Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich, wünsche Ihnen einen guten Tag und uns eine
hoffentlich gute, intensive und konstruktive Haushalts-
beratungswoche.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1 a bis 1 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
Haushaltsjahr 2006
({0})
- Drucksache 16/750 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung
Finanzplan des Bundes 2005 bis 2009
- Drucksache 16/751 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Haushaltsbegleitgesetzes 2006
({1})
- Drucksache 16/752 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die heutige Aussprache im Anschluss an die Einbringung des Haushaltes siebeneinhalb Stunden, für Mittwoch achteinhalb Stunden, für Donnerstag neuneinhalb
Stunden und für Freitag nicht, wie jetzt zu befürchten ist,
zehneinhalb Stunden, sondern vier Stunden vorgesehen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint so zu sein.
Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Einbringung des Haushaltes hat der
Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück.
({3})
Ich bedanke mich für die Unterstützung durch die
FDP. - Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch der modernen Politik kann
es nicht schaden, manchmal bei den alten Griechen
nachzuschlagen. Kein Geringerer als der Philosoph
Sokrates lehrt uns, dass Selbsterkenntnis dem Menschen
meistens Gutes gibt, die Selbsttäuschung aber meistens
von Übel ist. Bevor wir heute in die finanzpolitische Debatte eintreten, möchte ich deshalb dafür plädieren,
Wege in die Realität zu suchen. Das bedeutet einerseits,
dass die Regierung nichts beschönigt, und andererseits,
meine Damen und Herren von den Oppositionsfraktionen, dass die Opposition auch nichts verzeichnet und
überzeichnet.
({0})
Maßlosigkeit im Urteil führt uns ebenso wenig weiter
wie künstliche Aufgeregtheit oder eilfertige Empörung,
insbesondere auf dem Resonanzboden schneller Nachrichtenverwertung. Die Politik soll die Menschen aufklären; sie soll sie nicht verunsichern.
({1})
Redetext
Wege in die Realität - das ist weit mehr als eine Änderung des politischen Stils. Das ist - in Anlehnung an
einen Leitartikel in der „Süddeutschen Zeitung“ vom
12. November des letzten Jahres - eine Vorgehensweise,
die sich von Rechthaberei, einem pathetischen Verbesserungsanspruch, der Überbetonung von Risiken gegenüber den Chancen, dem schrecklichen Lamento, das in
dieser Republik so verbreitet ist, und manchem flamboyanten Auftritt von Globalisierungseliten und ihren
Knappen unterscheidet. Nur wenn wir wissen, wo unser
Land wirtschaftlich steht, können wir glaubhaft um den
Kurs der Finanzpolitik ringen.
Ich habe bereits in meiner ersten Rede vor dem
Hohen Hause darauf hingewiesen, dass eine Standortbestimmung unerlässlich ist, auch um das Vertrauen der
Menschen in das nach wie vor riesige Potenzial unseres
Landes und ihr Vertrauen in die Politik dort zurückzugewinnen, wo es verloren gegangen ist. Neben strukturellen Problemen und Modernisierungsdefiziten, die es unzweifelhaft gibt, haben wir es offensichtlich mit einem
mangelnden Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland zu tun, das sich ökonomisch nicht zuletzt in
einer nach wie vor schwachen Binnennachfrage und einer sehr hohen Sparneigung ausdrückt.
Verloren gegangenes Vertrauen gewinnen wir nur zurück, wenn wir den Menschen ohne Umschweife die Realität so beschreiben, wie sie ist. Wir dürfen ihnen keine
raschen Lösungen versprechen, wo es sie gar nicht gibt.
Aber wir müssen Wege aufzeigen - auch wenn sie steinig sind -, die in die Zukunft weisen.
Wo also steht unser Land wirtschaftlich? Zunächst
einmal hat sich in den letzten Jahren viel mehr verändert,
als wir offenbar wahrzunehmen fähig oder auch bereit
sind. Der Journalist Thomas Hanke beschreibt dies in
seinem Buch „Der neue deutsche Kapitalismus - Republik im Wandel“ umfänglich. Auf einen Nenner gebracht: Die alte Deutschland AG löst sich auf, der Korporatismus nimmt ab, der Staat weicht zurück und der
Markt rückt vor. Es gibt bereits eine stille Revolution in
den Betrieben.
Wir sind viel mutiger, als wir denken. Seit Beginn
dieses Jahrtausends haben wir erhebliche Anpassungen
vollzogen. Wir verändern unsere Sozialsysteme unter
dem demografischen Druck. Die Tarifverträge enthalten
Hunderte von Ausnahmeklauseln, von denen man Gebrauch machen kann. Wir verbessern die Bedingungen
für unternehmerisches Handeln und wir investieren erhebliche Summen in die Familienförderung, in Bildung,
Forschung und Entwicklung, also in die Zukunft unseres
Landes.
Andere berechtigte Fragen sind, ob das ausreicht und
vor allen Dingen ob diese Mittel effizient genug eingesetzt werden. Wir machen beileibe kein bequemes Wellnessprogramm, sondern ein hartes Krafttraining für den
Standort Deutschland, das manche für unzureichend halten, das aber für viele bereits eine Zumutung ist. Dass es
noch nicht abgeschlossen ist, ist uns allen klar. Aber es
zeigt Wirkung. Es ist nicht alles schlecht in Deutschland,
wie uns Berufsnöler einzureden versuchen.
({2})
Es ist sogar hervorzuheben, dass wir internationale
Spitzenpositionen belegen. Wir haben heute eine Steuerquote von nur noch knapp 20 Prozent gemessen am
Bruttoinlandsprodukt. Eine andere Frage ist, ob wir ein
zu kompliziertes Steuersystem haben und ob wir in dem
einen oder anderen Besteuerungssystem Wettbewerbsnachteile haben. Die Antwort lautet Ja. Aber wir haben
im internationalen Vergleich eine sehr geringe Steuerquote.
Wir haben uns bei den Lohnstückkosten im Vergleich zu den 15 Kernländern der Europäischen Union in
den letzten Jahren um sage und schreibe 8 Prozent verbessert. Das ist das Ergebnis eines sehr robusten Wachstums der Produktivität und bemerkenswert moderater
Lohnabschlüsse, die sich allerdings umgekehrt auch negativ in einer zumindest stagnierenden Kaufkraft der abhängig Beschäftigten niederschlagen.
Unsere Staatsquote ist mit 46 Prozent auf dem niedrigsten Stand seit 15 Jahren, und zwar trotz der Kosten
der Wiedervereinigung, die wir zur Vollendung der Einheit unseres Landes gerne tragen.
Mit einem Anteil von 50 Prozent der kombinierten
Ex- und Importe ist Deutschland schlechthin die Lokomotive des innereuropäischen Handels. Deutschland
wird immer stärker Drehscheibe für die sich rasant entwickelnden Märkte Mittel- und Osteuropas. Mit fast
130 Milliarden Euro lag das Volumen unseres Handels
mit den EU-Beitrittstaaten im Jahr 2005 bereits deutlich
höher als das Volumen unseres Handels mit den USA.
Wir schreiben mit der Einführung einer staatlich unterstützten Eigenvorsorge für das Alter, der so genannten
Riesterrente, in Ergänzung zur umlagefinanzierten
Rente eine Erfolgsgeschichte, die kaum jemand zur
Kenntnis nimmt.
({3})
Es gibt 5,5 Millionen Verträge und nur die Versicherungswirtschaft redet davon und freut sich darüber.
Richtig ist, dass dieses Angebot von den untersten Einkommensetagen zu wenig in Anspruch genommen wird,
weshalb wir, wie ich glaube, über einen Verbesserungsbedarf in diesem Bereich nachdenken sollten.
Diese und andere Nachrichten - ich könnte die Liste
fortsetzen - werden durchaus anerkannt und honoriert,
allerdings vornehmlich im Ausland und in der ausländischen Presse. Erst kürzlich konnte ich mich in New York
bei einer amerikanischen Unternehmensgruppe davon
überzeugen. Sie sind neugierig auf den Standort Bundesrepublik Deutschland. Was ich zu hören bekam, waren
keine aufgesetzten Nettigkeiten für den Gast aus
Deutschland, sondern sehr harte Fakten. Bis heute haben
sich 2 000 amerikanische Unternehmen mit 110 Milliarden Euro Investitionssumme - in der Folge sind das
850 000 Arbeitsplätze in Deutschland - diesen Standort
für ihre Investitionen ausgesucht. Der großen Koalition
wird in den USA politisch viel zugetraut.
Genauso groß wie die Aufgeschlossenheit amerikanischer Investoren ist ihr Erstaunen darüber, wie negativ wir Deutschen selbst über den Standort Deutschland
diskutieren. Man wird dort als Finanzminister gefragt:
Wie kommt es, dass bei euch das Klagen über Deutschland in den letzten Jahren zu einem beliebteren Volkssport geworden ist als der Fußball?
Es war Johannes Rau, der den Mangel an Zukunftsvertrauen in unserer Gesellschaft nicht nur anprangerte,
sondern auch die Ursachen dafür nannte: die fatale Lust
an der Schwarzmalerei, die die Entfremdung der Bürger
von Staat und Politik noch befördert, aber auch die Anspruchsmentalität nicht zuletzt in Teilen der gesellschaftlichen Eliten.
Die Lage der öffentlichen Finanzen ist ernst; da gibt
es kein Vertun. Rund 20 Prozent der Ausgaben des Bundeshaushalts, also ziemlich genau 50 Milliarden Euro,
sind nicht durch nachhaltige Einnahmen gedeckt. Die
Haushalte der Bundesländer sehen nicht besser aus: Im
letzten Jahr konnte die Hälfte aller Länder, acht von 16,
die verfassungsrechtliche Regelgrenze für die Neuverschuldung bei der Haushaltsaufstellung - ich rede noch
nicht einmal über den Haushaltsvollzug - nicht einhalten. In diesem Jahr sieht es keineswegs besser aus. Die
Verschuldung aller öffentlichen Haushalte hat mittlerweile die Summe von 1,5 Billionen Euro überschritten.
({4})
Die dadurch entstehenden Zinsausgaben, für die inzwischen jeder sechste Euro des Bundeshaushalts bereitgestellt werden muss, schnüren jeder Bundesregierung unabhängig von der Farbenlehre, der sie folgt, den
Spielraum für notwendige Zukunftsinvestitionen ein.
({5})
Damit verbunden ist ein weiteres eklatantes Problem,
das sich nicht erst in den letzten Jahren, sondern in den
letzten Jahrzehnten herausgebildet hat: die Verkarstung
der Ausgabenseite des Bundeshaushalts. Entgegen vielerlei Einwendungen und obwohl wir Jahr für Jahr
4 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts für die Vollendung der deutschen Einheit zur Verfügung stellen, haben
wir auf der Ausgabenseite kein Niveauproblem, sondern
ein Strukturproblem. Allein der Anteil der Sozialausgaben am Bundeshaushalt ist seit Beginn der 90er-Jahre
von einem Drittel auf heute knapp über die Hälfte gestiegen. Rechnet man die Ausgaben für Zinsen, Personal
und Arbeitsmarktpolitik hinzu, sind fast drei Viertel der
Bundesausgaben fest gebunden, während die Investitionen geringer sind als die Zinsausgaben. Dabei sind es
genau diese Investitionen, die maßgeblich über unseren
zukünftigen Wohlstand entscheiden.
Ich kann nicht zu viel versprechen. Dennoch sage ich:
Der Prozess des Umsteuerns im Hinblick auf die Struktur der Ausgabenseite kann nicht abrupt erfolgen, allein
schon aufgrund der volkswirtschaftlichen und sozialen
Verwerfungen, die unvermeidbar wären, wenn man aus
den großen, feststehenden Ausgabeblöcken des Bundeshaushaltes mal eben 10, 15 oder 20 Milliarden Euro „herausschneiden“ würde.
Anders ausgedrückt: Abrupte Einschnitte, schnittige
Paradigmenwechsel und brachiale Politikwechsel - das
rufe ich allen Anhängern großer Entwürfe zu - führen in
unserer hoch komplexen Gesellschaft zu Verwerfungen
und sozialen Asymmetrien, die nicht zu verantworten
sind.
({6})
Sie würden unsere Gesellschaft desintegrieren und
Fliehkräfte verstärken, die die soziale Stabilität unseres
Landes gefährden würden. Das lernen einige offenbar
erst, nachdem sie sich Fotos oder Fernsehbilder der Geschehnisse in Paris und seinen Vororten angesehen
haben. Wer beim Bundeszuschuss zur Rentenkasse
Milliardenkürzungen fordert, der muss wissen, was Rentenkürzungen von 5 Prozent aufwärts allein für die
50 Prozent der Rentenbezieher bedeuten, die auf die gesetzliche Rentenversicherung angewiesen sind.
({7})
Unsere 80-Millionen-Gesellschaft ist schließlich kein
Labor, in dem man mal eben ordnungs- und sozialpolitisch riskante Versuche unternehmen kann. Man sollte
die Menschen für den Effekt eines Interviews nicht hinters Licht führen.
({8})
Das will ich an einem konkreten Beispiel, das ich zufällig gesehen habe, deutlich machen. Sie, Herr
Westerwelle, haben im ZDF ein Interview gegeben.
({9})
- Bleiben Sie ganz ruhig und werden Sie doch nicht so
nervös!
({10})
Ich habe an Ihre Adresse noch gar nichts gesagt.
({11})
- Vielleicht wissen Sie ja, was jetzt kommt. Dann haben
Sie wohl bemerkt, dass Sie sich vergaloppiert haben.
({12})
Herr Westerwelle, Sie haben in einem Interview, das
am 28. Februar im „heute-journal“ ausgestrahlt wurde
und in das ich mich zufällig hineingezappt habe, mit großer Emphase behauptet, dass sich in den nächsten Jahren
durch das Herunterfahren der Steinkohlebeihilfen Milliardenbeträge einsparen ließen.
({13})
Was er dem Publikum allerdings verschweigt, ist, dass es
bis zum Jahr 2008 rechtskräftige Bewilligungsbescheide
gibt.
({14})
Das wird mal eben unter den Tisch gekehrt. Das ist im
günstigsten Fall eine Veralberung des Publikums.
({15})
Das lässt sich fortsetzen: Im selben Interview sagte
Herr Westerwelle, man müsse den Zuschuss des Bundes
an die Bundesagentur für Arbeit auf null fahren. Er versäumt allerdings, zu sagen, dass wir genau das tun.
({16})
Im selben Interview behauptet er auch - jetzt kommt
es -, dass die Steuern in Deutschland durch diese Einsparung weiter gesenkt werden könnten. Das geht so
sehr an den Fakten und der Lage vorbei, dass ich noch
einmal behaupte: Das ist im günstigsten Fall eine Veralberung des Publikums.
({17})
Haben Sie einmal dieses kleine Buch von Harry
Frankfurt in den Händen gehabt?
({18})
- Ich habe es nicht zitiert, Herr Präsident.
({19})
Meine Damen und Herren, ich will umgekehrt nicht
missverstanden werden: Strukturreformen und das Umsteuern in Bezug auf die Struktur des Haushaltes sind
notwendig. Ich werde dort keine Entlastung vertreten
können. Sie sind Voraussetzungen für unseren zukünftigen Wohlstand. Ich halte die Frage für mehr als zulässig,
ob die bloße Alimentation von Bedürftigen in den letzten
Jahrzehnten in vielen Fällen nicht zu einer Verfestigung
der Bedürftigkeit geführt hat.
({20})
Ich halte auch die Frage für zulässig, ob der Anreiz unserer Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zu eigenen Anstrengungen ausreichend und nachhaltig ausgeprägt ist. Ich
scheue mich an dieser Stelle auch nicht, die weitere
Frage für politisch korrekt zu halten, ob der kostenfreie
Zugang zu Infrastruktureinrichtungen und kommunalen sowie staatlichen Leistungsangeboten von Fall
zu Fall wirkungsvoller und zielgenauer sein kann als individuelle Transferzahlungen oder Steuervergünstigungen.
({21})
Wie ich zugebe, ist das unter Beachtung aller ins Gewicht fallenden Faktoren - davon gibt es eine Reihe und
niemand wird sie ignorieren können - für die Zukunft jedenfalls überlegenswert.
Bei allen notwendigen Veränderungen ist es allerdings wichtig, den Zusammenhalt unserer Gesellschaft nicht zu gefährden. Wir wollen die Menschen
mitnehmen.
({22})
Deswegen wird die große Koalition einen verlässlichen
Kurs steuern und den Menschen immer wieder erklären
müssen, warum sie heute gegebenenfalls auf etwas verzichten müssen, damit es ihnen und ihren Kindern in Zukunft wieder besser geht. Wir schulden unseren Kindern
und Enkeln jede Anstrengung für tragfähige, solide und
verlässliche öffentliche Finanzen.
({23})
Wir wissen doch, dass sich der demografische Wandel jetzt gerade erst einstellt. Wir wissen auch, was auf
unsere Kinder und Enkelkinder zukommt. Wie sollen
wir ihnen in zehn oder 20 Jahren erklären, dass wir dies
alles im Jahre 2006 zwar wussten und es uns - jedenfalls
weitestgehend - nicht egal war, dass es aber doch folgenlos geblieben ist und dass wir nicht die Kraft hatten,
die Wünsche der gegenwärtig in der Verantwortung stehenden Generation gegen die berechtigten Interessen der
zukünftigen Generationen abzuwägen?
({24})
Das gilt insbesondere, da die Zahl der Vertreter der Zukunftsinteressen nachfolgender Generationen im Vergleich zur Zahl der Sachwalter und der Vertreter der Status-quo- und Gegenwartsinteressen anteilsmäßig immer
geringer wird.
Deswegen müssen wir unsere Ansprüche an den Staat
heute zurückstellen und gleichzeitig für mehr Wachstum
und Beschäftigung sorgen. Langfristig tragfähige Finanzen werden wir nur erreichen, wenn uns beides gelingt:
strukturelle Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und das Stellen der Weichen für mehr Wachstum
und Beschäftigung.
Wenn uns die finanzpolitischen Erfahrungen der vergangenen Jahre eines gezeigt haben, dann die Tatsache,
dass ein restriktiver Ausgabenkurs alleine nicht ausreicht, um unsere Haushaltsprobleme in den Griff zu bekommen. Trotz der konjunkturbedingt stark gestiegenen
Arbeitsmarkt- und Sozialausgaben sind die Bundesausgaben zwischen 1999 und 2005 nominal nämlich gerade
einmal um durchschnittlich 0,9 Prozent pro Jahr gestiegen. Das ist deutlich weniger, als die Volkswirtschaft
insgesamt gewachsen ist, nämlich um durchschnittlich
1,3 Prozent. Deswegen ist der Anteil der Bundesausgaben am Bruttoinlandsprodukt trotz der höheren Ausgaben für Arbeitsmarkt und Soziales von 12,3 Prozent auf
11,6 Prozent zurückgegangen. Gelegentlich hat man den
Eindruck, dass in der Öffentlichkeit der absolut gegenteilige Eindruck besteht. Hieran erkennt man die enorme
Sparleistung, für die ganz wesentlich auch mein VorgänBundesminister Peer Steinbrück
ger Hans Eichel die politische Verantwortung getragen
hat.
({25})
Trotzdem oder gerade deswegen haben die letzten
Jahre allerdings auch gezeigt, dass wir uns aus den Defiziten nicht nur heraussparen können; vielmehr brauchen
wir für das Gelingen der Konsolidierung Wachstum. Anders ausgedrückt: Es gibt keine nachhaltige Konsolidierung ohne Wachstum, aber es gibt auch kein nachhaltiges Wachstum ohne solide Staatsfinanzen. Das eine ist
ohne das andere nicht zu haben.
Deswegen verfolgt die große Koalition eine Finanzpolitik der doppelten Tonlage: Wir bringen die Konsolidierung genauso voran, wie wir durch Impulse Weichen
für mehr Wachstum und Beschäftigung stellen wollen.
Gleichzeitig werden wir die sozialen Sicherungssysteme
robuster auf die Veränderungen des Arbeitsmarktes und
auf den demografischen Wandel einstellen müssen.
Mit dem Bundeshaushalt 2006 und dem Finanzplan
bis 2009 setzen wir unsere Finanzpolitik der doppelten
Tonlage und wichtige Eckpunkte des Koalitionsvertrages konsequent um. Ich verschweige nicht, dass wir dem
Haushaltsplan sehr konservative Annahmen zugrunde
gelegt haben. Das ist auch gut so, und zwar nicht, weil
sich der Finanzminister bewusst arm rechnen will, um
Ansprüche abzuwehren - diesem Verdacht ist offenbar
jeder Finanzminister ausgesetzt -, sondern - das betone
ich - weil die Menschen wieder Vertrauen in die Planungen und Entscheidungen der Politik gewinnen müssen.
Ich sehe keinen plausiblen Grund, weshalb das Vorsichtsprinzip nur für die Buchführung privater Unternehmen gelten soll und nicht auch für die Rechnungslegung
des Staates.
({26})
Doppelte Tonlage bedeutet, sowohl Konsolidierung
als auch Wachstum zu fördern. Da das eine ohne das andere nicht gelingt, haben wir den Haushalt 2006 - darauf
setze ich den Akzent - konjunkturunterstützend angelegt. Das heißt, wir unterlassen auf der Ausgabenseite
und auf der Einnahmenseite alles, was der konjunkturellen Aufhellung schaden könnte. Diese Logik vertritt die Bundesregierung gegenüber allen Kritikern, die
in diesem Jahr weiter reichende Haushaltskürzungen
verlangen oder - das tut wahrscheinlich auch in diesem
Hohen Hause eine Minderheit - Steuererhöhungen für
den Königsweg halten. Ab 2007 werden wir dann konsolidierungsgerechte Haushalte vorlegen müssen.
Dabei bedeutet konjunkturunterstützend keineswegs,
dass wir in diesem Jahr nicht sparen würden. Auch beim
Abbau von Steuersubventionen legen wir eine hohe
Schlagzahl vor. Ich nenne den Abbau der Eigenheimzulage, die Beschränkung der Verlustverrechnung bei Steuerstundungsmodellen und auch den Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm. Im Mai, spätestens Anfang
Juni wird dazu der Gesetzentwurf der Bundesregierung
folgen.
Der konjunkturunterstützende Bundeshaushalt 2006
verschafft uns den nötigen Rückenwind, den wir brauchen, um 2007 die beiden zentralen finanzpolitischen
Ziele der Bundesregierung zu erreichen, nämlich die
Einhaltung der Regelgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes und die Einhaltung des Verschuldungskriteriums
des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes.
Dazu trägt auch bei, dass wesentliche Konsolidierungsbeiträge, wie zum Beispiel die Rückführung des Bundeszuschusses an die gesetzliche Krankenversicherung, die
Anhebung der Umsatz- und Versicherungsteuer - darauf
komme ich zurück - und die Einsparungen bei der
Grundsicherung für Arbeitssuchende, ganz bewusst erst
im nächsten Jahr greifen und, bezogen auf die Entwicklung ihrer vollen Jahreswirkung, auch erst greifen können. Im Jahre 2006 ist dies schon technisch gar nicht
möglich.
Bezogen auf die gesamte Legislaturperiode sind die
Konsolidierungsmaßnahmen beachtlich. Zur nachhaltigen Stabilisierung der Bundes- und Staatsfinanzen tragen bis zum Jahre 2009 unter anderem Ausgabenkürzungen von 32 Milliarden Euro im Bundeshaushalt, der
Abbau von Steuervergünstigungen in der Größenordnung von 19 Milliarden Euro und Steuermehreinnahmen
in Höhe von 28 Milliarden Euro bei. Das heißt, das Konsolidierungsprogramm beträgt insgesamt, bezogen auf
den Bundeshaushalt, 80 Milliarden Euro. Damit stellen
wir den Bundeshaushalt auf eine solide bzw. - vorsichtiger formuliert - solidere Grundlage.
Nimmt man die Länder- und Gemeindehaushalte
hinzu, kommt man sogar auf ein Volumen von
117 Milliarden Euro, was mit Blick auf die Finanzlage
der anderen Gebietskörperschaften von erheblicher und
auch wachstumspolitischer Bedeutung ist, weil dann einige Kommunen - ich sage nicht: alle Kommunen - endlich wieder die Rolle des kommunalen Investors übernehmen können, was für das örtliche Gewerbe und
Handwerk von besonderer Bedeutung ist.
({27})
Von den Einmaleffekten zugunsten des Bundeshaushalts in Höhe von rund 50 Milliarden Euro will ich in
diesem Zusammenhang gar nicht reden. Sie alle wissen,
dass diese nicht maastrichtrelevant sind.
Diese Zahlen belegen, dass wir, beginnend mit dem
vorliegenden Haushalt, kraftvolle Anstrengungen unternehmen. Ohne die Berücksichtigung des durchlaufenden
Postens der Zuweisung an die Bundesagentur für Arbeit
steigen mit Blick auf den weitergereichten Mehrwertsteuerpunkt zur Absenkung der Arbeitslosenversicherungsabgaben die Ausgaben über den gesamten Finanzplanungszeitraum um durchschnittlich nur noch
0,7 Prozent pro Jahr, also weniger als in den letzten sieben Jahren. Real, das heißt unter Berücksichtigung der
Inflationsrate, gehen die Ausgaben des Bundes zurück.
Dadurch wird es uns gelingen, das strukturelle gesamtstaatliche Defizit bis Ende 2007 um 1 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts zurückzuführen. Da die Veränderungen des strukturellen Defizits in der Finanzwissenschaft gemeinhin als Indikator für den fiskalischen
Impuls gelten, wird unsere Finanzpolitik mit Blick auf
ihre volkswirtschaftliche Wirkung damit eindeutig restriktiv sein.
Damit nicht genug: Trotz des restriktiven Ausgabenkurses halten wir die Investitionen des Bundes auf dem
Niveau von 23 Milliarden Euro. Ich sage sehr bewusst:
Wann immer sich diese Investitionen im Zuge der konkreten wirtschaftlichen Entwicklung und der Einnahmeentwicklung des Staates aufstocken lassen, wird dies mit
Unterstützung des Bundesfinanzministers geschehen.
({28})
Lassen Sie mich unsere Entschlossenheit zu einer
nachhaltigen Konsolidierung am konkreten Beispiel der
Personalausstattung des Bundes verdeutlichen, auch
weil es hier viele Vorurteile gibt. Gegenüber 1998 haben
wir den Bestand an zivilen Stellen um rund 15 Prozent
zurückgefahren. Im Vergleich zum einigungsbedingten
Höchststand von 1992 beträgt die Rückführung sogar
fast 27 Prozent. Mittlerweile gibt es auf Bundesebene
weniger Stellen als vor der Wiedervereinigung im wesentlich kleineren Westdeutschland. Diese Entwicklung
hat es bei den Betriebskosten des Bundes gegeben.
Zynisch gesagt: Wäre der Bund ein börsennotiertes Unternehmen, dann hätte es sicherlich ein Kursfeuerwerk
gegeben.
Trotzdem oder gerade deswegen nähern wir uns - das
mag aus meinem Mund merkwürdig klingen - in Sachen
Personalabbau langsam dem Ende der Fahnenstange; es
sei denn, man glaubt, dass man selbst oder die eigene
Klientel umso besser fährt, je weniger handlungsfähig
und effizient die Regierung ihre Aufgaben wahrnehmen
kann. Dieser Gedanke scheint bei der FDP umzugehen.
Anders kann ich mir nicht erklären, was ich in der
„Financial Times“ vom 13. März dieses Jahres gelesen
habe: Da forderte Frau Homburger allen Ernstes, man
möge die Bundesbeamten doch bitte schön so lange ohne
Bezahlung nach Hause schicken, bis der Bundeshaushalt
verabschiedet sei.
({29})
Das nennt man in den USA „Government Shut-down“.
Ich halte dem ganz bewusst ein modernes Staatsverständnis entgegen. Der Staat benötigt Ressourcen, um
seine Aufgaben erfüllen zu können.
({30})
Wir brauchen einen handlungsfähigen Staat; denn die
Menschen erwarten zu Recht, dass wir Infrastruktur finanzieren, äußere und innere Sicherheit gewährleisten,
Daseinsvorsorge betreiben, die Menschen gegen die großen Lebensrisiken absichern, Familienförderung betreiben und in Forschung, Entwicklung und Bildung investieren. Sie erwarten auch, dass wir Kultur- und
Sportförderung betreiben. All diese Erwartungen richten
sich an die staatliche Leistungsbereitstellung. Ich habe
selten gehört, dass sich diese Erwartungen reduzieren.
Auf der anderen Seite wollen wir keinen Staat, der
das Wirtschaftswachstum und die Eigeninitiative bremst
und den Menschen mehr wegnimmt, als er ihnen zurückgibt. Das wäre das Ergebnis, wenn wir manchen Alimentationsforderungen nachgeben würden, wie sie insbesondere aufseiten der PDS-Linken erhoben werden.
({31})
- Jetzt habe ich endlich mal etwas von Ihnen gehört! Das
bewerte ich so, dass Sie bisher mit allem einverstanden
waren.
({32})
Nein, wir brauchen einen handlungsfähigen Staat, der
dadurch Vertrauen und Sicherheit schafft, dass er die
großen Lebensrisiken der Menschen absichert und ihnen
mehr Chancengerechtigkeit beim Zugang zu Bildungseinrichtungen garantiert, damit sie ein selbst verantwortetes Leben führen können, und zwar ohne Alimentation.
({33})
Das erwarten die Menschen und das haben sie uns - jedenfalls nach meiner Wahrnehmung - auch mit dem
Wahlergebnis vom 18. September vergangenen Jahres
aufgetragen.
({34})
Sie wollen den Markt als Ordnungsprinzip für die
Wirtschaft; aber sie wollen nicht die Übertragung des
Marktprinzips - schon gar nicht in Radikallösungen auf alle gesellschaftlichen Bereiche.
({35})
Sie glauben auch nicht, dass der Markt alle gesellschaftlichen Probleme löst. Sie wollen den Staat nicht als Vormund; aber sie wollen einen Staat, der Spielregeln für
unser Zusammenleben setzt. Sie erkennen, dass die
Globalisierung unausweichlich ist und dass man sich
ihr nicht entziehen kann, indem man an den Landesgrenzen die Rollos herunterlässt; aber sie wollen nicht, dass
dies zur Aufkündigung der bewährten Sozialpartnerschaft in der Bundesrepublik Deutschland führt.
({36})
Sie sind bereit, Eigenverantwortung zu übernehmen;
aber sie wollen - wie ich schon sagte - eine Absicherung
gegen die großen Lebensrisiken erhalten sehen. Deshalb
trete ich auch der verbreiteten und modischen Diskreditierung des Staates und seiner Institutionen entgegen, die
gerne unter dem Deckmantel ordnungspolitischer Argumente daherkommt.
({37})
Es geht nicht nur um unsere nationale Zukunft.
Deutschland trägt vor allem in Europa auch ökonomiBundesminister Peer Steinbrück
sche Verantwortung. Deutschland war einer der wesentlichen Architekten des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Deswegen und nicht zuletzt wegen unserer
ökonomischen Größe tragen wir auch eine besondere
Verantwortung dafür, dass dieser Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht relativiert wird oder an Glaubwürdigkeit
verliert.Dieser Pakt stellt eine wichtige Grundlage für
den wirtschaftlichen Wohlstand in Europa und insbesondere für die Stabilität des Euro dar, der eine Erfolgsgeschichte schreibt und inzwischen die zweitwichtigste
Weltwährung ist. Deshalb dürfen wir den Pakt durch unser Handeln, durch das Handeln der Bundesrepublik
Deutschland, in meinen Augen nicht beschädigen.
({38})
Der vorliegende Haushalt ist ein erster Schritt, mit
dem wir sicherstellen werden, dass Deutschland 2007
das Maastrichter Verschuldenskriterium in Höhe von
3 Prozent wieder erfüllt. Ob dies schon in diesem Jahr
gelingt, mag im Zuge einer günstigen Wirtschaftsentwicklung und des konkreten Haushaltsvollzugs gelingen. Ich würde mich freuen. Ich kann dies aber nicht zu
Beginn dieses Jahres versprechen, es sei denn, ich träfe
dazu auf der Einnahmenseite und auf der Ausgabenseite
konkrete Vorsorge. Das müsste ich dann auch nach Brüssel melden. Genau dies widerspräche aber unserer Logik, den Haushalt 2006 konjunkturstützend zu fahren
und - ich wiederhole das - alles zu unterlassen, was auf
der Einnahmenseite oder auf der Ausgabenseite zu einer
Beeinträchtigung der Konjunkturentwicklung beitragen
könnte.
({39})
Das aktualisierte deutsche Stabilitätsprogramm beschreibt die wachstumsorientierte zeitliche Abfolge unserer Maßnahmen im Detail. 2006 ist die Finanzpolitik
strukturell neutral ausgerichtet. Das heißt, die Defizitquote bleibt nach Lage der Dinge - jedenfalls in der Vorausschau - dieselbe wie 2005, nämlich bei 3,3 Prozent.
({40})
Ab 2007 wird die Entwicklung der Defizitquote insbesondere durch unsere Konsolidierungsmaßnahmen bestimmt. Das heißt, 2007 wird die Defizitquote auf etwa
2,5 Prozent zurückgehen. Das Stabilitätsprogramm mit
seinem Konsolidierungspfad wird übrigens von der EUKommission explizit unterstützt. Wir haben dort Anerkennung gefunden. Vor diesem Hintergrund haben wir
die Verschärfung des Defizitverfahrens mit einer In-Verzug-Setzung bewusst akzeptiert. Dadurch stärken wir die
Glaubwürdigkeit des reformierten Stabilitäts- und
Wachstumspaktes. Wir wollen eine Vorbildfunktion in
Europa insbesondere mit Blick auf andere Länder in der
Eurozone einnehmen.
Ich will nicht darum herumreden. Damit uns das gelingt, werden wir eine Erhöhung der Mehrwertsteuer
vornehmen müssen. Ich kann keinerlei Hoffnung darauf
machen, dass die Erhöhung nicht kommt. Wir haben die
Anhebung der Umsatz- und der Versicherungsteuer zum
1. Januar 2007 beschlossen. Dabei bleibt es, auch wenn
ich genau weiß, wie die Debatte in diesem Jahr verlaufen
wird, und zwar aus zwei unterschiedlichen Richtungen
mit demselben Ergebnis. Die eine Debatte wird in etwa
so verlaufen: Das Wirtschaftswachstum entwickelt sich
ja besser als veranschlagt, genauso wie die Einnahmen.
Bereits anderthalb Monate vor der nächsten Steuerschätzung im Mai wissen einige deutsche Professoren sehr
genau, dass die Mehreinnahmen 5 Milliarden bis 6 Milliarden Euro betragen. Weiter wird argumentiert werden:
Weil die Entwicklung so günstig sei, könne doch auf die
geplante Mehrwertsteuererhöhung verzichtet werden.
Die andere Debatte wird folgendermaßen verlaufen:
Oje! Das wirtschaftliche Wachstum entwickelt sich doch
nicht so wie geplant; es läuft ungünstiger. Deshalb
müsse auf die Mehrwertsteuererhöhung verzichtet werden. Ob so oder so: Ich weiß, dass es genügend Gründe
gegen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer gibt.
({41})
Sie wird trotzdem kommen, unabhängig davon, wie sich
die Konjunktur entwickelt; denn es ist kein konjunkturelles Problem, das wir hier zu schultern haben, sondern
ein strukturelles Problem des Haushaltes auf der Einnahmenseite.
({42})
Wenn Sie mir nicht glauben, lese ich Ihnen mit Erlaubnis des Präsidenten den ersten Absatz eines „Handelsblatt“-Artikels vor: Die wesentliche Ursache für das
deutsche Staatsdefizit sind fehlende Einnahmen.
({43})
Zu diesem Ergebnis kommt die Bundesbank in einer
Analyse der strukturellen Entwicklung der öffentlichen
Finanzen.
({44})
Demnach sind seit dem Jahr 2000 die Lohnsteuer und
Sozialbeiträge deutlich weniger gewachsen als das Bruttoinlandsprodukt. Zudem seien die Einnahmen aus gewinnabhängigen Steuern nach dem Ende des Börsenbooms eingebrochen. - Damit haben Sie eine relativ
unverdächtige Beschreibung.
({45})
Ich sagte bereits, dass ein Fünftel des Bundeshaushalts, das heißt rund 50 Milliarden Euro, nicht nachhaltig gegenfinanziert ist. Diese Lücke müssen wir schließen. Die berechtigte Frage ist, wie. Um diese Frage zu
beantworten, müssen wir uns die denkbaren Alternativen, aber auch deren Folgen genauer ansehen. Genau
dies haben wir in den Koalitionsverhandlungen getan,
bevor wir uns für die Mehrwertsteueranhebung entschieden haben. Die Alternativen wären entweder massive
Einschnitte bei den Leistungsgesetzen und infolgedessen
die Kürzung von Transferzahlungen oder Kürzungen bei
den Investitionen gewesen.
({46})
- Herr Lafontaine, ich habe den Eindruck, dass Sie glauben, dass sich die Bundesrepublik Deutschland nicht in
einem internationalen Steuerwettbewerb befindet und
dass Kapital besonders immobil ist. Das sind die beiden
Denkfehler in den vielen Beiträgen, die Sie von dieser
Stelle aus gemacht haben.
({47})
Wenn Sie mit Ihrem Sachverstand gelegentlich auf Elastizitäten oder auf wechselseitige Abhängigkeiten zu
sprechen kämen, dann würde das Ihre Beiträge substanzieller machen als diese einseitige ökonomische Auslegung.
({48})
Wenn wir mehr einsparen sollen - das ist der Vorschlag der FDP -, müssen wir die 17 Milliarden Euro,
die im Bundeshaushalt fehlen, entweder dadurch erzielen, dass wir an Leistungsgesetze herangehen, zum Beispiel an den Zuschuss zur Rentenkasse, oder dadurch,
dass wir bei den Investitionen kürzen. Ich bin mir ziemlich sicher, alle in diesem Haus stimmen überein: Die
Investitionen sind tabu, weil wir uns sonst den Wohlstandsast absägen würden, auf dem wir sitzen. Wenn wir
die Renten oder das Arbeitslosengeld in einem Jahr um
zweistellige Milliardenbeträge kürzen, rufen wir massive soziale Verwerfungen hervor. Auch das hätte Auswirkungen auf die Konjunktur - oder glaubt irgendjemand in diesem Saal, dass die damit verbundene
Schmälerung der Kaufkraft keine negativen Auswirkungen auf die Binnennachfrage hätte? Das schlägt sich in
der volkwirtschaftlichen Gesamtrechnung doch genauso
nieder wie der Entzug von Kaufkraft durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer; es ändert sich überhaupt
nichts.
({49})
Ein Verzicht auf die Erhöhung der Mehrwertsteuer ermöglicht auch nicht den weiteren Einstieg in eine größere oder - ich sage es bescheidener - sukzessiv stärkere
Steuerfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme bei
gleichzeitiger Entlastung der Arbeitsplätze von Lohnnebenkosten. Denn - was in der Debatte häufig unerwähnt
bleibt - ein Drittel dieser Mehrwertsteuererhöhung,
sprich 1 Prozentpunkt, wird vollständig zur Absenkung
des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung verwendet.
Das heißt, der Arbeitslosenversicherungsbeitrag sinkt in
der Summe um 2 Prozentpunkte. Die Sozialabgabenlast
sinkt damit netto um insgesamt 1,6 Prozentpunkte; diese
Zahl erklärt sich dadurch, dass die Erhöhung des Rentenversicherungsbeitrages um 0,4 Prozentpunkte gegenzurechnen ist. Ich führe das an, damit die Rechnung vollständig ist und keinem Sand in die Augen gestreut wird.
Durch diese Operation am Arbeitslosenversicherungsbeitrag steigt das Realeinkommen der Beschäftigten. Nun behaupte ich nicht, dass das die Verluste durch
die Mehrwertsteuererhöhung auch nur annähernd kompensiert, aber immerhin steht es dem positiv entgegen.
Für die Unternehmen werden die Arbeitsplätze kostengünstiger, was sie in der Tendenz, wie ich hoffe, wieder
etwas sicherer macht. Auch dies wird durch die Mehrwertsteuererhöhung geleistet. Damit will ich nicht relativieren oder in Abrede stellen, dass die Erhöhung der
Mehrwertsteuer konjunkturdämpfend wirkt. Natürlich
tut sie das; das lernen Sie im zweiten Semester; völlig
klar. Wie stark dieser Effekt ist, lässt sich allerdings nur
unter vielen Annahmen abschätzen. Nach Lage der
Dinge kann man nicht davon ausgehen, dass die Mehrwertsteuererhöhung kurzfristig vollständig auf die
Preise abgewälzt werden kann - das verhindert nicht zuletzt der sehr intensive Wettbewerb, den wir auf vielen
Märkten in Deutschland haben. Der Übergangszeitraum
bis zur Erhöhung der Mehrwertsteuer wird außerdem
dazu führen, dass nicht alle Preise auf einen Schlag,
gleichzeitig, angehoben werden. Auch deshalb haben
wir als große Koalition darauf verzichtet, diese Mehrwertsteuererhöhung bereits im Jahre 2006 zu realisieren.
Schließlich: Wer meint, die Anhebung der Mehrwertsteuer hätte massive Verteilungswirkung, dem sage ich,
dass beispielsweise die Mieten weiterhin umsatzsteuerfrei bleiben und die meisten Güter des täglichen Bedarfes
nur dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegen der unverändert bleibt.
({50})
Ich weiß, dass das Handwerk Argumente gegen die
Erhöhung der Mehrwertsteuer vorbringt, die ernst zu
nehmen sind. Das Hauptargument lautet, dass in der
Tendenz der Flucht in die Schwarzarbeit Vorschub geleistet werden könnte. Dies ist ein sehr gewichtiges Argument. Man muss allerdings - das sage ich an die Vertreter des Handwerks gerichtet - das Gesamtpaket der
großen Koalition betrachten: Wir machen Schwarzarbeit
unter anderem dadurch weniger attraktiv, dass wir die
Lohnnebenkosten senken. Mit dem Wachstumspaket haben wir eine ganze Reihe von Maßnahmen beschlossen,
die eindeutig zugunsten des Handwerks und auch des
Gewerbes wirken; ich will das im Einzelnen nicht auflisten.
({51})
Ja, wir brauchen Schwung in diesem Jahr, um über
die konjunkturdämpfende Wirkung der Mehrwertsteuererhöhung zum 1. Januar 2007 hinwegzukommen. Deshalb stärken wir die Wachstumskräfte in unserem Land
mit dem schon mehrfach erwähnten 25-Milliarden-EuroProgramm, das sich auf Zukunftsbereiche richtet: Forschung und Entwicklung, Familie, Verkehr, Wirtschaftsförderung, Familie als Arbeitgeber. Deshalb ist dies kein
Konjunkturprogramm, sondern es ist ein Programm, mit
dem strukturell wichtige Impulse für Wachstum und Beschäftigung gegeben werden.
({52})
Es gerät in diesem Zusammenhang immer wieder in
Vergessenheit, dass es nicht alleine diese
25 Milliarden Euro sind. Vielmehr führen die Beiträge
der anderen Gebietskörperschaften - sprich: der Länder
und der Kommunen - zu weiteren 12 Milliarden Euro.
Das sind insgesamt immerhin 37 Milliarden Euro. Das
ist nicht so wenig, wie alle tun. In alten D-Mark-Beträgen ausgedrückt, die vielen noch vertraut sind, reden wir
über ein 70-Milliarden-Programm zur Unterstützung von
Wachstum und Beschäftigung. Wer dies kleinredet, folgt
einer Tendenz, die wir in Deutschland oft haben, nämlich der, dass das Wasserglas als halb leer und nie als
halb voll bezeichnet wird.
({53})
Im Startjahr 2006 werden davon ungefähr
3,5 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Die Verbesserung der Abschreibungsbedingungen, die Aufstockung
der Mittel für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm,
Erleichterungen bei der Erhebung der Umsatzsteuer und
die Erhöhung der Verkehrsinvestitionen werden und sollen schon kurzfristig, noch in diesem Jahr, die Situation
verbessern. Daran ändert auch nichts - das betone ich
sehr deutlich - die vorläufige Haushaltsführung. Ich
könnte das jetzt am Beispiel des CO2-Gebäudesanierungsprogramms oder auch an anderen Beispielen
durchdeklinieren, tue dies aber aus Zeitgründen nicht.
Ein wesentlicher Teil dieses Programms von 25 Milliarden plus 12 Milliarden Euro - ungefähr 14 Milliarden Euro, alleine was den Bundesanteil betrifft - kommt
dabei unmittelbar kleinen und mittleren Unternehmen
zugute.
({54})
Sie profitieren besonders von den Verbesserungen bei
den Abschreibungsbedingungen und von der Neuregelung der Umsatzsteuer - Stichwort: Istbesteuerung -,
aber auch in den Bereichen Gebäudesanierung und Verkehrsinfrastruktur wird ein wesentlicher Anteil des Auftragsvolumens auf die mittelständischen Unternehmen
entfallen.
({55})
Neben der Senkung der Lohnzusatzkosten soll die
Unternehmensteuerreform zum 1. Januar 2008 zu
mehr Wachstumsdynamik in unserem Lande beitragen.
Sie ist deshalb eines der wichtigen Reformprojekte, die
mein Haus bis 2008 gerne mit Ihnen zusammen zum Erfolg führen will, weil wir im internationalen Maßstab
unsere Unternehmensbesteuerung wettbewerbsfähiger
gestalten müssen. Ich behaupte, dass das wesentliche
Problem nicht bei den Personengesellschaften liegt.
Durch die Maßnahmen der vergangenen Bundesregierung mit der Absenkung des Spitzensteuersatzes, der
Absenkung des Eingangssteuersatzes und höheren Freibeträgen haben wir dazu beigetragen, dass sich die
Durchschnittsbesteuerung, also die effektive Besteuerung der Personengesellschaften, in Deutschland deutlich verbessert hat. Zu dem Bild gehört aber auch, dass
die Besteuerung der Kapitalgesellschaften und der Körperschaften in Deutschland im internationalen Vergleich
mit am schlechtesten ist. Mit einem Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent, mit Gewerbesteuer und Soli ist die
Besteuerung dieser Unternehmen nicht wettbewerbsfähig.
({56})
Deshalb wollen wir die nominalen Steuersätze senken;
denn sie sind ein wichtiges Signal für Investoren. Ich
füge allerdings sehr bewusst hinzu: Nettoentlastungen in
Milliardenhöhe, die manche Vorschläge enthalten, hält
der Fiskus nicht aus.
({57})
Wir wollen das System reformieren. Wir wollen es transparenter, einheitlicher und rechtsformneutral gestalten.
Wir wollen weg von dem alten Dualismus der unterschiedlichen Besteuerung von Personengesellschaften
und Kapitalgesellschaften. Hierfür entwickeln wir zurzeit in meinem Haus die Eckpunkte. Es wird dazu von
mir innerhalb der nächsten zwei Monate kein Sterbenswörtchen geben, weil ich meine, dass sich die Politik die
notwendige Reifezeit nehmen sollte, um ein solches
Werkstück gut zu bearbeiten,
({58})
und nicht dazu beitragen sollte, dass Woche für Woche
mit irgendwelchen Wasserstandsmeldungen die gesamte
deutsche Öffentlichkeit verunsichert wird.
({59})
Die Unternehmensteuerreform ist nicht das einzige
Vorhaben, das wir zur Stärkung der Wirtschaft in Gang
setzen wollen. Aus vielen Gesprächen weiß ich, wie sehr
gerade den kleineren und mittleren Unternehmen das
Problem der Regelung der Unternehmensnachfolge auf
den Nägeln brennt. Häufig ist das eher ein subjektiv
wahrgenommenes Problem und nach dem deutschen
Steuerrecht, wie ich glaube, objektiv keineswegs gegeben. Hier geht es aber oft um nicht weniger als den Fortbestand des Unternehmens und seiner Arbeitsplätze. Wie
im Koalitionsvertrag vereinbart werden wir daher, wenn
möglich unter Berücksichtigung des anstehenden Urteils
des Bundesverfassungsgerichtes, zum 1. Januar 2007 die
Erbschaftsteuer so reformieren, dass diese nach zehnjähriger Unternehmensfortführung nicht mehr anfällt.
({60})
Ich habe zu Beginn meiner Ausführungen bereits darauf hingewiesen, dass wir uns den demografischen und
sozioökonomischen Veränderungen stellen und unsere
sozialen Sicherungssysteme durch Strukturreformen robuster machen müssen. Dies ist eine wichtige Grundvoraussetzung für langfristig tragfähige öffentliche
Finanzen. Die Sicherung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ist dabei eine vordringliche Aufgabe.
Wir wissen, dass wir alle eher dem Risiko ausgesetzt sind,
dass dieser Anteil sozialversicherungspflichtiger
Beschäftigungsverhältnisse vor dem Hintergrund geänderter Berufsbiografien erodiert und dass damit die wesentliche Finanzierungsgrundlage unseres sozialen Sicherungssystems unter Druck gerät.
Zur Modernisierung des Sozialstaates gehören allerdings auch Einsichten, die nicht immer bequem sind. Wir
brauchen mehr Chancengerechtigkeit als heute. Ergebnisgleichheit kann und sollte die Politik nicht garantieren.
Wir dürfen in diesem Zusammenhang grundlegenden
Fragen nicht ausweichen, zum Beispiel: Wieso verlassen
pro Jahr über 80 000 Schüler die Hauptschule ohne Abschluss? Wieso sind pro Jahr fast 250 000 Berufsschulabgänger ohne Abschluss? Sie sind die vorprogrammierten Verlierer in der Dynamik des Arbeitsmarktes.
Die Bundesagentur für Arbeit steht zunehmend vor
der Aufgabe, die Vermittlung der für den Einstieg in das
Berufsleben notwendigen Fähigkeiten, die nicht in der
Schulzeit vermittelt worden sind, nachzuholen. Das ist
eigentlich nicht ihre Aufgabe. Das zeigt mit aller Dramatik: Wir brauchen dringend zielführende Reformen im
Bildungssystem. Zielführend sind solche Reformen nur
dann, wenn sie die Startchancen unserer Kinder verbessern.
Die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des
modernen Sozialstaates ist in Zeiten wachsender demografischer Herausforderungen notwendiger denn je. Die
Rentenbezugsdauer ist im Vergleich zu 1960 bereits um
zwei Drittel höher. Als 1957 die dynamische Rente eingeführt wurde, gab es neun Beitragszahler, die mit ihren
Beiträgen in den damaligen drei Säulen des deutschen
Sozialversicherungssystems dazu beigetragen haben,
dass ein Leistungsempfänger finanziert werden konnte.
Dieses Verhältnis ist von 9 : 1 auf 3,3 : 1 gesunken und
es wird in den nächsten Jahren auf unter 3 : 1 sinken.
Damit ist völlig klar, dass wir mit Blick auf die Finanzierung dieser jetzt vier Säulen unseres sozialen Sicherungssystems - die Pflegeversicherung ist hinzugekommen - es mit einem Problem der politischen Mathematik
zu tun haben und dass irgendwelche Empörungen auf
Tagungen, Verbandstagungen und wo auch immer nicht
weiterhelfen. Es ist, wie gesagt, eine Frage der politischen Mathematik, dass wir uns mit diesem Problem
auseinander setzen müssen.
({61})
Die Anzahl der Personen im Rentenalter steigt bis
2030 von gegenwärtig 13,5 Millionen auf über
22 Millionen. Gleichzeitig sinkt der Anteil der jungen
Menschen dramatisch. Die Menschen leben bis 2030 im
Durchschnitt rund drei Jahre länger. Je älter ich werde,
desto besser finde ich das. Besonders deutlich zeigen
sich die Lasten der demografischen Alterung in der
gesetzlichen Rentenversicherung. Der Anteil der über
60-Jährigen an der Bevölkerung wird bis 2050 von
24 Prozent auf knapp 40 Prozent steigen. Das Renteneintrittsalter ist, bezogen auf die alten Bundesländer, von
1960 bis 2004 bei den Männern um zwei Jahre und bei
den Frauen um ein Jahr gesunken. Die Lebenserwartung
ist jedoch um 8,5 Jahre bei Männern und um neun Jahre
bei Frauen gestiegen.
({62})
- Das kommt ja in den Gleichberechtigungsdiskussionen
nie vor.
({63})
Die Rentenbezugsdauer verlängerte sich im Durchschnitt um sieben Jahre. Das hat natürlich auch Folgen
für den Bundeshaushalt: Fast ein Drittel des Bundeshaushaltes, rund 78 Milliarden Euro, muss mittlerweile
für die Rentner und für die Pensionäre verwendet werden, Tendenz steigend. Diese Zahlen machen deutlich:
Die Lasten der demografischen Entwicklung müssen in
einem ausgewogenen Verhältnis von allen Teilen der Gesellschaft, also von den Beziehern unterschiedlicher Einkunftsarten, getragen werden, damit wir dieses System
stabilisieren können. Diese Zahlen machen deutlich,
dass die Dynamik der Zuweisungen aus dem Bundeshaushalt so jedenfalls nicht fortgeführt werden kann. Es
kann und darf keinen Automatismus für einen immer
weiter steigenden Zuschuss aus dem Bundeshaushalt für
die Sozialkassen geben. Dies ist ein wichtiger Beitrag,
der Verkarstung des Bundeshaushalts, von der ich eingangs gesprochen habe, entgegenzuwirken und langsam
finanzpolitischen Gestaltungsspielraum für Zukunftsinvestitionen zurückzugewinnen.
({64})
Für den Erfolg unserer Konsolidierungsstrategie ist
die Entwicklung im Gesundheitswesen ebenso wichtig
wie der Arbeitsmarkt und die Rente. Deutschlands Gesundheitswesen ist modern und leistungsfähig, leider
aber auch sehr teuer. Gute medizinische Versorgung war
schon immer ein Grundwert unserer Gesellschaft. Niemand sollte von dieser guten medizinischen Versorgung
ausgeschlossen werden, nur weil er arm ist, und niemand
sollte arm werden, nur weil er krank ist.
({65})
Deshalb müssen sich die Reformmaßnahmen daran messen lassen, ob sie die von den Menschen grundsätzlich
gewünschte Solidarität erhalten.
Natürlich müssen wir dabei auch die Einnahmeseite
sehen. Ein Gesundheitssystem, das überwiegend über
Lohnnebenkosten finanziert wird, gefährdet natürlich
Arbeitsplätze.
({66})
Zudem hört die Solidarität bei der Finanzierung schnell
auf. Ausgerechnet Spitzenverdiener und Beamte, auch
Minister, können in die privaten Kassen ausweichen, wo
sie meist weniger zahlen müssen als in der gesetzlichen
Krankenversicherung.
({67})
Sorge muss zudem machen, dass immer mehr Menschen
aus dem System der gesetzlichen Krankenversicherung
entweichen, während die schlechten Risiken in der gesetzlichen Krankenversicherung bleiben.
Auf der anderen Seite dürfen wir dabei nicht vergessen, dass Reformen auf der Ausgabenseite des Gesundheitssystems nicht minder dringlich sind. Die Fragen liegen auf der Hand: Verfügen wir über geeignete
Instrumente bei der Ausgabensteuerung? Wieso gibt es
in diesem Bereich nur einen unzureichenden Wettbewerb?
Meines Erachtens sind weitere Schritte zu wettbewerblichen und effizienzsteigernden Strukturen auf der
Ausgabenseite und der Leistungsseite unabdingbar,
wenn beispielsweise jährlich schätzungsweise 4 000 Tonnen Arzneimittel im Wert von mindestens 2 Milliarden
Euro auf dem Müll landen, wenn jede dritte von
120 Millionen Röntgenaufnahmen überflüssig ist und
wenn für die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung bei den Kosten völlige Intransparenz herrscht.
({68})
Die Maßnahmen der Vergangenheit zur Steigerung
der Einnahmen oder Deckung der Ausgaben haben den
gesetzlichen Krankenversicherungen immer nur kurzfristig Luft verschaffen können. Es war lediglich eine
Frage der Zeit, bis die Entlastungen im System wieder
von Kostensteigerungen sozusagen überholt wurden.
Aus diesem Mechanismus müssen wir heraus, weshalb
ich meine Kollegin Ulla Schmidt in den Anstrengungen,
die auf eine weitgehende Reform des Gesundheitssystems zielen, nachhaltig unterstützen möchte. Als Finanzminister habe ich ein massives Interesse daran, dass dieses Reformvorhaben nicht scheitert. Denn sein Scheitern
würde in Form von steigenden Zuschüssen negativ auf
den Bundeshaushalt zurückschlagen.
Ich komme zum Schluss. Die große Koalition wird
von vielen Menschen als eine gute Chance begriffen,
zentrale Reformen in Deutschland mit einem langen
Haltbarkeitsdatum auf den Weg zu bringen.
({69})
Das würde Vertrauen begründen. Diese Kategorie ist bekanntlich von großer Bedeutung für Investoren wie auch
für Konsumenten. Die große Koalition wird auch als
Chance begriffen, Gruppeninteressen entgegenzuwirken,
weil keine der beiden großen Parteien mehr auf der Basis
von mir aus legitimer, aber durchaus nicht immer mit
dem Allgemeininteresse identischer Gruppeninteressen
gegeneinander ausgespielt werden kann.
Eine solide Haushaltsführung, so wie sie Millionen
privater Haushalte auch betreiben müssen, wenn sie
denn den Gerichtsvollzieher nicht im Haus haben wollen, ist eine wesentliche Erwartung der Menschen.
({70})
Die Flucht aus unangenehmen Entscheidungen in die
sich immer weiter drehende Verschuldensspirale wird
immer weniger akzeptiert, schon gar nicht von der jüngeren Generation, die den Kapitaldienst für unsere
Schuldenaufnahme auf sich zurollen sieht.
Die Koalition ist gefordert, die Weichen für eine
Haushaltskonsolidierung zu stellen, ohne deswegen Zukunftsinvestitionen zu vernachlässigen. Der Finanzminister versteht sich in dieser Hinsicht als Gestalter und
nicht als Verhinderer. Um beidem zu entsprechen, brauchen wir Mut, Durchhaltevermögen und gelegentlich
auch Courage. Wir brauchen über die Grenzen der Fachpolitiken hinweg einen gemeinsamen Sinn für das Ganze
und auch für die Prioritäten. Dafür möchte ich mit dieser
Rede werben.
Es wäre schließlich hilfreich, wenn wir die Menschen
nicht durch sich widersprechende Nachrichten oder wöchentliche Wasserstandsmeldungen verunsichern würden oder wenn wir unsere Vorhaben nicht selbst infrage
stellen würden, bevor wir sie überhaupt begonnen haben.
