dies mit friedlichen Mitteln durchsetzt. ({8}) Eine solche UNO brauchen wir. Im Deutschen Bundestag brauchen wir eine Debatte darüber, was der originär deutsche Anteil sein kann, um einen solchen Prozess einzuleiten. Herr Steinmeier, Sie haben über die Europäische Verfassung gesprochen. Sie dürfen nicht übersehen, dass es der europäische Verfassungskonvent nicht geschafft hat, die politische Willensbildung der Bevölkerungen in einen Verfassungsentwurf zu transportieren. Manche Parlamente haben dem Entwurf zugestimmt, manche Voten der Bevölkerung waren positiv, aber die Europäische Verfassung ist im Ergebnis tot. Sie ist gescheitert. Viele osteuropäische Staaten, die neu hinzugekommen sind, wollen keine Renaissance des europäischen Verfassungsprozesses; sie haben vielmehr ein großes Interesse daran, dass die Verträge überarbeitet werden, wir von der Lissaboner Strategie loskommen und die Ideologie des Neoliberalismus endlich in Europa ein Ende findet. ({9}) In dieser Hinsicht wird im Deutschen Bundestag eine Diskussion über die Frage, wie es mit der Europäischen Verfassung weitergehen soll, notwendig sein. Sie dürfen gewiss sein, dass wir als Linke dazu unseren proeuropäischen Beitrag leisten werden. Die heutige Debatte beinhaltet viele wichtige Themen, die es wert wären, ausführlich darüber zu sprechen. Ich kann deshalb beim besten Willen nicht verstehen, warum es den Regierungsfraktionen, der FDP und den Grünen so ungemein wichtig war, heute über Belarus nach der Wahl zu sprechen. ({10}) Wir haben bereits vor der Wahl eine Debatte über Belarus geführt. Ihnen war es damals ein Anliegen, uns zu diskreditieren, was Ihnen aber nachweislich nicht gelungen ist. Die Linke kann nicht als antidemokratische Kraft diskreditiert werden. ({11}) - Ich glaube, Sie reden im Moment ziemlich heftigen Unsinn. Sie sollten die Debatte nachlesen. Ich finde es viel wichtiger, sich das Ergebnis der Wahl in der Ukraine anzuschauen. Die orangene Revolution kann als gescheitert betrachtet werden; denn die Bevölkerung hat ihre Erfahrung damit gemacht und ein Jahr nach der Revolution völlig anders gewählt. Das sollte Anlass für uns sein, mit den Staaten, die einen postsowjetischen Prozess durchgemacht haben, in eine andere Form des Dialogs einzutreten. ({12}) Wir müssen uns hier im Parlament mit diesem Thema anders befassen, als demokratische Revolutionen mit anzuzetteln, wie es die Kollegin Beck formulierte. ({13}) Ich glaube, es geht nicht um Menschenrechtspolitik, wie wir sie uns vorstellen. Menschenrechtsfragen und Menschenrechtspolitik dürfen nicht instrumentalisiert werden, um Systemwechsel herbeizuführen. Das ist eine wichtige Komponente einer wirklich aufgeklärten Menschenrechtspolitik. ({14}) Wir müssen jetzt eine Entscheidung bezüglich des Kongos fällen und Sie lenken mit Debatten zu Weißrussland ab. ({15}) Mit dem Kongo müssen wir uns ausgiebig befassen, ich will hier nur einige wenige Worte dazu sagen. Schauen wir uns an, wie das Mandat zustande gekommen ist. Aller Voraussicht nach wird es ein UN-Mandat nach Kap. VII sein. Es soll also ein militärischer Einsatz erfolgen, an dem sich die Deutschen vielleicht nicht aktiv, aber passiv beteiligen, während die Franzosen die aktive Rolle übernehmen. Ich möchte dazu sagen: Es sollte gewährleistet sein, dass freie demokratische Wahlen durchgeführt werden. ({16}) Die Menschen im Kongo haben nicht die Zuversicht und den Glauben, dass Wahlen ihnen Frieden, Freiheit und Demokratie bringen werden. ({17}) Denn es gibt dort verschiedene Milizen, deren Führer demokratische Wahlen ablehnen. Niemand kann voraussagen, ob eine Wahl bürgerkriegsähnliche Zustände auslösen wird. Auch der Einsatz deutscher Soldaten im Kongo kann nicht gewährleisten, dass die Präsidentschaftswahl friedlich verläuft. ({18}) Eine freie demokratische Wahl muss aber unser erstes Ziel sein. ({19}) Was geschieht, wenn das Ziel nicht innerhalb des vorgesehenen Zeitraums von vier Monaten erreicht wird? Sie werden doch hier nicht in aller Öffentlichkeit sagen wollen, dass die Truppen dann unverrichteter Dinge wieder abziehen werden. Sie werden ein neues Mandat fordern und dann werden die europäischen Truppen zu einer Bürgerkriegspartei werden. Sie könnten Parteinahme betreiben und genau das muss vermieden werden. ({20}) Wenn man den Prozess unterstützen will, dann darf man keine europäischen Truppen dorthin führen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Hierarchie der europäischen Entscheidungen erlaubt es de facto nicht - das ist ein zentrales Argument -, dass wir das Mandat des Parlaments, das das beste Recht des Parlaments ist, wahrnehmen und entscheiden, wo die Truppen hingehen und was sie dort machen. Wenn das EU-Mandat steht, werden wir diese demokratische Verantwortung für den soldatischen Auftrag nicht wahrnehmen können. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Jürgen Trittin, Bündnis 90/ Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrter Außenminister, ich wollte meine Rede eigentlich mit der Bemerkung einleiten, dass, wenn Ihre Lageeinschätzung, dass die größte Gefahr für die Sicherheit von zerfallenden Staaten ausgeht und es die größte Herausforderung ist, für Stabilität und Sicherheit zu sorgen, richtig ist, es dann ganz verkehrt ist, ausgerechnet die Mittel für Krisenprävention und zivile Konfliktbewältigung, wie in Ihrem Haushalt geschehen, zu kürzen, zumal in einem Haushalt, der sich ansonsten nicht durch Konsolidierungsüberanstrengungen auszeichnet. ({0}) Ich lasse das aber weg, weil ich mit Interesse zur Kenntnis genommen habe, dass es, verehrte Kollegin Knoche, kein Grund zur Debatte in diesem Parlament sein soll, wenn mitten in Europa Menschen, die bei einer Wahl kandidiert und sich für Demokratie eingesetzt haben, von maskierten Polizeibeamten einkassiert und eingesperrt werden. Das ist ein Problem für Europa. Das können wir in Europa nicht akzeptieren und es ist peinlich, wenn Sie dazu schweigen. ({1}) Ich bin der festen Überzeugung, dass deutsche Außenpolitik Friedenspolitik bleiben muss. Das heißt, sie muss in die Politik der Vereinten Nationen eingebunden sein. Sie muss im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik gestaltet werden. Deswegen ist es notwendig, dass die Herausbildung einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik - gerade um diesen Teil des Verfassungsvertrages geht es tatsächlich Wirklichkeit wird. Wir müssen von den nationalen Alleingängen wegkommen. Wenn man das aber sagt und wenn man das Mandat der Vereinten Nationen am Anfang einer Rede hochhält, dann muss man auch bereit sein, einen Beitrag zu leisten, wenn es darauf ankommt. Wir können uns keine Debatte über die Frage leisten, wie es zum Beispiel der Bundeswehrverband getan haben soll, ob es wohl möglich ist, aus einer 250 000 Personen starken Armee 450 Soldaten für vier Monate zur Absicherung eines Wahlprozesses zu schicken. Das würde, wenn das wahr wäre, in der Tat von einer falschen Prioritätensetzung zeugen. ({2}) Wir sollten auch nicht so tun, als wenn die Debatte über den Kongo - darin stimme ich dem Bundesaußenminister ausdrücklich zu - erst jetzt begonnen hätte. Sie ist sehr viel älter. Ich will an dieser Stelle all denen, die von Neokolonialismus und ähnlichem Zeug schwätzen, ({3}) ganz deutlich sagen: Ich möchte mich bei den 17 000 MONUC-Soldaten aus Bangladesch, aus Indien, aus Guinea-Bissau und aus Pakistan bedanken, die dort seit Jahren im Einsatz sind. ({4}) Ich möchte mich bei ihnen bedanken, weil sie dazu beigetragen haben, dass über 80 Prozent der Kongolesen gesagt haben: „Ja, wir wollen wählen.“ Sie haben dazu beigetragen, dass über 16 000 Kindersoldaten jetzt nicht mehr rauben, plündern und vergewaltigen, sondern demobilisiert worden sind. Vor diesem Hintergrund muss man die Bitte der Vereinten Nationen sehen. Sie wollen, dass die Europäer für einen befristeten Zeitraum von wenigen Monaten zur Absicherung des Wahlprozesses in der Hauptstadt sind. Die Europäer sollen diese mutigen Soldaten unterstützen. 60 MONUC-Soldaten haben ihr Leben für die Mission hergegeben. Diese mutigen Menschen wollen wir nicht nur bezahlen. Wir wollen sichtbar Flagge zeigen, damit diese Wahlen ordentlich zu Ende gehen. Wir alle wissen, dass am Ende einer Wahl immer auch einer feststeht, der die Wahl verloren hat. Wir haben uns zwar angewöhnt, bei uns im Fernsehen so zu tun, als würde das nicht stimmen. In Wirklichkeit verliert aber jemand. ({5}) Dazu beizutragen, diese demokratische Normalität zu erfahren und das durchzustehen, das ist die Anforderung an uns. Ich finde, die Bundesregierung muss hier folgende Fragen deutlich beantworten: Sind die Kräfte vor Ort hinreichend? Sind sie hinreichend multinational? Wie ist der zeitliche Rahmen abzusichern? Das ist die Aufgabe der Bundesregierung. Aber man kann sich hier nicht so schlank aus der Verantwortung stehlen, wie Sie von der Linkspartei das gemacht haben. ({6}) Lieber Herr Hoyer, ich glaube, von der heutigen Umarmung werden Sie sich so schnell nicht erholen. ({7}) Die Partei Hans-Dietrich Genschers steht heute in dieser Frage Seite an Seite mit Oskar Lafontaine. Sie sollten in dieser Situation noch einmal darüber nachdenken, ob das wirklich zu den großen Traditionen Ihrer Partei gehört. ({8}) Wenn wir uns einig sind, dass das die Herausforderungen sind, dann werden wir gerade mit Blick auf den Nahen Osten unsere Bemühungen, zu einem Dialog beizutragen, der tatsächlich auf Verständigung zielt, fortsetzen. Ich habe die erste Reaktion von Herrn Olmert auf seinen Wahlsieg mit großem Interesse zur Kenntnis genommen, nämlich die Ansage: Wir wollen auf der Basis der Zweistaatlichkeit zu einer Lösung kommen. Wenn als Ergebnis freier Wahlen in den palästinensischen Gebieten aber eine Bewegung gewonnen hat, deren Ziele wir in Europa nicht teilen, sondern sogar als terroristisch eingestuft haben, dann muss es in dieser Situation einen Prozess des Aufeinanderzubewegens geben. Es muss klar sein, dass das Existenzrecht Israels nicht infrage gestellt werden darf. ({9}) Es muss klar sein, dass es einen Gewaltverzicht gibt. Und es muss klar sein, dass die Zweistaatlichkeit wirklich anerkannt wird. Das ist eine unabdingbare Forderung an jede palästinensische Regierung. ({10}) Das ist - ich füge das an dieser Stelle hinzu - aber natürlich auch eine Anforderung an die israelische Regierung. Es gehört sich bei Zweistaatlichkeit nicht, dass man Gefängnisse im anderen Staat besetzt, um das einmal freundlich auszudrücken. Schließlich komme ich zu den Themen Iran und weltweite Abrüstung. Wir wollen, dass dieser Konflikt zivil gelöst wird. Ich sage Ihnen deutlich: Solch eine Lösung wird es nur geben, wenn sie gemeinsam mit Europa, mit Russland, mit China und, ich füge hinzu: mit den USA gefunden wird. ({11}) Denn der Iran wird zu Recht darauf beharren, dass er Sicherheitsgarantien bekommt. Sie wird er nicht akzeptieren, wenn er sie nicht auch von den USA bekommt. Das ist aber genau der Hintergrund, vor dem, lieber Frank Steinmeier, der Deal zwischen Indien und den USA so kontraproduktiv gewesen ist. Wie sieht denn die Situation weltweit aus? Es ist doch frappierend, dass sehr energiereiche Länder - nicht nur der Iran, sondern auch Brasilien - Atomkraftwerke möchten. Sie wollen sie doch nicht, weil sie sie für die Energieversorgung nötig haben, sondern weil ihnen klar ist, dass mit der Urananreicherung ein wunderbares Instrument besteht, um Uran als Rückversicherung für nicht friedliche Mittel zur Verfügung zu haben. ({12}) Das ist der Kern des Ganzen. Wenn wir wollen, dass der Iran seine Urananreicherung aussetzt, wenn wir auf die Strategie setzen, im Rahmen der Nichtverbreitung zu sagen, dass Urananreicherung und, ich füge hinzu: Wiederaufbereitung konsequent internationalisiert werden sollen, dann ist es vor diesem Hintergrund kein Fortschritt, dass Inspektoren in Indien künftig alle Bereiche ansehen dürfen, aber genau diesen Schlüsselbereich nicht. Ich habe Verständnis, wenn Mohammed al-Baradei sagt: Ich finde es schön, dass ich da überhaupt einmal reinkomme. - Aber wir als Staatengemeinschaft, die wir an dem Regime der Nichtverbreitung interessiert sein müssen, dürfen uns dieses Interesse nicht zu Eigen machen. Dieser Deal war kontraproduktiv und falsch. Ich finde, dass dieser falsche Schritt, der den Iran in seiner Verhandlungsposition gestärkt hat, nicht auch noch nachträglich damit belohnt werden darf, dass hier nun nuklear verwendbares Material geliefert wird. Sie stehen nun in der Verantwortung, bei Ihrem Einsatz für die Errichtung eines globalen Nichtverbreitungsregimes tatsächlich Standhaftigkeit zu zeigen und diesem Deal nicht hinterherzulaufen. ({13}) Ich glaube, dass wir uns zurzeit in einer Phase befinden - das wird auch an der Debatte über die Energiepolitik deutlich -, in der Europa, das bei Klimaverhandlungen, bei Fragen des Welthandels und der Gestaltung der Globalisierung bisher eigentlich eine treibende und produktive Kraft war, seltsam ziellos daherkommt. Diese Ziellosigkeit hat auch etwas mit der Haltung und dem Verhalten der Mitgliedstaaten zu tun. Ich habe heute bereits einige erstaunliche Aussagen gehört. Herr von Klaeden zum Beispiel befürwortet plötzlich die Visumfreiheit für die Ukraine. ({14}) - Das ist doch Ihre neue Position. - Aber mit noch größerem Erstaunen habe ich zur Kenntnis genommen, dass ausgerechnet die Linkspartei erklärt hat, die Position der polnischen Regierung, die den europäischen Verfassungsprozess für tot erklärt, sei richtig. ({15}) Das, was dazu in der Verfassung steht, ist das komplette Gegenteil von neoliberal. ({16}) Die polnische Regierung möchte nichts anderes als die Schaffung eines gigantischen Binnenmarktes, um ihre korporativen Vorteile nutzen zu können. Sie will aber keine politische Vertiefung, also keine Demokratisierung der Europäischen Union. ({17}) Mit Blick auf die EU-Präsidentschaft der Bundesrepublik im nächsten Jahr sage ich: Es ist gerade kein Zeichen einer ambitionierten europäischen Orientierung, wenn sich Deutschland in einer Situation, in der die Kommission zu Recht sagt, dass wir eine europäische Energiepolitik brauchen, mit den Staaten an die Spitze setzt, die der Meinung sind, dass das Letztentscheidungsrecht in der Energiepolitik auch weiterhin bei den nationalen Großunternehmen - in Deutschland also bei RWE, Eon, EnBW und anderen - bleiben soll. Das ist kein Schritt in Richtung mehr Versorgungssicherheit, genauso wenig wie eine erneute Subventionierung der Atomkraft. Das ist das Ziel. Wir werden Europa nur dann für die Bürger überzeugender gestalten können, wenn wir mehr Europa wagen. Daher müssen wir Schluss damit machen, uns immer, wenn es - wie in diesem Fall in der Energiepolitik - hart auf hart kommt, auf den nationalen Vorbehalt zurückzuziehen. Wir brauchen in dieser Frage eine Europäisierung. ({18})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort der Kollegin Knoche.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Trittin, Sie waren sehr bemüht, Allianzen zwischen der FDP und der Linken und womöglich auch zwischen der polnischen rechtskonservativen Regierung und der Linken herzustellen. ({0}) Ich möchte Ihnen sagen: Das war ein sehr kurzes Vergnügen für Sie; denn nichts davon trifft zu. ({1}) - Ja, in dieser Einschätzung besteht zwischen der FDP und der Linken keine Differenz. ({2}) Was ich aber bedenklich finde, ist, dass Sie die Argumente gegen den Einsatz der Parlamentsarmee im Falle eines EU-Mandats für den Kongo, die ich vorgetragen habe, einfach von sich gewiesen haben. Das wundert mich sehr. Vielleicht sind Ihnen die Institutionen und die Entscheidungswege nicht sehr vertraut. Aber wenn diese Entscheidung auf EU-Ebene angesiedelt und das Mandat erst einmal erteilt ist, werden interne Vereinbarungen und Übereinstimmungen getroffen, was eine Krise ist und was im Falle einer Krise zu tun ist. Dann wird das deutsche Parlament nicht mehr gefragt sein. Nun sagen Sie, die Parteien, die sich hier im Hause für ein verfassungskonformes Vorgehen ausgesprochen haben, gingen schräge Allianzen ein. Ich denke, die ArMonika Knoche gumentation von Frau Homburger ist nicht ganz treffend. Aber zumindest einen wichtigen Punkt hat sie angesprochen: dass ab dem Moment, ab dem die europäische Armee unter europäischem Mandat steht, kein nationales Parlament mehr seine Pflichten erfüllen kann. Das kann niemanden kalt lassen, der sich Demokrat nennt und die Demokratie in anderen Teilen Europas verteidigen will. ({3}) Als wir über das Thema Belarus schon einmal diskutiert haben, habe ich unzweideutig zum Ausdruck gebracht, wie sehr wir das dortige diktatorische System verurteilen. ({4}) In dieser Debatte habe ich vorgeschlagen, diese Frage einmal kompakt zu behandeln und dabei auch einzubeziehen, welche Wege der Demokratisierung - auch welche nicht importierbaren oder exportierbaren Wege der Demokratisierung - es beim Prozess der Transformation postsowjetischer Staaten gibt. Man muss eine ernsthafte Politik betreiben und darf sich nicht in ideologische Schlagwörter verlieben, die man hier im Bundestag verbreitet. Man darf andere Positionen nicht diskreditieren. ({5}) Wir werden Ihren Antrag nicht ablehnen, wir werden ihm nur nicht zustimmen. Sie wissen auch, warum. Sie haben uns bewusst nicht an diesem Prozess beteiligt. Sie wollen uns außen vor haben. Wir karten nicht nach. Wir verlangen, dass eine solche Debatte als eine eigenständige Debatte in diesem Haus geführt wird. Zu Ihrer Bemerkung, wir würden darüber hinwegsehen, dass Demonstranten abgeführt wurden, möchte ich sagen: Zwei Abgeordnete der Linksfraktion werden demnächst als Prozessbeobachter nach Genua reisen. ({6}) Dort hat es schwerste Verletzungen - wenn Sie so wollen: Menschenrechtsverletzungen - gegeben; schließlich kam jemand zu Tode. Es ging gegen das Demonstrationsrecht, das die Menschen beim G-8-Gipfel wahrgenommen haben.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Ihre Redezeit von drei Minuten ist um.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wenn es um ein Europa der Demokratie geht, dann müssen wir zum Beispiel die Vorgänge in Italien in unsere Beobachtung mit einschließen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Trittin, bitte.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegin Knoche, das unterscheidet uns. Wir sind der Auffassung, dass es egal ist, ob Demonstranten wie beispielsweise bei dem G-8-Gipfel durch die italienische Polizei misshandelt und unrechtmäßig inhaftiert wurden oder ob das in Weißrussland passiert. ({0}) Wir wollen nicht mit unterschiedlichen Maßstäben messen. Dazu gehört auch, dass man das Unrecht auf der einen Seite nicht dadurch entschuldigt, dass es auf der anderen Seite auch Unrecht gibt. ({1}) Meine zweite Bemerkung bezieht sich auf intellektuelle Redlichkeit. Ich bin gerne bereit, Ihren Text nachzulesen. Ich habe gehört, Sie haben sich zur Haltung der osteuropäischen Regierungen zum Verfassungsprozess explizit positiv geäußert. Es tut mir Leid, wenn ich das falsch verstanden habe. Ich meine aber, dass ich das richtig verstanden habe. ({2}) Es gibt in diesem Zusammenhang nur eine fundierte Aussage, und das ist die Aussage des polnischen Staatspräsidenten. Das fand ich in der Tat bemerkenswert. Es passt im Übrigen auch. Als ich mir angehört habe, was die Vertreterinnen und Vertreter der Linksfraktion bei der gemeinsamen Ausschusssitzung mit dem französischen Europaausschuss über die Frage, wie es in Europa weitergeht, vertreten haben, habe ich eine verblüffende Übereinstimmung bis ins Wörtliche mit den Anhängern von Sarkozy festgestellt. Das ist nicht mein Europa. Mein Europa ist ein Europa der Demokratie und der sozialen Rechte. Sie finden in dieser Verfassung sehr viele demokratische und soziale Rechte, die wir im Grundgesetz übrigens vermissen. ({3}) Dritte Bemerkung. Wenn man über die Rolle des Parlamentes beim Einsatz der Bundeswehr und dessen Rechte spricht, dann brauchen wir keine Belehrung. Ich sage Ihnen: Es wird auch in Europa Zusagen über den Einsatz deutscher Soldaten generell nur unter dem Vorbehalt des Parlamentes geben. Ich finde, dass man solche Anfragen seriös prüft und nicht nach dem Motto verfährt: Weil die Anfrage von den Vereinten Nationen kommt, können wir nicht Nein sagen. Nicht dass Sie mich missverstehen! Ich hätte von Ihnen erwartet, auf die Anfrage der Vereinten Nationen nicht mit einem einfachen Verweis auf Neokolonialismus zu reagieren, sondern sich ernsthaft mit der Situation vor Ort zu beschäftigen und mit der Frage, wie es gelingen kann, die Wahlen vernünftig über die Bühne zu bringen. Das ist das Minimum, um außenpolitische Glaubwürdigkeit zu beweisen. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Walter Kolbow, SPD-Fraktion. ({0})

Walter Kolbow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001175, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Stand der Debatte lässt mich anders beginnen als geplant. Es ist festzuhalten - das werden auch der Kollege Grund, die Kollegin Zapf und der Kollege Bodewig, die Beobachter bei den Wahlen in Belarus waren, noch zum Ausdruck bringen -, dass Ihre Position gegenüber diesen unfairen Wahlen unhaltbar und diesem Parlament unwürdig ist. Sie ist nicht hinzunehmen. ({0}) Das ist ein Schlag ins Gesicht von Alexander Konsulin und der anderen Verhafteten sowie der Demokratiebewegung und der Zivilgesellschaft. Das können Sie von der Linkspartei am besten dadurch wieder gutmachen, dass Sie unserem Antrag zustimmen. Das wäre die richtige Position. ({1}) Ich bin dem Kollegin Trittin sehr dankbar, dass er noch einmal nicht nur auf die Notwendigkeit, sondern auch auf die Selbstverständlichkeit des Parlamentsvorbehalts bei der Entscheidung darüber hingewiesen hat, ob man sich auf Anfrage der UN an einer EU-Mission im Kongo beteiligt. Das ist das Nonplusultra. Hier und nirgendwo anders wird entschieden. ({2}) Bis zur Entscheidung werden alle Fragen zu stellen und auch zu beantworten sein. Manchmal ist es auch so, dass man sich diese Mandate erarbeiten und Informationslücken und Emotionen, die man durch Sozialisation möglicherweise gewonnen hat, schließen bzw. überwinden muss, um zu richtigen Entscheidungen zu kommen. Dies scheint doch eine zu gelingende Mission zu sein. Sie wird gelungen sein, wenn wir die Wahlen erfolgreich abgesichert haben, wenn zum Verfassungsprozess auch noch der Demokratisierungsprozess - durch Wahlvorgänge zum Präsidentenamt und zum Parlament - hinzugekommen ist und wenn wir - auch das ist gesagt worden - 15 000 Kindersoldaten entwaffnen, demobilisieren und wieder mit ihren Familien zusammenführen konnten. Wir wollen und müssen die gute Arbeit der NGOs und der vielen, die als Zivilisten dort sind, militärisch ergänzen. Herr Hoppe, weil auch Kabila, Bemba, der Vorsitzende der Wahlkommission, der hier im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit war und vorgetragen hat, und der Verteidigungsausschuss das befürworten und weil die Entsandten aus den Fraktionen - wenn ich das so sagen darf -, die dort waren, zurückgekommen sind und gesagt haben, dass vieles dafür spricht, sich an dieser Mission zu beteiligen, ist es sicherlich richtig, die Vorbereitungszeit zu nutzen und dann zu einer Entscheidung zu kommen, die den Menschen im Kongo und unserem strategisch wichtigen Nachbarkontinent Afrika gerecht wird. ({3}) Der Herr Außenminister hat hier selbstverständlich die strategischen und operativen Schwerpunkte der deutschen Außenpolitik vorgetragen. Ja, die Globalisierung muss positiv gestaltet werden. Ja, die deutschen Beiträge zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus sind zu leisten. Die EU muss vertieft und verträglich erweitert werden. Die transatlantischen Beziehungen sind zu intensivieren und die Reform der Vereinten Nationen ist weiter zu betreiben. Dabei gilt es - auch das ist in den Debattenbeiträgen angeklungen -, die Felder Energieversorgung und internationale Sicherheit, Demografie und internationale Sicherheit sowie Migration und internationale Sicherheit aktiv zu begleiten. Ich denke, wir sind uns in diesem Haus einig, dass auch für die neue Regierung das gilt, was bisher für alle Bundesregierungen nach dem Krieg gegolten hat: Die deutsche Außen-, Sicherheits-, Entwicklungshilfe- und Menschenrechtspolitik dient dem Frieden. Das ist die Grundkonstante unserer Politik, die Demokratie und soziale Gerechtigkeit auch außerhalb unseres Vaterlandes fördert. ({4}) Ich denke, dass wir hier - das hat die Kanzlerin heute Morgen zu Recht gesagt - unsere Werte mit unseren Interessen in Einklang bringen werden. Dabei wünschen wir dem Außenminister, der einen guten Start hatte, viel Erfolg. Herr Hoyer, Sie haben sich mit Ihren Anmerkungen fahrlässig oder sogar vorsätzlich an der Erschwerung dieses Starts beteiligt. ({5}) Wir als sozialdemokratische Bundestagsfraktion sind auf diesem Weg an der Seite der Bundeskanzlerin. Wir wünschen Ihnen viel Glück und Erfolg bei diesen verantwortungsvollen Aufgaben. Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik werden aufgrund ihrer Professionalität und Verlässlichkeit anerkannt und brauchen den weltweiten Vergleich nicht zu scheuen. Die Markenzeichen der deutschen Politik sind und bleiben Kontinuität und Verantwortungsbewusstsein. Die Anmerkung sei mir gestattet: Wer Überlegungen zu Veränderungen anstellt oder gar versehentlich das Wort Revision in den Mund nimmt, der sollte diesen Teil seiner Ausdrucksweise im Dialog privatissime et gratis überdenken. ({6}) An dieser Stelle sollte unser Glückwunsch nicht nur an Herrn Olmert, sondern auch an unseren Freund Peretz von der Arbeiterpartei gehen. Diese beiden Politiker tragen eine große Verantwortung. Die neue israelische Regierung braucht alle Kräfte, um zu einer friedlichen Entwicklung zu kommen. Ich glaube, wir sind uns darüber einig, dass nach den Wahlen die Hamas und die neue israelische Regierung endlich aufeinander zugehen können. Wir in Deutschland unterstützen die politische Forderung des Nahostquartetts nach einer schnellen Wiederaufnahme der Roadmap. ({7}) Ich komme gerade von einer Balkanreise zurück. Ich habe in Belgrad, aber auch in Priština gesehen, wie bei den Wiener Verhandlungen um ein Ergebnis gerungen wird. Wir müssen dafür Sorge tragen, Präsident Tadić in Serbien in seinem Bemühen zu unterstützen, die demokratischen Kräfte gegen die radikalen Nationalisten und gegen die Milošević-Sozialisten zu stärken, damit von dort Friedens- und Verhandlungsbereitschaft erkennbar ist, ({8}) die die Kosovaren signalisieren, die - darin sind sie sich einig - zur Kooperation mit den Serben bereit sind. Umgekehrt scheint mir dies im Augenblick nicht der Fall zu sein. Herr Außenminister, Sie werden in der internationalen Gemeinschaft akzeptable, nicht besserwisserische, aber engagierte deutsche Beiträge einbringen. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist an Ihrer Seite. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Markus Löning, FDPFraktion.