({71})
Verlässlichkeit in der Finanzpolitik könnte ein Markenzeichen dieser großen Koalition sein. Das schließt
keineswegs aus, Notwendiges zu tun und auch neue
Wege zu gehen, wenn wir es denn erklären. Ich glaube,
wir unterschätzen die Offenheit, die Aufgeschlossenheit
der Bürgerinnen und Bürger für solche Erklärungen. Die
meisten von ihnen wissen: Wenn wir vieles von dem erhalten wollen, was uns wichtig ist, auch und gerade für
nachfolgende Generationen, dann müssen wir vieles verändern.
({72})
Der Haushaltsentwurf 2006, die mittelfristige Finanzplanung, das Stabilitätsprogramm und das Haushaltsbegleitgesetz sind das erste finanzpolitische Paket dieser
Koalition. Es werden noch einige Bewährungsproben
auf uns zukommen, die wir meistern werden.
Herzlichen Dank.
({73})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Jürgen Koppelin für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Bundesfinanzminister hat für die Bundesregierung den
Entwurf für den Bundeshaushalt 2006 und das Haushaltsbegleitgesetz eingebracht. Der Deutsche Bundestag
wird in dieser Woche eine erste Bewertung vornehmen.
Ich will Ihnen, Herr Bundesfinanzminister, vonseiten der
FDP ausdrücklich zusagen, dass wir, was den Bundeshaushalt und auch das Haushaltsbegleitgesetz angeht, in
den Ausschüssen konstruktiv mitarbeiten werden. Wir
sind der Auffassung, dass, wie der Bundeshaushalt zeigt,
die finanzielle Situation unseres Landes so ernst ist, dass
sich die Opposition einer Zusammenarbeit nicht verweigern kann. Deshalb bieten wir ausdrücklich unsere Mitarbeit an.
Herr Bundesfinanzminister, wir beide kennen uns ja
schon lange, auch aus Schleswig-Holstein.
({0})
Ich weiß, dass Sie ein sehr kluger Mann sind.
({1})
Verehrter Herr Fraktionsvorsitzender, es wäre schön,
wenn die ungeteilte Aufmerksamkeit der Regierung für
die Rede des ersten Oppositionsredners sichergestellt
wäre.
({0})
Das gilt auch für den anderen.
Lieber Herr Kauder!
Es ist wirklich sehr unhöflich, wenn der erste Redner
der Opposition in der Weise von den beiden Fraktionsvorsitzenden gestört wird.
({0})
- Das ist nun einmal so, zumal ich den Bundesfinanzminister direkt angesprochen habe.
Ich wiederhole das gerne. Ich kenne Herrn Steinbrück
als einen wirklich sehr klugen Mann und ich schätze ihn,
auch wenn wir hin und wieder unterschiedliche Auffassungen haben. Ich habe mir überlegt, wie er seine heutige Rede vorbereitet haben könnte. Da gab es zwei
Möglichkeiten: Sie konnten die kluge Version wählen,
Herr Bundesfinanzminister, indem Sie offen und ehrlich
sagen, wie die Situation ist. Dann hätten Sie aber ansprechen und begründen müssen, warum Sie heute einen verfassungswidrigen Haushalt vorlegen. Das haben Sie
nicht getan.
({1})
Sie haben sich für die zweite Möglichkeit entschieden,
nämlich den Nebelwerfer. Sie haben viel Nebel produziert und sehr viel Lyrik, aber der deutschen Bevölkerung nicht konkret gesagt, was für einen Haushalt Sie
hier vorgelegt haben.
({2})
Deswegen erlauben Sie mir, aus meiner Sicht eine
Bewertung für beide Gesetze vorzunehmen. Dabei
kommt man nicht darum herum, eine haushaltspolitische
Bilanz dessen zu ziehen, was Rot-Grün gemacht und
- das muss man fairerweise sagen - Rot-Schwarz übernommen hat. Allerdings muss sich auch die neue Bundesregierung fragen lassen, was sie unternehmen wird,
um aus der schwierigen haushaltspolitischen Situation
herauszukommen. Es steht außer Frage, dass der Haushalt und die Finanzen, die die neue Regierung übernommen hat, eine schwere Erblast sind.
Pikant ist, Frau Bundeskanzlerin, bei dieser schweren
Hinterlassenschaft allerdings, dass die stärkste Partei in
der früheren Koalition, die SPD, nun der Juniorpartner in
der neuen Koalition ist. Die Erblast, die sozialdemokratische Finanzminister in sieben Jahren Rot-Grün hinterlassen haben, wird uns nicht nur bei dieser Haushaltsberatung beschäftigen, sondern auch zukünftig.
({3})
Frau Merkel, Sie müssen sich schon fragen lassen,
wieso Sie es bei der Bildung der neuen Koalition trotz
dieser Erblast zugelassen haben, dass ein Sozialdemokrat erneut das Finanzministerium übernimmt.
({4})
Vielleicht, Frau Merkel, hat es daran gelegen, dass Sie
die Erblast so noch nicht gekannt haben und dass damals, als Sie mit den Sozialdemokraten verhandelt haben, Sie und Edmund Stoiber - das war, bevor er die
Flucht nach München antrat - erst die Ministerposten
verteilt haben, bevor Sie versucht haben, sich in der Sache zu einigen. Das ist wahrscheinlich das Problem;
sonst hätten Sie den Sozialdemokraten niemals die wichtige Aufgabe des Bundesfinanzministers überlassen dürfen.
({5})
Viele finanz- und haushaltspolitische Fehler sind in
den sieben Jahren der rot-grünen Koalition gemacht
worden. Ich will nicht verleugnen, dass der frühere Bundesfinanzminister Eichel viele Probleme richtig erkannt
hat. Er hat auch die große Belastung für die kommenden
Generationen gesehen. Trotzdem war er nicht in der
Lage, umzusteuern. Das mag auch daran gelegen haben,
dass er dafür nicht die Unterstützung der eigenen Fraktion bekommen hat.
Doch auch der heutige Bundesfinanzminister, Peer
Steinbrück, hat, bereits bevor er Finanzminister wurde,
erkannt, wo die Kernprobleme auf dem Weg zu einer soliden Haushalts- und Finanzpolitik in Deutschland liegen.
Herr Bundesfinanzminister, Sie haben als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen im Bundesrat gesagt
- das ist durchaus richtig -:
Das Kernproblem in Deutschland ist die Steuerund Abgabenquote; das heißt die spezifische Finanzierung der sozialen Transfersysteme über ein
Umlagensystem, das an Normalarbeitsverhältnisse
gekoppelt ist. Im Ergebnis haben die Sozialversicherungsabgaben und damit die Bruttoarbeitskosten ein zu hohes Niveau erreicht.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch ein Zitat
von Ludwig Erhard anführen. Die Kanzlerin zitiert ihn
immer gern. Deswegen will auch ich es tun. Ludwig
Erhard sagte 1958 - es ist in der „Zeit“ nachzulesen -:
Nichts ist in der Regel unsozialer als der so genannte „Wohlfahrtsstaat“ ... Solche „Wohltat“ muss
das Volk immer teuer bezahlen, weil kein Staat seiJürgen Koppelin
nen Bürgern mehr zurückgeben kann, als er ihnen
vorher abgenommen hat.
({6})
Das ist die Krux unserer Haushaltspolitik. Darum dreht
sich vieles.
Peer Steinbrück weiß ebenso wie früher Hans Eichel
ganz genau, wo die Probleme liegen. Doch das spiegelt
sich nicht - das war schon unter Eichel so - in den
Haushaltsplänen wider. Insofern ist das, was Sie, sehr
geehrter Herr Bundesfinanzminister, uns heute als Bundeshaushalt 2006 vorgelegt haben, eine Taschenbuchausgabe der früheren Haushaltspläne von Hans Eichel nicht mehr und nicht weniger.
({7})
Peer Steinbrück kennt die Probleme, aber er hat nicht gehandelt.
Unter sozialdemokratischen Finanzministern wurden
200 Milliarden Euro neue Schulden aufgenommen. Dabei sind die Steuereinnahmen nicht etwa zurückgegangen. Sie sind vielmehr gestiegen. Durch die hohe Schuldenaufnahme gibt es eine zweite Hinterlassenschaft. Das
sind die hohen Zinsbelastungen: 39 Milliarden Euro
pro Jahr.
({8})
- Ich komme gleich darauf zurück. - Diese hohe Zinsbelastung ist nicht zu verantworten. Wir müssen davon herunter.
Die dritte Hinterlassenschaft von Rot-Grün ist die
hohe Abgabenlast mit fast 40 Prozent. Wen wundert es
da, wenn es keine Bewegung auf dem Arbeitsmarkt gibt
und wenn die Arbeitslosigkeit weiterhin bei 5 Millionen
Arbeitslosen auf Rekordhöhe bleibt?
Ich will nun nicht allein der früheren rot-grünen Koalition - damit komme ich auf den Zuruf zurück - die
Fehler in der Haushalts- und Finanzpolitik anlasten.
({9})
Lieber Kollege Schneider, die FDP teilt dazu die Aussage der Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung.
({10})
Die Bundeskanzlerin - es ist auch Ihre Kanzlerin; denn
sie wird von Ihnen in der Koalition getragen - sagte in
ihrer Regierungserklärung:
Wir brauchen … einen Kurswechsel in der Haushaltspolitik.
({11})
Ich sage ganz ausdrücklich: Die Ursachen,
- jetzt kommt es die Anfänge dieser Fehlentwicklung liegen weit zurück. Die lassen sich im Übrigen ganz gut bei der
ersten großen Koalition verorten.
Jetzt wissen Sie, wo die Gründe liegen, lieber Herr Kollege. Wo Frau Merkel Recht hat, hat sie Recht.
({12})
Frau Merkel hat dann in ihrer Regierungserklärung
einen Kurswechsel in der Haushaltspolitik angekündigt. Frau Merkel, ich kann bei diesem Bundeshaushalt
keinen Kurswechsel erkennen. Beim Bundeshaushalt
2006 übersteigt die Neuverschuldung sogar noch die des
letzten Etats von Hans Eichel um 7 Milliarden Euro. In
der mittelfristigen Finanzplanung sind 16 Milliarden Euro in Ansatz gebracht. Das soll der angekündigte
Kurswechsel sein? Statt Kurswechsel bleibt also alles
wie gehabt: noch mehr Schulden, höhere Steuern, aber
keine Korrektur bei den Ausgaben.
Auch bei Rot-Schwarz ist der Bundeshaushalt wie bei
Rot-Grün verfassungswidrig und setzt den geplanten
Verfassungsbruch der letzten Jahre fort. Da gibt es
nichts zu beschönigen. Der Finanzminister hat dies zwar
mit dem Werfen von Nebelkerzen versucht. Aber Verfassungsbruch bleibt Verfassungsbruch.
({13})
Der Bundesfinanzminister und auch der Bundeswirtschaftsminister erzählen uns immer wieder, die Konjunktur werde anspringen, die Koalition mache eine
tolle Stimmung und die Menschen würden wieder Mut
fassen. Wenn dem so ist, dass sich die Konjunktur erholt
und dass es Wirtschaftswachstum gibt, dann muss man
sich doch fragen, warum Sie einen verfassungswidrigen
Haushalt vorlegen. Wenn Sie nämlich optimistisch wären, dann könnten Sie doch nicht von einer Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ausgehen und
damit einen verfassungswidrigen Haushalt rechtfertigen.
Wenn man positiv eingestellt ist, dann braucht man doch
nicht zu erklären, dass das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gestört ist. Man muss vielmehr den eigenen
Zahlen vertrauen. Aber Sie glauben nicht an Ihre eigenen Zahlen, Herr Bundesfinanzminister. Das ist Ihr Problem.
Die FDP hat den Eindruck, dass Sie mit voller Absicht einen stabilitätswidrigen Haushalt vorlegen. Mit
steigenden Steuereinnahmen und entschlossenen Sparanstrengungen wäre es durchaus möglich gewesen, einen
stabilitätsgerechten Haushalt vorzulegen. Nur, das wollen Sie gar nicht. Denn auf diesem Umweg wollen Sie
Ihre Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte begründen.
Wer wie Peer Steinbrück im Bundesrat erklärt, dass
das Kernproblem in Deutschland die Steuer- und Abgabenquote sei, um nun auf einmal als neues Mitglied der
Bundesregierung für die Erhöhung der Mehrwertsteuer
um 3 Prozentpunkte einzutreten, zeigt, dass er die Situation zwar richtig erkannt hat, aber dann das Gegenteil
macht, genauso wie es sein Vorgänger, Hans Eichel, getan hat.
({14})
Nicht Steuern hoch, sondern Steuern runter! Das belebt
die Konjunktur und würde neue Arbeitsplätze schaffen.
Das Entscheidende, was uns von Ihnen, Herr Bundesfinanzminister, unterscheidet, ist: Wir wollen, dass die
Steuern gesenkt und nicht erhöht werden.
Der Bundesfinanzminister muss doch ein Interesse
daran haben, dass das Konsumklima in Deutschland erheblich verbessert wird. Ein besseres Konsumklima in
Deutschland bringt auch dem Finanzminister im Bundeshaushalt mehr Einnahmen. Mit der Erhöhung der
Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte werden Sie das
Konsumklima in Deutschland auf keinen Fall verbessern.
Wie heißt es in einem Flugblatt der Sozialdemokraten
zur letzten Bundestagswahl:
Allein schon die Möglichkeit einer Steuererhöhung
trübt das Konsumklima deutlich ein.
({15})
So die Sozialdemokraten. Was machen Sie jetzt? Sie trüben das Konsumklima ein, wenn ich Ihrem Flugblatt
glauben darf.
Ich zitiere wörtlich aus einem weiteren Flugblatt der
Sozialdemokraten zur Bundestagswahl:
Alle Bürger haben durch eine Mehrwertsteuererhöhung weniger in der Tasche. Das bedeutet: Sie können weniger konsumieren. Angesichts einer ohnehin zu geringen Binnennachfrage ist dies Gift für
unsere Konjunktur.
({16})
Warum machen Sie genau das Gegenteil? Es war
doch alles richtig, was Sie - es gibt weitere Zitate zur
Mehrwertsteuererhöhung - gesagt haben. Die Sozialdemokraten müssen sich fragen lassen, warum sie diesen
Wortbruch gegenüber ihren Wählern begangen haben.
Sie säßen doch heute nicht in dieser Stärke im Deutschen
Bundestag, wenn Sie nicht vor allem einen Wahlkampf
gegen die Mehrwertsteuererhöhung geführt hätten. Sie
hätten mindestens 50 Abgeordnete weniger im Deutschen Bundestag.
({17})
Ich fand es sehr interessant, dass in den Wahlsendungen am Sonntagabend plötzlich alle Parteien die niedrige
Wahlbeteiligung bedauert haben. Angesichts dessen,
dass die Menschen von den Sozialdemokraten bei der
Bundestagswahl so betrogen wurden, verzweifeln sie
allmählich und sagen sich: Ich brauche gar nicht mehr
zur Wahl zu gehen.
({18})
Sie befinden sich aber in bester Gesellschaft. Der
Fraktionsvorsitzende der Union, Volker Kauder, erklärte
ebenfalls im Mai letzten Jahres:
Eine Steuererhöhung wäre Gift für die Konjunktur,
deswegen kann eine Steuererhöhung nicht infrage
kommen. Dies gilt für jede Steuer, damit auch für
die Mehrwertsteuer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Mehrwertsteuererhöhung, die Sie planen, ist unsozial gegenüber
21,8 Millionen Rentnern, 1,4 Millionen Pensionären und
Versorgungsempfängern, 5 Millionen Arbeitslosen sowie gegenüber 2 Millionen Studenten. Diese Zahlen
stammen nicht von mir, sondern ebenfalls aus einem
Flugblatt der Sozialdemokraten. - Herzlichen Dank,
dass Sie mir dieses Material zur Verfügung gestellt haben. Das ist Ihr großer Wortbruch.
({19})
Was machen Sie jetzt? Auf der einen Seite legen Sie,
Herr Bundesfinanzminister, ein Programm mit Mitteln in
Höhe von 25 Milliarden Euro, verteilt auf zwei Jahre,
auf und auf der anderen Seite ziehen Sie den Bürgern
150 Milliarden Euro Kaufkraft aus der Tasche. Hinzu
kommen 20 Milliarden Euro, weil in diesem Jahr für einen Monat zusätzlich Sozialabgaben abgeführt werden
müssen. Ihre Politik ist: ein Konjunkturprogramm von
25 Milliarden Euro, das, was Sie auf Ihrer Klausurtagung beschlossen haben, und gleichzeitig Abzocke bis
zum Gehtnichtmehr. Wie soll da die Konjunktur anspringen?
({20})
Ich habe es schon gesagt: Mit dem Haushaltsentwurf 2006 liegt ein eindeutiger Verfassungsverstoß vor.
Es ist erheblich zu bezweifeln, dass mit der Inanspruchnahme der Ausnahmeregelung in Art. 115 des Grundgesetzes und der erhöhten Kreditaufnahme die Störung
des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abgewendet werden kann. Auch in den vergangenen Jahren ist
das alles so begründet worden. Auch in den vergangenen
Jahren waren die Haushalte verfassungswidrig. Es hat
sich nichts getan. Bei der Arbeitslosenzahl ist nichts passiert. Sie ist auf gleicher Höhe geblieben bzw. sogar gestiegen. Die Konjunktur hat sich nicht belebt. Jedes Jahr
erfolgt die gleiche Begründung für einen Verfassungsverstoß und jedes Jahr hat es zu nichts geführt. Sie haben
sich neu verschulden müssen. Die Neuverschuldung mit
38 Milliarden Euro in diesem Jahr ist - daran geht kein
Weg vorbei - ein Armutszeugnis für eine große Koalition. Statt Ausgabenminderungen gibt es nur Ausgabensteigerungen.
Der Bundeshaushalt ist das Schicksalsbuch der Nation. Lassen Sie uns die Investitionen anschauen: Sie
sind so niedrig, wie es in den vergangenen Jahren nicht
einmal der Fall gewesen ist. Sie werden bis 2009 auf
etwa 8,5 Prozent sinken. Dies zeigt, dass wir weiterhin
mit einer hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland rechnen
müssen.
Alles, was Sie uns bisher vorgelegt haben, das Ausgabenprogramm mit einem Volumen von 25 Milliarden
Euro und der Bundeshaushalt, wird nicht den notwendigen Aufschwung bringen. Sie als Bundesregierung wolJürgen Koppelin
len uns einreden, dass man nur beim Bürger abkassieren
und ein staatliches Ausgabenprogramm auflegen muss
und schon entstehen Arbeitsplätze und der Haushalt
kann saniert werden. Nein, so geht das nicht. Unserer
Auffassung entspricht das, was die große Koalition uns
vorlegt, nicht.
({21})
Diese Bundesregierung wird nicht umhinkommen
- das haben Sie nur andeutungsweise angesprochen,
Herr Bundesfinanzminister -, wenn es mit der Sanierung
des Haushalts Ernst wird, die Leistungsgesetze auf den
Prüfstand zu stellen. Auch hier biete ich der Koalition
an, offen und fair darüber zu sprechen, um unseren Beitrag leisten zu können. Denn wir alle wissen doch, dass
wir den Haushalt sonst nicht werden sanieren können.
Nur durch Kürzungen beim Bundeshaushalt - das will
ich eingestehen - wird eine Sanierung nicht möglich
sein.
Ein Bundesfinanzminister hat die Aufgabe, seinen
Haushalt auf realistischer Basis aufzubauen und den
schweren, steinigen Weg aus der Staatsverschuldung zu
gehen. Herr Bundesfinanzminister, mit Ihrer Rede und
dem Haushaltsentwurf, den Sie heute vorgelegt haben,
sind Sie diesen steinigen Weg nicht gegangen. Sie hätten
die große Chance gehabt, der Mehrheit in diesem Parlament ehrlich und offen zu sagen, wie die haushaltspolitische Situation ist. Es tut mir Leid, aber ich finde, Sie haben diese Chance vertan. Dieser Haushalt - und auch
Ihre Rede - hätte ein Startzeichen sein können, ein Startzeichen für einen Staat der Bescheidenheit. Auch diese
Chance haben Sie vertan.
Wie sagte die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung: Überraschen wir uns damit, was möglich ist,
überraschen wir uns damit, was wir können. - Dieser
Bundeshaushalt wäre eine gute Gelegenheit gewesen,
unter Beweis zu stellen, was Politik kann. Davon ist
nichts zu spüren. Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung gesagt: Lassen Sie uns mehr Freiheit
wagen. - Steuern erhöhen ist nicht „mehr Freiheit wagen“, Frau Merkel. Steuererhöhungen bedeuten ein weiteres Stück Unfreiheit für die Menschen in unserem
Lande.
({22})
Mancher hat erkennen müssen, dass der Tag der Bundestagswahl für ihn zum Zahltag geworden ist.
Der Sozialdemokrat Hans Apel, einer der Vorgänger
von Minister Steinbrück im Amt des Bundesfinanzministers, hat einmal gesagt, wichtig wäre es, den Sachverstand zu mobilisieren, die ideologischen Scheuklappen abzulegen, hart zu arbeiten. Das ist auch der Rat der
Freien Demokraten an diese Bundesregierung. Der
Bundeshaushalt 2006, den Sie uns als Entwurf vorgelegt
haben, spiegelt eine solche Anstrengung leider nicht wider. Es wäre gut, wenn Sie den Rat von Hans Apel, einem Ihrer Vorgänger, beherzigen würden.
Herzlichen Dank für Ihre Geduld.
({23})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Meister
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte zum Auftakt der Debatte über den
Haushaltsplan 2006 zunächst einmal dem Bundesfinanzminister im Namen meiner Fraktion Dank sagen, dass er
mit diesem Haushaltsentwurf und dem Haushaltsbegleitgesetz die Vorgaben des Koalitionsvertrages zur Haushaltskonsolidierung umsetzt und gesetzgeberisch auf den
Weg bringt.
({0})
Mir sind bei der Entscheidungsfindung fünf Punkte
wichtig, auf die ich im Nachfolgenden eingehen möchte.
Wir erleben heute einen Wendepunkt in der Haushaltspolitik des Bundes. Wir begeben uns auf den Weg,
den Haushalt des Bundes zu sanieren und die Beendigung der steigenden Staatsverschuldung mit Entschlossenheit anzugehen. Für diesen Beginn ist heute der richtige Tag.
({1})
Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir diesen Weg
nicht in einem einzigen Schritt gehen können. Der
Bundeshaushalt 2006 ist der erste Schritt in die richtige
Richtung; es müssen weitere Schritte in Richtung Haushaltskonsolidierung folgen. Dies ist nicht nur notwendig, weil wir hier interessante Debatten miteinander
führen, sondern auch, weil dies im Interesse einer nachhaltigen Finanzpolitik ist. Ich hätte mir gewünscht, dass
eine Partei - jetzt schaue ich in die Mitte dieses Hauses -, die das Wort „Nachhaltigkeit“ immer als erste auf
der Zunge führt, diese Nachhaltigkeit in ihrer Politik der
vergangenen sieben Jahre realisiert hätte.
({2})
Wir können nicht weiterhin planlos Lasten in die Zukunft verschieben und damit gegen die Generationengerechtigkeit handeln. Wir müssen dafür sorgen, dass auch
die künftigen Generationen Gestaltungsmöglichkeiten in
diesem Lande haben. Deshalb beginnt die große Koalition damit, den Bundeshaushalt wieder auf ein sicheres
Fundament zu stellen. Wir nehmen uns ausdrücklich
nicht nur den Bundeshaushalt vor, sondern wir kümmern
uns in unserem Sanierungskonzept auch um den föderalen Ansatz. Auch für die Haushalte der Länder und
Kommunen wollen wir einen Beitrag zur Konsolidierung leisten.
({3})
Unser Ziel ist: Wir wollen einen ausgeglichenen Bundeshaushalt. Diesen halten wir als Union für richtig. Unser Ziel können wir aber in dieser Wahlperiode nicht
mehr erreichen. Wir können es deshalb nicht erreichen,
weil die Ausgangssituation zu weit von diesem Ziel entfernt ist. Wir können aber beginnen und die Voraussetzungen dafür schaffen, das Ziel eines ausgeglichenen
Haushalts in der nächsten Wahlperiode zu erreichen.
({4})
Der Konsolidierungsbedarf ist enorm: Über
50 Milliarden Euro an Ausgaben sind nicht durch regelmäßige Einnahmen gedeckt. Mehr als jeder fünfte Euro,
den wir ausgeben, ist nicht durch regelmäßige Einnahmen gedeckt. Wenn man von diesem gigantischen Fehlbetrag, der sowohl außerhalb als auch innerhalb dieses
Hauses offenkundig nicht wahrgenommen wird, ausgeht, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass wir
sparen müssen. Sparen heißt: Wir können uns nicht mehr
alles Wünschenswerte leisten. Wir müssen also Prioritäten setzen und klare Aufgaben und Ziele definieren. Es
kann nicht nach der altbekannten Methode „Es muss etwas geschehen, aber es darf sich nichts ändern“ gehen.
Vielmehr werden auch die Bürger in unserem Land das
Sparen und Konsolidieren spüren. Ich glaube aber, angesichts unserer Verantwortung für die künftigen Generationen ist das, was wir tun, nicht unsozial. Vielmehr handeln wir in höchstem Maße sozial.
({5})
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich sagen: Die
Strukturdebatte, die Herr Bundesfinanzminister
Steinbrück zur Frage der Familienförderung begonnen
hat, ist unter dem Aspekt „Wie setzen wir vernünftige
neue Prioritäten in unserem Land?“ eine richtige Debatte.
({6})
Wir brauchen solche Strukturdebatten und dürfen sie
nicht, bevor sie überhaupt begonnen haben, zerschlagen.
({7})
Diese Diskussion muss ergebnisoffen geführt werden;
denn sonst fordert jeder nur weitere Ausgaben und überlässt es den Finanzpolitikern, zu prüfen, wie durch Einnahmesteigerungen die neuen Ausgaben finanziert werden können. Das ist der falsche Weg, deshalb brauchen
wir Strukturdebatten in diesem Land. Wir alle sollten
uns konstruktiv mit den Argumenten in diesen Debatten
auseinander setzen.
Ich möchte etwas zur Zeitschiene sagen. Es wird
nicht möglich sein, eine Lücke in der Größenordnung
von 50 Milliarden Euro innerhalb kürzester Zeit zu
schließen. Wir werden daran in dieser und auch in der
nächsten Wahlperiode arbeiten müssen. Jeder, der behauptet, man könne die Lücke in kürzerer Zeit schließen,
ist kein Realist, sondern Populist. Herr Steinbrück hat
vorhin zu Recht vorgetragen, dass 85 Prozent der Ausgaben des Bundeshaushaltes durch Verbindlichkeiten wie
Zinsausgaben und Ähnliches fixiert sind. Wer meint, er
könnte kurzfristig daran etwas verändern, ist nicht von
dieser Welt.
({8})
Wir haben uns deshalb vorgenommen, kassenwirksam für das Jahr 2007 30 Milliarden Euro zu bewegen.
Ich möchte klar und deutlich sagen: Das ist eine Anstrengung, wie es sie in der Geschichte dieser Republik
noch nicht gegeben hat. Wir wollen innerhalb von
14 Monaten 30 Milliarden Euro im Bundeshaushalt bewegen. Manche schlagen vor, die Eigenheimzulage zu
streichen, weil man damit sechs bis sieben Milliarden
Euro bewegen könne. Ich möchte darauf hinweisen, dass
die Streichung der Eigenheimzulage im ersten Jahr gerade einmal 100 Millionen Euro einbringt.
({9})
Ich bitte darum, an dieser Stelle eine realistische Debatte
zu führen.
({10})
Herr Westerwelle, ich bedanke mich für Ihre Intervention, aber ich möchte auf Folgendes hinweisen: Ich
habe mit Blick auf die notwendigen Steuererhöhungen,
die wir beschließen müssen, weil wir das Problem nicht
allein auf der Ausgabenseite lösen können, was uns natürlich am liebsten wäre, im November, als wir über die
Regierungserklärung der Bundeskanzlerin debattierten,
Ihre Fraktion gebeten, uns eine Alternative zu benennen,
wie wir das Finanzvolumen, das über die Mehrwert- und
Versicherungsteuer finanziert werden soll, kompensieren
sollen. Ich darf Ihnen berichten, dass ich auf diesen Alternativvorschlag immer noch warte.
Wir sollten etwas seriöser werden: Wenn man das
Ziel der Haushaltskonsolidierung verfolgt, darf man
nicht nur sagen, was man nicht will, sondern muss auch
konkrete und konstruktive Vorschläge machen und sagen, welche Alternative man vorschlägt. Darum habe ich
im November gebeten. Es wäre schön, wenn meiner
Bitte im Rahmen dieser Haushaltsdebatte nachgekommen würde.
({11})
Im Rahmen der Debatte über den Entwurf dieses
Haushaltsgesetzes werden wir nicht nur über Ausgabensenkung, Korrektur vorhandener Steuergesetze und
Mehrwertsteuererhöhung diskutieren, sondern auch über
die Senkung der Lohnnebenkosten.
({12})
Wir schlagen vor, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung zum 1. Januar 2007 um 2 Prozentpunkte zu senken.
Ein Teil davon wird über die Mehrwertsteuererhöhung
finanziert werden. Wir senken die Lohnnebenkosten
- das sage ich ausdrücklich -, um für bessere Beschäftigungschancen in Deutschland zu sorgen. Wir dürfen
aber nicht bei einer reinen Umfinanzierung stehen bleiben, sondern müssen auch in den Sozialsystemen Strukturreformen durchführen. Das gilt für den Arbeitsmarkt. Wir haben die Bundesagentur für Arbeit
- außerhalb der Beratungen über dieses Haushaltsgesetz gebeten, dafür zu sorgen, dass dort Strukturreformen
durchgeführt werden. Ich glaube, dass durch die Umstellung von Zuschuss auf Darlehen der für die Durchführung von Reformen notwendige Druck erzeugt wird. Ich
glaube, es ist notwendig, nicht nur umzufinanzieren,
sondern die Senkung von Lohnnebenkosten mit Strukturveränderungen zu verbinden, damit das Ganze nachhaltig ist.
Wenn wir die strukturelle Lücke des Bundeshaushaltes bis zum Ende dieser Wahlperiode halbieren - das haben wir vorgeschlagen -, dann wird das auch Einfluss
auf die Staatsquote haben. Wir werden die Staatsquote
in dieser Wahlperiode auf ein Niveau von etwa
43,5 Prozent zurückführen. Auf diesem Niveau befand
sie sich vor der deutschen Einheit. Das heißt, wir landen
auf einem Niveau, auf dem sich die Staatsquote vor der
Wiedervereinigung befand. Das Gleiche haben wir in
den 80er-Jahren schon einmal getan. Damals ging damit
ein Aufwuchs an Beschäftigung einher: Es wurden
2 Millionen neue Beschäftigungsverhältnisse geschaffen. Ich glaube, dass diese Politik in die richtige Richtung führt. Wir sollten zu der Finanzpolitik zurückkehren, die wir vor der deutschen Einheit gemacht haben.
Diesen Weg müssen wir gehen, weil wir dort wieder hinwollen.
({13})
Heute Morgen wurden behauptet, wir hätten im Bundeshaushalt nur ein Einnahmeproblem. Einige Geister,
die offenbar nur kurzfristig denken, glauben, man müsse
nur die Belastung des Einzelnen erhöhen, um dieses Problem zu beheben. Ich glaube, wir müssen auch über die
Zahlerbasis, über diejenigen, die überhaupt Beiträge in
die Steuer- und Sozialkassen zahlen, nachdenken. Deswegen sage ich: Wir haben sehr wohl ein Einnahmeproblem; wir müssen das Einnahmeproblem aber lösen, indem wir für mehr Wachstum und Beschäftigung und
damit für mehr Steuer- und Beitragszahler sorgen.
({14})
Haushaltskonsolidierung und Förderung von
Wachstum und Beschäftigung - das sage ich ausdrücklich - schließen sich nicht aus, sondern sind zwei Seiten
derselben Medaille. Deshalb leisten wir einen wesentlichen Beitrag zur Förderung des Wirtschaftswachstums,
wenn wir dafür sorgen, dass die Haushaltskonsolidierung vorankommt. Jedem Investor ist doch klar, dass er
als Bürger dieses Landes neue Staatsschulden durch in
der Zukunft höhere Abgaben oder Steuern bedienen
muss.
({15})
Wir tun etwas für das Konsumklima, wenn wir die Menschen nicht im Ungewissen darüber lassen, wann und
wie sie diese Staatsschulden bedienen müssen, sondern
ihnen konkret einen Weg aufzeigen, wie wir diese
Staatsschulden begleichen können.
({16})
Damit beenden wir die Verunsicherung. Damit schaffen
wir Vertrauen. Damit sorgen wir dafür, dass in unserem
Land wieder konsumiert und investiert wird.
({17})
Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wir
eine offene Volkswirtschaft in einer globalisierten Welt
sind. Es gibt in dieser Welt keine offene Volkswirtschaft,
die sich durch eine steigende Staatsverschuldung saniert
hätte. Das Gegenteil ist richtig: Überall dort, wo Haushalte saniert wurden, sind die Beschäftigung und das
Wachstum gestiegen. In offenen Volkswirtschaften fließt
jeder Impuls seitens der öffentlichen Kassen in der Regel
über die Grenze ab. Dann steigt im Inland die Staatsverschuldung, aber Sie haben nicht von den Wachstumsund Beschäftigungseffekten profitiert. Deshalb kann
man davon nur dringend abraten.
Ich will etwas zu unserem Impulsprogramm sagen.
Es wird oft so getan, als sei es ein rein keynesianisch geprägtes Programm.
({18})
Ich will einmal alle Kollegen hier fragen, die das Programm unter diesem Blickwinkel kritisch sehen: Sind
Sie denn der Meinung, dass mit Blick auf das 3-ProzentZiel von Lissabon eine Erhöhung der Ausgaben für Forschung und Entwicklung der falsche Weg ist? Wer
glaubt denn, dass uns das schadet? Ich persönlich bin davon überzeugt, dass dies unser Wachstumspotenzial als
Volkswirtschaft massiv verbessert,
({19})
weil wir dann in vielen Bereichen wieder auf einem hohen Niveau wettbewerbsfähig werden. Deshalb müssen
wir dafür Geld in die Hand nehmen und uns an dieser
Stelle stark machen.
({20})
Wer von Ihnen will denn behaupten, dass wir über
bessere Mobilitätsmöglichkeiten in unserem Land dafür
sorgen, dass unsere Wirtschaft weniger wächst? Das Gegenteil ist doch der Fall: Mehr Mobilität bedeutet bessere Wachstumsbedingungen. Deshalb ist es richtig, dass
wir mehr tun, um die Mobilitätsbedingungen zu verbessern, und für Verkehrsinfrastrukturinvestitionen im
Inland mehr Geld bereitstellen. Das hat nichts mit Konjunktur zu tun. Das sind Strukturveränderungen.
Das nächste Beispiel, das ich anführen möchte, ist der
Privathaushalt als Arbeitgeber. Wir überlegen, wo in
unserer Volkswirtschaft neue und mehr legale Arbeitsplätze entstehen können. Dies ist ein Beitrag, um mehr
Wachstum und Beschäftigung in diesem Land zu fördern. Ich glaube, deshalb muss man dieses Programm
aus einem etwas anderen Blickwinkel sehen und darf
nicht einfach sagen: Hier werden ein paar Milliarden
Euro auf den Markt geworfen.
Ich möchte die Behauptung aufgreifen, hier würde
heute ein verfassungswidriger Haushalt vorgelegt. Ich
möchte ausdrücklich sagen: Ich halte diesen Haushalt
nicht für verfassungswidrig.
({21})
Aus unserer Sicht wird Art. 115 Grundgesetz beachtet.
Was wir nicht beachten, ist die Regelgrenze, dass die Investitionssumme höher sein muss als die Nettoneuverschuldung.
({22})
- Ja, das ist Teil des Kriteriums. Aber in Art. 115 steht
ein bisschen mehr.
Jetzt kommen wir zur Frage, was die Alternativen
hierzu wären. Die Alternative eins wäre gewesen, dass
wir im Bundeshaushalt Einsparungen in Höhe von mehr
als 30 Milliarden Euro vornehmen. Jetzt überlegen Sie
einmal: Wenn Sie 30 Milliarden Euro von November 2005 bis Januar 2006 kassenwirksam bewegen würden, dann würden Sie in der Volkswirtschaft eine
Schockwelle auslösen, die zu Nullwachstum und Beschäftigungsrückgang führen würde.
({23})
Deshalb wäre es ein Irrweg, dies zu tun.
Die zweite Alternative wäre, in diesem Volumen Bundesvermögen kurzfristig zu veräußern. Dann wäre es
aber nicht werthaltig und führte dazu, dass wir die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland aus kurzfristigen
Erwägungen auf den Markt werfen.
Wir sind der Meinung: Beide Wege sind falsch. Das
Vermögen brauchen wir noch für die Zukunft und eine
Schockwelle können wir uns in der Lage, in der wir uns
befinden, nicht leisten. Deshalb ist es sehr wohl begründet, zu sagen, dass die Ausnahmeregel des Art. 115 an
dieser Stelle greift. Wir sagen aber klar und deutlich:
2006 machen wir zum letzten Mal von der Ausnahmeregel Gebrauch. Ab 2007 werden wir die Regelgrenze des
Art. 115 - Neuverschuldung niedriger als Investitionssumme - einhalten. Ich bitte darum, etwas ehrlicher zu
sein. Auch hier geht es ein Stück weit um Vertrauen,
Glaubwürdigkeit und nachhaltige Finanzpolitik.
({24})
Wir werden nicht nur mit dem Sparen im Haushalt
bzw. seiner Konsolidierung und dem Impulsprogramm,
das für mehr Wachstum und Beschäftigung sorgt, vorankommen, sondern wir müssen auch einen dritten Schritt
gehen. Wir brauchen eine durchgreifende Veränderung
unseres Staates, um die eigentlichen Strukturprobleme
- auch das ist heute Morgen schon angesprochen worden anzugehen. Es geht nicht um reine Konjunkturfragen.
Der überwiegende Teil unserer Probleme ist strukturell
bedingt. Deshalb hoffe ich, dass die Debatte über die
Modernisierung unserer bundesstaatlichen Ordnung, die
wir vor wenigen Wochen begonnen haben, zu einem erfolgreichen Ergebnis geführt wird, weil dies zeigen wird,
dass Politik in Deutschland in der Lage ist, notwendige
Strukturveränderungen durchzuführen.
Ich hoffe, dass wir beim Bürokratieabbau, bei der Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren - dafür müssen wir kein Geld in die Hand nehmen,
sondern Strukturen verändern, damit mehr Wachstum
und Beschäftigung entstehen -, vorankommen und bessere Rahmenbedingungen schaffen.
Ich hoffe, dass wir hinsichtlich der Lohnnebenkosten nicht bei der Absenkung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte stehen bleiben,
sondern dass wir es tatsächlich schaffen, in diesen Tagen
eine Debatte über unser Gesundheitswesen zu beginnen, die dazu führt, dass wir zu einer Entkopplung der
Ausgabenseite des Gesundheitswesens von den Lohnnebenkosten kommen, damit wir auf der einen Seite die
positiven Effekte der gestiegenen Nachfrage nach Gesundheit für mehr Wachstum und Beschäftigung nutzen
und auf der anderen Seite den Negativeffekt steigender
Lohnnebenkosten eingrenzen können. Das ist die zentrale Herausforderung, vor der wir stehen und der sich
auch die Unionsfraktion stellen will.
({25})
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich den Baustein
der Unternehmensteuer betonen. Wir müssen unsere Zusage einhalten, dass in Deutschland am 1. Januar 2008
eine umfassende, große Unternehmensteuerreform in
Kraft treten wird. Das betrifft eine ganze Reihe von Fragen: Wird es uns gelingen, ein modernes, zukunftsfähiges Steuerbilanzrecht für Unternehmen zu schaffen und
ihnen international wettbewerbsfähige Steuersätze zu
bieten? Behandeln wir Familienunternehmen, Personengesellschaften und Kapitalgesellschaften zusammen, damit es ein Entwurf aus einem Guss wird? Schaffen wir
es, das Vertrauen der kommunalen Mandatsträger zu gewinnen, um auch mit Blick auf eine Reform der kommunalen Finanzen einen Schritt nach vorne zu machen,
sowohl im Interesse der Zukunftssicherung der Einnahmeseite der Kommunen als auch im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit unseres Standortes, also neuer Investitionen und Unternehmensansiedlungen?
({26})
Ich glaube, wir sind mit dem Dreiklang, den wir verfolgen, auf einem richtigen Weg: Wir wollen den Bundeshaushalt konsolidieren, um wieder Vertrauen und
Verlässlichkeit zu schaffen. Wir wollen Impulse setzen,
um unserer Volkswirtschaft zu mehr Wachstum zu verhelfen. Und wir wollen strukturelle Korrekturen vornehmen, damit unsere Volkswirtschaft auch langfristig auf
einen höheren Wachstumspfad einschwenkt. Unser Ziel
ist dabei nicht, den Menschen in unserem Land wehzutun oder ihnen etwas wegzunehmen, sondern dafür zu
sorgen, dass es ihnen wieder besser geht. Wir wollen,
dass unser Wohlstand langfristig gesichert und in
Deutschland wieder ein höheres Wirtschaftswachstum
zu verzeichnen ist. Dazu wird es notwendig sein, die Arbeitslosenzahl signifikant zu senken und so einen Beitrag dazu zu leisten, dass unsere Sozialsysteme auch
langfristig auf einer sicheren, tragfähigen Basis stehen.
Ich weiß, dass die Sanierung des Bundeshaushalts in
diesem Zusammenhang ein wichtiger Eckpfeiler ist. Ich
wünsche mir, dass sich alle konstruktiv in die jetzt anstehende Debatte einbringen. Neinsager und Bedenkenträger gibt es in unserem Land genug. Jetzt brauchen wir
Menschen, die neue Vorschläge und neue Ideen entwickeln.
Vielen Dank.
({27})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine
Lötzsch, Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! - Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Jedes Jahr wird das Unwort des Jahres gekürt. Heute sollten wir die Lüge des Jahres küren.
Sie lautet: Es gibt nichts mehr zu verteilen. Es gilt noch
immer der Satz: Die Lüge muss nur groß genug sein, damit sie geglaubt wird. Die ehemalige rot-grüne Regierung hat zusammen mit CDU und CSU die größte Umverteilungsaktion in der Geschichte der Bundesrepublik
eingeleitet. Mit der Mehrwertsteuererhöhung im Jahre
2007 ist der nächste Umverteilungscoup in Planung.
({0})
Die große Steuerreform entlastet die Unternehmen
und vor allem die Besserverdienenden um jährlich
52 Milliarden Euro. Jährlich werden 52 Milliarden Euro
von unten nach oben verteilt. Das sind 52 Milliarden
Euro, die nicht zur Verfügung stehen für neue Kindergärten, für modernere Schulen, für bessere Universitäten
und neue Arbeitsplätze. Damit können wir uns nicht abfinden.
({1})
Exfinanzminister Eichel sprach gern von einem Dreiklang von Strukturreformen, Haushaltskonsolidierung
und Wachstumsimpulsen. Wie wir sehen, gibt es diesen
Dreiklang nicht. Im Augenblick klingelt es nur in den
Kassen von Herrn Ackermann und in den Kassen der
Vorstände der DAX-Unternehmen. Das ist wirklich unanständig.
({2})
Die Arbeitsmarktreformen von Herrn Hartz haben
keine Arbeitsplätze geschaffen, die Verantwortlichen
wurden von den Wählern abgewählt. Die Gesundheitsreform von Frau Schmidt führt nicht zu einer besseren Gesundheitsversorgung der Bürgerinnen und Bürger, sondern treibt die Ärzte auf die Straße und sogar außer
Landes.
({3})
Durch die Rentenkürzungen kommt es nicht zu mehr Sicherheit, sondern zur Enteignung der Aufbaugeneration
und der Menschen, die heute noch fleißig in die Rentenkasse einzahlen. So viel zu den Strukturreformen. Sie
gehen alle zulasten der Menschen in unserem Lande.
({4})
Auch von einer Haushaltskonsolidierung sind wir
meilenweit entfernt. Im Gegenteil - es ist schon angesprochen worden -, der Haushalt ist verfassungswidrig,
weil die Regierung zu wenig investiert und den Staat
durch die gewaltigen Steuergeschenke immer weiter in
die Verschuldung treibt. Die alte und die neue Regierung
haben bewiesen, dass sie mit dem Geld der Steuerzahler
nicht ordentlich umgehen können und wollen.
({5})
- Selbstverständlich. - Zum Dreiklang sollten auch
Wachstumsimpulse gehören. Bei dieser niedrigen Investitionsrate ist von Wachstumsimpulsen aber nichts zu
spüren.
Meine Damen und Herren, sehr geehrte Gäste,
({6})
wir als Linke sagen ehrlich, dass auch wir für Umverteilung sind. Der Unterschied zu allen anderen Parteien besteht nur darin, dass wir die Richtung der Umverteilung
um 180 Grad ändern wollen. Das ist nötig in diesem
Land.
({7})
Das nehmen uns die Politiker der anderen Parteien und
ihre bestellten Professoren und Gutachter natürlich übel.
Wir als Linke wollen ein Zukunftsinvestitionsprogramm,
das diesen Namen wirklich verdient und durch das schon
heute Arbeitsplätze geschaffen werden.
Damit wirklich markante Wachstumsimpulse gesetzt
werden können, wollen wir die Investitionsausgaben
verdoppeln. Die Bundesregierung will lediglich 25 Milliarden Euro investieren. Das ist viel zu wenig.
({8})
Wir wollen im gleichen Zeitraum ein Zukunftsprogramm Jugend und Innovation in Höhe von 50 Milliarden Euro auflegen. Das ist immer noch weniger als die
jährliche Steuerentlastung von Unternehmen und Besserverdienenden. Ziehen Sie diesen Vergleich bitte
selbst.
({9})
Für die Zukunft unseres Landes wollen wir - das ist
nötig - mehr Mittel für die Bildung, nämlich
2 Milliarden Euro, wir wollen Mittel für unentgeltliche
Kindergärten und wir brauchen eine kommunale Investitionspauschale in Höhe von 1,5 Milliarden Euro, damit
die Kommunen wieder handlungsfähig werden. Das sind
unsere drei großen Ausgabeposten.
({10})
Diese Investitionen werden in Zukunft mehr Rendite für
die Menschen in diesem Land abwerfen als jede DAX2116
Aktie. Darauf können Sie heute schon Wetten abschließen.
({11})
Die Linke will Hartz IV überwinden. Dazu haben wir
Anträge eingebracht und Finanzierungsvorschläge auf
den Tisch gelegt. Hartz IV ist eine Fehlkonstruktion.
Dieses Gesetz führt zu Enteignung, Demotivation und
zur Drangsalierung von Arbeitslosen, ohne dass neue
Arbeitsplätze geschaffen werden. Dem stellen wir uns
entgegen.
({12})
Den Haushaltsentwurf, der von Herrn Steinbrück vorgelegt und von dem abgewählten Herrn Eichel erarbeitet
wurde, lehnen wir ab:
({13})
Erstens. Durch diesen Haushalt werden keine ausreichenden Wachstumsimpulse gesetzt und es wird zu wenig Geld in die Zukunft investiert. Die Linke will die Investitionen verdoppeln.
({14})
Zweitens. Die so genannten Arbeitsmarktreformen
verschlingen sehr viel Geld, ohne dass durch sie neue
Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Linke will
Hartz IV überwinden und nicht durch schlechte Reformen verschlimmbessern.
({15})
Drittens. Der Rüstungshaushalt ist der drittgrößte
Ausgabeposten dieser Regierung. Das verkennt die Bedrohungslage. Arbeitsplätze in der Bundesrepublik
Deutschland werden nicht durch die Taliban in Afghanistan, sondern durch eine falsche Wirtschafts- und
Finanzpolitik gefährdet. Sie gehört geändert.
({16})
Meine Damen und Herren, die finanzpolitischen
Handlungsspielräume der Regierung sind unter anderem
deshalb so eng, weil die alte wie die neue Regierung die
Sozialsysteme mit ihren Reformen zerstört haben bzw.
zerstören. Jetzt wundern sie sich, dass sie gigantische
Beträge aus dem Bundeshaushalt in diese Systeme pumpen müssen.
Ein wirkliches Desaster in diesem Zusammenhang ist
die systematische Zerlegung von versicherungspflichtigen Arbeitsplätzen in Minijobs.
({17})
Herr Steinbrück, Sie haben völlig zu Recht davon gesprochen, dass wir versicherungspflichtige Arbeitsplätze
brauchen, aber Sie haben den Unternehmen das Tranchierbesteck doch selbst in die Hand gegeben, um hochwertige Arbeitsplätze in Mc-Jobs zu zerlegen. Das ist
der wesentliche Grund für die riesigen Löcher in der
Rentenkasse.
({18})
Die große Koalition ist die Fortsetzung der rot-grünen
Umverteilungspolitik mit den gleichen Mitteln und den
gleichen Resultaten.
({19})
Abschließen möchte ich mit einem Zitat von Frau
Merkel aus ihrer Haushaltsrede im Jahr 2005:
Die Menschen in diesem Land sind auch ärmer geworden: ärmer an Hoffnung in eine Politik aus einem Guss durch diese Bundesregierung und - das
ist vielleicht das Bedrückendste - ärmer an Vertrauen in die Gestaltungskraft der Politik insgesamt.
Frau Merkel, seit Sie Kanzlerin sind, ist dieser Satz
aktueller denn je.
Vielen Dank.
({20})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Joachim Poß,
SPD-Fraktion.
({0})
Schönen guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Präsident Lammert, Sie begrüße ich
heute Morgen besonders freundlich, weil ich finde, dass
Sie Opfer einer üblen Kampagne der Zeitung mit den
großen Buchstaben sind.
({0})
Parteiübergreifend sind wir der Auffassung, dass sich die
Politik nicht alles gefallen lassen darf, wenn so gemobbt
wird wie hier im Einzelfall geschehen. Das ist auch nicht
der erste Fall.
({1})
Aber das ist nicht das Thema unserer heutigen Debatte. Thema ist der Entwurf des Bundeshaushaltes 2006. Die Rede von Peer Steinbrück hat deutlich
gemacht, dass die Leitlinie bei der Aufstellung des
Bundeshaushaltes 2006 die Frage war: Was ist in der aktuellen wirtschaftlichen Situation Deutschlands ökonomisch notwendig und vernünftig
({2})
und was sollte in dieser Lage eher unterbleiben? Ich
habe ihn so verstanden, dass sich vieles um diese Kernfrage gerankt hat.
Bereits in ihrem Wahlmanifest zur Bundestagswahl 2005 hat die SPD erhebliche staatliche Impulse zur
Unterstützung der wirtschaftlichen Aufwärtsbewegung
gefordert. Die Zustimmung des neuen KoalitionspartJoachim Poß
ners CDU/CSU in den Koalitionsverhandlungen zu dieser Politik hat zu dem Impulsprogramm für Wachstum und Beschäftigung in Höhe von 25 Milliarden Euro bzw. - einschließlich der Länder - 37 Milliarden Euro geführt. Die Finanzierung dieses Programms
wird, beginnend mit dem Bundeshaushalt 2006, in den
Haushalten der nächsten Jahre sichergestellt.
Die neue Koalition wird zur Belebung der wirtschaftlichen Entwicklung das tun, was möglich und sinnvoll
ist und was ein Staat machen kann, nämlich einen Beitrag leisten; mehr nicht. Im Gegensatz zu meiner Vorrednerin, die den Menschen in diesem Lande den Eindruck
vermitteln will, als könne der Staat einen Hebel umlegen
und dann seien über Nacht alle Probleme aus der Welt
geschaffen, erheben wir nicht diesen dogmatischen Anspruch. So etwas ist Volksverdummung; das muss man
einmal in aller Deutlichkeit sagen.
({3})
Die SPD als Partei der Aufklärung will diesen Zustand
der Verdummung überwinden und in diesem Parlament
dazu einen Beitrag leisten.
({4})
Mit dem Koalitionspartner konnte auch Einigung darüber erzielt werden, dass es ökonomisch notwendig und
damit vernünftig ist, im Haushaltsjahr 2006 auf weiter
gehende, harte Konsolidierungsschritte zu verzichten.
Die Gründe dafür hat Peer Steinbrück in seiner Rede erläutert.
Nun wissen wir, dass dies einer der Punkte war, die
auch in den Koalitionsverhandlungen eine große Rolle
gespielt haben und durchaus streitig waren. Wir sind zu
einem zufrieden stellenden Ergebnis gekommen, Kollege Meister. Deswegen sage ich zu Ihrer Formulierung,
wir hätten es bei diesem Haushaltsentwurf mit einem
Wendepunkt in der Finanzpolitik zu tun: Das kann nicht
gemeinsame Grundlage der Betrachtung sein.
({5})
Wir Sozialdemokraten sehen uns in der Kontinuität
der Finanzpolitik, die wir in den letzten sieben Jahren zu
verantworten hatten. Peer Steinbrück hat einen Bericht
des „Handelsblatts“ zitiert, wonach die Bundesbank
Herrn Eichel Recht gibt. Nun bin ich weiß Gott nicht an
jeder Stelle einig mit der Bundesbank;
({6})
aber wenn diese erklärt, das strukturelle Defizit im
Bundeshaushalt habe einen nachhaltigen Einbruch bei
den Einnahmen des Bundes als Ursache, so ist das im
Wesentlichen das, was wir immer gesagt haben. Abgesehen davon kritisiert die Bundesbank die große Koalition
durchaus immer wieder. Insofern ist sie schon zuverlässig; da können wir ganz ohne Sorge sein.
({7})
Ich wollte deutlich machen, dass man sich nicht irgendwelchen Trugschlüssen hingeben soll.
Zur Ehrlichkeit gehört doch auch, dass plötzlich in
der Öffentlichkeit manches als Gold empfunden wird,
das früher eher als schlecht galt. Die von Herrn
Steinbrück angesprochenen makroökonomischen Daten,
die in der Standortdebatte in der Bundesrepublik
Deutschland eine Rolle spielen, haben sich schließlich
nicht über Nacht geändert. Der Standort - das zeigt auch
der Jahreswirtschaftsbericht - wird jetzt viel freundlicher gesehen.
({8})
Ich glaube, auch das sollte nicht ausgeklammert werden.
Von einem Wendepunkt in der Finanzpolitik, Kollege
Meister, den Sie in Ihrer koalitionsfreundlichen Bemerkung angesprochen haben, kann jedenfalls nicht die
Rede sein. Das will ich für die SPD deutlich sagen.
({9})
Die Vorstellung, die auch von der Bundesbank, von
der FDP und heute Morgen von dem Kollegen Kuhn in
n-tv genährt wurde - ich will nicht auf Einzelvorschläge
eingehen, Kollege Kuhn, aber vieles, was Sie in n-tv angesprochen haben, waren Luftbuchungen -, man könne
in 2006 zusätzliche Einsparungen in Höhe von 6 Milliarden bis 8 Milliarden oder wie hoch auch immer erzielen,
ohne die beginnende wirtschaftliche Aufwärtsbewegung
wieder zu bremsen, ist irrig. Deswegen haben wir uns
auf das von mir erwähnte Konzept verständigt.
({10})
Natürlich wäre es gut - das ist doch unbestritten -,
wenn es uns schon in diesem Jahr gelingen würde, die
Defizitgrenze von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
zu unterschreiten. Aber das wäre - wie der Finanzminister zu Recht festgestellt hat - nur bei nachhaltigen Einschnitten in die sozialen Transferleistungen wie der
Rente oder durch ein Vorziehen der Mehrwertsteuererhöhung möglich. Letzteres wäre rein rechnerisch eine
Alternative, aber angesichts der teilweise sicherlich berechtigten Kritik an dieser Maßnahme will das wohl niemand in diesem Lande. Beides macht ökonomisch keinen Sinn; denn unser Hauptproblem ist bekanntlich
immer noch die Binnenkonjunktur, die sich in diesem
Jahr stabilisieren soll.
Der harte Winter hat die Lage nicht vereinfacht. Wenn
jetzt die Zahlen für das erste Quartal vorgelegt werden,
müssen wir das realistisch sehen.
({11})
- Wir hatten aber einen harten Winter, der sich nicht nur
auf den Baubereich, Kollege Kuhn, sondern auch auf
vieles drumherum auswirkt.
Die Binnennachfrage muss gestärkt werden, anstatt
dieses Ziel durch staatlich verordneten Kaufkraftentzug
zu konterkarieren. Das wäre der falsche Weg. Deswegen
suchen wir sozusagen den Weg der ökonomischen Vernunft in der Mitte.
({12})
Dabei ist der Zusammenhang zwischen diesem Haushaltsjahr 2006 und den Folgejahren - insbesondere dem
Jahr 2007 - ganz klar. Wir brauchen das Jahr 2006, um
der wirtschaftlichen Aufwärtsbewegung in Deutschland
Stärke und Stabilität zu verschaffen. Erst dann wird die
Mehrwertsteuererhöhung ökonomisch verkraftbar sein.
Der vorliegende Haushaltsplanentwurf bietet genau
die Haushaltspolitik, die zu der derzeitigen wirtschaftlichen Situation Deutschlands passt. Trotzdem wahrt dieser Haushalt Ausgabendisziplin. Denn angesichts einer
Steigerung der Gesamtausgaben von 0,7 Prozent wird
doch niemand infrage stellen, dass wir restriktiv vorgehen - so restriktiv, wie es die aktuelle ökonomische Lage
gerade noch zulässt. Der Kollege Meister hat es etwas
anders formuliert.
({13})
- In dem Fall wollte ich ihm gar nicht widersprechen,
Herr Kampeter.
({14})
Ich will es so ausdrücken: Wir stehen vor einer komplizierten Dreifachaufgabe. Wir müssen die Stärkung der
Binnenkonjunktur mit der Finanzierung von Zukunftsaufgaben und einer glaubwürdigen Haushaltskonsolidierung verbinden, und zwar alles gleichzeitig. Die
Parteien, die meinen, wir bräuchten nur die Haushaltskonsolidierung zu bewältigen, oder die meinen, es sei
damit getan, die Binnenkonjunktur anzukurbeln, greifen
zu kurz. Sie werden der ökonomischen und sozialen
Lage dieses Landes nicht gerecht. Unsere Antwort auf
die bestehenden Probleme hingegen ist ökonomisch und
sozial richtig.