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Steinmeier, Sie sagten vorhin, dass die EU mehr als nur Binnenmarkt und Verfassung ist. Ich will Ihnen in diesem Punkt ausdrücklich zustimmen. Als Vorbemerkung will ich deutlich machen, wie wichtig es ist, dass wir unsere Werte in Osteuropa hochhalten und dort die Bemühungen um Demokratie unterstützen. Die EU ist aber eben auch Binnenmarkt und Verfassung. Die Frage, die wir uns angesichts der Krise und der fehlenden Glaubwürdigkeit der EU stellen müssen, ist: Wie begegnen wir der Europamüdigkeit und Europaskepsis unserer Bevölkerung und wie überzeugen wir sie davon, dass wir alle gemeinsam von der EU profitieren? Ich glaube, wir sind uns in diesem Hause weitgehend einig, dass wir eine starke Identifikation der Bevölkerung hinsichtlich der weiteren Integration in Europa wollen. ({0}) Es ist für Europa entscheidend, Erfolge zu erzielen. Ich glaube nicht, dass es wichtig ist, viele neue Politikgebiete zu besetzen, sondern es ist wichtig, in den Politikgebieten, für die die EU zuständig ist und in denen sie handlungsfähig ist, Erfolge zu erzielen und sich darauf zu konzentrieren, diese Erfolge nach außen deutlich zu machen. Ein gutes Beispiel dafür ist das, was die Kommissarin Reding zurzeit macht. Sie hat die Handy-Verträge und damit die Mobilfunkunternehmen kritisiert. Im Sinne der Verbraucher muss für Handys ein Binnenmarkt entstehen; denn es kann nicht sein, dass beim transnationalen Telefonieren abkassiert wird. Hier ist die EU gefragt und sie kann an dieser Stelle deutlich machen, was für einen Mehrwert sie uns Bürgern bietet. Das ist ein gutes Beispiel dafür, was nach außen vermittelt werden muss. Es zeigt im Übrigen, wo der Binnenmarkt funktionieren muss. Das muss auch vonseiten der Europäischen Union durchgesetzt werden. ({1}) Lassen Sie mich zwei kurze Anmerkungen zur Energiepolitik der Europäischen Union machen. Ich glaube, dass es auch in der Energiepolitik wichtig ist - darin widerspreche ich Ihnen ausdrücklich, Herr Trittin -, dass die EU zunächst ihre ureigene Aufgabe wahrnimmt, nämlich einen funktionierenden Binnenmarkt im Sinne der Verbraucher sicherzustellen. Wir brauchen Wettbewerb auf dem Energiemarkt. Günter Rexrodt hat seinerzeit im Deutschen Bundestag damit begonnen, in Deutschland auf diesen Wettbewerb hinzuarbeiten, und Ihre Regierung, Herr Trittin, hat dann dafür gesorgt, dass es kein Erfolg geworden ist. Wir müssen für Wettbewerb auf dem Energiemarkt sorgen, damit unsere Verbraucher davon profitieren können. Das ist die eine Seite. ({2}) Die andere Seite ist, dass wir unsere Energieinteressen gegenüber Dritten gemeinsam vertreten müssen. Dass die Energiepolitik ein Teil der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik wird, ist ein guter und wichtiger Schritt. Gemeinsam sind wir stärker. Wir haben gemeinsame Interessen, die wir endlich einmal definieren müssen. Das Durcheinander am Schwarzen Meer, im kaukasischen Raum und anderswo, wo jeder der europäischen Partner seine eigene Politik verfolgt, ist unerträglich und kontraproduktiv. Es geht zu unseren Lasten. Andere machen deutlicher, was sie wollen, und sie profitieren davon. Was wir in der Energiepolitik nicht brauchen - insoweit ist die Entscheidung des Gipfels zu begrüßen -, sind weitere gemeinsame Institutionen und eine Erweiterung der Zuständigkeiten der EU. Die EU sollte zunächst einmal das erfolgreich machen, wofür sie schon zuständig ist. Ich möchte noch einige Bemerkungen zum Lissabonprozess machen. Das Abschlussdokument enthält eine endlose Aufreihung von Punkten, die im Wesentlichen richtig sind. Aber ich warne ausdrücklich davor, Ziele wie die Schaffung von jährlich 2 Millionen neuer Arbeitsplätze innerhalb der EU festzuschreiben. Andere Länder sind damit erfolgreich; wir sind es nicht. Damit werden Erwartungen an die EU geweckt, die sie nicht erfüllen kann. Es ist unredlich, wenn wir vom Europäischen Rat etwas beschließen lassen, das wir in Deutschland nicht umsetzen. Das führt zu Verdrossenheit, weil dann, wenn es nicht klappt, mit dem Finger auf die EU gezeigt und der Vorwurf erhoben wird, dass nur große Sprüche gemacht werden, aber nichts umgesetzt wird. Dabei liegt die Schuld dafür bei den nationalen Regierungen. Dort müssen die Hausaufgaben gemacht werden, statt zu versuchen, die Schuld auf Brüssel zu schieben. ({3}) Auf dem EU-Gipfel wurde die Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie begrüßt. Es ist zwar schön, dass etwas passiert, aber es handelt sich in diesem Fall um einen völlig mutlosen Schritt. Es fehlt der politische Mut. Ich glaube, das müssen wir alle deutlicher nach außen vertreten. Der Erfolg der Europäischen Union besteht gerade darin, dass wir alle unsere Märkte geöffnet und den politischen Mut gehabt haben, darauf zu bauen, dass wir letztendlich alle gewinnen, wenn wir unsere Märkte auch für unsere Nachbarn öffnen. Das war das Erfolgsrezept der Europäischen Union. In diesem Sinne ist der Kompromiss der Dienstleistungsrichtlinie außerordentlich enttäuschend. An dieser Stelle lässt sich auch noch die Position der Bundesregierung zur Freizügigkeit anführen, die ebenfalls von großer Mutlosigkeit geprägt ist. Es ist sehr schade. Sie verschenken eine große Chance, zu zeigen, welchen Mehrwert Europa bringen kann. ({4}) Lassen Sie mich zur Verfassungsdebatte nur so viel feststellen: Sie haben sich im Koalitionsvertrag sehr viel vorgenommen. Inzwischen haben Sie erkannt, dass das, was Sie angepeilt haben - nämlich schnell neue Impulse zu geben -, nicht realistisch ist, und jetzt rudern Sie zurück. Die Kanzlerin rudert zurück, auch öffentlich. Ich glaube, dass es neben der Denkpause, die wir hinsichtlich der Verfassung einlegen müssen, wichtig ist, in der Zeit bis zur Ratifikation der Verfassung Erfolge vorzuweisen. Es wird nicht genügen, den Text etwas zu ändern. Für die Stimmung in den Mitgliedsländern wird vielmehr wichtig sein, klar zu machen, dass Europa ein Erfolg und für die Bürger von Vorteil ist. Daran müssen wir in den nächsten Monaten und Jahren arbeiten. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Manfred Grund, Fraktion der CDU/CSU.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Es muss schon etwas Besonderes passiert sein, wenn sich der Deutsche Bundestag innerhalb von drei Wochen zweimal mit einem Thema, mit einem Land wie Belarus beschäftigt, und dies sogar - abweichend von der Tagesordnung - in der Haushaltswoche. Was ist passiert? Warum weichen wir von der Tagesordnung ab? Es ist uns nicht egal, wenn in einem europäischen Land, anderthalb Flugstunden von hier entfernt, Tausende Menschen mit Polizeiknüppeln durch die Straßen getrieben werden, nur weil sie von ihrem Menschenrecht auf Demonstrationsund Versammlungsfreiheit Gebrauch machen. ({0}) Es ist uns nicht egal, wenn Tausende verhaftet und in Gefängnisse gebracht werden - die Angehörigen erfahren noch nicht einmal, wo sie sind - und ihnen Haftstrafen von bis zu zwölf Jahren drohen, nur weil sie von diesem Recht Gebrauch gemacht haben. Es darf uns nicht egal sein, wenn Menschen beginnen, ihre Angst vor einer Diktatur zu überwinden. Das bedarf unserer aktiven Unterstützung. ({1}) Liebe Frau Knoche, ich verstehe oft nicht die möglicherweise besondere Affinität der Linkspartei zu Diktaturen. Ob es Milošević oder Saddam Hussein gewesen ist, ob es Fidel Castro oder Lukaschenko ist, ich verstehe nicht, was an der Politik dieser Diktatoren sozialistisch oder demokratisch sein soll. Sie ist einfach reaktionär und menschenverachtend. ({2}) Am 19. März dieses Jahres fanden Präsidentschaftswahlen in Belarus statt. Diese Wahlen waren per se illegitim; denn sie beruhten auf einer Verfassungsänderung, auf einem Referendum vom 17. September 2004, mit dem sich Lukaschenko die Möglichkeit verschafft hat, zu einer dritten bzw. sogar zu einer vierten Amtszeit anzutreten. Die OSZE-Beobachter, die schon 2004 dort gewesen sind, bestätigen: Diese Wahlen waren gefälscht und widersprachen der belarussischen Verfassung. Das steht unzweifelhaft fest. Nun hat sich Lukaschenko am 19. März selbst inthronisiert. Er hätte durchaus die Möglichkeit gehabt, sich einen demokratischen Anschein zu geben; denn 50 bis 60 Prozent der belarussischen Gesellschaft - wir können es nicht genauer quantifizieren - sind durchaus mit der wirtschaftlichen Situation einverstanden. Hinzu kommt, dass die Entwicklungen in den Nachbarländern alles andere als ermutigend sind. Den Belarussen fehlt es erstens an Perspektiven und zweitens an Informationen. Ich, der ich zusammen mit anderen Kollegen als Wahlbeobachter dort gewesen bin - es wäre wünschenswert gewesen, wenn auch die Linksfraktion einen Wahlbeobachter gestellt hätte - und erlebt habe, wie man Wahlen manipuliert und Menschen einschüchtert, weil ich aus einer Diktatur komme, habe in Belarus die gleiche Situation vorgefunden, die ich bis 1989 in der DDR zur Genüge erlebt habe. Den Menschen werden Informationen vorenthalten. Sie leben in Angst und Abhängigkeit und es fehlt ihnen an Perspektiven. Wir konzedieren aber mit Freude, dass die Belarussen beginnen, ihre Angst abzulegen, und dass sich die Oppositionsparteien das erste Mal seit 1996 organisieren und sich mit Alexander Milinkewitsch auf einen Kandidaten verständigt haben, der durchaus in der Lage ist, Vertrauen zu vermitteln. Die entscheidende Frage ist aber, wie die Menschen nicht nur in Minsk, sondern auch in der belarussischen Provinz informiert werden können. Hier haben wir, die Europäische Union und insbesondere Deutschland, mit Informationsprogrammen, mit Radioprogrammen zu wirken begonnen, um das Meinungsmonopol des Staates bzw. des Regimes zu brechen. Wir sollten an diesen Informationsprogrammen festhalten bzw. sie sogar ausdehnen. ({3}) Wir wollen keine Subversion ausüben. Aber wir wollen, dass die Menschen Informationen bekommen. Das ist der erste Punkt. Zweitens. Mit unserem fraktionsübergreifenden Antrag - eine Fraktion trägt ihn nicht mit - fordern wir Lukaschenko und sein Regime auf, die Verhafteten freizulassen bzw. für faire und transparente Verfahren zu sorgen, zu denen auch die Öffentlichkeit zugelassen ist. Wir möchten, dass Alexander Kosulin, einer der Oppositionsführer, umgehend freigelassen wird und dass ein intensiver Dialog darüber geführt wird - das sage ich an die Adresse der Europäischen Union, aber auch an die unserer Regierung -, wie wir in Zukunft mit dem Regime in Belarus umgehen sollen. Welches Angebot haben wir im Rahmen der europäischen Nachbarschaftspolitik zu machen? Bei welchen Angeboten ist das Regime bereit, mit uns zusammenzuarbeiten? Wie können wir die Zivilgesellschaft und die Opposition stärken? Das hat viel mit Information zu tun. Möglicherweise, Herr Kollege Trittin, müssen wir uns auch überlegen, ob wir demnächst tatsächlich 60 Euro für ein Schengenvisum nehmen können, das jemand aus Belarus braucht, um in die baltischen Staaten, nach Polen oder nach Deutschland zu kommen. Ich glaube, dass wir in der Lage sind, Visaerleichterungen von Visamissbrauch zu trennen. Wir sind aufgefordert, der belarussischen Zivilgesellschaft Informationen zukommen zu lassen und sie auf ihrem Weg zu ermutigen. Bei den Gesprächen, die wir mit Russland führen, dürfen wir Belarus nicht ausnehmen. Der Schlüssel für die Lösung der Situation in Belarus liegt nämlich in Russland. Russland subventioniert die belarussische Wirtschaft mit wahrscheinlich 7 Milliarden Euro im Jahr; ohne diese Mittel würde das System in sich zusammenbrechen. Also: Dialog mit Russland und der Opposition in Belarus, abgestimmte Initiativen innerhalb der Europäischen Union, in jeder Weise Ermutigung der belarussischen Zivilgesellschaft, die Gott sei Dank beginnt, ihre Angst vor dem Diktator zu überwinden. Dazu braucht unser Antrag eine breite Zustimmung. Wir selbst brauchen einen langen Atem, weil sich das Problem nicht von heute auf morgen lösen lassen wird. Demokratischer Wandel braucht eben etwas länger. Wir sind aber auf einem guten Weg und dafür bin ich uns und Ihnen allen sehr dankbar. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Norman Paech, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesaußenminister, Sie haben es erwähnt: Morgen empfangen Sie Vertreter der fünf ständigen Mitglieder des UNO-Sicherheitsrates, um mit ihnen ein Problem zu besprechen, das die USA als das größte außenpolitische Problem der nächsten Zukunft bezeichnet haben, nämlich das iranische Atomprogramm. Nun haben die USA sich entschlossen, wie damals im Falle des Iraks den Schraubstock des UN-Sicherheitsrats auch dem Iran anzulegen. Man weiß allerdings nie, wer dabei mehr in die Klemme kommt: der, der dreht, oder der, der eingeklemmt werden soll. ({0}) Sie versichern zwar immer - ich glaube Ihnen das auch -, Herr Steinmeier, dass es nicht zu militärischen Sanktionen kommen soll. Aber was verleitet Sie eigentlich, Ihren Kollegen Rumsfeld und Cheney nicht zu glauben, die immer wiederholen, dass nichts ausgeschlossen werden darf und damit auch nicht die militärische Option? Wer sich - das ist die Warnung - in den Mechanismus des UNO-Sicherheitsrats begibt, wird es schwer haben, sich aus ihm wieder herauszulösen, bevor alle seine Mittel ausgeschöpft sind. Kapitel VII der UNO-Charta ist in den Händen Ihrer Kollegen ein vergiftetes Friedensangebot, weil die militärische Option immer enthalten ist. ({1}) Vor zwei Tagen erst hat das hier in Berlin eine große Rolle gespielt, als der ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski auf einem Forum der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung diese Option als ein Hindernis für die Verhandlungen bezeichnet hat, weil sie auf der Seite derer, mit denen man verhandeln will, eigentlich nur Furcht erzeugt. Wenn Sie, Herr Bundesminister, den Verhandlungsweg noch nicht abgeschrieben haben, wird es morgen auch um einen Kompromissvorschlag an den Iran gehen, das heißt konkret: um den Abschied von der Maximalforderung an den Iran, vollständig und auf unbestimmte Zeit auf die Urananreicherung zu zivilen Zwecken zu verzichten. Staatsminister Erler hat einen solchen Schritt bereits angedeutet und das ist sehr positiv. Machen wir uns Folgendes einmal klar: Da geben sich die Staaten einen Atomwaffensperrvertrag als Atomwaffenordnung und dann kommen die mächtigsten Staaten daher und zwingen die schwächeren Staaten, auf die Rechte aus diesem Vertrag zu verzichten. Gleichzeitig kümmern sich die stärksten Staaten einen Dreck um ihre eigenen Verpflichtungen aus diesem Vertrag, ({2}) indem sie immer neue Generationen von Atomwaffen - ob Mininukes oder Trident-Nachfolger - entwickeln. Diesen Zynismus können Sie niemandem vermitteln; so etwas ist zutiefst unglaubwürdig. ({3}) Eine Maxime jeder glaubwürdigen Außenpolitik lautet doch: Behandle andere nach den gleichen Prinzipien, nach denen du selbst behandelt werden möchtest! Das gilt auch für einen zweiten Konflikt, den ich ansprechen möchte und der seit langem die Form eines Zermürbungskrieges angenommen hat, den Konflikt zwischen Palästina und Israel. Ohne eine Lösung wird der ganze Nahe und Mittlere Osten nie zur Ruhe kommen. Sie kennen den Vorschlag, den wir gemacht haben: eine Konferenz für Frieden und Zusammenarbeit im Nahen Osten einzuberufen, die nicht nur helfen soll, das Palästinaproblem, sondern auch das Problem des iranischen Atomprogramms zu lösen. Nach zwei Wahlen in Palästina und in Israel kann die deutsche Außenpolitik ihre immer zu Recht betonte Verantwortung für die Region nicht mehr dadurch erfüllen, dass sie auf der einen Seite Druck erzeugt, der anderen Seite aber alles, was sie macht, ohne einen offenen Kommentar durchgehen lässt. Es ist vollkommen richtig, von einer von der Hamas geführten Regierung die Anerkennung des Existenzrechts Israels, die Einhaltung der abgeschlossenen Verträge und der internationalen Verträge und die Einstellung aller Terrorakte und aller Gewalt zu fordern. Aber fordern Sie auch von der neuen Regierung in Jerusalem nicht nur die Einhaltung der Roadmap, die - auch durch die vergangene israelische Regierung - vollkommen verschlissen ist, sondern auch ganz konkret die Anerkennung eines souveränen palästinensischen Staates, die Einhaltung aller Verträge und des Völkerrechts, die Aufgabe der Besatzung der Westbank und den Abzug aller Siedler sowie die Einstellung des Terrors der gezielten Tötungen. ({4}) Erst wenn Sie mutig auch an diese Seite des Konflikts herangehen, zeigt sich die wahre Verantwortung der deutschen Außenpolitik. Und nur dann kann es eine dauerhafte Lösung des Konflikts im Nahen und Mittleren Osten geben. Danke sehr. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Marieluise Beck, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur ein Satz zu Herrn Paech: Wer sich in dieser Weise von der Politik der Vereinten Nationen absetzt, für den bleibt nur noch nationale oder nationalistische Politik. Das möchte ich hier festhalten. ({0}) Ich bin dem Kollegen Grund sehr dankbar - wir waren uns über alle Fraktionen hinweg darin einig -, dass er so eindringlich die Situation in Belarus geschildert hat. Es gibt seitenlange Listen mit Verhafteten. Es gibt Berichte von jungen Frauen, von Studentinnen, dass sie in der Haft von Milizen mit Vergewaltigung bedroht worden sind und ihnen gesagt worden ist, sie würden in den Wald verschleppt und dort umgebracht. Es geht dort also ganz fürchterlich zu. Wir sollten uns darüber im Klaren sein: Das eigentlich Entscheidende wird sein, dass wir unser Interesse an Belarus aufrechterhalten. ({1}) Wir haben in kurzer Zeit zweimal darüber debattiert. Sie haben sicherlich eine realistische Einschätzung gegeben, als Sie sagten, wir würden einen langen Atem brauchen. Die Reformbewegung und die Opposition werden einen langen Atem brauchen. Deswegen brauchen auch wir einen langen Atem. Es gibt über ganz vieles Einigkeit: Das Regime Lukaschenko ist diktatorisch. Die Wahlen waren weder frei noch fair. Das Lukaschenko-Regime ist für uns kein Partner. Es gibt Einigkeit in der Forderung nach Freilassung der Verhafteten. Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass es nach wie vor seit dem 16. September 1999 vier Verschwundene gibt, deren Schicksal nie aufgeklärt worden ist, und es gibt einen ehemaligen Marieluise Beck ({2}) Oppositionsführer, der auch schon sehr profiliert war, Herrn Marinitsch, der mit seiner Verhaftung aus dem Verkehr gezogen worden ist und fast schon vergessen zu werden droht. Das darf nicht noch einmal mit Milinkewitsch passieren. ({3}) Es gibt aber auch eine andere Entwicklung. Die Angst scheint gebrochen zu sein. Es gibt eine sichtbare Opposition und es gibt Führungspersonen in dieser Opposition. Wir können vor allen Dingen feststellen: Der nächste Anlauf wird von einem höheren Niveau aus beginnen. Die Frage ist jetzt, was es für uns zu tun gibt. Wir haben eben über die Informationspolitik gesprochen. Die Reichweite des erwähnten Radiosenders ist vollkommen unzulänglich. Da muss etwas passieren. Zum Beispiel muss der Visabann auf diejenigen ausgeweitet werden, die sich Verbrechen schuldig machen. Ich glaube, da sind wir uns einig, Stichwort „Einfrierung von Auslandskonten“. Sanktionen zu verhängen, ist ein zweischneidiges Schwert. Wir wissen, dass Saddam Hussein ökonomische Misswirtschaft immer auf Sanktionen statt auf die eigene Politik schieben konnte. Wir sollten wissen: Belarus exportiert Energie, die es billig von Russland bekommt, und erzeugt Düngemittel in großem Umfang. Wir sind Abnehmer. Devisen sind ein mächtiges Mittel. Über diesen Zusammenhang ist nachzudenken. Das Wichtigste bleibt allerdings die Unterstützung der mutigen Menschen in Belarus. Wir wissen, es sind vor allen Dingen junge, gut ausgebildete Menschen, die sich in dieses dumpfe System Lukaschenko nicht mehr einbinden lassen wollen. Hier kommt jetzt unsere Verantwortung ins Spiel. Wir wissen, dass viele dieser jungen Menschen eine Exmatrikulation zu erwarten haben. Uns ist bekannt, dass viele Wissenschaftler nicht mehr werden weiterarbeiten können. Wir sollten dem Beispiel der polnischen Rektorenkonferenz folgen. Sie hat sich dazu bereit erklärt, 200 Studenten an polnischen Universitäten aufzunehmen. ({4}) Ich hoffe - damit verbunden ist ein eindringlicher Appell -, dass wir uns in Deutschland - vielleicht sogar zusammen mit Frankreich und Polen - zu einer solchen Initiative durchringen können; denn sonst leisten wir keine Unterstützung, sondern weinen nur Krokodilstränen. Das sollten wir nicht tun. Um es hier klar zu sagen: Es wird dabei auch um Stipendien gehen, um Sprachkurse und Ähnliches mehr. Über die Frage der restriktiven Visavergabe kann hier anscheinend wieder rational gesprochen werden. Wer sich isoliert, der darf sich nicht wundern, dass der Informationsaustausch nicht funktioniert. Wir müssen nach Wegen der Öffnung suchen. Die 60 Euro für ein Schengenvisum sind ein Riesenproblem. Auch darüber ist zu sprechen. Wir alle wissen, dass der Schlüssel zur Lösung der Probleme in Russland liegt. Deswegen möchte ich den Blick sehr gern noch kurz auf die Entwicklung der russischen Innenpolitik lenken. Die Bundeskanzlerin hat gesagt, es geht um eine strategische Partnerschaft mit Russland. Ich frage jetzt noch einmal: Was heißt das konkret? Wir sehen mit ganz großer Sorge, dass durch das NGO-Gesetz die demokratischen Strukturen und die Zivilgesellschaft in Russland immer stärker unter Druck gesetzt werden. Es gibt eine Kampagne gegen Nichtregierungsorganisationen, insbesondere gegen Bürgerrechtsorganisationen, an allererster Stelle gegen die Russisch-Tschetschenische Freundschaftsgesellschaft. Es hat einen Grund, dass ein massiver Druck auf diese Organisation ausgeübt wird. Die Kampagne richtet sich aber auch gegen Memorial, gegen die Moskauer Helsinki-Gruppe und gegen die Soldatenmütter. Das alles muss uns interessieren, denn dort befindet sich der Keim der Demokratie in Russland. Man versucht jetzt, ihn zu zerstören, indem man den Vorwurf erhebt, ausländische Gelder würden genutzt, um umstürzlerische Kräfte zu unterstützen. Putin weiß, dass das nicht wahr ist. Der ihn stützende FSB weiß das auch. Das müssen wir deutlich aussprechen und wir müssen an der Seite dieser NGOs stehen. ({5}) Wir müssen in diesem Haus auch wieder über Tschetschenien reden. Die schwierigen Auseinandersetzungen im Irak, der Extremismus eines Ahmadinedschad, das weltweite islamistische Terrornetz, das alles rechtfertigt nicht die nackte, oft ziellose und immer haltlosere Gewalt gegenüber den Tschetschenen, übrigens auch gegenüber Inguschen, Nordosseten und anderen nordkaukasischen Völkern. Entführungen, wahllose Verhaftungen, Folter, erpresste Geständnisse, erzwungene Denunziationen, ein Marionettensystem Kadyrow, das immer mehr paramilitärische Terrortruppen entwickelt, das alles dürfen wir hier nicht schweigend hinnehmen. ({6}) Derzeit hat niemand eine Antwort darauf, wie es in Tschetschenien weitergehen soll. Anders als damals aus Bosnien gibt es aus Tschetschenien keine Bilder. Ich fordere dieses Haus und auch die Regierung auf, den Blick dennoch wieder in den Nordkaukasus zu richten und dem strategischen Partner Russland sehr deutlich zu sagen, dass G 8 zu G 7 wird, wenn man nicht zu Rechtstaatlichkeit und Demokratie zurückkehrt. ({7}) Für den Europarat heißt das: Einen Vorsitz kann nicht haben, wer im Windschatten des Kampfes gegen den islamistischen Terror viele Menschen im Kaukasus zu Unrecht terrorisiert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Menschenrechte sind unteilbar. Wir sind uns in diesem Haus darüber weitgehend einig. Ich wünsche mir sehr, dass wir auch in diesem Hause, im Plenum und im Ausschuss, wieder über das schwierige Thema Tschetschenien sprechen. Schönen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Axel Schäfer, SPDFraktion.

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist erfreulich, dass es in diesem Hause in der außen- und europapolitischen Debatte unter vier Fraktionen eine große Übereinstimmung gibt, vor allem weil das nicht überall in Europa der Fall ist. ({0}) Dennoch sollten wir gerade auf dieser Grundlage durchaus unterschiedliche Pointierungen vornehmen. Es kommt ja nicht nur darauf an, dass man diskutiert, sondern auch darauf, wie man diskutiert. Also: nach vorn gewandt, mit Mut und nicht mit Kleinmut! Der erste Punkt. Wir setzen den europäischen Verfassungsprozess fort. Ende dieses Jahres werden zwei Drittel aller Länder ratifiziert haben; wir sind dabei. Wir sollten diejenigen, die jetzt die Ratspräsidentschaft übernehmen - Portugal, Tschechien, Schweden -, daran erinnern, dass sie eine besondere Verantwortung haben, in der Zeit ihrer Präsidentschaft die Ratifizierung erfolgreich durchzuführen. ({1}) Wenn wir diesen Prozess am Leben halten, setzen wir auch ein eindeutiges Kontra zu Sprüchen wie „Die Verfassung ist tot“ oder „Nizza oder der Tod“. Wir können seriös nicht vor 2009 entscheiden, wie bestimmte Probleme überwunden werden müssen; Stichwort: die beiden Referenden in den Niederlanden und in Frankreich. Ein Zweites. Die Beitrittsperspektive bleibt. Europa ist für europäische Länder offen, seit die Grenzen offen sind. Es darf sich keine Methode entwickeln, die da heißt: Das Boot ist voll. - Das Boot braucht wohl eine neue Steuerung und einen stärkeren Motor, aber wir müssen die von uns eingegangenen Verpflichtungen erfüllen und mit der europäischen Perspektive auch allen Hoffnungen gerecht werden, die in den Ländern bestehen. Gleichzeitig müssen wir deutlich machen - da sind wir wieder bei der Verfassung -, dass die Aufnahme weiterer Staaten nur möglich ist, wenn wir eine gemeinsame europäische Verfassung beschlossen haben. Das gehört zusammen. ({2}) Ein Drittes. Wir lösen Probleme. Die Europäische Union ist in der Globalisierung - das sollten wir deutlich machen - ein Mittel, Politik zu gestalten, nicht ein Teil des Problems. Deshalb ist es so wichtig, dass die ersten Schritte der großen Koalition in Europa gemacht wurden. Bei der Finanziellen Vorausschau und jetzt bei der Dienstleistungsrichtlinie ist Übereinstimmung erzielt worden und sind Dinge nach vorn gebracht worden. Ein vierter Punkt. Wir widersprechen klar allen neonationalistischen oder populistischen Reden, auch dort, wo das bis hin in hohe Regierungskreise oder bis an die Spitze von Nachbarstaaten geht, selbst wenn diese Länder uns wichtig sind und wir alle die Menschen dort mögen. Das sage ich bewusst auf der einen Seite in Richtung Dänemark und auf der anderen Seite in Richtung Polen. ({3}) Entsprechendes gilt aber auch für unser Land. Eine Form, Euroskeptizismus und Nationalismus zu fördern, ist das, was wir leider von der Linkspartei hören. ({4}) Das ist im Übrigen der Abschied von europäischen Traditionen, die von bedeutenden Menschen wie Altiero Spinelli begründet worden sind. Ein Fünftes. Wir Deutsche haben eine besondere Verantwortung. Das wird sich auch in der Ratspräsidentschaft zeigen. Aber wir müssen bestimmte Dinge schon jetzt praktizieren. Wir fangen damit an, zum Beispiel mit der Übereinkunft von Bundestag und Bundesregierung über eine stärke Europäisierung des Parlaments. Ich kündige hier für die SPD an: Wir werden einmal schauen, ob es 2009 gelingt, dass unser Kandidat oder unsere Kandidatin aus Deutschland für die EU-Kommission hier vor diesem Hause in einer öffentlichen Anhörung zu Europa Rede und Antwort steht, bevor er oder sie in Brüssel angehört wird. Das wäre ein guter Beitrag. ({5}) Zusammenfassend Folgendes, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir leisten als Deutsche einen Beitrag zu Europa. Der deutsche Europabeitrag in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren der Griff danach, Weltmacht zu werden, und der Weltkrieg. Der deutsche Beitrag in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, in einem gemeinsamen Europa als Deutsche dem Frieden in der Welt zu dienen. Daran arbeiten wir; das ist wichtig. Das ist deutsche Politik in Europa; das ist europäische Politik in Deutschland. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehm? - Das verlängert Ihre Redezeit.

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Redezeit war schon zu Ende. ({0})

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich frage Sie trotzdem sehr gerne, Kollege Schäfer. Geben Sie mir Recht, dass es keinen Hauch von Nationalismus gibt, wenn man sich auf den heißen konstitutionellen Atem unseres Grundgesetzes von 1949 und nicht auf den eiskalten Hauch des Neoliberalismus bezieht, indem man in einer neuen europäischen Verfassung, in einem neuen Europa die Sozialbindung des Eigentums nach Art. 14 - „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ verankert, statt Neoliberalismus hineinzuwünschen? ({0})

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die europäische Verfassung hat wichtige, zentrale Elemente des Grundgesetzes übernommen. Sie brauchen hier keine Ausrede zu finden, warum Sie zusammen mit den französischen Neofaschisten eine Kampagne gegen die EU-Verfassung machen. Dafür gibt es keine Entschuldigung! ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Harald Leibrecht, FDPFraktion. ({0})

Harald Leibrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003581, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das weißrussische Volk hat gewählt; aber eine echte Wahl war es nicht. Ich danke den Wahlbeobachtern, auch aus diesem Hohen Haus, die nach Weißrussland gefahren sind, sich die Sache dort angeschaut haben und schockiert zurückgekommen sind. Das weißrussische Volk wurde einmal mehr von Lukaschenko betrogen; das müssen wir deutlich und klar aussprechen. ({0}) Der Betrug fing bereits sehr viel früher an, schon bei der Kandidatenaufstellung, und hat sich durch den ganzen Wahlkampf gezogen. Ein Regime wie in Weißrussland, das die Menschenrechte mit Füßen tritt, das seinem eigenen Volk freie Wahlen abspricht, das friedliche Demonstranten mit Knüppeln niederschlägt und unbequeme Kritiker ohne Grund verhaften lässt, muss endlich deutlich und klar von der internationalen Völkergemeinschaft in die Schranken gewiesen werden. ({1}) Die Wahlen dort waren eine Farce und alle wissen das. Ich hoffe, dass auch die Linken sich davon einmal überzeugen lassen. Meine Damen und Herren, die weißrussische Opposition hat sich nach Kräften bemüht, den Wählern trotz aller Behinderungen, Einschüchterungen und Verhaftungen eine echte Alternative zu bieten; doch sie hatte von Anfang an keine Chance. Ich bewundere den großen Mut und die Zivilcourage der Menschen, die nach diesem Wahlbetrug in Minsk auf die Straße gingen. ({2}) Natürlich werden hier Erinnerungen an die orangene Revolution in der Ukraine wach, wo die Demokratie bei den Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag letztendlich wieder beeindruckend bestätigt wurde. Jetzt geht es darum, das weißrussische Volk, die Demokraten dort nicht allein zu lassen. Die Menschen in Weißrussland haben wahrlich etwas Besseres verdient als diesen ewiggestrigen Diktator Lukaschenko. ({3}) Ich danke Kollegen Grund, dass er klar ausgesprochen hat, dass gerade wir Deutschen im wiedervereinigten Deutschland eine besondere Verantwortung haben, demokratische Kräfte in unterdrückten Staaten zu unterstützen. Ich bin froh über die Debatte, die wir heute hier führen, und über den interfraktionellen Antrag. Das sind, glaube ich, ganz wichtige Signale, die zur richtigen Zeit aus diesem Hohen Haus kommen. Solche Signale der Unterstützung und der Solidarität werden in Weißrussland durchaus gehört, auch wenn es dort nach wie vor große Unterdrückung und Einschränkungen der Pressefreiheit gibt. Mit dieser Debatte machen wir Lukaschenko und Co unmissverständlich deutlich, dass wir die Existenz eines Unterdrückungsregimes mitten in Europa nicht einfach hinnehmen. Wir Deutschen, aber auch die anderen europäischen Regierungen müssen jetzt endlich handeln. Wir müssen die Demokratiebewegung dort unterstützen, mit Kontakten, Besuchen und Einladungen, aber natürlich auch mit Geld, Material und Informationen. Wir müssen auch Sanktionen gegenüber der weißrussischen Nomenklatura durchsetzen, also zum Beispiel Konten einfrieren oder weitere Reisebeschränkungen für politische Führungskräfte aussprechen. ({4}) Da muss auch Russland mitmachen. Ich bin Frau Kollegin Beck für ihre klaren Worte dankbar. Wir haben diese oft eingefordert. Aber ich hätte mir diese kritischen Worte im Hinblick auf die demokratische Entwicklung in Russland, über die wir sehr besorgt sind, damals von unserem früheren Außenminister Fischer und dem früheren Bundeskanzler Schröder gewünscht. Danke schön. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Thomas Silberhorn, CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Selten stand eine Bundesregierung in der Außen- und Europapolitik so kurz nach Regierungsantritt vor so gewaltigen und auch drängenden Herausforderungen. Ich glaube, es ist sowohl der Bundeskanzlerin als auch Ihnen, Herr Bundesaußenminister, ausgesprochen gut gelungen, mit Umsicht, mit Hartnäckigkeit und mit einigem Geschick diese Herausforderungen anzugehen und zu zeigen, dass Sie Ihr Amt vom ersten Tag an im Griff haben. Deswegen möchte ich die Gelegenheit nutzen, Ihnen dafür ein herzliches Dankeschön zu sagen. ({0}) Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind in der Tat gewaltig. Gestatten Sie mir, dass ich mich hier auf die europäischen Fragen beschränke. Die Europäische Union hat nach der Osterweiterung und nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages in den Niederlanden und in Frankreich ihren neuen Rhythmus ersichtlich noch nicht gefunden. Ganz im Gegenteil: Wir müssen feststellen, dass die Heterogenität in den Mitgliedstaaten zugenommen hat. Wir müssen auch feststellen, dass ganz entgegengesetzte Vorstellungen in der Ordnungspolitik und bei den integrationspolitischen Zielen vorherrschen. Wir müssen erneut folgende Fragen beantworten: Wollen wir in Richtung Liberalisierung oder in Richtung eines neuen Wirtschaftspatriotismus gehen? Wollen wir weiterhin vertiefte Integration oder wollen wir zurück zu einer gehobenen Freihandelszone? Es ist an der Zeit, dass wir gemeinsam unsere Ziele neu definieren und den Kurs neu bestimmen. Für mich ist dabei klar: Wir können nicht den Weg zurück in Richtung einer neuen Abschottung gehen. Dieser Weg ist sicherlich nicht dazu geeignet, die vor uns stehenden Herausforderungen zu bewältigen. Wir müssen vielmehr weiter nach vorne schauen. Dabei dürfen wir aber nicht in eine operative Hektik verfallen, solange noch weitgehend geistige Windstille über den zukünftigen Kurs herrscht. Ich rate uns deswegen, beim Vorwärtsgehen nicht so schnell zu laufen, dass wir über die eigenen Füße stolpern, wie das jetzt beim europäischen Verfassungsvertrag passiert ist. Ich hoffe, dass dies im Hinblick auf die Erweiterungsstrategie nicht ein weiteres Mal passiert. Ein erster denkbarer Schritt ist die Hinwendung zu einer soliden Finanzpolitik in der Europäischen Union. Ich möchte dieses Thema im Rahmen dieser Haushaltsdebatte nur kurz streifen. Das betrifft zwar erst die Haushalte ab 2007, aber ich denke, es muss auch in der Europäischen Union deutlich werden, dass der von der Regierungskoalition gewählte Dreiklang - sanieren, reformieren und investieren - auch in der Europäischen Union beherzigt wird. Die Europäische Union darf sich nicht von den internen Problemen, vor denen die Mitgliedstaaten stehen, abkoppeln. Eine solide Haushaltspolitik ist sicher nicht die allein selig machende Politik für mehr Wachstum und Beschäftigung. Aber sie ist unabdingbar dafür, dass wir auf diesem Weg vorankommen. Wir müssen deshalb an die Adresse unserer Kollegen im Europäischen Parlament deutlich sagen, dass wir erwarten, dass auch die Europäische Union spart und eine solide Haushaltspolitik betreibt. Ich möchte in diesem Zusammenhang die Bundesregierung ermutigen, an der Ausgabenobergrenze, die beim Europäischen Rat in Brüssel im Dezember vereinbart worden ist, festzuhalten und sie nicht neu zu verhandeln. Es gibt genügend Gelegenheiten für die Kollegen aus dem Europäischen Parlament, auf der Ausgabenseite Umschichtungen vorzunehmen. Ich erinnere daran, dass beim Forschungsrahmenprogramm 20 Prozent des Haushaltsvolumens für die Verwaltung aufgewandt werden. Bei den Programmen SOKRATES und LEONARDO sind es etwa 40 Prozent. Daran erkennt man, dass es in der Tat eine ganze Reihe von Punkten gibt, die das Europäische Parlament verändern kann.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Silberhorn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehm? ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte schön.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nachdem ich die Redezeit des einen Koalitionspartners verlängert habe, möchte ich das in paritätischer Weise auch für den anderen Koalitionspartner tun. Herr Kollege Silberhorn, Sie waren mit uns in Paris. Dieses Treffen hat sowohl in der Rede des Kollegen Trittin wie auch vorhin in der Rede des Kollegen Schäfer eine Rolle gespielt. Als Kollege Schäfer die Nähe zu den Neofaschisten aufgemacht hat, hat es ganz gewiss nicht nur uns, sondern auch einigen anderen den Atem verschlagen. Können Sie sich wirklich dem Eindruck anschließen, dass die Gaullisten, Konservativen, Sozialdemokraten und andere, also diejenigen Kolleginnen und Kollegen aus Frankreich, die mit uns zusammen saßen und über die Parteigrenzen hinweg sagten, der Vertragsentwurf der europäischen Verfassung sei gescheitert, man wolle nicht wieder zurück zu ihm, in irgendeiner Nähe zu den Neofaschisten standen? Können Sie sich vorstellen, warum ausgerechnet während der „NonKampagne“, die von Links dominiert wurde, die Akzeptanz von Le Pen, also der Neofaschisten, auf ein Drittel gesunken ist?

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dehm, Sie haben schon vorhin an den heißen Atem appelliert, den Sie dem Grundgesetz entnehmen wollen. Ich meine, dass anstatt des heißen Atems ein kühler Kopf angebracht wäre, damit Sie sich in den politischen Aussagen, die Sie zum europäischen Verfassungsvertrag treffen, nicht in einer Linie mit Parteien am rechten Rand wiederfinden. ({0}) Ich möchte darauf hinweisen, dass die Kollegen aus der Assemblée Nationale in Paris den Verfassungsvertrag keineswegs für tot erklärt, uns aber die Problematik geschildert haben, dass sie ihrer Bevölkerung nach dem Scheitern des Referendums nicht ein zweites Mal einen identischen Vertragstext zur Abstimmung vorlegen können, weil sich die Abgeordneten aus der Assemblée Nationale natürlich verpflichtet fühlen - das muss man anerkennen -, vor dem Votum ihrer Wähler Respekt zu bezeugen. ({1}) Die Wähler könnten es möglicherweise als einen Affront empfinden, wenn man den Eindruck erweckt, als müsse man die Dinge nur richtig erklären und dann würden die Menschen beim zweiten Mal schon richtig abstimmen. Das war also keine Absage an den Verfassungsvertrag. Sie wissen sehr gut, dass es in Frankreich konkrete Vorstellungen gibt, wie man in Bezug auf diesen Vertrag weiter vorgehen könnte. Deswegen wird dieser Vertrag auch von französischer Seite nicht beerdigt. Aber es wird nach Möglichkeiten gesucht, wie man weiter vorgehen kann. Ich rate dazu, dass wir uns die Denkpause, die die Europäische Kommission vorgeschlagen hat, auch wirklich zu Herzen nehmen und sie möglicherweise bis Mitte 2007, bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die französischen Wahlen stattgefunden haben, verlängern. Wir sollten diese Zeit nutzen, von den hehren Zielen des Wünschenswerten hin zu dem zu kommen, was in der Situation, in der wir uns jetzt befinden, tatsächlich machbar ist. Wir werden - davon bin ich fest überzeugt - Handlungsdruck bekommen, die institutionelle Reform, die mit diesem europäischen Verfassungsvertrag angegangen werden sollte, tatsächlich zu erledigen, denn wir sehen, dass wir nach dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens mit dem Vertrag von Nizza nicht weiterkommen. Jeder weitere Beitritt setzt zwingend voraus, dass wir die institutionelle Reform regeln, das heißt, die Europäische Union tatsächlich handlungsfähig machen. Meine Empfehlung dazu wäre, dass wir spätestens den Beitritt, der nach dem von Bulgarien und Rumänien folgt, als politischen Hebel nutzen, um Druck zu erzeugen, damit wir mit der institutionellen Reform - ich füge hinzu: mit all dem, was ansonsten im Verfassungsvertrag steht - tatsächlich vorankommen. Ich darf dann einige Anmerkungen zum Thema Binnenmarkt machen. Ich glaube, dass es sinnvoll ist, sich in der Zeit, in der wir mit der institutionellen Reform nicht wirklich weiterkommen, denjenigen Herausforderungen zuzuwenden, die wir im Binnenmarkt haben. Mir scheint, dass auf dem Gipfel letzte Woche einige Ansätze dazu entwickelt wurden. Es ist dringend notwendig, dass wir die Dienstleistungsrichtlinie verabschieden und damit das deutliche Signal setzen, dass wir den Binnenmarkt vollenden wollen. Es ist auch das Signal erforderlich, dass die Überregulierung, die wir auf der europäischen Ebene immer wieder spüren, abgebaut wird; denn auch das ist ein Wachstumshemmnis. Es ist erfreulich und zu begrüßen, dass wir in der Energiepolitik nun ein europäisches Konzept erarbeiten wollen und im ersten Halbjahr 2007 im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft die Gelegenheit haben werden, darüber zu beraten. Ich meine, wir sind gut beraten, wenn wir mit diesen Maßnahmen den Wettbewerb aufnehmen und dafür sorgen, dass wir uns in Europa so aufstellen, dass wir auch im Verhältnis zu anderen Regionen dieser Welt, zu den USA, zu Japan und zum asiatischen Raum insgesamt, tatsächlich wettbewerbsfähig werden. Deswegen ist es notwendig, dass wir in der Binnenmarktpolitik den Blick nicht nur auf die Europäische Union richten, sondern auch darauf achten, dass wir nach außen hin wettbewerbsfähig werden. ({2}) Wenn das gelingt, wenn wir eine neue wirtschaftliche Dynamik und Wettbewerbsfähigkeit im Innern haben, dann ist es auch möglich, das Vertrauen der Bürger in die Europäische Union ein Stück weit zurückzugewinnen. Lassen Sie mich zum Thema Erweiterung nur einige wenige Sätze sagen. Ich glaube, wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn ausgerechnet die Europaskeptiker den Eindruck erwecken, als ginge es ihnen gar nicht schnell genug, möglichst viele Staaten in die Europäische Union aufzunehmen. Das sollte uns unsererseits skeptisch machen. Wir sollten die Erwartungen an Beitrittskandidaten und mögliche künftige Beitrittskandidaten aber nicht so hoch setzen, dass die Ziele nicht erreichbar sind. Wir müssen eine Strategie entwickeln, die berechenbar und in sich schlüssig ist. Dazu gehört, dass wir die Beitrittskriterien ernst nehmen und keine politischen Rabatte gewähren. Es ist eine Frage unserer eigenen Glaubwürdigkeit, die Einhaltung der Kriterien, die wir selbst aufgestellt haben, einzufordern. Die Kriterien müssen erfüllt werden, bevor es zu einem Beitritt kommt. Zur Politik der europäischen Erweiterung gehört ein Weiteres: Egal wie weit sich die Europäische Union noch ausdehnen wird, es wird immer Staaten geben, die jenseits der Außengrenze der Europäischen Union liegen. Deswegen ist es erforderlich, die Erweiterungsstrategie mit einer Nachbarschaftspolitik zu verbinden, die aber etwas differenzierter ausfallen muss, als sie es heute ist. Dazu gehört, dass wir Modelle entwickeln, die eine enge Kooperation mit der Europäischen Union unterhalb der Schwelle einer Mitgliedschaft ermöglichen. Dieses „Alles oder nichts“ muss durch differenzierte Modelle der Kooperation gedämpft werden. Dabei müssen wir jedoch nach Staaten und Regionen differenzieren. Denn es muss deutlich werden, dass wir nicht denselben Instrumentenkasten für jeden Nachbarstaat anwenden können. Lassen Sie mich zum Schluss einige Bemerkungen über die Rolle des Bundestages in der Europapolitik machen; das wird uns in den nächsten Wochen noch intensiv beschäftigen. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir im Rahmen der Vereinbarung, die wir mit der Bundesregierung schließen wollen, deutlich machen, dass es eine wirksamere Kontrolle der Bundesregierung durch den Deutschen Bundestag geben muss, und zwar mit dem Ziel, die demokratische Legitimation dessen, was die Bundesregierung an Rechtsetzung im Rat leistet, zu stärken. Zudem brauchen wir eine höhere Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit für das, was wir auf europäischer Ebene tun. Das Forum für diese öffentliche Aufmerksamkeit ist der Deutsche Bundestag. Deswegen glaube ich, dass wir Abgeordnete einen ganz spezifischen Beitrag dazu leisten können, mehr Transparenz und mehr demokratische Legitimation der europäischen Rechtsetzung zu erreichen und damit auch eine höhere Akzeptanz der Europapolitik in unserer Öffentlichkeit. ({3}) Das setzt voraus, dass wir als Bundestag mitgestalten und damit Mitverantwortung übernehmen für das, was Deutschland im Rahmen der Europapolitik in Brüssel mitberät und mitentscheidet. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Kollege Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke, das Wort. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es lohnt sich, am Ende einer außenpolitischen Debatte Bilanz zu ziehen, Herr Außenminister. Meine erste rein sachliche Feststellung ist - ich glaube, da können alle zustimmen -, dass es in diesem Hause zwei verschiedene Grundlinien gibt - Meinungsverschiedenheiten en detail einmal ausgeblendet -: eine Grundlinie, wie sie von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen als Konsens in der Außenpolitik betrachtet wird, und eine entgegengesetzte meiner Fraktion Die Linke. Das ist mir wichtig festzustellen. Wenn man das akzeptiert, muss man sich die Frage stellen, wo die Grunddifferenzen liegen. Es sind nicht die, die der Kollege Trittin beschrieben hat. Ich verstehe, warum er das getan hat; darüber brauchen wir nicht weiter zu reden. Die Hauptdifferenz ist jedoch eine andere. ({0}) Für die Mehrheit im Hause ist Krieg wieder zu einem Mittel der Politik geworden; für die Minderheit in diesem Hause darf Krieg kein Mittel der Politik sein. ({1}) Das ist die Grunddifferenz. Zwischen diesen Positionen kann man keine Brücke bauen. Deswegen verstehe ich alle, die immer sagen, dass die Außenpolitik der Linken es verhindere, regierungsfähig zu werden. Wenn der Preis für eine Regierungsbeteiligung ist, Ja zu Militäreinsätzen, Ja zu Krieg zu sagen, dann - das würde ich immer sagen - wollen wir nicht regieren, dann bleiben wir Opposition. ({2}) Wenn man das akzeptiert - Sie können sich noch verändern! -, muss man sich im Weiteren die Frage stellen, wo die strategischen Differenzen liegen. Ich möchte hier ein paar Dinge aussprechen, die in diesem Hause normalerweise nicht so ausgesprochen werden. Die Mehrheit hier im Hause - vier Fraktionen - wollen das Verhältnis zu den USA enger bzw. wieder enger gestalten. Ich möchte - das soll hier ausgesprochen werden -, dass sich Deutschland und Europa von der imperialen Politik der USA abkoppeln. ({3}) Das muss man aktiv betreiben. Das ist Gegenstand einer selbstständigen, einer souveränen und dann auch gegen Krieg gerichteten Politik. ({4}) - Hören Sie auf mit dem Unsinn! Es ist doch ein Problem, dass man bald die Haushaltsberatungen zur Außen- und zur Verteidigungspolitik zusammen abhalten könnte, weil die deutsche Außenpolitik in so starkem Maße zu Verteidigungs- und Militärpolitik geworden ist, weil man die Bundeswehr immer stärker als ein Instrument der deutschen Außenpolitik betrachtet und eingesetzt hat. ({5}) Deswegen ist eine Abkoppelung von den USA angesagt. Die Hauptgefahren für den Zustand der Welt gehen heute von den USA aus. Das kann man auch politisch nachweisen; es ist die Wahrheit. ({6}) Daran kommen auch Sie - gerade die Grünen - nicht vorbei. Wir wollen eine Agenda der Abrüstung. Das wäre einmal etwas Neues. Wir wollen, dass mit den Militäreinsätzen Schluss gemacht wird, dass der Sozialstaat - auch auf europäischer Ebene - endlich wieder eine Rolle spielt. Wir wollen soziale Balance statt Marktradikalität. Ich möchte Ihnen zum Schluss noch einen guten Rat mit auf den Weg geben - man redet manchmal in den Wind, aber immerhin! -: Schauen Sie sorgfältig nach Frankreich! Nehmen Sie zur Kenntnis, dass das, was momentan in Frankreich abläuft, eine Frühwarnung davor ist, was passiert, wenn man bei der jetzigen Politik bleibt. ({7}) Die Zustände waren auch der Grund für das Nein der Franzosen zum Verfassungsvertrag. Das könnte die Regierung berücksichtigen. Ich sage meiner Fraktion - man kann auch der eigenen Fraktion Ratschläge geben -: ({8}) Wir müssen lernen, mit unserer Regierung, mit unseren Unternehmern „französisch“ zu reden; denn die Sprache, die in Frankreich gesprochen wird, versteht selbst eine konservative Regierung. Auch die große Koalition würde sie auf jeden Fall verstehen. ({9}) Das ist ein Weg, Politik zu gestalten. Schönen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Fischer, CDU/CSU-Fraktion.

Hartwig Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003526, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, Sie haben eben gesagt, dass Sie hier im Parlament mit Ihrem Beitrag wahrscheinlich in den Wind reden. Sie sind heute der dritte von den Rednern der Linken, die im Zusammenhang mit dem Kongo von Krieg und Frieden gesprochen haben. Mich würde interessieren, ob ein Einziger von Ihnen in diesem Gebiet gewesen ist, der die mit Macheten zerstückelten Kinder gesehen hat, der in den Flüchtlingslagern gewesen ist, der mit Mädchen gesprochen hat, die über Jahre hinweg vergewaltigt worden sind, die seit drei Jahren sehen, dass es die Chance gibt, zu einer Regierung zu kommen, die von diesem Volk gewählt wird und das Land auf einen besseren Weg bringt. Das ist die Zielsetzung eines solchen Einsatzes. Darüber sollten Sie sich unterhalten; darüber sollten Sie reden. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Gehrcke, Sie haben die Chance zu einer Erwiderung.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Kollege, ich weiß nicht, bei welcher Rede Sie zugehört haben. ({0}) Ich habe überhaupt nicht vom Kongo gesprochen. ({1}) Ich habe von Grunddifferenzen gesprochen, ich habe die Frage von Krieg und Frieden angesprochen. Ich will aber Ihre Frage beantworten. Mich stören an diesem Einsatz folgende Punkte: Man ist nicht bereit, öffentlich die schlimmen und tatsächlich im Neokolonialismus wurzelnden Ursachen für den jahrzehntelangen Bürgerkrieg im Kongo sowie die Verantwortung von Belgien, anderen europäischen Ländern ({2}) und von großen europäischen Konzernen mit zu diskutieren. Mich stört, dass der kongolesische Staatspräsident Kabila das - sagen wir es einmal freundlich - Angebot, Truppen zu entsenden, der Presse entnehmen musste und vorher nicht gefragt wurde. Dass er das Angebot von Solana nicht ablehnen konnte, versteht sich von selbst. So springt man mit Kolonien, aber nicht mit selbstständigen Staaten um. Das ist ein ungeheuerlicher Zustand. Das wird keiner leugnen können. ({3}) Diese Information hat eine Reihe von Kollegen in diesem Hause in Gesprächen mit dem belgischen Außenminister erhalten. Das darf nicht sein. Schlussendlich kann, so glaube ich, eine gut ausgebildete Polizei - die sollte man unterstützen - mehr ausrichten als die europäischen Truppen, denen man mehr Durchsetzungsvermögen zutraut als der multinationalen Armee, die schon im Kongo steht. All das sind Argumente für die Feststellung: Um den Schrecken im Kongo zu beenden, müssen wir mehr und etwas anderes tun, als nur Militär dorthin zu schicken. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Erika Steinbach, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In der heutigen Debatte haben praktisch alle Fraktionen dieses Hauses, mit Ausnahme der Linken, deutlich gemacht: Deutsche Außenpolitik ist in einem erheblichen Ausmaß Menschenrechtspolitik. ({0}) Natürlich ist deutsche Außenpolitik - das ist eine Binsenweisheit - auch Interessenpolitik für dieses Land. Zu diesen Interessen gehören aber nicht nur gute Handelsbeziehungen, die wir als Exportnation brauchen, um unsere Produkte verkaufen zu können, und die wir als Importland brauchen, um Rohstoffe und Energie einkaufen zu können; das ist elementar. Vielmehr brauchen und wollen wir auch ein versöhntes Europa, ein Europa, in dem die vielen Völker nach den Verwerfungen zweier Weltkriege dauerhaft friedlich miteinander leben können. Davon ist die deutsche Außenpolitik geprägt. So wie in Deutschland noch heute Millionen von Menschen mit ihren Traumata und ihren unverarbeiteten Kriegs- und Nachkriegserfahrungen leben, gibt es auch in unseren Nachbarländern millionenfache Empfindlichkeiten und Schmerzen, die ihre Ursache in der Vergangenheit haben. Davon blieb und bleibt insbesondere die deutsche Europapolitik bis heute nicht unberührt. Sie ist vielmehr von dem Bestreben geleitet, das aufzuarbeiten. Nahezu jede Begegnung mit mittel- und osteuropäischen Staatschefs ist von diesen Erfahrungen geprägt. Aber auch in den Begegnungen zwischen einzelnen Menschen, die glücklicherweise tagtäglich tausendfach stattfinden, wird dem Rechnung getragen. Auf diesem Feld brauchen wir eine sensible Politik, die einen Ausgleich zwischen Innen- und Außenpolitik findet, die die Menschen in ihrer Würde und ihre Menschenrechte nicht verletzt, sondern von dem Grundsatz, dass Menschenrechte unteilbar sind, geleitet ist. Wir brauchen und wollen mit unseren weltweiten Kontakten eine Frieden stiftende und Demokratie fördernde globale Außenpolitik. Die Grundlagen jedweder Demokratie sind doch garantierte und gelebte Menschenrechte. Sie dürfen nicht nur auf dem Papier stehen - Papier ist geduldig -, sondern das, was in den Verfassungen der Länder steht, muss mit Leben erfüllt sein. Wir hören aber: Was geht uns Afrika an? Was geht uns Afghanistan an? Was kümmert uns Tschetschenien? Was kümmern uns Belarus, Kuba oder China? Diese Fragen begegnen allen Politikern dieses Hauses tagtäglich. Wir müssen eines deutlich machen: In einer globalisierten, in einer klein gewordenen Welt geht uns das alle etwas an. Wir alle müssen uns darum kümmern; denn das Fehlen von elementaren Menschenrechten und Lebensmöglichkeiten in anderen Ländern führt zu Wanderungsbewegungen und zu Verwerfungen, die früher oder später bis nach Deutschland reichen. Das können und müssen wir den Menschen im Lande erklären und deutlich machen. Eine engagierte Menschenrechtspolitik hat eine doppelte Wirkung: Erstens die Wirkung - das stelle ich bewusst an den Anfang, weil es mir am Herzen liegt -, dass sie geschundenen, unterdrückten und missbrauchten Menschen in den Ländern hilft, mit denen wir Handel und Wandel treiben. Hier haben wir die Verantwortung, nicht nur Geschäfte zu machen, sondern auch zu schauen, unter welchen Bedingungen die Menschen in diesen Ländern leben, unter welchen Bedingungen diese Geschäfte am Ende ablaufen und ob die Menschen, mit denen wir handeln, ein menschenwürdiges Dasein haben. Zweitens - das ist für eine stabile Innenpolitik im eigenen Lande wesentlich - dämmt eine menschenrechtsorientierte Außenpolitik millionenfache Wanderungsbewegungen nach Deutschland ein. So können wir feststellen, dass Humanismus einerseits und Egoismus andererseits - eigentlich zwei konträre Dinge - als Ausgangspunkte am Ende zum selben Ergebnis führen: Die deutsche Außenpolitik muss Menschenrechte einbeziehen. Der Menschenrechtsausschuss begleitet die deutsche Außenpolitik intensiv und aufmerksam. Mit der großen Koalition gibt es wieder eine Menschenrechtspolitik, die diesen Namen wirklich verdient. Denn es reicht nicht, Geld zur Verfügung zu stellen. Menschenrechtsverletzungen müssen in Gesprächen mit anderen Regierungen angesprochen werden. Es dürfen nicht einfach Persilscheine ausgestellt werden. Putin ist eben kein lupenreiner Demokrat, wie der verflossene Bundeskanzler meinte, feststellen zu müssen. ({1}) Ich begrüße sehr, dass Bundesaußenminister Steinmeier und Bundeskanzlerin Merkel Menschenrechtsdefizite in ihren bilateralen Gesprächen nicht mit einem Mantel falsch verstandener Rücksichtnahme bedecken, sondern den Finger in die Wunde legen und unser eigenes Wertefundament damit deutlich machen. Es war ein bedeutsames Zeichen der Bundeskanzlerin, bei ihrem Antrittsbesuch in Russland ein intensives Gespräch mit den Vertretern von Menschenrechtsgruppen zu führen. Hier hat wirklich ein Paradigmenwechsel in der deutschen Außenpolitik stattgefunden, der unterdrückten Menschen hilft und ihnen ein wenig das Gefühl der Verlorenheit nimmt. Ich bin mir sicher, dass bei dem anstehenden Besuch der Bundeskanzlerin in China nicht über die gravierenden Defizite geschwiegen wird, die China vorzuweisen hat, sondern dass die Menschenrechtsdefizite dort angesprochen werden, zum Beispiel die Laogai-Lager, die von einer elementaren Menschenrechtsfeindlichkeit sind. Der heutige Tag hat eines deutlich gemacht: Die menschenrechtspolitischen Themen werden in der Außenpolitik Deutschlands heute wirksamer vertreten als zuvor. Das ist gut so. ({2}) Die Bundeskanzlerin und der Außenminister haben das beide deutlich gemacht. Ich danke Ihnen, Herr Außenminister Steinmeier. Ich begrüße das nachdrücklich und sage nur eines: Weiter so! ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, über die Frage, wer den Wettbewerb in Sachen Menschenrechte gewinnt, sollten wir uns vielleicht ein anderes Mal unterhalten, wenn wir etwas mehr Zeit dafür haben. ({0}) Wir haben heute schon, weil fast alle Redner Belarus erwähnt haben, sehr viel über Menschenrechte gesprochen. Die letzten freien und fairen Wahlen in Belarus haben 1994 stattgefunden. Damals wurde Lukaschenko zum Präsidenten gewählt; übrigens war er Herausforderer eines amtierenden Präsidenten. Seitdem hat es keine freien und fairen Wahlen mehr gegeben. Ich habe diesmal mit fünf Kollegen und Kolleginnen dieses Hauses die Wahlen beobachtet. Wir sind alle zum selben Ergebnis gekommen. Dies war bereits die dritte Wahl, die ich in Belarus beobachtet habe. Sie wissen ja, dass ich mich seit über zehn Jahren sehr intensiv mit diesem Land beschäftige. Man kann nicht sagen, dass eine dieser Wahlen frei und fair gewesen ist. Allerdings kann man sagen, dass es bei all diesen Wahlen überhaupt nicht notwendig gewesen wäre, Manipulationen vorzunehmen und Repressionen auszuüben, weil Lukaschenko - das ist Ironie und Tragik zugleich - vermutlich bei allen drei Wahlen zwar nicht das prozentuale Ergebnis erreicht hätte, das er erreicht zu haben vorgibt, dass er aber doch eine Mehrheit des Volkes hinter sich gehabt hätte. Auch Herr Grund hat darauf schon hingewiesen. Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2001 hat die OSZE in ihrem Wahlbeobachtungsbericht festgestellt, dass es in diesem Land eine sehr lebendige, sehr gute und sehr intensive zivile Gesellschaft gibt. Es gibt sie immer noch. Aber seit 2001 beobachten wir, dass die Repressionen gegen diese zivile Gesellschaft von Jahr zu Jahr zunehmen. Es wird versucht, die freie Presse und die politische Opposition mundtot zu machen, und die Einhaltung der Menschenrechte gestaltet sich immer problematischer. Je stärker die Opposition wurde - sie hat sich zusammengefunden und sich geeinigt; sie hat ihren Wahlkampf auf demokratische Weise geführt -, je stärker sich die Zivilgesellschaft zu Wort gemeldet hat, desto brutaler ist die Repression geworden, mit dem Ziel, den Menschen Angst zu machen. Wir alle, die wir diese Wahl beobachtet haben, waren am letzten Sonntag auf dem Platz, auf dem die Demonstrationen stattgefunden haben. Dort haben wir die Menschen gesehen und in ihre Gesichter geschaut. So wir ihrer Sprache mächtig waren - ich hatte das Glück, einen Dolmetscher dabei zu haben -, haben wir auch mit ihnen reden können. Man konnte gegenüber früheren Wahlen deutlich spüren, dass sie sich nun getraut haben, in Mengen auf die Straße zu gehen. ({1}) Sie haben ihre Angst verloren, weil der Druck so stark ist, dass sie ihn nicht mehr ertragen können. Anschließend sahen sie sich natürlich enormen Repressionen durch die Polizei ausgesetzt. Ich danke Außenminister Steinmeier von Herzen, dass er so schnell eine sehr deutliche Stellungnahme zu den Vorgängen auf dem Oktoberplatz und zu den Wahlen abgegeben hat. ({2}) Ich bin besonders dankbar, dass Herr Steinmeier den Kontakt zu seinem russischen Kollegen Lawrow aufgenommen und mit ihm über die Situation in Belarus gesprochen hat. Danach haben beide erklärt, auch weiterhin die dortigen Vorgänge zu beobachten. Diesen Ansatz müssen wir wählen. Wie bereits mehrfach erwähnt wurde, führt der Weg über Russland. Lukaschenko hat, wie ich gestern der Presse entnommen habe, die „tollen“ Polizisten gelobt, die dort abgeräumt haben. Er hat sie „tolle Kerle“ genannt, die einzelne Zwischenfälle schnell und genau geregelt und alles wieder in Ordnung gebracht hätten. „In Ordnung gebracht“ heißt, dass im Moment Hunderte friedlicher Demonstranten - manche sprechen von bis zu 1 000 - im Gefängnis sitzen. Dort werden sie unter Umständen misshandelt; davon haben wir schon gehört. Ich weiß, dass auch Freunde von mir darunter sind. Zum jetzigen Zeitpunkt wissen wir nicht, wo sie sich befinden. Rund 200 Personen sind bereits verurteilt worden, jeweils zu zehn bis 15 Tagen Gefängnis; das ist dort das übliche Strafmaß. 42 Journalisten sitzen im Knast, zwölf von ihnen sind aus dem Ausland. Von vielen fehlt ein Lebenszeichen. Kosulin ist wegen Hooliganismus verhaftet worden. Das ist eine „schöne Sache“; aber nun droht ihm unter Umständen eine Anklage wegen Terrorismus. Milinkewitsch ist zwar noch in Freiheit; aber wir wissen nicht, was noch geschieht. Ich bin froh, dass er nach Wien, nach Oslo und im April zum Außenministertreffen nach Luxemburg eingeladen worden ist; ({3}) denn das wird dazu beitragen, dass man in Belarus merkt, dass wir ein Auge auf die dortigen Geschehnisse haben. Wir wollen ihn schützen. Wir wollen Lukaschenko nicht stürzen. Wir wollen Milinkewitsch nicht als Präsidenten etablieren. Aber wir wollen zeigen, dass wir die Einhaltung der demokratischen Werte, zu denen sich auch Lukaschenko bekannt hat, einfordern: der Redefreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Medienfreiheit, der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte und des Rechts auf Opposition, also des Rechts, anderer Meinung als Lukaschenko zu sein. Dafür ist Milinkewitsch ein Symbol. Deshalb ist er als Person so wichtig. ({4}) Es ist vieles über Dialog und über Sanktionen gesagt worden. Bei allem Ärger und bei aller Wut, die uns angesichts dessen, was dort passiert ist, erfüllen, müssen wir dennoch den Dialog weiterführen. ({5}) Wir haben früher eine Politik der Sticks and Carrots betrieben. Aber sie essen die Karotten nicht und wir haben auch nicht so viele Stöcke. Deshalb müssen wir über eine ausgewogene Politik nachdenken; denn ohne Dialog wird es uns von außen nicht gelingen, diejenigen in der Administration, die Demokratie wollen, auf den Weg in eine bessere Zukunft für Belarus mitzunehmen. Auf diesem Weg wollen wir Belarus begleiten und wollen unsere Freunde, die heute schon so mutig sind, schützen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Joachim Hörster, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Joachim Hörster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000932, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin der 17. und letzte Redner in dieser Debatte. ({0}) Ich habe mir also die Frage gestellt, welche Punkte ich noch vortragen kann, die noch nicht erörtert worden sind. Es gibt tatsächlich einige. Deshalb will ich die Möglichkeit nutzen und sie im Folgenden konkretisieren. Wir haben im Zusammenhang mit der Entwicklung in Weißrussland eine sehr intensive Debatte über Menschenrechte geführt. Damit beschäftigt sich auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates, die keine unbedeutende Einrichtung ist, die aber in diesem Hohen Hause weitestgehend unbeachtet bleibt. Ihre Chancen werden nach meinem Dafürhalten nur sehr unzureichend genutzt. In der Parlamentarischen Versammlung des Europarates sind Parlamentarier aus 46 Ländern versammelt; 25 Länder von ihnen gehören der Europäischen Union an. Die meisten der anderen Länder haben aller Voraussicht nach nie eine Chance, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Das wäre im Übrigen weder für diese Länder noch für die Europäische Union gut. Gleichwohl könnte der Europarat helfen, dass sich diese Länder, die Nachbarstaaten der Europäischen Union sind, an die Standards annähern, die wir zum Beispiel auf dem Gebiet der Menschenrechte oder durch die Europäische Sozialcharta haben. Deswegen wäre es sinnvoll, den Europarat in der deutschen Außenpolitik stärker und intensiver wahrzunehmen und für diese Möglichkeiten zu nutzen. In diesem Zusammenhang halte ich es für ziemlich kontraproduktiv, dass die Europäische Union darüber nachdenkt, in Wien eine Menschenrechtsagentur einzurichten, ({1}) obwohl wir den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof haben, der seinesgleichen in der Welt sucht und der eine unglaubliche Wirkung entfaltet. Leider ist der Kollege Bindig nicht mehr in diesem Hause. Er hat ausreichend in Monitoringverfahren und in sonstigen Verfahren bei Menschenrechtsinstitutionen mitgewirkt. Wir brauchen keine Duplizität. Ich weiß nicht, was eine europäische Menschenrechtsagentur wem gegenüber vermitteln soll. Denn alle Mitglieder der Europäischen Union wahren nach meiner Beobachtung die Menschenrechte, sonst wären sie auch nicht aufgenommen worden. Im Europarat sitzen zum Beispiel die Länder Russland - darüber ist eben schon gesprochen worden -, Aserbaidschan und Georgien. Diese Länder befinden sich in Bezug auf diese Fragen noch in der Entwicklung, einer Entwicklung, die von den anderen Mitgliedstaaten des Europarates befördert werden kann. Das tut den Menschen in diesen Ländern gut, aber auch uns; denn je demokratischer die Länder in unserem Umfeld sind, umso sicherer können wir uns fühlen. ({2}) Ich richte also die Bitte an die Bundesregierung, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu prüfen, ob die Schaffung einer Menschenrechtsagentur wirklich zu den Prioritäten der Europäischen Union gehören sollte. Weil der Herr Bundesaußenminister so freundlich war, am Schluss seiner Rede ein Plädoyer für die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik zu halten - ich stimme völlig mit ihm überein - und die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik als kulturelle Grunddimension der deutschen Außenpolitik zu bezeichnen, will ich anmerken, dass wir versuchen müssen, die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik in der praktischen Politik - je mehr, umso besser - tatsächlich auch zu instrumentalisieren und entsprechend einzusetzen; denn es wird ja immer davon gesprochen, dass die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik die dritte Säule der deutschen Außenpolitik sei. Ich glaube, wenn das so ist, dann können wir es auf Dauer nicht dabei bewenden lassen, dass die Mittlerorganisationen - das Goethe-Institut, der Deutsche Akademische Austauschdienst, das ifa, die deutschen Auslandsschulen usw. - diese Aufgaben wahrnehmen, sondern dann müssen wir sie bündeln und in den Regionen der Welt zielgerichtet einsetzen, in denen es für uns von größtem Interesse ist. Das betrifft auch den Wissenschaftsaustausch und den Bildungsaustausch. Ich will ein praktisches Beispiel nennen. Ich habe heute Morgen in einer Sitzung des Unterausschusses Auswärtige Kulturpolitik des Auswärtigen Ausschusses gehört, dass in Syrien eine deutsche Schule errichtet wird. Die syrischen Absolventen deutscher Universitäten machen ungefähr 24 Prozent der dortigen Hochschullehrer aus. Das hängt noch mit unserer Vergangenheit aus der Zeit der Teilung zusammen. Das sind Leute, die unserem Kulturkreis gegenüber aufgeschlossen sind. Es macht keinen Sinn, dass wir dort eine entsprechende Vereinigung haben, während wir gleichzeitig beim Goethe-Institut Stellen abbauen. In der arabischen Region gibt es ein Defizit in der Bildung und beim Zugang zu Informationen und die Analphabetenrate ist besonders bei Frauen hoch. Deshalb bin ich der Auffassung, dass wir, wenn wir die deutsche auswärtige Kulturpolitik zielgerichteter einsetzen, mithelfen können, diese Zustände dort abzubauen; denn Bildung, Wissen und Kenntnisse sind die besten Mittel gegen Fundamentalismus und gegen Risiken, die uns von dort drohen. In diesem Sinne wäre ich dankbar, wenn der auswärtigen Kulturpolitik die entsprechende Aufmerksamkeit gewidmet würde und die Bereitschaft bestünde, im Rahmen der bestehenden Strukturen - vielleicht mit kleinen Änderungen - die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik operativ begleitend neben den anderen außenpolitischen Maßnahmen eingesetzt werden kann. ({3}) Herr Präsident, ich schenke den Kollegen, die hier anwesend sind, 30 Sekunden und bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen damit zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Belarus nach den Präsidentschaftswahlen“. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 16/1077? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Antrag stellenden Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung, Einzelplan 14. Ich erteile dem Bundesminister der Verteidigung, Franz Josef Jung, das Wort.