({15})
Der Weg zu einer dauerhaften Rückführung der Kreditaufnahme des Bundes wird bereits beschritten: mit
dem Haushaltsbegleitgesetz 2006, das die Erhöhung der
Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte vorsieht; mit der
seit Dezember realisierten Abschaffung von nicht mehr
gerechtfertigten Steuervergünstigungen und Steuergestaltungsmöglichkeiten; mit dem, was noch kommen
und was uns nicht nur Freude machen wird - Stichwort
„Steueränderungsgesetz“; es enthält sicherlich einige
Dinge, die die Öffentlichkeit bewegen werden -;
schließlich mit dem Bundeshaushalt 2007, der Anfang
Juli dieses Jahres vom Bundeskabinett beschlossen wird.
Damit wird die jährliche Kreditaufnahme des Bundes ab dem Jahre 2007 auf Dauer die von Art. 115 des
Grundgesetzes vorgegebene Obergrenze unterschreiten.
Das hat Kollege Meister ausreichend dargelegt. Herr
Koppelin, machen Sie doch die Bürgerinnen und Bürger
mit solchen Begriffen wie „verfassungswidriger Haushalt“ nicht närrisch! Das, was Sie hier machen, ist falsch
und irreführend. Natürlich legen wir einen Haushalt
nach den Regeln unseres Grundgesetzes vor, nichts anderes.
({16})
Mit dieser Strategie, diesem Policy Mix, erreichen wir
einen bemerkenswerten Erfolg; denn auf absehbare Zeit
wird der Bund weiterhin enorme Beträge insbesondere
für die Alterssicherung, die europäische Integration und
die Überwindung der Folgen der deutschen Teilung bereitstellen müssen und auch bereitstellen wollen. Das ist
hoffentlich unser gemeinsamer Wille in diesem Hause.
Wer jetzt meint, die Verschuldung des Bundes müsse
- und vor allen Dingen könne - in wenigen Jahren auf
null zurückgeführt werden, der verkennt die realen Anforderungen oder betreibt die Durchsetzung eines anderen Gesellschaftsmodells.
({17})
Wer die solidarischen Sicherungssysteme in der Konsequenz kaputt machen will und so den Staat auf einen reinen Nachtwächterstaat reduzieren möchte, der mag einen ausgeglichenen Haushalt für kurzfristig erreichbar
halten. Aber das ist nicht die Politik der SPD und, so
denke ich, auch nicht die der großen Koalition.
Der von der großen Koalition bereits seit dem letzten
Jahr eingeschlagene haushaltspolitische Weg sorgt nicht
nur dafür, dass die Regelgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes ab dem Jahre 2007 erreicht wird. Ab dem Jahre
2007 werden wir vielmehr auch die Vorgaben des
Maastrichtvertrages einhalten. Daher gibt es keinen
Grund, das Haushaltsdefizit 2006 als zu hoch zu kritisieren.
Mit knapp 120 Milliarden Euro verwaltet das Bundesministerium für Arbeit und Soziales 46 Prozent des gesamten Haushaltsvolumens. Die Vereinbarungen, die die
Minister Müntefering und Steinbrück getroffen haben,
sind damit ein prägendes Element des gesamten Haushaltsentwurfs. Nach meinem Dafürhalten sind die getroffenen Vereinbarungen gelungen und stellen einen
sehr guten Ausgleich zwischen ökonomischen, sozialund gesellschaftspolitischen sowie fiskalischen Erfordernissen dar. Die beschlossene Senkung des Rentenversicherungsbeitrags für Arbeitslosengeld-II-Empfänger
von 78 Euro auf 40 Euro findet mit gutem Grund noch
nicht im laufenden Jahr 2006, sondern erst zum 1. Januar
2007 statt. Ansonsten hätte der Rentenversicherungsbeitrag von derzeit 19,5 Prozent bereits im laufenden Jahr
leicht angehoben werden müssen.
Ab dem laufenden Jahr soll es zudem den bisherigen
Bundeszuschuss an die Bundesagentur für Arbeit zur
Defizitdeckung nicht mehr geben. Hierdurch und durch
die Vereinbarung, den Arbeitslosenversicherungsbeitrag
um 2 Prozentpunkte zu senken, wird erheblicher Druck
auf die Bundesagentur für Arbeit ausgeübt, ihre Instrumente und Leistungen scharf zu bewerten sowie massive
Effizienzsteigerungen zu erwirtschaften. Die finanzielle
Luft für die Bundesagentur für Arbeit ist auf absehbare
Zeit sehr dünn geworden. Da ich für Ehrlichkeit bin,
spreche ich auch an dieser Stelle aus, was die reale
Situation ist. Hier gehen also die Konsolidierungsbestrebungen ebenfalls bis an die Grenze des Möglichen und
des Akzeptablen.
Im Zusammenhang mit dem Etat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales wurde in den Medien noch
die Frage eines eventuellen Finanzierungsbedarfs beim
Bundeszuschuss zur Rentenversicherung für 2008 aufgeworfen. Ob die in die Modellrechnungen des Rentenversicherungsberichts eingestellte Erhöhung des Bundeszuschusses im Jahre 2008 - das sind rund 600 Millionen
Euro - überhaupt erforderlich sein wird, wird erst im
Jahre 2007 zu entscheiden sein. Dann können wir auch
die wirtschaftliche Entwicklung in 2008 in ihrem Einfluss auf die Rentenfinanzen viel besser abschätzen.
Hier ist zudem ein schwieriger Abwägungsprozess
angesprochen, der sich auf absehbare Zeit bei der Aufstellung jedes Haushalts ergibt und der uns teilweise - je
nachdem, ob wir Finanz- und Haushaltspolitiker sind
oder uns als Sozialpolitiker verstehen - hin und her reißen wird: In der Größenordnung von 80 Milliarden Euro
fließen jedes Jahr aus dem Bundeshaushalt Zuschüsse in
die sozialen Sicherungssysteme, vor allem in die gesetzliche Rentenversicherung. Damit ist der größte Ausgabenblock im Bundesetat beschrieben. Eine Reduktion
dieser Zuschüsse würde zwar zu einer geringeren Neuverschuldung führen, aber gleichzeitig einen entsprechenden Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge nach
sich ziehen. Bei der Entscheidung über die Höhe der
Bundeszuschüsse, die in die Sozialkassen fließen, gibt es
also eine echte Zielkonkurrenz: zwischen der gewünschten und notwendigen Senkung der Nettokreditaufnahme
und der gewünschten Stabilisierung bzw. Senkung der
Sozialversicherungsbeiträge.
Bei der Abwägung dieser beiden Ziele hat die Bundesregierung entsprechend dem Koalitionsvertrag in das
Haushaltsbegleitgesetz 2006 den stufenweisen Abbau
des Bundeszuschusses an die gesetzliche Krankenversicherung aufgenommen. Die Reduktion dieses Zuschusses beginnt allerdings noch nicht im laufenden Jahr, sondern erst im nächsten.
({18})
- Ja, Herr Kuhn, man muss eben Prioritäten setzen. Wir
wollen, der finanzpolitischen Glaubwürdigkeit wegen,
die genannten Ziele in 2007 erreichen, mit Blick auf das
Grundgesetz, mit Blick auf die Maastrichtkriterien und,
so muss ich hinzufügen, mit Blick auf die Finanzmärkte,
weil Deutschland als größte Volkswirtschaft der Europäischen Union große Bedeutung für die Finanzmärkte
hat.
({19})
Deswegen ist es richtig, die Priorität bei der Haushaltskonsolidierung zu setzen. Man muss sich entscheiden.
({20})
Man kann dieser Frage nicht ausweichen; man muss zumindest zeitlich Prioritäten setzen. Diese Konflikte, mit
denen wir es zu tun haben, wollte ich hier ganz offen beschreiben, und wie wir sie, jedenfalls kurzfristig, gelöst
haben.
Andererseits wird dadurch der Reformdruck bei der
gesetzlichen Krankenversicherung bzw. im Gesundheitssystem enorm erhöht. Deswegen ist das Projekt der Gesundheitsreform von herausgehobener Bedeutung. Wir
werden in den nächsten Wochen jede Einzelmaßnahme
des Haushaltsbegleitgesetzes 2006 auch in den einzelnen
Fachausschüssen eingehend diskutieren. Ich bin ganz sicher, dass wir für alle Punkte Lösungen finden werden,
die auf der einen Seite den Konsolidierungserfordernissen gerecht werden, aber gleichzeitig nicht zu einer
Überforderung der Betroffenen führen werden.
Wohl wissend um die Vorgeschichte der Mehrwertsteuererhöhung und wohl wissend, was meine Partei
und auch ich persönlich in diesem Zusammenhang an
Aussagen getroffen haben, halte ich eines für unerträglich: die Art und Weise, wie die FDP sich in der Debatte
über die Mehrwertsteuererhöhung in Szene setzt. Diese
Kampagne ist schwer erträglich.
({21})
Das ist nämlich das einzige politische Thema, das der
FDP geblieben ist.
({22})
Das ist übrigens auch das Gute an den Wahlergebnissen
vom letzten Sonntag:
({23})
Das Erpressungspotenzial, das Sie sich versprochen haben davon, dass Sie da, wo Sie mitregieren, auf den Ministerpräsidenten Einfluss nehmen können, steht Ihnen
nicht länger zur Verfügung.
({24})
Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Koppelin?
Natürlich.
Herr Kollege Poß, ich will mich mit Ihnen gar nicht in
der Sache streiten, ich greife nur auf, was Sie als „Kampagne“ der FDP bezeichnen. Waren denn die Wahlkampfplakate der SPD im Bundestagswahlkampf oder
die entsprechenden Flugblätter - ich habe einige davon
hier zur Hand -, auf denen Sie eine mögliche Mehrwertsteuererhöhung geißeln, keine Kampagne?
Das war Gegenstand der Wahlauseinandersetzung des
Jahres 2005.
({0})
Ich habe eben selbst gesagt - und Sie können das als
Wahlkampagne bezeichnen -: Davon ist überhaupt
nichts zurückzunehmen, das ist Teil der politischen Auseinandersetzung im Bundestagswahlkampf gewesen,
Herr Koppelin.
({1})
Was Sie, Herr Kollege Koppelin, hier in Kenntnis der
damaligen finanzpolitischen Einschätzung des Jahres
2005 und des Jahres 2006 machen, ist nicht richtig.
({2})
Sie wissen, dass zu diesem Zeitpunkt die Belastungen
durch Hartz IV noch nicht bekannt waren. Die Zahlen
sind im Wesentlichen in den Monaten September bis November aufgewachsen. Herr Koppelin, es ist nicht zu
rechtfertigen, dass Sie sich mit diesem Einwand, den ich
durchaus ernst nehme, als FDP im wahrsten Sinne des
Wortes auf eine Einpunktpartei reduzieren und diese
Maßnahme attackieren.
Sie werden vor allem Ihrem Verständnis als Sachwalter des Mittelstandes nicht gerecht. Sie erreichen keine
Vertrauensbildung, die notwendig wäre, um die Binnenkonjunktur zu beleben, sondern genau das Gegenteil.
Sie, Herr Koppelin, versündigen sich mit dieser Kampagne an den Interessen des Mittelstandes.
({3})
Ich bin froh, dass Ihr Einfluss durch die Wahlergebnisse des letzten Sonntags stärker beschnitten wurde.
Ähnlich agiert auch die so genannte Linkspartei bzw.
PDS, auch in den beiden Landesregierungen, an denen
sie beteiligt ist. Auch das ist - das sage ich deutlich - unerträglich und nicht hinnehmbar.
Die Mehrwertsteuererhöhung hat nicht nur für den
Bund eine Bedeutung. Es geht doch darum, dass wir auf
gesamtstaatlicher Ebene einen föderalen Finanzpakt hinbekommen, der Bund, Länder und Kommunen umfasst.
Von diesem Geist ist der Koalitionsvertrag beseelt. Wir
können das in dieser Konstellation auch schaffen. Von
dieser Mehrwertsteuererhöhung - das müssen Sie, die
Sie in einigen Ländern mit an der Regierung sind, auch
sagen - profitieren auch die Länder. Die haben Einnahmen dringend nötig. Schauen Sie sich an, welche Aufgaben in den Ländern zu finanzieren sind!
Selbst wenn man diese sicherlich unpopuläre Maßnahme der Mehrwertsteuererhöhung in Rechnung stellt,
wissen wir, dass wir, was die hier schon diskutierte Regelgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes, also das Verhältnis von Krediten zu Investitionen, betrifft, nur um
wenige hundert Millionen Euro in der sicheren Zone liegen.
({4})
Deswegen gilt: Trotz Mehrwertsteuererhöhung und
trotz des Haushaltsbegleitgesetzes können wir in den
nächsten Jahren an keiner Stelle draufsatteln. Das betrifft
die großen Projekte, die diskutiert werden. Die Gesundheitspolitik wurde schon genannt, ebenso die Unternehmensteuerreform. Bund und Länder haben kein zusätzliches Geld, um die Senkung der Unternehmensteuern zu
finanzieren. Nettoentlastungen kann es nicht geben. Das
ist eine wesentliche Rahmenbedingung für die Unternehmensteuerreform.
({5})
Herr Kollege, würden Sie Ihren letzten Satz jetzt anfangen?
Wir müssen alles tun - nicht nur im Interesse des
Bundes, sondern auch im Interesse der Investitionsfähigkeit der Kommunen; wir haben für diese schon einiges
mit der Stabilisierung der Gewerbesteuer getan -, damit
mehr investiert wird und Arbeitsplätze bei kleinen und
mittleren Unternehmen gesichert werden. Dazu haben
wir uns in der großen Koalition verpflichtet. Ich bin vom
Erfolg dieses Weges überzeugt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Poß, an der Tatsache, dass Sie so lange
über die Mehrwertsteuer gesprochen haben, merkt man
richtig, dass Sie damit Verdauungsprobleme haben. Das
Scharmützel, das Sie mit der FDP geführt haben, war ein
komplettes Eigentor. Das hätten Sie sich schenken können.
({0})
Ich möchte nicht nur auf den Haushalt 2006 eingehen,
sondern auch auf Sie, Herr Steinbrück, unseren Finanzminister. Wir Hamburgerinnen und Hamburger kennen
Sie als sehr sachlichen Menschen.
({1})
Die anderen kennen ihn auch so. Sie äußern immer den
Wunsch nach Klartext. Da muss ich ganz schlicht anfangen. Klartext im Haushalt 2006 heißt: 38 Milliarden
Euro Nettokreditaufnahme. Das sind 7 Milliarden
mehr als im Jahr 2005. Herr Meister, ich schaue Sie an.
Sie haben in Ihrer Rede versprochen, heute sei der Tag,
an dem ein anderer Weg in der Haushaltspolitik in Richtung Konsolidierung beschritten werde.
({2})
Ich muss sagen: 7 Milliarden Euro mehr im Jahr 2006
als im Jahr 2005, in dem die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Situation viel schwieriger war, ist kein
Ausweis von Haushaltskonsolidierung. Das ist leichtfertiges Schuldenmachen auf Kosten der jungen Generation.
({3})
Ich wähle bewusst so ein hartes Wort. Sie müssen
nämlich einmal bedenken, welche „Gunstfaktoren“ auf
Ihrer Seite sind: Sie haben das bessere Wachstum und
eine stabilere wirtschaftliche Erholung, auf die Sie ganz
stolz sind - Stichwort „Merkel-Aufschwung“ -, Sie haben bessere Steuereinnahmen, Sie haben in diesem Jahr
einen höheren Bundesbankgewinn. Trotzdem treiben Sie
die Schulden in die Höhe. Sie mogeln sich über das Jahr
2006 hinweg. Man merkt es der großen Koalition auch
an: Am liebsten wollen Sie immer über das Jahr 2007 reden, wenn Sie über den Haushalt sprechen; denn das
Jahr 2006 wird verschenkt.
({4})
Das Argument „Stärkung der Konjunktur“ möchte ich
nicht übergehen. Der Bundesbankpräsident, Axel Weber,
hat in einer Sitzung des Haushaltsausschusses mit sehr
vornehmen und nüchternen Worten davon gesprochen,
dass die Konjunktur schon auf zwei Zylindern läuft:
Nicht nur der Export, sondern auch die Ausrüstungsinvestitionen ziehen an.
({5})
Deswegen wäre es sinnvoll und notwendig, in 2006 bei
gutem Wachstum die Schulden nicht derart hoch zu treiben und in 2007 die Mehrwertsteuer nicht so drastisch zu
erhöhen, wo doch die Wachstumsprognose für 2007 im
Vergleich zu 2006 schon jetzt schlechter ist. So wie Sie
vorzugehen, ist nicht nur haushaltspolitisch unseriös,
sondern auch wirtschaftspolitisch inkonsequent, verkehrt und riskant.
({6})
Herr Steinbrück, ich möchte noch auf eines Ihrer Argumente eingehen. Leider kann ich Sie nicht anschauen,
weil mir jemand im Wege steht. - Kann sich der Kollege
bitte setzen?
Herr Kollege Fischer ({0}), Gespräche an der
Regierungsbank sind sicherlich immer sehr interessant,
aber behindern manchmal die Kommunikation.
Herr Steinbrück, ich halte die sachliche Erwägung
auch in der Haushaltspolitik für notwendig und richtig.
Wir Grünen gehören nicht zu denjenigen, die sagen: Wir
nehmen eben einmal 5 Milliarden, 10 Milliarden oder
15 Milliarden Euro aus dem Haushalt heraus; dann ist er
verfassungskonform; das geht ganz einfach. Das wäre
uns zu billig. Deswegen will ich Sie nicht dafür kritisieren, dass Sie nicht eben mal 15 Milliarden Euro weniger
Schulden machen. Wenn Sie aber sagen: „Brachiales
Vorgehen beim Einsparen verunsichert die Menschen
und zerstört das Vertrauen in die Politik“, dann muss ich
Sie schon fragen: Was haben Sie eigentlich am 1. Januar
2007 vor, wenn die Mehrwertsteuer auf einen Schlag um
3 Prozentpunkte erhöht wird? Das passt nicht zusammen: einerseits brachiale Vorschläge ablehnen und andererseits mit dem Hammer auf die Konjunktur einschlagen. Das ist keine gute Argumentation und keine
vertrauensvolle Politik.
({0})
Ich möchte nun auf die Haushaltspolitik der großen
Koalition eingehen, auch gemessen an den eigenen
Maßstäben, die Sie - ich würde sogar sagen: zu Recht formuliert haben. Ich darf aus der Vorlage des Finanzministers zum Bundeshaushalt zitieren:
Mittelfristig muss es daher gelingen, einen ausgeglichenen Gesamtstaatshaushalt vorzulegen.
Dies wird insbesondere begründet mit der Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen. Sie sagten an anderer Stelle in einer Grundsatzrede:
Unumstößliche Geschäftsgrundlage der großen
Koalition ist der Erfolg bei der Haushaltskonsolidierung.
Diese Maßstäbe lege ich jetzt einmal an Ihre Finanzplanung an; schließlich macht es Sinn, Haushaltspolitik
nicht nur jährlich zu betrachten. Ich stelle Folgendes
fest: In der Finanzplanung von 2006 bis 2009 ist auf der
steuerlichen Seite eine deutliche Erhöhung vorgesehen.
Das ist hier schon vielfach erwähnt worden. Sie haben
von einem Kraftakt in der Haushaltskonsolidierung gesprochen. Dazu sage ich Ihnen: Es ist kein Kraftakt,
wenn man Haushaltskonsolidierung so einseitig auf der
Steuereinnahmenseite betreibt wie Sie. Aber trotz der
massiven Steuererhöhungen gelingt es Ihnen nicht, die
Nettokreditaufnahme ab 2007 über vier Jahre hinweg
abzusenken.
({1})
Sie bleiben stabil knapp an der Grenze, die die Verfassung vorgibt. Die Investitionsquote dagegen sinkt stetig
Jahr für Jahr. Das ist keine Finanzplanung, die im Interesse kommender Generationen ist. Das ist keine Finanzplanung, die dieser großen Koalition überhaupt die Perspektive einer mittelfristigen Konsolidierung des
Haushalts gibt. Das sind Ihre Zahlen. Das ist ein Armutszeugnis.
({2})
Wir haben die Haushaltsberatungen vor uns. Wenn es
in diesem Jahr „Gunstfaktoren“ gibt, etwa bessere
Steuereinnahmen - ich habe auch schon auf den Bundesbankgewinn und auf die wirtschaftliche Erholung hingewiesen -, dann können wir - davon bin ich überzeugt mit einer geringeren Nettokreditaufnahme auskommen.
Ich sage das auch mit Blick auf das Maastrichtkriterium
und auf die EU.
Ich denke da weiter an Ihre Äußerung, Herr
Steinbrück, zum Politikstil. Man soll Maß halten und
man soll auch einmal etwas durchargumentieren. Zum
Maß im Ton gehört ebenfalls Aufrichtigkeit, die ich jetzt
keinesfalls grundsätzlich infrage stellen will. Aber Sie
haben gesagt: Deutschland trägt Verantwortung dafür,
dass wir den reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht beschädigen. - Dieser Pakt ist durchaus unter
maßgeblichem Einfluss von Rot-Grün in der Weise reformiert worden, dass er stärker auf die Wachstumsdynamik bzw. auf mangelnde Wachstumsdynamik Rücksicht
nehmen soll. Wenn wir über die gesamte Finanzplanung
mit 1,5 Prozent auf der Höhe unseres Potenzialwachstums liegen - dieses Argument habe ich vorhin schon
strapaziert -, dann frage ich Sie: Wann haben wir eigentlich die guten Zeiten, in denen man sich im Sinne des reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakts um mehr
Konsolidierung bemühen sollte?
({3})
Auch hierzu ein Zitat. Das Bundesfinanzministerium
hat den Haushaltsausschuss mit einem Ex-post Bericht
zum Ecofin-Rat vom 14. März dieses Jahres unterrichtet.
Im Kernpunktepapier werden die aus Sicht des EcofinRats prioritären wirtschaftspolitischen Aktionsfelder für
2006 formuliert. Ganz oben steht: „Nutzung der wirtschaftlichen Erholung zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte“. Sie machen in diesem Jahr das Gegenteil. Die große Koalition genehmigt sich am Anfang
ihrer Regierungszeit einen kräftigen Schluck aus der
Pulle. Das ist wirtschaftspolitisch nicht zu erklären.
({4})
- Nein, Herr Poß. Sie sind nicht richtig im Zeitrhythmus.
Das ist Ihr Problem.
({5})
Sie sind auch nicht richtig im Argumentationsrhythmus.
Das ist Ihr nächstes Problem.
({6})
Ich möchte noch etwas sagen, was mir wichtig ist.
Die EU erwartet von uns selbstverständlich - das wird
durch die Blume gesagt -, dass wir uns an den Pakt halten und unser strukturelles Defizit in 0,5-ProzentSchritten abbauen. Wir werden es in diesem Jahr leider
nicht abbauen. Sie streben es jedenfalls nicht an. Wir
Grüne halten das 3-Prozent-Kriterium in diesem Jahr für
einhaltbar. Wir sind da in guter Gesellschaft.
({7})
Mittlerweile gibt es kaum noch Leute, die glauben, man
könne die 3-Prozent-Grenze nicht einhalten - es sei
denn, man besteht auf einer so hohen Nettokreditaufnahme, wie sie die große Koalition will.
Ich komme nicht umhin, nur eine Interpretation dazu,
dass Sie so viel Wert darauf legen, Herr Finanzminister,
sich durch die EU in Verzug setzen zu lassen, als stichhaltig zu empfinden. Sie lassen sich durch die EU-Kommission in Verzug setzen, weil Sie ein Druckmittel
gegen ihr politisches Umfeld brauchen, damit die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte nicht wieder gekippt wird.
({8})
So sieht es nämlich aus! Damit die Mehrwertsteuererhöhung nicht verhindert wird, brauchen Sie dieses taktische Manöver nach dem Motto: Damit mir die Leute
nicht von der Fahne gehen, wenn es uns in 2006 wieder
besser geht, lasse ich mich jetzt, bevor ich im Juli den
2007er Haushalt unter Dach und Fach habe, durch die
EU in Verzug setzen. - Wenn das nämlich nicht eingehalten wird, muss jemand 10 Milliarden Euro bereitstellen. So halten Sie die Kritiker klein. Ich betrachte das als
ein fahrlässiges Manöver. Es ist auch nicht redlich vor
dem Hintergrund des Stabilitäts- und Wachstumspaktes.
({9})
Ich möchte zu einem nächsten Punkt kommen, zur
Struktur des Haushalts. Eine kleine Vorbemerkung noch
zu dem Wachstumsprogramm. Ein Wachstums- und
Konjunkturprogramm, wie es die Koalition mit einem
Volumen von 25 Milliarden Euro aufgelegt hat, wird für
unabdingbar gehalten.
({10})
Ich würde sagen, lassen wir die Kirche im Dorf.
25 Milliarden Euro bedeuten 6 Milliarden Euro im Jahr
und 3,5 Milliarden Euro in diesem Jahr; das sind
0,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Darüber, dass
das keine Konjunkturbombe ist, sind wir uns sicher einig; das ist Blödsinn.
({11})
Wenn das jedoch kein Konjunkturprogramm ist, sondern, wie der Finanzminister sagt, ein strukturelles Programm - auch Herr Kampeter hat das jetzt als Vokabel
drauf -, dann muss dieses durch Prioritätenneusetzung
und darf nicht durch höhere Neuverschuldung finanziert
werden; denn sonst setzen Sie die höhere Neuverschuldung strukturell fort. Das ist ein Widerspruch, der auch
aufzeigt, dass Sie hier keine klare Linie verfolgen.
({12})
Grundsätzlich finde ich es aber gut, dass Sie in der
großen Koalition - da will ich insbesondere die SPD und
den Finanzminister loben - offen dafür argumentieren
und in der Öffentlichkeit dafür werben, zu verstehen,
dass wir in erster Linie kein Ausgabenproblem haben.
Das ist eine alte Mär, die die Union früher, häufig mit
der FDP zusammen, verbreitet hat, dass nämlich die Unwucht in den öffentlichen Finanzen durch die Ausgabenseite bedingt sei. Da folge ich Ihnen, Herr Finanzminister; das ist nicht das grundsätzliche Problem, sondern
eher die Einnahmeseite. Richtig ist auch, dass wir im
Haushalt eine Strukturveränderung brauchen. Wir müssen sehen, wie viel Mittel gebunden sind und wie viel
wir umschichten können, gerade mit Blick auf Zukunftsherausforderungen und Innovation.
Wir finden manches gut, was fortgesetzt wird. Das
CO2-Gebäudesanierungsprogramm haben wir Grünen
mit angestoßen. Dass Sie für dieses Programm jetzt das
Volumen erhöhen, findet nicht unsere Kritik, sondern
unsere Unterstützung.
Wir finden auch gut, dass Sie die Strategie verfolgen,
die Forschungsmittel zu erhöhen. Aber eines kann ich
dann nicht verstehen; es macht deutlich, dass Sie in einem sehr wichtigen Modernisierungsbereich keine klare
Linie haben. Wenn Sie die Forschungsmittel erhöhen,
wenn Sie Bildung und Forschung für so wichtig halten,
dass dieser Bereich durch öffentliche Finanzen und
durch den Bundeshaushalt in Zukunft erfolgreich finanziert werden soll, dann müssen Sie die Föderalismusreform, die Sie durch den Bundestag bringen wollen,
dringend ändern; sonst werden Sie das Modernisierungspotenzial, das wir brauchen, nicht mehr aus dem Bundeshaushalt bedienen können.
({13})
Das ist ein eklatanter Mangel angesichts eines dringlichen Modernisierungsdefizits der Gesellschaft.
Leider gibt es in der Haushaltspolitik der großen Koalition noch ein Strukturproblem. Es kreist darum, dass
die Renten und die Altersversorgung in diesem Haushalt einen großen Anteil ausmachen. Ich möchte, da es
um Stilfragen, um Maß und Offenheit geht, deutlich dafür werben, dass Sie nicht verbreiten, Sie würden es mit
Ihren jetzigen Vorschlägen schaffen, die Rentenentwicklung im Haushalt zu dämpfen, indem Sie behaupten, im
Durchschnitt der letzten zehn Jahre hätte es bei der Rentenentwicklung 6-prozentige Steigerungen gegeben und
Sie würden die Steigerungen auf 1 Prozent senken. Das
ist Volksverdummung; das sage ich ganz klar. Die 6-prozentigen Steigerungen in den letzten zehn Jahren waren
durch die rot-grüne Strategie bedingt, durch Ökosteuermittel gleichzeitig den Beitragssatz abzusenken. Deswegen haben wir vor der Wahl versprochen und nach der
Wahl gehalten, dass Steuermittel in die Rentenfinanzierung fließen. Das hat bis 2003 regelmäßig Steigerungen
zur Folge gehabt.
({14})
Schon seit 2003 gibt es nur noch eine leichte Aufwärtsentwicklung des Rentenanteils im Haushalt von rund
1 Prozent.
Wenn Sie jetzt behaupten, Sie dämpfen die Rentenentwicklung, dann müssen Sie auch den Nachweis erbringen. Sie aber legen lediglich ein Haushaltsbegleitgesetz vor, das eine Kürzung des Rentenzuschusses mit
einem Volumen von 77 Milliarden Euro um 340 Millionen Euro vorsieht. Jetzt könnte man meinen, dies hätten
Sie mit dem Dämpfen des Zuwachses bei der Rente gemeint. Aber hier handelt es sich nur um einen schlechten
Verschiebebahnhof; denn diese Dämpfung finanzieren
Sie, indem Sie die Sozialversicherungsbeiträge bei der
geringfügigen Beschäftigung von 25 auf 30 Prozent erhöhen. Das ist keine kluge Einsparstrategie; das ist beschäftigungspolitischer Unsinn.
({15})
Dass Sie den engen Zusammenhang zwischen Beschäftigungsförderung und Haushaltskonsolidierung
nicht sehen, ist ein gutes Beispiel dafür, dass die große
Koalition ein großes strategisches Problem in der Haushaltspolitik hat. Jeder hier weiß: Man wird den Haushalt
und die öffentlichen Finanzen in Deutschland nicht konsolidieren können, wenn es nicht mehr Beschäftigung
gibt.
Man muss sich einmal anschauen, was Sie machen.
Ich habe vorhin schon ein Beispiel für die Ausgabenkonsolidierung genannt. Sie rühmen sich teilweise, dass
Sie in den nächsten Jahren die Ausgaben um 30 Milliarden Euro verringern würden. Der größte Teil davon, über
20 Milliarden Euro, sind steuerliche Einsparungen bei
der Krankenversicherung und bei der Rentenversicherung. Sie betreiben einen reinen Verschiebebahnhof, der
zulasten der Beitragssätze der Rentenversicherung und
der Krankenversicherung geht. Dieser Verschiebebahnhof geht daher zulasten der Beschäftigungschancen.
Diese Politik ist ohne Perspektive und weist in die falsche Richtung.
({16})
Sie wollen mit der Senkung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 4,5 Prozent das Ziel
verfolgen, bei den Lohnnebenkosten auf eine Quote
von unter 40 Prozent zu kommen. Wir Grünen sehen das
Verfolgen dieses Ziels als notwendig an. Aber Sie werden da nie landen; das sehen wir schon heute.
Der eine Prozentpunkt der Beitragsabsenkung bei der
Arbeitslosenversicherung beruht auf der rot-grünen Reformdividende. Es sei Ihnen gegönnt, dass Sie der Bundesagentur für Arbeit keinen Zuschuss mehr zahlen müssen. Wir ärgern uns nicht über das, was wir gemeinsam
richtig gemacht haben. Aber der andere Prozentpunkt
wird durch die Mehrwertsteuererhöhung finanziert.
Gleichzeitig müssen Sie den Rentenversicherungsbeitrag
wegen Ihrer falschen Sparvorschläge um 0,4 Prozentpunkte erhöhen und gleichzeitig legt die Kollegin
Schmidt den Haushältern in den Beratungen Folgendes
vor - das darf nicht unerwähnt bleiben -:
Die GKV wird durch die Absenkung des pauschalen Bundeszuschusses
- es geht um bis zu 4,2 Milliarden Euro pro Jahr für die versicherungsfremden Leistungen sowie die
Erhöhung der Mehrwertsteuer für Arzneimittel und
weitere Medizinprodukte um jährlich 5 Milliarden
Euro belastet ({17}). Damit
droht der GKV - trotz der vom Deutschen Bundestag … am 17. Februar 2006 beschlossenen kurzfristig wirksamen Maßnahmen des Gesetzes zur
Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung - bereits ab 2007 eine erneute Defizitentwicklung.
Wenn wir zu diesem Beitragssatzrisiko von 0,5 Prozentpunkten die Steigerung der Beiträge in der Rentenversicherung um 0,4 Prozentpunkte und das Risiko in
der Pflegeversicherung hinzurechnen, dann haben wir
schon heute eine Egalisierung der durch die Mehrwertsteuererhöhung finanzierten Beitragssatzsenkung in der
Arbeitslosenversicherung. Mit Blick auf die Lohnnebenkosten ist das, was Sie veranstalten, ein Nullsummenspiel. Denn eine Einigung bei der Gesundheitsreform ist
überhaupt noch nicht in Aussicht.
({18})
Ich bleibe deswegen dabei: Der großen Koalition
mangelt es daran, den Zusammenhang zwischen Haushaltskonsolidierung und Beschäftigungschancen in dem
notwendigen Maß zu erkennen. Sie sollten bei der Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen nicht
den Rückwärtsgang einlegen, sondern Sie sollten andere
Lösungen finden.
Herr Steinbrück, Sie sagen selbst, dass das Verhältnis
von Sozialabgaben zu Steuern von 70 : 30 perspektivisch in eine andere Richtung gedreht werden muss. Ihre
Politik muss sich daher Punkt für Punkt daran messen
lassen. Sie machen aber genau das Gegenteil. Das ist
eine düstere Perspektive sowohl für die Beschäftigungschancen wie auch für den Haushalt.
({19})
Ich komme zum Schluss. Die Grünen werden Alternativen vorlegen. Wir sind davon überzeugt, dass wir im
Haushalt 2006 mit weniger als 38 Milliarden Euro
Schulden auskommen werden. Wir werden das zu belegen haben; das weiß ich. Aber es gibt noch eine ganze
Reihe von Subventionen, die man energischer abbauen
kann.
Noch eine kurze Bemerkung zur Kohle. Unantastbar
ist die Kohle zwischen 2006 und 2008 keinesfalls, Herr
Steinbrück.
({20})
Wir haben einen Mechanismus vereinbart, der dafür
sorgt, dass der Weltmarktpreis subventionsmindernd
wirkt. Ich hoffe, dass Sie das unterstützen, auch wenn
Sie einmal Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen
waren.
({21})
Wir haben auch die Chance, beim Ehegattensplitting
zu reformieren. Es gibt noch Steuervergünstigungen im
produzierenden Gewerbe.
Unsere Priorität ist eine bessere Politik für Kinder
und Familien. Diese sollte bei der Infrastruktur für Kinder ansetzen. Darauf legen wir einen Schwerpunkt.
Diese Priorität brauchen wir und können wir auch finanzieren.
Als Letztes möchte ich sagen: Wir werden im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik alternative Möglichkeiten
vorlegen, damit nicht allgemein Lohnnebenkosten gesenkt werden, sondern gezielt der Niedriglohnbereich
angepackt wird; es würde jetzt aber zu weit führen, das
auszuführen. Die Grünen werden eine Politik vorlegen,
die sich an dem Maßstab messen lässt: Wirtschaftspolitik und Haushaltspolitik greifen ineinander. Auch Investitionen in die Zukunft gehören zur Konsolidierung.
Die große Koalition fängt in 2006 leider ganz klein
an. Das ist traurig, besonders für die junge Generation.
Ich danke Ihnen.
({22})
Das Wort hat der Kollege Steffen Kampeter, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der bisherige Verlauf der Haushaltsdebatte, die
stark auch von wirtschaftspolitischen Aspekten geprägt
ist, hat gezeigt, dass die Haushaltspolitik keine reine
Zahlenschieberei ist. Haushaltspolitik kann - das ist der
Anspruch der unionsgeführten Bundesregierung - gute
Wirtschaftspolitik sein. Die große Koalition, die unionsgeführte Bundesregierung leiten mit der Vorlage der
heute erstmals im Parlament debattierten Gesetzesvorhaben und Unterrichtungsvorlagen die Wende in der Haushaltspolitik ein. Der Haushalt 2006, die Finanzplanung
bis 2009, das Haushaltsbegleitgesetz 2006, aber auch
das vom Bundesfinanzminister eingeführte Stabilitätsprogramm gegenüber der Europäischen Union dienen
der Wiedergewinnung des Vertrauens und der Verlässlichkeit in der Finanzpolitik.
Wir wollen der Realität nicht mehr das Prinzip Hoffnung gegenüberstellen. Wir wollen langfristige, auch
über den Tag hinaus gültige finanzielle Prognosen erstellen. Die Finanzpolitik soll der Vertrauensanker der großen Koalition sein. Dies ist insbesondere der Anspruch
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
({0})
Herr Bundesfinanzminister, Sie haben diese Wende in
der Finanzpolitik - - Wo ist er denn? ({1})
Auch in Abwesenheit des Bundesfinanzministers ist
festzustellen, dass er in seiner Rede diese Wende in der
Finanzpolitik durch einen Rekurs auf die antike Philosophie sehr deutlich beschrieben hat. Herr Bundesfinanzminister, bei dieser Neuausrichtung der Finanzpolitik
haben Sie die Unterstützung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
({2})
Die Hauptaufgabe der Finanz-, Haushalts- und Steuerpolitik in dieser Legislaturperiode ist die Wiedergewinnung des Wachstumsfaktors Vertrauen. Dieses
Vertrauen, das den Investoren und Konsumenten verloren gegangen ist, gilt es durch Verlässlichkeit in diesem
Politikbereich wiederzuerlangen.
({3})
Die Menschen sollen das Gefühl haben, dass es sinnvoller ist, zu konsumieren, als Geld auf die hohe Kante zu
legen. Die Investoren sollen wissen, dass Investitionen
aufgrund verlässlicher Rahmenbedingungen und einer
verlässlichen Form der Haushalts-, Finanz- und Wirtschaftspolitik rentabel sind. Dies ist das Signal, das wir
mit dem Haushalt und den ihn begleitenden Maßnahmen
in Deutschland setzen wollen.
({4})
Ich bin einigermaßen verwundert darüber, dass insbesondere die Rednerin vom Bündnis 90/Die Grünen kritisiert, dass der Haushalt 2006 noch keinen Schönheitspreis verdient und er nicht alle Anforderungen der
Finanzpolitik mit einem Schlag erfüllen kann. Frau Kollegin Hajduk, Sie waren in den vergangenen sieben Jahren an jedem der Vorgängerhaushalte beteiligt. Dies, was
wir heute anfangen abzubauen, ist wesentlich durch Ihre
Erblast bestimmt, meine sehr verehrten Damen und
Herren von den Grünen.
({5})
Sich dann hier aufzublasen und so zu tun, als ob man in
den vergangenen Jahren niemals an der Haushaltspolitik
beteiligt war, ist unredlich und nicht solide.
Unsere Konsolidierungspolitik hat eine horizontale
und eine vertikale Dimension. Der Bundesfinanzminister hat die horizontale Dimension deutlich gemacht, indem er nicht nur zur Finanzpolitik im engeren Sinne,
sondern auch zu anderen Politikbereichen sehr dezidiert
Stellung genommen und klargestellt hat, dass die Konsolidierung eben nicht allein Aufgabe des Finanzministers
ist, sondern auch Aufgabe aller Ausschuss- und Kabinettsmitglieder. Wir machen mit dem hier vorgelegten
Gesetzespaket deutlich, dass auch die vertikale Dimension der Konsolidierung unser Anliegen ist. Wir sparen
nicht zulasten der Länder und Kommunen, sondern machen insbesondere mit dem Haushaltsbegleitgesetz ein
Konsolidierungsangebot, durch das die finanzielle Situation der Länder und Gemeinden wesentlich verbessert
wird; wir lassen sie bei ihren Konsolidierungsanstrengungen nicht alleine. Wir wissen, dass die gesamtstaatliche
Konsolidierung nur gelingen kann, wenn in Bundestag
und Bundesrat eine gleichgerichtete Konsolidierungsstrategie verfolgt wird. Die große Koalition macht mit
diesem Gesetzespaket ein entsprechendes Angebot.
({6})
Drei Ziele wollen wir in dieser Legislaturperiode erreichen.
Erstens wollen wir dauerhaft und nachhaltig die Vorgaben unserer Verfassung einhalten. Dabei geht es zunächst einmal um Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit. Bei den Haushalten, die wir gemeinsam mit Peer
Steinbrück einbringen, beraten und beschließen werden,
soll bezüglich der finanziellen Rahmenbedingungen lieber ein bisschen konservativer geschätzt werden. Es ist
besser, wenn wir am Ende dieses Jahres gut aussehen,
als jetzt zu viel anzukündigen. Das ist die Grundlage unserer Strategie bei den Haushaltsplanungen.
Außerdem wollen wir die in Art. 115 GG vorgegebene Regelgrenze vom kommenden Jahr an einhalten
und letztmalig in diesem Jahr die Ausnahmeregelung in
Anspruch nehmen. Wir verhalten uns verfassungskonform. Wir wollen aber nicht ausnahmsweise verfassungskonform sein, sondern dauerhaft und nachhaltig.
Das ist der Anspruch der großen Koalition.
({7})
Der zweite Zielkomplex ist, die stabile Währung europaweit zu sichern. Gerade wir Christdemokraten und
Christsozialen wissen, dass die Inflation die Geißel des
kleinen Mannes ist. Deswegen legen wir Wert auf eine
stabile Währung. Zwei Instrumente sind uns in diesem
Zusammenhang wichtig: Erstens. Wir wollen die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank weiter aufrechterhalten. Ratschläge vonseiten der deutschen oder
auch der ausländischen Politik bezüglich der Zins- und
Währungspolitik sind nicht hilfreich für eine stabile
Währung. Zweitens. Wir wollen den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt einhalten. Gerade wir Deutschen stehen hier in einer besonderen Verpflichtung.
({8})
Wir haben die D-Mark aufgegeben. Um die neue Währung, den Euro, so stark und so stabil wie die D-Mark zu
halten, haben wir den europäischen Stabilitäts- und
Wachstumspakt. Deswegen ist es gerade für unsere Nation eine moralische ebenso wie eine finanzpolitische
Verpflichtung, die Vorgaben dieses Pakts dauerhaft einzuhalten. Das ist Wunsch und Wille der großen Koalition.
({9})
Das dritte Ziel, um das es uns in dieser Legislaturperiode geht, ist die Absenkung der Staatsquote. Gerade die Union hält die Tätigkeit des Staates nicht für
allein selig machend. Es entspricht nicht unserer Auffassung, wenn man ein Problem hat, zuvorderst nach dem
Staat zu rufen. Deshalb lautete ein Leitsatz der Regierungserklärung von Angela Merkel „mehr Freiheit wagen“; den Bürgerinnen und Bürgern dieses Staates soll
mehr zugetraut werden. In der Finanzpolitik ist die
Staatsquote der Indikator dafür, wie viel der Staat in diesem Land regelt und wie viel die Bürgerinnen und Bürger eigenverantwortlich leisten. Im Rahmen dieser Legislaturperiode wird es eine Absenkung der staatlichen
Aktivität sowohl im Rahmen der Gebietskörperschaften
als auch im Rahmen der Sozialversicherungen auf ein
Niveau geben, wie wir es zuletzt im Jahr 1989 hatten, als
Gerhard Stoltenberg, einer der erfolgreichsten Finanzminister in der deutschen Nachkriegsgeschichte, die
Bundesfinanzpolitik zu verantworten hatte. Das „Projekt
Stoltenberg“ ist auch ein Projekt der großen Koalition.
({10})
Ich will an dieser Stelle deutlich machen, dass das
Ziel der Absenkung der Staatsquote nicht verfolgt wird,
weil wir zwangsläufig an einem Mangel an Steuereinnahmen leiden, sondern deshalb, weil wir in den vergangenen Jahren ein Stück weit über unsere Verhältnisse gelebt haben.
({11})
Eine Verschuldung in Höhe von 1 500 Milliarden Euro
ist doch kein Indikator dafür, dass wir bei den Bürgerinnen und Bürgern zu wenig Steuern abkassiert haben, sie
ist vielmehr ein Indikator dafür, dass der Staat und die
Sozialversicherungssysteme zu viel Geld ausgegeben
haben.
({12})
Diesen Mentalitätswandel wollen wir gemeinsam mit
Bundesfinanzminister Steinbrück organisieren.
Wachstum und Steuereinnahmen müssen wieder ins
Gleichgewicht geraten. Deswegen ist die Unternehmensteuerreform nicht nur ein Instrument zur Entlastung
von Unternehmen; als ein solches wird es von manchen
fehlverstanden. Nein, im Rahmen der Unternehmensteuerreformen wollen wir die steuerliche Attraktivität des
Standortes Deutschland für unternehmerische Aktivitäten wiederherstellen. Dies ist nicht nur für den Haushalt,
sondern auch für die Arbeitsplätze in Deutschland eine
existenzielle Herausforderung. Das deutsche Steuersystem muss für Investitionen und Gewinnbesteuerungen
attraktiv sein. Unter dem Strich werden davon die Haushalte und die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes
profitieren.
({13})
Deswegen setzen wir uns engagiert für die Unternehmensteuerreform, die über das hinausgehen muss, was
wir auf dem Jobgipfel vereinbart haben, ein.
({14})
Unsere Strategie griffe zu kurz, wenn sie sich ausschließlich in Sparbemühungen, Kürzungsansätzen und
Effektivitätssteigerungen erschöpfen würde. Wir sparen; das ist auch richtig und notwendig angesichts der
dramatischen Schieflage der Finanzen von Bund, Ländern und Gemeinden. Darüber hinaus setzen wir aber
auch klare Impulse für die Zukunft. Wir setzen mit diesem Haushalt und den ihn begleitenden Gesetzen strukturelle Wachstumsimpulse.
Der wichtigste Impuls in diesem Zusammenhang lautet: Wir machen Arbeit durch die Absenkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung wieder bezahlbarer in Deutschland. Das ist das manifeste Signal der
großen Koalition, der unionsgeführten Bundesregierung
gegen die kontinuierliche Abwanderung von Arbeit ins
Ausland. Wir wollen Arbeit in Deutschland wieder rentabler machen. Diesem Ziel dienen auch die vorliegenden Gesetzentwürfe.
({15})
Unser zweiter wichtiger Impuls: Wir wollen kleine
und mittlere Unternehmen in Deutschland wieder fördern. Die Fixierung auf große Betriebseinheiten mag in
bestimmten Bereichen richtig und wichtig sein; wir als
unionsgeführte Bundesregierung wollen aber klare Impulse für die kleinen und mittleren Unternehmen setzen.
Deswegen ist es richtig, dass wir mit diesen Gesetzen die
steuerliche Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen
ausweiten und den kleinen und mittleren Unternehmen
durch das CO2-Programm zusätzliche Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnen. Es ist uns ein Anliegen, die Abschreibungsbedingungen für Investitionen
auch für kleine und mittlere Unternehmen zu verbessern.
Wir machen Angebote an die kleinen und mittleren Unternehmen und an die Beschäftigten in Deutschland.
({16})
Wir investieren mit diesem Haushalt und der mittelfristigen Finanzplanung auch in Bildung und Forschung, weil wir glauben, dass unsere Intelligenz, unsere Kreativität und unser geistiges Eigentum die
zentralen Wachstumsfaktoren in unserem Land sind. Wir
glauben, dass darin Zukunftschancen für Arbeitsplätze,
und zwar nicht nur in der chemischen Industrie, sondern
auch in allen wissensbasierten Dienstleistungen und
Technologien, liegen. Deswegen ist die Verpflichtung
des Bundeshaushalts, gerade die Investitionen für Forschung und Bildung zu steigern, ein richtiges und wichtiges Signal der Bundesregierung, zu dem auch wir
Haushaltspolitiker stehen.
({17})
Allerdings - auch das muss klar gesagt werden -: Um
diese Ziele zu erreichen, müssen wir auch unangenehme Voraussetzungen erfüllen, die an dieser Stelle
nicht verschwiegen werden sollen. Wir müssen im Laufe
dieser Legislaturperiode einen nicht unerheblichen Anteil von Einmalerlösen, Privatisierungen und sonstigen
Finanzmarktinnovationen verwenden, um den Konsolidierungskurs zu flankieren.
Wir müssen gemeinsam mit dem Bundesrat eine
Reihe von steuerlichen Gesetzgebungsmaßnahmen, die
nicht nur Freude bei den Betroffenen auslösen werden,
umsetzen. Wir müssen das Haushaltsbegleitgesetz verabschieden, in dem die Mehrwertsteueranpassung ein
wichtiges Element ist.
({18})
Die Mehrwertsteueranpassung stellt eine Belastung des
Konsums dar. Wir alle waren interfraktionell der Auffassung, dass es besser ist, den Konsum als die Arbeit zu
belasten. Jetzt setzen wir diese Überzeugung um. Wir
denken, dass wir diese Maßnahme im Rahmen einer
konjunkturverträglichen Umsetzung im Laufe dieser Legislaturperiode zum Erfolg führen werden.
Die Union muss sich im Übrigen nicht verstecken:
Wir waren die Einzigen, die an diesem Punkt vor der
Wahl ganz klar gesagt haben, was wir nach der Wahl machen wollen. Das ist Ehrlichkeit und Klarheit. Wir setzen
das um, was wir hierzu vor der Wahl angekündigt haben.
({19})
Wir müssen in dieser Legislaturperiode auch die Arbeitsmarktreformen vorantreiben. Wer in dieser Regierung eine hohe Etatverantwortung hat, hat auch eine
hohe Konsolidierungsverantwortung. Deswegen wollen
wir im Bereich Arbeit in dieser Legislaturperiode einen
Konsolidierungsbeitrag leisten, indem wir 15 Milliarden
Euro einsparen. Dieser Konsolidierungsbeitrag muss
noch durch gesetzliche Maßnahmen abgesichert werden.
Wir sind sicher, dass sowohl der Bundesfinanzminister
wie auch der Bundesminister für Arbeit im Laufe der
nächsten Woche die dafür erforderlichen Gesetzgebungsinitiativen einleiten.
Wir wollen die Gesundheitsreform unterstützen, indem wir den Reformdruck auf das System erhöhen.
Schon vor der letzten Bundestagswahl haben wir im
Haushaltsausschuss interfraktionell festgestellt, dass die
gefundene Lösung, über den Steuertopf in den Gesundheitsbereich hineinzuregieren, falsch war. Deswegen war
es nur konsequent und richtig, im Rahmen der Koalitionsvereinbarung die Absenkung dieses Steuerzuschusses zu vereinbaren. So erhöhen wir den Reformdruck,
fördern den Wettbewerb im Gesundheitssystem und
schaffen schrittweise eine Abkopplung der Beiträge
- das hat auch der Bundesfinanzminister gesagt - vom
System Arbeit. Das ist unser Angebot an die Gesundheitspolitik. Ich glaube, es ist ein ehrliches und anständiges Angebot.
({20})
Ich komme zum Schluss. Im Rahmen der Haushaltsberatungen werden wir alle Ausgabeansätze noch einmal
überprüfen. Wir werden schauen, wo noch Einsparpotenziale vorhanden sind. Die Richtung aber scheint aus
Sicht der Union zu stimmen.
Bisher hat jeder betont, welche guten Erfahrungen er
mit dem Bundesfinanzminister in früheren Positionen
hatte. Der Bundesfinanzminister war in Nordrhein-Westfalen Ministerpräsident. Wir haben ihn dort abgelöst.
({21})
Daher hält sich mein Mitleid mit ihm in Grenzen. Ich
weiß aber, dass jedem Anfang ein Zauber innewohnt.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will sich nicht in
Vergangenheitsbetrachtungen erschöpfen, sondern den
Zauber genießen. Herr Steinbrück, Sie haben die Unterstützung der Union. Bei allen ehrlichen und anständigen
Konsolidierungsbemühungen arbeiten wir in dieser großen Koalition gemeinsam.
Herzlichen Dank.
({22})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Otto Solms,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Kampeter, diesem Anfang wohnt nun wirklich kein Zauber inne. Das können Sie niemandem weismachen;
({0})
denn der erste Haushalt der schwarz-roten Koalition
folgt offenkundig einer rot-schwarzen Philosophie:
({1})
keine Reformen, kein Mut zum Sparen, keine Veränderungen bei den Arbeitsmarktbedingungen, keine grundsätzlichen Veränderungen in den Sozialsystemen; aber
dem Bürger wird kräftig in die Tasche gegriffen.
({2})
Wenn Sie das als Zauber betrachten, dann frage ich
mich, wie das Ende aussehen wird.
Die jetzige Neuverschuldung übersteigt sogar die
Neuverschuldung im letzten Haushalt von Hans Eichel
um 7 Milliarden Euro. Übrigens habe ich heute Morgen
festgestellt, dass Herr Eichel dem Vortrag des neuen
Bundesfinanzministers, der jetzt schon wieder die Flucht
ergriffen hat, gar nicht beigewohnt hat. Das kann ich gut
verstehen. Es ist zu ärgerlich, wenn er erleben muss,
dass der Nachfolger es noch schlechter macht als er
selbst.
({3})
Es ist unehrlich, wenn man den Bürgern diesen Entwurf als Neuanfang verkaufen will. Es bleibt alles wie
gehabt: Die Schulden steigen stärker, die Ausgaben werden nicht eingedämmt und die Situation wird in der Zukunft noch schwieriger. Die katastrophale Situation wird
durch hinter Haushaltsentlastungen verborgene Steuererhöhungen geschönt. Die Erhöhung der Mehrwert- und
der Versicherungsteuer werden dazu beitragen, dass es
auf Dauer nicht zu einer Ankurbelung der Binnenkonjunktur kommen kann. Die Binnenkonjunktur wird im
nächsten Jahr einbrechen. Das ist das zentrale Problem.
Mittelfristig verschlechtern sich die Aussichten für mehr
Beschäftigung und nachhaltige Haushaltskonsolidierung.
Ich will auf einige Punkte eingehen:
Erstens. Der Bundeshaushalt 2006 ist - Bundesfinanzminister Steinbrück hat das gerade bei der Rede
meines Kollegen Jürgen Koppelin bestritten - erneut
vorsätzlich verfassungswidrig. Er setzt den planvollen
Verfassungsbruch der letzten vier Jahre fort. Es ist doch
ganz einfach und jeder kann es verstehen. Schauen Sie
sich Art. 115 des Grundgesetzes an - der Blick ins Gesetzbuch erleichtert die Rechtsfindung; das ist eine alte
Lehre -:
({4})
Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der
im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten;
Das ist nicht schwer zu verstehen. Jetzt kommt die Ausnahme:
Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.
({5})
Das heißt, die Ausnahme muss die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bekämpfen, verhindern
und verändern.
({6})
Vier Jahre lang hatten wir eine hohe Neuverschuldung.
({7})
In dieser Zeit ist die Arbeitslosigkeit gestiegen und mit
der Konjunktur ist es abwärts gegangen. Die Neuverschuldung hat also nicht den vorgesehenen Beitrag geleistet. Offenkundig ist das Argument nicht stimmig.
({8})
Deswegen haben wir vor dem Bundesverfassungsgericht
geklagt. Die Klage hat übrigens die CDU/CSU damals
mit uns veranlasst. Sie kann sich heute nicht abseilen,
weil wir das gemeinsam eingereicht haben. Nun warten
wir einmal ab, was die Verfassungsrichter dazu zu sagen
haben.
Zweitens. Die Bundesregierung legt zum fünften Mal
und in voller Absicht einen stabilitätswidrigen Haushalt vor. Im letzten Jahr wurde das Stabilitätsziel mit
etwa 3,2 Prozent im Vollzug beinahe erreicht. Nun soll
das Defizit wieder das des letzten Jahres überschreiten.
Mit einem Defizit von 3,3 Prozent wird das Stabilitätsziel nicht erreicht. Es fehlen 7 Milliarden Euro. Die
Steuereinnahmen scheinen etwas besser zu sprudeln. Sie
werden doch in der Lage sein, noch 5 Milliarden Euro
einzusparen, um in diesem Jahr das Stabilitätsziel zu erreichen! Aber Sie vermeiden das.
({9})
Drittens. Trotz vollmundiger Sparversprechungen
steigen die Bundesausgaben von 2006 bis 2009 erneut
um 13,6 Milliarden Euro. Ich verstehe unter Sparen: weniger Geld ausgeben. Die schwarz-rote Koalition versteht unter Sparen: mehr Geld ausgeben. Das ist, glaube
ich, aber nicht die Auffassung der Bürger in diesem
Lande. Von Sparhaushalt kann nun wirklich keine Rede
sein.
Viertens. Das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts
hat die Bundesregierung völlig aus den Augen verloren.
Denn selbst in den Folgejahren bis 2009 verharrt die mittelfristige Finanzplanung auf einer Neuverschuldung
von über 20 Milliarden Euro.
Fünftens. Der Investitionsverfall findet in der mittelfristigen Finanzplanung seine Fortsetzung. Die Investitionsquote - das ist konjunkturpolitisch wichtig - sinkt
weiter. Sie sinkt von 8,9 auf 8,5 Prozent. Zur Erinnerung: Im Jahre 1998 lag die Investitionsquote noch bei
12,5 Prozent. Da sieht man, wie sich die Strukturen des
Haushalts laufend verschlechtert haben und weiter verschlechtern.
Sechstens. Die skandalösen Steuer- und Abgabenerhöhungen im Haushaltsbegleitgesetz und in anderen
Gesetzen sind unsozial und führen zu einer Kaufkraftabschöpfung und zu Mehrbelastungen von mindestens
117 Milliarden Euro. Das hat der Bundesfinanzminister
heute selbst bestätigt. Hinzu kommen 20 Milliarden
Euro, die in diesem Jahr durch die 13. Monatsrate bei
den Sozialabgaben abgeschöpft worden sind. Dazu gehören die Erhöhungen der Abgaben für die Minijobs, die
natürlich die Möglichkeiten der Minijobs einschränken
werden. Das heißt, es wird eine umfassende Kaufkraftabschöpfung von rund 140 Milliarden Euro in dieser Legislaturperiode geben. Das können Sie mit dem Konjunkturprogramm, das Sie auf den Weg gebracht haben,
überhaupt nicht ausgleichen.
Damit sind wir beim eigentlichen Kern des Problems.
Die Frage ist: Was ist die Basis für stabile Haushalte?