Dr. Franz Josef Jung (Minister:in)

Politiker ID: 11003781

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn die Bundeswehr ihre hervorragende Arbeit für die Sicherheit Deutschlands positiv fortsetzen soll, dann braucht sie dafür die notwendige finanzielle Grundlage. Deshalb bin ich froh und dankbar, dass es bei den Beratungen des Haushalts 2006 gelungen ist, eine Stabilisierung zu erreichen und den Abwärtstrend zu stoppen, weil dies zur Erledigung der Aufgaben der Bundeswehr notwendig ist. Gerade im Hinblick auf die Auslandseinsätze - sei es der auf dem Balkan, der am Horn von Afrika oder der in Afghanistan - brauchen wir die notwendige finanzielle Unterstützung auch für den Schutz und die Ausbildung unserer Soldatinnen und Soldaten. Ich finde, unsere Soldatinnen und Soldaten leisten dort einen hervorragenden Einsatz. Ich möchte ihnen an dieser Stelle für den gefährlichen Einsatz danken, den sie im Interesse unserer Sicherheit leisten. ({0}) Herr Lafontaine hat heute Morgen behauptet, unsere Soldatinnen und Soldaten seien in Afghanistan an terroristischen Aktivitäten beteiligt. Ich halte eine solche Unterstellung für unsere Soldatinnen und Soldaten für geradezu ehrabschneidend und beleidigend und weise diese Behauptung mit Nachdruck zurück. Sie leisten einen Friedensdienst. ({1}) Ich bin dafür dankbar, dass die Auslandszulage der Soldatinnen und Soldaten steuerfrei bleibt und diese Diskussion hier nicht fortgesetzt worden ist. Es ist ein Unterschied, in einem Büro in Brüssel zu arbeiten oder in Kabul in einem gefährlichen Einsatz für unser Land zu sein. Ich bin der Auffassung: Unsere Soldatinnen und Soldaten haben diese steuerfreie Auslandszulage verdient. ({2}) Mit diesem Haushaltsentwurf schaffen wir die Grundlage dafür, den Transformationsprozess der Bundeswehr fortzusetzen. Dabei füge ich hinzu: Unsere internationalen Verpflichtungen sind groß. Das gilt für unsere Verpflichtungen im Zusammenhang mit den Vereinten Nationen und der NATO, aber auch für unsere Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Europäischen Union. Im Hinblick auf den Einsatz zur Gewährleistung eines demokratischen Prozesses im Kongo, der notwendig ist, diskutieren wir über diese Verpflichtungen. Ich will hier nur noch folgende Bemerkung machen, um die Debatte von vorhin nicht zu verlängern. Es stimmt schon: Bisher sind im Kongo 4 500 Polizisten ausgebildet worden, die selbstverständlich einen Beitrag zur Gewährleistung der Sicherheit leisten. Aber es ist der Wunsch der Vereinten Nationen und es entspringt ihrer Lagebeurteilung, dass es zur Absicherung dieses demokratischen Prozesses eines Engagements der Europäischen Union bedarf. In diesem Sinne sollten wir die Stabilisierung und die demokratische Entwicklung dort positiv unterstützen und unseren Beitrag leisten. Wir sind mittlerweile der größte Truppensteller für die von der NATO geführten Operationen; es sind rund 5 000. Wir leisten den größten Beitrag im Zusammenhang mit den europäischen Missionen. In Bosnien-Herzegowina sind rund 1 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten im Einsatz. Ich will vor diesem Haus sagen, dass wir auch Verantwortung und Verpflichtung für die schnelle Einsatztruppe haben. Es ist in der Bevölkerung nicht jedem bekannt, dass wir im zweiten Halbjahr bei der NATO-Response-Force, der schnellen Einsatztruppe der NATO, mit 6 600 deutschen Soldatinnen und Soldaten im Einsatz sind. Im Zusammenhang mit dem Einsatz im Kongo gab es die Überlegung, die aufzustellende europäische BattleGroup mit zunächst 1 500 deutschen Soldaten und vier französischen Soldaten in den Einsatz zu schicken. Das haben wir jetzt anders geregelt. Aber ab dem 1. Januar 2007 sind wir bei der Battle-Group, also der schnellen Einsatztruppe Europas, mit 1 200 oder 1 300 Soldatinnen und Soldaten dabei. Damit will ich deutlich machen, welche internationalen Verpflichtungen wir übernommen haben und dass dafür eine finanzielle Grundlage geschaffen werden muss, damit solche Einsätze gewährleistet werden können. Wir leisten unseren Beitrag bei den erwähnten Auslandseinsätzen, aber auch unseren Beitrag für die Sicherheit in Deutschland. Während der Amtszeit der neuen Bundesregierung haben wir bereits in Bad Reichenhall geholfen. Wir haben Hilfestellung bei der Bewältigung der Schneekatastrophe in Bayern geleistet. ({3}) Wir haben ebenso auf Rügen geholfen, als dort die Vogelgrippe ausbrach. ({4}) Ein weiterer Einsatz betraf den Unfall, bei dem ein Lastwagen in einen Trauerzug gerast ist. Ich will noch etwas zur Leistungsfähigkeit und Einsatzfähigkeit unserer Bundeswehr sagen. Der Anruf mit der Bitte um Amtshilfe auf Rügen hat mich am Samstagnachmittag gegen 16.45 Uhr erreicht. Normalerweise ist um diese Uhrzeit im öffentlichen Dienst und auch bei privaten Unternehmen die Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt. Aber unsere Soldatinnen und Soldaten waren am Samstagabend um halb zehn auf Rügen, um dort ihren Einsatz zu leisten. Ich finde, das zeigt die Leistungs- und Einsatzfähigkeit unserer Bundeswehr, für die ich dankbar bin. ({5}) Deshalb werden wir diese Entwicklung jetzt weiter ausbauen und die zivil-militärische Zusammenarbeit im Zusammenhang mit den föderalen Strukturen ins Blickfeld nehmen. Wir werden uns auch mit den Verbindungsstellen befassen, bei denen wir insbesondere die Reservisten mit einbeziehen wollen, damit auch sie im Hinblick auf den Schutz Deutschlands Unterstützung leisten. Das ist ebenfalls ein wichtiger Beitrag, den die Bundeswehr gewährleistet. Zur Diskussion im Zusammenhang mit der vor uns liegenden Fußballweltmeisterschaft: Zunächst war der Einsatz von 2 000 Soldatinnen und Soldaten im Rahmen unseres verfassungsgemäßen Auftrags vorgesehen. Aber da uns mittlerweile hundert Anträge auf technische Amtshilfe vorliegen, haben wir die Zahl um weitere 5 000 auf insgesamt 7 000 Soldatinnen und Soldaten erhöht, die zum Beispiel in der ABC-Abwehr, im Sanitätswesen und im Lufttransport eingesetzt werden. Das alles sind wichtige Aufgaben zur Gewährleistung einer sicheren Weltmeisterschaft. Wir werden dann auch die AWACS-Flugzeuge einsetzen; denn ich glaube, dass wir dafür Sorge tragen müssen, dass die Weltmeisterschaft unter dem Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ in sicheren Verhältnissen stattfinden kann. Dazu werden wir auch unserem verfassungsgemäßen Auftrag entsprechend unseren Beitrag leisten. ({6}) Ich habe im Übrigen den Eindruck, dass wir, wenn wir bei der Weltmeisterschaft im Fußball erfolgreich sein wollen, auch dort noch die Verteidigung verstärken müssen. Dann wären wir vielleicht auch in diesem Bereich effektiver. ({7}) Lassen Sie mich noch einen weiteren Gedanken ausführen. Ich denke, dass die Bundeswehr mit zum Ansehensgewinn Deutschlands beiträgt. Als vor kurzem die Olympiade in Turin stattfand, haben wir uns alle darüber gefreut, dass Deutschland beim Medaillenspiegel an erster Stelle lag. Tatsache ist aber: Ohne die Bundeswehr hätten wir an 13. Stelle gelegen. Die Bundeswehr allein hätte an zweiter Stelle gelegen. Neun von elf Goldmedaillen hat die Bundeswehr errungen, außerdem acht Silbermedaillen und zwei Bronzemedaillen. Auch das zeigt, welchen positiven Beitrag die Bundeswehr leistet, wenn es um die Erhöhung des Ansehens Deutschlands beispielsweise bei einer Olympiade geht. ({8}) Wir wollen selbstverständlich den Weg der Umstrukturierung im Innern fortsetzen. Damit geht eine erhebliche Personalreduktion einher. Die mit größten Reduzierungen am Personalbestand des Bundes werden nämlich von der Bundeswehr geleistet. Die derzeitige Zahl von etwa 120 000 zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern soll den Planungen zufolge auf 75 000 reduziert werden. Wir wollen die Betriebskosten von 74 Prozent auf 68 Prozent des Gesamtplafonds senken. Wir werden aber auch im Hinblick auf Planungssicherheit an der getroffenen Stationierungsentscheidung festhalten. Wir wollen auch den Modernisierungsprozess innerhalb der Bundeswehr fortentwickeln und unter dem Aspekt der Effektivität unseren Beitrag leisten, um - auch was die Entbürokratisierung anbelangt - weiter voranzukommen. Ich denke aber, dass wir auch hier die soziale Verantwortung berücksichtigen müssen, die wir für unsere Soldatinnen und Soldaten haben. Deshalb muss der Prozess sozialverträglich gestaltet werden. Wir erarbeiten zurzeit einen Gesetzentwurf, der beispielsweise vorsieht, dass ein Soldat oder eine Soldatin, der bzw. die in einem Einsatz eine gesundheitliche Beeinträchtigung erfährt, Anspruch auf Weiterbeschäftigung bei der Bundeswehr hat. Ich glaube, dass das der Fürsorgepflicht dieses Landes entspricht. ({9}) Wir wollen die Bundeswehr als Wehrpflichtarmee weiterentwickeln. Sie hat sich als Wehrpflichtarmee bewährt und ist tief in der Gesellschaft verwurzelt. Dadurch trägt sie zu einem positiven Ansehen der Bundeswehr in der Gesellschaft bei. Wir müssen aber auch die Wehrgerechtigkeit bzw. die Einberufungsgerechtigkeit im Blick behalten. Deshalb haben wir davon abgesehen, die Zahl der Wehrpflichtigen auf 30 000 zu senken, sondern wir wollen sie bei 35 000 stabilisieren. Wir ziehen jährlich rund 60 000 Wehrpflichtige ein. Davon verpflichten sich 25 000 freiwillig weiter und 35 000 leisten ihren Grundwehrdienst. Ich bin dafür dankbar, dass es in den Haushaltsberatungen gelungen ist, den Wehrpflichtigen das Weihnachtsgeld und das Entlassungsgeld zu erhalten. ({10}) Es geht bei den Wehrpflichtigen um rund 250 Euro pro Monat. Das entspricht noch nicht einmal dem Verdienst eines Minijobbers. Wer in der Bundeswehr die allgemeine Dienstpflicht für unser Land erfüllt, der hat es aus meiner Sicht verdient, 170 Euro Weihnachtsgeld und das Entlassungsgeld zu behalten. ({11}) Wir sind dabei, ein Weißbuch zur sicherheitspolitischen und strategischen Standortbestimmung der Bundeswehr zu erarbeiten. Das ist richtig und gut. Seit 1994 gibt es ein solches Weißbuch nicht mehr. Die letzte Regierung hat diesbezüglich auch keine Kabinettsbeschlüsse gefasst. Es gibt nur die Verteidigungspolitischen Richtlinien. Ich finde aber, die Sicherheit unseres Landes ist so wichtig, dass sie nicht nur Angelegenheit eines einzelnen Ministers sein darf, sondern Angelegenheit der gesamten Bundesregierung sein muss. Deswegen werden wir das Weißbuch im Bundeskabinett verabschieden. ({12}) Die Bundeswehr leistet mit ihren Investitionen einen erheblichen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung. Im Jahreswirtschaftsbericht sind 6 Milliarden Euro Investitionen durch die Bundeswehr vorgesehen, und zwar in verschiedensten Bereichen, vom Satellitenkommunikationssystem über den Eurofighter, Hubschrauber, Fregatten, das Luftverteidigungssystem bis hin zu Transportfahrzeugen. Ich will nicht alles aufführen, aber eines sage ich Ihnen: Wir sind es unseren Soldaten schuldig, ihnen eine optimale Ausrüstung für ihre gefährlichen Einsätze im Ausland zu geben. Deshalb ist es notwendig, die Investitionen in diesem Bereich weiter voranzutreiben. ({13}) Im Mittelpunkt unserer Überlegungen und unseres Handelns stehen die Soldatinnen und Soldaten. Sie bedürfen - genauso wie die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeit - der Fürsorge. Sie riskieren Leib und Leben für unsere Sicherheit und haben deshalb Anspruch auf gesellschaftliche Würdigung und Unterstützung. Wir dürfen aber auch nicht diejenigen vergessen, die im Einsatz für unsere Sicherheit sowie für Frieden und Freiheit ihr Leben gelassen haben. Wir sollten ihnen in Berlin, an dem Ort, der für die Bundeswehr steht, ein Ehrenmal errichten. Ich bin der Meinung, dass wir dazu verpflichtet sind. ({14}) Die Belastungen der Truppe sind hoch. Deshalb ist es unsere gemeinsame Verantwortung, die Bundeswehr leistungsfähig zu halten. Dafür braucht sie im Hinblick auf die Sicherheit Deutschlands und seiner Bürger sowie den Erhalt von Frieden und Freiheit die notwendigen finanziellen Grundlagen. Ich danke Ihnen. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Elke Hoff, FDP-Fraktion. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Jung, Sie haben in sehr eindrucksvollen Worten die vielfältige Aufgabenstellung und Zielsetzung dargelegt, die die Bundeswehr erfüllen soll. Aber der Blick auf den Verteidigungshaushalt lässt an der einen oder anderen Stelle erhebliche Zweifel aufkommen. ({0}) Als Ausdruck all Ihrer hehren Zielsetzungen legen Sie heute den Verteidigungshaushalt für das Jahr 2006 vor. Ihn kann man aber nur als Übergangshaushalt bezeichnen. Er orientiert sich nämlich weitgehend an der bisherigen Bundeswehrplanung. Bei seiner Verabschiedung wird das Haushaltsjahr zur Hälfte vergangen sein und die finanzpolitischen Grausamkeiten werden erst im Jahr 2007 über den Einzelplan 14 hereinbrechen. Der Transformationsprozess, den Sie eben angesprochen haben, Herr Minister, bleibt aber nicht stehen. Aus diesem Grund wird auch dieser Haushalt den Anforderungen nicht gerecht. ({1}) Der investive Anteil ist mit 25 Prozent erneut viel zu gering veranschlagt. Ein investiver Anteil von annähernd 30 Prozent ist für die Aufgaben einer Armee im Einsatz, die sich nach dem Willen der Bundesregierung darüber hinaus verstärkt um den Heimat- und Katastrophenschutz kümmern soll, unerlässlich. Bis zum Jahr 2011 wird die Unterdeckung bei den Rüstungsinvestitionen auf mehr als 6 Milliarden Euro anwachsen. Dass dies unmittelbare Auswirkungen auf unsere Rüstungsindustrie und die damit verbundenen Arbeitsplätze haben wird, steht außer Zweifel. Die notwendige deutliche Anhebung im investiven Bereich wird nur durch eine weitere Absenkung der Betriebs- und Personalkosten möglich sein. Ich kann an dieser Stelle aber wenig Entschlossenheit zur Eröffnung neuer Spielräume erkennen, zum Beispiel indem Dienstleistungen wie das Travelmanagement der Bundeswehr, Teile der Ausbildung, der Personalgewinnung und vieles mehr konsequent privatisiert werden. ({2}) Wie Sie, Herr Minister, bei den bestehenden Rahmenbedingungen das ehrgeizige Ziel erreichen wollen, die Zahl der zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr von heute 100 000 auf 75 000 abzusenken, steht in den Sternen. ({3}) Der Transformationsprozess lebt unbestritten zu einem erheblichen Teil von der Einsicht in seine Notwendigkeit, er lebt aber auch von sicheren finanzpolitischen Rahmenbedingungen. An dieser Stelle möchte ich mich daher ausdrücklich bei allen Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr bedanken, die diesen unsicheren Prozess bisher so bravourös begleitet und gemeistert haben. ({4}) Herr Minister, außerdem möchte ich noch sagen, dass ich wenig Verständnis dafür habe, dass sich der Gesamtpersonalumfang der Bundeswehr seit 1989 halbiert hat, während die Zahl der Spitzendienstgrade - der Besoldungsgruppe B 3 und höher - seither lediglich um 11 Prozent reduziert wurde. Gerade Streitkräfte mit hohen Belastungen brauchen im Verhältnis mehr und besser bezahlte Indianer als zu viele hoch dotierte Häuptlinge. ({5}) - Auch das wäre eine Lösung gewesen. Herr Minister, Sie haben am 8. März in einer Pressemeldung der dpa angekündigt, noch in diesem Jahr - ich betone: noch in diesem Jahr - 4 000 zusätzliche Stellen für Wehrpflichtige zu schaffen. Offenbar ist diese Meldung Ihren Haushältern entgangen; denn gegenüber dem Stellenansatz für das Jahr 2005 mit 38 000 Grundwehrdienstleistenden finden sich im aktuellen Entwurf gerade einmal 32 000 wieder - auf den ersten Blick ein Minus von 6 000 Stellen. Aber wie wir ja auch bei der Mehrwertsteuererhöhung gelernt haben, ist zwei plus nicht in jedem Fall ein Mehr. Vielleicht kommen wir im Laufe der Debatte auch in diesem Bereich des Haushalts zu belastbaren Zahlen. ({6}) Die Risiken dieses Haushaltsentwurfs sind allerdings bereits vorgezeichnet: Die geplante Anhebung der Mehrwertsteuer um 3 Prozent im nächsten Jahr wird in den Verteidigungsetat ein Loch von annähernd 300 Millionen Euro reißen. ({7}) Dazu kommen globale Minderausgaben; Preisstandanpassungen; die angekündigte, aber im Haushalt nicht vorgesehene Erhöhung der Zahl der Wehrpflichtigen und und und. Dies alles lässt nach heutigem Ermessen die dringend benötigte Anhebung des Investitionsanteils in weite Ferne rücken, und das, obwohl wir Europäer von unseren amerikanischen Partnern immer wieder darauf hingewiesen wurden, dass unsere Verteidigungsetats chronisch unterfinanziert seien. Der kürzlich erschienene „Quadrennial Defense Review“ des Pentagon kommt zu dem Ergebnis, dass wir Europäer aufgrund fehlender Fähigkeiten nur noch für Stabilisierungsmissionen gefragt seien, aber nicht mehr für Einsätze mit hoher Intensität. Schon jetzt ist feststellbar, dass vieles, was unsere Soldatinnen und Soldaten für ihre aktuellen und zukünftigen Einsätze zwingend benötigen, nicht beschafft wird, und wenn, dann nicht in der vereinbarten Stückzahl. Fast die Hälfte der Mittel für die militärische Beschaffung entfallen auf Fluggeräte, die nicht nur im Ankauf, sondern vor allem bei der Materialerhaltung, beim Betrieb und in der Ausbildung wesentlich mehr Mittel verschlingen werden als die bisherigen Geräte. Bei der Ausstattung unserer Soldatinnen und Soldaten - dies haben Sie zu Recht betont, Herr Minister Jung - muss jedoch der Schutz im Einsatz oberste Priorität haben. Beschaffungsmaßnahmen, die für den tatsächlichen Einsatz notwendig sind und sich zudem aus der neuen Aufgabenstruktur ergeben, beispielsweise der Unterstützungshubschrauber Tiger, das Allschutztransportfahrzeug Dingo, der neue Schützenpanzer Puma oder auch der Spähpanzer Fennek, sind deshalb unumgänglich. ({8}) Sie müssen in ausreichender Anzahl sowohl für den Einsatz als auch für eine qualifizierte Ausbildung beschafft werden. Wenn die Soldaten erst im Einsatz lernen, mit neuem und technisch hochwertigstem Gerät umzugehen, darf man sich später nicht wundern, wenn daraus entstehende Bedienungsfehler das teure Material beschädigen. Alle Beschaffungsmaßnahmen gehören erneut auf den Prüfstand. ({9}) Wenn das Heer 60 Prozent aller Eingreifkräfte und mehr als die Hälfte aller Stabilisierungskräfte stellt, benötigen wir dann für die zukünftigen Einsätze der Bundeswehr wirklich 180 Eurofighter und den A400M in der Stückzahl von 60? Wird MEADS tatsächlich den Schutz gewährleisten, der den Bedrohungen unseres Landes und unserer Streitkräfte entspricht? Vor allem: Führt der finanzielle Aufwand auch zu einem zusätzlichen Gewinn von Fähigkeiten? Durch weitere Privatisierungen gibt es noch eine Vielzahl von Möglichkeiten, die ausufernden Betriebskosten des Unternehmens Bundeswehr in den Griff zu bekommen. Die Bundesregierung muss daher endlich definieren, was die Kernaufgaben der Bundeswehr sind, sodass wir den Umbau der Bereiche, in denen Privatisierungen einen Sinn ergeben, weiter und schneller vorantreiben können. Ich hoffe, dass wir dazu etwas im Weißbuch wiederfinden werden. ({10}) Uns allen ist klar, dass der Verteidigungsetat weniger Spielraum lässt, als uns lieb sein kann. Aber den Spielraum, den es gibt, müssen wir so kreativ und undogmatisch nutzen, wie es eben nur geht. Ansonsten werden der außenpolitische Anspruch und die haushaltspolitische Realität immer weiter auseinander klaffen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Peter Bartels, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Haushalt 2006 ist der erste Haushalt, den die große Koalition vorlegt. Der Verteidigungsetat ordnet sich dabei in ein Gesamtkonzept ein. Wir haben eine schwierige Gratwanderung vor uns: auf der einen Seite einen klaren Konsolidierungskurs, auf der anderen Seite die notwendigen Investitionen. Diese Gratwanderung betrifft alle Ressorts. Der Verteidigungshaushalt bildet keine Ausnahme. Dass nicht alles Wünschenswerte finanzierbar ist, wissen wir. Wir leben schon eine ganze Weile damit, dass die haushaltspolitischen Spielräume begrenzt sind. Das ist gewissermaßen die Konstante der vergangenen Jahre, ganz unabhängig davon, wer regierte. Der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe zum Beispiel hat 1997 in der Haushaltsdebatte einen schönen Sinnspruch geprägt. Er sagte: Welche Größenordnung eine Armee auch immer hat, sie wird knapp bei Kasse sein, und … in einem gewissen Umfang ist es auch notwendig. Ich kenne keine Armee auf der ganzen Welt, die finanziell üppig versorgt wäre. Ein anderer Minister, mein jetziger Fraktionsvorsitzender Peter Struck, formulierte seine Einsicht in die Notwendigkeit in der Debatte zum Bundeshaushalt 2004 so: Auch ich hätte natürlich gerne mehr Geld; aber jeder von Ihnen weiß, dass wir in einer bestimmten Finanzsituation sind. Eine „bestimmte Finanzsituation“ - so ist das auch heute. Doch diskutieren wir hier nicht über einen aus der blanken Not geborenen Sparhaushalt. Was uns vorliegt, ist eine gute Grundlage, die Transformation der Bundeswehr konsequent weiterzuführen. Der Haushalt 2006 ist ein Dokument der Transformation. Transformation heißt, Strukturen, Ausbildung und Ausrüstung der Streitkräfte den geänderten Erfordernissen anzupassen, damit wir auch künftig ein verlässlicher Partner unserer Freunde und Verbündeten bleiben, in Europa, in der NATO und in den Vereinten Nationen. In diesem Jahr stehen knapp 24 Milliarden Euro zur Verfügung. Bis 2009 - das sieht der Finanzplan des Bundes vor - soll der Etat dann um rund 1 Milliarde Euro steigen. Das ist gut, aber das ist auch unbedingt notwendig. Wichtiger vielleicht noch als die absoluten Zahlen sind die Verschiebungen innerhalb des Verteidigungshaushaltes. Klar erkennbar ist die Tendenz, dass die Betriebskosten sinken, die verteidigungsinvestiven Ausgaben aber steigen werden. Diese Entwicklung ist nicht zufällig. Sie ist das Resultat einer Politik, die von zwei sozialdemokratischen Verteidigungsministern entschlossen eingeleitet wurde. Weil dieser eingeschlagene Kurs richtig ist, hält auch die neue Regierung an ihm fest. ({0}) Ein Ziel der Transformation ist es, die vorhandenen Finanzmittel besser und effektiver einzusetzen, um die erforderlichen Ausrüstungsinvestitionen vornehmen zu können. Das Stationierungskonzept, die Korrekturen bei der Rüstungsplanung, die erweiterte Kooperation mit der Wirtschaft - dies alles gehört zu einer Politik, die zunächst einmal vieles auf den Prüfstand gestellt hat, von fliegenden Verbänden bis zum Gebäudemanagement. Dabei stellte sich heraus: Nicht alles, was schon immer so war, muss genau so bleiben. Es stellte sich aber auch heraus, Frau Hoff: Nicht alles, was privat gemacht wird, ist am Ende billiger und besser. Die Transformation ist inzwischen an vielen Orten mit Händen zu greifen. Als Abgeordneter aus der Marinestadt Kiel weiß ich, wie zügig und zielgerichtet etwa die Aufstellung der neuen Einsatzflottille 1 vor sich geht. Was vor kurzem noch Planung war, hat heute schon Adresse, Namen und Gesichter. In diesem Zusammenhang verdient das Engagement der Soldatinnen und Soldaten und der Zivilangestellten hohe Anerkennung. Für sie bedeutet Transformation vielfach, neue Aufgaben an neuen Orten mit neuen Kollegen und Kameraden zu übernehmen. Hinzu kommen Veränderungen im persönlichen Umfeld, wenn Standorte geschlossen und Dienstposten verlegt werden. Es sind gerade die gestandenen Soldaten und die erfahrenen Zivilangehörigen, die wir vom Sinn und Nutzen der neuen Bundeswehr überzeugen müssen. Das gelingt umso besser, je mehr die neuen Strukturen sichtbar mit Leben erfüllt werden. Bei aller Veränderung: Die Bundeswehr ist nicht auf der Suche nach neuen Aufgaben. Sie soll nicht zur Ersatzpolizei werden. Das ist - trotz aller richtigen zivilmilitärischen Zusammenarbeit - nicht ihre Aufgabe. Zur Transformation, die man erleben kann: Mit meinem Kollegen Sönke Rix war ich vor ein paar Wochen - noch bei Schnee und Eis - in seinem Wahlkreis Rendsburg-Eckernförde unterwegs; das hätte auch anderswo in Deutschland sein können. Wir waren beispielsweise in Hohn. Da bereitet sich das Lufttransportgeschwader 63 auf die Aufnahme des A400M vor. 100 bis 140 Millionen Euro werden hier in den nächsten Jahren in eine neue Infrastruktur investiert. Wir waren bei der U-Flottille in Eckernförde. Zwei neue Brennstoffzellen-U-Boote sind in Dienst gestellt, zwei sind in der Erprobung, zwei weitere gehen dieses Jahr unter Vertrag. Neu aufgestellt sind dort die Marinesicherungskräfte und die Spezialkräfte der Marine. Alles ist in neuer Organisation und zum Teil mit neuem Gerät. Transformation bedeutet eben auch neue Ausrüstung für die neuen Aufgaben. Ich nenne als Stichworte „Hubschrauber NH 90“ - dieses Projekt wird allmählich konkret - oder auch die im vergangenen Jahr getroffene, wichtige Entscheidung, dass wir bei MEADS mitmachen. Eurofighter läuft, Tiger läuft, Puma läuft an. Diese Projekte wären - da dürfen wir uns keine Illusionen machen - nicht finanzierbar, wenn wir nicht einen Kurs des tiefgreifenden Umbaus der Streitkräfte eingeleitet hätten, der auch vieles Gewohnte infrage stellt. Allein die Kategorisierung in Eingreif-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräfte war ein Befreiungsschlag. Dem Generalinspekteur sei Dank. Man kann in diesen Tagen nicht über die Bundeswehr reden, ohne etwas zum Kongo zu reden. Es wird bisweilen so getan, als ginge uns der Kongo - das so genannte Herz der Finsternis, dunkel und weit weg - nichts an. Wenn wir als Deutsche und Europäer aber glaubwürdig bleiben wollen, wenn es mehr als Konferenzrhetorik sein soll, dass wir stabile Staaten, Demokratie und Menschenrechte für die Menschen in Afrika fordern, dann kann und darf es uns nicht egal sein, wie es im wichtigsten Land Zentralafrikas weitergeht. „Europa muss … bereit sein“ - so steht es in der EU-Sicherheitsstrategie -, „Verantwortung für die globale Sicherheit und für eine bessere Welt mitzutragen“. Diesem Anspruch sollten wir gerecht werden. Die UNO hat uns, die Europäer, darum gebeten, im Kongo die Friedensbemühungen auch mit einer militärischen Komponente zu unterstützen. Wir haben kein Interesse daran, dass im Kongo irgendwann Verhältnisse herrschen wie früher oder wie heute noch in Somalia, wo es keine funktionierenden staatlichen Strukturen mehr gibt, wo auf den Straßen das Recht des - häufig schwer bewaffneten - Stärkeren gilt. Das geht uns an. Wir wollen keine Failing States. ({1}) Die Bundeskanzlerin hat in der Debatte heute Morgen zu Recht gesagt: Wir können für Afrika mehr tun, als nur traurig gucken. Wir haben den Kongo auch nicht plötzlich entdeckt. Vielmehr engagieren sich die Vereinten Nationen und wir uns dort schon länger. Wir haben einen Prozess unterstützt, der Rückhalt im Land hat. Der Weg des Kongos zu mehr Stabilität kann nur mit den bisherigen Konfliktparteien beschritten werden. Es geht eben nicht darum, Rebellenarmeen niederzukämpfen oder das ganze große Land zu besetzen. Deshalb können 1 500 Soldaten sehr wohl ausreichen. Das wäre eine kleine Mission, die durchaus einen größeren psychologischen Effekt haben kann, zumal sie zivile europäische Anstrengungen flankiert: die Hilfe bei der Ausbildung einer neuen Polizei, die Vorbereitung der Wahlen, die UNO-Soldaten der MONUC in den alten Bürgerkriegsprovinzen, die internationalen Wahlbeobachter, darunter 200 Deutsche. Es bedarf nicht notwendigerweise Tausender von Soldaten, um erfolgreich zu sein. Erinnern wir uns daran, dass es in Mazedonien vor einigen Jahren gelungen ist, mit einem sehr begrenzten Einsatz multinationaler Streitkräfte - 400 Soldaten insgesamt - die friedliche Entwaffnung der Milizen abzusichern und das Abrutschen in einen Bürgerkrieg zu verhindern! Das psychologische Signal war wichtiger als die Zahl der eingesetzten Soldaten. Manche Bedenken, die gegen ein Kongomandat geäußert werden, könnten übrigens genauso gegen den Einsatz in Afghanistan vorgebracht werden. Auch das Land ist weit weg und uns eher fremd. Nur wenige Soldaten sprechen Paschtu. Auch dort gäbe es keine Aussicht auf Frieden und Entwicklung, wenn nicht eine große Mehrheit der Bevölkerung und der ehemaligen Kontrahenten diesen Kurs prinzipiell für richtig hielte. Wir unterstützen Afghanistan mit beträchtlichen Mitteln, weil in unserem Interesse nicht Chaos, sondern Ordnung, nicht Gewalt, sondern ein demokratischer Anfang liegen. Da ist noch viel zu tun. Die Diskussion um das mögliche Kongomandat lehrt uns schon jetzt, dass wir auch noch einmal über das Konzept der EU-Battle-Groups und der NATOResponse-Force nachdenken sollten. Ob diese schnellen Eingreiftruppen in ihrer bisherigen Form den praktischen Anforderungen von internationalen Einsätzen gerecht werden, ist, meine ich, zweifelhaft. Wir sollten genau beobachten, ob sich das Rotationsverfahren, an dem auch Finanzierungsfragen hängen, in der Praxis bewährt. Der NATO-Hilfseinsatz nach dem Erdbeben in Pakistan ist so ein praktisches Beispiel dafür, dass die Hilfe am Ende funktioniert hat, nicht aber der NRF-Mechanismus. Es entspricht dem konzeptionellen Ansatz der Transformation, dass wir unsere Pläne und Konzepte ständig auf ihre Wirksamkeit hin überprüfen. Das sollte auch auf der Ebene von EU und NATO gelten. Um in der Diskussion mit unseren Verbündeten Gehör zu finden, müssen wir in der Lage sein, mit der Bundeswehr einen ernsthaften eigenen Beitrag zu gemeinsamen Anstrengungen zu leisten. Mit dem vorliegenden Haushaltsentwurf schaffen wir eine verlässliche Grundlage für die weitere Entwicklung der Bundeswehr. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Paul Schäfer, Fraktion Die Linke.

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Rüstungslast von 30 Milliarden Euro - so hoch ist sie nach NATO-Kriterien - ist meines Erachtens entschieden zu hoch. Der Personalumfang der Streitkräfte ist mit 250 000 Soldaten und Soldatinnen deutlich überdimensioniert. Der Prozess der Transformation der Bundeswehr zu einer Streitmacht, die global einsetzbar sein soll, ist in meinen Augen ein Irrweg, der unsere Sicherheit nicht erhöht; im Gegenteil. ({0}) Meine Fraktion plädiert dafür, den Fokus wieder auf die Landesverteidigung zu richten. Dafür wären 100 000 Soldatinnen und Soldaten ausreichend. Wir könnten uns dann eine Reihe von sehr kostspieligen Großprojekten sparen und dieses Geld nützlicheren Dingen zuführen. Dass die Fraktion Die Linke ein überaus kritisches Verhältnis zum Militär und zu Militäreinsätzen hat, wird Sie nicht überraschen. Aber eines gilt auch für uns: Wir wollen uns um die sozialen Belange der Soldatinnen und Soldaten kümmern. Das sind Menschen aus Fleisch und Blut, die auch Hilfreiches tun können - das Stichwort Berchtesgaden ist gefallen - und die - ich sage das auch mit Blick auf das Gros der Zeitsoldaten - durchaus nur einen schmalen Geldbeutel haben. Aber auch für die Beamten des Bundes dort gilt, dass ihnen in den letzten Jahren einiges zugemutet wurde. So ist für uns die Senkung des schon einmal auf 60 Prozent gekürzten Weihnachtsgeldes noch einmal um die Hälfte nicht akzeptabel. ({1}) Wir werden deshalb zu diesem Haushalt eine Anhebung beantragen. Wir halten diese Kürzung für unzumutbar. An der Stelle sind wir auch etwas radikaler als der Bundeswehr-Verband. Die Ost-West-Angleichung der Besoldung bis 2009 ist jetzt endlich ins Auge gefasst worden. Sie war längst überfällig. Sie ist von uns lange gefordert worden. ({2}) Der Gesetzgeber wird sich auch ganz dringend um die Rentenversorgung bei den Soldaten auf Zeit kümmern müssen. Hier besteht Regelungsbedarf. Hierzu muss es auch Vorschläge der Bundesregierung geben. ({3}) Schließlich müssen wir uns um die Sozialverträglichkeit bei der Umsetzung des Stationierungskonzepts kümmern. Wir nehmen die Klagen der Soldatinnen und Soldaten, aber auch der Zivilbeschäftigten sehr ernst. Sie berichten über schwierige Zukunftsaussichten dort, wo Stützpunkte in strukturschwachen Gebieten geschlossen werden. Es ist das alte Lied: Die Verantwortung darf nicht zwischen Bund und Ländern hin und her geschoben werden. Bund, Länder und Kommunen sind zusammen in der Pflicht, ein Konversionsprogramm zu entwickeln, mit dem die Folgen solcher Umstrukturierungsprozesse sozialverträglich aufgefangen werden. ({4}) Nur ein Punkt zur Fußballweltmeisterschaft: technische Amtshilfe. Herr Minister, Sie haben es angesprochen. Wenn es so viele Anforderungen aus den Ländern gibt, in diesem Bereich aufzustocken, dann ist das doch nur ein deftiger Hinweis darauf, wie sehr die Länder in den letzten Jahren beim zivilen Katastrophenschutz und bei der Polizei haben sparen müssen. ({5}) Darüber muss gesprochen und hier muss korrigiert werden. Wir bleiben unserer Grundposition auch an einer anderen Stelle treu: Wir lehnen Privatisierungen und Outsourcing ab. Das gilt gerade für einen so sensiblen Bereich wie die Bundeswehr. Hier geht es um maximale parlamentarische Kontrolle. Den bei der Bundeswehr Beschäftigten muss die Chance gegeben werden, zu zeigen, dass sie die Dienstleistungen, die gefordert werden, effektiv und kostengünstig erbringen können. Sie wollen die Bundeswehr zu einer globalen Einsatzarmee transformieren. Das hat seinen Preis; ich habe die Zahl genannt. Eben war ich bei den kleinen Zahlen, jetzt sind wir bei den großen Zahlen. Dieser Etat bleibt auf hohem Niveau. Er war nur dadurch zu halten, dass bei der Marine Programme ausgelaufen sind und sich bei der Luftwaffe einige Verzögerungen ergeben haben. Sonst müssten Sie sogar noch aufstocken. Das ist eine Tatsache. Ich will an drei Beispielen zeigen, warum wir es nach unserer Meinung mit einer Fehlentwicklung bei der Einsatz- und Beschaffungsplanung zu tun haben. Dabei geht es auch um die Einsatzdoktrin. Beispiel Eurofighter. Dass die bestellten 180 Jagdflugzeuge viel zu viel sind, wusste man schon zu Volker Rühes Zeiten. Wir konnten locker zwei Flugzeuge an Österreich abgeben, dem es zu lange dauerte, bis seine Maschinen geliefert wurden. Außerdem hat man sehr schnell eine neue Einsatzrolle für diese Eurofighter gefunden, nämlich als Jagdbomber. Diese Rollenneuorientierung kostet einiges, eine schlappe halbe Milliarde Euro. Die Steigerung der Ausgaben für Rüstungsforschung im Haushalt geht zu einem großen Teil auf diese so genannte Rollenanpassung zurück. Dazu, dass hier in großem Stil Jagdbomber beschafft werden sollen, sagen wir ganz unmissverständlich: Jagdbomber für den nächsten Luftkrieg wollen wir nicht. ({6}) Deshalb sollte sich der Bundestag darüber verständigen, dass die zweite und dritte Tranche des Eurofighters Paul Schäfer ({7}) nicht beschafft wird. In der SPD-Fraktion gab es Anfang des Jahres in dieser Frage einmal ein kurzes Aufmucken in der Richtung, dass man 2,8 Milliarden Euro sparen könne, wenn die dritte Tranche nicht beschafft werde. Davon hört man heute nichts mehr; man ist sehr schnell eingeknickt. Hier hätte ich mir ein etwas couragierteres Auftreten der SPD gewünscht. ({8}) Zweites Beispiel: Raketenabwehrsystem MEADS. Die Kollegin von der FDP hat schon darauf hingewiesen. Es gibt auch ausführliche Studien, die zu dem Schluss kommen, dass für die herkömmliche Flugabwehr die vorhandene Patriot reicht. Gegen die Bedrohungen durch ballistische Raketen ist das System ungenügend. Nur für den Schutz einer Truppe im Ausland hätte MEADS logistische Vorteile, wenn man es mit dem A400M verbindet. Allerdings hätten wir dann gern gewusst, an welche Einsatzszenarien dabei gedacht ist. Denn im Kongo oder im Sudan wird dieses Waffensystem nicht benötigt. Es ergibt höchstens Sinn, wenn man gegen eine relativ hoch gerüstete Militärmacht zu Felde zieht, zum Beispiel Pakistan oder Iran. Wollen wir das? Das ist die Frage, die da zu stellen ist. Auch hier geht es um schlappe 4 Milliarden Euro. Welche Kosten der Eurofighter verursacht, habe ich gar nicht erwähnt. Wir reden hier über einen zweistelligen Milliardenbetrag; er liegt zwischen 20 und 30 Milliarden Euro. Bei MEADS geht es übrigens auch um industriepolitische Förderung. Das Flugzeugkapitel des Einzelplans 14 ist ohnehin ein Riesensubventionstopf für eine Firma namens EADS. Keynesianismus ist ja ganz gut, aber Rüstungskeynesianismus ist schlecht. ({9}) Drittes Beispiel: neue Korvetten und die geplante neue Fregattenreihe F 125. Ihr besonderes Merkmal soll die deutlich gesteigerte Fähigkeit sein, von der See aus Landziele zu bekämpfen. Diese effektivierte See-/ Landkriegsführung wird offensichtlich benötigt, um auf andere Länder einwirken zu können. Ich habe heute Morgen bei der Kanzlerin gelernt, dass man dafür sorgen muss, dass andere unsere Wertvorstellungen ernst nehmen. Das ist also das Szenario, an das da gedacht ist. Der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Herr Naumann, hat in einem Festvortrag kürzlich das Lob der Marine gesungen und hat Folgendes gesagt: Am wirkungsvollsten ist … eine Strategie, die sich der Machtprojektion „onward from the sea“ bedienen kann, auch weil diese kaum von Überflug- und Zugangsrechten abhängig ist. Das ist Klartext. Da weiß man, wohin man mit diesen schwimmenden Plattformen will. Diese Plattformen sind geeignet für Expeditionary Forces, also für Eingreiftruppen, die langfristig Einsätze durchführen sollen. Auch hier stellt sich die Frage: Was sind das für Expeditionen, die da gestartet werden sollen? ({10}) Ich bin mit solchen Bewertungen sehr vorsichtig. Die Kollegen aus dem Verteidigungsausschuss, die mich etwas besser kennen, wissen das. Diese Konzepte haben für mich verdammt viele Anklänge an die alte Kanonenbootpolitik, nur eben Kanonenbootpolitik mit den militärischen Mitteln des 21. Jahrhunderts. ({11}) - Tut mir Leid, dies sagen zu müssen. Lesen Sie nach, was der ehemalige Generalinspekteur Naumann gesagt hat! - Wir können vor einer solchen Entwicklung nur entschieden warnen. Die neuen Fregatten: nicht mit uns. ({12}) Die Bundeswehr ist, wie wir hören, eine Armee im Einsatz. Dort, wo sie im Einsatz war, ist sie geblieben. Die Einsätze haben länger gedauert, als man gedacht hat. Es gibt immer mehr neue Einsatzszenarien: morgen im Kongo, übermorgen möglicherweise - im Herbst werden wir vielleicht diese Debatte führen - im Sudan. Nun können wir gerne über die Sinnhaftigkeit der einzelnen Missionen diskutieren; ich bin sehr dafür. Aber wenn es so ist, dass immer mehr militärische Zwangsmittel benötigt werden, um auf Konflikte einzuwirken, dann stimmt etwas an der Grundrichtung der internationalen Politik nicht. ({13}) Dann müssen wir noch viel schärfer nach den Ursachen der gewaltträchtigen Konflikte in vielen Teilen der Welt fragen und noch viel gründlicher überlegen, wie man durch langfristige und auf Deeskalation ausgerichtete Entwicklungsstrategien diese Konflikte wirklich bewältigen kann. Wenn Länder durch Strukturanpassungsprogramme des IWF in noch größere Armut gestürzt werden und wenn sich das Wettrennen um gewinnträchtige Rohstoffressourcen vor Ort verschärft und durch westliche Firmen angeheizt wird, dann müssen wir zuerst über eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung und über eine gerechtere Ressourcenverteilung reden und nicht über Eingreiftruppen der NATO und der EU. ({14}) Die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat jüngst mehrfach auf die Riesendiskrepanz zwischen den Weltmilitärausgaben und den globalen Ausgaben für öffentliche Entwicklung hingewiesen: hie 1 Billion Dollar und da 58 Milliarden Dollar. ({15}) - Entschuldigung, 78 Milliarden Dollar. Die Diskrepanz bleibt trotzdem bestehen. - Sie hat gefordert, dass die deutsche Politik hier zu einer grundlegenden Gewichtsverschiebung beitragen müsse. Dumm ist nur, dass zwei Drittel dieser Weltmilitärausgaben von der NATO aufgePaul Schäfer ({16}) bracht werden. Der NATO-Generalsekretär wird nicht müde, eine Steigerung dieser Ausgaben zu fordern. ({17}) Hier wäre ein wichtiges Betätigungsfeld für die Bundesregierung. Sie könnte die Überprüfungskonferenz hinsichtlich der konventionellen Streitkräfte in diesem Jahr nutzen, um über eine qualitative Abrüstung zu reden. Sie könnte auch den diesjährigen NATO-Gipfel nutzen, um eine Initiative einzubringen, wonach sich die NATO-Mitgliedsländer zu einer jährlichen Absenkung ihres Wehretats um 5 Prozent verpflichten. ({18}) Das wäre eine ganz tolle Initiative. Herr Minister, setzen Sie sich doch einmal mit Ihrer Fachkollegin zusammen. Sie könnten das sozusagen innerhessisch regeln und sich überlegen, ob nicht eine solche Initiative im November anlässlich des NATO-Gipfels eingebracht werden könnte. Abrüstung immer nur woanders zu fordern, geht nicht. Nein, auch hier bei uns geht es um Abrüstung. Danke. ({19})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich erteile das Wort dem Kollegen Alexander Bonde, Bündnis 90/Die Grünen.

Alexander Bonde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003509, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben es in dieser Debatte schon oft gehört: Die Bundeswehr befindet sich in einer Transformationsphase und die Anforderungen an die Angehörigen der Bundeswehr sind enorm. Unsere Soldatinnen und Soldaten beweisen in vielfältigen Auslandseinsätzen, dass wir unter gewissen Voraussetzungen Sicherheit und Stabilität in Krisenregionen verbessern können. Aber nicht zuletzt seit dem letzten Bericht des Wehrbeauftragten wissen wir alle auch, dass die Bundeswehr in ihrer bisherigen Struktur bei den aktuellen Einsätzen an der Belastungsgrenze angekommen ist. Ich möchte an dieser Stelle im Namen meiner Fraktion den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ausdrücklich für ihr Engagement danken. Ebenso möchte ich allen zivilen Helferinnen und Helfern der Polizei, aus der Entwicklungshilfe, den NGOs und den internationalen Organisationen danken; denn ein Großteil unserer Missionen findet in enger zivil-militärischer Kooperation statt. ({0}) Dieser Zusammenhang ist auch bei der Frage des Mahnmals, die Sie, Herr Minister, angesprochen haben, wichtig. Denn aus unserer Perspektive und bei einem umfassenden Sicherheitsbegriff darf man nicht nur eines Teils derjenigen, die bei Auslandseinsätzen zu Schaden kommen, gedenken, während man einen anderen Teil nicht mitberücksichtigt. Insofern sollte das Ganze breiter anlegt werden als das Mahnmal, das Sie hier skizziert haben. ({1}) Die Transformation der Bundeswehr bedeutet, wahrzunehmen, dass es neue außenpolitische Aufgaben gibt und sich damit die Rolle der Streitkräfte ändert. Man muss weg vom Schwerpunkt der reinen Landesverteidigung hin zu einer Bundeswehr, die dort, wo es nötig ist, in der Lage ist, internationale und humanitäre Verantwortung in Bündnissen zu übernehmen. Für uns Grüne und insgesamt in der Bundesrepublik war es ein langer Diskussionsprozess, bis man zu der verantwortungsvollen Position gekommen ist, in einzelnen Fällen auch mit militärischer Gewalt Friedenspolitik machen zu müssen. Wir müssen in der Phase, in der wir uns im Moment sicherheitspolitisch befinden, sehr viel mehr Bedacht an den Tag legen, wenn wir über den Einsatz des Militärs diskutieren. Erlauben Sie mir eine persönliche Bemerkung. Ich glaube, wir müssen aufpassen, nicht in einen Automatismus bei den Einsätzen im militärischen Bereich hineinzurutschen. Wir müssen wieder darüber sprechen, wie wir Einsätze verantwortungsvoll zu einem Ende führen können. Wir müssen uns offen darüber unterhalten, dass es bei aller Notwendigkeit und allen Gründen für Einsätze auch eine Grenze der verfügbaren Kapazitäten und der Belastbarkeit der Soldatinnen und Soldaten gibt. Ich persönlich betrachte es mit großer Sorge, dass diese Fragestellungen bei dem Einsatz, in den uns die Bundesregierung gerade manövriert, nicht wirklich auf der Tagesordnung standen und nach meinem Verständnis eine zu geringe Rolle in der Debatte gespielt haben. Zurück zur Bundeswehr. Bereits die alte Regierung, die rot-grüne Mehrheit, hat den Transformationsprozess angestoßen und begleitet. Auch wenn wir in vielen Punkten mit dem ehemaligen Verteidigungsminister im Clinch lagen und seine Ansichten konstruktiv und kritisch hinterfragt haben, so haben wir diese Linie doch verantwortungsvoll mitgetragen. Das galt in unserer Regierungszeit und das gilt auch heute in der Opposition. ({2}) Leider muss man aber sagen, dass sich der Transformationsprozess nicht in dem Maße, wie dies in den Reden betont wurde, in dem neuen von Schwarz-Rot vorgelegten Entwurf des Einzelplans 14 wiederfindet. Denn an manchen Stellen wird unter Minister Jung bewusst wieder der Weg in die falsche Richtung eingeschlagen. Es werden zu viele Mittel für die herkömmliche Landesverteidigung und zu wenige für den bei den Auslandseinsätzen und der Krisenprävention bestehenden Bedarf bereitgestellt. Es gibt zu viel Logik des Kalten Krieges mit Bedrohungsszenarien, in denen von Kriegen zwischen hoch gerüsteten Staaten ausgegangen wird, und eine zu geringe Anpassung an außenpolitische Herausforderungen, an reale Einsatzszenarien im Bereich der asymmetrischen Bedrohung, der Nation Building und der Stabilisierung. ({3}) Wenn man die tatsächliche Situation bei den Einsätzen dem Einzelplan gegenüberstellt, sieht man, dass immer noch eine zu geringe Ausstattung für die konkreten Einsatzsituationen vor Ort vorgesehen ist. Wir erleben, dass weder das richtige Personal noch das richtige Material für die tatsächlichen Einsätze eingeplant werden. Vielmehr fließt ein Großteil der Investitionen in den Bereich der klassischen Landesverteidigung, in den Bereich dessen, wo man wieder sozusagen die großen, alten Kriege befürchtet. Insofern ist das Problem der Bundeswehr nicht in erster Linie Geldmangel, sondern die richtige Prioritätensetzung. Diese, sehr geehrter Herr Bundesverteidigungsminister, setzen Sie falsch. ({4}) Sie selbst haben das im Bereich der Beschaffungen sehr deutlich gemacht. Die Beschaffungen erfolgen weiter nach dem Produktkatalog der Industrie und weniger nach dem aktuellen Bedarf. Ich will es an drei Beispielen deutlich machen. Den Eurofighter haben Sie genannt. Jeder von uns weiß: Wir brauchen keine 180 neuen Kampfflugzeuge, weil die Bedrohungssituation dies nicht erforderlich macht. Jeder weiß: Dies ist eine Verschwendung von Steuermitteln. Gleichwohl ist unser Antrag, nun endlich Verhandlungen mit der Industrie aufzunehmen, um aus der dritten Tranche des Eurofighters auszusteigen, im Haushaltsausschuss von der großen Koalition abgelehnt worden - interessanterweise bei Enthaltung der FDP, wenn ich das an dieser Stelle einmal kritisch äußern darf. Zweites Stichwort: die IRIS-T-Anpassung für das Flugabwehrsystem MEADS. Wir entwickeln ein Flugabwehrsystem, um uns gegen Flugkörper mit mittlerer Reichweite anderer hochgerüsteter Staaten zu verteidigen. So weit, so schlecht. Jetzt will das Verteidigungsministerium dieses internationale Projekt aber noch mit einem nationalen Flugkörper aufmotzen, damit die deutsche Flugkörperindustrie mehr Aufträge erhält. Das System wird komplizierter, schwieriger zu warten und teurer. Das ist sozusagen die Schweinslederlösung mit Goldnahtkante; im Sprachgebrauch der MTV-Generation könnte man auch sagen: Pimp my MEADS. ({5}) Drittes Stichwort: PARS 3 Long Range. Das Panzerabwehrraketensystem für den Hubschrauber Tiger, von Rot-Grün aus guten Gründen in die Mottenkiste gelegt, ist wieder da. Ich weiß nicht, wo Sie herannahende Panzerarmeen vermuten. Bei den täglichen Einsätzen der Bundeswehr reden wir über Minen, Heckenschützen und Autobomben. Keines der drei Systeme, die ich benannt habe, werden Sie jemals in Kabul oder auf dem Balkan einsetzen. Auch im Kongo - sollte der Einsatz beschlossen werden - werden Sie keines dieser Systeme jemals einsetzen. Das Gleiche gilt für den Sudan und jeden anderen Ort dieser Welt, wo ich mir im Moment einen sinnvollen Einsatz der Bundeswehr vorstellen kann. Lieber Herr Kollege Jung, die Bundeswehr braucht Führung in der Transformation. Sie braucht keinen Zickzackkurs und niemanden, der in Abenteuer hineinstolpert. Bezüglich des Kongoeinsatzes kann man inhaltlich unterschiedlicher Meinung sein. Ich bin wesentlich skeptischer als große Teile meiner Fraktion, ob das hier formulierte humanitäre Pathos von 100 bis 250 Soldaten vor Ort tatsächlich umgesetzt werden kann. Darüber kann man ernsthaft diskutieren. Nicht diskutieren kann man über das Hin und Her, das Sie auf europäischer Ebene veranstaltet haben. Sie haben die Ausschüsse des Bundestages, den Bundestag und die Öffentlichkeit über Wochen im Dunkeln darüber gelassen, was Sie eigentlich vorhaben: Es begann mit einem Nein zum Einsatz seitens des Verteidigungsministers. Einen französischen Handkuss später hat die Bundeskanzlerin dies revidiert. Der Verteidigungsminister meinte anschließend: Ja, aber ohne Führungsrolle. Dann haben Sie fahrlässig „Berlin plus“ ausgeschlagen. Zu guter Letzt übernimmt Deutschland die Führungsrolle und hat den Einsatz am Bein. - Herr Jung, Führungsfähigkeit und Demonstration von Handlungsfähigkeit sehen anders aus. Wenn das europäische Sicherheitspolitik sein soll, dann kann ich nur sagen: Gute Nacht! An einer anderen Stelle haben Sie die Führung übernommen. Sie haben gesagt, dass Sie den Personalhaushalt reduzieren wollen. Ich frage Sie aber, wie es dann dazu passt, dass Sie nun zusätzlich 25 000 Wehrdienstleistende einberufen wollen. Aufgrund der militärischen Planung Ihres Generalinspekteurs ist dies nicht notwendig. Sicherheitspolitische und sachliche Gründe gibt es mitnichten. Was sollen diese 25 000 Wehrpflichtigen also tun? An erster Stelle sollen sie die Wehrpflicht verteidigen. Ansonsten wird Zeit abgesessen und andernorts notwendiges Material und Personal gebunden. Das ist unwirtschaftlich und sicherheitspolitisch kontraproduktiv. Sie steigern weder die Leistungsfähigkeit der Streitkräfte noch entlasten Sie den Personalhaushalt und sparen an Betriebsmitteln, wie Sie es angekündigt haben. Wenn Sie Gerechtigkeit bei der Wehrpflicht wollen, dann tun Sie, was dringend notwendig ist: Schaffen Sie die Wehrpflicht endlich ab! Sie wissen genau, sicherheitspolitisch braucht sie niemand. ({6}) Wenn man alles zusammennimmt, also Ihre Planungen bezüglich der Beschaffung und des Personals, dann wundert es mich schon, dass die Sozialdemokraten den alten Weg der Transformation überhaupt wiedererkennen; denn Sie nehmen die Reform des vorherigen Verteidigungsministers Struck mit Ihren Maßnahmen Stück für Stück zurück. Man kann darüber streiten, ob das nicht immer schon das Ziel der CDU/CSU in diesem Bereich war. Wir sind ja froh, dass zumindest Sie inzwischen, was den Einsatz im Innern angeht, von der Bundeswehr bekehrt worden sind. An dieser Stelle wünsche ich Ihnen viel Erfolg beim Kampf gegen den Bundesinnenminister. Wir sind gespannt, ob Sie sich wenigstens an dieser Stelle einmal durchsetzen werden, Herr Jung. ({7}) Zusammenfassend möchte ich sagen: Sie haben mit uns, der grünen Fraktion, einen Diskurspartner, der verantwortungsvolle Außen- und Sicherheitspolitik mitgestalten will und der sich solidarisch damit erklärt, dass es in bestimmten Fällen geeigneter Streitkräfte bedarf. Wir wissen, dass die Bundeswehr ein Partner bei vielen friedenserhaltenden Einsätzen ist. Wenn Gewalt als letztes Mittel eingesetzt werden muss, wenn die Bundeswehr in zivile und entwicklungspolitische Maßnahmen eingebunden werden soll, stehen wir mit Ihnen auf einer Seite. Wir erwarten aber von der Bundesregierung, dass sie die Herausforderung annimmt und Führung zeigt, dass sie die Aufgabe als sicherheitspolitisches Projekt trägt und nicht als industriepolitische Spielwiese versteht. Herr Jung, Ihr heutiger Redebeitrag hat uns gezeigt, dass Sie sich ein Stück weit als zweiter Wirtschaftsminister dieser Bundesregierung sehen. ({8}) Ich kann gut nachvollziehen, dass man diese Lücke in der Bundesregierung füllen möchte, weil keiner so recht weiß, ob der bisherige Wirtschaftsminister diese Rolle tatsächlich jemals ausfüllen kann. ({9}) Solange Sie, Herr Jung, die Rolle des Verteidigungsministers nicht gänzlich ausfüllen - uns scheint, es ist noch ein langer Weg, bis das der Fall ist -, sollten Sie die Finger von den Ressorts anderer lassen. Betreiben Sie Sicherheitspolitik und hören Sie mit dem industriepolitischen Unsinn auf! Vielen Dank. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Herrmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jürgen Herrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003552, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister, Sie haben es eben angedeutet: Die Sicherheitspolitik steht im 21. Jahrhundert vor neuen großen Herausforderungen. Für uns Parlamentarier bedeutet dies, dass alle sicherheitspolitischen Instrumente daran gemessen werden müssen, wie effizient ihre Wirksamkeit gegenüber heutigen, aber auch künftigen Bedrohungen ist. Bedrohungen, egal welcher Art, sind leider nicht kalkulierbar, weder was den Ort noch was das Profil des Gegners angeht. Sie sind im Gegensatz zu früher meist asymmetrisch. Ich sage aber auch ganz klar, dass die symmetrische Bedrohung nicht außer Acht gelassen werden darf. ({0}) Daran müssen unsere Sicherheitsstrukturen ausgerichtet werden. Innere und äußere Sicherheit sind nicht mehr voneinander zu trennen. Sicherheitsvorsorge setzt sich aus verschiedenen Bausteinen zusammen. Neben den rein militärischen Aspekten gehört eine Reihe von anderen Bereichen untrennbar dazu. Ich begrüße es deshalb sehr, dass wir unsere Vorstellungen zur inneren und äußeren Sicherheit unter Berücksichtigung des erweiterten Sicherheitsbegriffes - Herr Minister, Sie haben es angekündigt - noch in diesem Jahr in einem Weißbuch wiederfinden werden. Ein wesentlicher Baustein der Sicherheitsstrategie ist die Verteidigung. Dafür bietet der Einzelplan 14, mit dem wir uns heute befassen, den entscheidenden Rahmen. Angesichts des von der Bundesregierung vorgegebenen Kurses der Konsolidierung der Finanzen ist natürlich auch der Finanzrahmen des Verteidigungshaushaltes nicht unbegrenzt. Das Volumen für 2006 hat sich bei 23,88 Milliarden Euro eingependelt. Durch Verkäufe von Bundeswehrliegenschaften sollen noch circa 60 Millionen Euro hinzukommen. Vor dem Hintergrund des Konsolidierungskurses sind Erhöhungen Grenzen gesetzt. Daher müssen wir prüfen, wo Einsparungen möglich und wo Erhöhungen notwendig sind. Der Regierungsentwurf, der uns heute vorliegt, ist ein Lösungsvorschlag, der den Spagat zwischen wirtschaftlicher Haushaltsführung und nötigen Investitionen schafft. Unsere Aufgabe als Parlamentarier besteht darin, diesen Prozess verantwortungsbewusst und kritisch zu begleiten. Dabei sollten wir uns erstens von der Maxime leiten lassen, den bestmöglichen Schutz unserer Soldaten und Soldatinnen im Einsatz zu gewährleisten und zu verbessern. ({1}) Herr Schäfer, ich möchte zu Ihren Einwürfen eben, zum Beispiel zum Programm MEADS, sagen: Wir haben uns in der Gruppe „Bodengebundene Luftverteidigung“ lange mit diesem Thema beschäftigt und sind mit großer Mehrheit übereingekommen, dieses Projekt zu verwirklichen. ({2}) - Ja, in der Gruppe sogar einstimmig. Ich glaube nach wie vor, dass es Sinn und Zweck hat, dieses Projekt zu verwirklichen. Zweitens sollten wir uns von der Maxime leiten lassen, die internationalen Verpflichtungen gegenüber unseren Bündnispartnern einzuhalten. Herr Schäfer, Sie haben vorgeschlagen, die Zahl der Bundeswehrsoldaten auf 100 000 zu reduzieren. Sie müssen mir erklären, wie wir uns dann überhaupt noch an internationalen Einsätzen beteiligen könnten. Die Politik, die Sie hier betreiben - Sie haben von Kanonenbootpolitik gesprochen -, zeugt davon, dass Sie kein Interesse daran haben, Sicherheit für die Bundesrepublik zu gewährleisten. Das ist pure Stimmungsmache. Ich kann nur davor warnen, den bestehenden Konsens im Verteidigungsausschuss aufzukündigen. ({3}) Wir sollten uns drittens von der Maxime leiten lassen, die wehrtechnische Industrie zu stärken. Es ist sicherlich wichtig, ihre Konkurrenzfähigkeit auf internationalem Parkett zu erhalten. Es liegt in unserem Interesse, uns nicht von der ausländischen Rüstungsindustrie abhängig zu machen. Sie wartet nämlich nur darauf, dass wir unsere Kernfähigkeiten vernachlässigen. Letztendlich zahlen wir einen hohen Preis, wenn wir nicht mehr selbst produzieren. Die Bundeswehr hat sich im Laufe des Transformationsprozesses zu einer Armee im Einsatz entwickelt, deren Aufgabe darin besteht, Frieden sichernde und Frieden erhaltenden Maßnahmen auszuführen. Ein Ende dieser Entwicklung und der damit verbundenen Frage nach weiteren Einsätzen im Ausland ist nicht absehbar. Herr Minister, Sie haben vorhin die NATO-ResponseForce und die EU-Battle-Groups angesprochen. Das sind Aufgaben, die wir in Zukunft zu bewältigen haben. Es ist sicherlich wichtig, einen ausreichenden Plafond bereitzuhalten, damit wir Truppen zur Verfügung stellen können, wenn sie angefordert werden. Daher ist eine Truppenstärke von 250 000 Männern und Frauen sicherlich angemessen. Die Bundeswehr wird auch - der Minister hat das angesprochen - in Katastrophengebieten im In- und Ausland eingesetzt, in jüngster Zeit, um nur einige Beispiele zu nennen, in Bad Reichenhall, in Hochwassergebieten, im Erdbebengebiet in Pakistan und bei der Bekämpfung der Vogelgrippe auf Rügen. Das ist das Aufgabenspektrum, dem sich unsere Bundeswehr gegenübersieht. Unsere Soldaten stellen die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr tagtäglich - das muss man hier einmal sagen unter Beweis. Sie zeigen, zu welchen Leistungen sie letztendlich bereit sind und dass sie verantwortlich handeln können. Die Organisationsstruktur und das Engagement jedes einzelnen Soldaten ist, das kann ich hier nur feststellen, vorbildlich. Mein herzlicher Dank an die Soldatinnen und Soldaten, die dies immer wieder möglich machen. ({4}) Eine ganze Reihe von Haushaltsstellen des Einzelplans 14 ist dem Umbau zu einer modernen, effizienten sowie schnell einsatzfähigen und leicht verlegbaren Truppe geschuldet. Ich begrüße daher sehr, dass die verteidigungsinvestiven Ausgaben, die bei 6 Milliarden Euro liegen, auf 25 Prozent des Etats angewachsen sind. Wir müssen daran arbeiten, diesen Anteil noch zu steigern. Wenn wir den begonnenen Transformationsprozess fortsetzen, sollte es uns gelingen, die Betriebsausgaben weiter zu reduzieren und damit Spielräume für Investitionen zu gewinnen. Ich warne aber davor, alles zu privatisieren und alles outzusourcen. Es gibt viele Bereiche, die von der Bundeswehr sicherlich nicht so kostendeckend betrieben werden können, wie ein Privater dies könnte. Das heißt aber nicht, dass dieser es auch besser machen würde. Ich glaube, dass viele Bereiche in der Bundeswehr besser aufgehoben sind, als sie es im privaten Sektor wären. Ich denke, Frau Hoff, über den richtigen Weg werden wir noch viel diskutieren. Ich halte es für notwendig und richtig - das betone ich -, dass diejenigen, die es zu ähnlichen Konditionen besser machen können, den Zuschlag erhalten sollten. Beachtlich ist, dass der Bereich „Wehrforschung, wehrtechnische und sonstige militärische Entwicklung und Erprobung“ jetzt ein Gesamtvolumen von 1,1 Milliarden Euro umfasst. Das ist eine Steigerung um satte 15 Prozent. Lassen Sie mich zu den zuvor genannten Eckpunkten nur zwei Zahlen herausgreifen: Wir fördern die Zukunftstechnik im Bereich der weltraumgestützten Aufklärung mit 325 Millionen Euro. Das sind 50 Prozent mehr, als wir für derartige Zukunftstechnologien im letzten Jahr zur Verfügung hatten. Im Übrigen wird gerade die Aufklärung bei zukünftigen Einsätzen eine entscheidende Rolle spielen, um Erkenntnisse über den Gegner und die Infrastruktur zu erhalten. Nur so können wir, neben den eben genannten Komponenten, einen umfassenden und effektiven Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten gewährleisten. Wir stellen 400 Millionen Euro für die Nachfolgelösung der Breguet Atlantic, die Entwicklung des mobilen Bodenüberwachungsradars und die weiträumige, abbildende Aufklärung der Boden- und Luftlage durch AGS sowie durch Euro Hawk zur Verfügung. Das zeigt die Maßnahmen auf, die heute dringend erforderlich sind. Unser Blick sollte aber auch langfristige und für die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr bedeutsame Aspekte berücksichtigen. Der Zulauf der Fregatte 125, aber auch die Diskussion über einen weiteren Einsatzgruppenversorger muss geführt werden. Die Entwicklung einer Nachfolgelösung für die CH 53 ist mit dem HTH, also dem schweren Transporthubschrauber, bereits angedacht und muss mit unseren Bündnispartnern gemeinsam umgesetzt werden. Mit dem Haushaltsentwurf, der uns heute vorliegt, schaffen wir eine Grundlage für die zukünftige Arbeit der Bundeswehr, der Soldatinnen und Soldaten sowie der Zivilangestellten. Sicherlich gibt es die Forderung, noch etwas mehr Geld einzubringen. Nach oben hin sind die Ausgaben aber zurzeit begrenzt. Ich sage in aller Deutlichkeit: Diejenigen, die tagtäglich hervorragende Arbeit abliefern - die Soldatinnen und Soldaten sowie Zivilangestellte -, haben ein Recht darauf, von uns entsprechend ausgerüstet zu werden. Dem kommen wir gerne nach. Ich wünsche allen Soldatinnen und Soldaten, dass sie immer heil aus dem Einsatz zurückkommen. Denn sie tun ihren Dienst für uns in Deutschland. Danke schön. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort die Kollegin Birgit Homburger von der FDP-Fraktion. ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundeswehr muss sich auf die neuen Herausforderungen und auch auf neue Aufträge einstellen. Mit den ihr zur Verfügung gestellten Mitteln hat sie diese Aufgabe bisher sehr gut gemeistert. Allerdings sind die politischen Vorgaben mit den zugebilligten Mitteln häufig nicht kompatibel. Der in aller Munde geführte und hier schon einige Male angesprochene Transformationsprozess hat nicht in allen Bereichen die richtige Zielsetzung, vor allem nicht in der Grundsatzfrage der Struktur unserer Streitkräfte. Ich finde, da liegt das Grundproblem für die Zukunft der Bundeswehr. ({0}) Allerdings - das hat sich in der heutigen Debatte gezeigt - ist eine Strukturkorrektur vonseiten der Regierung nicht ins Auge gefasst. Stattdessen beschäftigt sich die Bundesregierung im Augenblick mit weiteren Auslandseinsätzen, beispielsweise in Afrika. Auch wir sehen die dringende Notwendigkeit, uns mit Afrika zu beschäftigen, aber dann bitte mit einem klaren Konzept und in internationalem Rahmen. Die Art und Weise, wie das im Augenblick stattfindet - man hat kein klares Konzept und dann legt die Bundesregierung auch noch das Parlament de facto im Vorhinein fest, indem sie international bereits klare Zusagen macht -, ist inakzeptabel. Die Bundeswehr ist und bleibt eine Parlamentsarmee. Daran sollten wir weiter festhalten. ({1}) Der komplette Entscheidungsablauf bei der Bundesregierung in diesem Zusammenhang ist ein Desaster. Beispielsweise ist nach wie vor völlig unklar, wie die mittlerweile nur noch 200 für Kinshasa eingeplanten Soldaten denn tatsächlich eine Abschreckung darstellen sollen. ({2}) Und was passiert eigentlich, wenn sich die Sicherheitslage nach den Wahlen drastisch verschlechtert? Behalten in einem solchen Fall Einsatzraum und Einsatzdauer tatsächlich ihre Gültigkeit? Ich weiß, dass die Kolleginnen und Kollegen der SPD und CDU/CSU im Verteidigungsausschuss diese Fragen genauso gestellt haben wie die Kolleginnen und Kollegen der Opposition. Aber bisher blieben diese Fragen von der Bundesregierung komplett unbeantwortet. Deshalb sagen wir ganz klar: Es besteht die Gefahr, dass wir mit der Teilnahme an einer derartigen Mission in ein unkalkulierbares Risiko laufen. Wir finden, dass die Bundesregierung diese Fragen aufzuklären hat, und zwar hier im Parlament. ({3}) Im Übrigen, Herr Verteidigungsminister Jung, haben Sie wiederholt erklärt, dass Deutschland sich, wenn überhaupt, lediglich in Form von logistischer und Lufttransportunterstützung beteiligen werde, aber auf gar keinen Fall mit Kampftruppen. Sie haben zu Beginn der Diskussion auch gesagt, Deutschland werde auf gar keinen Fall eine Führungsrolle übernehmen. Jetzt ist es so, dass Deutschland nicht nur irgendeine Führungsrolle, sondern sogar die Gesamtführung für diesen Einsatz übernehmen soll. Vor diesem Hintergrund muss ich schon sagen: Das Hin und Her in der Diskussion war unnötig und ist verantwortungslos, weil die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr Sicherheit brauchen. Ich finde, man sollte über solche Fragen erst diskutieren, wenn man Klarheit hat, und nicht schon über alles Mögliche vorher in der Öffentlichkeit diskutieren und es anschließend revidieren. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen der SPD-Fraktion?