Die Basis für stabile Haushalte ist eine hohe Beschäftigungsquote. Denn die Beschäftigten erbringen durch
ihre Steuern und ihre Abgaben in die Sozialsysteme die
Einnahmen des Staates und der Sozialkassen.
({10})
Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist aber
in den letzten zehn Jahren um knapp 2 Millionen Beschäftigte gesunken. Sie sinkt stetig weiter, auch in diesem Jahr. Wenn es nicht gelingt, diesen Trend umzukehren, werden Sie die öffentlichen Haushalte niemals in
Ordnung bringen können, weil die Einnahmebasis immer schmaler wird. Wenn jetzt noch zusätzliche Belastungen durch hohe Abgaben hinzukommen, dann wird
die Binnenkonjunktur dadurch natürlich nicht gestärkt,
sondern gedämpft bzw. in ihrer Entwicklung unterdrückt. Dann werden auch keine neuen Beschäftigungsverhältnisse entstehen.
Sie können sagen, was immer Sie wollen, aber die
Gesetze der Ökonomie können auch Sie nicht außer
Kraft setzen.
({11})
Wenn Sie 140 Milliarden Euro abschöpfen, wird dadurch die Binnenkonjunktur abgewürgt. Dann werden
nicht mehr Beschäftigungsverhältnisse entstehen, dann
werden nicht mehr Beschäftigte Sozialabgaben und
Steuern zahlen können, und dann werden sich auch die
im Inland tätigen Unternehmen nicht entwickeln können. Das wird zur Folge haben, dass die Haushaltslöcher
trotz höherer Belastungen Jahr für Jahr größer werden.
Dann können Sie allerdings nicht wieder zum gleichen
Trick greifen und erneut die Mehrwertsteuer um
3 Prozentpunkte, die Versicherungsteuer und die Einkommensteuer erhöhen.
Im Übrigen befinden wir uns ja noch nicht am Ende
der Diskussion. In vielen Zeitungen steht - Ihr neuer Gesundheitsexperte hat diesen Vorschlag in die Öffentlichkeit gebracht -,
({12})
dass Sie jetzt über die Einführung eines Gesundheitssolis diskutieren. Das Wort „Gesundheitssoli“ klingt
zwar niedlich. Aber was bedeutet es? Sie müssen knapp
14 Milliarden Euro abdecken, um die Beiträge für die
Kinder auszugleichen. Wenn Sie dies aus Steuermitteln
tun wollen - durch einen Soli oder einen Zuschlag auf
die Einkommensteuer -, müssen Sie die Einkommensteuer in ihrer ganzen Breite erhöhen. Berücksichtigt
man den schon heute existierenden Soli, wäre es notwendig, auf einen Gesamtsoli von etwa 12 Prozent zu
kommen.
Das heißt, dass der Eingangssteuersatz wieder von
15 auf 17 Prozent und der Spitzensteuersatz einschließlich der Reichensteuer auf 50 Prozent steigen müssten.
Dadurch wären alle Vorteile, die durch die Steuerreform
von Rot-Grün erreicht worden sind, kompensiert. Dann
hätten wir in Deutschland erneut eine überproportional
hohe Steuerbelastung: für alle Arbeitnehmer, alle Selbstständigen und alle Unternehmen. Außerdem würden wir
im internationalen Wettbewerb weiter zurückfallen. Das
würde unserer konjunkturellen Entwicklung genauso
wenig helfen wie die übrigen Steuererhöhungen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass Sie konjunktur- und strukturpolitisch auf dem falschen Weg
sind. Sie brauchen mehr Mut zu Reformen. Der vergangene Wahlsonntag hat dazu geführt, dass Sie jetzt auch
im Bundesrat die Mehrheit haben. Damit haben Sie auch
Verantwortung. Die 5 Millionen Arbeitslosen sind jetzt
Ihre Arbeitslosen, die Schulden von 1,5 Billionen Euro
sind jetzt Ihre Schulden, und die anstehenden Zinszahlungen in Höhe von 50 Milliarden Euro sind jetzt Ihre
Zinsverpflichtungen.
({13})
Jetzt haben Sie also die Verantwortung. Machen Sie etwas daraus!
({14})
Als Nächster spricht der Kollege Carsten Schneider,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
SPD steht für politischen Mut und für eine Haushaltskonsolidierung, durch die wir dazu beitragen, dass in den
Jahren 2006 und 2007 das Maastrichtkriterium, also der
europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt, und die
Vorgaben des Grundgesetzes eingehalten werden. Ich
danke dem Bundesfinanzminister dafür, dass er heute
Vormittag den Haushalt eingebracht hat. Nunmehr stehen wir als Parlament in der Verantwortung. Kollege
Solms, diese Verantwortung nehmen wir als große Koalition auch wahr. Es ist aber nicht so, dass die Schulden
nur unsere sind. Sie sind die Schulden unserer gesamten
Gemeinschaft, der auch Sie als Politiker und als Staatsbürger angehören. Daher ist es unsere Gesamtverantwortung, wie wir mit dieser Situation umgehen.
({0})
Ich habe die heutige Debatte sehr gespannt verfolgt
und mich vor allen Dingen über die eine oder andere
Deutung gewundert, die es noch zu klären gilt. Damit
meine ich zum Beispiel die Frage, ob es einen Wechsel
bzw. eine Wende in der Finanzpolitik gibt,
({1})
und manche Vorschläge, die dazu dienen, die Haushaltskonsolidierung voranzutreiben. Über dieses Ziel
scheint sogar zwischen Liberalen und Möchtegern-Linken Einigkeit zu herrschen. Die entscheidende Frage ist
allerdings die nach dem richtigen Weg und den geeigneten Instrumenten. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen:
Hierzu habe ich bis zum jetzigen Zeitpunkt noch keine
entscheidenden Vorschläge gehört. Aber wir sind ja auch
erst am Beginn der Haushaltsberatungen; vielleicht ändert sich das ganze noch.
Kollege Koppelin, der heute als erster Oppositionsredner gesprochen hat, hat sich zur Verantwortung für
die Verschuldung geäußert und zu Beginn seiner Rede
eine Zahl in den Raum geworfen, die ich so nicht stehen
lassen kann. Sie sagten, die SPD habe in der Zeit von
1998 bis 2005, also während der letzten beiden rot-grünen Regierungskoalitionen, Schulden in Höhe von
200 Milliarden Euro gemacht.
({2})
Ich kann Ihnen sagen: Von 1998 bis 2005 waren es
144 Milliarden Euro. Das ist nichts, worauf man stolz
sein kann; aber ich denke, es ist eine Frage der Gesamtverantwortung, der auch Sie sich stellen müssen.
Ich habe mir einmal heraussuchen lassen, wie hoch
die Neuverschuldung war, für die die FDP verantwortlich war. Wenn man die gesamte Neuverschuldung während Ihrer Regierungszeit, die die Bundesrepublik lange
Zeit erschüttert hat - also von 1969 bis 1998 -, zusammenrechnet, dann kommt man auf 711 Milliarden Euro.
Carsten Schneider ({3})
Wenn man die Summe seit 1982, also während der
schwarz-gelben Dominanz, zusammenrechnet, dann
kommt man immer noch auf 565 Milliarden Euro. Das
ist deutlich mehr, Herr Koppelin.
({4})
Ich sage das nicht verbunden mit einer Vorhaltung, sondern wegen der politischen Redlichkeit.
({5})
Ich glaube, dass es uns allen gut anstehen würde, wenn
wir auf dem Weg, den der Finanzminister vorgegeben
hat, folgende Ziele in den Haushalten des laufenden und
des nächsten Jahres erreichen würden: erstens, die
Wachstumskräfte in unserer Volkswirtschaft zu stärken,
und zweitens, 2007 die Regelgrenze nach Art. 115
Grundgesetz einzuhalten, ohne von den Ausnahmemöglichkeiten Gebrauch zu machen. Auch hierzu habe ich
eine andere Rechtsauffassung als die, die der Kollege
Solms vorgetragen hat.
Der Haushalt selbst, der uns zur Beratung vorliegt,
beruht auf einer sehr konservativen Schätzung. Wir nehmen an, dass das Wachstum bei 1,4 Prozent liegen wird.
Ich glaube, dass dies ausreichend ist, uns genügend
Raum gibt und dass nicht mit bösen Überraschungen zu
rechnen ist. Das Ausgabenwachstum liegt mit Blick auf
einen Vierjahreszeitraum bei 0,7 Prozent pro Jahr. Herr
Kollege Solms, die Inflationsrate wird bei 1,5 bis
2 Prozent pro Jahr liegen. Wir werden sehen, wie sie sich
entwickelt. Zumindest, wenn man den Auguren glauben
kann, wird sie nicht deutlich darüber liegen. Das heißt,
es wird eine reale Kürzung der Ausgaben des Bundes geben. Wie Sie trotzdem davon reden können, dass wir das
Geld verschwenden und Konjunkturprogramme fahren,
die von uns falsch angedacht worden seien, ist mir wirklich ein Rätsel.
({6})
Sie haben die Investitionsquote angesprochen; auch
darauf will ich noch eingehen. Die Investitionsquote ist
ein wichtiger Indikator für die Zukunftsfähigkeit und die
Struktur der Ausgaben. Ich widerspreche nicht, dass es
in den vergangenen Jahrzehnten - auch unter Ihrer Beteiligung; das will ich noch einmal hervorheben - insgesamt eine Strukturveränderung hin zum sozialen Bereich
gab. Nicht umsonst ist der Etat für den Arbeits- und
Sozialbereich der größte. Franz Müntefering hat mit der
Aufstellung des Haushaltes die Verantwortung wahrgenommen, die Herr Kollege Kampeter hier spitzfindig angesprochen hat.
({7})
Die Sozialdemokraten haben innerhalb der Bundesregierung die entscheidenden Ministerien übernommen. Wir
sind bereit, dieser Verantwortung gerecht zu werden.
Ich will zur Investitionsquote zurückkommen. Allein
von 2005 auf 2006 steigen die Investitionen real um
1 Milliarde Euro.
(Anja Hajduk ({8}):
Und dann bleiben sie stehen!
- Dann entwickeln sie sich auf einem gleich bleibenden
Niveau, Frau Kollegin Hajduk. - Sie sagen, dass sich die
Quote bezogen auf den Haushalt verändert; das ist richtig. Der Redlichkeit halber muss man aber dazusagen,
dass es einen Bilanzverlängerungseffekt gibt. Ab 2007
werden wir 1 Prozentpunkt der Mehrwertsteuer, die wir
einnehmen - das sind knapp 7 Milliarden Euro -, zur
Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages an die
Arbeitslosenversicherung durchreichen. Das ist politisch
gewollt und auch richtig.
({9})
In der Konsequenz führt das rein mathematisch dazu,
dass wir zwar die Investitionen nicht senken, dass aber
die Investitionsquote bezogen auf die Ausgaben im Gesamthaushalt natürlich sinkt. Das ist logisch. Von daher
glaube ich, dass das vertretbar und auch ein richtiger
Weg ist.
({10})
Der Name des Kollegen Eichel hat heute in der Debatte schon öfter eine Rolle gespielt. Ich komme jetzt auf
die Deutungshoheit zurück, die die Kollegen Meister
und Kampeter hier angesprochen haben. Ich habe eine
gänzlich andere Auffassung bezüglich der Fortsetzung
der Finanzpolitik der Bundesregierung bzw. der Wende
in derselben.
({11})
Herr Kollege Solms, in diesem Punkt stimme ich Ihnen
zu. Sie haben deutlich gemacht, dass es eine Kontinuität
gibt.
({12})
Das, was hier im Deutschen Bundestag beschlossen
wurde, wird nun endlich umgesetzt. Ich will nur die
Eigenheimzulage nennen, deren Abschaffung jetzt endlich das gesamte Haus dankenswerterweise zugestimmt
hat. Das war die größte Einzelsubvention des Bundes.
Dieses Haus hat unter rot-grüner Regierung manches beschlossen, das aber niemals umgesetzt wurde, weil es im
Bundesrat eine Blockade gab. Diese Blockade ist nun
aufgelöst. Von daher sind die Maßnahmen, die wir schon
früher angedacht haben, nun im Vollzug. Deswegen
kann ich nicht von einer Wende, sondern nur von einer
Fortsetzung des Regierungshandelns reden, das seinen
Niederschlag in der Gesetzgebung findet.
({13})
Die Ausgaben des Bundes im Zeitraum von 1999 bis
2004 sind im Vergleich zu dem, was real prognostiziert
worden ist, niedriger gewesen, nämlich 0,4 Prozent.
Auch hier zeigt sich eine deutliche Kürzung der Ausgaben, womit wir damals einen Beitrag zur Konsolidierung
geleistet haben. Das ist uns auf der Einnahmenseite leider nicht gelungen. Die Einnahmen sind - das hat die
Bundesbank am gestrigen Tag in ihrem Monatsbericht
Carsten Schneider ({14})
festgestellt - in den letzten Jahren eingebrochen. Wir
werden alles tun, um insbesondere dieses Einnahmenproblem zu lösen.
Hinsichtlich der nächsten Kennziffer, die haushaltsund wirtschaftspolitisch wichtig ist, der Steuerquote,
hat der Finanzminister heute Morgen darauf hingewiesen, dass sie auf einem international sehr niedrigen
Niveau ist. Europaweit hat nur noch die Slowakei mit
20,1 Prozent eine niedrigere Steuerquote als die Bundesrepublik Deutschland. Mit den Entlastungsmaßnahmen
bei der Einkommensteuer im Jahre 2000 durch die große
Steuerreform haben wir diese Quote bewusst angestrebt.
1999 lag die Steuerquote noch bei 22,5 Prozent. Das
mag nun sehr abstrakt klingen. Aber in realen Zahlen
entspricht das einer Mindereinnahme von 50 Milliarden Euro. Das Defizit des Bundes entspricht in etwa dieser Zahl.
Die Maßnahmen, die wir nun mit dem Haushaltsbegleitgesetz einleiten, das die SPD-Fraktion in Gänze unterstützt und sowohl auf der Einnahmenseite durch die
bedingten Steuermehreinnahmen - etwa bei der Versicherungsteuer und der Mehrwertsteuer, zu denen wir politisch stehen - als auch auf der Ausgabenseite durch
Kürzungen und Strukturreformen langfristig wirken
wird, führen letztendlich dazu, dass wir 2007, nach dem
Jahr des Anschubs in 2006, einen Haushalt vorlegen
können, der sowohl den Maastrichtkriterien als auch der
Verfassung voll und ganz entspricht.
Das Bund-Länder-Verhältnis, das auch im Zusammenhang mit der Debatte um die zweite Föderalismusreform gesehen werden muss, ist nun so, dass wir nunmehr
sowohl hier im Bundestag mit einer Mehrheit durch die
große Koalition als auch im Bundesrat die Möglichkeit
haben, langfristig stabile Rahmenbedingungen vorzugeben. Ich bin gespannt, wie insbesondere die Maßnahmen
des Haushaltsbegleitgesetzes wirken werden. Ich denke
da an die Regionalisierungsmittel
({15})
und andere Mittel, die den Ländern zugute kommen, wie
etwa durch die Mehrwertsteuererhöhung - 1 Prozentpunkt bringt Einnahmen in Höhe von 7 Milliarden Euro und den Abbau von Steuervergünstigungen. Das bringt
allein dem Bund Mehreinnahmen von 19 Milliarden Euro. Dadurch werden die Ausnahmen - das ist
richtig so -, durch die sich viele Menschen arm rechnen
konnten und keine Steuern zahlen mussten, abgeschafft.
Das wird dazu führen, dass die Finanzierungsbasis des
Staates, der für uns Sozialdemokraten ein Fundament
unserer Gemeinschaft ist, tatsächlich gegeben ist.
Der Haushalt 2006, über den wir in den nächsten Monaten diskutieren werden, ist ein Haushalt des Übergangs; das habe ich bereits erwähnt. Wir sanieren, reformieren und investieren. Dieser politische Dreiklang folgt
unserer Grundüberzeugung, nach der wir nicht gegen die
Konjunktur sparen können, weil wir Wachstumsimpulse
brauchen, um in der Perspektive - diese Perspektive ist
für mich die nächste Legislaturperiode - einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen.
({16})
Für diese Legislaturperiode werden wir ein Konsolidierungsvolumen von 30 Milliarden Euro beisteuern.
({17})
Das ist politisch schwer handhabbar. Es wird uns viel
abverlangen. Sie alle werden viele Briefe von Interessenverbänden bekommen, die, für sich genommen, sicherlich ein berechtigtes Interesse haben, aber für die
Allgemeinheit und für den Staat Einzelinteressen sind.
({18})
Mit all dem werden wir uns auseinander setzen müssen.
Für die Zukunftsfähigkeit dieses Landes muss - ohne
pathetisch klingen zu wollen - meines Erachtens immer
im Vordergrund stehen, dass wir den nachfolgenden Generationen nicht nur Zinslasten und ein Sozialversicherungssystem überlassen, das zu hohe Anforderungen an
sie stellt, sondern dass wir ihnen auch Zukunftschancen
bieten.
({19})
Von daher bietet der Haushalt mit den vorgesehenen
Konsolidierungsmaßnahmen und den neuen Schwerpunkten insbesondere im Forschungsbereich - was ich
ausdrücklich unterstütze -, aber auch bei den Investitionen die besten Voraussetzungen für eine erfolgreiche
Wirtschafts- und Finanzpolitik in den nächsten Jahren
bis 2009.
Ich will noch kurz einige Maßnahmen auf der Aufgabenseite nennen, die für Diskussionen sorgen werden,
die aber für mich als Haushälter unabdingbar sind. So ist
die Absenkung der Zuwendungen aus dem Bundeshaushalt an die gesetzliche Krankenversicherung auf
1,5 Milliarden Euro im Jahr 2007 und das Auslaufen
dieser Zuwendungen im Jahr 2008 eine Voraussetzung
dafür, dass wir vorhandene Effizienzreserven im System
der gesetzlichen Krankenversicherung heben, statt uns
mithilfe von Steuermitteln um die Reform zu drücken.
Ich glaube, dass wir mit dieser Maßnahme den richtigen
Weg gehen.
Aber auch die Maßnahmen im Arbeitsmarktbereich
- Herr Kampeter hat von 15 Milliarden Euro gesprochen; ich gehe von 7 Milliarden Euro per annum aus -,
die Verringerung des allgemeinen Bundeszuschusses zur
Rentenversicherung und die Halbierung des Weihnachtsgelds werden langfristig zur Absicherung und Konsolidierung des Haushalts beitragen.
Herr Kollege Schneider, wollen Sie eine Zwischenfrage von Anja Hajduk zulassen?
Ja, bitte.
Herr Kollege Schneider, zu dem Bundeszuschuss zur
gesetzlichen Krankenversicherung möchte ich Sie Folgendes fragen: Stimmen Sie nicht mit mir überein, dass
jenseits dieses auslaufenden Zuschusses ein Modernisierungsdruck für die Kassen gegeben ist? Dieses Jahr werden durch das Vorziehen der Überweisungen der Arbeitnehmerbeiträge zusätzliche Einnahmen erzielt, die im
nächsten Jahr fehlen. Es ist doch eine Mär, dass allein
durch die Kürzungen bei versicherungsfremden Leistungen, die nicht länger aus Steuermitteln finanziert werden, ein Modernisierungsdruck ausgelöst würde. Sie gehen vielmehr das Risiko einer Beitragssatzsteigerung im
nächsten Jahr ein. Ich finde, Sie sollten das nicht so verkürzt darstellen. Aber vielleicht sehen Sie den Sachverhalt anders.
Frau Kollegin Hajduk, sicherlich besteht unabhängig
von der Senkung des Bundeszuschusses an die gesetzliche Krankenversicherung Modernisierungsdruck.
Nichtsdestotrotz wird er durch die Verringerung der Einnahmenbasis infolge der Rückführung des Bundeszuschusses an die Krankenversicherung in Milliardenhöhe
und der Prioritätensetzung zugunsten eines ausgeglichenen Haushalts - das hat Herr Kollege Poß vorhin ausgeführt - noch verstärkt.
Wir alle wissen, dass einmal gewährte Zuschüsse den
Ruf nach weiteren Steuermitteln nach sich ziehen und
dadurch Reformmaßnahmen, über die die Koalition
noch nicht in Gänze entschieden hat, unterdrückt werden. Ich glaube aber, dass wir als große Koalition mit
Frau Ministerin Schmidt an der Spitze ein ausgewogenes
Konzept der gesetzlichen Krankenversicherung vorlegen
werden, das den vorhin genannten Maßgaben genügt,
was das Leistungsniveau, die Ausgabenseite und vor allen Dingen die Lohnnebenkosten betrifft. Ich glaube
nicht, dass es letztendlich zu einer deutlichen Beitragssatzsteigerung kommen wird. Das wird eher nicht der
Fall sein. Wie es konkret weitergehen wird, werden die
Debatten in diesem Hause zeigen.
Klar ist für uns - das hat die Regierung mit dem vorliegenden Entwurf des Haushaltsbegleitgesetzes gezeigt,
den wir als Koalition in diesem Punkt auch so beschließen werden -, dass wir den Bundeszuschuss reduzieren
müssen und dies auch tun werden.
({0})
Ich will noch auf einen anderen Punkt eingehen, der
in den vergangenen Tagen in der öffentlichen Debatte
eine Rolle gespielt hat, und zwar die Frage möglicher
Mehreinnahmen durch eine positive Entwicklung des
Steueraufkommens. Am vorigen Sonntag wurden mehrere einschneidende Wahlergebnisse erzielt. Eines davon
ist, dass uns der Kollege Paqué als Finanzminister in
Sachsen-Anhalt erspart bleibt. Seine Aussage, dass wir
die geplante Mehrwertsteuererhöhung nicht bräuchten,
weil wir aufgrund der besseren Konjunkturentwicklung
20 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen hätten - die
Wahl in Sachsen-Anhalt war letztendlich eine Volksabstimmung über dieses Thema; Sie haben dadurch die
Hälfte Ihrer Wähler verloren -, ist falsch. Nur ein Beispiel: Bei einer Steuerquote von 20 Prozent müsste das
BIP der Bundesrepublik um 100 Milliarden Euro wachsen, wenn wir Mehreinnahmen in Höhe von 20 Milliarden Euro erzielen wollten. 100 Milliarden Euro entsprechen 5 Prozent Wachstum des Bruttoinlandsprodukts.
Wenn ich die von uns prognostizierten 1,4 Prozent noch
addiere, dann komme ich auf einen Wert von
6,4 Prozent. Herr Kollege Koppelin, ich wäre froh, wir
hätten ein solch starkes Wachstum. Aber ich glaube, dass
das fernab jeder realistischen Schätzung ist und eines seriösen Haushälters und ehemaligen Finanzministers
nicht würdig ist.
Die Debatte der vergangenen Tage darüber, wie wir
entweder auf der Ausgabenseite oder auf der Einnahmenseite zu Verbesserungen kommen können - das hat
die Kollegin Hajduk vorhin angesprochen -, und die
Vorschläge der Opposition dazu sind bislang nicht zielführend. Ich hoffe, dass sich das noch ändert. Wir werden als Haushälter in den Haushaltsberatungen in den
nächsten zwei Monaten jedes Ressort unter die Lupe
nehmen.
({1})
Ich kann den Steuerzahlern versichern, dass wir als
Haushälter sehr genau darauf achten, dass kein Geld unnütz ausgegeben wird. Ich unterstelle nichts. Aber in der
Regel finden wir die eine oder andere überflüssige Ausgabe. Wir werden die Vorschläge, die von Ihnen kommen, gerne aufgreifen. Wenn ich aber die vergangenen
Jahre Revue passieren lasse, bin ich nicht sehr positiv
gestimmt. Nichtsdestotrotz bin ich für Vorschläge in der
Sache offen.
Der Punkt Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit
ist bereits angesprochen worden. Unsere Priorität in den
Haushaltsberatungen ist, die im Haushalt vorgegebenen
globalen Minderausgaben zu reduzieren. Wir wollen
die Wachstumskräfte und die Investitionstätigkeit zulasten der konsumtiven Ausgaben stärken, wo es möglich
ist und in der Gesamtverantwortung darstellbar ist. Wir
wollen außerdem - das ist mir ein persönliches Anliegen das Bund-Länder-Verhältnis, insbesondere die Verwendung der Solidarpaktmittel in den ostdeutschen Bundesländern, unter die Lupe nehmen.
({2})
Ich glaube, dass wir als Bundesgesetzgeber, der für den
Bundeshaushalt verantwortlich ist, hier die Zügel anziehen müssen. Wir müssen darauf achten, dass die ostdeutschen Bundesländer die zur Verfügung gestellten Mittel
so investieren, dass es dort bis 2019 eine sich selbst tragende wirtschaftliche Entwicklung gibt.
Ich möchte positiv erwähnen: Wenn man den Jahresabschluss 2005 der westdeutschen Flächenländer mit
dem der ostdeutschen Flächenländer vergleicht, dann
stellt man fest, dass es deutliche Unterschiede gibt. Das
Ausgabenwachstum in den ostdeutschen Flächenländern
beträgt nur 0,4 Prozent und ist geringer als das in den
Carsten Schneider ({3})
westdeutschen. Das heißt, dort gibt es bereits die Einsicht in die Notwendigkeit. Ich bin bestrebt, Reformbemühungen, sofern vorhanden, zu unterstützen und dort,
wo es keine gibt, zu initiieren. Ich glaube, dass das notwendig ist.
Der Blick nach Europa offenbart für die Bundesrepublik Gutes. Der Ecofin-Rat hat das Stabilitätsprogramm,
das die Bundesregierung unter Federführung von Finanzminister Steinbrück nach Brüssel gemeldet hat,
nicht nur zur Kenntnis genommen. Vielmehr sieht der
Rat die Haushaltsentwicklung des Jahres 2006 im Zusammenhang mit der des Jahres 2007.
({4})
Einer der entscheidenden Punkte ist, dass wir als die
größte Volkswirtschaft Europas und als diejenigen, die
den Stabilitätspakt auf den Weg gebracht haben - diesen halte ich für absolut notwendig und richtig -, den
Vorgaben genügen. Das heißt, dass wir im Jahr 2007 die
Maastrichtvorgaben erfüllen werden, zumindest was die
Neuverschuldung betrifft. Das gesamtstaatliche Defizit
wird dann voraussichtlich 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. Ich halte dies insbesondere deswegen
für wichtig, weil in anderen Ländern - viele sehen
Deutschland in gewisser Weise als Leitindikator - die
Daumenschrauben angezogen werden müssen. Auch innerhalb der Europäischen Union muss klar sein, dass
Haushaltskonsolidierung, das heißt eine zukunftsfähige,
verantwortungsvolle Finanzpolitik, eine der Prioritäten
ist, für die die Bundesrepublik steht, für die die
Sozialdemokraten stehen und allen voran Finanzminister
Peer Steinbrück.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat Dr. Axel Troost, Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Manchmal habe ich den Eindruck, auf der Regierungsbank sitzt nicht ein Minister Steinbrück, sondern dort sitzen zwei; der doppelte Steinbrück sozusagen. Steinbrück I sagt, wie in der Sonntagsausgabe der
„FAZ“ zu lesen ist - ich zitiere -: „Man spart sich aus
Haushaltsstrukturproblemen nicht heraus.“ Derselbe Minister sagt auch: „Der Haushalt muss das noch labile
Wachstum stützen.“ Und im Monatsbericht seines Hauses vom letzten Dezember heißt es: „Die Konsolidierungslast muss solidarisch von allen in unserer Gesellschaft getragen werden.“
({0})
Wenn ich das höre und lese, muss ich sagen: Weiter so,
Herr Minister! Bei diesen Aussagen steht die Linksfraktion hinter Ihnen.
({1})
Auch die neuen Parolen aus der SPD nach einem handlungsfähigen Staat finden unsere Unterstützung.
Nun kommt Steinbrück II. Er spricht eine ganz andere
Sprache. Nach der Agenda 2010, nach jahrelangen Sparrunden und Nullrunden bei den Rentnerinnen und Rentnern, nach jahrzehntelanger Umverteilung von unten
nach oben, nach alledem fordert Steinbrück II: Der Staat
muss Leistungen kürzen, die „übertriebene Anspruchshaltung“ muss im Zaum gehalten werden, der Staat muss
sich „auf seine Kernaufgaben konzentrieren“ und auf
„Eigenverantwortung“ setzen; so der Wortlaut seiner
Grundsatzrede von Anfang Januar.
So heißt es auch im Deutschen Stabilitätsprogramm
vom Februar 2006 wörtlich:
Ohne eine Rückführung der Sozialleistungsquote
können die … Konsolidierungsziele … nicht erreicht werden.
„Reduktion auf die Kernaufgaben“ hieß aber immer
schon Sozialabbau. Das war stets die Kampfparole der
FDP und des Arbeitgeberflügels der CDU/CSU, Herr
Minister. Was heißt denn, man könne nicht mehr „einen
vornehmlich konsumtiv ausgerichteten Sozialstaat“
finanzieren? Wann begreifen Sie endlich, dass Sozialleistungen im Sozialstaat entwickelter Industriegesellschaften kein Geschenk, keine Befriedigung von Bedürftigkeit bedeuten, sondern einen Rechtsanspruch auf
soziale Sicherheit darstellen?
({2})
In diesem Verständnis von Sozialstaat unterscheiden wir
uns auch von den Kolleginnen und Kollegen von der
SPD fundamental.
Jetzt komme ich zum Haushalt. Welcher Minister hat
ihn nun entworfen, Steinbrück I oder Steinbrück II? In
Ihrem 25-Milliarden-Sofortprogramm werden zusätzliche Investitionen in Verkehr, Forschung, Energie und
Umweltsanierung angekündigt. Das klang in Genshagen
sehr beeindruckend. Ob das alles übrigens zusätzlich erfolgt, sei noch dahingestellt.
Ihr Haushalt spricht aber eine andere Sprache: Die investiven Ausgaben des Bundes steigen gerade einmal
um eine halbe Milliarde Euro: von 22,7 Milliarden Euro
in 2005 auf 23,2 Milliarden Euro in 2006 bis 2009.
Das bedeutet erstens: Sie liegen immer noch unterhalb des Niveaus der Jahre bis 2004 und damit auch
deutlich unterhalb des Durchschnitts der Eurozone. Mit
diesem investiven Teil Ihres Sofortprogramms stoppen
Sie gerade einmal den Abwärtstrend der öffentlichen Investitionen in den letzten 20 Jahren. Eine Trendwende
zur Verbesserung von Straßen und öffentlichem Verkehr,
von Schulen und Universitäten ist das nicht. Wo da der
Aufbruch im Land bleibt, den Frau Merkel feierlich verkündet hat, bleibt mir schleierhaft.
Wir begrüßen uneingeschränkt, dass die Bundesregierung endlich auf Forderungen nach Zukunftsinvestitionen eingeht, die unsere Fraktion, kritische Wissenschaftler,
aber auch die IG Metall, Verdi und andere Gewerkschaften seit langem erheben. Es gibt nur ein kleines Problem:
IG Metall und Verdi fordern mindestens 20 Milliarden
Euro bzw. 40 Milliarden Euro pro Jahr. Was sagen Sie zu
der Aussage der „Financial Times“ vom 10. Januar, dass
eine Konjunkturpolitik mit einem Volumen von 60 Milliarden Euro pro Jahr notwendig wäre, wollte die Bundesregierung, bezogen auf das jeweilige Bruttoinlandsprodukt, eine ähnliche Finanzpolitik wie die USA
machen?
({3})
60 Milliarden Euro jährlich, nicht 6 Milliarden Euro wären geboten. So ist die Lage in unserem Land.
({4})
Aber es bleibt zweitens leider nicht bei der Kritik der
Miniexpansion. Bezogen auf das laufende Jahr ist Ihr
Haushalt im Saldo gerade nicht expansiv, sondern restriktiv. Ich verweise hier auf eine Analyse des Instituts
für Makroökonomie und Konjunkturforschung. Sie haben nämlich Ihre Kürzungen vergessen, Herr Minister,
wenn Sie von Expansion reden. Kürzungen bei den
Hartz-IV-Empfängern, Steuererhöhungen für Pendler
und Bezieher von Abfindungen, Kürzungen bei den
Nahverkehrspauschalen für die Länder, Kürzungen im
öffentlichen Dienst, Beitragserhöhungen für Rentnerinnen und Rentner. Das macht zusammen insgesamt
4,5 Milliarden Euro.
({5})
Bei aller keynesianischen Rhetorik: Sie bleiben letztlich
bei dem Schrumpfkurs Ihres Vorgängers. Dieser Kurs ist
aber gnadenlos gescheitert und bei der letzten Bundestagswahl gerade abgewählt worden.
({6})
Nun kommt im nächsten Jahr die Mehrwertsteuererhöhung mit 15 bis 17 Milliarden Euro jährlich, die noch
zusätzlich die Binnennachfrage belastet und - das wollen wir nicht vergessen - in erster Linie auf Kosten der
unteren Einkommensschichten geht, die immer noch die
Hauptlast von Mehrwertsteuererhöhungen tragen müssen. Wir bleiben deshalb dabei: Unter dem Strich ist dieser Haushalt kein Haushalt für Wachstum und Beschäftigung, sondern für Schrumpfung und Arbeitslosigkeit,
ein Haushalt der sozialen Ungerechtigkeit.
({7})
Nun zum Thema Schulden. Die Staatsschulden in
Deutschland haben 2005 das vierte Mal in Folge die
Maastrichtkriterien verletzt. Vermutlich wird es auch
dieses Jahr wieder geschehen. Im vorliegenden Haushalt
liegt die Neuverschuldung in der Tat um 65 Prozent über
den Investitionen.
Unsere Position hierzu ist klar: Wir lehnen die
Maastrichtkriterien ab. Sie sind ein Produkt monetaristischer Ideologie.
({8})
Sie sind, um mit Prodi zu sprechen, dumm und töricht.
Sie wirken prozyklisch und sie widersprechen
Steinbrück I, dem zufolge man sich eben nicht aus der
Krise heraussparen kann.
({9})
Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, die in
Brüssel seit längerem stattfindende Diskussion über die
wachstumsorientierte Neuinterpretation der Kriterien zu
beschleunigen. Man hört in der Öffentlichkeit sehr wenig davon.
({10})
Die öffentlichen Investitionen sind mit gerade einmal
1,3 Prozent des BIP ein kümmerlicher Rest. Das ist ein
historischer Tiefstand. So wie die Dinge bei uns stehen,
kommen wir an einer Kreditfinanzierung solcher Investitionen nicht vorbei. Kreditfinanzierung ist für eine antizyklische Finanzpolitik unverzichtbar. Abbau von
Verschuldung über eine Spar-, Schrumpfungs- und Umverteilungspolitik zulasten breiter Teile der Bevölkerung
wirkt ökonomisch verheerend.
Das Problem bei der Verschuldung ist ein ganz anderes: Unter Rot-Grün ist mit voller Zustimmung von
Schwarz-Gelb - das wurde heute hier noch einmal deutlich - die Verschuldung zur Lückenbüßerin für eine massive Senkung der Steuerquote verkommen.
({11})
Klar wird damit, dass der Rückgang der Steuerquote
nicht nur auf die schwache wirtschaftliche Entwicklung
der vergangenen Jahre zurückzuführen ist, sondern erstens auf eine völlig verfehlte Steuersenkungspolitik seit
({12})
und zweitens auf die katastrophalen Wirkungen der Steuerentlastungen zugunsten der Wirtschaft. Zur Erinnerung:
Hätten wir heute die Steuerquote des Jahres 2000, dann
wäre die nötige Neuverschuldung null. Auf Basis der
Steuerquote von 2000 hätte der Staat circa 65 Milliarden
Euro mehr. Das ist die ganze Wahrheit, meine Damen
und Herren.
({13})
Insofern ist es ein Treppenwitz, jetzt das zu schwache
Steuersubstrat zu beklagen. Das ist geradezu eine dreiste
Verhöhnung der Öffentlichkeit. Sie haben doch das Steuersubstrat verkommen lassen.
({14})
Schließlich ein Wort zu internationalen Zusammenhängen: Die Wirkungen Ihres Haushalts lassen sich natürlich ohne die gesamtwirtschaftlichen und weltwirtschaftlichen Zusammenhänge nicht angemessen
beurteilen. Wir haben es heute weltweit mit einem qualitativen Wandel des Kapitalismus zu tun. Der so genannte
organische oder organisierte Kapitalismus - bei uns auch
Deutschland AG genannt - wird vom Finanzmarktkapitalismus abgelöst.
({15})
Wir haben es mit einer explosionsartigen Anhäufung privater Vermögen und Anlage suchender Liquidität zu tun.
Schätzungen besagen, dass weltweit inzwischen insgesamt 36 Billionen Euro, also 36 000 Milliarden Dollar,
an privaten Finanzvermögen vorhanden sind.
({16})
- Nein.
Dies ist natürlich ein Problem. Dafür gibt es drei
Gründe: Erstens. Die Ausweitung der privaten Alterssicherung bedeutet einen entsprechenden Zuwachs der
Pensionsfonds.
({17})
Zweitens. Die Umverteilungspolitik bewirkt einen
Anstieg der Geldvermögen. Drittens. Es gibt unzureichende Verwertungsbedingungen, die ebenfalls zu entsprechenden Anlagen in Finanzkapital führen.
({18})
- So ist das, ja. Aber dann muss man sich darüber Gedanken machen, welche Alternativen man bietet. Ich
versuche gleich noch, das zu erklären.
({19})
Alles zusammen führt zu neuen Finanzierungsformen
der Unternehmensinvestitionen, weg vom Bankkredit
hin zu Aktien, Anleihen, Investmentfonds und privaten
Investmentfirmen, zur konsequenten Profitsteuerung
sämtlicher Unternehmensbereiche.
({20})
Weltweit vorgegebene Renditeziele werden zum entscheidenden Bezugspunkt der Unternehmensentscheidungen. Das „Durchregieren“ immer flatterhafterer Finanzmärkte in die nationalen Ökonomien, in einzelne
Unternehmen und Unternehmensteile führt zu wachsender Abhängigkeit von spekulativen Entwicklungen der
Absatz- und Finanzkonjunkturen. Die Folge sind immer
kurzfristigere Ad-hoc-Reaktionen des Managements.
Strategische Planung wird zur Nebensache.
Folge ist die Unterwerfung der Unternehmensführungen unter das Diktat der Finanzvorstände und nicht zuletzt die Explosion der Managergehälter, die 1980 noch
das 40fache des Facharbeitergehaltes ausmachten, in
2003 aber sage und schreibe das 400fache.
({21})
Das ist ein verteilungspolitischer Skandal.
({22})
Norbert Walter von der Deutschen Bank bezeichnet
die Finanzmärkte als die vierte Gewalt im Staat.
Tietmeyer zufolge haben die Politiker immer noch nicht
gemerkt, wie sehr sie von den Finanzmärkten insgesamt
beherrscht werden.
({23})
Ich komme zum Schluss. Herr Fischer hat auf eine
provokante Frage von Delegierten auf einem Verdi-Kongress mit einer Gegenfrage geantwortet: Wollt ihr etwa
eine Politik gegen das internationale Finanzkapital
machen? Diese Frage beantworten wir eindeutig: Ja, genau das wollen wir.
({24})
Wir wollen es, weil es gar keine andere Wahl gibt. Die
Menschen sind immer weniger bereit, sich zur Geisel der
Renditeansprüche der Vermögensbesitzer und der Verarmung der öffentlichen Hand zu machen.
({25})
Genau das zeigen die Streiks im öffentlichen Dienst,
der Kampf bei AEG, der Widerstand gegen Privatisierungen, die Proteste der sozialen Bewegungen. Sie lassen dies alles einfach so weiterlaufen. Wir sind in der Tat
der Ansicht: Hier muss eingegriffen werden. Wir wollen
mit dafür sorgen, dass die Gewerkschaften, dass die sozialen Bewegungen mit unserer Fraktion wieder ein
Sprachrohr haben, um gegen diese Entwicklungen einzuschreiten.
Danke schön.
({26})
Das Wort hat der Herr Kollege Georg Fahrenschon,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wenn man den Finanzplan 2002 bis 2006
zur Grundlage der heutigen Debatte gemacht hätte, dann
wäre der Bundeshaushalt im Jahre 2006 eigentlich ein
überaus positives Signal gewesen, und zwar einerseits
für den Standort Deutschland und andererseits insbesondere für die junge Generation; denn ursprünglich - so
waren die Planungen von Rot-Grün - sollte das
Jahr 2006 das Jahr sein, in dem der Bund erstmals wieder ohne neue Schulden auskommt.
({0})
Dass diese rot-grünen Planungen völlig aus dem Ruder
liefen, beweist unsere heutige Situation. Es ist nicht nur
so, dass wir 2006 keine Null-Neuverschuldung erreichen, sondern auch so, dass der Bund das
Haushaltsjahr 2005 im Ist mit einer historisch hohen
Neuverschuldung von 31,2 Milliarden Euro abschloss.
Es bedarf größter Anstrengungen, den Haushalt 2006
überhaupt zu organisieren. Das ist - so viel gehört zum
Stichwort „Klarheit und Wahrheit“ auch bei der Einbringung des Bundeshaushalts 2006 gesagt - die Schlussbilanz der rot-grünen Vorgängerregierung.
({1})
Der Bundesetat befindet sich in einer dramatischen
Schieflage, in der dramatischsten der Nachkriegsgeschichte. In den vergangenen sieben Jahren wurden insgesamt 200 Milliarden Euro neue Schulden gemacht.
Das strukturelle Defizit, also die ständige Differenz
zwischen den regelmäßigen Einnahmen und den Ausgaben, liegt bei rund 60 Milliarden Euro. Die Zinszahlungen auf Schulden des Bundes sind mittlerweile der
zweitgrößte Posten bei den Staatsausgaben Deutschlands
geworden und machen damit 15 Prozent aller Ausgaben
des Bundeshaushalts aus. Die Summe der Ausgaben
für Soziales, Zinsen und Personal allein liegt schon
deutlich über den Steuereinnahmen der Bundesrepublik
Deutschland. 198 Milliarden Euro müssen wir oder wollen wir für Soziales, Zinsen und Personal ausgeben, wir
haben aber nur noch Steuereinnahmen von 192 Milliarden Euro. Im Gegenzug wurden 2005 für Investitionen
nur noch 23 Milliarden Euro ausgegeben. Das sind weniger als 10 Prozent des Ausgabenvolumens.
Das Fazit, die bittere Wahrheit, lautet deshalb: Erstens. Die Investitionsquote befindet sich auf einem historischen Tiefstand. Zweitens. Jeden fünften Euro, den der
Bund heute ausgibt, hat er eigentlich gar nicht.
({2})
Drittens. Der wirtschaftspolitische Handlungsspielraum
ist mittlerweile auf ein Minimum reduziert.
({3})
Das muss uns schon zum Nachdenken bringen.
({4})
Wer die Steuereinnahmen allein für Zinsen, Personal und
langfristige gesetzliche Verpflichtungen ausgeben muss,
der kann den Auftrag des Wählers zur aktuellen Politikgestaltung nicht mehr erfüllen. Uns muss klar sein, dass
das Haushaltsproblem mittelfristig zu einem Demokratieproblem werden kann. Das ist die finanzpolitische Realität. Das ist die bittere Schlussbilanz der Regierung
Schröder.
({5})
Das ist gleichzeitig die problematische Anfangsbilanz
der großen Koalition.
Unter diesen Vorzeichen sind der von der großen Koalition vorgelegte Haushaltsentwurf 2006 und das dazugehörige Haushaltsbegleitgesetz zu sehen. Vor diesem
Hintergrund glaube ich - da befinde ich mich in Übereinstimmung mit dem Kollegen Schneider -, dass wir es
hier mit einem Haushalt des Übergangs zu tun haben.
Er enthält einen wichtigen Zweiklang, nämlich sanieren
und gleichzeitig Impulse für Wachstum und Beschäftigung setzen.
({6})
Er wurde in dem Bewusstsein aufgestellt, dass ohne
Wachstum keine Sanierung und ohne Konsolidierung
kein Wachstum möglich ist.
({7})
Weil wir dringend wirtschaftliches Wachstum brauchen,
nur deshalb liegt die Nettokreditaufnahme 2006 mit
rund 38 Milliarden Euro deutlich über der Grenze, die
das Grundgesetz als Regel vorgibt.
({8})
Denn man muss sich damit auseinander setzen, dass
man den aufkeimenden Aufschwung und das gewünschte gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht nicht kaputtmacht. Aus dem Grunde gehen wir absolut sachgerecht im Rahmen des Grundgesetzes vor. Wir nehmen
für das Jahr 2006 die Ausnahmeregelung des Grundgesetzes in Anspruch, um 2007 - das ist die Argumentation - einerseits den Vertrag von Maastricht und andererseits die Vorgabe des Art. 115 Grundgesetz einhalten zu
können.
({9})
Eine weitere bittere Wahrheit ist, dass die aktuelle
Struktur des Bundeshaushalts, zum Beispiel die hohe
Sozialausgabenquote mit rund 134 Milliarden Euro
- das ist in etwa die Hälfte der für das Jahr 2006 geplanten Ausgaben -, absolut nicht zufrieden stellend ist. Zusammen mit Zinsen und Personalausgaben sind bereits
drei Viertel der Bundesausgaben als konsumtive Ausgaben gebunden. Im Ergebnis bedeutet das, dass wir keinerlei Spielraum mehr für Zukunftspolitik haben. Vor
dem Hintergrund kommen wir an einer - nicht zufrieden
stellenden, aber finanzpolitisch notwendigen - Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht vorbei.
Dabei muss es allerdings gerecht zugehen. Keiner soll
unnötig und übermäßig belastet werden. Aus dem Grund
ist es unbedingt notwendig, dass wir zum Beispiel die
Vorsteuerpauschale für land- und forstwirtschaftliche Betriebe entsprechend der 3-prozentigen Mehrwertsteuererhöhung anpassen.
({10})
Die CSU-Landesgruppe wird sich im weiteren Verlauf
der Haushaltsberatungen insbesondere dafür einsetzen.
Der Haushalt 2006 und der Finanzplan bis 2009 sind
der in Zahlen gegossene Fahrplan der großen Koalition
zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Ich
versichere Ihnen: CDU und CSU werden es gemeinsam
mit den Kollegen von der SPD schaffen, dass wir ab dem
Bundeshaushalt 2007 die Regelgrenze der Neuverschuldung nach Art. 115 des Grundgesetzes und den Stabilitätspakt wieder einhalten werden.
Wir dürfen dabei jedoch nicht vergessen, dass das ein
schwieriger Weg sein wird. Der Koalitionsvertrag gibt
hierfür eine klare, dreistufige Marschroute vor: Erstens.
Auf der Ausgabenseite werden Einsparungen im öffentlichen Dienst, in der Bundesverwaltung und im
Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende vorgenommen. Zweitens schließt sich dem ein spürbarer Abbau von Finanzhilfen und Steuervergünstigungen an.
Drittens ist im darauf folgenden Schritt eine sozial vertretbare Erhöhung der Einnahmen vorgesehen, wobei
am ermäßigten Satz der Umsatzsteuer nicht gerüttelt
wird.
Die Bewältigung der zweigeteilten Operation - Konsolidierung einerseits und Erhöhung der Investitionsquote andererseits - bedarf dauerhafter wirtschaftlicher
Erholung. Nur ein langfristig höheres Wirtschaftswachstum aktiviert wieder die entscheidenden Hebel
des Wirtschaftsmotors Deutschlands: Durch ein höheres
Wirtschaftswachstum entstehen dauerhaft mehr Arbeitsplätze. Mit jedem neuen Arbeitsplatz sinken die Ausgaben für den Arbeitsmarkt. Mit jedem neuen Beitragszahler steigen die Einnahmen in den Kassen der sozialen
Sicherungssysteme. Last, but not least steigt mit jedem
neuen Arbeitsplatz natürlich auch das Steueraufkommen
für Bund, Länder und Gemeinden.
({11})
Um Investitionen in Deutschland wieder zu entfachen, ist neben der Aufstellung des Bundeshaushalts die
Reform der Unternehmensbesteuerung von zentraler
Bedeutung. Die Belastung der unternehmerischen Einkünfte ist im internationalen Vergleich zu hoch. Die
durchschnittliche Steuerbelastung für Kapitalgesellschaften liegt in der Europäischen Union bei rund
25 Prozent; in Deutschland liegt sie derzeit bei etwa
39 Prozent. Damit unsere Unternehmen auch weiterhin
international wettbewerbsfähig bleiben, ist es daher nötig, die steuerliche Belastung ihrer Einkünfte deutlich zu
senken. Zielmarke dabei ist eine Ertragsteuerbelastung
von höchstens 30 Prozent. Dies wird die große Koalition
mit einer umfassenden Unternehmensteuerreform angehen und damit einen weiteren wirtschaftlich wichtigen
Impuls für die deutschen Unternehmerinnen und Unternehmer geben.
({12})
Insbesondere vor dem Hintergrund, dass jährlich für
eine große Anzahl von Unternehmen der Generationswechsel ansteht, wurde im Koalitionsvertrag zusätzlich
die Reform der Erbschaftsteuer spätestens zum 1. Januar 2007 vereinbart. Ich bedanke mich an dieser Stelle
beim Bundesfinanzminister für seine klaren Zusagen,
dass sein Haus engagiert an der Abarbeitung dieses Ziels
des Koalitionsvertrags arbeitet.
Um das noch einmal zu unterstreichen: Allein in Bayern stehen nach einer Studie des bayrischen Wirtschaftsministeriums in den kommenden fünf Jahren rund
63 000 Unternehmensübertragungen von mittelständisch geführten Betrieben an. Das bedeutet, eine halbe
Million Arbeitsplätze sind von dem Wechsel in der Betriebsführung betroffen. Eine zügige Umsetzung der
Erbschaftsteuerreform ist eminent wichtig, um den Führungswechsel in mittelständischen Unternehmen optimal
zu unterstützen und um die Arbeitsplätze nachhaltig zu
sichern.
({13})
Für den weiteren wirtschaftlichen Aufschwung ist auch
diese Reform alternativlos.
Meine Damen und Herren, ich komme zu einer abschließenden Bewertung. Wenn man sich den Bundeshaushalt 2006 anschaut, dann muss man feststellen, dass
dieser Haushalt des politischen Übergangs und die Finanzplanung bis 2009 in struktureller Hinsicht sehr ernüchternd sind. Die hohe Sozialausgabenquote bleibt nahezu unangetastet. Die Innovationsquote sinkt bis 2009
auf nur noch 8,5 Prozent. Ein Signal, die Neuverschuldung in den kommenden Jahren auf null zu senken, fehlt.
Das liegt zum Teil daran, dass wir im Finanzplan nur
vier Jahre abdecken können.
Aber auch in diesem Punkt möchte ich dem Kollegen
Schneider unsere Unterstützung signalisieren: Es muss
unser Ziel sein - bezogen auf einen Zeitraum von acht
Jahren -, die Null-Neuverschuldung anzupeilen.
({14})
Wir müssen die Haushaltsberatungen dazu nutzen, in einem ersten Schritt die geplante Nettokreditaufnahme zu
reduzieren. Wir werden jede Möglichkeit dazu nutzen.
Es bleibt viel zu tun.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege JörgOtto Spiller.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Fahrenschon, ich finde es gut, dass
wir in einer großen Koalition sind.
({0})
Denn das trägt dazu bei, dass sich auch Ihre Fraktion der
finanziellen Wirklichkeit erheblich angenährt hat, auch
wenn sich das nicht in jedem Redebeitrag wiederfindet.
({1})
Ich finde es auch hervorragend, dass auf der Bundesratsseite die Weisheit erheblich zugenommen hat,
({2}):
Ja, das sieht man! - Weiterer Zuruf: Da ist gar
keiner!)
seit die Länder nicht mehr durch die Parteidisziplin davon abgehalten werden, eigenen Interessen mehr Gewicht zu geben und auch auf die Stabilisierung ihrer Einnahmen zu achten. Insgesamt ist das ein gutes Ergebnis.
Im Rahmen der laufenden Einnahmen haben der
Bund und die Länder gleichmäßig Anspruch auf
Deckung ihrer notwendigen Ausgaben … Die Deckungsbedürfnisse des Bundes und der Länder sind
so aufeinander abzustimmen, dass ein billiger Ausgleich erzielt, eine Überbelastung der Steuerpflichtigen vermieden und die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet gewahrt wird.
So steht es in Art. 106 des Grundgesetzes.
Es ist selten, dass über den finanziellen Bedarf unseres Gemeinwesens so viel in den Debatten gesprochen
wird. Beliebter ist natürlich die Frage, wie man eine
Überbelastung der Steuerbürger vermeiden kann.
Herr Kollege Dr. Solms, das ist Ihr Spezialgebiet. Mit
diesem Thema beschäftigt man sich auch in vielen Talkshows. Aber die eigentlich aktuelle Frage lautet: Wie
kommen wir zu einer Stabilisierung der Einnahmen unseres Gemeinwesens insgesamt, also des Bundes, der
Länder und der Gemeinden?
({3})
Dies ist notwendig, damit dieser Staat handlungsfähig
bleibt und seine Aufgaben erfüllen kann, damit er
Sozialstaat bleibt und damit er ein guter Standort für Unternehmen ist, die im Wettbewerb stehen.
Wir haben in den vergangenen fünf Jahren beim Abbau von teilweise als übermäßig empfundenen Belastungen der Steuerbürger Großes geleistet. Es ist bei der Einkommensteuer - querbeet durch die Gesellschaft, also
für Arbeitnehmer, Selbstständige und mittelständische
Unternehmen - eine deutliche Entlastung erreicht worden. In ähnlicher Weise gilt das auch für die Kapitalgesellschaften.
Ich erinnere daran, dass der Eingangssteuersatz bei
der Einkommensteuer 1998 bei 25,9 Prozent lag. Heute
liegt er bei 15 Prozent. Der Spitzensteuersatz lag damals
bei 53 Prozent. Er liegt heute bei 42 Prozent. Die Grundfreibeträge und andere Freibeträge sind deutlich angehoben worden und die Gewerbesteuer - das ist für die
mittelständischen Unternehmen, die als Personenunternehmen geführt werden, besonders wichtig - ist mit der
Einkommensteuerschuld verrechenbar, was eine wirklich massive Entlastung des Mittelstandes bewirkt hat.
({4})
Das wollten wir. Herr Dr. Troost, es gab für diese Politik
auch gute Gründe. Denn der Spitzensteuersatz von
53 Prozent ist faktisch von so gut wie keinem einzigen
privaten Haushalt gezahlt worden. Es gab genügend
Möglichkeiten, durch Steuersparmodelle seine Steuerpflicht sogar legal zu vermindern. Tatsächlich gezahlt
wurde der Spitzensteuersatz eigentlich nur von ertragreichen Personenunternehmen. Die wollten wir entlasten
und die haben wir entlastet.
({5})
Wir haben gleichzeitig etwas gemacht, was überfällig
war: Wir haben Steuerschlupflöcher dicht oder zumindest deutlich enger gemacht. Wir haben durch diese Politik erreicht, dass der Tarif wieder Gültigkeit hat. Ein
Blick auf die Entwicklung der veranlagten Einkommensteuer belegt das. Leider ist die amtliche Steuerstatistik
eher verwirrend als erhellend, weil in Bezug auf die veranlagte Einkommensteuer immer nur Salden mitgeteilt
werden. In der Statistik wird nämlich nicht die veranlagte Einkommensteuer erfasst, die tatsächlich gezahlt
worden ist. Vielmehr werden alle Lohnsteuererstattungen, die Eigenheimzulage und die Investitionszulagen,
die Personenunternehmen zufließen, abgezogen. Am
Ende kommt dann ein erstaunlich niedriger Betrag heraus.
Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, die unbereinigten Zahlen, die Bruttozahlen, das tatsächliche Aufkommen bei der veranlagten Einkommensteuer zu
errechnen. 1998 betrug es 31 Milliarden, 2005 fast
39 Milliarden. Trotz der Senkung des Satzes ist ein kräftiger Anstieg des Aufkommens festzustellen, weil die
Schlupflöcher zugemacht worden sind.
Wir hätten in dieser Richtung noch mehr erreichen
können. Die Fantasie der Erfinder von Steuersparmodellen ist - das ist leider so - nahezu unerschöpflich. Da ist
ein Stück Wettlauf dabei. Manchmal ist das wie bei dem
Märchen vom Hasen und dem Igel. Wir wären schneller
gewesen, wenn der Bundesrat nicht so häufig blockiert
hätte.
({6})
Es ist ein großer Vorteil der großen Koalition, dass wir
an einem Strang ziehen, dieselbe Richtung verfolgen
und uns von Vernunft leiten lassen
({7})
und nicht von Streitsucht.
Wir hatten, so finde ich, im Dezember 2005 einen
sehr guten Einstieg. Wir haben damals die ersten Finanzgesetze verabschiedet. Das war zum einen der endlich
fällige Abbau der Eigenheimzulage, der vom Bundestag längst beschlossen war.
({8})
- Der möge Ihnen bewahrt bleiben. Ich hoffe, dass er Ihnen gut tut.
Zum anderen haben wir im Dezember etwas gemacht,
was auch überfällig war: Wir haben die ausufernden
bzw. wuchernden Steuerstundungsmodelle im Bereich
der Medienfonds und Umgebung - leider hat Herr Trittin
ein bisschen gebremst - ausgetrocknet. Auch das war ein
großer Vorteil. Wir nähern uns unserer Verpflichtung,
dafür zu sorgen, dass die öffentliche Hand das Geld bekommt, das sie für die Erfüllung der öffentlichen Aufgaben braucht.
({9})
Das passt ganz schön zu meinem nächsten Punkt. Es
ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass wir eine
der niedrigsten Steuerquoten in Europa haben. Sie betrug im Jahr 2005 20,1 Prozent. Damit ist unsere Steuerquote niedriger als die Steuerquote in der Schweiz, in Irland, in Österreich oder in Luxemburg. Ich zögere
manchmal, das einfach so im Raum stehen zu lassen;
denn bei Diskussionen erlebe ich gelegentlich, dass gesagt wird: Wenn die Steuerbelastung in der Volkswirtschaft insgesamt 20 Prozent beträgt, dann mache ich
vielleicht etwas falsch. Meine Steuerbelastung ist wesentlich höher. - Diese Aussage ist legitim.
({10})
- Es geht nicht um den Steuerberater, Herr Kollege. - Es
ist unsere Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Durchlöcherung des Steuerrechts aufhört. Dabei müssen aber nicht
nur beim Steuerrecht die Lücken geschlossen werden,
sondern auch beim Vollzug des Rechtes.