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Homburger, ist Ihnen möglicherweise entgangen, dass das Operation Headquarter in Potsdam zwar auch national führen und den Beitrag für Afghanistan leisten soll, aber strukturell in erster Linie darauf ausgerichtet ist, unter der politischen Verantwortung der Europäer - multinational eingebettet, was sich auch im Personal zeigt - zu führen? Insofern ist Ihre Aussage, dass die Operation unter deutscher Führung stehe, falsch. Es ist eine europäische Führung. Möglicherweise haben Sie das übersehen. ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Arnold, das habe ich nicht übersehen. Es ist in der Tat so, dass die Deutschen die gesamte Führungsverantwortung übernehmen sollen. ({0}) Selbstverständlich wird dieses Headquarter in Potsdam teilweise auch mit Offizieren aus anderen Ländern besetzt; das ist völlig klar. Aber es stellt sich beispielsweise die Frage, warum man in diesem Zusammenhang, was die Führungsfrage angeht, nicht zunächst einmal mit der NATO gesprochen hat. Auch hier herrscht eine Sprachlosigkeit, die völlig inakzeptabel ist. ({1}) Wir sagen Ihnen: Eine solche Art und Weise des Vorgehens - dass man erst öffentlich das eine sagt und anschließend das andere macht - ist zu kritisieren. Diesen Punkt habe ich angesprochen. ({2}) Herr Minister, Sie haben das Weißbuch erwähnt. Im Hinblick auf die Entwicklung der Bundeswehr hin zu einer Armee im Einsatz ist es tatsächlich unumgänglich, endlich die sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands und in der Folge auch die Grenzen für zukünftige Auslandseinsätze klar zu definieren. Das ist nach wie vor noch nicht passiert. Wir als FDP-Bundestagsfraktion hoffen, dass diese Fragen im neuen Weißbuch beantwortet werden, weil es dringend erforderlich ist, sowohl die sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands als auch die Grenzen für zukünftige Auslandseinsätze klar zu definieren. Das ist schon lange überfällig und muss in diesem Jahr endlich gemacht werden. Nun möchte ich eine Bemerkung zum Einsatz in Afghanistan machen. Abdul Rahman, der zum Christentum übergetreten ist, wurde heute bereits in anderen Debatten erwähnt. In der Debatte, die wir heute Morgen geführt haben, war unser Informationsstand aber noch ein anderer. Wir alle gingen davon aus, dass man ihn aus dem Land ausreisen lässt. Zwischenzeitlich haben wir erfahren, dass das afghanische Parlament einen Antrag beschlossen hat, wonach man ihn nicht ausreisen lassen will. Ich finde, vor diesem Hintergrund sollten wir alle deutlich machen: Es ist unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz in Afghanistan nur sehr schwer zu vermitteln, dass man Respekt vor einer anderen Religion zeigen und entwickeln soll, wenn man gleichzeitig erfährt, dass der Respekt vor der eigenen Religion, die viele unserer Soldatinnen und Soldaten haben, in dieser Art und Weise mit Füßen getreten wird. Das ist inakzeptabel und das sollten wir als Parlament, aber das sollten auch Sie als Regierung deutlich festhalten. ({3}) Trotz aller Einsparungspläne muss der bestmögliche Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten gewährleistet sein. Ausrüstung und Bewaffnung der Streitkräfte bereiten uns allerdings Sorgen. Deutsche Soldatinnen und Soldaten, die in Afghanistan im Einsatz sind, sitzen in Fahrzeugen, von denen lediglich die Hälfte Schutz gegen Sprengstoff- und Minenanschläge bietet. Im Bericht des Wehrbeauftragten heißt es, das BMVg habe erklärt, dass im Rahmen der Planung der für die NATO verbindlich zugesicherten NRF-Kräfte zunächst auch auf ungeschützte Fahrzeuge zurückgegriffen werden müsse. Weiter wird ausgeführt, dass die Verantwortbarkeit eines tatsächlichen Einsatzes in einer konkreten Krisenreaktion zu gegebener Zeit in jedem Einzelfall auch im Hinblick auf die Ausstattung mit geschützten Fahrzeugen bewertet würde. Wir sind der Auffassung, dass wir diese Investitionen jetzt tätigen müssen, da der Wehrbeauftragte zu Recht darauf hingewiesen hat, dass diese NRF-Kräfte kurzfristig einsetzbar sein müssen. Deshalb muss dafür gesorgt werden, dass für die entsprechende Anschaffung Haushaltsmittel bereitgestellt werden. Die Soldatinnen und Soldaten, die sich im Einsatz befinden, müssen im Übrigen nicht nur über geeignetes Gerät verfügen, sondern es muss auch sichergestellt sein, dass sie zuvor an den jeweiligen Geräten ausgebildet werden. Das ist im Augenblick nicht sichergestellt. Auch hier sehen wir dringenden Nachbesserungsbedarf. ({4}) Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Einen Punkt möchte ich allerdings noch ansprechen. Die weitere Ungleichbehandlung von Soldaten in Ost und West ist nicht akzeptabel. Wir sind der Meinung, dass im Rahmen dieses Haushaltsentwurfs für eine Gleichstellung gesorgt werden muss. Die innere Einheit Deutschlands ist in der Bundeswehr seit langem vollzogen. Es gibt keinerlei Unterschiede, weder was den Leistungswillen noch was die Leistungsfähigkeit der Soldaten betrifft. Deshalb setzen wir uns für die gleiche Bezahlung der Soldatinnen und Soldaten in Ost und West ein. Vielen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Johannes Kahrs für die SPD-Fraktion.

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Regierungsentwurf, so wie er dem Deutschen Bundestag vorliegt, sieht für den Verteidigungshaushalt einen Betrag in Höhe von 23,88 Milliarden Euro vor. Damit gehört der Verteidigungsetat wieder, wie schon seit Jahren, trotz aller kleinen Schwankungen zu den stabilen Haushalten. Dafür danke ich insbesondere den Ministern Steinbrück und Jung; denn das ist in dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit. Auch vor dem Hintergrund der Schilderungen der Kolleginnen und Kollegen wird deutlich, dass das Geld dringend benötigt wird, damit die Soldaten, die im Einsatz sind, vernünftig ausgestattet werden können. Selbstverständlich leisten aber auch wir durch Kürzungen bei den sächlichen Verwaltungsaufgaben einen Konsolidierungsbeitrag für den Gesamthaushalt. Das ist auch gut so. Denn nur solide Staatsfinanzen garantieren einen starken Staat. Ich begrüße auch den Beschluss des 39. Finanzplans durch das Bundeskabinett, da bis zum Jahr 2009 der Verteidigungshaushalt jährlich um 300 Millionen Euro anwachsen soll. Das erlaubt eine solide und reelle Finanzierung unserer Bundeswehr entsprechend den Verteidigungspolitischen Richtlinien. Gleichzeitig gewährleistet die Erhöhung des verfügbaren Finanzvolumens ab 2007 auch notwendige größere Beschaffungsvorhaben, die wir alle kennen, ob es nun die Fregatte 125, das U-Boot 212, der Schützenpanzer Puma oder der GTK Boxer sind. Vielleicht sollte man in diesem Rahmen darüber diskutieren, ob die Priorisierung des EGV auf das Jahr 2014 sinnvoll ist oder ob der EGV nicht deutlich eher gebraucht werden könnte. ({0}) Der positive Ansatz des 39. Finanzplans darf nicht durch die vorgesehene Mehrwertsteuererhöhung von 16 auf 19 Prozent, die auch auf die Bundeswehr zukommt, zurückgenommen werden. Deshalb wird man mit den Haushältern und Finanzpolitikern der großen Koalition über die 300 Millionen Euro, mit denen der Verteidigungsetat dadurch belastet wird, noch diskutieren und nach Lösungen suchen müssen. Ziel muss es sein, der Bundeswehr einen ihren Aufträgen angemessenen Etat zur Verfügung zu stellen. Hier stehen wir alle im Wort. Lassen Sie mich einige Worte zur Struktur des Haushaltes 2006 und dessen zukünftiger Entwicklung sagen. Für Personal sind im Entwurf des Haushaltes rund 11,8 Milliarden Euro veranschlagt. Mit 49,3 Prozent sinkt der Anteil der Personalkosten das erste Mal seit der Wende auf unter 50 Prozent. Der Kollege Schäfer von der PDS hat gefordert, dass wir laufend abrüsten. Wir haben, seit der real existierende Sozialismus endlich untergegangen ist und mit ihm Ihr Verein, bei der Zahl der Soldaten eine Einsparung und Abrüstung erreicht, die ihresgleichen sucht. Dazu haben Sie durch den planwirtschaftlichen Ruin dieses Staates beigetragen. ({1}) - Getroffene Hunde bellen. So ist das nun einmal. Abgesehen davon sind Sie Wessi, der in der DKP war. Das Verteidigungsministerium hat in den letzten 15 Jahren deutlich mehr Personal abgebaut, als der Bundesfinanzminister das für die ganze Bundesverwaltung vorgegeben hat. Ein Großteil der Einsparung insgesamt ist also auf die Einsparungen bei der Bundeswehr zurückzuführen. Das muss auch den Haushältern der anderen Bereiche gesagt werden, wenn dort über Einsparungen gesprochen wird. Die Bundeswehr hat 85 Prozent der gesamten Einsparungen beim Personal des Bundes erbracht. Das muss man einmal zur Kenntnis nehmen. Gleichzeitig muss man noch etwas anderes zur Kenntnis nehmen: Obwohl der Personalumfang nahezu halbiert wurde, sind die Personalkosten fast gleich geblieben. Das zeigt, wie schwierig Personalkosten beim Bund generell und bei der Bundeswehr einzuschätzen sind und mit wie viel sie zu Buche schlagen. In den nächsten Jahren wird die Bewerbungslage deutlich schwieriger. Die Zahl der jungen Männer und Frauen, die zur Verfügung stehen, sinkt dramatisch. Die Bundeswehr muss als Arbeitgeber daher attraktiver werden. Die Bundesminister Scharping und Struck haben viele Einzelmaßnahmen im Rahmen des Attraktivitätsprogramms gestartet. Das werden wir mit Minister Jung fortsetzen. In guter und vertrauensvoller Zusammenarbeit mit dem Bundeswehrverband und seinem Vorsitzenden Oberst Gertz haben wir nicht nur in den letzten Jahren, sondern auch in diesem Jahr wichtige Planstellenverbesserungen durchgesetzt. ({2}) Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle allen, die bei der unverzichtbaren Nachwuchsgewinnung mitwirken. Unsere Soldatinnen und Soldaten sind gemeinsam mit unseren zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unser wichtigstes Kapital. Für Materialerhaltung sind 1,9 Milliarden Euro veranschlagt; das sind 7,9 Prozent des Etats. Für die sonstigen Betriebsausgaben wie Verpflegung, Unterhalt von Liegenschaften oder Kraftstoffe stehen 3,5 Milliarden Euro im Entwurf; das sind 14,8 Prozent des Etats. Zusammen kommt man auf 72 Prozent des gesamten Verteidigungsetats für Personal- und Betriebsausgaben. Das ist ein erschreckend hoher Anteil. Hier wird sich noch einiges bewegen müssen. Das kann man mit aller Deutlichkeit feststellen. Ansonsten werden wir die angestrebte Investitionsquote nämlich nicht erreichen. Die Betriebsausgaben sollen unter anderem durch eine stärkere Kostensenkung in der Materialerhaltung, zum Beispiel über weitere Kooperationen mit der Wirtschaft, und durch eine weitere Konsolidierung des Personalhaushalts - insbesondere beim Zivilpersonal reduziert werden. Der Anteil der Personal- und Betriebsausgaben wird bis 2009 auf 68 Prozent sinken, wobei der Anteil der Personalkosten dann nur noch 46 Prozent dieses Etats ausmachen soll. Das ist auch dringend notwendig. Durch Betreiberlösungen, die so genannten öffentlich-privaten Partnerschaften, lassen sich einige Kostensenkungen bewerkstelligen. Die Kooperationen mit der Wirtschaft gewinnen bei uns an Gewicht. Seit der erstmaligen Veranschlagung im Jahre 2003 ist dieser Ausgabenbereich um mehr als das Zehnfache auf über 650 Millionen Euro angewachsen. Eines muss man bei diesem Bereich allerdings auch sagen: Man muss hier zur Vorsicht mahnen. Nicht jede Lösung, durch die Leistungen aus Kostengründen aus der Bundeswehr herausverlagert werden, ist unbedingt besser. Die Probephasen und den späteren Betrieb dieser Kooperationslösungen - wie zum Beispiel die BwFuhrpark-Service GmbH, die HIL, die LH Bundeswehr Bekleidungsgesellschaft GmbH und andere - müssen wir kritisch und konstruktiv begleiten. Wir wollen das, wir wollen aber auch, dass es funktioniert, und es muss für die Bundeswehr die bessere Lösung sein. Das ist nicht immer die preiswertere Lösung. ({3}) Wirtschaftlichkeit kann nicht das einzige Kriterium sein. Die Effizienz muss auch stimmen. Gleichzeitig darf man aber auch nie vergessen, den innovativen und flexiblen Mittelstand zu beteiligen. Das gerät hier manchmal unter die Räder. Gerade als SPD-Fraktion werden wir deutlich darauf schauen, dass sich das ändert. Die Bundeswehr muss sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren können. Das ist wichtig. Die Privatwirtschaft soll Aufgaben erfüllen, die sie besser und preiswerter leisten kann. Das geht aber eben auch nicht immer. Schauen Sie sich zum Beispiel das Marinearsenal an. Dort haben wir gesehen, dass das so nicht funktioniert. Ein Anheben der verteidigungsinvestiven Ausgaben auf 30 Prozent kann bei einem gegebenen Plafond nur durch eine Senkung der Betriebsausgaben erfolgen. Dies werden wir entsprechend umsetzen. Gleichzeitig wollen wir die Investitionsausgaben insbesondere für die Bereiche Forschung, Entwicklung und Erprobung sowie für die militärische Beschaffung steigern. Alle großen Vorhaben, die unter Rudolf Scharping und Peter Struck angestoßen worden sind, sind hier abgebildet. Dies gilt auch für den gültigen Finanzplan bis zum Jahre 2009. Das ist auch gut so. Schwierigkeiten gibt es für die Jahre danach. Wir alle werden darauf schauen müssen, dass wir nicht Dinge beschließen und versprechen, die wir dann in den Jahren 2010 ff. nicht halten können. Weiterhin darf nie in Vergessenheit geraten, dass der Transformationsprozess, die Anpassung der Bundeswehr an sich immer wieder ändernde Aufträge, bedeutet, dass sich auch Beschaffungsaufträge ändern können. Das heißt, Dinge, die wir noch vor wenigen Jahren beschlossen haben, können in zwei oder drei Jahren schon falsch oder nicht mehr ganz so richtig sein. Es kann sein, dass man geringere Stückzahlen braucht, weil sich die Lage verändert hat. Wenn wir die Bundeswehr immer mit dem aktuellen und besten Gerät ausrüsten wollen, dann müssen wir auch hier flexibel sein und prüfen, wie man mit solchen Verträgen umgeht. Man sollte also auch in Deutschland im Bereich der Rüstungsbeschaffung innovative Wege gehen. Wir können uns ja einmal unsere Nachbarländer anschauen. Vielleicht kann man von den Partnern in der NATO ja das eine oder andere lernen. ({4}) Unsere Bundeswehr kann nur funktionieren, wenn unsere Soldatinnen und Soldaten optimal ausgerüstet sind. Deswegen ist insbesondere die persönliche Ausstattung der Soldaten wichtig. ({5}) Weiterhin haben wir die Zahl der Wehrübungsplätze von 2 300 auf 2 400 erhöht. Insbesondere den Kollegen Beck und Höfer sowie dem Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr muss man hierfür danken. ({6}) Ich begrüße insbesondere auch das klare Bekenntnis zur Wehrpflicht, das unser Minister Jung hier heute abgegeben hat. Das ist richtig und gut. Die große Koalition freut sich und steht dazu. ({7}) Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein kurzes Wort zum Einsatz im Kongo sagen. Es ist hier heute ja schon viel darüber gesprochen worden. Das, was innerhalb der Koalition zu den Bedingungen, an die dieser Einsatz geknüpft wird, gesagt wird, muss eingehalten werden. Darüber werden wir in der Koalition kritisch diskutieren und dies kritisch begleiten. Wenn gesagt wird, dass der Einsatz vier Monate dauert, dann gelten vier Monate. Wenn gesagt wird, dass das Einsatzgebiet begrenzt ist, dann gilt auch ein begrenztes Einsatzgebiet. Wenn gesagt wird, dass wir nach vier Monaten rausgehen, dann gilt das. Ich persönlich glaube, dass man uns in der nächsten Woche einen klaren Beschluss vorlegen sollte. Dann wissen wir, worüber wir abstimmen. Einmal Kongo, immer Kongo - das darf, soll und wird es mit uns nicht geben. Glück auf! ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Jürgen Koppelin.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrter Herr Kollege Kahrs, auch ich bin Berichterstatter für den Einzelplan 14 im Haushaltsausschuss. Deswegen kann ich die Bemerkung, die Sie zum Etat gemacht haben, natürlich so nicht stehen lassen. Es mag sein - Minister Jung und Minister Steinbrück sind gelobt worden -, dass der Etat in seiner Höhe unverändert geblieben ist. Gleichzeitig muss man sich aber anschauen, was aus diesem Etat neuerdings bezahlt werden muss. Dazu hätte ich schon gerne die Meinung des Abgeordneten Kahrs gehört. Aufgrund der Zeit, die für eine Kurzintervention zur Verfügung steht, nenne ich nur ein Beispiel. Ist es in Ordnung, aus dem Verteidigungsetat, dem Einzelplan 14, den deutschen Zuschuss für die Lieferung von U-Booten nach Israel zu bezahlen? Wäre es nicht besser - wenn man das politisch so entscheidet, wie RotGrün es gemacht hat -, diesen Zuschuss aus dem Einzelplan 60 zu bezahlen? Wieso muss der Bundesverteidigungsminister den Zuschuss für die Lieferung der U-Boote nach Israel aus seinem Etat bezahlen, auch wenn - ich sage es noch einmal - die politische Entscheidung, den Kauf der U-Boote für Israel zu unterstützen, schon unter Rot-Grün getroffen wurde? Ich finde das jedenfalls nicht in Ordnung; denn das ist ein Minus im Einzelplan 14. Vielleicht sollte die Koalition überlegen, den Vorstellungen der FDP zu folgen, dies aus dem Einzelplan 60 zu bezahlen, damit der Etat des Verteidigungsministers nicht angetastet wird. Wir jedenfalls werden einen Antrag stellen, diesen Zuschuss für die Lieferung der U-Boote nicht aus dem Etat des Einzelplans 14 zu leisten. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, wollen Sie darauf antworten? - Bitte sehr.

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich will ich antworten. - Herr Kollege Koppelin, Sie wissen ja, dass ich Sie sehr schätze. Wir arbeiten schließlich eng und vertrauensvoll zusammen. ({0}) Ich möchte Sie an dieser Stelle aber gerne daran erinnern, dass schon früher drei U-Boote nach Israel geliefert worden sind. Damals setzte sich die Regierungskoalition anders zusammen. Über die Finanzierung schweigen wir uns an dieser Stelle lieber ganz aus. Wenn man ehrlich ist, muss man sagen, dass wir dieses Mal nur ein Drittel der Kosten für die Lieferung der U-Boote übernehmen. Ich glaube, das war früher ganz anders. Wenn man sich anschaut, in welchen Tranchen dies im Verteidigungsetat stattfindet, und wenn man sich außerdem die Einnahmen und Ausgaben dieses Etats ansieht, dann ist das - das wissen Sie genauso gut wie ich - vertretbar. Die Zuschüsse sind zurzeit noch im Einzelplan 60 enthalten. Trotzdem werden sie zulasten des Einzelplans 14 gehen. Deswegen ist das, was Sie sagen, richtig. Aber dies ist auch in der Sache gut und richtig. Wir alle wollen, dass Israel diese U-Boote erhält. Wir kennen die Probleme Israels. In der Vergangenheit wurden entsprechende Lieferungen - diese drei U-Boote - ganz anders gehandhabt. Deswegen glaube ich, dass der Beschluss, den Rot-Grün gefasst hat und der inzwischen von Schwarz-Rot exekutiert wird, in diesem Hause mit großer Mehrheit getragen wird. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Susanne Jaffke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Susanne Jaffke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001008, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir zu Beginn meiner Ausführungen drei persönliche Bemerkungen. Erstens. Frau Kollegin Homburger, ich kann Sie beruhigen. Die Tickermeldung von 16.43 Uhr lautet: Der zum Christentum übergetretene Afghane Abdur Rahman hat Angaben der Regierung in Kabul zufolge sein Heimatland verlassen. In der Tickermeldung etwa eine Stunde später heißt es, dass er auf dem Weg nach Italien ist und dort politisches Asyl erhält. - Dieses Problem scheint also als solches kein Problem mehr zu sein. ({0}) Dazu möchte ich unbedingt nicht nur der Bundeskanzlerin, sondern auch dem Außenminister und allen demokratischen Kräften in diesem Hohen Hause danken, ({1}) die sich sehr dafür eingesetzt haben, dass diese Lösung möglich wurde. ({2}) Gestatten Sie mir eine zweite persönliche Bemerkung. Der Minister ist auf die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr eingegangen und hat lobend erwähnt, dass dieser Teil des öffentlichen Dienstes Einsatz auch nach dem Ende der offiziellen Dienstzeit zeige. Ich möchte als Abgeordnete aus Mecklenburg-Vorpommern an dieser Stelle der Bundeswehr ganz besonders für ihren dortigen Einsatz - vor allen Dingen auf Rügen - im Zusammenhang mit der Vogelgrippe danken. Das sage ich als Haushälterin auch im Hinblick darauf, dass wir es schaffen, die „Generosität“ so weit zu treiben, dass das Bundesland die Kosten dafür nicht übernehmen muss. Ich möchte drittens auch im Namen des Kollegen Bartholomäus Kalb der Bundeswehr danken, die bei der Schneekatastrophe im Bayerischen Wald so tapfer gekämpft hat. Wir alle haben noch die Bilder in Erinnerung und genießen jetzt die drei Tage, an denen das Wetter schön war, ganz besonders. Was die vielen kleinen Flüsse im Bayerischen Wald angeht, die eventuell von Hochwasser betroffen sein könnten, bleibt abzuwarten, ob wir die Bundeswehr nicht noch einmal brauchen können. ({3}) Des Weiteren möchte ich auch den Soldatinnen und Soldaten, die sich im Einsatz befinden, meinen Dank aussprechen. Denn sie sorgen sich um Freiheit und Menschenwürde. Das ist oft ein schwieriger Dienst. Die derzeit circa 7 500 Soldaten im weltweiten Einsatz tragen also nicht nur unser Verständnis von Demokratie und Toleranz im Wertegefüge in andere Kulturkreise, sondern sie sind auch im besten Sinne des Wortes Botschafter für die Bundesrepublik Deutschland. Mit dem Ansatz von circa 23,9 Milliarden Euro hat der Entwurf zum Wehretat eine Verstetigung erfahren. Darüber ist schon berichtet worden. Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass auch der Wehretat einen kleinen Einsparbeitrag leistet. Denn trotz der Verstetigung ist er mit einem Anteil von 9,1 Prozent am Bundeshaushalt im Vergleich zum vergangenen Jahr, als der Wehretat noch 9,4 Prozent des Gesamtetats betrug, etwas abgeschmolzen worden. Im Zuge der Strukturanpassungen bleibt auch die Transformation der Bundeswehr mit einer Zielstruktur von 250 000 Soldatinnen und Soldaten sowie 75 000 zivilen Angestellten, Beamten und Arbeitern im Jahr 2010 eine besondere Herausforderung. Es ist unschwer zu erkennen, dass in den nächsten Monaten die Durchplanung der neuen Strukturen im Mittelpunkt stehen muss. Die Regierungskoalition wird also zum Ende dieses Jahres die Personalbedarfsermittlungen zur Zielstellenstruktur vor allem bei den Zivilbeschäftigten beim Ministerium abfragen. Kommen wir zu den großen Ausgabenblöcken. Es ist bereits angesprochen worden, dass die Personalausgaben mit 11,8 Milliarden Euro erstmalig unter 50 Prozent des Wehretats gesunken sind. Des Weiteren sind 6,02 Milliarden Euro für die verteidigungsinvestiven Ausgaben und 5,43 Milliarden Euro für allgemeine Betriebsausgaben und Materialerhaltung veranschlagt. 650 Millionen Euro sind für so genannte Betreiberlösungen veranschlagt. Zu den Betreiberlösungen möchte ich einiges ausführen. In diesem Parlament ist lange und heftig über die Bereiche GEBB, HIL oder Herkules gestritten worden. Nach dem Vorliegen erster Prüfberichte des Bundesrechnungshofes und den persönlichen Erfahrungen vieler Kollegen in diesem Haus denke ich, dass der beschrittene Weg der Weiterentwicklung der Betreiberlösungen begrüßt werden kann. Erfahrungen, die im Bereich Liegenschaftsmanagement gesammelt wurden, sollen mit den Erfahrungen der BImA verglichen werden und zu Optimierungen in der Liegenschaftsverwaltung führen. Auch die BwFuhrparkservice GmbH und die Bekleidungsgesellschaft werden strategisch weiterentwickelt und mit zusätzlichen Aufgaben betraut. Dass sie durch die Organisationsumstrukturierung im Ministerium mit der neu zu schaffenden Abteilung M besser kontrolliert werden sollen, ist ebenfalls zu begrüßen. Die weitere Einführung der Heeresinstandsetzungslogistik steht noch unter Parlamentskontrolle.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Susanne Jaffke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001008, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gleich. - Hier sehe ich unsere besondere Verantwortung, durch Transparenz in der Vergabe vor allen Dingen dem Mittelstand weiterhin die Möglichkeit zu geben, an Aufträgen zu partizipieren und die Kosten insgesamt zu senken, damit Spielräume für notwendige Investitionsmaßnahmen geschaffen werden können. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bonde von den Grünen?

Susanne Jaffke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001008, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Alexander Bonde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003509, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Jaffke, darf ich Ihre Einlassungen so verstehen, dass Ihre Fraktion den Antrag auf Streichung der Haushaltsmittel für die GEBB und auf Beendigung dieses Projektes - diesen hat Ihr Vorgänger als Berichterstatter, Herr Austermann, jahrelang eingebracht - ab sofort nicht mehr stellen wird?

Susanne Jaffke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001008, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Bonde, der Antrag wird so mit Sicherheit nicht wieder gestellt. Sie wissen genau, dass wir uns bei dem einen oder anderen Verfahren in der Diskontinuität befinden. Deshalb ist es nach einer Überprüfung und den Bemerkungen des Bundesrechnungshofes vernünftig, dass wir das Verteidigungsministerium bei der Weiterentwicklung und der notwendigen Umstrukturierung unterstützen werden. Das ist in der Koalition abgestimmt. Sie sind eingeladen, diesem Wege nachhaltig zu folgen. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, Sie sind zwar schon am Ende Ihrer Rede. Aber gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Susanne Jaffke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001008, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir könnten noch viel reden.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie?

Susanne Jaffke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001008, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte, Herr Koppelin.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Kollegin Jaffke, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die FDP den Antrag auf Streichung der Mittel für die GEBB - dem haben Sie im letzten Jahr zugestimmt - stellen wird?

Susanne Jaffke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001008, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir werden über diesen Antrag inhaltlich genauso beraten und hoffen, dass Sie sich den neuen Gegebenheiten anpassen. Dann können wir im Ausschuss in der Sache trefflich diskutieren. ({0}) Wenn ich noch ein letztes Wort sagen darf? - Der Wehretat ist ein schwieriger Etat. Große Herausforderungen werden nicht nur im Jahr 2006, sondern vor allen Dingen auch im Jahr 2007 zu bewältigen sein. Wenn wir es aber gemeinsam beherzt anpacken, können wir es schaffen. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich erteile das Wort dem Kollegen Gerd Höfer für die SPD-Fraktion. ({0})

Gerd Höfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002679, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kürze der Zeit erlaubt es mir nur, sporadisch auf einige Ausführungen zu antworten. Ich möchte aber versuchen, es so darzulegen, dass sich jeder wiederfindet. Eine der Hauptschwierigkeiten bei der Aufstellung eines Verteidigungsetats - es heißt nicht „Wehretat“; darauf sollten wir uns einigen - ist, dass man über Szenarien unabhängig voneinander nachdenken muss. Der alte Kalte Krieg und bestimmte schreckliche Dinge, die schon passiert sind, vernebeln unsere Gedanken daran, was wir eigentlich beschaffen sollten und was nicht. Ich weise Sie darauf hin, dass - teilweise aufgrund von Erfindungen wie Dual-Use-Produkten - eine bedrohliche Entwicklung entstehen kann, der man begegnen muss, bevor man in die Nähe der Bedrohung kommt. Das macht die Ausgestaltung der Ausrüstung der Bundeswehr sehr schwierig und führt dazu, dass manche Dinge doppelt genutzt werden, sehr verehrte Frau Hoff. Die Entwicklungshilfeministerin - sie ist leider nicht mehr anwesend - wird froh sein, wenn statt 60 beispielsweise 80 A400M zur Verfügung stehen; denn ich vermute, dass die Masse dieser Transportflugzeuge genutzt wird, um humanitäre Hilfe zu leisten, und dass weniger militärisches Personal in diesen Flugzeugen transportiert wird als ziviles Hilfspersonal. So wird es wahrscheinlich kommen. Der Kalte Krieg hätte zwar auf deutschem Boden stattgefunden, wenn er sich erhitzt hätte. Aber man hätte keine strategische Verlegefähigkeit zur See und in der Luft gebraucht, genauso wenig wie manch andere Dinge. Es ist gut, dass die Geschichte darüber hinweggegangen ist; denn wenn wir uns anschauen würden, welches Schutzpotenzial das alte Material bis 1989/90 hatte, kämen wir heute zu ganz anderen Erkenntnissen. Herr Bonde, insofern handelt es sich nicht um eine Industriepolitik, die nur dann etwas tut und brav springt, wenn die Industrie ein Stöckchen hochhält; so ist es tatsächlich nicht. Wenn der Minister ein Doppelminister sein sollte, dann hat er zumindest seine Verdienste um den Erhalt bestimmter Kernfähigkeiten in der Bundesrepublik Deutschland. Das ist auch gut so. Herr Schäfer, man sollte immer das Ganze vor seinen Teilen sehen. Ich kann jedenfalls nicht erkennen, dass der Haushalt des Verteidigungsministers unverhältnismäßig hoch ist und den Gesamthaushalt übermäßig belastet. Das Spiel, das ich immer wieder von kleineren Gruppen höre, ist natürlich beliebt - es ist immer das Gleiche -: Schafft doch die ganze Bundeswehr ab, dann wird die Rente schlagartig höher! - Mit so etwas kann man nur bedingt Punkte sammeln: vielleicht für zwei, drei Minuten. Sie sagen, in Ihrer Politik sei Deeskalation das Ziel. Dann wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir einmal die Mittel nennen würden, mit denen Sie eskalieren wollen, je nachdem, was gerade so passiert ist. Seltsam finde ich die Diskussion über die Führungsrolle bei Einsätzen, sei es bei der NATO, bei Einsätzen der Europäischen Union oder bei rein deutschen. Wenn jemand die Führung übernehmen soll, dann ist das doch nichts Schlimmes; dann kann er das auch. Die Sache mit den Hüten ist schwer zu vermitteln, aber eigentlich ganz einfach: Wenn ein deutscher General sich einen europäischen Hut aufsetzt, dann ist er eben kein deutscher General mehr, sondern er führt eine europäische Eingreiftruppe. Genauso hat ein deutscher General, der die Kompetenz hat und in der NATO an führender Stelle sitzt, den NATO-Hut auf, wodurch er ein NATO-General ist, auch wenn er nach wie vor von der Bundesrepublik Deutschland bezahlt wird. Nach der Führungsrolle und nach der Verantwortung zu fragen, ist also Vernebelungstaktik. Wer Verantwortung übernehmen will, darf sich auch vor Führung nicht drücken! Von daher ist diese Diskussion unnütz. ({0}) Lassen Sie mich einen etwas dezidierteren Blick in den Haushalt werfen. Art. 87 a des Grundgesetzes schreibt vor, dass der Haushaltsplan die zahlenmäßige Stärke der Bundeswehr und die Grundzüge ihrer Organisation erkennen lassen muss. Wer sich in Kapitel 1403 auskennt, sieht, wie die Bundeswehr gegliedert ist. Dass die SKB die passende Stelle noch nicht gefunden hat, liegt daran, dass die neue Gliederung der Bundeswehr sich erst einspielen muss; diese Abbildung wird noch erfolgen. Was mich nachdenklich stimmt - da möchte ich den Kollegen Kahrs nachdrücklich unterstützen -, ist, wer die Last der Einsätze trägt. Das ist natürlich überwiegend das Heer; wobei die Verdienste von Luftwaffe, Marine, SKB und Sanitätsdienst in keiner Weise geschmälert werden sollen. Es geht mir um etwas anderes: In Kapitel 1403 sind allein 30 012 A-7-plus-Zulage-Stellen - das sind die Oberfeldwebel - ausgewiesen, 29 930 A-6-Stellen - das sind die Stabsunteroffiziere -, 20 742 A-8-plus-ZulageStellen - die Hauptfeldwebel - und 19 188 A-4-plus-Zulage-Stellen - das sind die Hauptgefreiten. Die Last der Einsätze tragen also die Soldatinnen und Soldaten des mittleren Dienstes, den wir in einigen Bereichen der Bundesrepublik Deutschland überhaupt nicht mehr haben. Der Hinweis des Kollegen Kahrs auf die Nachwuchslage hat etwas mit der Attraktivität der Bezahlung zu tun. Daran, dass andere sicherheitsrelevante Berufe Eingangsbesoldungen haben, die bei A 5 oder A 7 beginnen, sehen wir, welche Schwierigkeiten auf uns zukommen. Um die Attraktivität zu steigern, werden wir im mittleren Dienst, möglicherweise abgestuft, sicherlich etwas tun müssen, damit wir die Leistungsträger, die die Hauptlast der Einsätze tragen, also vom Hauptgefreiten bis zum Hauptfeldwebel, in ausreichender Zahl und hoher Qualität bekommen können. Dies ist eine Zukunftsaufgabe, die sich sicherlich auch der Bundeswehrverband auf die Fahnen geschrieben hat. Wir sollten möglichst zügig daran arbeiten. ({1}) Da der Name des Kollege Beck erwähnt worden ist, lassen Sie mich abschließend etwas zu den Reservisten sagen. Zunächst danke ich allen Kolleginnen und Kollegen, die am 14. März 2006 am Parlamentarischen Abend im Haus der Deutschen Wirtschaft teilgenommen haben. Dem Haus der Deutschen Wirtschaft vielen Dank für die Gastfreundschaft und für die hervorragende Organisation dieses Abends! Die Reservisten stellen bis zu 12 Prozent der an den Auslandseinsätzen der Bundeswehr Beteiligten. Der Kollege Beck und ich haben uns bei einer Reise in das Kosovo ausschließlich mit der Frage der Reservisten befasst und sie dort besucht. Ohne Reservisten geht bei der Bundeswehr gar nichts mehr, allerdings geht bei den Reservisten ohne die Bundeswehr auch nichts mehr. ({2}) Das ist so. Wir müssen der Transformation der Bundeswehr folgen. Wir haben schließlich den Ehrgeiz, die Reservisten so auszubilden, dass sie in der Bundeswehr jederzeit einsatzbereit sind und dass sie die Erfahrungen, die sie bei der Bundeswehr gesammelt haben, nicht nur bei uns einbringen, sondern auch bei der Industrie, die daraus möglicherweise Vorteile zieht. Ich bitte Sie herzlich, aufmerksam zu beobachten, wenn der Reservistenverband im Verteidigungsausschuss seinen Rechenschaftsbericht wird abgeben müssen. Im Kap. 1403 auf Seite 30 steht klar, dass wir nicht überflüssig sind: Dem „Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr e. V.“ ist die Aufgabe übertragen worden, aus der Bundeswehr ausgeschiedene Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften nach Richtlinien des Bundesministeriums der Verteidigung im Rahmen des Wehrrechts zu betreuen und fortzubilden. Das wollen wir gerne tun. Dazu brauchen wir Ihre parlamentarische Unterstützung; denn von der Qualität der dort organisierten Reservistinnen und Reservisten hängt auch ab, wie sich die Bundeswehr demnächst in der Fläche präsentiert. Wir haben mit über 2 000 Reservistenkameradschaften eine ziemlich große Verbreitung in der Bundesrepublik Deutschland. Den Bürgerinnen und Bürgern ist es egal, ob jemand, der in Bundeswehruniform erscheint, ein Reservist oder ein Aktiver ist. Dieses Potenzial weiterhin aufrecht zu erhalten und qualifiziert zu begleiten, darum darf ich Sie auch im Namen des Kollegen Beck, des Präsidenten des Verbandes, hier und heute herzlich bitten. Damit beende ich meine Rede. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Weitere Wortmeldungen zu dem Geschäftsbereich Verteidigung liegen nicht vor. Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Einzelplan 23. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte nicht folgen wollen, ihre Gespräche außerhalb des Saales zu führen. Ich erteile für die Bundesregierung der Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul das Wort.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland wird in der Entwicklungszusammenarbeit seine internationale Rolle und Verantwortung auf der Grundlage folgender Prinzipien wahrnehmen: Globalisierung gerecht gestalten, Armut bekämpfen - das nach wie vor überwölbende Ziel unserer Entwicklungszusammenarbeit ist die Orientierung auf die Armutsbekämpfung -, Frieden sichern oder stiften und Umwelt und natürliche Lebensgrundlagen bewahren. Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich bei der Bundeskanzlerin bedanken, die heute Morgen in ihrer Rede sehr deutlich noch einmal den Stufenplan zur Steigerung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit betont hat. Deutschland steht zu seinem Wort, jetzt und in Zukunft. Vor fünf Jahren haben wir eine Zielmarke gesetzt. 2006 sollte eine Quote an Entwicklungszusammenarbeit - ODA - von 0,33 Prozent erreicht werden. Dieses Versprechen lösen wir ein, übrigens bereits mit dem Jahr 2005. Die OECD wird in wenigen Tagen bekannt geben, dass wir im Jahr 2005 eine ODA-Quote von 0,35 Prozent erreicht haben. Das ist, so finde ich, ein großer Erfolg und das sollten wir sehr deutlich machen. Unsere Linie für die nächsten Schritte ist klar. Sie umfasst drei Elemente. Dazu zählen - erstens - mehr Haushaltsmittel. Ich will an dieser Stelle sagen: Unser Ressort ist das Ressort, das für den Haushalt 2006 zusätzliche Mittel in Höhe von 300 Millionen Euro erhalten hat. Ich freue mich darüber; denn das ist eine Steigerung, die in den letzten Jahren nicht zustande gekommen ist. Ich freue mich, dass wir das erreicht haben. Wir brauchen aber noch weitere Mittel. Das will ich auch ausdrücklich sagen. ({0}) Wenn wir erreichen wollen, dass die ODA-Quote bis 2010 bei 0,51 Prozent und bis 2015 bei 0,7 Prozent liegt, dann müssen wir nicht nur die entsprechenden Haushaltsmittel zur Verfügung stellen, sondern auch dafür sorgen, dass - zweitens - weitere Schritte zur Entschuldung der Entwicklungsländer ergriffen und - drittens innovative Finanzierungsinstrumente gefunden werden. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich dem französischen Staatspräsidenten Chirac für seine antreibende Rolle bei der Entwicklung von innovativen Finanzierungsinstrumenten danken. Eine Reihe von Ländern schreitet voran: Frankreich, aber auch Brasilien und Chile haben erklärt, dass sie in nächster Zeit eine Entwicklungsabgabe auf Flugtickets einführen werden. Wir als Bundesregierung haben über die Frage eines bestimmten Instruments zur innovativen Finanzierung noch nicht entschieden. Sie können aber ganz sicher sein, dass wir darüber so rechtzeitig entscheiden, dass wir die Zielmarke erreichen werden. ({1}) Das können wir anhand der jetzt erreichten 0,35 Prozent belegen. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal sagen: Viele Menschen in Deutschland, die helfen möchten, wollen - wir haben das immer wieder gesehen -, dass der Skandal, dass an jedem Tag 30 000 Kinder an vermeidbaren Krankheiten sterben, ein Ende hat. Lassen Sie uns alles dafür tun! Lassen Sie uns dazu unsere Beiträge bündeln! ({2}) Ich möchte auf etwas zu sprechen kommen, was mit der globalen Armutsbekämpfung und mit gerechter Globalisierung zusammenhängt: Es geht um die Energiepolitik. Am 3. April 2006 findet der Energiegipfel statt. Gerade für Entwicklungsländer ist die effiziente Nutzung von Energie, auch von erneuerbarer Energie, besonders wichtig. Dieser Bereich ist zu einem Markenzeichen deutscher Entwicklungszusammenarbeit geworden. Wir kooperieren auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien mit 35 Ländern in Afrika, Lateinamerika, Asien, Südosteuropa und im Nahen Osten. Wir kooperieren auf dem Gebiet der Energieeffizienz mit 28 Ländern. Die Gründe liegen auf der Hand: Einheimische Quellen sind erreichbar und verlässlich; die Energie, die dort produziert wird, hat erschwingliche Preise. Zugleich sind diese Quellen ökologisch nachhaltig, weil durch ihre Nutzung Klimarisiken abgewendet werden. Ihre Nutzung bedeutet Sicherheit, weil sie die Abhängigkeit vom Öl reduziert. Im Sinne einer friedlichen Lösung ist dieser Weg sinnvoll. ({3}) Deshalb werden wir diesen Bereich besonders stärken. ({4}) Ich bin der Debatte den ganzen Tag gefolgt. ({5}) Ich hoffe, dass andere der Debatte über das Thema Entwicklungshilfe genauso zuhören. Lassen Sie mich daher etwas zum Kongo sagen. Ich wende mich hier gerade auch an die Linke. Ich war im Jahr 2004 in diesem Land. Unsere Entwicklungsmitarbeiter sind dort seit 2003 tätig. Sie leisten wirklich hervorragende Arbeit. Die Menschen dort, mit denen ich gesprochen habe - damit meine ich jetzt nicht die Politiker -, haben gesagt: Wir wollen mit unserer Stimme dazu beitragen, dass der Gewalt ein Ende gesetzt wird. ({6}) Deshalb betone ich an dieser Stelle: Wenn wir die Chance haben, einen Beitrag zur Stabilisierung dieses Wahlprozesses und dieses Übergangsprozesses zu leisten, dann müssen wir sie nutzen, und zwar gerade dann, wenn man sich als links versteht. ({7}) 4 Millionen Menschen in dieser Region sind in den 90er-Jahren Opfer interner Auseinandersetzungen geworden. Dennoch fragen manche: Liegt es denn im deutschen Interesse, einzugreifen? Die Welt hat schwere Fehler gemacht, als sie sich dem Völkermord in Ruanda damals nicht entgegengestellt hat. Ruanda wird nur dann auf Dauer sicher sein, wenn es einen stabilen Kongo gibt. Wir sind gemeinsam überzeugt, dass wir alles tun müssen, um dem Blutvergießen ein Ende zu setzen. Das ist eine gemeinsame Verpflichtung und sie ist - das will ich ausdrücklich sagen - nicht von der Hautfarbe abhängig. ({8}) Manche reden darüber wie der Blinde von der Farbe. Man könnte besser darüber reden, wenn man einmal dort gewesen wäre. Mittlerweile - das hat uns der UN-Untergeneralsekretär Egeland gestern gesagt - sind 1,6 Millionen Flüchtlinge ins Land zurückgekehrt. Wollen wir nicht dazu beitragen, dass sie eine eigene Zukunftschance haben? Heute ist gesagt worden - ich glaube, es war Herr Schäfer -, das Militär sei dabei doch nicht alles. Was machen wir in der Entwicklungszusammenarbeit? Was machen wir schon bisher, was wir verstärkt voranbringen wollen? Wir tragen zur Wiedereingliederung von Kämpfern in das zivile Leben bei. Wir helfen bei der Bekämpfung von Aids. Wir helfen Kindersoldaten zurück in ein Leben ohne Gewalt. Wir unterstützen die Versorgung mit sauberem Trinkwasser. Wir helfen beim Schutz und Management der natürlichen Ressourcen. Herr Fischer, wer das einmal vor Ort erlebt hat, der dankt den Entwicklungsmitarbeitern, die ihre Arbeit dort unter Bedingungen leisten, die - das will ich an dieser Stelle ausdrücklich sagen - wirklich schwierig sind. ({9}) Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Die UN hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in dieser Region eines der Probleme die Rohstoffextraktion und die Ausbeutung im Interesse bestimmter Firmen und vielleicht auch mancher Länder ist. Es gibt den Friedensprozess in der Region der Großen Seen. Ein Teil dieses Friedensprozesses soll dabei sein - das soll beschlossen werden -, eine Kommission einzurichten, die dazu beiträgt, dass es eine Kontrolle der Rohstoffnutzung und eine Zertifizierung der Rohstoffe beim Export gibt. Wir als Entwicklungsministerium werden diesen regionalen Ansatz unterstützen und dazu beitragen, dass der Ausbeutung von Rohstoffen und Menschen ein Ende gesetzt wird und die Mittel den Menschen in diesem Land zugute kommen. Das ist ein Prozess, der alles zusammen umfasst. Man kann nicht einen Punkt herausnehmen. Ich appelliere an Sie, gerade unter dem Gesichtspunkt „links“, sich klar zu machen: Es gibt nichts Wichtigeres, als Prozesse zu fördern, die dazu beitragen, Demokratie und Menschenrechte voranzubringen. Bitte bedenken Sie, dass unter diesen Gesichtspunkten niemand sagen kann, da müsse man solche Einsätze ablehnen! ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch ein Wort zu Abdul Rahman sagen. Natürlich freuen wir alle uns darüber, dass er freigelassen worden ist; wir alle haben uns ja dafür engagiert. Ich sage an dieser Stelle aber auch: Wir werden weiter alle Anstrengungen dazu unternehmen, dass für die Menschen in Afghanistan Religionsfreiheit herrscht und die Menschenrechte vorangebracht werden. Glaube und Religionszugehörigkeit dürfen kein Grund für Verfolgung, Verhaftung und Bestrafung sein, nicht in Afghanistan und nirgendwo auf der Welt. ({11}) Dafür müssen gerade wir uns, die wir in Afghanistan beim Wiederaufbau helfen, engagieren. Religionsfreiheit darf auch kein Gnadenakt sein. Afghanistan hat die UN-Menschenrechtskonvention unterschrieben. Darin ist die Religionsfreiheit garantiert für alle. ({12}) Ausdrücklich will ich sagen, dass jemand, der zum Christentum übergewechselt ist, deshalb nicht gezwungen sein darf, sein Land zu verlassen. ({13}) Ich weiß, wie es ist. Aber es gibt einfach Werte, für die wir uns engagieren müssen, gerade wenn wir in diesem Bereich tätig sind. Lassen Sie mich zum Schluss ein Grundproblem ansprechen, das dabei wieder deutlich geworden ist. Fast alle Verfassungen der Länder mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung - manche Journalisten haben das erst jetzt festgestellt - legen den Islam als Staatsreligion fest und weisen in der einen oder anderen Form darauf hin, dass das islamische Recht als eine - ich zitiere Quelle, als eine Hauptquelle oder als relevante Richtschnur für die Gesetzgebung genutzt wird. Da die Länder in diesen Verfassungen aber gleichzeitig die völkerrechtlichen Verpflichtungen in Bezug auf die Menschenrechte verankert haben, gibt es einen Gestaltungsspielraum, der in den islamischen Ländern in sehr unterschiedlicher Art genutzt wird: bei manchen liberal und bei anderen so, dass es fast in die extremistische Position geht.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Ministerin, ich darf Sie darauf hinweisen, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist; wenn Sie länger reden, geht das zulasten Ihrer Kollegen.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Ich bin sozusagen in einer Sekunde fertig. Darf ich nur diesen Punkt noch anschließen; ({0}) das ist ja doch eine sehr grundsätzliche Sache. - Danke. Wir wollen durch unsere Entwicklungszusammenarbeit dazu beitragen, dass die innerislamischen und innergesellschaftlichen Prozesse der Verwirklichung der Menschenrechte, gerade der Frauenrechte, vorankommen und dass sie in diese Richtung verlaufen. Dabei müssen diejenigen unterstützt werden, die die Modernisierungsprozesse vorantreiben. Gleichzeitig gilt unsere Unterstützung aber auch denjenigen, die von Menschenrechtsverletzungen betroffen sind oder sein könnten. Zum Schluss sage ich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Gerade was die Frauen in Afghanistan betrifft, habe ich nach vielen Gesprächen große Sorgen. Deshalb an dieser Stelle die Aufforderung an die afghanische Regierung, dafür zu sorgen, dass diejenigen, die für die Frauenrechte eintreten, nicht diskriminiert, benachteiligt oder gar mit Gewalt überzogen werden. Das ist die afghanische Regierung ihrem Volk, aber auch der internationalen Gemeinschaft schuldig. Ich danke Ihnen. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Hellmut Königshaus.

Hellmut Königshaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003709, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, es war ja erfrischend, dass Sie auch über politische Inhalte, über den Kongo, gesprochen haben. Wir sprechen hier aber eigentlich über Ihren Haushalt und Ihre Ziele. Sie haben zwar einige allgemeine Ziele genannt und die Zielmarke ist ein Erfolg für Sie; das muss man anerkennen. Aber trotz allem muss man eines festhalten: Dieser Haushaltsentwurf schreibt ein Grundübel früherer Haushaltspläne fort. Es geht in großen Teilen überhaupt nicht um eine Haushaltsplanung. Der Entwurf beschränkt sich weithin wieder darauf, eine Globalzuweisung an Dritte vorzunehmen, oftmals an internationale Organisationen, wo wir die Mittelverwendung kaum steuern und erst recht nicht kontrollieren können. Ich weiß, dass das nicht allein Ihre Schuld ist; aber Sie setzen dieses Handeln fort. Nun, da die Koalition berechtigtermaßen die Haushaltsansätze in den kommenden Jahren unseren internationalen Verpflichtungen anpassen will, ist es wohl an der Zeit, dass wir uns mit dieser Frage noch einmal befassen. Die so genannte ODA-Quote scheint in der politischen Diskussion zum Selbstzweck zu werden. Aber es geht in erster Linie, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau Ministerin, darum, dass wir nicht einfach mehr ausgeben, sondern mehr bewirken und besser helfen, darum, dass die Mittel dort ankommen, wo sie benötigt werden, und dass sie für die Zwecke verwendet werden, für die sie gedacht sind. Die vorrangige Frage nach inhaltlichen und regionalen Prioritäten wird von Ihnen aber überhaupt nicht beantwortet und wurde auch eben nicht angesprochen. Wir hören immer nur, dass Deutschland bisher insgesamt zu wenig investiere; aber wir haben nicht gehört, welche Ziele wir dabei eigentlich strategisch verfolgen wollen. Es ist im Übrigen auch zu bezweifeln, dass wir hierfür das richtige Instrumentarium bereithalten. Es gibt eine Zersplitterung der politischen Zuständigkeiten; das gilt im Übrigen auch für Ihr Budget. Ein Drittel geht direkt oder indirekt an internationale Institutionen, ein Drittel an die EU und in das letzte Drittel regieren andere Ministerien mit hinein. Es sind eben, wenn man das zusammenfasst, Globalzuweisungen mit gewissen Ausnahmen. Noch undurchsichtiger ist das Dickicht der Durchführungsorganisationen. Was die OECD in ihrem Peer-Review über die deutsche Entwicklungszusammenarbeit geurteilt hat, war von Ihnen als ein großer Erfolg angesehen worden. Sie hat Ihnen aber bescheinigt, dass gerade dieses Geflecht an Beziehungen in den verschiedenen Durchführungsorganisationen die Empfängerländer überlaste. Es belastet aber nicht nur diese, sondern auch die Durchführungsorganisationen selbst. Ich will, weil Sie vielen gedankt haben, diesen aber nicht, hinzufügen, dass auch die Mitarbeiter der Durchführungsorganisationen vor Ort unter all dem leiden und die Probleme, die damit verbunden sind, bewältigen müssen. Staatssekretär Stather hat kürzlich zugegeben, dass die Institutionenvielfalt einen ungeheuren Koordinierungsbedarf nach sich ziehe. Er hat dafür aber keine Lösung und gibt stattdessen Gutachten in Auftrag. Das ist doch nicht mehr als ein Ausdruck von Hilflosigkeit. ({0}) Wenn Sie uns das erlauben, wollen wir Ihnen hier einmal helfen. Was also ist zu tun? Wir kritisieren nicht die institutionelle Hilfe. Aber wir akzeptieren nicht, dass unser Einfluss auf die Politik dieser Institutionen in keinem Verhältnis zu den geleisteten Beiträgen steht. Wir Deutsche zahlen am meisten und haben am wenigsten zu sagen. Noch schlimmer: Wir als Parlament, auch Sie von der Koalition, haben über große Teile Ihres Haushalts keine Kontrolle. Nehmen wir als Beispiel den Europäischen Entwicklungsfonds. Kein Parlament kann über die Verwendung der Mittel dieses Fonds mitentscheiden, geschweige denn die Mittelverwendung kontrollieren auch das Europäische Parlament nicht: kein Einfluss, null Kontrolle. Das ist doch nicht zu akzeptieren. ({1}) Dabei geht es nicht um Peanuts. Wir reden hier über 661 Millionen Euro allein in diesem Jahr. Dieser Betrag soll bis 2008 auf 900 Millionen Euro pro Jahr gesteigert werden. Das ist mehr, als wir für die bilaterale technische und finanzielle Hilfe insgesamt jährlich aufwenden. Das ist doch verrückt. Dabei ist schon die Zielrichtung dieses Fonds, nämlich ausschließlich die Unterstützung der AKP-Staaten, zweifelhaft. Wir zahlen dort - den Zuhörern sei dieses Betriebsgeheimnis einmal verraten im Grunde genommen nur für das gute Gewissen der ehemaligen Kolonialmächte. Ich will von Ihnen schon wissen, warum wir ausgerechnet in diesen großen Fonds mehr einzahlen, als es die ehemaligen Kolonialmächte selbst tun. Es gibt noch ein haushaltstechnisches Risiko in Milliardenhöhe, über das weder die Kanzlerin heute Morgen noch der Finanzminister noch Sie etwas gesagt haben. Im letzten Jahr mussten Sie einen Mehrbedarf des EEF von 97 Millionen Euro aus dem Haushalt erwirtschaften. Was ist also in den kommenden Jahren? Sagen Sie dazu einmal etwas! Wir wollen es wissen. Wir können es uns einfach nicht leisten, weiterhin nicht abgerufene Mittel aus den vergangenen Jahrzehnten nun nachzuschießen. Wir haben in Zukunft eine völlig unübersichtliche Haushaltssituation, weil wir nicht wissen, über welche Mittel wir tatsächlich verfügen können. ({2}) Die FDP fordert daher, die Mittel für den EEF zu sperren, bis dieser Sachverhalt nachvollziehbar dargelegt wird. Da gibt es mehrere Einzelpunkte, auf die ich aber aus Zeitgründen nicht eingehen kann, es sei denn, der Kollege Ruck würde mir einige Minuten seiner Redezeit geben. Ich glaube aber nicht, dass er dazu bereit ist. ({3}) Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zur bilateralen Entwicklungszusammenarbeit machen. Es ist klar, dass wir uns auch da bei den Zielen und Partnerländern beschränken müssen. Wir können nicht mit der Gießkanne alles bedienen wollen. ({4}) Der Mitteleinsatz muss in Zukunft an der Bedürftigkeit und an der Kooperationswilligkeit der Empfängerländer orientiert werden. Good Governance, über die immer gesprochen wird, darf nicht zu einer Modephrase verkommen, sondern sie muss die Grundlage für die staatliche Entwicklungszusammenarbeit sein. Das gilt für Afghanistan - Sie haben den Fall Rahman schon angesprochen - genauso wie für jeden anderen Landstrich dieser Erde. Frau Ministerin, Sie müssen auch loslassen lernen. Die Länder, die auf eigenen Beinen stehen können, sollten dies auch tun. Wir brauchen jeden Cent für die wirklich Bedürftigen dieser Welt. Sie haben das gerade bei der Vorstellung Ihrer Globalziele beschrieben. Entwicklungszusammenarbeit, nur um vor Ort präsent zu sein, ist pure Geldverschwendung. ({5}) Wir müssen deshalb unsere Zusammenarbeit mit den Schwellenländern überdenken. Ihr Ankerländerkonzept geht in die falsche Richtung. Länder wie China, Indien, Südafrika und Brasilien sind in der Lage, aus eigener Kraft zu wachsen. Wir müssen den Mut aufbringen, Ländern, die es aus eigener Kraft geschafft haben, zu sagen: Ihr könnt es jetzt alleine; ihr braucht unser Geld nicht mehr; wir konzentrieren die Mittel auf die, die sie wirklich brauchen. ({6}) Wir konnten bei Vertretern dieser Länder eine positive Resonanz für diese Position finden. Von einem Land wie beispielsweise China, das über die größten Währungsreserven der Erde verfügt, kann man aufgrund seiner Wirtschaftskraft verlangen, die Armutsursachenbekämpfung und die Armutsfolgenbekämpfung selber in die Hand zu nehmen. Dazu sind diese Länder auch bereit. Das gilt natürlich nicht, wenn sie dazu nicht aufgefordert werden. ({7}) Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Es ist gut, dass sich die CDU/CSU ganz offenkundig dieser Position der FDP nun anzuschließen gedenkt. Der Kollege Kampeter hat sich sehr glaubhaft und eindeutig in dieser Richtung geäußert. ({8}) - Genau, ein kluger Mann. - Wir würden uns freuen, wenn die Koalition insgesamt sich dem anschließen würde. Nur Mut, Frau Ministerin! Schließen auch Sie sich an! Danke schön. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Arnold Vaatz für die CDU/CSU-Fraktion.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, es ist ein wichtiges Signal, dass unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre erste Rede zur Verteidigung ihres Haushaltes damit begonnen hat, über unsere entwicklungspolitischen Ziele zu reden. ({0}) Frau Bundesministerin, auch wenn Sie schon darauf eingegangen sind, möchte ich dennoch einen Gesichtspunkt zum Thema Afghanistan hervorheben. Der afghanische Bürger Abdul Rahman, der lange Zeit in Deutschland gelebt hat, zum Christentum übergetreten ist und in einem politischen Prozess mit dem Tode bedroht war, wurde erwähnt. Es ist unbefriedigend, dass es überhaupt zu diesem Prozess gekommen ist. Es ist unbefriedigend, dass Rahman mit der Begründung der Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen worden ist. ({1}) Es ist unbefriedigend, dass wir darüber nachdenken müssen, ob er bei uns Asyl bekommen könnte. ({2}) Aber es ist ein riesiger Erfolg, dass dieser Prozess überhaupt vor den Augen der Weltöffentlichkeit stattgefunden hat. An diesem riesigen Erfolg haben unsere gemeinsame Außenpolitik und unsere Entwicklungspolitik einen ganz wesentlichen Anteil. ({3}) Die Ministerin hat über den Kongo gesprochen. Es ist unbefriedigend, dass es im Kongo noch immer einige nicht demobilisierte Milizen gibt. Es ist unbefriedigend, dass es dort noch Kindersoldaten gibt. Es ist unbefriedigend, dass sich dort noch Geschäftemacher die Bodenschätze dieses Landes auf dunklen Kanälen illegal aneignen. All das ist unbefriedigend. Aber es ist ein riesiger Erfolg unserer gemeinsamen Politik und im Übrigen auch der Koordination unserer Politik mit den Politiken der afrikanischen Staaten, dass es zu Wahlen kommt und der Präsident des Kongo bereit ist, internationale Truppen als Garant eines ordnungsgemäßen Verlaufs dieser Wahlen in sein Land hineinzulassen. ({4}) Auch das ist ein Erfolg der Abstimmung der Außenpolitik und der Entwicklungspolitik sowie ein Erfolg der politischen Koordination der Staaten in Afrika, die letzten Endes von den demokratischen Staaten Europas ihren Ausgang genommen hat. Aus diesem Grunde halte ich es für in höchstem Maße unverantwortlich, wenn wir wie beispielsweise die FDP im letzten Augenblick sagen: Okay, die Dinge sind gut eingerichtet. Alles läuft auf Demokratie und eine positive Entwicklung zu. Aber für den letzten Schritt, um zur Demokratie überzuleiten, nämlich für demokratische Wahlen und die Respektierung des Ergebnisses, setzen wir uns nicht mehr ein. Das lassen wir sie jetzt selber machen. - Wenn wir so denken, dann machen wir die jahrelangen Anstrengungen in der Entwicklungspolitik mit einem Schlag zunichte. ({5}) Wir müssen uns in diesem Fall berechtigterweise fragen lassen, welchen Sinn unsere Entwicklungspolitik hat, wenn wir davor zurückscheuen, das letzte Ziel in Angriff zu nehmen. Meine Damen und Herren, wir reden über die Finanzierung unserer entwicklungspolitischen Ziele. Das ist der Sinn einer Haushaltsdebatte. Die ODA-Quote, über die wir heute auch reden, nämlich bis zum Jahr 2015 im Haushalt die Marke von 0,7 Prozent des Bruttonationalproduktes für Entwicklungshilfe vorzusehen, ist ein sehr ehrgeiziges Ziel. Wir haben dafür keine Zaubermittel. Wir haben die Möglichkeit, die Haushaltsmittel zu erhöhen. ({6}) Wir haben die Möglichkeit, das Instrument des Schuldenerlasses zu nutzen. Wir haben die Möglichkeit, innovative Finanzierungsinstrumente zu mobilisieren, die die Frau Ministerin eben genannt hat. ({7}) Zur Erhöhung der Haushaltsmittel: Wir haben es tatsächlich geschafft, 300 Millionen Euro zusätzlich - das sind 8 Prozent mehr - in diesen Haushalt einzustellen. Frau Ministerin, mein Kompliment, dass das gelungen ist! Das ist das Ergebnis einer guten Gemeinschaftsleistung der Koalition. Darauf können wir stolz sein. ({8}) Wir sind uns natürlich darüber im Klaren, dass das Instrument des Schuldenerlasses zweischneidig ist. Schuldenerlass darf nicht dazu führen, dass sofort wieder neue Schulden gemacht werden. ({9}) Darauf haben wir zu achten. Herr Kollege Löning, das bedeutet aber nicht, dass wir das Instrument mit dem pauschalen Argument, es würden nach dem Erlass neue Schulden gemacht, von vornherein entwerten sollten. Das darf nicht sein. Das Instrument des Schuldenerlasses ist im Kontext der jeweiligen Situation zu betrachten. Genau das werden wir tun. Entsprechend werden wir 2006 auf diesem Wege dem Irak und Nigeria - das Finanzministerium hat es errechnet - 1,6 Milliarden Euro zukommen lassen. ({10}) - Herr Löning, das ist richtig. Sie wissen aber ganz genau, dass es in Nigeria nicht nur die von Ihnen angesprochenen ölreichen Küstengebiete gibt. Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass wir uns in diesem Land entsprechend unserem Ziel, Haushaltsmittel als Katalysator für die Mobilisierung anderer Finanzquellen einzusetzen, engagieren. Insbesondere in Nigeria hat sich die Gewährung von Mikrokrediten als erfolgreiches und sehr effizientes Mittel zur Finanzierung von Existenzgründungen erwiesen. ({11}) Wenn es uns möglich ist, Haushaltsmittel nicht bloß auszugeben, sondern sie als Katalysator zur Entwicklung von Eigeninitiative und zur Entwicklung von Existenzen in diesem Lande zu nutzen, dann sollten wir das tun. Man sollte die Länder, die aufgrund der hohen Verschuldung ihre Hände ausstrecken, nicht verhungern lassen. ({12}) - Sie wissen selber, dass die Mikrokredite nicht an Staaten, sondern an Privatpersonen gehen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Meine Herren Kollegen, Sie können versuchen, eine Zwischenfrage zu stellen. Vielleicht interessiert sich dann der Redner.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Richtig. - Es ist außerdem wichtig, dass wir überlegen, was wir tun können, um die Privatwirtschaft in Deutschland zu aktivieren und zu ermutigen, in Nigeria zu investieren. Ich glaube, dass hier in der letzten Zeit zu wenig über die Frage der Aktivitäten der Privatwirtschaft gesprochen worden ist. Wir müssen alles tun, um Privaten die Möglichkeit zu geben, entwicklungspolitische Impulse zu setzen. Unsere Entwicklungspolitik besteht aus mehreren Komponenten. Eine davon ist die Armutsbekämpfung. Auch hier muss das Stichwort „Hilfe zur Selbsthilfe“ als Erstes genannt werden. ({0}) Wo das nicht reicht, ist es notwendig, auch über andere Maßnahmen nachzudenken. Es ist außerordentlich wichtig, dass wir eine regionale Subsidiarität fordern. Was bedeutet das? Wenn in einem Land eine Hungersnot ausbricht, ist es natürlich nicht allein die Aufgabe des weit entfernten Deutschland, dort zu helfen. Es ist auch unsere Aufgabe; aber es ist ebenso notwendig, dass sich ebenfalls die Anrainerländer in solchen Fällen verantwortlich fühlen und ihre Hilfe zur Verfügung stellen. Darauf müssen wir in der Entwicklungshilfe drängen. ({1}) Wir müssen dabei auch stärker beachten, dass der Multilateralismus in diesem Bereich effizienter gestaltet werden muss als bisher. Das heißt, wir müssen etwas tun, um die internationalen Institutionen, zum Beispiel WTO, Weltbank und IWF, in ihrem Ansehen zu stärken. Der Bürger der Bundesrepublik Deutschland wird berechtigterweise fragen, wie es um die Effizienz beim Umgang mit dem Geld, das wir geben, gestellt sei. Deshalb stellt sich die Frage: Wie stark ist unser Einfluss in diesen Institutionen? Es ist notwendig, unseren Einfluss in Zukunft zu stärken. Meine Damen und Herren, man könnte die Diskussion noch wesentlich weiter führen. Ich möchte - mit Ihrer Genehmigung, Frau Präsidentin - nur noch ein Wort sagen: Unsere innere und äußere Sicherheit ist so gut, wie es uns gelingt, die innere und äußere Sicherheit anderswo auf der Welt - Stichworte „Demokratie“ und „gute Regierungsführung“ - zu entwickeln und stärken zu helfen und daran auch die Intensität unseres entwicklungspolitischen Beitrags festzumachen. Das sollte eines unserer Kernziele sein. Nicht Projektitis und Gießkanne, sondern direkte Hilfe beim Aufbau von nachhaltigen Strukturen! Vielen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort die Kollegin Heike Hänsel. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte kurz einen Satz aus der Koalitionsvereinbarung zitieren. Darin steht zum Thema Entwicklungspolitik unter anderem: Die Folgen der sich verschärfenden Entwicklungsprobleme vor allem in Afrika, aber auch in Teilen Asiens und Lateinamerikas, gefährden unmittelbar Frieden und Wohlstand in Deutschland und Europa. ({0}) Wenn ich das lese, dann muss ich feststellen, dass das eine völlig falsche Darstellung von Wirkung und Ursache mit weit reichenden Folgen ist. ({1}) Nicht wir sind bedroht; es ist genau umgekehrt: Die jahrhundertelange Ausbeutung der Länder des Südens sowie die jetzige neoliberale Weltwirtschaftsordnung und die Kriegspolitik bedeuten eine ständige Bedrohung für die Existenz von Millionen von Menschen. ({2}) Genauso falsch sind die Antworten, die beispielsweise Frau Merkel heute in der Debatte gegeben hat. Sie hat nämlich gesagt, dass wir unter anderem wegen des Problems afrikanischer Flüchtlinge an europäischen Grenzen Soldaten in den Kongo schickten. Da muss ich Ihnen einmal sagen, Frau Wieczorek-Zeul: Wenn es um die Stützung eines Wahlprozesses geht, wieso brauchen wir dann Militär? ({3}) Ich habe sehr viel Wahlbeobachtung gemacht. Ich habe Vertreter der MONUC gefragt: Wieso brauchen wir bewaffnete Wahlbeobachter? Sie konnten mir darauf keine Antwort geben. Solch ein Einsatz ist völlig unsinnig. Die entscheidenden Weichenstellungen für die Wahlen werden nicht am Wahltag vorgenommen, sondern im Vorfeld des Wahlprozesses. ({4}) Wo sind denn jetzt Ihre Leute, die einen demokratischen Wahlprozess und den Zugang zu Medien absichern? ({5}) 50 bis 100 Dollar muss eine Person zahlen, um sich aufstellen zu lassen. 50 000 Dollar müssen von einem Präsidentschaftskandidaten gezahlt werden. Der Zugang zu solchen Wahlen ist doch nicht demokratisch. ({6}) Sichern wir nachher den Sieger einer undemokratischen Wahl militärisch ab? Das ist doch völlig unrealistisch. Wir müssen jetzt aktiv werden und dort breite Prozesse organisieren. Wir dürfen nicht meinen, mit dem Militär dort etwas zu lösen. ({7}) Wir brauchen, was die Lösung der Flüchtlingsfrage angeht, keine Soldaten in Afrika. Wir brauchen auch keine höheren Zäune und dickeren Mauern an den europäischen Außengrenzen. Wir brauchen erst recht keine Auffanglager, wie sie zum Beispiel in Tansania oder Osteuropa geplant sind. ({8}) Das ist eine menschenfeindliche Politik. Das sind die falschen Antworten auf eine falsche Analyse. Sie sind schon gar kein Beitrag zur Entwicklungszusammenarbeit. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich lasse jetzt keine Zwischenfragen zu. Ich möchte erst einmal meine Gedanken entwickeln. Sie können danach gerne eine Kurzintervention machen. Das Problem ist, dass solche Auffanglager dann womöglich aus dem Haushalt finanziert werden. Wir müssen Fluchtursachen bekämpfen und nicht die Menschen, die zu uns kommen. Wir müssen ganz klar aufzeigen, was die herrschende Weltwirtschaftsordnung und unsere Politik, die dazu beiträgt, bedeuten. Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, sagt: Die Weltwirtschaftsordnung tötet tagtäglich Menschen und verhindert eine selbstbestimmte Entwicklung der Menschen in den Ländern des Südens. Eine Säule dieser Weltwirtschaftsordnung ist die Welthandelsorganisation WTO. Sie hat sich den freien Markt und den Freihandel auf die Fahnen geschrieben; das ist ihr oberstes Prinzip. ({0}) Wir lehnen diese Politik der WTO ab, die auf umfassende Handelsliberalisierung, auf Deregulierung und auf Liberalisierung der öffentlichen Dienstleistungen setzt. ({1}) Wir haben in vielen Ländern, zum Beispiel Lateinamerikas, ganz klar gesehen, dass genau diese neoliberale Ausrichtung den Menschen ihre Existenzgrundlagen entzieht, dass sie zu Armut, zu Ausgrenzung und zu fehlendem Zugang zur Grundversorgung führt. ({2}) Das sind fundamentale Menschenrechte, die ständig verletzt werden. Dazu habe ich heute in der Debatte zu den Menschenrechten keinen einzigen Ton gehört. Auch der Begriff „Armutsbekämpfung“ wurde viel zu selten erwähnt. Die Millenniumsziele, auf die wir uns alle stützen, wurden in der heutigen Debatte überhaupt nicht genannt. Entscheidend ist, dass wir konkrete Vorschläge machen, wie wir das Ziel der Halbierung der Armut bis 2015 erreichen wollen. Wir setzen ganz eindeutig auf eine eigenständige Entwicklung der Länder des Südens. Sie müssen vor einer aggressiven Marktöffnungspolitik der Industrieländer und der multinationalen Konzerne geschützt werden. Wir brauchen umfassende Entschuldungsinitiativen ohne daran geknüpfte neoliberale Bedingungen. ({3}) Die Entwicklung des ländlichen Raumes, kleinbäuerlicher Strukturen - sie wollen wir übrigens ohne die Verwendung gentechnisch veränderten Saatgutes schaffen und regionaler Märkte spielen dabei eine entscheidende Rolle. ({4}) Frau Wieczorek-Zeul, Ihre Initiative zu den regenerativen Energien finde ich sehr gut. Dabei unterstützen wir Sie. Die regenerativen Energien sind eine zentrale Säule für die Entwicklung des ländlichen Raumes. Wir setzen uns ganz klar nicht für eine Privatisierung der Dienstleistungen und der Sicherungssysteme, sondern für den Aufbau und die Stärkung der Sicherungssysteme in den Ländern des Südens ein. ({5}) Leider wird diese Politik aber zum großen Teil nicht im Entwicklungshilfeministerium, sondern im Wirtschaftsund im Finanzministerium sowie auf europäischer Ebene gemacht. So lange wir an dem Primat der Wettbewerbsfähigkeit, wie sie unter anderem in der Lissabonstrategie formuliert wurde, festhalten - die EU muss der dynamischste Wirtschaftsraum der Welt werden; wir in Deutschland müssen vorankommen; wir müssen wieder Nummer eins werden -, so lange wir das Prinzip von Siegern und Verlierern in unserer Politik nach außen vertreten, haben die Länder des Südens keine Entwicklungschancen. ({6}) Diese Politik steht dem Prinzip der ökologischen Nachhaltigkeit und dem Vorhaben der weltweiten Armutsbekämpfung diametral entgegen. In diesem Zusammenhang spielt die ODA-Quote eine untergeordnete Rolle. Es ist gut, dass sie jetzt, nachdem sie bei Rot-Grün ständig gesunken ist, erhöht werden soll. Sie ist aber nur ein Bestandteil. ({7}) Wir brauchen eine grundsätzlich andere, eine solidarische Politik in den weltwirtschaftlichen Beziehungen. ({8}) Ich möchte einen weiteren für uns entscheidenden Punkt anführen. Die Entwicklungspolitik ist laut Koalitionsvertrag integraler Bestandteil der deutschen Außenund Sicherheitspolitik. Wer die heutige Debatte verfolgt hat, hat aber erkannt, dass es in der Außenpolitik hauptsächlich nur noch um wirtschaftliche und hegemoniale Interessen geht. Im Grunde ist das Ziel, die EU als neue Großmacht in der Welt zu etablieren. In diesem Zusammenhang wurde oft genug der Kampf gegen den Terrorismus genannt. Unter diesem Stichwort wird die Militarisierung der Politik vorangetrieben und der Kampf um den Zugang zu Energieressourcen geführt, der die zivile und soziale Entwicklung weltweit hemmt. Es geht nicht nur generell um Militäreinsätze, sondern auch darum, dass sie zunehmend, wie nun zum Beispiel im Sudan, aus Mitteln des Entwicklungshilfefonds der EU finanziert werden sollen. ({9}) Wir lehnen den gesamten Komplex der zivilmilitärischen Zusammenarbeit ab. Das ist die falsche Entwicklung. ({10}) Wenn wir zivile und militärische Aufgaben, wie zum Beispiel in Afghanistan, vermischen, sind Entwicklungshilfeorganisationen vor Ort gefährdet. Die Entwicklungshilfe wird instrumentalisiert. Infolgedessen braucht das Militär noch mehr finanzielle Mittel. Wir sind der Meinung: Soldaten sind keine Entwicklungshelfer. Wir brauchen eine Stärkung der zivilen Aufgaben und keine weitere Militarisierung der Politik. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Wieczorek-Zeul, insofern unterstützen wir den zivilen Friedensdienst, den Sie angeregt haben. Wir glauben aber, dass der zivile Friedensdienst nicht parallel zu Militärinterventionen stattfinden soll und nicht zur Nachsorge von militärischen Interventionen geeignet ist, sondern die Alternative zu der Politik, die hier formuliert wurde, ist. Darum wünschen wir uns eine umfassende Erhöhung der Mittel. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja. - Weltweit gibt es immer mehr Menschen, die gegen diese Politik aufstehen. Das erleben wir in vielen Ländern und den Sozialforen. Die Linke versteht sich als Teil dieser weltweiten Bewegung. Danke. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich dazu, verbunden mit den besten Wünschen. ({0}) Nun hat das Wort der Kollege Thilo Hoppe von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. ({1})