({11})
Ich will jetzt nicht die ganze Palette dessen, was wünschenswert und erforderlich ist, aufzählen. Eines aber
kann ich mir nicht verkneifen. Es ist kein Ruhmesblatt
des deutschen Föderalismus, dass es die 16 Landesfinanzverwaltungen in den letzten 20 Jahren nicht geschafft haben, ein einheitliches EDV-System einzurichten.
({12})
Wir werden beim Abbau ungerechtfertigter Steuersubventionen weiter voranschreiten müssen. Wir müssen mit
Blick auf die Handlungsfähigkeit des Staates - nicht
nur, aber auch des Bundes - altbekannte Vergünstigungen auf den Prüfstand stellen.
Ich glaube, dass in diesem Hause und auch in weiten
Teilen der Gesellschaft Konsens darüber besteht, dass
die Zukunft unseres Landes zu einem guten Teil dadurch
bestimmt werden wird, ob es uns gelingt, auf zwei Feldern erfolgreich zu operieren. Bildung, Wissenschaft,
Forschung und Innovation stellen das eine Feld dar,
die Vereinbarkeit von Beruf und Familie das andere.
Auf dem zweiten Feld haben wir im Rahmen der Steuergesetzgebung gerade etwas sehr Vernünftiges beschlossen. Bezüglich des ersten Feldes lasse ich einmal dahingestellt, wie die weiseste Verteilung der Kompetenzen
zwischen Bund, Ländern und Gemeinden bei diesen
Schlüsselfragen der Gesellschaft aussieht. Aber dass der
Staat insgesamt, also Bund, Länder und Gemeinden,
Geld braucht, um diese Aufgaben angemessen wahrnehmen zu können, sollte doch zumindest zwischen uns, innerhalb der großen Koalition, unbestritten sein.
Ich will nicht nur vom Guten und vom Schönen reden. Ich weiß, dass die notwendige Anhebung der
Mehrwertsteuer, die wir heute mit der Einbringung des
Entwurfs eines Haushaltbegleitgesetzes ankündigen,
nicht nur Jubel auslösen wird. Ich sage auch ganz offen,
dass das nicht mein Traum war. Auch die Kollegen von
der Union hätten sich Schöneres vorstellen können; da
bin ich ganz sicher. Dass man aber auch unbequeme
Wege gehen muss, um die Einnahmen zu stabilisieren,
ist bei allem Streit um Einzelheiten sicherlich eindeutig.
Auch im Steueränderungsgesetz, das angekündigt ist,
werden einige Belastungen enthalten sein, die für den
Bundestag, wenn er sie beschließt, nicht bequem sein
werden, ebenso wenig wie für viele Bürger, denen wir
diese Belastungen zumuten. Aber es gehört auch zur
Ehrlichkeit, dass man nicht nur abstrakt darüber redet,
wie man stabilisiert, konsolidiert und eine ökonomisch
vernünftige Finanzpolitik betreibt. Der Kollege
Dr. Troost hatte das einfache Rezept: Von den USA lernen heißt siegen lernen.
({13})
Das ist deswegen so pikant, weil deren Konjunkturprogramm insbesondere in umfangreichen Rüstungsausgaben besteht; aber das müssen wir vielleicht nicht vertiefen.
({14})
Bei der FDP - das ist Tradition, das werfe ich Ihnen
nicht vor - ist die Hoffnung sehr groß, dass man durch
die Rücknahme des Staates sehr viel erreicht.
({15})
Ihnen empfehle ich die Lektüre des jüngsten Bundesbankberichts. Es wird ja, was auch verständlich ist, gern
aus dem Kurzbericht zitiert, weil er sich leichter lesen
lässt. Darin gibt es auch ein paar kritische Anmerkungen
zur Koalition, zum Finanzminister und zum Haushaltsgesetzgeber.
({16})
Darüber hinaus steht darin aber auch etwas, was für die
FDP hoch spannend wäre: eine sehr sorgfältige Analyse
der Entwicklung von Einnahmen und Ausgaben im Gesamtstaat.
({17})
Diese Analyse spricht dafür, dass unser Problem im Wesentlichen ein Einnahme-, nicht ein Ausgabeproblem ist.
({18})
Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu einem wichtigen Vorhaben machen, das auch jenseits der
Finanzpolitik im engeren Sinne von großer Bedeutung
ist, weil es auf die wirtschaftliche Entwicklung ausstrahlt: die Unternehmensteuerreform. Wir haben sie
nicht erst im Koalitionsvertrag festgelegt; die Grundidee
dazu gab es schon ein Jahr vorher. Bereits im März 2005
gab es die Verabredung, die Unternehmensteuersätze zu
senken, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit
des Standortes zu stärken.
Inzwischen gibt es zusätzliche Ideen, wie man die Reform ausgestalten kann. Die Stiftung Marktwirtschaft,
der Sachverständigenrat und auch andere haben sich zu
Wort gemeldet. Der Sachverständigenrat ist dazu auch
ausdrücklich ermuntert worden. Ich finde alle Vorschläge sehr bedenkenswert, und man wird sie sorgfältig
prüfen müssen. Das Ei des Kolumbus jedoch habe ich,
offen gestanden, noch nicht entdeckt.
Es gibt insbesondere einen Punkt, den man nicht so
schnell beiseite schieben kann. Es wird nicht möglich
sein, Steuermindereinnahmen in Höhe von 10 oder
20 Milliarden Euro einfach hinzunehmen, wie uns Sachverständige und Stiftung Marktwirtschaft schmackhaft
machen wollen. Irgendjemand muss auch die Miete für
den Elfenbeinturm bezahlen. Das Beiseiteschieben wird
nicht funktionieren.
({19})
Wir werden im vorgegebenen Zeitrahmen eine Unternehmensteuerreform machen, die sich nicht nur an den
Zielen Attraktivität des Standortes, weitestgehende
Rechtsformneutralität und ausreichende Finanzierung
der Gemeinden durch eine wirtschaftskraftbezogene Gemeindesteuer mit Hebesatzrecht - wir wollen das Interesse der Gemeinden am Gewerbe erhalten - orientieren
wird. Wir werden darüber hinaus darauf zu achten haben, dass die Einnahmen, die aus der Unternehmensbesteuerung erzielt werden, ein angemessener Preis für die
Bereitstellung eines guten Standortes sind. Das PreisLeistungs-Verhältnis muss stimmen. Das gilt in beide
Richtungen; denn es wäre uns nicht geholfen, wenn wir
nur die Einnahmen senkten, nicht aber die Qualität des
Standortes aufrechterhalten könnten.
Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit hängt auch davon ab, dass die staatlichen Aufgaben erfüllt werden und
die öffentlichen Infrastrukturen in Ordnung sind oder
nach Möglichkeit verbessert werden.
({20})
Das Wort hat nun für die CDU/CSU-Fraktion der
Kollege Jochen-Konrad Fromme.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die große Koalition hat die Meinungsunterschiede zwar
nicht beseitigt - die bleiben -, aber sie zwingt zum Kompromiss. Vor allen Dingen hat sie für den Einzug von
Realität gesorgt. Das ist wichtig und das ist, glaube ich,
schon der erste Erfolg.
Mit dem vorgelegten Haushaltsentwurf streben wir
den Dreiklang von Konsolidieren, Reformieren und
Investieren an. Das ist genau der richtige Weg und genau der richtige Einstieg. Ich will verdeutlichen, was Sanieren eigentlich heißt. Sanieren heißt, Einnahmen und
Ausgaben in Einklang bringen. Dafür gibt es theoretisch
zwei Möglichkeiten: Ich kann die Ausgaben senken oder
die Einnahmen erhöhen. Manch einer will natürlich lieber die Einnahmen erhöhen. Wenn ich Sie auf der linken
Seite des Hauses ansehe, sage ich: Sie sind erst bei
100 Prozent Staatsquote zufrieden, weil Sie dann alles
verteilen können. Sie scheinen nichts gelernt zu haben.
Das hat uns schon einmal in den Abgrund geführt.
({0})
Ein Teil unserer Probleme rührt nämlich daher, dass wir
für die Folgen von 40 Jahren Kommunismus bezahlen
müssen.
Entscheidend ist jedoch nicht die Staatsquote - darüber müssen wir uns im Klaren sein -, sondern die
Abgabenquote. Das ist das, was die öffentliche Hand
ausgibt. Alles, was die öffentliche Hand ausgibt, muss
erst eingenommen werden. Da wir in Deutschland als
Land ohne Rohstoffe von dem leben, was wir anderen
verkaufen, heißt das: Alle Kosten, die der Staat produziert, müssen auf die Preise aufgeschlagen werden. Dies
behindert uns, wenn es zu viel wird. Deswegen muss die
Staats- und Abgabenquote sinken. Das muss ein Kern
unserer Politik sein. Das müssen wir uns immer wieder
vergegenwärtigen.
({1})
So wie wir in den letzten Jahren, und zwar nicht nur
in den letzten sieben - die waren besonders schlimm -,
gearbeitet haben, können wir nicht weitermachen, weil
wir immer mehr ausgegeben als eingenommen haben.
Einnahmen und Ausgaben müssen in Einklang gebracht
werden.
So einfach ist das aber nicht. Natürlich hätten auch
wir lieber - das sage ich an die Adresse der Grünen und
der FDP - schneller konsolidiert und die Schulden heruntergefahren. Man muss sich aber die Blöcke im Haushalt verdeutlichen, um zu sehen, welche Möglichkeiten
man hat:
({2})
Von Ausgaben in Höhe von circa 250 Milliarden Euro
- wenn ich die Durchbuchung eines Mehrwertsteuerpunktes abziehe - entfallen 80 Milliarden Euro auf die
Rente, 40 Milliarden Euro auf Zinsen, 24 Milliarden
Euro auf die Verteidigung und 8,5 Milliarden Euro auf
die Versorgung. Das heißt, es sind bereits circa 150 Milliarden Euro in Blöcken festgelegt, die man nur langfrisJochen-Konrad Fromme
tig verändern kann. Wenn man konsolidieren will und
die nicht von vornherein festgelegten Ausgaben in Höhe
von 100 Milliarden Euro - das ist die Differenz - um
60 Milliarden Euro verringern will, dann geht das nicht
von heute auf morgen, sondern nur durch den Einstieg in
ein richtiges System.
Darum geht es: Auf Dauer sind nur gesunde Staatsfinanzen ein gutes Fundament für eine starke Konjunktur. All die Länder, deren Haushalte in Ordnung sind,
stehen wirtschaftspolitisch besser da als die anderen. Gesunde Staatsfinanzen müssen unser Ziel sein. Wir werden es aber nur mittelfristig erreichen können.
Klar ist, dass sich jede Veränderung auch auf die
Nachfrageseite auswirkt. Deswegen ist Konsolidierung
immer ein Spagat: Auf der einen Seite müssen Fortschritte bei der Konsolidierung gemacht und auf der anderen Seite darf die Binnenkonjunktur nicht kaputt gemacht werden. Man muss das richtige Gleichgewicht
finden. Dieser Spagat ist kompliziert, aber machbar. Das
wissen wir aus eigener Erfahrung. Das haben wir in den
Jahren 1982 bis 1989 schon einmal bewiesen, wo wir die
Staatsquote gesenkt haben. Wir hatten 1989, vor der
Wiedervereinigung, die niedrigste Staatsquote seit vielen
Jahrzehnten. Deswegen ging es uns 1989 so gut. Übrigens war das das Fundament, auf dem wir die Wiedervereinigung überhaupt nur verkraften konnten.
({3})
Das müssen wir wiederholen. Wir müssen aber scharf
darauf achten, wo es langgeht. Diese Haushaltskonsolidierung ist ein Ritt auf der Rasierklinge.
({4})
Ich habe gehört, dass wir Mehreinnahmen zu erwarten haben, weil die Wirtschaft besser läuft; darüber
freuen wir uns. Wir müssen aber aufpassen, dass nicht
die ersten kommen und sagen: „Wir brauchen doch gar
nichts zu verändern, das Problem löst sich ja von alleine.“ Das ist nicht so. Das ist nämlich eine konjunkturelle Veränderung; wir brauchen aber eine strukturelle
Veränderung.
({5})
Deswegen rate ich all denjenigen, die darüber nachdenken, wie man mehr Geld ausgeben kann, sehr zur
Vorsicht. Wir müssen zunächst weniger Geld ausgeben.
Ich sage einmal Folgendes an die Populisten gerichtet: Natürlich, wer möchte Kindertagesstätten nicht
kostenlos haben? Ich frage mich aber, ob das der richtige
Weg ist. Denn bei den Studiengebühren überlegen wir
uns gerade den strukturell anderen Weg.
({6})
Wir können das Geld doch nur dann ausgeben, wenn wir
es haben. Wenn wir jetzt aus populistischen Gründen die
Kindertagesstättenbeiträge für die Eltern abschaffen,
aber das Geld dafür nicht in den Haushalten haben, dann
schadet das der Qualität der Kindertagesstätten. Genau
das wollen wir nicht. Denn wir sind uns doch einig, dass
die Qualität der Betreuung gerade in den ersten Lebensjahren verbessert werden muss.
({7})
Deswegen gibt es zur Konsolidierung und Sanierung des
Staatshaushaltes keine Alternative.
Wenn so getan wird, als ob es erst jetzt nach den
Landtagswahlen mit den Reformen losgehe, dann kann
ich dazu nur sagen: Da muss jemand etwas verschlafen
haben. Wir haben jede Menge Gesetze in den Bundestag
eingebracht, beraten und beschlossen, die schon Veränderungen bewirkt haben. Natürlich weiß jeder, dass man
vor komplizierten Wahlen manche Dinge nicht auf die
Tagesordnung setzt. Das heißt aber nicht, dass nichts
passiert ist. Es ist viel passiert. Wir haben drei große Gesetzentwürfe eingebracht und einer der nächsten Schritte
muss die Unternehmensteuerreform sein. Wir müssen
die Bedingungen für das Arbeiten und das Wirtschaften
verbessern.
({8})
Übrigens reicht der Jobgipfel nicht aus, wenn wir
wirklich nachhaltige Verbesserungen erreichen wollen.
Es geht um zwei Dinge. Es geht zum einen um die
Struktur der Abgaben und es geht zum anderen um die
Menge der Abgaben. Wir können im Augenblick bei der
Entlastung nur langsam vorwärts gehen. Das darf uns jedoch überhaupt nicht davon entheben, die Strukturfragen
anzupacken und zu lösen. Man muss nur die Stellschrauben anders drehen, sodass man am Ende Aufkommensneutralität oder das gewünschte Entlastungsergebnis
bekommt. Man darf nicht nachlassen, über die Strukturveränderungen zu reden und diese auch umzusetzen.
Ein wichtiger Punkt im Zusammenhang mit der Steuerreform ist der Bürokratieabbau. Es ist doch ein
Wahnsinn, dass wir vonseiten des Staates und der Betriebe in Deutschland 23 Milliarden Euro für die Verwaltung der Steuern ausgeben.
({9})
Wenn wir es schaffen würden, diesen Verwaltungsaufwand durch Veränderungen der Strukturen um lediglich
20 Prozent zu verringern, wäre das mehr als eine Senkung der Steuersätze um 3 oder 4 Prozent. Darum müssen wir uns bemühen.
({10})
Deswegen sehe ich die Vorschläge, die auf dem Tisch
liegen - ganz anders als mein Kollege Spiller -, als wirklich gute Anregung. Darin kann man vieles finden. Ich
fordere alle Beteiligten auf, konstruktiv daran mitzuwirken. Es kann nicht angehen - ich sage das ganz deutlich -, dass wir uns wegen einer Blockade bei den
Gemeindesteuern dieses wichtigen Themas nicht annehmen.
({11})
Ich sage den Kommunen von dieser Stelle: Das, was im
Augenblick auf dem Tisch liegt, hat Qualität; das hat es
so noch nicht gegeben. Wir hätten eine viel breitere und
bessere Streuung der Bemessungsgrundlagen. Das
würde zu einer besseren Verteilung der Steuern und zu
viel mehr Stabilität führen und trotzdem würden die Hebesätze beibehalten. Nicht umsonst hat der Sachverständigenrat - er wurde immerhin von der Vorgängerregierung personell maßgeblich bestimmt - gesagt: Das ist
richtig. Deswegen lassen Sie uns an diesem Punkt konstruktiv arbeiten. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass
wir da die Strukturen verändern.
({12})
So schön für die mittelständischen Betriebe die Verrechnung der Gewerbesteuer ist: Es ist doch ein Wahnsinn, dass wir mit riesigem Aufwand eine Steuer feststellen, die wir dann wieder zurückzahlen.
({13})
Zwei Senate beim Bundesfinanzhof beschäftigen sich
mit der Abgrenzung von Gewerbe und Nichtgewerbe.
Dieses Thema kann man auch anders und mit weniger
Bürokratie zum Wohle aller lösen.
({14})
Ich freue mich, dass wir jetzt möglicherweise besser
dastehen, als wir es geplant haben. Denn wir sind jetzt
mit dem, was wir in die Haushaltsentwürfe schreiben,
vorsichtig. Es ist doch besser, wenn am Ende etwas
übrig bleibt und wir weniger Kredite aufnehmen müssen, als wenn wir uns etwas vorlügen und am Ende
schlechter dastehen. Deswegen ist es der richtige Weg,
dass hier jetzt Realismus eingetreten ist - der Finanzminister hat es heute Morgen so erklärt - und wir bei der
Veranschlagung ganz vorsichtig sind.
Natürlich könnte man noch mehr einsparen, wenn
man nachhaltigen Subventionsabbau betreiben könnte.
Aber wie hoch sind denn eigentlich die Subventionen?
Nach Aussagen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft
betragen sie 170 Milliarden Euro, andere sprechen von
50 bis 60 Milliarden Euro. So einfach ist das Thema
nicht, dass man sozusagen mit einem Federstrich die
Dinge erledigen könnte. Es wäre schön, wenn wir
schneller vorwärts kämen. Aber es geht eben nur in kleinen, aber sicheren und sorgfältigen Schritten.
Natürlich gibt es auch Dinge, die man sofort machen
könnte. Dafür haben wir aber keine Mehrheit gefunden.
Jedem ist zum Beispiel klar, dass es sich bei der Steuerfreiheit der Nacht- und Feiertagszuschläge um eine
Subvention handelt. Für ihre Abschaffung hat es aber
keine Mehrheit gegeben. Also können wir hier nichts
tun. Man sollte sich daher nicht aufplustern und sagen,
wir würden nicht alles, was möglich sei, unternehmen.
Wir brauchen auch Mehrheiten.
Natürlich kann man fordern, dass Großprojekte gestrichen werden. Aber wenn wir weniger Eurofighter bestellen, müssen wir eine Konventionalstrafe zahlen. Unter dem Strich müssten wir also den gleichen Betrag
zahlen. Deswegen ist das alles nicht so einfach.
({15})
Wir müssen die Dinge langfristig betrachten. Jede
Maßnahme, die wir ergreifen, muss daraufhin überprüft
werden, ob sie langfristig für mehr Arbeit und Beschäftigung sorgt. Es darf nicht entscheidend sein, ob sie uns
heute einen Liquiditätsvorteil verschafft. Diesen Weg
müssen wir gehen. Mit diesem Haushalt beschreiten wir
diesen Weg an genau der richtigen Stelle und in kleinen,
aber gezielten und sicheren Schritten. Ich lade alle in
diesem Hause ein, dabei mitzuwirken. Wir sollten nicht
über einzelne Punkte, die uns selbst betreffen, meckern
- als Beispiel nenne ich die Regionalisierungsmittel -,
({16})
sondern wir müssen aufpassen, dass alles, was wir tun,
in ein Gesamtkonzept passt. Dieses Gesamtkonzept
muss am Ende dazu führen, dass die Struktur des Haushalts verbessert wird. Das ist der einzige Weg, um auf
Dauer mehr Arbeit und Beschäftigung zu schaffen und
die Verhältnisse in Deutschland zu verbessern. Ich lade
Sie alle herzlich ein, uns auf diesem Weg zu folgen.
({17})
In der allgemeinen Finanzdebatte liegen nun keine
weiteren Wortmeldungen mehr vor.
({0})
Interfraktionell wird die Überweisung des Haushaltsbegleitgesetzes 2006 auf Drucksache 16/752 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, Einzelplan 30. Das Wort hat für die Bundesregierung die Bundesministerin Frau Dr. Annette Schavan.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Deutschland soll sich zu einer Talentschmiede entwickeln. Das ist unser Weg zur
Sicherung der Zukunftschancen der jungen Generation.
Das ist die Voraussetzung für innovative Entwicklungen in Deutschland.
({0})
- Bei Bildung und Forschung. ({1})
Das ist die Quelle künftigen Wohlstands.
({2})
Bis zum Jahr 2010 - so haben wir es in der neuen
Bundesregierung vereinbart und auch die entsprechenden Weichen gestellt - wollen wir bei Wachstum, Beschäftigung und Investitionen in Forschung und Entwicklung wieder unter die besten drei in Europa
kommen. Wir bauen auf Spitzenforschung, auf Exzellenz, auf Ideenreichtum und auf ein Bündnis für gute
Bildung und Ausbildung, die an internationalen Maßstäben orientiert ist. Wir sind davon überzeugt, dass die
Kreativität der Menschen, die in unserem Land leben, arbeiten und forschen, das Fundament für die Zukunftsperspektiven unseres Landes und für die Zukunftschancen
der jungen Generation ist.
({3})
Mit dem Haushalt 2006 setzen wir ein klares Signal.
Der Plafond des Einzelplans meines Hauses steigt gegenüber dem Haushalt 2005 um 5,6 Prozent. Schon jetzt
lässt sich für diese Legislaturperiode sagen: Nie zuvor
hat eine Bundesregierung so viel in Forschung und Entwicklung investiert.
({4})
Diese Steigerung um 5,6 Prozent gegenüber dem vergangenen Jahr entspricht einem Plus von fast 430 Millionen Euro. Davon wird vor allem die Projektförderung
profitieren. Dieser Bereich ist uns wichtig, weil von der
Projektförderung eine Hebelwirkung ausgeht. Wir wissen, dass jeder vom Staat investierte Euro, der mobilisiert wird, weitere Euro von der Privatwirtschaft generiert. Allein in der Projektförderung erhöhen wir die
Mittel gegenüber dem Vorjahr um 14 Prozent.
({5})
Wir wissen: Langfristig werden wissensintensive
Dienstleistungen und Produkte der Spitzentechnik das
wirtschaftliche Wachstum und den Wohlstand unserer
Gesellschaft bestimmen. Das war der Grund dafür - der
Finanzminister hat das heute Morgen ja bereits angesprochen -, dass wir ein einzigartiges Investitionsprogramm aufgelegt haben. Von den 25 Milliarden Euro
dieses Investitionsprogramms für mehr Wachstum
und Beschäftigung entfallen allein 6 Milliarden Euro
- das heißt, der größte Posten überhaupt - auf zukunftsträchtige Forschungs- und Entwicklungsvorhaben.
({6})
Das ist zugleich ein klares Signal an die 16 Länder und
die Unternehmen in Deutschland.
Wir haben damit die Voraussetzung dafür geschaffen,
dass Deutschland im Rahmen der Lissabonstrategie bis
zum Jahre 2010 das 3-Prozent-Ziel bezüglich der Investitionen in Forschung und Entwicklung erreicht. Wir
brauchen in dieser Frage ein klares und starkes Bündnis
zwischen dem Bund, den Ländern und der Wirtschaft in
Deutschland. Dieses 3-Prozent-Ziel muss erreicht werden.
({7})
4 Milliarden Euro davon stehen dem Bundesministerium für Bildung und Forschung zur Verfügung. Wir
werden damit insbesondere Querschnitts- und Spitzentechnologien fördern, durch die der Standort Deutschland gestärkt und unser Gang in eine moderne Wissensgesellschaft beschleunigt wird. Entlang der gesamten
Innovationskette bis hin zu marktreifen Produkten und
Dienstleistungen erwarten wir Impulse. Zu den besonders zukunftsträchtigen Technologien, die Teil der
Hightechstrategie sein werden, zählen die Informationsund Kommunikationstechnologien, die Biotechnologie
und die Nanotechnologie. Allein bei der Biotechnologie
werden wir in diesem Jahr ein Plus von rund 14 Prozent
verzeichnen. Die Mittel für den Titel „Vernetzte Welt“
steigen um mehr als 17 Prozent. Die Mittel für die Lebenswissenschaften erhöhen wir um insgesamt annähernd 10 Prozent und die Mittel für umweltgerechte
nachhaltige Entwicklung und für neue Technologien um
jeweils circa 7 bis 8 Prozent.
({8})
- Jawohl, Herr Tauss, das finde ich auch.
Durch Bündelung exzellenter interdisziplinärer Forschung und Entwicklung werden wir die Gesundheitsforschung verstärken. Durch so genannte Leuchttürme,
die den Weg von der medizinischen Spitzenforschung
zur Krankenversorgung mittels einer Bündelung von
Kräften schaffen, soll auch eine raschere Umsetzung von
Forschungsergebnissen ermöglicht werden. Ich bin davon überzeugt, dass der Beitrag der Gesundheitsforschung - die Brücke zwischen der Forschung und der
Krankenversorgung - auch ein wichtiger Beitrag in unseren anstehenden Debatten über die Zukunftsperspektiven des Gesundheitssystems in Deutschland sein wird.
({9})
Wir wollen Lösungen für drängende - auch gesellschaftliche - Probleme anbieten und Antworten auf Fragen des Umweltschutzes und der Gesundheit - das sei
noch einmal gesagt - geben. Mit dem Leuchtturm Hightech in der Gesundheit werden wir dazu beitragen,
unsere gute Position in der Medizintechnik weiter zu festigen. Wir wollen den Prozess, dass mithilfe von Hochtechnologien frühzeitigere Diagnosen und schonendere
Therapien möglich werden, ganz stark befördern. Durch
alle Leuchttürme soll die Umsetzung von Ergebnissen
der Forschung und Entwicklung beschleunigt und die
Krankenversorgung verbessert werden. Das wird der
rote Faden in der Gesundheitsforschung sein.
({10})
Vom weiteren Zeitplan her werden wir die Hightechstrategie bis zur Sommerpause vorlegen. Es hat ein gutes
Gespräch begonnen. Sie wissen, dass aus unseren Fraktionen heraus vielfach bemängelt worden ist, die Forschungspolitik sei in der ganzen Bundesregierung
verstreut. In diesen ersten Monaten der neuen Bundesregierung haben wir das erreichen können, was überfällig war: Wir sind nämlich in der Forschungs- und Technologiepolitik zu einem stimmigen Gesamtkonzept
gekommen und es gibt eine Koordination, sodass nicht
jedes Haus seine eigenen Projekte unabhängig vom Gespräch mit dem Nachbarhaus durchführt; es gibt vielmehr eine Gesamtstrategie Hightech für Deutschland,
die im Sommer vorgelegt wird und durch die deutlich
gemacht wird, dass das unser Konzept ist, durch das klar
wird: Innovation ist der rote Faden dieser Bundesregierung.
({11})
In unseren Reden ist vielfach zu hören, Deutschland
sei ein Land der Ideen. Das ist richtig; aber das alleine
reicht nicht. Eine Idee wird erst dann richtig fruchtbar,
wenn sie umgesetzt wird. Angesichts der 6 Milliarden
Euro für die Hightechstrategie ist es ganz entscheidend,
dass der Weg von der Idee bis zur Umsetzung in der
Wertschöpfungskette verkürzt wird. Das heißt, wir werden noch stärker als in der Vergangenheit Brücken zwischen Wissenschaft und Wirtschaft brauchen.
Wir wollen Forscherinnen und Forschern Mut machen, ihre Ideen zu realisieren und Unternehmen zu
gründen. Wir wollen Forschungsförderung und rechtliche Rahmenbedingungen für Zukunftsmärkte in wichtigen Technologiefeldern verbinden. Wir wollen es kleinen und mittelständischen Unternehmen ermöglichen,
dieses Potenzial besser zu nutzen; denn sie sind das
Rückgrat und Innovationspotenzial unserer Wirtschaft.
Das führt übrigens auch dazu, dass wir in dieser Legislaturperiode die Forschungsmittel für Fachhochschulen deutlich erhöhen und bis 2009 sogar verdreifachen und dass wir die Rolle der Fachhochschulen in
Kontakt mit den kleinen und mittelständischen Unternehmen stärken wollen. Auch sie sind eine Quelle für
die Umsetzung innovativer Ideen. Sie sind ein ganz
wichtiger Faktor für angewandte Forschung in unserer
Hochschullandschaft.
({12})
Wir wollen neue Instrumente zum Wissens- und
Technologietransfer sowie zur Förderung regionaler
Cluster einsetzen. Ich sage ausdrücklich noch einmal mit
Blick auf die neuen Bundesländer: Hier gab es in den
vergangenen Jahren interessante und wichtige Entwicklungen. Wir müssen alles dafür tun, um diese Entwicklungen in den neuen Bundesländern mit Blick auf Innovationspotenzial fortzusetzen und zu verstärken. Dabei
müssen wir uns immer wieder fragen: Mit welchen Akzenten erreichen wir eine positive Entwicklung da, wo
wir aufgrund der bisherigen vielfältigen Geschichte mit
Blick auf die Zukunftschancen der jungen Generation
große Sorgen haben?
Ich beginne ganz bewusst nicht mit dem Begriff Technologie, sondern mit dem Begriff Talentschmiede, weil
Sinn und Zweck dessen, was wir tun, und Voraussetzung
für Innovationsfähigkeit ist, dass junge Leute in allen
Teilen Deutschlands mit einem guten Gefühl in die Zukunft gehen können und das Signal bekommen, dass wir
sie nicht vergessen.
({13})
Wissenschaft und Forschung sind Teil der intellektuellen Kultur unseres Landes. Deshalb gehört zu diesem
Haushalt die Steigerung der Mittel in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften um fast 6 Prozent. Je
mehr Technologie, umso mehr Kultur ist notwendig. Erst
wenn beides zusammenkommt, werden wir gute, verantwortungsbewusste Entwicklungen in Deutschland erreichen.
({14})
Unser gemeinsames, im Koalitionsvertrag verankertes Leitbild der Exzellenz beginnt nicht erst bei der Exzellenzinitiative. Deshalb erhöhen wir die Mittel für die
Begabtenförderung um 8 Prozent. Wer eine Talentschmiede will, muss dafür Sorge tragen, dass mindestens
1 Prozent eines Jahrgangs in die Begabtenförderung aufgenommen werden kann. Das ist mit den vielen Leistungswettbewerben, mit „Jugend forscht“ und mit der
Arbeit der Begabtenförderung in der beruflichen Bildung ein wichtiger Baustein.
Exzellenzinitiative und Pakt für Forschung und Innovation sind weitere Bausteine, die deutlich machen: Von
diesen 6 Milliarden Euro profitieren unsere Hochschulen, wodurch wir die universitäre Forschung stärken
wollen. Davon profitieren auch die außeruniversitären
Forschungsorganisationen mit Blick auf innovative Weiterentwicklung und internationale Vernetzung.
Die Gespräche über den Hochschulpakt 2020, die
angesichts wachsender Studierendenzahlen Perspektiven
schaffen sollen, werden bis Ende des Jahres abgeschlossen sein. Auch hierbei gilt für mich - ich habe das schon
einmal gesagt -: Es geht nicht um Studentenmassen, die
uns erwarten; mehr Studierende in Deutschland bieten
vielmehr eine Chance, die wir wahrnehmen müssen.
Bund und Länder tragen hierfür gemeinsam Verantwortung.
({15})
- Ja, auch der Bund; denn eine Universität ohne Forschung ist nicht denkbar. Für die Lehre waren immer die
Länder zuständig. Ich bin davon überzeugt, dass wir in
Zukunft - übrigens auch strukturell - noch zu einer
Menge neuer Ideen kommen werden, aus denen deutlich
wird, in welchem Maße wir auch noch im Forschungsbereich Entwicklungen ermöglichen können, die der Lehre
zugute kommen. Das ist der Sinn der Anstrengungen des
Bundes.
({16})
Die Talentschmiede beginnt weit vor der Hochschule.
Deshalb wird die Bundesregierung - so, wie wir es im
Koalitionsvertrag gemeinsam vereinbart haben; auch das
wird in diesem Haushalt deutlich - in den kommenden
Jahren Impulse im Bereich der beruflichen Bildung setzen. Allein das Jobstarter-Programm mit einem Volumen
von 100 Millionen Euro ist ein wichtiger Faktor. Die
weitere Modernisierung des Berufsbildungsgesetzes
kommt hinzu.
Mit Blick auf die nächsten Jahre bin ich mir ziemlich
sicher, dass ein Ausbildungspakt allein die Probleme
nicht löst - weder die Probleme derjenigen, die zu Modernisierungsverlierern zu werden drohen, noch das Problem der steigenden Zahl von Bewerbern um Ausbildungsplätze. Deshalb gilt: Wir brauchen beides, sowohl
einen Ausbildungspakt als auch die weitere Modernisierung im Bereich der beruflichen Bildung mit einer
Stärkung der dualen Ausbildung, um zu einer wirklich
überzeugenden und zukunftsfesten Berufsbildungspolitik zu kommen.
({17})
Ich komme zum Schluss. Wir werden gemeinsam mit
den Ländern die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems bewerten, Empfehlungen abgeben und die Bildungsforschung deutlich verstärken;
({18})
denn ob schulischer Bereich, Bildung oder Weiterbildung - zur Talentschmiede Deutschland gehört ein Gesamtkonzept. Für dieses Gesamtkonzept wird der Bund
wesentliche Impulse liefern, die dieser Haushalt bereits
widerspiegelt.
In diesem Sinne freue ich mich auf die Debatte über
unseren Haushalt und danke für alle Unterstützung in
Sachen Bildung und Forschung schon bei der Aufstellung dieses Haushaltsplanentwurfs.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Flach von der
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Forschung und Entwicklung wie auch Bildung
und Wissenschaft sind Schlüsselfaktoren in diesem
Lande. Ich glaube, Frau Ministerin, in diesem Raum gibt
es keinen einzigen Parlamentarier, der diese Meinung
nicht mit Ihnen teilt.
({0})
Darin sind wir von der FDP uns mit Ihnen einig.
Den Schritt, 3 Prozent des BIP für Forschung und
Entwicklung auszugeben, haben wir, wie Sie wissen, in
den letzten Jahren immer wieder gefordert. Wir werden
Sie in den nächsten Jahren - sofern es diese für die große
Koalition gibt - kritisch begleiten, um zu sehen, wie Sie
Ihr Vorhaben umsetzen.
Sie haben verständlicherweise den Aufwuchs von
5,6 Prozent im Haushalt 2006 gelobt. In Ihrer Presseerklärung haben Sie festgestellt: „Wir setzen Kräfte für
Innovationen frei.“ Zur Haushaltswahrheit und -klarheit
gehört aber auch, dass Ihr Kollege Steinbrück über die
globale Minderausgabe bereits die Hälfte davon wieder
einkassiert hat. Auch die Inflationsrate von 2 Prozent
werden Sie mit einrechnen müssen.
Zur Wahrheit und Klarheit gehört auch, Frau Ministerin, dass Sie zurzeit Schwierigkeiten haben, Ihre Gelder
freizubekommen. Es gibt entsprechende Briefe Ihrer beamteten Staatssekretäre, in denen diese sehr deutlich
darauf hinweisen, dass sie im Rahmen der vorläufigen
Haushaltsführung nicht vorankommen. Der Bürger in
diesem Land soll wissen: Wenn wir Pech haben - ich
rede in diesem Zusammenhang ganz bewusst von Pech;
denn wir wollen es ja nicht -, wird der Weg für die von
Ihnen gepriesenen zusätzlichen Mittel erst Mitte dieses
Jahres frei sein. Das so zu sagen, ist nicht nur gute Rhetorik, sondern auch Klarheit und Wahrheit. Ich wäre
froh, wenn es anders wäre, Frau Ministerin. Aber so
sieht leider die Realität aus.
({1})
Der reale Aufschwung hinkt also den rhetorischen
Kraftmeiereien gewaltig hinterher. Wie sagte Helmut
Kohl immer so schön: Es ist entscheidend, was hinten
rauskommt. - Frau Schavan, es ist zwar nett, was bei Ihnen hinten rauskommt. Aber es ist nicht gewaltig.
({2})
Die Bezeichnung „Schwerpunktsetzung Forschung und
Entwicklung“ hat es jedenfalls nicht verdient.
({3})
Das gilt übrigens auch im Hinblick auf die von Ihnen
so gelobte Gestaltung des Ministeriums. Frau Reiche,
ich erinnere mich sehr genau, was Sie über Jahre hinweg
ständig dargelegt haben. Damals war nicht von einem
Ministerium für Bildung und Forschung die Rede, das
den Großteil seiner Abteilungen bzw. wichtige Abteilungen an das Wirtschaftsministerium abgibt, in dem sie
dann sozusagen festsitzen.
({4})
Dort wird nun darüber nachgedacht, wie man mit den
Forschern der Helmholtz-Gemeinschaft umgehen soll.
Frau Reiche, ich hätte mich gefreut, wenn Sie sich mit
Ihren Konzepten durchgesetzt hätten. Diese neue Regierung beginnt so jedenfalls mit einer schweren Misskalkulation bei der Strukturierung des Ministeriums. Das
tut mir Leid für Sie sowie für die Forschung und Bildung
in diesem Lande.
({5})
Sie sprachen eben davon, dass Sie sich in guten Gesprächen über die Koordinierung der Hightech-Strategie befinden. Ich wünsche Ihnen, dass diese Gespräche
gut verlaufen; darüber wäre ich sehr froh. Wir haben mit
Interesse festgestellt, dass im Haushalt 15 Millionen
Euro für die Koordinierung angesetzt werden. Aber auf
unsere Frage, was sich denn dahinter verbirgt, hat man
im Ministerium leider keine Antwort geben können. Ich
befürchte daher, dass Sie bislang über gute Gespräche
noch nicht hinausgekommen sind. So muss ich mich auf
das beschränken, was anhand Ihrer Haushaltstitel momentan sichtbar wird. Sie verstehen unter massivem
Mitteleinsatz bei den Hochtechnologien Folgendes: Die
Ansätze für Softwaresysteme und die Mikrosystemtechnik weisen jeweils ein Plus von 1,5 Millionen Euro auf.
Bei den optischen Technologien legen Sie 2,5 Millionen
Euro drauf. Der Ansatz für die Nanoelektronik weist ein
Plus von 3,5 Millionen Euro auf. Liebe Frau Schavan,
das ist schön. Aber das ist wirklich kein technologisches
Erdbeben.
({6})
Schauen Sie sich einmal die internationale Konkurrenz an! Wir alle haben heute Morgen sicherlich im Radio gehört, was Japan zurzeit auf dem Gebiet der Nanotechnologie macht. Angesichts dessen wird einem angst
und bange. Aber die Mittel, die jetzt bereitgestellt werden, haben nichts damit zu tun, dass die Welt nun plötzlich für Forschung und Entwicklung bei uns offen wäre.
Sie werden entscheidend draufsatteln müssen. Sie werden sich an Herrn Steinbrück vorbeischummeln, mit Ihren eigenen Haushältern fertig werden
({7})
und auch darüber nachdenken müssen, ob Sie Ihr Ministerium nicht so führen wollen, wie Sie es uns über Jahre
in diesem Hause gesagt haben. Sie haben uns ständig erklärt, der Föderalismus müsse im Vordergrund stehen
und die Bundesländer seien zuständig. Sie haben das gerade wiederholt. Nun schaue ich mir Ihren Haushalt an
- ich war jahrelang anderer Meinung; Frau Burchardt,
Sie werden das bestimmt bestätigen - und was sehe ich
voller Erstaunen? Die gute alte Edelgard Bulmahn
kommt uns quasi in allen Titeln wieder entgegen.
({8})
Frau Schavan, Sie haben im Prinzip nur die SPD-Haushaltstitel fortgeschrieben. Sie haben sogar etwas draufgesetzt.
({9})
Aber was haben wir uns jahrelang in diesem Haus alles
zum Thema KMK und dazu anhören müssen, was wir
abgeben sollen! Frau Ministerin, ich bin erstaunt.
({10})
Zum Abschluss meiner Rede kann ich ihnen nur eines
empfehlen: Tun Sie das, was Sie uns jahrelang gesagt
haben! Nehmen Sie die Mittel, die bei den Bundesländern angeblich besser aufgehoben sind - sie sollen sie ja
behalten; ich will sie ihnen nicht wegnehmen -, und setzen Sie sie konzentriert für das ein, was Ihnen nach der
erbärmlichen Föderalismuskommission übrig geblieben
ist, nämlich für die Forschung, Frau Schavan!
({11})
Dann haben wir eine Chance in diesem Lande. Ich wünsche Ihnen sehr, dass Ihnen das gelingt. Unsere Unterstützung haben Sie.
({12})
Ich erteile das Wort für die SPD-Fraktion dem Kollegen Klaus Hagemann.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Da wir über den Zukunftsetat sprechen, heiße
ich ganz besonders die vielen Jugendlichen, die von der
Besuchertribüne aus unserer Debatte folgen, herzlich
willkommen. Es freut mich, dass ihr gekommen seid
bzw. dass Sie gekommen sind, gerade wenn dieser Haushalt beraten wird.
({0})
Im Einzelplan 30 ist in Zahlen gegossen, welche
Geldbeträge die große Koalition vorsieht, um die Herausforderungen der Zukunft in Bildung und Forschung,
in Ausbildung und Weiterbildung anzupacken. Damit
will sie einen wichtigen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit
unseres Landes leisten - und sie wird das auch; davon
bin ich überzeugt, sehr verehrte Frau Flach.
Heute findet die erste Lesung des Regierungsentwurfs
statt. Frau Ministerin Schavan, wir von der SPD-Fraktion sind der Meinung, dass die Weichen in die richtige
Richtung gestellt sind, nämlich in Richtung Zukunft. Dafür finden Sie unsere Unterstützung.
({1})
Aber in einem muss ich Frau Flach Recht geben: Wir
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stellen natürlich fest, dass in dem Entwurf des Einzelplans 30, den
Sie uns vorgelegt haben, Frau Schavan, sehr viel Kontinuität zu den zurückliegenden Jahren festzustellen ist,
({2})
zu sieben erfolgreichen Jahren in der Bildungs- und in
der Forschungspolitik.
({3})
Sehr viele erfolgreiche Projekte werden weitergeführt.
Ferner werden neue Maßnahmen erstmals finanziert, die
bereits in der letzten Legislaturperiode von Rot-Grün beschlossen worden sind und jetzt umgesetzt werden. Das
ist auch gut so.
({4})
Wenn ich mich an diese Projekte erinnere, muss ich feststellen, dass sie sehr schwer erkämpft werden mussten,
nämlich gegen die CDU/CSU-geführten Länder. Bei
manchen dieser Länder waren Sie von der FDP leider
auch mit in der Regierung.
({5})
Bekanntlich zeigen drei Finger auf den zurück, der auf
andere mit dem Finger zeigt, Frau Flach.
Aber schließlich sind diese Projekte doch beschlossen
worden. Deswegen ein ganz besonderes Kompliment an
die frühere Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn. Ihr an dieser Stelle ein Dankeschön für ihren Einsatz in diesem wichtigen Bereich!
({6})
Aber auch Ihnen, sehr geehrte Frau Bundesministerin
Schavan, möchte ich noch einmal unsere Anerkennung
dafür aussprechen, dass Sie den Bereich Bildung und
Forschung stärken - das wollen wir ja gemeinsam - und
dass Sie sich gegen das Konzept durchgesetzt haben, das
Ihr Vorgänger, der letzte CDU/CSU-Bundesbildungsminister, nämlich Herr Rüttgers, verfolgt hat: Er hat den
Etat für Forschung und Bildung als Finanzsteinbruch benutzt. Die FDP war damals auch mit beteiligt - 1996,
1997, 1998 -, als diese Mittel heruntergefahren wurden.
({7})
Ihnen Anerkennung, Frau Schavan, dafür, dass Sie dem
Konzept, das Herr Rüttgers damals vorgegeben hat,
nicht weiter folgen!
({8})
Aber richten wir den Blick nicht zurück, sondern blicken wir nach vorne! Ich will an einigen Zahlen noch
einmal deutlich machen, welche Bedeutung Bildung und
Forschung für uns haben. Wir haben heute früh vom Finanzminister gehört, dass das Volumen des Bundeshaushalts in diesem Jahr um 0,7 Prozent wächst - während
der Etat für Bildung und Forschung um 5,6 Prozent
steigt. Wenn wir die Forschungsmittel zusammennehmen - die im Einzelplan 30 und die für die Ressortforschung in anderen Einzelplänen -, so kommen wir auf
immerhin 7,2 Milliarden Euro, die für den Forschungsbereich zur Verfügung stehen, davon allein 4,2 Milliarden Euro im Einzelplan 30. Auch in den anderen Einzelplänen sind entsprechende Mittel vorgesehen. Die
mittelfristige Finanzplanung bis zum Jahre 2009 verdeutlicht, dass dieses Programm in den nächsten Jahren
verstärkt weitergeführt werden soll. Wenn ich mir alleine
die Verpflichtungsermächtigungen ansehe, dann muss
ich sagen: Darin steckt noch sehr viel finanzielle Musik.
Der Koalitionsvertrag sieht - darauf wurde schon hingewiesen - 6 Milliarden Euro zusätzlich für den Zukunftssektor Forschung vor. Wir warten mit Spannung
darauf, Frau Ministerin, dass Sie bis kurz vor Ostern die
Gesamtplanung für diese 6 Milliarden Euro vorlegen,
damit wir darüber debattieren können. Wir sind jedenfalls sehr darauf gespannt.
({9})
In den Erläuterungen zu den einzelnen Titeln heißt es öfter: „Mehr wegen besonders zukunftsträchtiger Forschungs- und Entwicklungsvorhaben.“ - Ich glaube,
dass dadurch deutlich wird, welche Bedeutung der Bereich Bildung und Forschung hat.
Ich möchte auf die Äußerung von den hart umkämpften Zielen und auf die Projekte zurückkommen, die
heute auch von Ihnen, Frau Ministerin, zu Recht als
Leuchttürme herausgestellt worden sind. Da ist zuerst
das wirklich erfolgreiche Ganztagsschulprogramm in
Höhe von 4 Milliarden Euro zu nennen.
({10})
Die Mittel sind am Anfang sehr zögernd abgerufen worden, insbesondere von den CDU-geführten Ländern.
Meine Empfehlung ist, dass Sie ein bisschen Druck machen, damit in Ihren Ländern diese Mittel abgerufen
werden.
({11})
Wir in Rheinland-Pfalz haben festgestellt, dass die Bevölkerung dies so wollte. Wir haben das Ganztagsschulwesen sehr weit ausgebaut. Ich glaube, dass durch das
Wahlergebnis, das wir am vergangenen Sonntag in
Rheinland-Pfalz eingefahren haben, deutlich wird, dass
die Wählerinnen und Wähler dies honorieren. Wir sind
den richtigen Weg gegangen, weil es notwendig war.
({12})
Auch die umstrittene, aber erfolgreiche BAföGReform ist in diesem Zusammenhang als Leuchtturm zu
bezeichnen. Es gibt mehr BAföG-Berechtigte und mehr
Studenten, die unterstützt werden. Es sind mehr Mittel
im Einzelplan vorgesehen, nämlich 1,1 Milliarden Euro.
Wir gehen damit einen Schritt in die richtige Richtung.
Es wurde im Übrigen im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass die BAföG-Gesetzgebung erhalten bleibt.
({13})
Wir müssen aber auch noch genauer hinschauen. Die
Zahlen beim Schüler-BAföG steigen sehr stark an. Man
muss nach den Ursachen fragen und dieses Problem näher beleuchten. Wir haben das im Berichterstattergespräch schon getan. Es muss untersucht werden, ob sich
beispielsweise in den Berufsschulen mehr Schüler in der
Warteschleife befinden, weil sie keinen Ausbildungsplatz erhalten haben.
Auch die viel diskutierten Mittel für den dringend erforderlichen Ausbau der Hochschulen will ich in diesem
Zusammenhang erwähnen. Hierfür ist in den kommenden Jahren eine knappe Milliarde Euro pro Jahr vorgesehen. Ich hoffe, dass das Geld entsprechend eingesetzt
wird und wir nicht dasselbe wie bei den Regionalisierungsmitteln beobachten, die nicht immer für die Regionalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs eingesetzt werden. Gut sind die ersten Ansätze in der
mittelfristigen Finanzplanung für den Hochschulpakt
2020. Sie, Frau Ministerin, haben hier die Richtung vorgegeben. Ich bin überzeugt, dass dies der richtige Weg
ist. Auch darin steckt viel finanzielle Musik.
Ein weiteres positives Beispiel, ein Leuchtturm, ist sicherlich die Exzellenzinitiative im Hochschulbereich,
nämlich die Universitäten, die besonders erfolgreich
sind, verstärkt zu fördern. Die Voruntersuchungen sind
abgeschlossen. Die ersten Entscheidungen sind gefällt
worden. In diesem Haushalt sind 142 Millionen Euro
vorgesehen. Wenn man die Verpflichtungsermächtigungen für die nächsten Jahre hinzurechnet, ergibt sich eine
Summe von weit über 700 Millionen Euro, die zur Verfügung stehen werden. Frau Flach, Sie haben die vorläufige Haushaltsführung angesprochen. Wir wissen, dass
erlaubt ist, 45 Prozent der Ausgaben zu tätigen. Deswegen würde ich das nicht so negativ sehen, wie Sie es dargestellt haben,
({14})
zumindest was die Projekte betrifft, die schon im letzten
Jahr veranschlagt waren und wo die Mittel entsprechend
verausgabt werden können. Liebe Frau Flach, wir sollten
hier beide Seiten der Medaille darstellen.
Im Zusammenhang mit den erwähnten Leuchttürmen
ist auch der Pakt für Forschung und Innovation zu nennen, der in der letzten Legislaturperiode beschlossen
worden ist. 3 Prozent mehr in diesem Bereich, das ist der
richtige Weg.
Eines der erfolgreichsten Programme, das ebenfalls in
der letzten Legislaturperiode aufgelegt worden ist, war
das Programm zur Stärkung der Biotechnikindustrie. Ich
wiederhole: Es war eines der erfolgreichsten Programme. Gerade kleine und mittlere Unternehmen in
diesem Bereich haben großes Interesse angemeldet. Dieses Programm wird umgesetzt. Auch das sei an dieser
Stelle erwähnt.
({15})
Mit all diesen Maßnahmen kann der Bund nur Anreize schaffen und Brücken zwischen der Forschung an
Hochschulen oder Forschungsinstituten und der Wirtschaft bauen. Die Forschungsergebnisse müssen von der
Wirtschaft in Produkte umgesetzt werden, die auf den
Zukunftsmärkten angeboten werden können. Als Negativbeispiel ist sicherlich der MP3-Player zu erwähnen. Dieses Produkt ist ein Forschungsergebnis der von uns geförderten Fraunhofer-Gesellschaft. Professor Bullinger hat
mir gestern in einem Gespräch eindeutig erklärt: Man
hat dieses Forschungsergebnis, dieses Produkt, den Industrieunternehmen wie Sauerbier angeboten und keiner
wollte es.
({16})
- Und vieles andere mehr. Ich habe das nur als Beispiel
erwähnt.
Die Produktion findet jetzt in den USA statt. Die entsprechenden Arbeitsplätze sind also in den Vereinigten
Staaten geschaffen worden. Zum Glück bekommt die
Fraunhofer-Gesellschaft dafür Lizenzgebühren im dreistelligen Millionenbereich. Ich wünsche mir, dass diese
Mittel von der Fraunhofer-Gesellschaft auch weiterhin
für Forschung und Bildung eingesetzt werden können.
Lassen Sie mich noch - mein Kollege Tauss wird auf
den Bereich Forschung und Bildung noch näher eingehen - die berufliche Bildung ansprechen. Sie ist einer
der Schwerpunkte im Einzelplan 30. 368 Millionen Euro
stehen für diesen Bereich zur Verfügung. Es sei hervorgehoben, dass das Meister-BAföG in der letzten Legislaturperiode reformiert, geändert, verbessert worden ist.
({17})
Wenn man von den 368 Millionen Euro die 118 Millionen Euro für das Meister-BAföG abzieht, so zeigt sich,
dass für die Förderung, die Unterstützung im Bereich der
beruflichen Bildung immer noch 250 Millionen Euro im
Haushalt zur Verfügung stehen.
Wir wissen, Ausbildungsplätze müssen in erster Linie
in der Wirtschaft geschaffen werden und die schulische
Betreuung muss durch die Länder in den Berufsschulen
erfolgen. Aber ein starkes Engagement des Bundes auf
diesem Gebiet ist trotz Ausbildungspakt festzustellen
und wir haben hier entsprechende Mittel zur Verfügung
gestellt.
Stichwort „Ausbildungspakt“: Dazu gehört, zu fordern, dass hier noch ein bisschen nachgelegt wird. Angesichts der Zahlen des letzten Jahres und dessen, was ich
in meinem Wahlkreis zurzeit höre, meine ich: Es sieht
nicht so rosig aus, was Lehrstellen, was Ausbildungsplätze angeht. Da ist in erster Linie die Wirtschaft gefordert. Wir unterstützen die Maßnahmen, die vorgesehen
sind: Allein in die Unterstützung zur Schaffung von
Ausbildungsplätzen in den neuen Bundesländern sollen
95 Millionen Euro fließen.
({18})
Der Finanzminister hat in seinem Beitrag heute Vormittag auf die vielen jungen Menschen hingewiesen, die
ihre Ausbildung abbrechen oder die keinen Hauptschulabschluss haben. Angesichts dessen ist es sehr sinnvoll,
das Projekt „Zweite Chance“ zu unterstützen. Es ist gut,
hier mehr Mittel in die Hand zu nehmen, um Jugendlichen eine zweite Chance zu geben, damit sie in den Ausbildungsmarkt hineinkommen können.
({19})
Schauen wir uns an, welche große Unzufriedenheit beispielsweise in Frankreich festzustellen ist! Wir müssen
uns auf diesem Feld wesentlich mehr engagieren und die
infrage kommenden Projekte herausarbeiten, damit die
jungen Menschen eine Zukunft haben.
Wenn man mit den Trägern der Maßnahmen redet,
stellt man fest, dass es eine Menge U-25-Programme
gibt: beim Wirtschaftsminister, bei der Bildungsministerin, beim Minister für Arbeit und Soziales. Man verliert
die Übersicht. Deswegen ist die Frage, Frau Ministerin,
ob man nicht auch hier, organisiert durch die Bundesregierung, eine Evaluation vornehmen sollte, um zu klären, wie die Mittel eingesetzt werden und wie sie gezielt
eingesetzt werden können, damit wir nicht auf der einen
Seite doppelt fördern und auf der anderen Seite Bereiche
vernachlässigen. Deswegen möchte ich hier die Anregung geben, entsprechend vorzugehen.
({20})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich jetzt zum Schluss kommen. Heute ist die erste Lesung des Regierungsentwurfs. Wir werden in den Haushaltsberatungen in den Ausschüssen, im Haushaltsausschuss und im Bildungsausschuss, in die Detailarbeit
einsteigen. Es wird sicherlich noch Umschichtungen geben. Wir sind aber auf einem guten Weg. Wir müssen
uns - da haben Sie völlig Recht, Frau Flach - noch mit
der globalen Minderausgabe befassen. Die Koalition
wird mit dem Ministerium zusammen entsprechende
Vorschläge erarbeiten, damit wir die globale Minderausgabe an den richtigen Stellen umsetzen.
({21})
Der Regierungsentwurf geht in die richtige Richtung.
Er ist eine gute Basis, auf der wir aufbauen können, um
für die zweite und dritte Lesung einen guten Vorschlag
vorzulegen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({22})
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Petra Sitte, Fraktion Die Linke.
({0})
Danke schön. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Georg Christoph Lichtenberg hat uns Folgendes
mit auf den Weg gegeben:
Die gemeinsten Meinungen und was jeder für ausgemacht hält, verdient oft am meisten untersucht zu
werden.
So ist es schon notwendig, in diesem Haushalt Irrtümer oder - sagen wir es etwas freundlicher - Illusionen,
denen die Bundesregierung erliegt, aufzudecken.
({0})
- Nur so viel als Hinweis: Er war nicht Mitglied der
Linksfraktion.
Sie werden sich jetzt vielleicht fragen, wohin ich mit
dieser Feststellung eigentlich will;
({1})
denn - da haben Sie völlig Recht -: Dieser Einzelplan
immerhin hat Aufwüchse. Es gibt höhere Ausgaben. Er
stärkt Forschung und Projektförderung für Bereiche wie:
Lebenswissenschaften, neue Technologien sowie umweltgerechte nachhaltige Entwicklung. Die Exzellenzinitiative „Spitzenunis“ und der Pakt für Forschung werden
finanziert. Außeruniversitäre Forschungseinrichtungen
und die Begabtenförderung bekommen mehr Geld. Das
ist doch alles okay.
({2})
„Ja!“, sage ich auch. - Wo sollen da Irrtum und Illusion
liegen? Zahlen lügen doch schließlich nicht. - Stimmt!
Mit Zahlen kann man sich sehr gut beruhigen. Man kann
sich auch selbst auf die Schulter klopfen. Aber
({3})
- richtig! -: Dieser Haushalt leistet nicht, was sich die
Koalitionsparteien im Wahlkampf noch ganz groß auf
die Fahnen geschrieben haben.
Bei der SPD war im Wahlkampfprogramm zu lesen:
Jedem und jeder Einzelnen wollen wir unabhängig
von der sozialen Herkunft Zugang zu guter Bildung
ermöglichen.
({4})
- Ist in Ordnung.
Bei der CDU las sich das so:
Wohlstand für alle setzt Bildung für alle voraus. Die
Teilhabe aller an Bildung und Ausbildung ist die
zwingende Voraussetzung dafür, dass keine Begabung ungenutzt bleibt.
({5})
Die Ministerin hat selbst darauf hingewiesen. - So weit
bin ich einverstanden. Aber nun machen Sie auch etwas
draus!
({6})
Dieser Haushalt blendet das Erreichen aller jedoch
aus. Es finden sich in diesem Haushalt keine neuen
Zeugnisse für das Erreichen aller. Das Ganztagsschulprogramm wird lediglich zu Ende geführt.
({7})
Berufsbildung, Weiterbildung, BAföG folgen den alten
Spuren. Wir alle kennen die Misere; wir haben hier oft
genug darüber geredet.
Das Hauptproblem unseres Bildungssystems besteht
darin, dass Bildungserfolge von Kindern und Jugendlichen vor allem durch ihre soziale Herkunft geprägt
werden.