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Keine Attacke, ich bin friedlich. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich zum Haushalt spreche, muss ich kurz auf das Vorangegangene eingehen. Liebe Kollegin Hänsel, Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede! Ich teile durchaus einige, sogar viele Ihrer Positionen und die Kritik an ungerechten Strukturen der Weltwirtschaft. Aber ich hoffe sehr, dass sich auch Ihre Fraktion einmal der Probleme im Kongo intensiver annimmt und zu Lernprozessen kommt. ({0}) Manchmal sind es sehr schmerzhafte Lernprozesse. Wir haben nach Ruanda gesagt: Nie wieder zusehen. - Man kann auch durch unterlassene Hilfeleistung schwere Schuld auf sich laden. ({1}) Die Absicherung eines Wahlprozesses ist kein Kriegseinsatz. Ich hoffe sehr, dass Sie da zu einer differenzierteren Sichtweise kommen werden.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Aydin?

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Hüseyin Kenan Aydin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003733, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege Hoppe. - Bezüglich des möglichen Kongoeinsatzes wird hier immer wieder behauptet, dass wir im Kongo Soldaten einsetzen müssen, damit die Wahlen ordnungsgemäß organisiert und zu Ende geführt werden können. ({0}) - Das ist ein Teil der Argumentation; ich habe heute gut genug zugehört. Für diese Wahl sollten sich bis morgen 500 Personen als Kandidaten anmelden. Laut BBC haben sich bis heute Morgen erst 100 Kandidaten angemeldet. ({1}) - Dazu komme ich jetzt. - Es hat nur ein einziger Präsidentschaftskandidat ohne Milizen die Kandidatur angemeldet; allerdings wird er wahrscheinlich die erforderlichen 50 000 Dollar nicht haben. Jetzt frage ich Sie, all die Befürworter: Glauben Sie erstens, dass die Wahlen unter diesen Bedingungen überhaupt im Juni stattfinden werden? Glauben Sie zweitens, dass wir unter diesen Bedingungen mit militärischem Einsatz eine demokratisch organisierte Wahl durchführen können? ({2})

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, haben Sie zur Kenntnis genommen, dass die Wahl bereits um einige Wochen verschoben worden ist, um genau diesen Unregelmäßigkeiten und Problemen noch nachzugehen? Der Einsatz der Soldaten dient nicht dazu, die Wahlurnen an den richtigen Ort zu bringen, sondern es ist eine Absicherung, damit die Wahlverlierer nicht in die Versuchung geraten, das Wahlergebnis zu korrigieren. Das Ganze ist nicht die Idee der Europäischen Union, sondern beruht auf einer Anfrage der Vereinten Nationen, der MONUC, einer Anfrage von Kofi Annan. Es ist auch wichtig für Ihre Fraktion, zur Kenntnis zu nehmen, dass viele NGOs, die Ihnen sehr nahe stehen, diesen Einsatz befürworten. ({0}) - Und auch die Afrikanische Union. Danke für diesen Hinweis. Ich wollte eigentlich zum Haushalt sprechen, aber ich muss noch eines vorwegschikken: All das, was von meinen Vorrednern, von Herrn Vaatz und von der Ministerin, zum Fall Abdul Rahman gesagt wurde, möchte ich hier ausdrücklich unterstreichen und mit einem großen Ausrufezeichen versehen. ({1}) Jetzt zum Haushalt. Wäre ich noch entwicklungspolitischer Sprecher einer Koalitionsfraktion, dann würde ich sicherlich den erfreulichen Aufwuchs der Barmittel im Einzelplan 23 loben. Jetzt gehöre ich zur Opposition, aber mache das Gleiche. ({2}) Unter den gegebenen Rahmenbedingungen ist das ein Schritt in die richtige Richtung. Es ist zwar weniger, als eigentlich nötig wäre, wenn man sich der Erreichung der Millenniumsziele konsequent verschriebe, aber ich weiß um die Schwierigkeiten und sage: Immerhin. Genauso hätte ich Folgendes getan und tue es jetzt auch, egal ob aus einer Koalition oder aus der Opposition heraus: Ich kritisiere die deutliche Absenkung der Verpflichtungsermächtigungen scharf. Das hat in der Haushaltsdebatte bisher noch gar keine Rolle gespielt. Einige werden sich noch an die Haushaltsdebatten in der letzten Legislaturperiode erinnern. Auch da habe ich kein Blatt vor den Mund genommen, egal ob die Kritik sich an die eigene Regierung, an den Finanzminister oder an die Opposition richtete. Verpflichtungsermächtigungen stecken den Rahmen dafür ab, was in den nächsten Jahren passieren soll. Noch unter Rot-Grün - besonders auf Betreiben unserer Fraktion, aber auch der Entwicklungsministerin - hat sich die Bundesregierung darauf festgelegt und dazu verpflichtet, bis 2015 - das wissen wir alle - mindestens 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe zur Verfügung zu stellen. Erfreulicherweise - das erkennen wir an hat die neue Koalition dies nicht widerrufen, sondern ausdrücklich bestätigt. ({3}) Aber das darf kein Lippenbekenntnis bleiben. Das muss durch Fakten, Zahlen und Verpflichtungsermächtigungen untermauert werden. ({4}) Eine Kürzung der Verpflichtungsermächtigungen wäre das völlig falsche Signal. Jetzt fordere ich insbesondere die CDU/CSU-Fraktion auf, die Haushaltsreden von Peter Weiß, der heute nicht mehr in diesem Arbeitsbereich tätig ist, genau zu lesen. Der Kollege Weiß hat die Regierung immer davor gewarnt, sich bei der Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels zu sehr auf den Schuldenerlass zu verlassen. Mit dem Erlass der enormen Schulden, insbesondere des Iraks, kann man die ODA-Quote kurzfristig in die Höhe treiben. Aber das wäre zu einem Großteil geschönte Statistik ohne jeden Mehrwert für die Entwicklungszusammenarbeit. ({5}) Wenn die Erreichung der Millenniumsziele ein ernst gemeintes Ziel ist, dann müssten die Barmittel sowohl im Einzelplan 23 als auch in den ODA-Quoten-wirksamen Titeln anderer Ministerien Jahr für Jahr erhöht werden. Als Beispiel nenne ich ausdrücklich das Auswärtige Amt, den Bereich der humanitären Hilfe, die Minenräumprogramme und den Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“. Im Kabinettsentwurf waren leider sogar Kürzungen vorgesehen. Um in den Regierungsverhandlungen mit unseren Partnerländern gerade für die Zukunft den nötigen Spielraum zu haben, müssen sich diese Erhöhungen der kommenden Jahre in den Verpflichtungsermächtigungen widerspiegeln. Ich kenne das Barmittelproblem, von dem viele Projekte, gerade im letzten Quartal eines Rechnungsjahres, betroffen sind. Aber dieses Problem löst man nicht durch eine Kürzung der VEs, sondern durch eine noch kräftigere Erhöhung der Barmittelansätze. Einige von Ihnen werden nun vielleicht sagen: Wenn man in der Opposition ist, ist es leicht, mehr Geld zu fordern. Aber auch hier gilt: Wie wir es bereits letztes Mal, als wir noch in der Regierungsverantwortung waren, getan haben, legen wir auch nun aus der Opposition heraus eine Gegenfinanzierung, die durchgerechnet ist, auf den Tisch. Wir sagen also, woher das Geld kommen kann. Wir hätten uns zum Beispiel sehr gefreut, wenn Deutschland auf der Konferenz in Paris Seite an Seite mit Frankreich und elf anderen Ländern hinsichtlich der Einführung einer Flugticketabgabe schon Fakten geschaffen hätte. ({6}) Wir wissen, dass auch die zuständige Ministerin dies gern getan hätte. Aber dafür hatte sie im Kabinett - ich sage hoffnungsvoll: noch - keine Rückendeckung und keine Mehrheit. ({7}) Die Ticketabgabe, die Kerosinsteuer und die Devisenumsatzsteuer, die Tobin Tax, all diese innovativen Finanzierungsinstrumente müssen jetzt endlich in Angriff genommen werden. Dabei sollte Deutschland eine führende Rolle spielen, statt ständig nur zu zaudern, zu zögern und sich wegzuducken. ({8}) Ich bin mir natürlich bewusst, dass es im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit auch, aber nicht nur auf Geld ankommt. Wir müssen enorme Reformanstrengungen unternehmen, bei uns und in den Entwicklungsländern selbst. Wir müssen für gerechtere Strukturen im Welthandel und in der internationalen Finanzarchitektur sorgen. In unserer Entwicklungszusammenarbeit stehen große Reformen an; das wurde schon gesagt. In diesem Zusammenhang ist bereits ein Gutachten in Auftrag gegeben worden. Jetzt möchte ich im Namen des gesamten AWZ anmahnen: Wir Parlamentarier möchten in all diese Überlegungen eng einbezogen werden. Wir möchten nicht vor vollendete Tatsachen gestellt werden, sowohl was die Reform der Institutionen betrifft als auch was die notwendige Reduzierung der Zahl der Partnerländer und die Schwerpunktsetzung angeht. ({9}) Da es im Kampf gegen den Hunger keine Fortschritte gibt - bei der Erreichung dieses Millenniumsziels haben wir sogar die größten Rückschritte zu verzeichnen -, brauchen wir eine enorme Aufwertung des ländlichen Raumes. ({10}) In der Anhörung, die hierzu in der letzten Legislaturperiode durchgeführt wurde, war das fraktionsübergreifend Konsens. Aber auch das spiegelt sich bisher noch nicht in der Politik des BMZ wider. Hier wünsche ich mir vor allem von der SPD-Fraktion grundsätzlich mehr Engagement für den ländlichen Raum. Von der CDU/ CSU-Fraktion wünsche ich mir, dass sie darauf verzichtet, dieses Thema immer sofort mit einem Werbefeldzug für manipuliertes Saatgut, also für die grüne Gentechnik, zu verbinden. Sie löst das Hungerproblem nicht, sondern sie ist in einigen Teilen der Welt sogar ein Teil dieses Problems und verschärft es sogar noch. ({11}) Da ich auf meine Vorredner eingegangen bin, läuft mir meine Redezeit davon. Eigentlich wollte ich noch all die Bereiche aufzählen, in denen mehr Engagement notwendig ist. So müsste zum Beispiel beim Thema Biodiversität ein Ruck durch die Entwicklungspolitik gehen. ({12}) - Ja. - Ähnliches gilt für den Bereich der erneuerbaren Energien. Armutsbekämpfung und Umweltschutz müssen viel stärker als bisher miteinander verbunden werden, statt als Gegensatz betrachtet zu werden. Ich schaffe es leider nicht mehr, alle weiteren Schwerpunkte aufzuzählen, da bereits das Licht am Rednerpult blinkt. Wir werden ein ressortübergreifendes Konzept vorlegen. Dieses Konzept ist schon ausgearbeitet. Es sieht Aufwüchse bei den Barmitteln und vor allem bei den Verpflichtungsermächtigungen vor. Das ist der Schwachpunkt des vorgelegten Haushaltsentwurfs. Wir wollen in diesem Bereich keine Stagnation, sondern Bewegung. Als betont konstruktiv-kritische Opposition wollen wir unseren Teil dazu beitragen. Ich danke Ihnen. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat die Kollegin Dr. Bärbel Kofler für die SPDFraktion das Wort.

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte zu Beginn meiner Rede von meinem Manuskript abweichen und auf zwei Vorredner eingehen. Zunächst zum Beitrag der Kollegin Hänsel von der Fraktion der Linken. Ich würde mich sehr freuen, wenn Ihre Fraktion beim Thema Entwicklungspolitik endlich die Realitäten zur Kenntnis nehmen würde. ({0}) Ich greife nur einen Punkt heraus. Sie haben in Ihrem Beitrag den Sudan angesprochen. Man muss sich doch die Frage stellen, wie die Entwicklungspolitik gestaltet werden muss, damit sie den Menschen dient. Man muss sich überlegen, wie man den Menschen den Zugang zu Medikamenten, zu Ressourcen, zur Unterstützung und zur Entwicklungshilfe gewähren kann, wenn in ihrem Land Krieg herrscht und ihnen, wenn sie ein Flüchtlingslager verlassen, Gefahr für Leib und Leben droht. Es reicht nicht, zu sagen, Militär sei prinzipiell etwas Schlechtes. ({1}) Zum anderen möchte ich auf den Beitrag von Herrn Königshaus eingehen. Herr Königshaus, wir werden gemeinsam nach China reisen und uns dort das eine oder andere ansehen können. Vielleicht kommen Sie dann zu einer anderen Einsicht, was die Entwicklungspolitik mit Ländern wie China angeht. Selbstverständlich ist nicht alles Gold und Sonnenschein; das hat von uns und von der Regierung auch niemand behauptet. Natürlich ist China als Geberland geDr. Bärbel Kofler fordert, wenn es darum geht, Standards einzuhalten, zum Beispiel bei der Kreditvergabe oder bei seiner Afrikapolitik. Sich aber aus der Entwicklungszusammenarbeit mit Ländern wie China ausklinken zu wollen, halte ich für extrem kontraproduktiv. Sie können die Zusammenarbeit mit China zum Beispiel im Bereich der erneuerbaren Energien nicht einfach beenden. China ist der weltgrößte Emittent von Schwefeldioxid und der zweitgrößte Emittent von Kohlendioxid. China importiert aus Indonesien, aus Afrika und anderen Entwicklungsländern Holz in enormen Mengen, was entsprechende Schädigungen der Natur und der Lebensgrundlagen der Menschen in diesen Ländern zur Folge hat.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Königshaus?

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte. Sie verlängern meine Redezeit.

Hellmut Königshaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003709, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich nicht gesagt habe, dass wir die Entwicklungszusammenarbeit einstellen sollen? Das habe ich nicht gefordert. Wir erwarten aber, dass die Länder, die dazu in der Lage sind, ihre Ressourcen und reichlichen Finanzmittel dazu einsetzen - China ist eines der Länder mit den größten Devisenreserven -, um etwas im eigenen Land für die Armutsbekämpfung und den Aufbau entsprechender Systeme zu tun. Wir sind für Entwicklungszusammenarbeit mit diesen Ländern, aber diese Länder sollen selber dafür bezahlen. Sie sind dazu auch bereit. Warum sollten wir dort also Geld mit der Gießkanne verteilen, das dann woanders fehlt?

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Königshaus, das hört sich jetzt schon etwas moderater an als das, was Sie vorhin gesagt haben. Ich bin der Meinung, dass wir nicht mit der Gießkanne Mittel in anderen Ländern verteilen. Selbstverständlich sollen diese Länder ihre eigenen Ressourcen in Anspruch nehmen. Aber ich habe gerade versucht, Ihnen an einem Beispiel deutlich zu machen, wo Entwicklungszusammenarbeit besonders dringend ist. Ich bitte darum, nicht mit einem Wisch alle diese Projekte vom Tisch zu fegen. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Bonde von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen?

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Alexander Bonde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003509, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, können Sie bestätigen, dass der Vorschlag, die Entwicklungshilfe an China zu streichen, nicht von der FDP kommt, sondern von Ihrem Koalitionspartner, nämlich von Herrn Kampeter aus dem Haushaltsausschuss? Wie werden Sie diesen Konflikt in der Koalition lösen?

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Irren kann jeder. ({0}) Ich bin aber guten Mutes, dass wir in der Koalition eine gute Zusammenarbeit pflegen und dass die Kollegen der CDU/CSU mit ihrem Kollegen noch einmal ein Gespräch über diesen Punkt führen werden. ({1}) - Na also. Ich komme noch einmal kurz auf den Energiebedarf in China zurück. Ich bin der Meinung, dass wir damit ein enorm wichtiges Projekt voranbringen können und werden. Das liegt übrigens gerade auch im Interesse der deutschen Unternehmen, der deutschen Energiepolitik und der deutschen Wirtschaft. Dieses Anliegen liegt Ihnen ja vielleicht auch am Herzen. ({2}) - Dann sind wir uns ja einmal einig, Herr Königshaus. Auf einen Punkt wollte ich natürlich schon noch eingehen. Von der Kollegin Hänsel ist die Aussage gekommen, die ODA-Quote sei eigentlich gar nicht wichtig und interessant. Ihrer Ansicht nach ist das, worüber wir hier reden, eher Makulatur. Deswegen möchte ich noch einmal feststellen, dass es nur mit finanziellen Mitteln möglich ist, Entwicklungszusammenarbeit zu betreiben. Wir haben jetzt 300 Millionen Euro mehr zur Verfügung. Das ist ein enormer Aufwuchs in einem Haushalt wie dem, den wir in diesem Jahr verabschieden werden. Es ist bereits gesagt worden, dass die Mittel im Vergleich zum Haushalt 2005 um knapp 8 Prozent steigen. Gerade damit kann man nämlich auch im Sinne der Millennium Development Goals, zu denen wir uns alle verpflichtet haben, den Ressourcenschutz, die Armuts- und Krankheitsbekämpfung und den Zugang zur Bildung in den Entwicklungsländern unterstützen und fördern. Wenn ein Haushalt 300 Millionen Euro mehr umfasst und man das als Makulatur und nicht wichtig bezeichnet, dann halte ich das eigentlich für der Diskussion nicht ganz würdig. ({3}) Die Industrienationen haben sich in Gleneagles auf einen Schuldenerlass für die ärmsten Länder dieser Welt verständigt. Ich halte das für eine wichtige und richtige Maßnahme. Die Frau Ministerin hat dankenswerterweise auch über den Dreiklang gesprochen, der in unseren Haushalt einziehen muss und durch den unsere Finanzierungsmöglichkeiten im Haushalt des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit in den nächsten Jahren gestaltet werden müssen. Das Erste ist die Entschuldung; sie wurde angesprochen. Das Zweite ist die Aufstockung des Etats des BMZ. Ich bin mir sehr sicher, dass dank der Energie unserer Ministerin in diesem Bereich noch etwas vorangehen wird. Das Dritte sind die innovativen Finanzierungsinstrumente. Auch hier möchte ich eines deutlich machen: Es gibt viele gute Ideen im Bereich der innovativen Finanzierungsinstrumente. Die Ministerin hat eine herausgegriffen, nämlich die Entwicklungsabgabe auf Flugtickets. ({4}) - Ach, du meine Güte. Wollen wir jetzt ein Seminar daraus machen? Ich kann Ihnen die Kerosinsteuer, die CO2-Abgabe, die Tobin Tax und sonst noch was nennen, Herr Königshaus. Das können wir gerne tun. ({5}) Uns als Arbeitsgruppe der SPD ist es wichtig, deutlich zu machen, dass wir große Sympathien für die Entwicklungsabgabe auf Flugtickets empfinden und sie entsprechend unterstützen wollen. ({6}) - Ja, so etwas tun wir. ({7}) - Das können Sie gerne tun, Frau Koczy. ({8}) Allerdings - auch das ist wichtig - dürfen wir uns nicht von vornherein nur auf eines der vielen Instrumentarien festlegen, sondern wir müssen mit der Ministerin, die uns in der Leading Group vertritt, die verschiedensten Instrumentarien intensiv prüfen und schauen, welche Vor- und Nachteile diese verschiedenen Instrumentarien bringen. Eine Frage muss dabei die Maßgabe sein: Was bringt das meiste Geld für die Entwicklungspolitik? ({9}) Das kann ein Bündel von Maßnahmen sein. Es muss nicht nur eine Maßnahme sein. ({10}) - „Umso besser“, eben. ({11}) - Danke, dass Sie meine Redezeit verkürzen, Herr Königshaus. Ich möchte gerne noch einen Punkt ansprechen, der die Ausgewogenheit zwischen bilateralen und multilateralen Finanzierungsinstrumenten beinhaltet. Ich möchte deutlich darauf verweisen, dass es nicht sein kann, hier zu sagen, uns interessiert nicht mehr, welche Unterschriften wir unter internationale Verträge gesetzt haben, die von uns abgeschlossen wurden. Der EEF ist angesprochen worden. Mir ist wichtig, zu betonen, dass die meisten Mittel des EEF nach Afrika gehen. Ich halte das für ein wichtiges Moment in der Entwicklungszusammenarbeit. Selbstverständlich müssen internationale, nationale und multinationale Geber abgestimmt und koordiniert handeln und agieren. An diesem Ziel - das gebe ich unumwunden zu - muss jede Regierung, jedes Land arbeiten. Hier gibt es sicherlich Verbesserungsmöglichkeiten. Aber die internationale Zusammenarbeit für unmöglich zu erklären oder sie gar einzustellen, halte ich auch aus Gründen der Transparenz dem Parlament gegenüber für nicht richtig. ({12})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, Sie haben schon richtig gesehen, dass Sie Ihre Redezeit überschritten haben.

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut. Dann sage ich nicht mehr das, was ich zur bilateralen Zusammenarbeit sagen wollte, die ich aber explizit erwähnen möchte, weil sie für uns sehr wichtig ist. ({0}) Das wird man auch im nächsten Haushalt sehen. Auch hinsichtlich der Verpflichtungsermächtigungen ist noch nicht aller Tage Abend. ({1}) Ich bedanke mich. Auf Wiedersehen! ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun das Wort der Kollege Dr. Christian Ruck von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie auch mich am Schluss dieser Debatte noch einmal feststellen, dass wir uns trotz des Diktates knapper Kassen über eine Steigerung der Mittel im Entwurf des Einzelplans 23 sehr freuen, die weit über die durchschnittliche Entwicklung des Gesamthaushaltes hinausgeht. Diese deutliche Steigerung in dem ersten Haushalt dieser neuen Koalition ist ein gutes Signal für die Ernsthaftigkeit, die wir neue Koalitionäre der Entwicklungspolitik beimessen. ({0}) Wir haben im Koalitionsvertrag lange über die Inhalte diskutiert. Das finde ich positiv, weil wir in der Sache um ein gemeinsames Ziel gerungen haben. Wir waren uns einig, dass wir die Entwicklungspolitik weiter stärken und sie national und international treffsicherer machen wollen. Der Etatentwurf setzt dazu auch in Richtung ODA-Stufenplan neue Akzente. Auch ich möchte noch einmal sagen, dass ich mich über die klare Rückendeckung durch unsere Kanzlerin gefreut habe. Heute Vormittag hat sie gesagt, dass sie an dem ODA-Stufenplan festhält. Allerdings hat sie auch erklärt, dass dies sehr schwer werden wird, weil zwar das Ziel klar ist, aber der Weg noch gefunden werden muss. Das ist unsere Aufgabe. Wir sind gefordert, diesen Weg mitzugehen. Wir müssen uns kreativ betätigen und uns etwas einfallen lassen. In der Tat gibt es unglaublich viele Einfälle zu Einnahmen aus allen möglichen Steuern. Da können wir aus dem Vollen schöpfen. Allerdings sollten wir weiter darüber nachdenken, wie wir verschiedene Dinge unter einen Hut bekommen, zum Beispiel einen haushaltsschonenden Aufwuchs. Dies könnte in Form neuer innovativer Finanzierungsinstrumente geschehen, zu denen wir uns auch als Diskussionsgrundlage ausdrücklich bekennen. Dabei müssen wir verschiedene Dinge bedenken, zum Beispiel die wirtschaftliche Tragfähigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit und die Internationalität. ({1}) Das ist sehr wichtig, weil wir für dieses Problem eine nachhaltige Lösung brauchen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eid?

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Die Kollegin Eid kennt sich in der Regel sehr gut aus.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr, Frau Eid.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Ruck, ich finde, wir brauchen gar nicht so innovativ zu sein, wie Sie das eben angekündigt haben; denn Sie wissen, dass das mit der Umsetzung von Ankündigungen immer so eine Sache ist. Ihre Koalition hat die Erhöhung der Mehrwertsteuer beschlossen. Ab dem nächsten Jahr werden Sie aufgrund der Mehrwertsteuererhöhung mehr Geld in die Kasse bekommen. Wie wäre es denn, wenn diese Koalition, bevor man über eine Abgabe auf Flugtickets nachdenkt - dafür bin ich selbstverständlich -, einfach beschließen würde, einen Teil der Einnahmen aus der erhöhten Mehrwertsteuer für die internationale Kooperation zu verwenden? ({0})

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann müssten wir die Mehrwertsteuer noch weiter erhöhen. Wollten Sie darauf hinaus? Denn die Mehreinnahmen, die wir durch die Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte erzielen werden, sind leider schon konzeptionell verplant. ({0}) Wir bekennen uns dazu, dass wir uns auf den Weg machen. Dabei hoffen wir auf eine konstruktive Zuarbeit von allen Seiten, um den Stufenplan für die ODA-Quote mit Leben zu erfüllen. Es gibt viele Punkte, über die wir noch nicht diskutiert haben und die wir andiskutieren können, zum Beispiel eine vertiefte Zusammenarbeit mit der Wirtschaft über PPP. Auch dabei gibt es noch Luft für die ODA-Quote. Wir sollten jedenfalls alles ausschöpfen, was uns auf seriösem Weg weiterbringt. Dazu gehört auch die Frage der Entschuldung. Ich kann mich gut erinnern, Herr Kollege Hoppe, wer zuletzt die Entscheidung kritisiert hat, den Irak zu entschulden: Das war ich. ({1}) - Ich weiß, was ich damals gesagt habe, und muss auch nichts zurücknehmen. Dabei ist eines wichtig - ich möchte in diesem Zusammenhang aufgreifen, was der Kollege Vaatz gesagt hat -: Die Entschuldung ist, ob wir wollen oder nicht, bereits ein Teil des Stufenplans, zumindest für die nächsten Jahre. Das ist völlig klar. Wir haben uns auch immer dazu bekannt, dass wir uns an der Kampagne zur Entschuldung beteiligen. Wir lassen aber keine unkonditionierte Entschuldung zu. Um das Instrument der Entschuldung zu schärfen, haben wir im AWZ eine Anhörung zu diesem Thema beschlossen. Ich glaube, das ist eine gute Verfahrensweise. Wir sollten uns deshalb nicht jetzt schon gegenseitig Vorwürfe machen. Aber bei allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen - beispielsweise durch Mischfinanzierung aus privaten und öffentlichen Mitteln -, kommen wir nicht umhin, auch mehr Haushaltsmittel einzusetzen. Dabei müssen wir darauf achten - insofern gebe ich Ihnen Recht -, rechtzeitig eine vernünftige Politik der Verpflichtungsermächtigungen zu betreiben. Wir können in den nächsten Wochen darüber diskutieren, wie wir dabei vorgehen können. ({2}) Wichtig ist aber auch: Wenn wir in einer Zeit knapper Kassen mit dem vorgesehenen Aufwuchs bis 2015 die ODA-Quote erfüllen wollen - dabei geht es schließlich um beträchtliche Summen -, dann müssen wir deutlich machen, dass dies zum Nutzen aller - und zwar auch aller deutschen Bürger - ist. Wir müssen auch deutlich machen - das ist bereits angeklungen -, dass es im Interesse von uns allen ist, soziale Zeitbomben und Fluchtursachen aus dem Weg zu räumen und Lebensperspektiven auch für den Süden zu schaffen. Denn es kostet allemal mehr Geld, mit Notoperationen, UN-Missionen oder gar Militäreinsätzen zu versuchen, die Probleme einzudämmen. Wir müssen auch daran erinnern, dass Entwicklungspolitik strategische Partnerschaften schafft. Man kann sich zwar gerne über die Politik gegenüber den Schwellenländern unterhalten, aber man muss deutlich machen, dass auch die Entwicklungspolitik Arbeitsplätze im eigenen Land schafft und erhält. Auch darauf müssen wir in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit hinweisen. Wir müssen zudem deutlich machen, dass wir bestrebt sind, im Entwicklungshaushalt ein Portfolio zu schaffen, das Win-Win-Situationen fördert, durch die wir Deutschen und unsere Arbeitsplätze, aber auch die Arbeitsplätze in Entwicklungsländern gewinnen. Ich glaube, es ist wichtig, den Bundesbürgern deutlich zu machen, dass es nicht nur um einen Akt der Humanität geht, sondern dass die Entwicklungspolitik in unserem ureigensten Interesse liegt. ({3}) Lassen Sie mich noch kurz betonen, dass es nicht nur um Geld geht. Wir sollten nicht nur über Geld und die ODA-Quote reden, sondern auch darüber, dass wir in unserem Koalitionsvertrag Qualitätsverbesserungen vereinbart haben. Dazu gehört, die internationale wie auch die nationale Arbeitsteilung zu verbessern; außerdem müssen die Verteidigungs-, Sicherheits- und Außenpolitik besser verzahnt werden. Damit komme ich zum Kongoeinsatz. Wir alle sind als Entwicklungspolitiker von Grund auf friedfertige Menschen. Aber wir haben viel Herzblut und viel Mühe investiert, viele Reisen unternommen und auch viel Geld aufgewendet, um den Kongo - auch in unserem Interesse - zu stabilisieren. Dieser Prozess ist natürlich weiterhin instabil; das bestreitet niemand. Dort geht es bei Wahlen nicht zu wie in Deutschland. Aber der Kongo hat nun eine Chance. Genau deswegen haben wir alle ein Interesse daran, dass bei den anstehenden Wahlen der Sack zugemacht wird, und deswegen sind die meisten, wenn nicht sogar alle Entwicklungspolitiker der Koalition aus rein humanitären Gründen für einen Einsatz im Kongo. Ich bitte, das zu bedenken. Frau Hänsel, wegen Ihrer Rede wird jedenfalls kein Mensch im Kongo aufstehen und Sie bejubeln. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 30. März 2006, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.