({8})
Dieser Zusammenhang und die höchst unterschiedliche
Leistungsfähigkeit von Bundesländern haben Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zu einem Markenzeichen
auch unseres Bildungssystems werden lassen. Dagegen
müsste der Haushalt konsequent und selbstbewusst Zeichen setzen.
({9})
Ich will diese Ungleichheiten auch belegen. Die Abiturientenquoten in den Ländern liegen in einer Spannbreite von 28 bis 48 Prozent. Die Studienanfängerquoten
liegen zwischen 40 Prozent in Bremen und circa
29 Prozent in Bayern. Der Zuschussbedarf pro Studierenden liegt zwischen 9 260 Euro im Saarland und
5 650 Euro in Hessen. Dagegen haben Brandenburgs
Universitäten nun wiederum die geringsten und die niedersächsischen Universitäten die höchsten Ausgaben pro
Studierenden. Die Wanderungssalden bezogen auf die
einzelnen Länder sind gewaltig. Ebenso deutlich sind die
Unterschiede bei den Ausgaben für öffentliche Schulen.
Berufsschulen gehen zunehmend in freie und private
Trägerschaft über; in Sachsen sind es bereits 50 Prozent.
Das alles sind klare Belege für ungleiche quantitative
Entwicklungen. Wir alle wissen, dass es parallel dazu
sehr unterschiedliche qualitative Standards gibt. Beides
zusammen segmentiert das Bildungswesen der Bundesrepublik Deutschland immer mehr zum Nachteil von
Kindern und Jugendlichen.
Vor diesem Hintergrund führen soziale Armut und
Kinderarmut letztlich verstärkt zu Bildungsbenachteiligung.
({10})
Armut ist ein Mangel an Chancen. Das ist ein zutiefst soziokulturelles Problem für friedliches Zusammenleben
und Wirtschaften in einem Gemeinwesen.
Was passiert in diesem Land? Zunehmend entwickelt
sich ein Regionaldarwinismus. Unter diesen Vorzeichen
geht es doch schon lange nicht mehr um Wettbewerbsföderalismus; machen wir uns doch nichts vor! Was übrig
bleibt, ist gnadenlose Rivalität zwischen den Regionen.
Statt Bildungsplanung in gesamtstaatlicher Verantwortung kommen immer stärkere Unterschiede zum Tragen.
Es ist normal geworden, von reichen und armen Bundesländern zu sprechen. Wo leben wir denn, dass wir das
tun, dass wir das vor allem widerspruchslos tun können?
({11})
In allen Bundesländern, unabhängig davon, ob sie reich
oder arm sind, gibt es Kindertagesstätten, Schulen,
Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen. Wenn
wir die Feststellung treffen, dass es reiche und arme
Länder gibt, wissen wir, dass in diesen Ländern auch jeweils völlig unterschiedliche Voraussetzungen dafür
herrschen, für diese Bereiche Gelder zur Verfügung zu
stellen und damit Bildungs- und Innovationsressourcen
zu mobilisieren. Also werden Kinder natürlich am Ende
auch völlig unterschiedliche Startchancen haben, nicht
nur, weil ihre Eltern in unterschiedlichen Einkommensgruppen sind, sondern auch, weil sie zufällig in einem
reicheren oder einem ärmeren Bundesland geboren sind.
Wenn zeitgleich auch Bildungsausgaben, wie durch die
Studiengebühren geschehen, privatisiert werden, wird
sich diese Situation noch weiter verschärfen.
Auch die Exzellenzinitiative, die hier so oft als
Leuchtturm gerühmt wird, konnte sich - das wussten
Sie - nur an einen Teil der Hochschulen bzw. Universitäten richten. Das war von Anfang an klar. Die logische
Folge ist, dass jetzt Universitäten gewonnen haben, die
in reicheren Bundesländern liegen. Das heißt, wir werden nicht nur reichere und ärmere Bundesländer haben,
sondern auch reichere und ärmere Universitäten. Das
kann man doch so nicht stehen lassen!
({12})
Am Ende bleiben alle trotzdem unterfinanziert; da stehen die Leuchttürme glatt im Nebel.
Das alles kann und wird nicht ohne schwerwiegende
Auswirkungen auf unsere Forschung bleiben. Auch
wenn sie heute mit diesem Haushalt mehr Geld bekommt: Forschung funktioniert nicht ohne wissenschaftlichen Nachwuchs. Auf EU-Ebene werden wir in
den nächsten Jahren 1,2 Millionen Forscherinnen und
Forscher mehr benötigen. Wissenschaftlichen Nachwuchs wiederum gibt es nur mit mehr und besser ausgebildeten Studierenden. Diese wiederum bedürfen eines
vernünftigen, gut ausgestatteten, leistungsfähigen allgemeinen öffentlichen Schulwesens, das möglichst viele
Kinder zur Hochschulreife bringt. Wenn sich aber schon
in der Grundschule die deutlichen Leistungsunterschiede
- das belegen insbesondere Studien vom Kinderschutzbund - allein aus dem sozialen Umfeld erklären, in dem
die Kinder aufwachsen, dann machen weder der frühzeitige Beginn der gymnasialen Stufe Sinn noch die Einschränkung des Ganztagsanspruchs auf einen Kindertagesstättenplatz für Kinder arbeitsloser Eltern.
Wer allen gute Bildungschancen und soziale Perspektiven bieten will, muss auf die bestehenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten anders reagieren, als es dieser
Haushalt tut.
({13})
Stattdessen geben Sie im Zuge der Föderalismusreform
noch mehr Kompetenzen ab.
Man muss sich das einmal vorstellen: Das Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland steht auf
16 Säulen, die in ganz unterschiedlicher Weise die Traglasten aufnehmen können. Sie wollen ein belastbares
Gesamtgebäude und müssen sich daher mit 16 Baumeistern einigen, die auch noch für das Fundament zuständig
sind. Das alles geschieht vor dem Umbau auf EU-Ebene,
parallel zum Bolognaprozess und parallel zur Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen.
Ganz dramatisch wird es beim Hochschulbau. Da
werden die Ausdifferenzierungen zwischen den Bundesländern noch zunehmen. Es werden Millionenbeträge
insbesondere in den Bundesländern verloren gehen, die
eben nicht in der Lage sind, kozufinanzieren. Das geht
zulasten der Hochschulen, der Studierenden und der Forschungseinrichtungen.
({14})
In einer neuen Architektur zu bauen heißt, Projekte
anzugehen und Impulse zu setzen, die jede Ebene fest
und verlässlich mit der anderen verbindet. Man kann
nicht auf Bundesebene Bildung und Forschung zu einer
Priorität erklären - wie Sie das vorhin aus meiner Sicht
vollkommen zutreffend getan haben -, aber dann im
Rahmen der Föderalismusverhandlungen diesen Bereich
als Bauernopfer auf den Altar der Befriedung der Länder
legen. Das geht doch nicht.
({15})
Aus unserer Sicht müssten vor allem in folgenden
Feldern neue Impulse für ein qualitativ besseres Bildungs- und Forschungssystem gesetzt werden: Ausbau
des BAföG als Bildungs-BAföG zur sozialen Öffnung
der Schulen, Hochschulen und Weiterbildungseinrichtungen. Meinem Vorredner, der sich wundert, warum die
Anzahl der Empfänger von Schüler-BAföG zugenommen hat, kann ich nur sagen, dass das „vielleicht“ mit
der sozialen Situation der Eltern zu tun hat.
({16})
Ich nenne weiterhin: stärkere Unterstützung der Fachhochschulen zum Ausbau ihrer Forschungen; Förderung
von Kindertagesstätten bzw. von Kinderbetreuungs- und
Bildungsangeboten vor allem in den westlichen Bundesländern; Förderung von Modellstudiengängen für eine
Hochschulausbildung von Kindertagesstättenerzieherinnen und -erziehern. In Finnland gilt das Motto „Das
Beste für die Kleinen!“. Wieso eigentlich nicht auch
hier?
({17})
Weitere Punkte sind: Ausbau und Qualifizierung von
Lehramtsstudiengängen; Fortschreibung des Projektes
Ganztagsschulen für ein längeres gemeinsames Lernen;
Unterstützung von Schulsanierungen, weil durch die Absenkung sowohl von Bundes- als auch von Landeszuweisungen die kommunale Ebene nicht mehr in der Lage
ist, dieser Aufgabe angemessen nachzukommen; Förderung und Sicherung der dualen beruflichen Ausbildung
- qualitativ und quantitativ -; Förderung von wissenschaftlichem Nachwuchs und Graduierungsmöglichkeiten über alle Wissenschaftseinrichtungen hinweg, Fachhochschulen und innovative kleine und mittelständische
Unternehmen eingeschlossen. Juniorprofessuren müssten ebenfalls mit einbezogen und fortgeführt werden.
Natürlich gibt es noch viel mehr Punkte. Ich kann aber
nur einen Auszug präsentieren.
Wenn wir all diese Aufgaben nicht mit diesem Haushalt oder zumindest mit dem nächsten Haushalt angehen,
dann ergibt sich ein verfassungsrechtliches Problem. Das
alles hat nämlich die Revision des Grundsatzes der
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zur Folge. Die
Minister der Bundesregierung haben vor diesem Haus
einen Eid geleistet. Sie sollten also genau an diesem
Punkt das Grundgesetz beachten.
Danke schön.
({18})
Als nächste Rednerin hat nun die Kollegin Priska
Hinz, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
richtig und erfreulich, dass der Etat für Bildung und Forschung um 5,6 Prozent erhöht wird. Das sind
424 Millionen Euro. Es ist auch erfreulich, dass davon
292,5 Millionen Euro noch sozusagen rot-grünes Geld
sind.
({0})
Die verbleibende Erhöhung um 131,5 Millionen Euro
entspricht einem Aufwuchs von 1,74 Prozent. Allein
dieser Teil ist Ihr Verdienst, Frau Schavan. Aber auch
darüber freuen wir uns mit Ihnen.
({1})
Es ist sicher richtig, dass dieser Aufwuchs auf bestimmte Schwerpunkte verteilt werden soll. Diese sind
im Haushalt verankert. Frau Ministerin, Sie haben sich
vor allen Dingen drei Schwerpunkte für diese Wahlperiode vorgenommen. Das sind die Bereiche „Ausbildung“, „Weiterbildung“ und „Forschung“.
Schauen wir uns einmal die einzelnen Bereiche an.
Warum werden eigentlich jenseits des Jobstarterprogramms, mit dem noch unter der alten Regierung begonnen wurde, die Mittel für den Titel „Berufliche Bildung“ um 9 Prozent gekürzt? Warum kann im
Berichterstattergespräch nicht erläutert werden, aus welchem Titel und wie die so genannte „Zweite Chance für
Schulabbrecher“ finanziert wird? Das haben Sie zwar
Priska Hinz ({2})
zur Chefinnensache gemacht; aber Ihr Ministerium kann
nicht erklären, wie dieses Programm aussehen soll.
({3})
Man kann zwar sagen: Von einer Ministerin, die nicht
weiß, wie viele junge Menschen Ende letzten Jahres
ohne Ausbildungsplatz dastanden, ist nichts anderes zu
erwarten. Aber es ist beschämend, dass sich das im
Haushalt fortsetzt, was wir schon beim Ausbildungspakt
gesehen haben: dass es keinerlei Ideen für eine Fortentwicklung des Paktes und zur Schaffung von zusätzlichen
Ausbildungsplätzen gibt. Denn die derzeitige Situation
behindert die Zukunftsperspektiven der jungen Menschen in diesem Land.
({4})
Hinzu kommt, dass die Mittel für die Benachteiligtenförderung gekürzt werden. Wenn man das mit Ihrem Begriff der Talentschmiede verbindet, dann kann ich dazu
nur sagen: Es ist völlig daneben, wenn Sie mit Ihrer Vorstellung von Talentschmiede nur bei den Hochschulen
und der Begabtenförderung ansetzen. Der Begriff „Talentschmiede“ muss auch diejenigen jungen Menschen
umfassen, die in die berufliche Ausbildung gehen. Da
haben Sie bislang nichts vorzuweisen.
({5})
Der zweite Schwerpunkt, der bei Frau Schavan rhetorisch ganz oben angesiedelt ist, ist die Weiterbildung.
Hier stehen wir angesichts der demografischen Situation
vor großen Herausforderungen. Allerdings werden die
Mittel für den Titel „Weiterbildung und Lebenslanges
Lernen“ um 12 Prozent gekürzt. Weiterbildung ist eine
Innovation. Frau Schavan, Sie sind nur in den Bereichen
„Warme Worte verteilen“ und „Kompetenzen abgeben“
im Rahmen der Föderalismusreform innovativ; aber Taten zeigen Sie nicht, jedenfalls nicht im Bereich der Weiterbildung, der Ihnen noch nicht einmal einen Satz in Ihrer Rede zum Haushalt wert gewesen ist.
({6})
Ich komme zum dritten Schwerpunkt: zur Forschung. Die dortige Mittelsteigerung begrüßen wir. Ungeklärt ist allerdings bis heute, ob wir ein Forschungsförderungsgesetz brauchen. Unbeantwortet bleibt die
Frage, wie die Sozial- und Geisteswissenschaften in diesem und in weiteren Haushalten über das alte rot-grüne
Programm hinaus gestärkt und gefördert werden sollen.
Falsch ist, dass die Nachhaltigkeit in der Forschung bei
der Weißen Biotechnologie und Bioindustrie keine Rolle
mehr spielen soll. Falsch ist auch, dass es keine Mittel
für die ökologische und ethische Begleitforschung, zum
Beispiel bei der Nanotechnologie, geben soll.
({7})
Kritisch sehen wir die Finanzierung des Ethikrates.
Den haben Sie von der CDU/CSU immer scharf als Regierungsinstrumentarium, als Beratungsgremium der
Regierung kritisiert. Jetzt soll er finanziert und damit die
Struktur vorweggenommen werden, die eigentlich erst
einmal im Parlament geklärt werden müsste. Das halten
wir für falsch.
({8})
Wenn man sich diesen Haushalt und das ansieht, was
die Bundesregierung vorhat, ist besonders merkwürdig,
wie mit dem Thema Bildungsföderalismus umgegangen wird. Die Bildungsforschung muss sicherlich gestärkt werden; das ist richtig. Aber dass dies auf Kosten
von Projekten geschieht, die zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse führen sollen, zeigt, dass Sie hier
völlig auf dem Holzweg sind.
({9})
Sie wollen nicht nur in der Föderalismusreform, sondern
auch bei Projekten, die dazu führen sollen, gleiche Standards zu erhalten und Mobilität in Deutschland zu gewährleisten, den Bereich der Bildungsforschung rasieren. Dann dürften Sie aber kein Geld mehr in die Hand
nehmen, um die Ergebnisse, die sich aus der Bildungsforschung ergeben, umzusetzen. Ich sage Ihnen: Da sind
Sie gänzlich auf dem Holzweg.
({10})
Der Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung
hat gezeigt, dass die Ganztagsschulen ein Erfolgsmodell
sind. Wir bräuchten weitere solcher Modelle. Programme wie die für Wissenschaft und Hochschule müssten fortgeführt und dürften nicht eingestampft werden.
Gerade die Hochschulen in den neuen Ländern haben
sehr davon profitiert.
({11})
So etwas wird nach der Föderalismusreform nicht mehr
möglich sein.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Flach?
Nein, ich bin beim letzten Satz. Meine Kollegin
möchte auch noch sprechen.
Meine Damen und Herren, bei aller Freude über den
Aufwuchs der Mittel für den Bereich Bildung und Forschung ist der Haushalt, wie er jetzt als Entwurf vorliegt,
keine Antwort auf die Zukunftsfragen.
({0})
Wir hoffen sehr, dass er im Laufe der Beratungen noch
verändert wird.
Danke schön.
({1})
Nun hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion die Kollegin Ilse Aigner.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
Stimmung in der Wirtschaft und bei den Menschen
steigt. Der Bundesregierung ist es gelungen, wieder Vertrauen in unser Land zu bringen.
({0})
Diese positive Stimmung müssen wir nutzen. Wir müssen den Leerlauf verlassen, den Vorwärtsgang einlegen
und die Anfangsbewegung in einen kräftigen Schub verwandeln.
({1})
Dazu müssen wir den Wettbewerb um die besten Köpfe
aufnehmen. Ob wir künftig in der Weltspitze mitspielen
oder uns in der Qualifikantenliga wiederfinden, hängt im
Wesentlich von zwei Faktoren ab, nämlich davon, wie
erfolgreich wir hoch qualifizierte Menschen aus- und
weiterbilden und wie erfolgreich wir die Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts entwickeln.
Innovation ist die Schubkraft unserer Zukunft. Deshalb investieren wir in diesen Bereich. Das ist nicht hoch
genug einzuschätzen, da wir gleichzeitig in anderen
Bereichen sparen müssen. Bis zum Ende der Legislaturperiode werden wir zusätzlich 6 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung aufwenden. Dies ist ein Kraftakt, der sich zum ersten Mal in diesem Haushalt
manifestiert. Die Ausgaben für Bildung, Forschung und
Entwicklung zeigen unsere Bereitschaft, über den Tag
hinaus zu denken. Wir wollen die Zukunft gestalten.
({2})
Wir bauen auf drei Säulen. Wie vielleicht der eine
oder andere von Ihnen weiß, war ich früher in der Raumfahrt engagiert. Leider hat uns ein Parteikollege dieses
Themenfeld weggeschnappt. Trotzdem passt ein Bild
aus der Raumfahrt sehr gut zu diesen drei Säulen: die
Ariane-Rakete. Sie hat drei Triebwerksstufen. Als erste
Stufe dienen die Feststoffbooster. Sie sind außerhalb des
Haupttriebwerkes angebracht und eignen sich deshalb
hervorragend für einen Vergleich mit der außeruniversitären Forschung.
Damit bin ich beim Pakt für Forschung. Er wurde
im letzten Jahr vereinbart. Wir stellen ihn jetzt auf eine
solide finanzielle Basis.
({3})
Die geförderten Forschungseinrichtungen von Max
Planck bis Helmholtz können sich auf uns verlassen. Sie
bekommen bis 2010 jährlich 3 Prozent mehr. Grundlagenforschung braucht Planungssicherheit.
({4})
Alle großen Quantensprünge der Innovation basieren
letztendlich auf Grundlagenerkenntnissen: Das GPS
würde sich um Meter vermessen, gäbe es nicht die
einsteinsche Relativitätstheorie. Die moderne Gentechnik wurde erst möglich durch die Aufklärung und Entschlüsselung der DNS-Struktur.
Der Pakt hieße aber nicht Pakt, wenn wir nicht auch
etwas erwarten dürften. Die Forschungseinrichtungen
müssen drei entscheidende Punkte als ihre eigenen Anliegen begreifen: Nachwuchsförderung, Karrierechancen
für Frauen und eine Vernetzung mit den Hochschulen.
({5})
Damit komme ich zum Haupttriebwerk, zu den Hochschulen. Die Hochschulen sind letztendlich das Herzstück des Wissenschaftssystems. Die jungen Nachwuchswissenschaftler sind der Treibstoff für die
Forschung. Mit der Exzellenzinitiative haben wir einen
wirklich guten Weg eingeschlagen. Wir entwickeln so
die Stärken unserer Hochschullandschaft. Die erste Vorauswahlrunde ist beendet und hat einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Früher war die Mehrheit in Deutschland darauf bedacht, eine Illusion aufrechtzuerhalten:
Alle Universitäten sind gleich. Gleich schlecht war ihr
lieber als unterschiedlich gut. Der Exzellenzwettbewerb
gibt der Hochschulentwicklung nun einen enormen
Schub. Auch diejenigen, die nicht zu den Gewinnern
zählen, haben ihre Stärken erkannt; sie haben eine
zweite Chance, bei den Schwächen etwas nachzubessern.
({6})
Der Betrag von 1,4 Milliarden Euro aus der Bundeskasse
ist bei der Exzellenzinitiative sehr gut angelegt.
Mit der Vollkostenfinanzierung werden wir die
Hochschulen zusätzlich stärken. Bisher belasten Wissenschaftler, die bei der DFG Drittmittel einwerben, die
Universitäten mit den entstehenden Gemeinkosten für
Räume, Strom, Material usw. Künftig sollen über die
DFG-Förderung hinaus diese Kosten übernommen werden. Wir wollen mit einer Förderung in Höhe von
10 Prozent beginnen und später 20 Prozent übernehmen,
was zusätzlichen Ausgaben in Höhe von 300 Millionen
Euro entspricht. Das ist eine sehr deutliche Entlastung
für die Hochschulen.
({7})
Mit der finanziellen Untermauerung kann man die Legende widerlegen. Der Bund zieht sich eben nicht aus
seiner Verantwortung für die jungen Menschen zurück.
Das Gegenteil ist der Fall.
({8})
Der Bund entlastet die Länder bei der Forschung. Die
Länder müssen sich im Gegenzug selbst verpflichten:
Sie müssen die Kapazitäten ausbauen und die Lehre stärken. Eben diese Verpflichtung wäre das wirklich Neue
und Wirkungsvolle. Das wäre ein wirklicher Pakt.
({9})
Kommen wir zur Oberstufe, die die Satelliten im
Weltraum platziert. Ich will sie mit den wissenschaftlichen Leuchttürmen vergleichen. In den letzten Jahren
war viel von Innovationsoffensiven und Leuchttürmen
die Rede. Bei der Projektförderung wurde aber leider
real gekürzt. Nun gibt es endlich einmal wieder Steigerungen im Haushalt, die das Wort Innovationsoffensive
rechtfertigen.
Das zeigt sich exemplarisch am Titel „Vernetzte
Welt“. Die Mittel steigen allein hier um 18 Prozent. Dahinter verbergen sich zum Ersten Projekte wie zum Beispiel die Entwicklung hoch leistungsfähiger Grids. Das
sind neuartige Telekommunikationsnetze. Sie ermöglichen die rasche und preiswerte Bearbeitung von höchst
komplexen Computeraufgaben. Zum Zweiten geht es
beim Titel „Vernetzte Welt“ um Sicherheitstechnologien,
um zum Beispiel eine vertrauenswürdige Übermittlung
von Daten zu ermöglichen. Bei diesem Problem gibt es
leider offensichtlich bei den Hackergemeinschaften
mehr FuE als bei der Wissenschaft. Auch die Geheimdienste interessieren sich dafür; naturgemäß veröffentlichen sie aber leider nicht ihre Ergebnisse. Deshalb müssen in Deutschland auch hier die Kompetenzen
ausgebaut werden. „Vernetzte Welt“ ist ein wirkliches
Leuchtturmprojekt.
Auch die Geisteswissenschaften gehören eindeutig
zu den Leuchttürmen. Eine innovative Gesellschaft
braucht unbedingt die Reflexion der Geisteswissenschaften. Auch deshalb erfahren sie eine Steigerung der Mittel
um über 13 Prozent.
Die große Koalition geht mit diesem Haushalt in Vorleistung. Das ambitionierte Ziel, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern, bedeutet in nackten Zahlen:
Wir müssen die Ausgaben für Forschung und Entwicklung von momentan 55 Milliarden Euro Jahr für Jahr auf
67 Milliarden Euro in 2010 steigern.
({10})
Die Aufwendungen in Höhe von 3 Prozent sollen zu
zwei Dritteln von der Wirtschaft und zu einem Drittel
von der öffentlichen Hand, also von Bund und Ländern
finanziert werden. Deshalb geht heute mein Appell weit
über dieses Haus hinaus an die Wirtschaft und an die
Länder, sich an dieser gemeinsamen Kraftanstrengung
zu beteiligen.
Die Rakete ist fertig.
({11})
Sie steht auf der Startrampe. Wir müssen sie nur noch
gemeinsam auf eine gute und richtige Bahn bringen.
({12})
Das Wort hat nun der Kollege Uwe Barth, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Frau Ministerin, „Deutschland soll sich
zu einer Talentschmiede entwickeln“. So haben Sie
heute Ihre Rede begonnen, so haben Sie auch Ihre Regierungserklärung begonnen. Niemand hier im Raum
würde Ihnen widersprechen. Allerdings müssen sich Ihr
Haushaltsansatz und die Politik der gesamten Bundesregierung an diesem Anspruch messen lassen.
({0})
Meine Kollegin Flach hat die Einschätzung der FDP
schwerpunktmäßig zu den Bereichen Forschung und
Entwicklung dargelegt. Deshalb möchte ich mich auf einige andere Punkte konzentrieren. Sie haben - auch in
Ihrer Regierungserklärung - gesagt, die soziale Herkunft darf nicht die persönliche Zukunft entscheiden.
Auch das ist richtig. Wo sind aber die neuen Ansätze zur
Umsetzung dieser Erkenntnis? Jeder weiß, dass die frühe
Förderung über Bildungschancen entscheidet: Im vorschulischen Bereich und in der Grundschule fällt die
Entscheidung, nicht im Bereich der Studiengebühren.
Wo sind Ansätze oder gar Programme für frühkindliche
Bildung? Wo sind Modelle wie zum Beispiel die englischen Early-Excellence-Centers?
({1})
Ihre Kollegen Steinbrück und von der Leyen reden
über kostenlose Kinderbetreuung. Gerade die Verbindung von frühkindlicher Betreuung und frühkindlicher
Bildung entscheidet ganz grundlegend über die persönlichen Chancen im Bildungssystem. Gerade der Bereich
der frühkindlichen Bildung muss aus unserer Sicht ganz
entscheidend verbessert werden.
({2})
Ich frage mich, wo in dieser Debatte die eigenen Konzepte der Bundesbildungsministerin bleiben. Wo bleibt
der bildungspolitische Akzent der Bundesregierung in
dieser Debatte? „Die soziale Herkunft darf nicht die persönliche Zukunft entscheiden.“ - Richtig. Dann schaffen
Sie aber auch Möglichkeiten. Tun sie gerade im Bildungsbereich etwas.
Sehr verehrte Frau Kollegin Hinz, das Ganztagsschulprogramm hat nicht den Erfolg, den Sie gerne betonen.
({3})
Im Jahr 2005 wurde die globale Minderausgabe zu großen Teilen aus dem fehlenden Mittelabruf aus diesem
Programm realisiert.
({4})
Das widerspricht Ihrer Darstellung ganz erheblich.
({5})
Nicht Bauten, sondern Bildung ist eine Investition.
Deswegen fordere ich die Bundesregierung auf, gerade
im Bildungsbereich mehr zu tun.
({6})
Wahrscheinlich wird dies aber wie Ihre eigenen, viel bescheideneren Ansätze an der Föderalismusreform kläglich scheitern.
Leider ist festzustellen, dass sich in den ersten Monaten nach der Amtsübernahme, in - wie wir seit vorgestern wissen - Phase 1, in der Bildungspolitik noch nichts
Wichtiges getan hat. Der Haushaltsentwurf ist letztlich
ein Abbild der Konturlosigkeit des bisherigen Regierungshandelns.
({7})
Die Ministerin hat den Entwurf als Aufbruch und Herr
Hagemann hat ihn gleichzeitig als Fortschreibung der
rot-grünen Regierungspolitik bezeichnet. Herr
Hagemann, ich gestehe, dass ich näher bei Ihnen bin.
Das ist aber gerade nicht der Aufbruch, den wir brauchen.
Liebe Frau Kollegin Aigner, Sie haben Herrn Einstein
und seine Relativitätstheorie bemüht. Mir kommt die Situation in der Koalition ein bisschen so vor wie bei der
heisenbergschen Unschärferelation: Die einen wissen
nicht, wo wir stehen, und die anderen wissen nicht genau, wie schnell wir uns bewegen.
({8})
Sehr verehrte Frau Ministerin, wir von der FDP haben
Ihr Wort von der zweiten Chance ganz ausdrücklich begrüßt. Jedes Jahr verlassen 8 bis 9 Prozent aller Schülerinnen und Schüler die allgemein bildenden Schulen
ohne jeden Abschluss. Wir brauchen gerade für diese
Schülerinnen und Schüler mehr Ausbildungsplätze. Warum aber, so frage ich mich, kürzen Sie die Zuschüsse
für die überbetrieblichen Ausbildungsstätten um
5 Millionen Euro und den Ansatz für Jugendliche mit
besonderem Förderungsbedarf um weitere 4 Millionen Euro? Akzentsetzung für eine zweite Chance sieht
für mich etwas anders aus.
({9})
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie wollen den Hochschulen und Forschungseinrichtungen in
Deutschland mehr Freiraum einräumen. Das hat die Ministerin wiederholt geäußert. Bei allem Respekt, sehr
verehrte Frau Ministerin, aber Sie werden den Hochschulen gar nichts einräumen. Denn Sie wollen die
Hochschulen komplett der Länderbürokratie überantworten und lehnen unseren Vorschlag, die Hochschulautonomie im Grundgesetz zu verankern, ab.
Sie planen, die Mittel für den Hochschulbau an den
Investitionen der Jahre 2000 bis 2003 zu orientieren
bzw. festzuschreiben. Damit schwächen Sie in ganz erheblichem Umfang gerade die Hochschulen in den finanzschwächeren Ländern und Sie schwächen damit
auch die Möglichkeiten für eine dynamische Entwicklung der Hochschulen in ganz Deutschland.
({10})
Wir brauchen aber keine Schwächung der Hochschulen, sondern eine Verbesserung der Rahmenbedingungen
für Bildung und Forschung in unserem Land. Dann wird
sich unser Land im Sinne dessen, was Sie, sehr verehrte
Frau Ministerin, eingangs gesagt haben und was auch Ihrer Regierungserklärung zu entnehmen war, zu einer international anerkannten Talentschmiede entwickeln. Für
alles, was zur Erreichung dieses Ziels beiträgt, kann ich
Ihnen die Unterstützung der FDP-Fraktion zusagen.
Vielen Dank.
({11})
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Jörg Tauss von
der SPD-Fraktion.
({0})
Das ist keine neue Frisur; ich war bei einem anderen
Friseur.
({0})
Lieber Kollege Barth, ich bin von manchem, was Sie
gesagt haben - auch zum Thema Föderalismusreform -, angetan. Bis Sonntag hatte sich das allerdings
noch anders angehört. Kollege Meinhardt - wir haben
schon beim Rotwein im Nachtzug zusammengesessen -,
auch bei Ihnen hat sich das anders angehört.
({1})
- Ja, man pflegt ja die Kommunikation mit der Opposition auf allen Ebenen, auch zu mitternächtlicher Stunde
im Speisewagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bis Sonntag haben
wir noch von Herrn Burgbacher und Herrn Westerwelle
gehört, dass die Föderalismusreform das Gelbe vom Ei
sei. Daher bin ich gespannt - Kollege Kauder sitzt weiter
hinten -, wie Baden-Württemberg sich zu diesem Thema
outen wird. Ich bin in der Tat der Auffassung, dass wir
das eine oder andere hier sachlich und real besprechen
müssen.
({2})
- Frau Flach, ich nehme Sie ausdrücklich aus. Es scheint
ja hier einen Wechsel zu geben. Nur, wenn Sie sagen, Sie
wollen mit uns zusammenarbeiten, dann möchte ich wissen, für welchen Teil der FDP Sie sprechen. Ich weiß,
dass „liberal“ heißt, dass jeder das sagen darf, was er gerade sagen will. Aber das führt bei einem Thema wie der
Föderalismusreform natürlich zu nichts.
({3})
Es wird spannende Diskussionen geben. Das ist völlig
klar.
({4})
Kollege Struck hat hier einiges zu diesem Thema gesagt und dazu, über welche Punkte man sachlich reden
muss. Kollege Kauder, ich halte es für vernünftig, wenn
wir über das alles miteinander und mit den Ländern diskutieren. Das passt genau zu dem, was Sie, liebe Kollegin Aigner, über die Raketen gesagt haben. Das ist ein
wunderbares Bild. Man kann sich das richtig vorstellen.
Aber bei Raketen ist es so: Je höher sie steigen wollen,
desto mehr Ballast müssen sie abwerfen. Stück um Stück
fällt da etwas ab. Jetzt müssen wir nur aufpassen, dass
vor lauter föderalem Ballast die Rakete nicht in eine
Umlaufbahn gelangt und sie dort mit großem Brimborium verglüht. Das wäre in der Tat nicht das, was wir bildungspolitisch wollen.
({5})
Kollegin Sitte - wo sie Recht hat, hat sie Recht -, der
Abstand zwischen guten und schlechten Schülerinnen und Schülern ist eine Tatsache. Das hat die PISAStudie ergeben. Das ist ein viel dramatischerer Befund
als das Problem, dass der eine oder andere nicht rechtzeitig Rechnen und Schreiben lernt. Das kann man noch
lernen. Das hat nichts mit Bildung zu tun. Das ist Kulturtechnik. Aber dass in der Tat der Abstand zwischen guten und schlechten Schülerinnen und Schülern in keiner
vergleichbaren Industrienation so groß ist wie in
Deutschland und dass vor allem die soziale Herkunft der
entscheidende Punkt bei der Frage ist, ob jemand zu den
Schlechten oder zu den Guten gehört, das ist das eigentlich Dramatische, was aus den PISA-Ergebnissen herauszulesen ist.
({6})
Deshalb müssen wir uns um diese Punkte kümmern und
sehen, was
Bildung ist eine nationale Aufgabe. Wir sollten darüber
reden, wer an welcher Stelle in sinnvollen Kooperationen - nicht mit Kooperationsverbot - etwas bewirken
kann. Vor genau dieser Aufgabe stehen wir.
({0})
Das heißt dennoch - hier will ich keine Vermischung
haben -, dass selbstverständlich - so steht es in unserem
Grundgesetz und so war es bis heute - für die Schulen,
für die Bildung zunächst einmal die Länder zuständig
sind, die hier für sich mehr Kompetenzen einfordern.
Aus diesem Grunde nehme ich mit großer Freude zur
Kenntnis, was sich in dem einen oder anderen Land tut.
In dem einen Land redet man nur über das Ziel „Kinderland“, in Rheinland-Pfalz macht man etwas:
({1})
Dort ist beispielsweise das letzte Kindergartenjahr beitragsfrei, genauso wie in Berlin gegenwärtig darüber diskutiert wird, das dritte Kitajahr beitragsfrei zu stellen.
Das ist eine praktische Förderung, nicht nur für benachteiligte Kinder, sondern für alle Kinder.
({2})
Denn gemeinsames Spielen und Lernen werden in unserer Gesellschaft zunehmend wichtiger und sind eine der
wesentlichen Voraussetzungen für den späteren Bildungserfolg.
({3})
Liebe Kollegin Flach, Sie haben berechtigterweise
auf die Kontinuität zwischen der alten und der neuen
Bundesregierung hingewiesen. Allerdings sollten Sie es
der Kollegin Aigner nicht vorwerfen, dass sie ihre Rhetorik etwas mehr ändern musste als ich meine.
({4})
Das ist ja nicht schlimm. Denn wenn man einen neuen,
lieben Koalitionspartner hat, muss man versuchen, ordentlich mit ihm zusammenzuarbeiten. Das ist völlig
klar und gilt auch für die Ministerin. Wir versuchen, gemeinsam Erfolg zu haben.
Kollegin Aigner, Sie haben die Begehrlichkeiten eines räuberischen Landes aus dem Süden der Republik
angesprochen. Dort wollten sich die alten Republikler
im gesamten Bereich der Technikentwicklung breit machen.
({5})
Diesen Versuch haben wir gemeinsam abgewehrt; denn
es ist vernünftig, dass das Forschungsministerium für die
Grundlagenforschung zuständig ist.
In diesem Bundeshaushalt werden insgesamt 7,2 Milliarden Euro für die Bildung aufgewendet. Dies geschieht über alle Ressorts hinweg. Zwar kommt dem
Wirtschaftsministerium hier eine besondere Bedeutung
zu; aber alle Ressorts sind betroffen. Deswegen kommt
es darauf an, dass wir - das wollen wir auch tun - Ressortforschung betreiben und alle Maßnahmen, die in den
verschiedenen Ressorts anstehen, weiterhin evaluieren.
({6})
Wir werden uns genau ansehen, was dort getan wird.
Denn wir wollen für das Geld, das wir zur Verfügung
stellen, ein Höchstmaß an Forschung erreichen.
Eines wissen wir - das muss ich sagen, wenn wir
schon über Geld und Forschung reden -: Forschung
kommt nicht ohne Geld aus.
({7})
Das, was bei der Forschung herauskommt, ist in einer
Volkswirtschaft wieder Geld. Genau deshalb lohnt es
sich, in Bildung, Wissenschaft und Forschung zu investieren.
({8})
Das, was in diesem Bereich geschieht, ist für die Zukunft
unseres Landes sehr wichtig und für den Erhalt unserer
sozialen Sicherungssysteme sogar existenziell.
Aus diesem Grunde ist es richtig, dass wir uns vornehmen, das 3-Prozent-Ziel zu erreichen: Bis 2010 soll
der Anteil der öffentlichen und der privaten Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesteigert werden. Im
Rahmen dieses Einzelplans kann das nur teilweise realisiert werden. Daher sind wir darauf angewiesen, dass
uns auch die anderen Ressorts bei der Realisierung des
3-Prozent-Ziels helfen.
Auch die Wirtschaft muss ins Boot. Denn das 3-Prozent-Ziel bedeutet nicht, dass diese 3 Prozent aus staatlichen Mitteln kommen sollen. Vielmehr soll 1 Prozentpunkt aus staatlichen Mitteln - aufgeteilt zwischen Bund
und Länder - aufgewandt werden und 2 Prozentpunkte
sollen aus der Wirtschaft beigesteuert werden. Kollege
Riesenhuber und ich haben uns bereits ein paar Gedanken gemacht, wie man die Rahmenbedingungen in diesem Bereich verbessern kann. Noch sind nicht alle unsere Vorschläge bei den Wirtschaftspolitikern auf großes
Interesse und auf große Freude gestoßen, vor allem nicht
bei den Finanzpolitikern, wie ich der Korrektheit halber
sagen muss. Auch darüber werden wir miteinander diskutieren müssen. Ich denke, der Grundsatz, dass wir in
unserem Land etwas für Bildung, Wissenschaft und Forschung tun müssen, ist anerkannt. Das halte ich für ausgesprochen wichtig.
Die Mittel für die Projektförderung haben wir um
278 Millionen Euro aufgestockt; das ist ein wichtiges
Signal. Für die Projektförderung außerhalb der Hochschulen haben wir 140 Millionen Euro zur Verfügung
gestellt, auch jenseits der bekannten Bereiche, zum Beispiel für die Gesundheitsforschung. Wir werden unter
anderem ein neues IT-Forschungsprogramm auflegen, da
das Programm „IT-Forschung 2006“ der alten Bundesregierung ausläuft. Auch diesem Sektor werden wir uns
in diesem Jahr, dem Jahr der Informatik, zuwenden. Das
ist ein spannender Forschungsbereich.
Natürlich gibt es auch ein paar Probleme; das ist völlig klar. Auch diese Probleme sind von den Haushälterinnen und Haushältern angesprochen worden. Zu nennen ist hier zum Beispiel die globale Minderausgabe.
Aber auch bei diesem Thema sind wir uns einig, dass wir
diese globale Minderausgabe, die uns zum Teil von anderen Häusern auferlegt wird - das ist kritisch anzumerken -, im Rahmen der Haushaltskonsolidierung erbringen wollen und müssen.
Was mich immer schmerzt, ist, dass wir in einigen
Bereichen - das ist bei Jugend und Familie genauso der
Fall wie bei Bildung und Forschung - für Leistungsgesetze, die wir zu erbringen haben, vom Finanzminister
relativ wenig Anerkennung erfahren.
({9})
- Lassen Sie es mich so sagen, Herr Staatssekretär
Diller: Hier könnten wir uns seitens des Finanzministers
noch mehr Freundlichkeit vorstellen. Denn es ist doch
so: Wenn andere Ressorts die Leistungsgesetze, die sie
zu erbringen haben, überziehen, bekommen wir die globale Minderausgabe. Ich fände es prima, wenn wir einmal anderen - beispielsweise beim BAföG - eine globale Minderausgabe auferlegen könnten. Das ist jetzt
aber natürlich reiner Egoismus. Die entscheidende Frage
aber ist: Wer soll für Leistungsgesetze aufkommen? Wir
müssen die Ausgaben für das BAföG beispielsweise immer aus unserem Etat finanzieren. Das ist ein Punkt, der
sicher nicht ganz unproblematisch ist.
({10})
Natürlich sind in Bezug auf den Haushalt noch ein
paar Fragen offen. Wir haben beispielsweise noch nicht
geklärt, wie es bei der Begabtenförderung in der beruflichen Bildung aussieht. Dieses Thema müssen wir einmal
ansprechen, Frau Ministerin; denn das ist ein wichtiger
Punkt, der über die Wirtschaft abgewickelt wird. Wenn
wir für diesen Bereich schon so viel Geld ausgeben,
möchte ich - gerade da wir ja über die Evaluierung
reden - ganz gerne erfahren, wofür dieses Geld eigentlich verwendet wird und was das Ergebnis dieser Begabtenförderung ist.
Anderes Thema: Bildungskredite. Hier werden in erheblichem Maße Ausfälle erwartet. Wir müssen einmal
schauen, ob das wirklich so ist. Wenn die Ausfälle bei
den Bildungskrediten wirklich erheblich wachsen, dann
kann ich all denen, die kreditfinanzierte Studiengebühren einführen wollen - ich will es nicht, damit das völlig
klar ist -, viel Vergnügen mit den dadurch in den nächsten Jahren entstehenden Belastungen für die Haushalte
wünschen.
({11})
Das ist also ein interessanter Punkt, den wir behandeln
werden.
({12})
Liebe Haushälterinnen und Haushälter - der von der
Union ist gerade nicht da - ({13})
- Entschuldigung, Frau Aigner, ich hatte nur einen Blick
für Sie. Der Kollege Kampeter hat sich schon der SPD
angeschlossen. Ganz prima.
({14})
- Nun sei doch nicht so. Wenn er Geld mitbringt, dann
nehmen wir auch den.
({15})
Kollege Kampeter, es gibt natürlich Themen, über die
wir auch künftig streiten wollen. Es geht hier konkret um
innovative Dienstleistungen. Wir haben immer darüber
gesprochen. Das ist ein wichtiger Punkt. Hier müssen
wir selbstverständlich etwas tun.
Herr Kollege Tauss, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Flach?
Das wäre mir recht, weil mir die Zeit ein bisschen
davonrennt. - Bitte schön, Kollegin Flach.
({0})
Mir auch, Herr Tauss. - Herr Tauss, ich mache mir
natürlich auch meine Gedanken über Ausfallrisiken.
Noch mehr interessiert mich aber, wie Sie mit Ihrer sehr
kritischen Einstellung zu dem Thema Studiengebühren
damit umgehen konnten, dass das Ganze jetzt von der
KfW für die von Ihnen getragene Bundesregierung verantwortet wird. Hierauf hätte ich gerne eine Antwort von
Ihnen.
({0})
Schade, ich habe geschaut, welche Teile meiner Rede
ich in der Beantwortung Ihrer Frage unterbringen kann.
Aber dieses Thema wollte ich leider nicht streifen. Deswegen ist das nicht möglich, aber die Frage beantworte
ich gerne.
Auch zur Erläuterung für diejenigen, die sich noch
nicht mit dieser Frage beschäftigt haben: Die KfW wird
künftig Bildungskredite vergeben. Diesen Punkt halten
wir für selbstverständlich und für gut.
({0})
Darüber haben wir hier diskutiert. Wir haben allerdings
gesagt - das erwarten wir ganz klar -, dass wir aus diesem Kreditprogramm keinerlei Risiken in irgendeiner
Form für den Bundeshaushalt hinnehmen werden und
wollen.
({1})
Die Kalkulation der KfW ist in der Tat so, dass sie mit
dem Zinssatz, den sie erheben will, die Kredite und auch
die Ausfälle finanzieren wird.
({2})
- Ja, gut: Ob sich jemand mit diesem Kredit ein Auto
kauft oder sonst irgendetwas finanziert, kann ich natürlich nicht mit polizeilichen Mitteln ermitteln.
Es geht darum, einem Studierenden ein Kreditprogramm zur Verfügung zu stellen. Am besten ist es natürlich für denjenigen, der in ein sozialdemokratisch regiertes Land geht, in dem Studiengebühren nicht erhoben
werden. Das ist doch völlig logisch. Wenn er zu den
Schwarzen geht - Entschuldigung, lieber Koalitionspartner -, ist er in diesem Punkt eher der Betrogene.
Der zweite Punkt in diesem Zusammenhang ist - das
geht übrigens nicht auf eine Idee von mir, sondern von
der KfW zurück -: Wir haben die KfW gebeten, mit den
Ländern, die Studiengebühren erheben, einen Vertrag
abzuschließen - das hat die KfW nach meiner Kenntnis
übrigens auch vor -, in dem steht: Liebe Freunde, wenn
wir aufgrund der Tatsache Ausfälle haben, dass ihr Studiengebühren erhebt, wodurch ihr staatliche Einnahmen
erzielt, die ihr den Hochschulen in der Regel nicht zuleitet - diese Studiengebühren bleiben nach allen Erfahrungen ja an den klebrigen Fingern der Finanzminister
hängen -, dann übernehmen wir die Risiken dafür nicht,
dann muss das jeweilige Bundesland, das Studiengebühren erhebt, die Risiken dafür übernehmen. Das halte ich
für eine logische Politik der KfW. Dies hat der Bund
aber nicht in irgendeiner Form zu verantworten. Für uns
gilt der Grundsatz: Es ist ein KfW-Programm, es bleibt
ein KfW-Programm und die Ausfälle sind nicht vom
Bund zu verantworten.
War dies eine Antwort auf Ihre Frage, liebe Kollegin
Flach?
({3})
- Wenn es meine Bank wäre, dann ginge es mir besser.
Ich schaue mir jeden Tag den Stand meines Girokontos
an und bin deprimiert. Leider ist es nicht so. Diese Bank
gehört zu großen Teilen dem Bund und zu einem kleineren Teil den Ländern. Aus diesem Grunde hat der Bund
ganz klar gesagt: Wir wollen keine Risiken übernehmen,
die aus der sonstigen Geschäftspolitik der KfW hervorgehen. In diesem Punkt sind wir uns mit den Haushältern
völlig einig.
Ich komme zu den Themen zurück, die uns betreffen.
Bei dem Thema Deutsche Stiftung Friedensforschung ist
vorhin jemand zusammengezuckt. Aber in diesem
Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, werden wir euch ein bisschen quälen. Ich sehe, dass
auch der Kollege Heinz Schmitt anwesend ist. Wir wollen, dass diese Stiftung auf ein solides Fundament gestellt wird, sodass sie eine gute Arbeit leisten kann. Angesichts der zunehmenden internationalen Konfliktherde
ist das ein wichtiger Punkt. Liebe Frau Ministerin
Schavan, natürlich werden wir unsere Wunschzettel zu
den Gesprächen, die heute Abend beginnen, mitbringen.
Ich sehe gerade, dass der Kollege Riesenhuber, den
ich sehr schätze, in Ihrer Nähe steht. Das ist ein Übeltäter; denn er hat uns mit seinen Verträgen dazu gebracht,
dass wir viele Milliarden Euro in die Abwicklung der
Kernkraft, die wir gar nicht haben wollten, stecken müssen.
({4})
Das belastet den Haushalt. Wie ich sehe, will der Kollege Riesenhuber eine Frage stellen. Das ist gut; denn
das ist ein Teil meines Manuskriptes. Bitte fragen Sie.
({5})
Herr Kollege Riesenhuber, bitte sehr.
Hochverehrter Herr Kollege Tauss, sind Sie bereit,
zur Kenntnis zu nehmen, dass die vorzüglichen Verträge
zu den Reaktoren, beispielsweise zu dem in Karlsruhe,
von meinen Vorgängern abgeschlossen worden sind?
({0})
Das waren unter anderem Herr Bülow und Herr Hauff
- beide verdiente Minister der SPD -, deren großartige
Leistungen bis in die heutige Zeit, wie man deutlich
sieht, fortwirken.
({1})
So ganz können Sie sich nicht herausmogeln. Ich
weiß von einem Vertrag, der Ihre Unterschrift trägt. Was
die Wiederaufbereitungsanlagen betrifft, hieß es damals:
1 Milliarde von der öffentlichen Hand - damals noch DMark -, 1 Milliarde von der Kernenergiewirtschaft. Zwischenzeitlich zahlt die öffentliche Hand nicht 1 Milliarde
DM, sondern 1 Milliarde Euro, während der Beitrag der
privaten Hand sich nicht verändert hat.
({0})
- Von wegen Blabla, lieber Kollege. Dass das für Sie ein
unangenehmes Thema ist, kann ich verstehen. Es widerlegt nämlich maßgeblich die Legende, die gerade auch in
Baden-Württemberg gestreut wird, Atomkraft sei eine
billige Energie.
({1})
Lieber Kollege Hagemann, wie viele Millionen vom Etat
brauchen allein wir für den Abbruch?
({2})
- 320 Millionen Euro!
Herr Kollege, Sie sind bei der Beantwortung der
Frage.
Ich wollte dem Kollegen Riesenhuber lediglich korrekte Zahlen präsentieren. Allein 320 Millionen Euro
brauchen wir aus öffentlichen Forschungsmitteln, um
den Abbruch zu finanzieren. Was könnten wir mit diesen
320 Millionen Euro alles machen!
Ich gebe zu, dass es Irrtümer auf allen Seiten gab.
Auch Sozialdemokraten haben sich hinsichtlich der
Kernkraft geirrt. Aber wenn wir wissen, dass wir heute
Hunderte von Millionen, ja Milliarden allein für den Abbruch des Schrotts aufwenden müssen, dann sollten wir
uns vielleicht darauf verständigen - im Koalitionsvertrag
haben wir das erfreulicherweise gemacht -, dass wir den
Ausstieg wollen. Einige rennen jedoch noch immer
durchs Land und fordern die Weiterführung dieses Unfugs, der zu teuer ist.
({0})
Aus diesem Grunde, lieber Kollege Riesenhuber, waren
die Verträge damals sicherlich einer Entwicklung geschuldet, die heute so nicht mehr akzeptiert werden
würde. Aber das Geld fehlt uns nichtsdestotrotz.
Neben diesen Investitionen für den Ausstieg haben
wir auch ein paar erfreuliche Investitionen. Beispielsweise werden wir in PETRA III, X-FEL, FAIR und
HALO investieren. Ich weiß jetzt nicht, ob alle hier im
Saal etwas mit diesen Fachbegriffen anfangen können.
Aber weil Frau Kollegin Aigner hinsichtlich der Forschungsmöglichkeiten im Weltraum vorhin so euphorisch war, sage ich nur: Es gibt auch tolle Forschungsmöglichkeiten auf der Erde.
PETRA III ist eine Lichtquelle der Superlative, die
im Moment bei der Helmholtz-Gemeinschaft DESY in
Hamburg errichtet wird. Mit dieser Synchrotronstrahlungsquelle werden wir - ganz nebenbei kostet das
225 Millionen Euro - die weltweit brillanteste Quelle für
harte Röntgenstrahlen haben. Dies eröffnet Möglichkeiten der Betrachtung, die heute noch außerhalb des
menschlichen Ermessens liegen.
Gleiches gilt für X-FEL. X-FEL ist ein RöntgenlichtFreie-Elektronen-Laser, der es ermöglicht, chemische
Reaktionen künftig zu filmen. Wir werden also zukünftig nicht mehr nur auf ein Papier schauen, um uns eine
chemische Formel anzusehen, sondern wir können chemische Reaktionen filmen. Wir können atomare Details
von Molekülen entschlüsseln und dreidimensionale Aufnahmen aus dem Nanokosmos machen. Das sind also
faszinierende und spannende Dinge.
Das alles gilt auch für FAIR, das Beschleunigerzentrum, in dem es um Antiprotonen und Ionen geht. In
Darmstadt werden wir diese Wissenschaftsszene zusammenführen, sodass dieses Zentrum ein weiterer Leuchtturm des Wissenschaftsstandortes Deutschland wird.
Wenn wir schon in die Höhe gehen - wenn auch nicht
ganz so hoch wie die Rakete von Frau Aigner -, ist auch
das Höhenforschungsflugzeug HALO zur wissenschaftlichen Untersuchung der Erdatmosphäre und der Umweltveränderungen zu nennen, an dem sich - auch das
ist eine Erfolgsgeschichte - das BMBF mit 47,5 Millionen Euro beteiligt. Das sind die spannenden Maßnahmen, die wir aus unserem Forschungshaushalt finanzieren.
Die Hochschulen sind bereits von unserem Kollegen
Hagemann angesprochen worden. Erlauben Sie mir dazu
noch eine Bemerkung. Es hilft uns nicht, in die
schönsten Sphären im Weltraum zu fliegen und über die
tollsten Geräte zu verfügen, wenn wir keinen hinreichend ausgebildeten Nachwuchs haben, für den es auch
entsprechende Stellen gibt.
({1})
Darum müssen wir uns kümmern. Deshalb begrüße ich
Ihre Äußerung sehr, Frau Kollegin Aigner, dass Kapazitäten Teil des Paktes sein könnten. Ich fand diesen Vorschlag, den auch wir bereits eingebracht haben, bemerkenswert.
Lassen Sie uns in diesem Zusammenhang über die
Verpflichtungen der Länder - ich denke, sogar über das
Jahr 2013 hinaus - reden. Ich kann nicht ganz einsehen,
dass wir bis 2013 die Mittel zweckgebunden zuweisen,
danach aber im Zuge der Föderalismusreform nicht
mehr. Ich sage dies auch deshalb, lieber Kollege Kauder,
weil Sie immer meinen, die Reform sei das Gelbe vom
Ei. Wir können uns vielmehr vorstellen - das hat auch
heute Morgen ein Gespräch mit Vertretern von Wissenschaftsorganisationen bestätigt -, die Mittel für den
Hochschulpakt kapazitätsbezogen auszugeben, damit
wir in diesem Bereich über das Jahr 2013 hinaus zu einer
vernünftigen Aufteilung der Mittel kommen, die den
Hochschulen auch weiterhin zur Verfügung stehen müssen, statt in andere Bereiche wie in den Straßenbau oder
die Beamtenpensionen zu fließen. Diese Bereiche sind
zwar ebenfalls wichtig, aber wir brauchen das Geld für
die Hochschulen.
({2})
Last but not least - ich sehe gerade, dass Sie mich an
meine Redezeit erinnern, liebe Frau Präsidentin - wird
uns auch das BAföG in den nächsten Monaten und Jahren beschäftigen. Wir wollen nicht, dass das BAföG ausgezehrt wird. Wir wollen - das haben wir auch kürzlich
in der BAföG-Debatte deutlich gemacht - die Weiterentwicklung des BAföG. Wir wollen den Koalitionsvertrag
einhalten und jungen Menschen, die sich aus finanziellen Gründen kein Studium leisten können, mit dem
BAföG die Perspektive bieten, ihr Studium zu finanzieren.
Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit.
({3})
Nun hat die Kollegin Anna Lührmann, Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.
({0})
- Ich halte mich auch gewöhnlich an die Redezeit.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Professor Riesenhuber,
auch auf Sie komme ich gleich noch in Ruhe zu sprechen.
({0})
Denn wenn in der Haushaltspolitik von Generationengerechtigkeit die Rede ist, dann denkt man gewöhnlich an
die Staatsverschuldung und ihren Abbau. Das ist ein sehr
wichtiges Ziel. Aber es kommt auch darauf an, wofür
Geld ausgegeben wird. Beim Bildungs- und Forschungsetat könnte man meinen, dass hierbei Geld für
Zukunftsaufgaben, für die junge Generation und für Arbeitsplätze eingesetzt wird.
({1})
Aber auch in diesem Etat schlummern gewaltige Lasten der Vergangenheit, die ich in meiner fünfminütigen
Redezeit kurz zur Sprache bringen möchte. Ich spreche
von der Titelgruppe 35, bei der es um den Rückbau von
kerntechnischen Versuchsanlagen geht. Abgesehen
von den enormen Risiken, die diese Anlagen, der damit
verbundene Müll und auch ihr Rückbau für Umwelt und
Gesundheit bedeuten, gehen damit auch beträchtliche
Kosten einher. Allein in diesem Jahr wurden 220 Millionen Euro für den Rückbau von kerntechnischen Versuchsanlagen eingestellt.
({2})
Ich will das vor allem für die anwesenden Gäste in
Relation zu zwei anderen Beispielen bringen. Denn unter 220 Millionen Euro kann sich der Normalbürger zunächst einmal nichts vorstellen. Zum Vergleich: Im gesamten Kapitel Information, Kommunikation und neue
Technologien - eine Titelgruppe, in der wir Geld für die
Erforschung von neuen Bereichen ausgeben, in denen
auch in Deutschland Arbeitsplätze entstehen können geben wir 560 Millionen Euro aus. Das bedeutet: Die
Ausgaben, die für den Abbau der strahlenden Ruinen
notwendig sind, betragen etwa die Hälfte der Ausgaben
für Zukunftstechnologien, in denen Arbeitsplätze entstehen. Das halte ich für einen Skandal.
({3})
Ein weiteres Beispiel zum Vergleich: Die Regierung
will mehr Geld für Forschung ausgeben. Das unterstützen wir als Grüne ausdrücklich.
({4})
Aber auch hier werden - dies zeigt ein genauer Blick auf
die Zahlen - 10 Prozent des Aufwuchses, den Frau
Schavan so stolz verkündet hat, für die gestiegenen Kosten aus dem Abbau der kerntechnischen Versuchsanlagen eingesetzt werden müssen. Auch das halte ich für einen Skandal;
({5})
denn dadurch wird kein Arbeitsplatz, kein zukunftsfähiges Produkt und keine neue Form der Energieerzeugung
geschaffen, die in Zeiten begrenzter Ressourcen dringend notwendig sind. Hier wurde in der Vergangenheit
klar auf Kosten der Zukunft gewirtschaftet und wir müssen die Suppe jetzt auslöffeln.
Insgesamt wurden allein für den Rückbau kerntechnischer Versuchsanlagen 3 Milliarden Euro einkalkuliert.
3 Milliarden Euro! Das muss man sich einmal auf der
Zunge zergehen lassen. So hoch ist die Summe der Ausgaben für den Abbau der kerntechnischen Anlagen, die
in der Vergangenheit getätigt worden sind, und der Ausgaben, die in Zukunft erwartet werden. Darin sind noch
nicht die Kosten für die Behebung von Umwelt- und Gesundheitsschäden, die in Zukunft vielleicht entstehen
werden, und erst recht nicht die Kosten für das noch
nicht gefundene Endlager enthalten.
Nun könnte man angesichts einer solchen Summe
meinen, dass der Rückbau so effizient und so günstig für
den Steuerzahler wie möglich durchgeführt würde. Aber
Fehlanzeige! Als Beispiel nenne ich die schon von Herrn
Tauss angeführte Wiederaufbereitungsanlage in Karlsruhe. 1991 wurde ein Vertrag geschlossen; diesen habe
ich dabei, Herr Riesenhuber. Damals waren Sie bekanntlich Minister für Forschung und Technologie. Es stimmt
zwar, dass die Vorgängerregierungen Ihnen diese Suppe
eingebrockt haben, weil sie diese Anlagen zu Konditionen aufbauen ließen, die Sie hinterher nicht mehr ändern
konnten. Aber der Vertrag von 1991 enthält die Klausel,
dass die Wirtschaft ab einer bestimmten Höhe der Abbruchkosten aus der Finanzierung herauskommt. Ein
ziemlich dickes Ding! Das heißt, der Steuerzahler trägt
diese Kosten allein.
({6})
- Stimmt, die Mehrheit der Kosten, vor allen Dingen die
Kosten, die in Zukunft entstehen werden und die man
noch nicht beziffern kann.
({7})
Der Bundesrechnungshof hat kritisiert, dass hier eine
Gesellschaft mit der eigenen Abwicklung beauftragt
wurde. Das kann doch gar nicht funktionieren; denn
keine Gesellschaft der Welt hat ein Interesse daran, sich
selber abzuwickeln.
({8})
Es wurde nicht auf eine solide Finanzierungsgrundlage
und darauf geachtet, dass das Ganze möglichst günstig
für den Steuerzahler abgewickelt wird. Das hat der Bundesrechnungshof ebenfalls kritisiert. Darauf ist schon im
Februar dieses Jahres im Haushaltsausschuss eingegangen worden.
Was macht nun die große Koalition? Sie macht dort
munter weiter, wo die Vorgängerregierung aufgehört hat.
Sie haben den Ausstieg der Wirtschaft nach einer geleisteten kleinen Ablasszahlung besiegelt. Damit ist die
Wirtschaft draußen, was die zukünftigen Kosten angeht.
Die Koalitionsfraktionen haben außerdem eine halbe
Milliarde Euro freigegeben - das muss man sich einmal
vorstellen -, ohne dass ein Kostenvoranschlag bzw. ein
Kostenkonzept vorliegt oder ein Sanktionierungs- bzw.
ein Controllinginstrument vorhanden ist. Das heißt, der
WAK wurde ein Blankoscheck ausgestellt. Das ist so, als
ob man einer Handwerksfirma, die ein Haus abreißen
soll, eine Zusage über eine bestimmte Summe gäbe und
sagte: Wenn das nicht ausreicht, dann geben wir euch
noch mehr Geld; wie und in welchem Zeitraum ihr das
Haus abreißt und wofür ihr das Geld ausgebt, ist uns
egal; macht das einfach irgendwie; hinterher bekommt
ihr wieder Geld von uns.
({9})
- Natürlich muss das Zeug weg, Herr Kollege. Aber das
muss so effizient wie möglich geschehen und nicht
durch einen Blankoscheck, den man einem Unternehmen ausstellt.
An diesem Beispiel wird noch einmal deutlich: Die
Atomenergie ist nicht nur gefährlich, sondern ist auch
unter finanziellen Gesichtspunkten ein Fass ohne Boden.
Deshalb muss so schnell wie möglich ausgestiegen werden.
({10})
Frau Schavan, ich fordere Sie auf, dafür zu sorgen, dass
die Altlasten so schnell und so kostengünstig wie möglich beseitigt werden; denn wir brauchen dieses Geld
dringend für die Forschung und andere zukunftsträchtige
Bereiche - zum Beispiel für erneuerbare Energien -, in
denen Arbeitsplätze für junge Menschen entstehen können.
({11})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus-Peter
Willsch, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Lührmann, noch so jung und schon so rückwärts gewandt in der Diskussion! Sie haben sich nur mit der Vergangenheit beschäftigt, als ob das bei Ihnen anders gelaufen wäre. Ich finde, das ist bedauerlich. Wir sollten
uns im Wesentlichen mit der Zukunftsfähigkeit des Landes auseinander setzen.
({0})
Der Finanzplan des Bundes 2005 bis 2009 steht unter
der Überschrift „Wachstumsorientierte Haushaltspolitik: Sanieren, Reformieren, Investieren“. Wenn wir uns
diesen Dreiklang der großen Koalition vor Augen führen, dann stellen wir fest, dass wir es vor allem mit zwei
Bereichen dieser drei Schlagworte zu tun haben. Zum
Thema Reformieren: Herr Tauss, Sie sollten noch einmal die Koalitionsvereinbarung und alles andere lesen,
was schon festgelegt ist. Natürlich brauchen wir eine Föderalismusreform, die die Zuständigkeiten von Bund
und Ländern klärt; denn vieles von dem, was bei der
Vorgängerregierung völlig falsch gelaufen ist, ist der
Tatsache geschuldet, dass die Kompetenzen nicht klar
waren
({1})
und dass man sich in unproduktiven Rechtsstreitigkeiten
- von Juniorprofessur über Studiengebühren bis hin zur
Auseinandersetzung zwischen Bundestag und Bundesrat
über die Verteilung der Exzellenzmittel - ergangen hat.
Das ist alles eine Folge dessen, dass die Zuständigkeiten
unklar waren. Deshalb tun wir als große Koalition gut
daran, im Zuge der Föderalismusreform die Zuständigkeiten im Bereich der Bildung - auch bei den Hochschulen - im Wesentlichen wieder auf die Ländern zu konzentrieren; denn da gehört das hin, weil es da ordentlich
erledigt wird.
({2})
Deshalb verstehe ich auch nicht den Irrglauben an die
Kompetenz der höheren Ebene, der bei einigen immer
noch fest in den Köpfen ist.
({3})
Gerade wenn wir uns die PISA-Ergebnisse anschauen,
haben wir klar festzustellen, dass es Länder gibt, die dort
gut mitspielen, weil sie über Jahrzehnte eine ordentliche
Bildungspolitik gemacht haben. Wenn wir uns am guten
Beispiel orientieren - das ist es ja, was wir wollen: dass
sich die guten Beispiele im Wettbewerb, auch im föderalen Wettbewerb, durchsetzen -, dann sind wir auf dem
richtigen Weg. Ich bin überzeugt, dass wir das so miteinander vereinbaren.
({4})
Wir haben uns - das liegt in der Natur der Konstellation, die wir jetzt eingegangen sind - dafür entschieden,
das Vier-Milliarden-Programm weiter durchzuführen,
gleichwohl die Art und Weise, wie es durchgeführt wird,
für uns nicht hundertprozentig sinnhaft ist. Die Länder
und die Kommunen haben sich aber auf das Geld eingerichtet und sollen es jetzt auch bekommen. Wir hätten
das anders gemacht, wenn wir in der Verantwortung gewesen wären, aber es gehört zur Kontinuität von Regierungshandeln, dass wir dieses Programm jetzt durchfinanzieren und weiter zu den Aussagen stehen.
({5})
Der wichtigste Rohstoff, den wir haben, ist das Wissen, also das, was die Menschen in Deutschland zwischen den Ohren haben. Deshalb ist es so wichtig, dass
der Staat gerade in der Grundlagenforschung seine
Aufgaben erledigt. Dementsprechend finden sich wesentliche und wichtige Initiativen im Regierungsentwurf
für den Einzelplan 30, die wir im Zuge der Haushaltsausschussberatungen noch im Einzelnen durchgehen
werden. Dabei werden wir sicherlich auch noch Mittel
und Wege finden, die überzogene GMA auf ein erträgliches Maß zurückzuführen.
Ich freue mich gleichwohl darüber, dass wir endlich
einmal einen Haushalt haben, in dem das BAföG mit realistischen Ansätzen kalkuliert ist und in dem wir auch
neue Wege gehen, zum Beispiel indem wir versuchen,
mit den Mitteln, die wir zur Verfügung stellen, ein Prozent eines Jahrgangs als Hochbegabte zu fördern. Dass
wir darüber auch diejenigen, die eine zweite Chance
brauchen, nicht vergessen, ist ein wichtiger Punkt. Darum kann man sich aber vor allen Dingen in den Ländern
kümmern. Frau Hinz, weil Sie gejammert haben über all
das, was nicht geschieht: Als wir in Hessen die Verantwortung übernommen und Sie endlich abgelöst haben,
haben wir gesagt, dass keiner mehr in die Grundschule
kommt, der kein Deutsch kann; denn das war die größte
Gruppe derer, die in der Schullaufbahn gescheitert sind.
({6})
Jetzt werden diejenigen, die kein Wort Deutsch können,
gefördert und bekommen Deutschkurse im Grundschulalter. Wenn sie in sechs oder sieben Jahren aus dem
Schulsystem herauskommen, wird ihre Leistung entsprechend positiv sein. Dann haben wir einen wesentlichen
Beitrag geleistet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
heute in der „Welt“ auf der Titelseite eine erfreuliche
Überschrift gelesen - vielleicht haben das andere auch
gelesen. Ich will das nicht sofort der Bilanz der neuen
Regierung zuschlagen, aber vielleicht hängen die Dinge
doch zusammen. Jedenfalls ist in der „Welt“ heute auf
der ersten Seite aus einer britischen Studie zu lesen:
Deutsche haben die leistungsfähigsten Gehirne
Europas.
Nun wollen wir den Menschen die Möglichkeit geben, diese Gehirne im Rahmen einer sinnvollen Innovations- und Forschungspolitik zu entwickeln, damit wir
auch in Zukunft - da spreche ich auch die jungen Menschen, die auf der Tribüne sitzen, ganz gezielt an - entsprechende Arbeitsplätze und Möglichkeiten in unserem
Land haben.
All das, was wir heute nicht säen, werden zukünftige
Generationen nicht ernten können.
({7})
Deshalb ist es so wichtig, dass wir diesen großen Hieb
machen und die 6 Milliarden Euro für Forschung und
Entwicklung in diesem Lande einstellen.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({8})
Zu diesem Geschäftsbereich liegen keine weiteren
Wortmeldungen vor.
({0})
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit, Einzelplan 16.
Ich erteile das Wort für die Bundesregierung Herrn
Bundesminister Sigmar Gabriel.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Hier
macht sich jemand über Gewichtsklassen lustig. Ich
habe einmal einem früheren Bundeskanzler gesagt: Lieber dick als doof. Sie müssen aufpassen, dass Sie nicht
noch zunehmen.
({0})
- Sie sind einen Meter größer als ich, wenn ich das richtig sehe.
Meine Damen und Herren, ich bitte vorab um Entschuldigung für meine angeschlagene Stimme. Ich habe
ein Bonbon im Mund, weil ich etwas vergrippt bin, und
hoffe, dass Sie das entschuldigen. Das ist keine Unhöflichkeit.
({1})
- Vielen Dank.
Der Umwelthaushalt, der vorzustellen ist, beinhaltet
- das wissen Sie - aufgrund des Koalitionsvertrages eine
Vielzahl von Aufgaben und Themen, die wir in den
kommenden Jahren gemeinsam in der Koalition und hier
im Parlament abarbeiten wollen.
({2})
Dazu zählen Themen wie die Errichtung einer Stiftung
Nationales Naturerbe, wir haben Probleme im Bereich
der Wasserrahmenrichtlinie aufzuarbeiten, wir müssen
uns mehr im Bereich der Biodiversitätsstrategie engagieren, wir haben Aufgaben bei der Gentechnik, im ÖPNV
und in der Abfallwirtschaft. All das ist Gegenstand der
Umweltpolitik. Ich gestatte mir trotzdem, dass ich auf
die Aufzählung dessen, was wir im Koalitionsvertrag
verabredet haben und was sich auch im Haushalt wieder
findet, verzichte und versuche, den Haushalt anhand von
zwei Punkten darzustellen, die für mich und für uns in
der Koalition die größten Herausforderungen der kommenden Jahre darstellen.
Die erste große Herausforderung, über die wir in diesen Tagen besonders reden, ist die Frage, auf welcher
Grundlage wir für sichere und kostengünstige Energie
sorgen. Wie versorgen wir Haushalte mit mittleren und
niedrigen Einkommen mit Energie, ohne dass diese
Haushalte immer mehr von ihrem verfügbaren Einkommen nur für eine warme Wohnung oder eine Tankfüllung
ausgeben müssen? Wie versorgen wir eine vom Export
abhängige Volkswirtschaft wie die deutsche mit sicherer
und preiswerter Energie, sodass die Produkte, die in dieser Volkswirtschaft entstehen, weltweit verkauft werden
können und dadurch Arbeitsplätze bei uns im Lande
bleiben. Das ist eine der riesigen Herausforderungen der
Energiepolitik, wie wir wissen.
Die zweite Herausforderung ist der Klimaschutz, der
unmittelbar mit der Frage, wie wir Energie produzieren,
zusammenhängt. Wie schaffen wir es, dass der voranschreitende Klimawandel in Grenzen gehalten wird und
wir ihn womöglich sogar rückgängig machen können?
Das ist eine Menschheitsaufgabe, die wir weder in
Deutschland alleine noch in Europa werden lösen können, die wir aber in Europa und in Deutschland energisch angehen müssen, wenn wir wollen, dass uns andere nachfolgen. Wir müssen mit gutem Beispiel
vorangehen. Die Klimaschutzpolitik hatte schon bei der
Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode einen
ganz hohen Stellenwert gehabt, aber auch schon seinerzeit unter der damaligen Umweltministerin Angela
Merkel, der heutigen Bundeskanzlerin. Der Klimaschutz
ist ein wirklich großes Menschheitsthema. Es muss die
Frage beantwortet werden, wie eigentlich unsere eigenen
Kinder in den Alpen noch wandern gehen sollen, wenn
die Permafrostgebiete zurückgehen und Dörfer verschüttet werden. Wie sollen unsere Kinder und Enkelkinder
an der Nordsee aufwachsen, wenn dort die Sturmfluten
immer höher werden? Letztens hatten wir in Hamburg
einen Tornado. Ich weiß nicht, ob es so etwas schon einmal gab und ob das etwas mit dem Klimawandel zu tun
hat.
({3})
- Ich kann Sie leider nicht verstehen, würde Ihnen aber
gerne zuhören. Wenn Sie eine Frage stellen wollen, dann
machen Sie es.
({4})
- Das wird wohl eher etwas mit den Nachwirkungen der
Ereignisse, in die der Justizsenator verwickelt war, zu
tun gehabt haben.
Im Ernst: Wir wissen, dass Hurrikans in Regionen
entstehen, in denen es nie welche gab. Wir wissen, dass
Menschen in Afrika und Asien, die nichts für den Klimawandel können, darunter zu leiden haben und dass nicht
nur bei uns, sondern in vielen Teilen der Welt große Sorgen bezüglich der Frage existieren, ob man diesen Klimawandel beherrschbar gestalten kann und ob die Erderwärmung mehr als 2 Grad betragen wird und damit die
Folgen unbeherrschbar sind. Schon heute gibt es mehr
Flüchtlinge wegen Wassermangels aufgrund des Klimawandels als wegen Krieg und Bürgerkrieg.
Das sind zwei gigantische Herausforderungen. Wie
vereinbaren wir Energiesicherheit und Klimaschutz? In
den letzten Jahren und Jahrzehnten hatten wir die typische Strategie, dass wir aus meiner Sicht immer defensiv
reagiert haben. Wir kennen solche Bedrohungen schon
seit längerer Zeit. Wir wissen, dass etwas auf uns zukommt. Wir haben immer sehr defensiv reagiert, wir haben über Grenzen des Wachstums geredet und wir haben
Konsumverzicht gepredigt. Wir haben den Menschen
vor allen Dingen große Sorgen vor ihrer Zukunft gemacht. Wir haben ihnen beispielsweise gesagt: Konsumiert nicht so viel! Verhindert weiteres Wachstum! Seid
vorsichtiger! Seid skeptischer, was Technik angeht!
Ich glaube, dass man angesichts der Entwicklung, mit
der wir es zu tun haben, sagen muss: Diese defensive
Strategie ist gescheitert. Wir können weder den Brasilianern noch den Indern noch den Chinesen sagen: Stoppt
eure Wachstumserwartungen! Zahlreiche Menschen haben bis heute keine Schuhe und keinen Zugang zur Energie. Sie werden sich von uns nicht vorschreiben lassen,
ihr soziales, ihr wirtschaftliches, ihr kulturelles Wachstum zu bremsen und nicht so viel Energie zu verbrauchen, um eine Klimakatastrophe zu verhindern.
Wir werden das übrigens auch unserer eigenen Bürgern nicht wirklich nahe bringen können. Viele von uns
leben nicht im Konsumparadies, sondern haben mittlere
und niedrige Einkommen und sind auf Wachstum angewiesen, um beschäftigt zu werden. Außerdem müssen
sie Energie verbrauchen, zum Beispiel um zur Arbeit zu
kommen. Das Predigen von Grenzen des Wachstums
und von Konsumverzicht allein ist in der Vergangenheit
keine Strategie gewesen, die dazu geführt hat, dass wir
die Herausforderungen haben bewältigen können.
Die eigentliche Frage ist: Wie sieht eine offensive
Strategie aus, die nicht ausschließlich darauf setzt, den
Menschen zu sagen: Kauft nicht so viel! Fahrt nicht so
viel Auto! Produziert nicht so viel! Verbraucht nicht so
viel Energie! Haltet euch in eurer Entwicklung zurück! Mit einer anderen, offensiven Strategie sollte man vielmehr versuchen, die mit Energieknappheit und Klimawandel verbundenen Herausforderungen zu bewältigen,
indem man klar macht: Wir werden Energieverbrauch
und Wachstum entkoppeln müssen. Wir müssen Wohlstand, soziales, wirtschaftliches, kulturelles Wachstum
von der Zerstörung des Klimas entkoppeln.
Ich glaube, dass es wirklich eine Idee gibt, die diese
offensive Strategie beinhaltet. Im Umweltsektor, in der
Wirtschaftspolitik, in der Forschungspolitik müssen wir
sie gemeinsam aufgreifen: Im Kern geht es um die Wiederentdeckung der Idee des technischen Fortschritts.
({5})
Ziel ist, die Chancen zu nutzen und zugleich die Herausforderungen anzunehmen. Hier vorne sitzt ein frivoler
Zwischenrufer, der glaubt, das, worüber wir hier reden,
sei ganz lustig. Herr Kollege, es geht nicht darum, in die
Blindheit des Fortschrittsglaubens der 70er-Jahre zurückzufallen.
({6})
Es geht auch nicht darum, in die Blindheit der 60er-Jahre
zurückzufallen. Genauso wenig geht es darum, der Forschungseuphorie „Alles ist möglich“ zu verfallen.
Vielmehr müssen wir begreifen, dass man bei der Bewältigung menschheitsbedrohender Entwicklungen auf
die Qualifikation von Menschen setzen muss, auf ihre
Fähigkeit, Lösungen zu erarbeiten, auf ihre Fähigkeit zur
Innovation und zur Integration. Ich glaube, eine Kernkompetenz hat unser Land, Deutschland, in den letzten
150, vielleicht auch 200 Jahren sehr stark und sehr groß
bei der Annahme von Herausforderungen gemacht, abseits von Kriegen und Diktaturen: die Fähigkeit zur Innovation, zum Erfinden neuer Produkte und neuer Verfahren, aber auch zur Integration neuer Produkte und
neuer Verfahren in die vorhandene Produktions- und
Dienstleistungsstruktur. Damit meine ich übrigens auch
den weltweiten Verkauf dieser Produkte.
In der Umweltpolitik geht es im Kern um die Wiederentdeckung der Idee der Fähigkeit zur Innovation und
Integration. Es kommt darauf an, die Fähigkeit, technischen Fortschritt herbeizuführen, anzuwenden, um die
mit dramatischen Entwicklungen in den von mir geschilderten Bereichen - Energieversorgung, Klimaschutz verbundenen Probleme zu lösen.
({7})
Das stellt übrigens den Menschen in den Mittelpunkt.
Es geht nicht nur darum, seine Probleme zu lösen, sondern auch um seine Kompetenz, seine Qualifikation,
seine Fähigkeit zur Mitarbeit, zur Mitbestimmung, zur
politischen Aktion, seine Fähigkeit, sich ausbilden zu
lassen, Forschung zu betreiben. Ich verweise auf Ingenieure, Wissenschaftler, Facharbeiter, Manager.
({8})
-„Ingenieurinnen“ hat jemand zugerufen. Natürlich! Es
gibt sowieso mehr kluge Studentinnen als Studenten,
habe ich gelesen. Das muss uns Männer ein bisschen beunruhigen. Wir müssen uns mehr anstrengen. Das zeigt
aber auch, dass es notwendig ist - wir haben vorhin kurz
über Ganztagsschulen geredet -, mehr dafür zu tun, dass
Frauen nach Schule und Studium ins Berufsleben eintreten und dort bleiben.
Es geht also um die Frage: Wie setzen wir auf Qualifikation, auf Forschung, auf Entwicklung? Ich glaube,
dort liegt Deutschlands Chance, dort kann es sich einbringen. Wir sehen auch, dass wir damit Erfolge haben.
Wir sehen, dass in Freiburg in der Grundlagenforschung
des Fraunhofer-Instituts in der Fotovoltaik mit den Herstellern kooperiert wird. Wir sehen, dass in Thalheim in
der Fotovoltaik in Sachsen-Anhalt schon mehr als
1 000 Arbeitsplätze entstanden sind und noch über 2 000
entstehen werden. Wir sehen, dass es in einer strukturschwachen Region, in Ostfriesland, inzwischen mehr als
5 000 Arbeitsplätze rund um die Windenergie gibt, und
zwar nicht nur im Bau solcher Anlagen, sondern auch in
der Forschung und in dem, was darüber hinaus entstehen
kann. Wir sehen, dass bei Choren in Freiberg oder auch
in Mecklenburg-Vorpommern neue Kraftstoffe entwickelt werden, und zwar auf industrieller Basis. Das
heißt: weg vom Öl, weniger Schadstoffausstoß und eine
gigantische Perspektive für Arbeitsplätze.
({9})
Der Haushalt des Umweltministeriums spiegelt dieses
Setzen auf Innovationsfähigkeit, auf Integrationsfähigkeit, auf die Wiederentdeckung der Idee des technischen
Fortschritts wider. Wir haben etwas geschafft, das von
uns nicht erwartet worden ist, auf das wir aber durchaus
stolz sind. Wir haben den Haushalt für Forschung und
Entwicklung im Bereich erneuerbarer Energien praktisch verdoppelt. Wir werden hier am Ende der Legislaturperiode bei knapp unter 100 Millionen Euro an Mitteln für Forschung und Entwicklung liegen. Das ist mehr
als eine Verdopplung gegenüber der letzten Legislaturperiode - ein gewaltiger Erfolg -,
({10})
was übrigens auch insofern gut ist, als wir den zweiten
wichtigen Teil im Bereich erneuerbarer Wärmetechnologien, das Marktanreizprogramm, stabil bei 180 Millionen Euro halten; es gibt hier keine Kürzung. Dieses
Marktanreizprogramm muss zudem nicht mehr, wie in
der Vergangenheit, den Titel für Forschung und Entwicklung nutzen - das war bisher sozusagen gegenseitig
deckungsfähig -, weil bei Forschung und Entwicklung
ab diesem Jahr und in den Folgejahren genug Geld für
den Bereich der erneuerbaren Energien vorhanden ist.
Von daher sind die Verdoppelung des F-und-E-Etats für
die erneuerbaren Energien und die Kontinuität bei der
Finanzausstattung im Bereich des Marktanreizprogramms zwei große Erfolge. Hier geht es um den schlafenden Riesen der erneuerbaren Wärmetechnologien;
Sie wissen, dass in dem Koalitionsvertrag das Ziel enthalten ist, auf diesem Gebiet in den kommenden Jahren
deutlich voranzukommen - zwei große Erfolge.
Daneben sind Haushaltsmittel für Klimaschutzpolitik
im Ressort des Kollegen Tiefensee veranschlagt: Viermal 1,4 Milliarden Euro für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Viermal 1,4 Milliarden! Ich erinnere
mich daran, dass wir darüber in den Koalitionsverhandlungen zum Umweltbereich verhandelt haben. Sozusagen das Erste, was CDU/CSU und SPD miteinander verabredet hatten, war diese gewaltige Steigerung. Ich
erinnere mich an Äußerungen von den Oppositionsparteien dazu; da hat man nicht geglaubt, dass wir auch nur
die Hälfte dessen hinbekommen. Es ist wirklich ein riesiges Gewinnerprogramm. Wir senken den Energieverbrauch der Haushalte und damit auch der einzelnen Verbraucher. Wir senken den CO2-Ausstoß. Wir senken vor
allem die Arbeitslosigkeit, weil hier Aufträge entstehen,
die an die kleinen Handwerksbetriebe gehen, durch die
10 000, 20 000, 30 000 Jobs gesichert werden.
({11})
Sie wissen, dass wir gemeinsam mit Frau Schavan an
der Hightechstrategie arbeiten, weil wir natürlich auch in
anderen Bereichen, bei Kohle und Gas, neue Technologien brauchen. Wir müssen zu mehr Effizienz kommen.
Wir müssen die Energieeinsparung voranbringen. Wir
wollen der Standort werden, wo zur Produktion einer
Einheit Bruttoinlandsprodukt am wenigsten Energie verbraucht wird. Wir wollen im Bereich neuer Kraftstoffe,
vor allem derjenigen der zweiten Generation, vorankommen. Wir wollen synthetische Kraftstoffe herstellen. Das
bedeutet industrielle Arbeitsplätze und Jobs in der Landwirtschaft. All das setzt auf dieses Thema „Innovation
und Integration“.
Im Bereich der Energieeffizienz wollen wir eine
Strategie verfolgen, die am Ende Megawattstunden und
nicht immer nur Menschen arbeitslos macht. Das ist eine
Modernisierungsstrategie für die Volkswirtschaft, bei der
wir international wettbewerbsfähig sein können, bei der
wir weniger Energie verbrauchen und trotzdem mehr Arbeitsplätze schaffen. Ich glaube, dass der Koalitionsvertrag der Regierungspolitik hier einen guten Schwung
gibt.
({12})
Meine Damen und Herren, wir setzen auf Innovation
und Forschung, auf Qualifizierung und Bildung. Ich sage
offen, weil das ein Punkt ist, der in der Koalition immer
wieder zu Debatten führt: Wir setzen auf erneuerbare
Energien, auf Energieeffizienz und auf neue Technologien bei Kohle und Gas. Wir wollen nicht auf eine Alternative setzen, die wir für gefährlich halten. Dem, der uns
heute die Klimaprobleme vorhält und sagt: „Setzt doch
auf Kernenergie; die emittiert kein CO2“, muss ich entgegenhalten, dass ich nicht vor die Wahl gestellt werden
möchte, das Leben der Menschen entweder durch CO2Emissionen oder durch Radioaktivität zu riskieren.
({13})
Ich glaube, dass das die Wahl zwischen Pest und Cholera
wäre. Aber wir wollen gesund werden und nicht an einer
dieser beiden Krankheiten leiden.
Es stimmt aber auch - ich wiederhole das -, dass
beide Koalitionsparteien, egal wie sie zur Kernenergie
stehen, die Endlagerfragen lösen müssen. Wir haben uns
das gemeinsam vorgenommen und werden das sehr
sachgerecht tun. Ich glaube, dass wir auch in diesem Bereich auf einem guten Wege sind.
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Geduld mit meiner
Stimme und für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Als nächster Redner hat der Kollege Michael Kauch
von der FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Gabriel, Sie haben am Schluss dann doch noch ein paar
Aussagen zum Haushalt gemacht; den größten Teil Ihrer
Redezeit haben Sie darauf verwendet, die umweltpolitische Situation im Allgemeinen in Deutschland und in
der Welt zu erklären, und haben relativ wenig dazu gesagt, was die Bundesregierung eigentlich zu tun gedenkt.
Hier hätten wir mehr von Ihnen erwartet.
({0})
Für die Liberalen stehen zwei Themen auf der
Agenda: die Sicherstellung der nuklearen Entsorgung
und neue Offensiven zum Klimaschutz. Dabei geht es
uns vor allem um neue Initiativen für Energieeffizienz,
um alternative Antriebe und um eine Weiterentwicklung
des Emissionshandels. Zugleich erwarten wir aber, dass
endlich auch die Themen der Umweltpolitik vernünftig
angegangen werden, die in den letzten Jahren eher Stiefkinder waren. Dazu gehört beispielsweise die Liberalisierung der Entsorgungswirtschaft. Wir brauchen Wettbewerb im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, die die
Gebühren zu zahlen haben.
({1})
Wir brauchen auch eine längst überfällige Schwerpunktsetzung im Bereich des Lärmschutzes. Die Modernisierung des Fluglärmgesetzes reicht hier nicht aus.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist für viele Anwohner schlichtweg eine Enttäuschung; denn er schafft
Anwohner erster, zweiter und dritter Klasse beim Lärmschutz, nur weil die Bundesregierung nicht bereit ist, bei
ihren Militärflughäfen das Gleiche an Schallschutz zu
leisten, was sie den Verkehrsflughäfen auferlegt. Das ist
nicht fair, meine Damen und Herren.
({2})
Die Enttäuschung geht beim Schienenlärm weiter.
Auch hier gibt es nichts Neues von der großen Koalition.
Die FDP will dagegen mit ihren Anträgen, die wir einbringen werden, neue Akzente setzen. Wir wollen Mittel
aus dem Umweltetat in das Lärmsanierungsprogramm
des Verkehrsministers stecken und dieses Programm für
die technische Nachrüstung von Güterwaggons öffnen;
denn Lärmschutz an der Quelle ist der Schlüssel zum
Lärmschutz an der Schiene.
({3})
- Das werden Sie im Ausschuss sehen.
Meine Damen und Herren, so langsam werden die
Ungereimtheiten innerhalb der Bundesregierung auch
hinsichtlich des Klimaschutzes offenbar, konkret bei der
Verabschiedung des Allokationsplans für den CO2Emissionshandel ab 2008. Während Umweltminister
Gabriel laut einer Agenturmeldung die Versteigerung der
Emissionsrechte negativ kommentiert, hat der Finanzminister im Haushaltsausschuss gerade dies in Aussicht gestellt. Was gilt denn nun? Und wie, wenn nicht durch die
Versteigerung der Zertifikate, will der Umweltminister
die so genannten Windfall-Profits der vier großen Energieversorger abschöpfen?
({4})
Wir Liberale haben große Sympathie dafür, dass wir
die 10 Prozent der Zertifikate, die EU-rechtlich zulässig
sind, auch versteigern. Aber die Versteigerungserlöse
dürfen dann eben nicht zum Stopfen von Haushaltslöchern genutzt werden, sondern müssen beispielsweise
dazu dienen, die Stromsteuer abzusenken und die privaten Haushalte deutlich zu entlasten.
({5})
Eine Nettoentlastung der Verbraucher ist möglich; denn
die Versteigerung der Zertifikate erhöht den Strompreis
nicht. Der Preis dieser verschenkten Zertifikate ist nämlich von den großen Energieversorgern längst in die
Strompreise einkalkuliert. Die Frage, die wir uns stellen
müssen, lautet: Landet der Profit des Emissionshandels
bei den Verbrauchern oder ausschließlich bei einigen
wenigen Konzernen? Das ist eine Gerechtigkeitsfrage,
der sich gerade die Sozialdemokratie stellen muss.
({6})
Meine Damen und Herren, der Emissionshandel
macht den Klimaschutz so kostengünstig wie möglich.
Deshalb wollen wir den Luftverkehr und, soweit mit akzeptablem Aufwand möglich, den gesamten Verkehrsund Gebäudesektor integrieren. Wir brauchen ein umfassendes Energiekonzept für den Gebäudebereich mit einer stärkeren Nutzung der erneuerbaren Energien im
Wärmebereich. Das Gebäudesanierungsprogramm ist
ein Anfang, aber eben nur ein Anfang. Wir brauchen
mehr privates Kapital, wenn wir das Potenzial, das in der
energetischen Sanierung des Gebäudebestandes steckt,
tatsächlich heben wollen.
({7})
In diesem Zusammenhang bitte ich den Umweltminister, einmal in den Jahresbericht der von ihm geförderten Kampagne „Klima sucht Schutz“ zu schauen. Dieser
enthält einen konkreten Vorschlag. Bei der jetzigen Programmgestaltung haben die Banken keinen Anreiz, für
dieses Programm zu werben, weil sie daran nichts verdienen. Wenn wir wollen, dass die Banken ihre Kredite
für Gebäudesanierung bei den Häuslebauern und bei den
Hausbesitzern entsprechend vermarkten, dann müssen
wir von der Zinsverbilligung und den kleinen Durchlaufmargen wegkommen und hinkommen zu Zuschüssen für
die getätigten Investitionen. Das Programm sollte also
entsprechend umgestaltet werden.
({8})
Wir brauchen alternative Kraftstoffe und Antriebstechnologien, um uns langfristig vom Öl zu lösen. Biokraftstoffe allein können allerdings schon wegen der
Nutzungskonkurrenzen mit der Stromerzeugung oder
wegen der Verwendung des Biogases nicht die Lösung
sein. Wasserstofftechnologie zu fördern, ist deshalb eine
der Schwerpunktaufgaben, die die Forschung im Umweltbereich leisten muss.
Zu den Biokraftstoffen muss ich noch eine Anmerkung machen. Was die Bundesregierung hier betreibt, ist
doch schädlich; denn sie handelt nach dem Motto „Rein
in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“. Zunächst
einmal haben vor zwei Jahren alle Fraktionen gemeinsam eine Steuerbefreiung beschlossen. Jetzt wollen Sie
sie abschaffen. Als Alternative führen Sie eine BeimiMichael Kauch
schungspflicht ein, die nichts anderes ist als erstens ein
planwirtschaftliches Element und zweitens eine Mineralölsteuererhöhung durch die Hintertür, und das zum Wohl
des Finanzministers auf Kosten der Verbraucherinnen
und Verbraucher. Auch das muss an dieser Stelle einmal
deutlich gesagt werden.
({9})
Herr Minister Gabriel, Sie haben kaum neue Akzente
mit diesem Haushalt gesetzt. Die FDP wird deshalb in
den nächsten Wochen in den Haushaltsberatungen entsprechende Anträge einbringen, die aufzeigen, wie wir
klug kürzen und umschichten wollen, damit mehr Umweltschutz als bisher durch diesen Haushalt möglich
wird. Wir erwarten von der großen Koalition, dass sie
unsere Anträge nicht einfach beiseite wischt, weil sie
von uns kommen, sondern dass sie sie zumindest ernsthaft prüft.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katherina Reiche von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wohlstand hat mehrere Dimensionen und keineswegs nur eine materielle. Die Verfügbarkeit von Rohstoffen und Ressourcen, die Sicherung unserer natürlichen Lebensgrundlagen sowie eine intakte Umwelt sind
für uns Grundvoraussetzungen für den Wohlstand im
Lande. Umweltschutz ist damit auch Zukunftssicherung.
({0})
Klaus Töpfer hat einmal treffend formuliert, das
Raumschiff Erde sei in Atemnot. Der weiterhin massive
Anstieg der Weltbevölkerung und die wirtschaftliche
Dynamik in den Industriestaaten, aber auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern stellen uns vor große
Herausforderungen.
Die Erde als vernetztes Natursystem hat einen erheblichen Erschöpfungszustand erreicht. Der „Spiegel“ dieser Woche titelt sehr bewusst: „Der neue Kalte Krieg Kampf um die Rohstoffe“.
Erstes Beispiel: Mangel an Süßwasser. In verschiedenen Regionen der Welt ist dieser Mangel bereits erschreckende Wirklichkeit. Das 4. Welt-Wasser-Forum
der Vereinten Nationen, das in der vergangenen Woche
getagt hat, hat uns noch einmal die dramatischen Zahlen
vor Augen führt: 1 Milliarde Menschen auf der Welt haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, 2,6 Milliarden
Menschen sind von sanitären Einrichtungen abgeschnitten. Damit ist die Versorgung mit sauberem Wasser eine
ökologische, ökonomische und soziale Frage zugleich.
Es ist richtig, dass man Anstrengungen unternimmt, um
möglichst vielen Menschen den Zugang zu Wasser zu ermöglichen. Hier ist die Hilfe zur Selbsthilfe die beste
Entwicklungshilfe.
Zweites Beispiel. Der Verlust an biologischer Vielfalt ist nach wie vor dramatisch. Derzeit tagt in Brasilien
eine Vertragsstaatenkonferenz mit dem Ziel der Weltgemeinschaft, den Verlust an biologischer Vielfalt bis zum
Jahr 2010 erheblich zu reduzieren. Viele Tier- und Pflanzenarten sind akut gefährdet. Mit dem Verlust der Tierund Pflanzenarten gehen deren genetische und physiologischen Baupläne verloren, die für die Medizinforschung, aber auch für die Naturstoffchemie von großem
Wert sind. Wichtige Chancen für die Weiterentwicklung
von Forschung und Technologie verschwinden damit.
Ich hoffe deshalb, dass diese Konferenz ein Erfolg wird.
Für uns in Deutschland hat dieses Thema eine ganz
praktische Bedeutung; denn auch wir haben beim Schutz
der biologischen Vielfalt einen Nachholbedarf. Somit ist
die Schaffung eines nationalen Naturerbes unser wichtiger Beitrag zum Schutz der biologischen Vielfalt. Die
Errichtung des nationalen Naturerbes ist für uns eine
Herzenssache.
Drittes Beispiel: Die weltweite Nachfrage nach
Energie und Rohstoffen steigt weiter. Die Internationale Energieagentur rechnet damit, dass die weltweite
Energienachfrage in den nächsten 25 Jahren um mehr als
50 Prozent steigen wird. Drei Viertel dieses Anstiegs
werden in den Entwicklungsländern erfolgen. Mehr als
60 Prozent dieses weltweiten Energiebedarfs soll durch
Öl und Gas gedeckt werden. Das wird einen erheblichen
Einfluss auf den Klimawandel haben. China und auch
zunehmend Indien haben einen schier unstillbaren Hunger nach Energie. Die Krise um russisches Gas Anfang
dieses Jahres hat uns sehr deutlich vor Augen geführt,
wie fragil die Situation auch in Deutschland ist, einem
Land, das rund 60 Prozent des Energieverbrauchs durch
Energieimporte abdeckt. Diese Krise hat uns deutlich
gemacht, dass es ein „Weiter so“ auch in Deutschland
nicht geben kann.
Für Deutschland und Europa rückt damit eine konsistente Energiestrategie immer mehr in den Mittelpunkt.
Es ist deshalb wichtig, dass nächste Woche unter der
Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Energiegipfel mit dem Ziel stattfinden wird, eine tragfähige
nationale Energiestrategie zu erarbeiten.
({1})
Der Handlungsbedarf und die Bedeutung der Energiepolitik sind erkannt, zumal in dieser Bundesregierung.
Häufig mangelt es noch an konkreten Umsetzungen, was
ich keineswegs nur auf die Politik reduziere.
Erstens. Energie muss intelligenter und effizienter genutzt und der Verbrauch reduziert werden. Zweitens. Die
Strategie „Weg vom Öl“ muss dazu führen, dass mehr
erneuerbare Energien zur Strom-, Wärme- und Kraftstoffgewinnung eingesetzt werden. Drittens. Die Energieforschung muss gestärkt werden, um innovative Produkte auf den Markt zu bringen.
Katherina Reiche ({2})
Wir werden uns also daran machen, die Energieforschung in den kommenden Jahren zukunftsfähig zu gestalten. Hierfür hat sich die große Koalition einige ehrgeizige Ziele gesetzt und bereits konkrete Maßnahmen
ergriffen. Die Energieeffizienz soll bis zum Jahr 2020 im
Vergleich zu 1990 verdoppelt werden. Wir wollen den
Anteil der erneuerbaren Energien am Stromverbrauch
bis zum Jahr 2020 auf mindestens 20 Prozent anheben.
Wir wollen eine Innovationsoffensive „Energie für
Deutschland“ dazu nutzen, uns im Bereich der Energietechnologien an der Stelle an die Weltspitze zu setzen,
wo wir noch nicht Weltspitze sind. Der Gebäudebestand
in Deutschland wird modernisiert. 1,4 Milliarden Euro
werden dafür in die Hand genommen. Angesichts einer
angespannten Haushaltslage ein wirklicher Kraftakt!
({3})
Auch die - zugegebenermaßen geringen - Steigerungen
der Mittel im Umwelthaushalt um knapp 1 Prozent sind
ein wichtiges Zeichen.
Aber dass nicht nur im Umweltministerium, sondern
dass auch in anderen Ressorts massive Anstrengungen
für Umweltschutz und Nachhaltigkeit unternommen
werden, ist ein Beweis dafür, dass der Koalition insgesamt der Umweltschutz ein Anliegen ist.
({4})
Wir sollten uns in den kommenden Monaten ganz genau
anschauen, welche Impulse durch das Gebäudesanierungsprogramm ausgelöst werden. Denn vielleicht ist
dieses Programm zusammen mit dem Marktanreizprogramm so erfolgreich, dass weitere, zusätzliche Instrumente im Wärmebereich nicht notwendig sind. Wir sollten uns zumindest die Zeit nehmen, diese Entwicklung
zu beobachten.
({5})
Erlauben Sie mir an dieser Stelle ein paar Worte zum
Emissionshandel. Wir müssen bis zum 30. Juni den nationalen Allokationsplan melden. Die Ausstattung der
deutschen Wirtschaft mit Emissionsberechtigungen wird
entscheidenden Einfluss auf unsere Wettbewerbsfähigkeit und damit auch auf Investitionen und weitere Arbeitsplätze haben. Dabei muss man berücksichtigen,
dass die Situation in Deutschland nun einmal anders ist
als in anderen europäischen Staaten. Ich glaube, es bedarf noch vieler Gespräche mit der Europäischen Kommission.
Wir müssen bei der Aufstellung des Allokationsplans
darauf achten, dass es nicht zu Wettbewerbsverzerrungen kommt und dass Wachstum möglich ist. Deshalb
wollen wir schon noch einmal über das Thema Versteigerung reden, auch darüber, ob eine Versteigerung wirtschaftlich sinnvoll und notwendig ist.
({6})
Vor allem müssen wir sicherstellen, dass der Emissionshandel Anreize zur Modernisierung und Effizienzsteigerung schafft.
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, und zwar
die Nutzung von nachwachsenden Rohstoffen, also
Energiepflanzen. Im Prinzip sind es drei Dinge auf einmal, die diese Pflanzen können: Sie sind einheimische
Energieträger, schaffen Wertschöpfung in diesem Land
und leisten einen Beitrag zur Verringerung der CO2Emissionen, weil sie nach dem Kreislaufprinzip funktionieren. Es gibt aber noch Hemmnisse, die ihre Anwendung ein Stück weit erschweren, zum Beispiel im Gentechnikrecht. Hier stehen die Ampeln leider noch im
wahrsten Sinne des Wortes auf Rot.
({7})
Wir müssen vor allem in Forschung und Entwicklung
investieren; das ist richtig. Ohne eine konsequente Förderung der Forschung im Bereich der Grünen und Weißen Gentechnik wird es nicht machbar sein, diese Ressource zu nutzen. Jede Äußerung, die einen Keil
zwischen Forschung und Anwendung treibt, ist kontraproduktiv und hilft dem gesamten System nicht.
({8})
Ich finde, wir brauchen eine grüne Welle für die nachwachsenden Rohstoffe. Wir sollten das Ziel haben, uns
zur führenden Nation in der biobasierten Wirtschaft zu
entwickeln. Andere Länder schlafen nicht. Schweden hat
hier massive Anstrengungen unternommen. Auch die
USA - mag man es belächeln - haben schon sehr viel
Geld in die Hand genommen, um ihre Abhängigkeit vom
Öl zu reduzieren.
({9})
Deutschland gehört zu den führenden Ländern in der
Umweltpolitik. Das hohe Schutzniveau kommt nicht
nur der Umwelt und den Menschen zugute. Es ist zugleich Motor für qualitatives Wachstum und Beschäftigung. Basierend auf dem hohen Umweltschutzniveau,
das wir in Deutschland erreicht haben, müssen wir die
Umweltpolitik weiterentwickeln und modernisieren. Es
muss langfristige Leitlinien geben, auf die sich die Unternehmen einstellen können und mit denen sie Planungs- und Investitionssicherheit haben.
Wir waren in Deutschland schon einmal so weit. Die
frühere Bundesministerin Angela Merkel hat 1998 ein
Schwerpunktprogramm vorgelegt, an dem es sich, wie
ich meine, zu orientieren lohnt. Wir brauchen eine Art
Masterplan, in dem systematisch quantifizierbare Ziele,
Zeitvorgaben und Maßnahmen formuliert werden. Wir
müssen uns abgewöhnen, aktuellen Gefahren hinterherzulaufen. In diesem Sinne ist Umweltschutz ein Marathon. Ob Sie sich zum Ironman eignen, Herr Minister,
werden wir sehen. Auf jeden Fall hilft es der Fitness.
({10})
Katherina Reiche ({11})
Deutsche Unternehmen sind in den Bereichen Umwelttechnik, Wasserreinigung und Abfallentsorgung
weltweit führend. 1,5 Millionen Menschen sind hier beschäftigt. Allein im Bereich der erneuerbaren Energien
bestehen mittlerweile 170 000 Arbeitsplätze.
({12})
Dem deutschen Ingenieur ist bekanntlich nichts zu
„schwör“. Deshalb wollen wir daran arbeiten, dass diese
innovative Zunft sich in Deutschland weiterhin entfalten
und vernünftige Produkte entwickeln kann.
Meine Damen und Herren, ich habe zu Anfang meiner Rede gesagt, dass Wohlstand mehrere Dimensionen
hat, nicht nur eine materielle. Deshalb lohnt sich jedes
Engagement auf diesem wichtigen Feld. Wir werden die
Regierung bei ihren Handlungen unterstützen.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat nun die Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wie wir alle wissen, ist der Umwelthaushalt kein Investitionshaushalt wie etwa der Verkehrshaushalt. Der Umweltminister bewegt keine Milliarden; die Finanzierung
von Umweltschutzausgaben ist im Wesentlichen Aufgabe der Länder. Entsprechend klein ist das Budget des
Einzelplans 16. Gleichwohl ist der Bundeshaushalt insgesamt von erheblicher Bedeutung dafür, ob und wie
weit sich Deutschland in Richtung einer ökologisch und
sozial nachhaltigen Entwicklung bewegt, sei es im schon
erwähnten Verkehrshaushalt, im Forschungs- und Wirtschaftsetat oder beim Budget zur Förderung von Energieeffizienz und erneuerbaren Energien im Umwelthaushalt selbst. Unter dem Strich ist die Bundesrepublik noch
weit von einer umweltverträglichen Entwicklung entfernt. Das gilt insbesondere für die gigantischen Ressourcen, die unsere Volkswirtschaft täglich verschlingt.
„Der Spiegel“ hat zufällig in dieser Woche mit diesem
Thema aufgemacht, „Die Zeit“ in der letzten Woche.
Ich sage Ihnen: Dieses Jahrhundert wird - muss - das
Jahrhundert der Ressourcen- und Energieeffizienz
sein. Schon aus sicherheitspolitischen Gründen ist es
zwingend notwendig, Deutschland hinsichtlich der Rohstoffbereitstellung aus Abhängigkeiten zu befreien, allerdings nicht mit einem Bundeswehreinsatz im rohstoffreichen Kongo, wie es Herrn Stoiber und anderen
vorschwebt. Stoiber hat das unsinnige Abenteuer zuletzt
tatsächlich mit der Notwendigkeit der Sicherung von
Rohstoffen für die deutsche Volkswirtschaft begründet.
Da war er also einmal ehrlich.
Mehr Sicherheit kann man in unseren Augen nur
schaffen, indem man den Bezug von Rohstoffen und
Materialien aus anderen Teilen der Erde drastisch verringert. Als Beispiel nenne ich den Kongo. Dort lagern die
weltweit bedeutendsten Vorkommen an Coltan, aus dem
das begehrte Metall Tantal gewonnen wird. Tantal ist ein
strategisch wichtiger Rohstoff für die Herstellung von
Handys und Computern.
Coltan ist nun neben Diamanten einer der Rohstoffe,
mit denen die Warlords im Kongo ihre Kriege finanzieren und derentwegen sie Kriege führen. Die unstillbare
Nachfrage nach Rohstoffen für Mikroelektronik - alle
paar Wochen wird das für unbrauchbar erklärt, was gestern noch up to date war - dürfte sicher zu den dramatischen Verhältnissen im Kongo beitragen.
Bei Erdöl und Erdgas liegt der Sicherheitsaspekt noch
eindeutiger auf der Hand. Schon heute werden viele
Auseinandersetzungen um diese Rohstoffe mit militärischen Mitteln geführt. Die Kriege im Mittleren Osten
oder die innerstaatlichen Konflikte in Nigeria und im
Tschad sind Beispiele dafür. In diesem Sinne ist jede
Energiepolitik „Weg vom Öl“ eine sicherheitspolitische
Investition. Leider werden auch hierzulande eher fragwürdige Multimilliardeninvestitionen, etwa in Eurofighter oder in das umstrittene Luftabwehrsystem MEADS,
mit dem Argument der nationalen Sicherheit durchgesetzt. Eine konsequente Politik, die den Einsatz fossiler
Rohstoffe drastisch reduziert, ist nicht zu erkennen.
Die Mittel im Haushalt, die beispielsweise für die
energetische Gebäudesanierung zur Verfügung gestellt
werden, reichen angesichts des Energieeinsparpotenzials
in diesem Bereich längst nicht aus. Die Mittel für die
Titel zur Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet
der erneuerbaren Energien im Umwelthaushalt sollen
zwar erhöht werden, im Vergleich zu den Kohlesubventionen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro und den Ausgaben für die nukleare Energie- und Sicherheitsforschung
in Höhe von 150 Millionen Euro, die zum Beispiel nach
Garching oder zur Internationalen Atomenergiebehörde
wandern, sind die Ausgaben von insgesamt 43 Millionen
Euro kein Ruhmesblatt im Hinblick auf eine ökologische
Energiewende.
Wenn Herr Steinbrück nun auch noch beim zarten
Pflänzchen Biokraftstoffe zulangen will, indem er
selbst reine Pflanzenöle besteuert, kann das an dieser
Stelle schon fast als Boykott zukunftsfähiger Politik gelten.
({0})
- Lieber Steffen, wir meinen: Gerade dezentral hergestellten Biokraftstoffen, die in Reinform in den Tank
kommen, muss zum Durchbruch verholfen werden. Die
geplante Beimischungspflicht nutzt deren Herstellern
naturgemäß überhaupt nichts. Die neue Steuer wird sie
wirtschaftlich erdrosseln. Bitte überlegen Sie sich das
noch einmal!
Die Strategie der Bundesregierung in Sachen Biotreibstoffe wird vor allem die großen Mineralölkonzerne
freuen; denn sie können sich problemlos mit der Beimischungsquote arrangieren. Nebenbei wird das Ganze
noch als Leistung für den Klimaschutz gemäß der
Selbstverpflichtung der Automobilindustrie angerechnet. Ein guter Deal!
Auch mit dem geplanten Börsengang der Bahn oder
mit der Verwirklichung des nunmehr bayerischen
Wunschtraums, des Baus einer Transrapidstrecke, wird
eine zukunftsfähige Verkehrspolitik nicht befördert, sondern blockiert. Die Folge wird sein: weniger Geld und
Chancen für den öffentlichen und schienengebundenen
Verkehr in der Fläche, dafür mehr Verkehr auf der
Straße. Mehr Gerechtigkeit heißt für uns: Ölverbrauch
vermindern, um dadurch dem Klimawandel und Konflikten vorzubeugen, sowie die Rohstoffe auf einem Niveau halten, damit sie sich auch ärmere Länder leisten
können.
({1})
Der Energiegipfel in der nächsten Woche wird nicht
zu einer Energiewende führen. Die Rahmenbedingungen
für die Kohleverstromung sollen verbessert werden. Ich
finde diese Forderung reichlich unverschämt. Der Kohleverstromung geht es blendend. Das sieht man schon allein an den astronomischen Gewinnen der Konzerne.
Das ist kein Wunder. Bei der Zuteilung und Übertragung
von Emissionszertifikaten wurden RWE und Co. großzügig bedacht. Die verschenkten Zertifikate haben sie
trotzdem in die Tarife eingespeist. Von den direkten Subventionen wollen wir gar nicht erst reden.
Wir sind gespannt, inwieweit die Bundesregierung
hierbei Rückgrat beweist und ob sie - das wäre noch
besser - die Bevorteilung der Kohleverstromung, die
durch Rot-Grün im NAP I festgezurrt wurde, endlich beendet.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl
von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister Gabriel, zunächst einmal meinen herzlichen Glückwunsch! Sie haben im Haushalt für den Bereich Umwelt von Ihrem Koalitionspartner mehr Zugeständnisse bekommen als wir in den letzten Jahren von
unserem.
Die entscheidende Frage ist aber nicht, wie viel man
bekommt, sondern was man damit macht.
({0})
Welchen Wert hat die Umwelt also im Haushalt und welchen Stellenwert hat sie im politischen Tun? Am Stellenwert der Umweltpolitik haben wir, gemessen an Ihren
Worten, selten etwas auszusetzen. Das klingt meistens
richtig gut. Das heißt, beim Thema Ökologie klingt das
nach Fortführung grüner Umweltpolitik.
Aber was ist mit dem Tun, Herr Minister? Was heißt
es zum Beispiel, wenn Sie sagen, dass Sie die rot-grüne
Energiepolitik fortführen wollen, und den Atomausstieg
bisher verteidigen? Man muss nicht an den in der
„Financial Times“ angeführten Deal zwischen Ihnen und
der Union zu Kohle und Atomkraft glauben. Wenn man
aber sieht, dass Ihre Partei nicht weg will von der Kohle
und die Union nicht weg will von der Atomkraft, dann
kann man nicht daran glauben, dass daraus unter dem
Strich eine zukunftsfähige Energiepolitik entstehen und
eine nachhaltige Haushaltskonsolidierung erfolgen kann
und dass eine Politik gemacht wird, die auf ökonomisch
schädliche Subventionen verzichtet.
({1})
- Doch, ich erzähle Ihnen etwas vom Haushalt. - Dass
Sie dazu in der Lage sind, zeigen Sie an anderer Stelle,
nämlich bei dem erfreulichen Abschied von der Zersiedelungsprämie, sprich: Eigenheimzulage.
Zukunftsfähige Energiepolitik muss aber heißen:
weg vom Öl, weg von der Kohle, weg von Emissionen
ausstoßenden Kohlekraftwerken, weg von der Atomkraft - hin zu erneuerbaren Energien, hin zur Effizienz
und hin zur Einspartechnologie. Das alles gehört zusammen und gelingt nur zusammen.
({2})
Beim Gebäudesanierungsprogramm setzt sich die Koalition ehrgeizige Ziele. Ich will jetzt überhaupt nicht
darauf herumreiten, dass der grüne Teil von Rot-Grün
immer für eine Aufstockung der Mittel war und sich die
SPD immer dagegen verwahrt hat. Wenn die im Haushalt veranschlagten Mittel in Höhe von 1,4 Milliarden Euro tatsächlich zeitnah zur Verfügung stehen und
eingesetzt werden, dann freut sich darüber niemand
mehr als jeder einzelne Grüne.
Das ist aber auch der einzige Punkt, an dem Sie die
Strategie „Weg vom Öl“ offensiv verfolgen. Nehmen wir
die Biotreibstoffe und die Steuerfrage. Rot-Grün hatte
mit der Steuerbefreiung für Biotreibstoffe bis Ende 2009
die richtigen Rahmenbedingungen für innovative Entwicklungen geschaffen. Die jetzt vom Kabinett beschlossene Besteuerung der Biokraftstoffe in Höhe von
10 bis 15 Cent pro Liter macht nicht nur einem wachsenden heimischen Wirtschaftsbereich den Garaus, sondern
ist vor allem eine völlig falsche Richtungsentscheidung,
sie führt nämlich hin zum Öl. Was Sie mit der Strategie
„Weg vom Öl“ und mit dem Gebäudesanierungsprogramm aufbauen, reißen Sie mit der zu hohen Besteuerung der Biokraftstoffe wieder ein.
({3})
Herr Minister, Ihr Engagement beim Klimaschutz
- Sie haben in Montreal unbestritten eine gute Figur geSylvia Kotting-Uhl
macht - wirkt auf den zweiten Blick nur zur Hälfte
glaubwürdig. Es wird jetzt darauf ankommen, wie der
zweite Nationale Allokationsplan, den die Bundesregierung bis zum Sommer vorgelegt haben muss, aussehen wird, ob sich anspruchsvolle Klimaschutzziele und
nicht Aufweichungswünsche der Industrie, wie wir das
an anderen Beispielen schon erfahren mussten, durchsetzen werden.
Lassen Sie mich nur an Ihre erste Amtshandlung,
Stichwort REACH, erinnern. Da wurden die Gesundheits- und Umweltinteressen der Allgemeinheit und zukünftige Marktchancen den kurzsichtigen Lobbyinteressen der chemischen Industrie geopfert.
({4})
Ökologische Rhetorik, Herr Minister und Kollegen von
der Union, ist nicht verkehrt. Wir pflegen sie selbst gern.
Aber sie muss von entsprechendem Tun begleitet werden. Vieles Ihrer Rhetorik ist bisher Ankündigung geblieben oder von nicht entsprechendem Tun überholt
worden.
({5})
Zu dem Beispiel Feinstaub. Am 22. Februar 2006 hat
die Bundesregierung zwar endlich die Emissionskennzeichnung von Fahrzeugen beschlossen, aber das im Koalitionsvertrag angekündigte Förderprogramm zur Nachrüstung von Altfahrzeugen vermissen wir immer noch,
und das, obwohl die Grenzwertüberschreitung an vielen
Orten die zulässige Anzahl von Tagen bereits erreicht
hat.
Zu dem Beispiel Naturschutz. Einerseits kündigen
Sie an, den grünen Ansatz im Naturschutz fortschreiben
zu wollen, andererseits wollen Sie - das stand erst gestern wieder im „Focus“ - der so genannten Grünen Gentechnik den Weg bereiten, und das, obwohl vorliegende
Studien zu der Auswirkung der Agrogentechnik auf die
Artenvielfalt zu einem verheerenden Ergebnis kommen.
Herr Minister, unter einem wirksamen Naturschutz
verstehen wir - im Gegensatz zu Ihnen - mehr als nur
die Ausweisung von Schutzgebieten. Wem der Naturschutz wirklich ein Anliegen ist, der macht sich nicht
zum Anwalt der Agrogentechnikindustrie mit ihren
kurzsichtigen Profitinteressen.
({6})
Wird das so weitergehen oder werden Sie, Herr
Minister, wenigstens bei der Föderalismusreform Ihrem angekündigten Unmut über die Vorschläge zum
Umweltrecht Taten folgen lassen? Umweltpolitische
Kleinstaaterei und ein womöglicher Wettlauf der Länder
um die niedrigsten Umweltstandards wären der GAU für
eine funktionierende Umweltpolitik. Vernachlässigte
Umweltpolitik kommt uns nicht nur haushalterisch teuer
zu stehen.
Deshalb erwarten wir, Herr Minister, Ihren aktiven
Widerstand. Umweltpolitik lebt nicht vom Wort allein,
auch nicht von einem leicht aufgestockten Haushalt und
auch nicht von der bekundeten Absicht, eine erfolgreiche Linie irgendwie weiterzufahren. Umweltpolitik
braucht Innovationen, Ideen, Leidenschaft und einen Minister, für den sie ganz oben steht. Wenn das alles erfüllt
ist, dann können wir von einer gelungenen Fortführung
der bisherigen Umweltpolitik sprechen.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Hinz von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Gabriel,
eigentlich wollte ich Ihnen jetzt über Staatssekretär
Müller Genesungswünsche ausrichten lassen, aber es ist
umso schöner, dass Sie selber da sind.
({0})
Von hier aus auch von uns alles Gute und gute Genesung!
({1})
Sie haben uns, dem Parlament, heute in erster Lesung
den Regierungsentwurf für den Haushalt des BMU vorgelegt. Das heißt, das ist auch der erste Entwurf der großen Koalition. Sie haben hier sehr zutreffend dargestellt,
welche Herausforderungen es gibt, wo Kontinuität
herrscht, dass Sie mit Kraft und Dynamik in die Beratungen gehen, welche Schwerpunkte Sie da, wo es sich
lohnt, fortführen bzw. welche Veränderungen Sie da, wo
es notwendig ist, vornehmen wollen.
Mit dem Haushalt 2006 und dem Finanzplan bis 2009
wird die große Koalition dafür sorgen, dass Deutschland
ab 2007 die Maastrichtdefizitgrenze deutlich und dauerhaft unterschreiten wird.
({2})
Dies haben wir heute mehrfach in der Debatte über die
Einzelpläne gehört. Ich bin der Überzeugung, dass wir
gemeinsam im Rahmen des Einzelplans 16 einen Beitrag
dazu leisten werden.
Der BMU-Haushalt ist nur eine Teilmenge der Umweltschutzausgaben des Bundes insgesamt. Der Umweltschutz ist eine Querschnittsaufgabe. Das Gesamtvolumen des BMU-Haushaltes beträgt im Jahr 2006
rund 774,8 Millionen Euro. Diese 774,8 Millionen Euro
sind nur ein Teil dieser Querschnittsaufgabe. Das Gesamtvolumen des Umweltschutzes im Bundeshaushalt
beträgt 4,052 Milliarden Euro. Zu Recht hat der Minister
auf die kontinuierliche Zusammenarbeit aller Ressorts
hingewiesen. Nur gemeinsam werden wir beim Umweltschutz erfolgreich sein können.
Petra Hinz ({3})
Die nominale Steigerung, die in diesem Jahr rund
0,7 Prozentpunkte beträgt, lässt sich mit 4,498 Millionen
Euro im Stammhaushalt und mit 1,236 Millionen Euro
im Endlagerbereich erklären. Umweltschutz ist, wie ich
bereits ausgeführt habe, eine Querschnittsaufgabe, von
der viele Ministerien betroffen sind.
Da ich es genauso sehe, wie der Minister gerade ausgeführt hat - dass alle Ressorts für den Umweltschutz
verantwortlich sind -, möchte ich die einzelnen Positionen aufführen: Das Wirtschaftsministerium trägt mit
399 Millionen Euro unter anderem zur Förderung der rationalen und sparsamen Energienutzung bei. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung beteiligt sich mit 689 Millionen Euro. Das
möchte ich betonen; denn insbesondere im Bereich der
Entwicklungshilfe gilt es, eine nachhaltige Umweltpolitik und wichtige Umweltprojekte zu fördern. Dafür ist
im Haushalt ein Betrag von 689 Millionen Euro veranschlagt.
({4})
Der Beitrag des Finanzministeriums zum Umweltschutz
ist mit einer Summe von 404 Millionen Euro im Rahmen
der Altlastensanierung zu finden. Hier geht es um die
Altlastensanierung im Bereich des Braunkohlenbergbaus
in den neuen Ländern. Auch das Ministerium für Bildung und Forschung - dieser Bereich hat in der heutigen
Diskussion bereits breiten Raum eingenommen - beschäftigt sich vor allem unter dem Gesichtspunkt der
Forschung intensiv mit dem Umweltschutz. Hier reden
wir über 689 Millionen Euro. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, beim Umweltschutz geht es also nicht lediglich um 774 Millionen Euro, sondern um 4,052 Milliarden Euro. Das sollten wir nicht klein reden.
({5})
Daran wird aber auch deutlich, dass sich die Herausforderungen für eine nachhaltige und innovative Umweltpolitik verändert haben. Wie wichtig der Ausbau der
erneuerbaren Energien ist, muss ich für die Fachpolitiker nicht hervorheben. Wir sanieren und setzen gleichzeitig Impulse für Wachstum und Beschäftigung. Ein
Herzstück des Einzelplans 16 ist der Titel „Erneuerbare
Energien - Forschung und Entwicklungsvorhaben“,
kurz: das Marktanreizprogramm. Dieses Vorhaben wird
mit 180 Millionen Euro veranschlagt. Es ist eine Investition für und in die Zukunft und sichert rund 30 000 Arbeitsplätze. Allein die Zahl der Antragsteller im Jahr
2005 zeigt, dass der Bedarf vorhanden ist.
Die erneuerbaren Energien sind weltweit ein Zukunftsmarkt. Die deutschen Ingenieurinnen und Ingenieure werden nachgefragt. Auf diesem Gebiet haben
wir unser Potenzial und unser Know-how. Im Rahmen
der Umsetzung unseres Koalitionsvertrages werden wir
genau hier einen Schwerpunkt setzen: bei Forschung und
Entwicklung, bei Innovation und bei Integration.
({6})
In diesem Zusammenhang mache ich darauf aufmerksam, dass ich jeden Zukunftsscheck unterschreiben
werde, gerade wenn es um den Umweltschutz geht. Aber
ich vergesse nicht die Hypothek der Altlasten bzw. - anders ausgedrückt - die Rückstellungen. Ein Beispiel:
Wenn wir Neubaumaßnahmen beschließen, dann müssen
wir die Finanzkraft für Sanierungs- und Nachrüstungsmaßnahmen bereitstellen. Daran müssen wir denken. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus: Sanierungsbzw. Nachrüstungsfragen werden auf den SanktNimmerleins-Tag verschoben. Hier muss ein Umdenkungsprozess stattfinden. An dieser Stelle spreche ich
insbesondere die Fachpolitiker an, die sich mit Infrastrukturmaßnahmen beschäftigen. Ein anderes Vorhaben, das Ein-Endlager-Konzept, wird in den nächsten
vier Jahren, wenn wir unseren Koalitionsvertrag umsetzen, noch in Angriff genommen.
Nun komme ich zum Schluss. Ich sage ganz deutlich:
Im Zuge der Haushaltsberatungen kommen alle Einnahme- und Ausgabepositionen auf den Prüfstand. Unsere Haushaltspolitik wird konsequent sein. Wir werden
aber keine Erbsenzählerei betreiben und auch nicht nach
dem Gießkannenprinzip verfahren. Alle Ausgaben stehen auf dem Prüfstand. Dennoch bleiben wir im Rahmen
der getroffenen Abkommen und Vereinbarungen auf
nationaler und internationaler Ebene ein verlässlicher
Partner. Wir werden Verträge nicht kündigen, sie aber
hinterfragen. Wir werden Optionsrechte und damit Optimierungsmöglichkeiten ausloten und nutzen. Wir werden die Anregungen des Bundesrechnungshofs aufgreifen und sie prüfen.
Zur Wahrheit, Klarheit und Ehrlichkeit dieses Haushalts gehört, dass wir auch sehr intensiv über Haushaltsausgabereste und ihre weitere Nutzung sowie über die
gegenseitige Deckungsfähigkeit im Rahmen des Haushaltsgesetzes reden müssen.
({7})
Dadurch können und werden Prioritäten verschoben.
Das ist eine nachhaltige Finanz- und Haushaltspolitik
und damit ermöglichen wir Planungen für die Zukunft
des Umweltschutzes. Anders gesagt: Das ist nachhaltige
Generationengerechtigkeit.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Flach von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Einzelplan 16 war in den letzten Jahren eigentlich immer
ein Schlachtfeld, bei dem man schon vorher genau
wusste, dass es dort eine sehr starke Konstellation
Schwarz-Gelb auf der einen und Rot-Grün auf der anderen Seite gab. Wir alle erinnern uns noch gut an die
Schlachten zwischen Herrn Clement und Herrn Trittin.
Man hätte jetzt eigentlich erwarten können, dass dieser Haushalt angesichts einer neuen großen Konstellation mit viel CDU und CSU in Ihren Reihen eine völlig
andere Gestalt angenommen hätte. Man schaut in den
Entwurf und stellt fest: Fehlanzeige. Das Prinzip der
grünen Gießkanne bleibt uns erhalten. Das gilt sowohl
bei der Forschungsförderung und bei den Investitionszuschüssen als auch bei den Zuschüssen für die Naturschutzverbände. Auf diesem Haushalt steht zwar Gabriel
drauf, aber Trittin ist drin.
({0})
Liebe Kollegin Hinz, Sie haben eben sehr viel über
den Haushalt gesprochen. Mit diesem Haushalt haben
Sie offenbar an den Leitlinien des Kollegen Steinbrück
vorbei agiert. Ehrlich gesagt kann ich hier weder die
Koch/Steinbrück-Liste wiederfinden - es wäre in diesen
Tagen interessant, sich diese noch einmal anzuschauen noch kann man erkennen, dass hier saniert, gespart oder
anders verteilt wird. Herr Gabriel, auch in diesem Falle
haben Sie den Pfad Ihres Vorgängers schlicht und einfach weiter beschritten.
({1})
Lieber Herr Minister, das muss Ihnen aus dem Munde
einer Liberalen ganz einfach den Vorwurf eintragen
- Sie tragen ja den Namen eines Erzengels -, dass Sie
offensichtlich fest vorhaben, in den nächsten Jahren mit
dem Füllhorn der Subventionen durch dieses Land zu
gehen. Es wird unsere Aufgabe sein, dafür zu sorgen,
dass wir Ihnen das an jeder Stelle nachweisen und dass
dieser Haushalt die Kontur erhält, die er eigentlich haben
muss: Er muss schlank, straff und innovativ sein und er
darf nicht in die Klientelpolitik von Rot-Grün hineinwuchern, die Sie offensichtlich gemeinsam übernommen
haben.
({2})
- Ja, er trägt schwer an sich.
({3})
Frau Reiche hat eben schon etwas zur Energiepolitik
gesagt. Ich glaube, Sie hat sehr Recht. Es war zwar nicht
ganz so, wie Sie das früher gesagt haben, aber im Prinzip
sieht die Zukunft genauso schlecht aus wie das, was wir
schon früher bedauert haben. Die Zuständigkeit für die
Energiepolitik liegt bei Herrn Glos, sie liegt zu allem Erstaunen sogar bei Herrn Seehofer,
({4})
sie liegt auch bei Ihnen und sie liegt bei Frau Schavan.
Das heißt, die Energiepolitik, das wichtigste politische
Feld, welches wir in den nächsten Jahren zu beschreiten
haben, wenn wir Europa weg vom Öl führen wollen, ist
in dieser neuen Regierung zersplittert, zerschlagen und
offensichtlich auch ideologisch „verkämpft“.
({5})
Lieber Herr Gabriel, Sie sind Bundesumweltminister
einer Regierung, die nach wie vor von tiefen ideologischen Gegensätzen geprägt ist. Wir haben das in den
letzten Tagen sehr deutlich verfolgen können. Herr Glos
hat selbst noch aus Japan erklärt, dass er bezüglich der
Energiepolitik nicht Ihrer Meinung ist. Insofern sind wir
gespannt, wie sich das weiterentwickeln wird. Sehr optimistisch sind wir nicht.
Bis wir etwas Klareres erkennen können, haben wir
uns natürlich genau wie Frau Hinz intensiv mit dem
Haushalt befasst. Die FDP wird das tun, was Herr Kauch
eben angekündigt hat: Wir werden umschichten, wir
werden neue Schwerpunkte setzen und wir werden uns
von dem loslösen, über das wir uns inzwischen sieben
Jahre lang erfolglos geärgert haben, nämlich von so
schönen Projekten wie den sozialwissenschaftlichen
Umweltfragen und der Förderung umweltverträglicher
Nahrungsmittelerzeugnisse, sprich: von Produkten und
Projekten, bei denen wir ganz sicher sind, Frau Hinze,
dass sie weiß Gott nichts mit Innovation zu tun haben,
sondern dass mit ihnen über viele Jahre hinweg gezielt
eine bestimmte Klientel versorgt wurde. Dies werden
wir aufgreifen und in der zweiten und dritten Lesung
entsprechend klar darstellen.
({6})
Nun hat der Minister eben gesagt, er stehe zum Endlager und wisse, was da auf ihn zukomme. Ich möchte
an dieser Stelle deutlich sagen: Es hat bei den Berichterstattern zu großer Irritation geführt, dass uns in dem Gespräch, an dem Sie leider nicht teilnehmen konnten - ich
wünsche Ihnen gute Genesung, Herr Gabriel -, Ihr
Staatssekretär erklärt hat, dass er erstens die Situation
des Schachts Konrad zwar schon richtig einschätzt, dass
er aber zweitens beabsichtigt, wenigstens noch ein Jahr
zu prüfen, wie das Ganze werden soll, und dass er drittens in keiner Weise beabsichtigt, Verpflichtungsermächtigungen für eventuell auf uns zukommende milliardenschwere - wenn man Gorleben einbezieht - bzw.
millionenschwere Belastungen für den Haushalt zu berücksichtigen. Auf dieses Haushaltsrisiko steuern Sie sehenden Auges zu. Das werden wir als FDP mit Sicherheit nicht mittragen.
({7})
Herr Gabriel, als Sie angefangen haben, zu reden, haben Sie - das hat auch Herr Kauch gesagt - sehr lange
gebraucht, bis Sie auf das Thema Umwelt kamen.
({8})
Die SPD hat auf dem Weg zu sich selbst sehr viel Zeit
verloren. Es ist erstaunlich, dass wir jetzt einen Umweltminister haben, der zumindest erkannt hat, dass der technologische Fortschritt sehr wichtig ist und uns nach
vorne bringt. Auf diesem Weg, Herr Gabriel, werden wir
Sie begleiten. Diesen Schwerpunkt sieht die FDP genauso. Hierbei erwarten wir, dass Sie in den nächsten
Jahren wirkliche Akzente setzen. Lassen Sie die alten
trittinschen Pflänzchen bitte im Garten. Pflegen Sie sie
nicht mehr, zumindest nicht hier in Berlin. Dafür wären
wir Ihnen dankbar.
({9})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege
Bernhard Schulte-Drüggelte von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte zuerst meinen Respekt dafür ausdrücken, dass Sie trotz Ihres gesundheitlichen Handicaps
Ihren Haushalt und das Ministerium vertreten haben,
Herr Gabriel.
Der Haushalt 2006 ist der Beginn einer langfristig angelegten Konsolidierungsstrategie. Er soll die Staatsfinanzen sanieren und durch Innovationen und Investitionen Wachstumskräfte freisetzen und Beschäftigung
sichern. Dieses politische Konzept wird mit Sanieren,
Reformieren und Investieren umschrieben. Der Finanzminister, Herr Steinbrück, hat am Anfang dieses Jahres
ganz deutlich gesagt:
Eine der unumstößlichen Geschäftsgrundlagen der
großen Koalition ist der Erfolg bei der Haushaltskonsolidierung.
Generationengerechtigkeit - das ist angesprochen
worden - und Nachhaltigkeit sind die Leitlinien bei diesem Vorhaben. Das Ziel bleibt ein ausgeglichener Staatshaushalt. Ich weiß, dass das ein schwieriges Ziel ist. Ich
weiß auch, dass das nicht von heute auf morgen zu erreichen ist. Aber dieser Haushalt 2006 ist ein Neuanfang.
Er ist auch ein Übergangshaushalt. Deshalb müssen die
Einnahmen und Ausgaben auf den Prüfstand gestellt
werden.
({0})
In diesem Fall sind das die Einnahmen und Ausgaben
des Einzelplans 16. Das Gesamtvolumen von 774 Millionen Euro für das Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit wurde gerade genannt. Die
Steigerung um 0,7 Prozent gegenüber 2005 ist, wie ich
finde, vom Sparwillen gekennzeichnet. Das ist eine moderate Steigerung. Aber diese moderate Steigerung beinhaltet auch eine deutliche Veränderung bei den Forschungsmitteln für erneuerbare Energien, und zwar
eine Erhöhung in diesem Bereich um 43 Millionen Euro.
({1})
Dies ist eine positive Entwicklung und begründet sich
im Koalitionsvertrag. Dort steht:
Ein wichtiges Element unserer Klimaschutz- und
Energiepolitik ist der ökologisch und ökonomisch
vernünftige Ausbau der erneuerbaren Energien.
Die steigenden Energiepreise, die Abhängigkeit unserer Energieversorgung von Importen - ich denke dabei
an die Auseinandersetzung zwischen Russland und der
Ukraine -, die zunehmende Knappheit an fossilen Rohstoffen wie Öl und Gas und der Klimawandel sind alles
Argumente für die verstärkte Förderung von erneuerbaren Energien.
({2})
Die erneuerbaren Energien schaffen auch zukunftsfähige
Arbeitsplätze in Deutschland.
({3})
- Ja, das stimmt.
Die Energieversorgung aus erneuerbaren Energien hat
sich in den letzten Jahren rasant entwickelt, und zwar
nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Selbst die
USA beabsichtigen erhebliche Umstellungen. Die Entwicklung von Bioenergie, Biokraftstoffen und biobasierten Produkten soll mit 360 Millionen US-Dollar jährlich
gefördert werden, um die Energieversorgung der Zukunft zu sichern.
({4})
- Aber es ging immerhin.
Minister Steinbrück hat heute Morgen Sokrates zitiert. Auch ich darf einen älteren Griechen, nämlich Perikles, zitieren, der gesagt hat:
Es kommt nicht darauf an, die Zukunft vorauszusagen,
- das können wir wahrscheinlich nicht sondern auf sie vorbereitet zu sein.
Ich meine, diese Weisheit kann man unterstützen.
({5})
Viele Technologien zur Nutzung erneuerbarer Energien werden erst seit kurzem eingesetzt. Es ist zu vermuten, dass darin hohe Innovations- und Entwicklungspotenziale liegen. Herr Gabriel hat deutlich gemacht, dass
die technischen Fortschritte genutzt werden sollten,
wenn Deutschland in Zukunft bei den modernen Energietechnologien Weltspitze bleiben will. Das bedeutet
Mehrausgaben für die Energieforschung.
Die Grundlage muss aber auch ein tragfähiges energiepolitisches Gesamtkonzept sein, dem ein ausgewogener Energiemix zugrunde liegt. Die Dringlichkeit und
Notwendigkeit alternativer Energien möchte ich nicht
infrage stellen. Aber aus der Sicht des Haushälters sollten auch in Zukunft die Ausgaben in diesem Bereich
kontinuierlich auf ihre Effizienz überprüft werden. Dieser Aufgabe sollten wir uns auch in Zukunft stellen.
({6})
- 0,7 Prozent ist ein relativ kleiner Wert. In dem Bereich
wird ja viel mehr gemacht.
Wir sollten darauf achten, dass die Mittel auch künftig ökonomisch sinnvoll eingesetzt werden. Dies erfordert meines Erachtens eine bessere Koordination zwischen den beteiligten Ministerien. Es wurde bereits
angesprochen, auf wie viele Ministerien die Energieforschung aufgeteilt worden ist. Dafür sind neben dem
Umweltministerium auch das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, das
Bundesministerium für Bildung und Forschung und das
Wirtschaftsministerium zuständig.
Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen, der
schon erwähnt worden ist, und zwar die Endlagerung
radioaktiver Abfälle. In diesem Bereich bestehen nach
Einschätzung des Bundesrechnungshofes erhebliche
Kostenrisiken für den Bund. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hat Anfang März ein wichtiges Urteil gefällt, das die Einrichtung eines Endlagers für schwach
Wärme entwickelnde Nuklearabfälle im Schacht Konrad
sehr wahrscheinlich macht. Staatssekretär Müller hat
sich im Berichterstattergespräch sehr klar dazu geäußert,
dass jetzt der Knoten zerschlagen und eine Lösung gefunden werden soll - ich fand das sehr positiv -; deshalb
muss ein Gesamtkonzept für die Entsorgung und Endlagerung radioaktiver Abfälle gefunden werden. Das sollte
auch für ein Endlager für hoch radioaktive Abfälle gelten. Entsprechend der Vereinbarung im Koalitionsvertrag muss es in dieser Legislaturperiode zu einer Lösung
kommen.
Ich darf zum Schluss kommen.
Sie müssen auch.
Die intensiven Beratungen über den Haushalt gehen
weiter. Wir sind noch in der ersten Lesung. Wir wollen
die Konsolidierung weiterhin im Auge behalten und
gleichzeitig im Interesse unseres Landes zur Finanzierung von Investitionen und Ausgaben für Forschung und
Entwicklung beitragen.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Michael Leutert, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, ich habe nur drei Minuten Redezeit.
Trotzdem: Auch die Linke kämpft für Ihre Gesundheit.
Herzliche Genesungswünsche!
Im Koalitionsvertrag ist vereinbart:
Eine ambitionierte Umweltpolitik gehört für uns zu
einer modernen Gesellschaft und leistet einen Beitrag zum weltweiten Klimaschutz.
Weiter heißt es:
Wichtiger Baustein einer schlüssigen Energiepolitik
ist die Intensivierung und Ausweitung der Energieforschung bei weiterer Mittelausstattung.
Beim ersten Blick könnte man denken, dass der Zug in
diese Richtung fährt. Der Haushalt des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
wird um 5,7 Millionen Euro aufgestockt. Immerhin fließen 23 Millionen Euro mehr in die Forschung und Entwicklung erneuerbarer Energien. Um 20 Millionen Euro
werden Investitionszuschüsse im Bereich der erneuerbaren Energien aufgestockt.
Wenn wir allerdings einen Schritt zurückgehen und
das Gesamtkunstwerk betrachten, dann stellen wir fest,
dass das Bild Risse bekommt. Der Haushaltsplan des
Umweltministeriums umfasst knapp 775 Millionen
Euro. Gemessen am Gesamthaushalt sind das lediglich
0,3 Prozent. Das halten wir in Anbetracht der Aufgaben,
vor denen wir stehen - Klimaschutz und Rohstoffknappheit, um nur zwei zu nennen -, gelinde gesagt für nicht
angemessen.
({0})
Wenn man sich aber andere Einzelpläne anschaut
- Sie brauchen nicht überrascht zu sein, dass von mir
dieses Beispiel kommt -, dann stellt man fest, dass keine
Geldknappheit herrscht. Zum Beispiel gibt es im Verteidigungsetat, der mit 23,9 Milliarden Euro der zweitgrößte Einzelplan ist, das Kapitel „Wehrforschung,
wehrtechnische und sonstige militärische Entwicklung
und Erprobung“. Allein dieses Kapitel umfasst 1,12 Milliarden Euro. Das sind 342 Millionen Euro mehr als der
gesamte Einzelplan des Umweltministeriums.
({1})
Dieses Kapitel wurde außerdem um 153 Millionen Euro
aufgestockt. Zur Erinnerung: Der Einzelplan des Umweltministeriums wurde lediglich um 5,7 Millionen
Euro aufgestockt. Diese Prioritätensetzung halten wir
Linken für absolut falsch und genial kontraproduktiv.
({2})
Sie wissen genau - das steht ebenfalls in der Koalitionsvereinbarung; das ist auch in den Verteidigungspolitischen Richtlinien nachzulesen -, dass die Rohstoffknappheit eine der Ursachen für internationale Konflikte
ist. Wenn das eine der Ursachen ist, sollten wir genau
dort ansetzen und das im Haushalt in Zahlen ausdrücken.
({3})
Unser Aufruf ist: Rüsten Sie im Umweltbereich auf
statt beim Militär!
({4})
Bislang haben wir nicht den Eindruck, dass es eine Kurskorrektur in der Umweltpolitik unter dieser Regierung
geben wird.
Ich danke.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Josef Fell,
Bündnis 90/Die Grünen.
Während er zum Podium schreitet, übermittle ich dem
Minister im Namen des ganzen Hauses Genesungswünsche. Alle folgenden Redner sparen dann Zeit.
({0})
Bitte schön, Herr Fell.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Sie haben mir tatsächlich das Wort aus dem
Mund genommen. Auch von unserer Seite darf ich Ihnen, Herr Minister Gabriel, Genesungswünsche übermitteln und den Dank aussprechen, dass Sie an dieser Debatte trotz Krankheit teilnehmen.
Das geht aber zu Recht von Ihrer Redezeit ab.
Umweltgerechtes Verhalten muss prinzipiell vom
Staat belohnt werden und umweltschädliches Verhalten
darf eben nicht belohnt werden. Ein besonders wirksames Instrument dafür sind steuerliche Anreize. Doch
was tut die große Koalition in dem vorliegenden Haushalt? Statt in ihrer großen Finanznot höhere Steuereinnahmen durch den Abbau von ökologisch schädlichen
Subventionen zu erzielen, wie durch den Abbau der Kerosinsteuerbefreiung in der Luftfahrt, des steuerbefreiten
Schiffsdiesels, des Agrardiesels, der Kohlesubventionen
oder der Rückstellungen für Atomkraftwerke, traut sich
die große Koalition, eine Antiökosteuer einzuführen.
Jetzt endlich verstehen wir, wieso die Union gegen
die Ökosteuer war: „Steuer“ fand sie gut, das Problem
war das „Öko“. Jahrelang hat die Union die Erhöhung
der Mineralölsteuer auf Benzin und Diesel scharf kritisiert. Jetzt erhöht sie die Steuer auf Biodiesel und
Pflanzenöle. In einem ersten Schritt soll die Energiesteuer gleich 10 bzw. 15 Cent betragen; netto, muss ich
an dieser Stelle hinzufügen. Inklusive Mehrwertsteuer
beträgt die Besteuerung sogar über 17 Cent. Die Biokraftstoffe sollen also auf einen Schlag so stark besteuert
werden, wie Diesel und Benzin über fünf Jahre verteilt
schrittweise höher besteuert wurden. Aber es soll noch
schlimmer kommen: In einem zweiten Schritt sollen die
Biokraftstoffe ab dem 1. Januar 2007 vollständig besteuert werden. Mit dieser Antiökosteuer der großen Koalition werden damit zugleich all diejenigen bestraft, die
auf die Sonntagsreden vieler schwarzer oder roter Politiker zur Einführung von Biokraftstoffen vertraut haben.
({0})
Herr Minister Gabriel, gerne höre ich Ihre Worte zum
technologischen Fortschritt. Gerade die Energieforschung, so sagen Sie, habe einen großen Stellenwert.
Wir hören nur Gutes über die Energieforschungsmittel
des Bundesumweltministeriums. Nach meiner Lebenserfahrung als Parlamentarier muss man aber genau dorthin
schauen, wo Eigenlob besonders dick aufgetragen wird.
So sollen die Mittel des Umweltministeriums für die
Energieforschung auf fast 84 Millionen Euro angehoben werden. Auf den ersten Blick ist das ein imposanter
Anstieg: um 38 Millionen Euro. Diesem Anstieg steht
allerdings eine Kürzung der Deckungsfähigkeit des
Titels für das Marktanreizprogramm in Höhe von
35 Millionen Euro gegenüber. Dieses Geld kam bislang
der Forschung zugute.
({1})
Von dem Aufwuchs für die Forschung im Bereich erneuerbare Energien bleiben am Ende 3 Millionen Euro
übrig. Wenn wir dann noch berücksichtigen, dass Herr
Seehofer die Mittel für die Bioenergieforschung eingefroren hat und Frau Schavan sogar Kürzungen vorsieht,
bleibt unter dem Strich nicht einmal ein Inflationsausgleich übrig. Kurz vor dem Energiegipfel ist das ein Gipfel an Täuschungsarithmetik und nicht angemessen angesichts der Herausforderungen des Klimawandels und
der Ressourcenverknappung, die Sie in Ihren Reden immer wieder - völlig richtig - betonen.
({2})
Schauen wir einmal, wofür die Bundesregierung
wirklich Geld lockermacht: Bei Ministerin Schavan steigen die Mittel der Titelgruppe „Stilllegung und Rückbau
kerntechnischer Versuchs- und Demonstrationsanlagen“
um 60 Millionen Euro auf 220 Millionen Euro. Das
heißt, sie gibt 2,5-mal so viel für den Abriss und die Entsorgung alter Forschungsmeiler aus, wie Herrn Gabriel
für die Zukunftsforschung im Bereich erneuerbare Energien zur Verfügung steht.
Hinzu kommt beim Umweltministerium die Kürzung
des Titels für die Markteinführung von erneuerbaren
Energien um 13 Millionen Euro. Damit stehen für diesen
Titel gerade noch 180 Millionen Euro zur Verfügung.
Wenn man das mit den über 700 Millionen Euro zuzüglich
Mehrwertsteuer vergleicht, die die erneuerbaren Energien in diesem Jahr zur Stromsteuer beitragen werden,
muss man feststellen: Die Diskrepanz ist gigantisch.
Dank Herrn Steinbrück und Herrn Gabriel müssen die
Bürger an Steuern auf erneuerbare Energien ein Vielfaches von dem zahlen, was sie über Förderprogramme zurückerhalten. Dabei wurde das Marktanreizprogramm
bekanntlich eingeführt, um die Mittel aus der Besteuerung der erneuerbaren Energien für ebenderen Markteinführung einzusetzen.
Meine Damen und Herren von der großen Koalition,
Umweltpolitik muss sich auch in der Haushaltspolitik
wiederfinden. Der von Schwarz-Rot vorgelegte Haushaltsentwurf wird den umweltpolitischen Herausforderungen nicht gerecht.
({3})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ulrich Kelber,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu einer Debatte gehört, dass man auf die Vorrednerinnen und Vorredner eingeht. Ich mache das beim Kollegen Fell besonders gerne. Sie waren in Ihren
Ausführungen zwar geschickt, lieber Kollege, aber eine
Sache können Sie nicht wegreden: Im letzten Haushalt
wurden Mittel des Marktanreizprogramms zur Stopfung
von Löchern bei der Forschung verwendet,
({0})
was zur Folge hatte, dass die Mittel des Marktanreizprogramms ausgegangen waren, wodurch Anträge liegen
geblieben sind. Eine ganze Branche ist dadurch gefährdet worden. Da ist das jetzige Verfahren, Extratitel zu
schaffen und diese zu erhöhen, der bessere Weg.
({1})
Frau Kollegin Kotting-Uhl, zwei Punkte: Erstens. Es
gibt keine Nebenabsprache zum Atomausstieg. Das mag
Ihnen nicht gefallen.
({2})
- Nein, Sie haben von der „Financial Times Deutschland“ und angeblichen Nebenabsprachen des Bundesumweltministers gesprochen. Sie wissen, dass alle gesagt
haben, dass es diese nicht gibt. Auch wenn es einem
nicht gefällt, dass einem die Kompetenz für das Thema
nicht mehr solitär zugesprochen wird, so ist das trotzdem
die Realität.
Zweiter Punkt: Der Herr Umweltminister hat von seiner ersten Amtshandlung in Bezug auf REACH gesprochen. Sie selber würden wahrscheinlich Probleme haben,
die beiden kleinen Punkte zu erläutern, die das, was Umweltminister Gabriel gemacht hat, von dem unterscheiden, was Umweltminister Trittin ausgehandelt hat. Es
würde sehr schwierig werden, das darzustellen. Wir sollten also bei der Wahrheit bleiben.
({3})
Es ist in der Tat kein Zufall, dass in dieser Woche
mehrere Zeitschriften und Zeitungen das gleiche Thema
behandeln, so der „Spiegel“, die „Zeit“ und „Focus“.
Das Thema lautet: Kampf um Rohstoffe und Gefährdung
der herkömmlichen Energieversorgung. Eines ist klar:
Das gefährdet die Grundlagen unseres Wohlstands. Die
in den letzten Jahren dominierenden Denkschulen der
herkömmlichen Wirtschaftspolitik haben auf diese Herausforderung keine Antwort. Es ist vielmehr die Umweltpolitik, die seit vielen Jahren die richtigen Antworten bietet. Diese Ansätze bekommen jetzt zu Recht eine
stärkere Aufmerksamkeit.
Es war die Umweltpolitik, die die Nutzung neuer, dezentraler und nachhaltiger Energieformen durchgesetzt hat, insbesondere der erneuerbaren Energien. Das
ist die richtige Medizin gegen Importabhängigkeit, gegen Monopolabhängigkeit, gegen belastende Preissprünge, gegen todbringende nukleare Abfälle, gegen
eine verwundbare Infrastruktur und gegen ökologische
und ökonomische Langzeitschäden. Die Zeichen der
Zeit zu erkennen heißt, diese Technologien noch schneller einzuführen. Das ist ein Unterschied in unserem
Technologieverständnis. Auch ich bin ein Technikfreak.
Auch ich habe das studiert. Ich möchte aber nicht nur
forschen, sondern die Technologien auch auf dem Markt
einführen und nicht gegen eine Förderung der Markteinführung stimmen. Das Kreuzfeuer, das in Deutschland
vor allem von Ihrer Seite ausgeht und ideologisch motiviert ist und das auch von Wirtschaftsverbänden, die gegen erneuerbare Energien sind, ausgeht, muss endlich
aufhören.
({4})
Der zweite große Punkt der Umweltpolitik ist, dass
die Effizienz in den Mittelpunkt rücken muss. Wir müssen aus weniger Energie- und Rohstoffeinsatz mehr
Wohlstand erwirtschaften. Das ist die Schlüsselkompetenz unserer Zeit. Nur so kann man steigende Energieund Rohstoffrechnungen vermeiden. Wer den Leuten erzählt, sie könnten die Weltmarktpreise beeinflussen, der
streut ihnen Sand in die Augen.
Es gibt noch einen zweiten Faktor in der Rechnung,
nämlich die Frage, wie viel von der teureren Energie und
den teureren Rohstoffen verbraucht wird. Deswegen ist
es richtig, dass wir die Anreize zu ineffizientem Verhalten abbauen und über deutliche Preissignale und klare
ordnungsrechtliche Vorgaben die Energieeffizienz steigern. Ich habe wie Frau Reiche als Kind den Schüttelreim gelernt: Dem Ingenieur ist nichts zu schwör. Ich
würde mich freuen, wenn sich der eine oder andere Wirtschaftsverband daran erinnern würde, wenn wir uns über
die Vorgaben zur Effizienzsteigerung unterhalten, und
nicht immer in kleinkindliche Jammerei verfallen würde.
({5})
Umweltpolitik ist längst eine Querschnittsaufgabe geworden. Von Umweltpolitik kann man lernen. Es sind
die Denkmodelle der Umweltpolitik, die nicht nur ökologisch, sondern wirtschaftlich, finanziell, gesundheitspolitisch und gesellschaftspolitisch die richtigen Ansätze
liefern.
({6})
Dazu einige Beispiele. Mein Lieblingsbeispiel ist immer das Toprunnerprogramm, also das energieeffizienteste Gerät zum Standard erheben, den dann alle anderen Geräte in wenigen Jahren erreichen müssen.
Dadurch wird ein toller Innovationswettbewerb ausgelöst. Der nützt vor allem den Premiummarken aus
Deutschland, weil diese sich gegen die Billigkonkurrenz
über solche Vorgaben der Standards wehren können.
Deswegen ist moderne Umweltpolitik moderne Wirtschaftspolitik.
({7})
Beispiel zwei: Wir brauchen eine scharfe Malusregelung im Emissionshandel, die besagt, dass die ältesten
und ineffizientesten Kraftwerke nicht mehr voll mit
Emissionszertifikaten ausgestattet werden. Das übt
Druck aus in Richtung auf eine Neuausstattung. Umweltpolitik ist somit Investitionsförderung.
Drittes Beispiel: Ausstieg aus der Atomenergie. Wir
haben jetzt die schöne Situation, dass viele Wettbewerber eigene neue Kraftwerke bauen. Stadtwerke, Finanzinvestoren usw. setzen darauf, dass wir diese Regelung
beibehalten. So kann man mit Umweltpolitik wunderbar
gegen Monopole und Preistreiberei bei Strom vorgehen.
Somit ist Umweltpolitik auch fantastische und moderne
Wettbewerbspolitik.
({8})
Viertes Beispiel: nachhaltige Verkehrspolitik. Wir
sagen, dass man aus Naturschutzgründen bestimmte
Flüsse wie Elbe und Donau nicht beliebig ausbauen
sollte, weil man mit sehr viel weniger Geld parallel auf
der Bahnstrecke viel mehr erreichen kann. Damit ist
Umweltpolitik auch moderne Verkehrspolitik.
Fünftes Beispiel: präventiver Gesundheitsschutz.
Wir tun etwas dagegen, dass Menschen wegen Chemikalien, wegen Luftverunreinigung und Gewässerschäden
krank werden. Das ist viel billiger, als nachträglich etwas aus dem Gesundheitssystem heraus zu machen. Umweltpolitik ist also moderne Gesundheitspolitik.
Zum Thema „nachhaltige Generationenpolitik“ hat
meine Kollegin Hinz schon etwas gesagt. Die Einführung der Nachhaltigkeit geht auf die Umweltseite zurück. Es war ein Forstwirt wie Herr Kollege Göppel, der
diesen Begriff damals - 1804 - geprägt hat. Wir haben
das aufgegriffen. Auch Umweltpolitik ist moderne Generationenpolitik.
Ein letztes Beispiel. Das nationale Naturerbe ist Voraussetzung für Tourismus und ländliche Entwicklung,
weil so Vielfalt und Aufenthaltsqualität geschaffen bzw.
gesichert werden. Umweltpolitik und Naturschutz
müssen auch der ländlichen Entwicklung dienen. Unsere
Politik muss - das ist eine ihrer größten Herausforderungen - das Problem der demografischen Entwicklung in
den ländlichen Regionen lösen. Die Entwicklung dort ist
noch dramatischer als die in den Städten, zumindest im
Westen. In den Städten im Osten ist die demografische
Entwicklung ebenfalls schon sehr dramatisch. Auch hier
sind es die Ansätze moderner Umweltpolitik, die überhaupt eine Perspektive liefern. Es geht um die Fragen:
Was finanziert man in der Agrarpolitik? Was macht man
im Naturschutz? Die Strategien „Weiter so“ und „Wir
überlassen das vollständig dem Markt“ werden nicht
weiterhelfen.
({9})
Umweltpolitik ist also der Kern moderner Innovationspolitik. Das hat Bundesumweltminister Sigmar
Gabriel klar zum Ausdruck gebracht. Dieser Fakt ist
auch mir wichtig. Damit auch Herr Kauch zufrieden ist,
verweise ich auf Folgendes - das kann man übrigens
auch gut dem Haushalt 2006 entnehmen -: mehr Geld
für die Forschung, mehr Geld für die Einführung innovativer Technologien. Hinzu kommt, was man manchmal
mit wenig Geld bewerkstelligen kann, beispielsweise
das nationale Naturerbe. Derartiges lässt sich nicht an
Überschriften in Einzelplänen des Haushaltsgesetzes
festmachen. Man muss manchmal auch zwischen den
Zeilen lesen können.
Der Haushalt 2006 kann sich aus Sicht der Umweltpolitik sehr gut sehen lassen. Wir Umweltpolitiker können sehr selbstbewusst in die Debatte mit Politikern gehen, die auf anderen Feldern tätig sind. Wir haben die
innovativeren Ansätze. Die anderen können von uns etwas lernen.
Vielen Dank.
({10})
Letzter Redner zu diesem Geschäftsbereich ist der
Kollege Josef Göppel, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die große
Koalition hat ihre Umweltpolitik von Anfang an mit dem
Erhalt und der Schaffung von Arbeitsplätzen verknüpft.
Bei den Koalitionsverhandlungen hat Minister Gabriel
diesen Aspekt von Beginn an besonders betont. Herr Minister Gabriel, das möchte ich ausdrücklich würdigen.
Ich möchte ebenfalls würdigen, dass Sie die Abgeordneten in Ihrer bisherigen Amtsführung sehr frühzeitig in
Vorbereitungen von Entscheidungen einbezogen haben.
Auch dafür danke ich Ihnen. Wenn das so weitergeht,
dann wird unsere Zusammenarbeit bis zum Jahre 2009
- für diesen Zeitraum ist diese Koalition angelegt - sehr
gut sein. Ich hoffe, dass sie für Deutschland viel Gutes
erreichen kann.
({0})
In den Debatten, die jetzt über Rohstoffe weltweit geführt werden, wird immer wieder formuliert, dass die
Entwicklungsländer Indien und China einen anderen
Entwicklungspfad brauchen. Da muss man schon fragen:
Und wir? Was ist mit unserem Entwicklungspfad? Auch
für die Union steht die Senkung des Energieverbrauchs
an erster Stelle, und zwar durch die Steigerung der Effizienz. Im Koalitionsvertrag ist das Ziel verankert, die
Energieeffizienz bis 2020 gegenüber dem Stand von
1990 zu verdoppeln.
Vor wenigen Tagen, am 14. März, hat der EU-Ministerrat in Brüssel die Richtlinie zur Endenergieeffizienz
und zu den Energiedienstleistungen beschlossen mit dem
Ziel, den Energieverbrauch in Europa in den nächsten
neun Jahren um 9 Prozent zu senken. Der Energieverbrauch in Europa soll also in jedem Jahr 1 Prozent weniger betragen. Wir sollen mit den Rohstoffen und anderen
Materialien sparsamer umgehen. Die Richtschnur ist der
effizientere Umgang mit Energie und Rohstoffen.
Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm der Koalition
- es wird auf ein Fördervolumen von 1,4 Milliarden
Euro pro Jahr erhöht - wird sich breit auswirken und
dem Handwerk, dem Umweltschutz, den Mietern und
den Eigentümern viel bringen,
({1})
allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Basis eines Energiepasses. Wir unterstützen da die Vorstellungen des Umweltministeriums zu einem bedarfsorientierten Energiepass.
({2})
Dann sollen sich die Hausbesitzer die Maßnahmen heraussuchen, die ihnen in ihrer speziellen Situation am
geeignetsten erscheinen.
Auch im Verkehr gilt: Eine Verbrauchssenkung
bringt geringere CO2-Vermeidungskosten mit sich als
alle anderen Maßnahmen. Wir haben im Koalitionsvertrag auch das Ziel der Senkung des CO2-Ausstoßes
im Kraftfahrzeugverkehr formuliert. Ein Wert von
120 Gramm ist da als Ziel genannt. „Effizienz verbessern“ heißt: möglichst geringe Vermeidungskosten in der
Realität erreichen. So wie bei den Gebäuden mit dem
Energiepass müssen wir auch bei den Kraftfahrzeugen
zu einer klaren Kennzeichnung kommen. Das gilt, Herr
Minister, ebenfalls für die CO2-bezogene Kraftfahrzeugsteuer. Ich denke, dass wir auch diese Maßnahme bald
umsetzen müssen, damit die Bürger den Zusammenhang
zwischen den finanziellen Beanspruchungen und der
Umweltwirkung ganz deutlich spüren.
({3})
Vor wenigen Tagen ist die Elektronikschrottverordnung in Kraft getreten. Man glaubt kaum, welche Wirkungen etwas hat, wenn es wirklich in Kraft tritt. Nun
können die Leute ihre alten Elektrogeräte zurückgeben
und brauchen dafür nichts zu bezahlen, weil sie das
schon mit dem Kaufpreis erledigt haben. Diese Kreislaufwirtschaft führt dazu, dass die Geräte anders konstruiert werden, und zwar so, dass sie eben leichter zurückgenommen werden können, weil die Hersteller
dafür finanziell einstehen müssen.
Wettbewerbsfähig sein in der Weltwirtschaft mit weniger Material und weniger Energieaufwand: Wer im
Umweltschutz führend ist, ist führend bei Zukunftstechnologien.
({4})
Wer bei Zukunftstechnologien führt, der führt auch bei
den Arbeitsplätzen. Jeremy Rifkin hat vor einigen Wochen, Anfang März, in der CDU-Zentrale hier in Berlin
auf Folgendes hingewiesen - ich darf zitieren -: Eigentlich ist die deutsche Wirtschaft im Hinblick auf die Herausforderungen der Umweltpolitik besser als jede andere aufgestellt, weil sie in Chemie und Maschinenbau
führend ist.
({5})
Ohne den lenkenden Rahmen der Politik geht es
nicht. Ich war erstaunt darüber, wie interessant in diesem
Zusammenhang ein Subventionsbericht sein kann. Ich
darf aus dem Zwanzigsten Subventionsbericht zitieren:
Die Begünstigung des gewerblichen inländischen
Flugverkehrs ist abzubauen. Wegen des erreichten
Entwicklungsstandes ist diese gegenüber dem mit
Mineralölsteuer belasteten Straßenverkehr und
Schienenverkehr … nicht mehr gerechtfertigt.
({6})
Unser Finanzministerium hat hier einen guten und richtigen Ansatz. Die gesamte Bundesregierung hat diesen
Subventionsbericht beschlossen.
Wir müssen das auch in Verbindung mit der Besteuerung der Biokraftstoffe sehen.
({7})
Ich möchte zu überlegen geben, ob es wirklich sinnvoll
ist, diesen Teil des Energiebesteuerungsgesetzes am
1. August in Kraft zu setzen, oder ob es nicht sinnvoller
ist, das am 1. Januar 2007 in Verbindung mit einer ordentlich durchdachten neuen Gesamtlösung zu tun. Wir
brauchen für die Bemessung der Biokraftstoffbesteuerung eine nachvollziehbare Grundlage - das könnte zum
Beispiel die CO2-Bilanz sein -, aber nicht willkürlich
gegriffene Besteuerungssätze.
({8})
Ich möchte noch kurz auf einen anderen Bereich der
Umweltpolitik zu sprechen kommen, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Umweltpolitik hat auch eine ethische Dimension, wenn es darum geht, für die Mitgeschöpfe, die
wild lebenden Pflanzen und Tiere, Lebensräume zu erhalten. Die Koalition hat mit dem Konzept „Nationales
Naturerbe“ den Weg dafür bereitet. Ich halte das für einen wichtigen Schritt in die Zukunft.
Da der Fußball zurzeit überall im Mittelpunkt steht,
darf ich noch ein bekanntes altes Schulbeispiel erwähnen: Wenn unsere Erde ein Fußball wäre - stellen wir sie
uns einmal so groß vor -, dann wäre die schützende
Lufthülle genau 1 Millimeter dick. Das zeigt die Verletzlichkeit unserer Erde. Ich denke, das ist nicht nur für
Kinder ein gutes Beispiel.
({9})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich
liegen nicht vor.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit, Einzelplan 15. Ich erteile das Wort der Bundesministerin für Gesundheit, Ulla
Schmidt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
Zeiten der Haushaltskonsolidierung Haushalte aufzustellen, ist nie einfach. Aber diesmal war die Aufstellung
unseres Haushaltes auch dadurch erschwert, dass aus
dem ehemaligen Bundesministerium für Gesundheit und
Soziale Sicherung zwei neue Ministerien mit ihren
Haushalten entwickelt werden mussten, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und das Bundesministerium für Gesundheit.
({0})
Einen kleinen Augenblick, Frau Ministerin. - Ich
fände es schon hilfreich, wenn diejenigen, die sich nun
noch dringenderen Tätigkeiten zuwenden müssen, das
ohne Störung der weiteren Debatte realisieren könnten,
damit die nötige Aufmerksamkeit wieder hergestellt
ist. - Bitte schön, Frau Ministerin.
Danke schön, Herr Präsident. - Trotzdem ist es gelungen, einen Haushalt vorzulegen, der auch den vielfältigen Aufgaben des Ministeriums gerecht wird.
Wenn man aber einen Blick in die Zukunft wirft, sieht
man eine klare Aufforderung zum Handeln; denn der
größte Ausgabenblock des Ministeriums ist quasi ein
durchlaufender Posten. 4,2 Milliarden Euro sind festgelegt als Bundeszuschuss für die so genannten versicherungsfremden Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung. Für dieses Jahr schafft uns das ein
bisschen Luft in Bezug auf die Beitragssatzstabilität in
der gesetzlichen Krankenversicherung. Auch das Arzneimittelspargesetz wirkt sich entsprechend aus. Sie alle
wissen aber, dass in der Koalition beschlossen wurde,
den Bundeszuschuss im nächsten Jahr von 4,2 Milliarden Euro auf 1,5 Milliarden Euro zurückzuführen, bevor
er dann 2008 ganz wegfällt. Außerdem wird die Mehrwertsteuererhöhung im kommenden Jahr zu Mehrausgaben von rund 800 Millionen Euro in der GKV führen.
Beide Faktoren machen deutlich, dass wir in diesem
Jahr eine grundlegende Reform der gesetzlichen Krankenversicherung auf den Weg bringen müssen, und
zwar nicht nur eine Reform der Finanzierungsseite, sondern, wenn wir eine nachhaltige, dauerhafte Finanzierung sicherstellen wollen, auch eine Reform der Strukturen in Richtung mehr Wettbewerb, mehr Transparenz
und Vertragsfreiheit.
({0})
In den kommenden Tagen und Wochen werden wir
die Einzelheiten dieser Reform erörtern, hier im Parlament, aber auch in den Koalitionsfraktionen und in der
Öffentlichkeit. Alle wissen, dass wir zwischen den
Grundkonzepten, die von den beiden Koalitionspartnern
favorisiert werden, nämlich der Bürgerversicherung
und der Gesundheitsprämie, einen Kompromiss finden
müssen, der die Finanzierungsgrundlagen der Krankenkassen so erweitert, dass endlich die Abhängigkeit von
sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung reduziert
wird. Wir brauchen - da sind wir uns einig - eine Reform, die sicherstellt, dass alle Bürgerinnen und Bürger
über einen Versicherungsschutz verfügen, und die gewährleistet, dass alle Bürgerinnen und Bürger Zugang zu
allen medizinisch notwendigen Leistungen auf der Höhe
des medizinischen Fortschritts erhalten, und zwar unabhängig von ihrem persönlichen Einkommen und der
Höhe des Beitrags, den der oder die Einzelne zahlt.
Wir sind uns in der Koalition einig, dass wir eine Reform brauchen, bei der die starken Schultern mehr tragen
als die schwachen Schultern, weil wir eine gerechte Reform wollen.
({1})
Darüber hinaus planen wir eine Reihe von Maßnahmen, die ich unter der Überschrift „Mehr Wettbewerb
und Flexibilität“ zusammenfassen will. Wir wollen, dass
es in Zukunft beispielsweise möglich ist, dass auch kassenartenübergreifende Fusionen erfolgen können. Wir
wollen, dass Kassen und Leistungserbringer stärker als
in der Vergangenheit über Preise und Qualität verhandeln können. Wir wollen die integrierte Versorgung stärken und wir wollen das Vertragsarztrecht liberalisieren.
Das Honorarsystem soll so gestaltet werden, dass der
einzelne Arzt und die einzelne Ärztin wissen, was sie für
ihre medizinischen Leistungen bekommen. Wir wollen
ein Honorarsystem, das transparent ist und bei dem die
Vertragspartner über Preise, Qualität und Mengenkomponenten verhandeln können. So wird mehr Gerechtigkeit im Gesundheitssystem geschaffen.
({2})
Wie im Koalitionsvertrag vereinbart, werden wir auch
in der Pflege die notwendigen Reformen angehen, damit
die Pflegeversicherung dauerhaft finanziell gesichert
ist. Wir werden gewährleisten, dass die aufgrund der auf
uns zukommenden demografischen Auswirkungen entstehenden Belastungen gerecht zwischen den Generationen aufgeteilt werden. Wir wollen zugleich dafür sorgen,
dass es eine sozial gerechte Lastenverteilung gibt.
Wir werden die Pflegeversicherung inhaltlich fortentwickeln, zum Beispiel durch die Anerkennung des Betreuungsbedarfs von Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz. Dabei geht es um den Betreuungsbedarf
von demenzkranken Menschen, von psychisch kranken
Menschen und von geistig behinderten Menschen. Wir
wollen Leistungen dynamisieren und häusliche Versorgungsstrukturen stärken.
Generell gilt: Besser als die Behandlung von Krankheiten ist es, Krankheiten erst gar nicht entstehen zu lassen. Deshalb werden wir die Prävention - das Gesetz
hatten wir schon in der letzten Legislaturperiode auf den
Weg gebracht - in dieser Legislaturperiode zu einer eigenständigen Säule im Gesundheitswesen entwickeln.
Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass diese
wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgabe angepackt
wird. Aber auch unabhängig von diesem Gesetz werden
wir weiterhin in Gesundheitsförderung und Prävention
investieren und diesen Bereichen in unserer Politik einen
hohen Stellenwert einräumen.
({3})
Die Prävention muss ein fester und selbstverständlicher Teil unseres Lebens werden. Denn jede vermiedene
Krankheit bedeutet nicht nur ein Stück mehr Lebensqualität für den Betroffenen, sie ist auch in Bezug auf die
Finanzierbarkeit unseres Gesundheitswesens wichtig.
Niemand sollte die Tatsache unterschätzen, dass es in einer Gesellschaft, in der die Menschen immer länger leben und in der immer weniger junge Menschen nachkommen, wichtig ist, dass jeder Einzelne so lange so fit
bleibt, wie es eben geht. Denn wir stehen im Wettbewerb
mit Ländern, deren Gesellschaften mehr jüngere Menschen haben.
Wir sind auf jeden einzelnen Mann und auf jede einzelne Frau in diesem Land angewiesen. Daher sind Investitionen in Prävention und Gesundheitsförderung
wichtige Zukunftsinvestitionen. Darüber muss sich jeder
im Klaren sein.
({4})
Wie unverzichtbar Aufklärungsarbeit ist, sehen wir
aktuell an der Entwicklung von HIV/Aids. Mir macht
der Anstieg der Zahl der Neuinfektionen Sorgen. Über
Jahre hinweg lag die Zahl der Neuinfektionen bei ungefähr 2 000. Im Jahr 2005 gab es aber 2 600 Neuinfektionen. Fast alle Menschen in Deutschland wissen über die
Infektionswege Bescheid und fühlen sich gut informiert.
Trotzdem lässt die Bereitschaft, sich vorsichtig zu verhalten, nach, weil vor allem jüngere Menschen glauben:
Einmal ist keinmal. Deswegen müssen wir in diesem Bereich weiter in Prävention investieren. Denn es gibt
keine Heilung dieser Krankheit. Es gibt zwar Behandlungsformen, aber letztendlich sind die meisten Krankheitsverläufe tödlich. Prävention ist das einzige Mittel,
das wirklich hilft. Wir werden deshalb weiterhin auch
unter angespannten finanzpolitischen Bedingungen mehr
als 10 Millionen Euro unseres Haushaltes für die Aidsbekämpfung und -prävention ausgeben. Wir machen damit deutlich, dass wir dieses Problem ernst nehmen.
Gleiches gilt für den Drogen- und Suchtbereich. Wir
wollen die erfolgreiche Drogen- und Suchtpolitik der
letzten Jahre fortsetzen. Wir wollen, dass die Schäden,
die heute durch den Missbrauch von Tabak, durch übermäßigen Alkoholkonsum und durch illegale Drogen entstehen, weiter reduziert werden. Deshalb werden wir zur
Bekämpfung des Drogen- und Suchtmittelmissbrauchs
weiterhin 12 Millionen Euro einsetzen. Davon entfällt
ein großer Teil auf die erfolgreichen Aufklärungsmaßnahmen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die sich vor allen Dingen den jungen Menschen
widmen, um hier eine Verhaltensänderung zu erreichen.
({5})
Auch wenn wir hoffen, dass das Vogelgrippevirus
ein Tiervirus bleibt, müssen wir alles dafür tun, dass wir
für den Ernstfall, also für den Fall des Falles, dass es
sich verändern sollte und tatsächlich von Mensch zu
Mensch übertragen werden könnte, gewappnet sind. Aus
den aktuellen Entwicklungen hat sich neuer Forschungsbedarf ergeben. Ich bin sehr froh, dass die Bundesregierung in sehr kurzer Zeit in Zusammenarbeit mit der Bundesministerin Frau Schavan und dem Bundesminister
Herrn Seehofer eine Forschungsvereinbarung abgeschlossen hat. Das gemeinsame Forschungssofortprogramm zur Influenza soll sich vor allem mit praxisrelevanten Fragen beschäftigen und Antworten auf die
Fragen geben, die uns die Menschen im Hinblick auf den
befürchteten Ernstfall stellen.
Für den Finanzierungsanteil von 8,4 Millionen Euro,
der das Bundesministerium für Gesundheit betrifft, stellt
das BMBF bereits in diesem Jahr 3 Millionen Euro direkt dem Robert-Koch-Institut und dem Paul-EhrlichInstitut zur Verfügung. Ich möchte mich an dieser Stelle
für diese zügige Unterstützung durch die Kollegin
Schavan bzw. das Forschungsministerium bedanken;
denn das ist nicht selbstverständlich.
({6})
Wir als Bundesministerium für Gesundheit werden
die Entwicklung pandemischer Impfstoffe mit
20 Millionen Euro fördern. Davon werden in diesem
Jahr 9 Millionen Euro haushaltswirksam. Wir setzen damit das Signal, dass wir als Bundesministerium auch unter schwierigen finanziellen Bedingungen unserer Verantwortung gerecht werden. Denn es geht uns bei all
diesen Einzelfragen, die wir hier regeln müssen, um den
Schutz vor Krankheiten, um eine optimale Versorgung
bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit und vor allen Dingen darum, dass sich die Menschen in diesem Land sicher fühlen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Frau Dr. Claudia
Winterstein, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Ministerin, leider haben Sie es sich mit Ihrer
Diagnose zum Gesundheitssystem zu leicht gemacht. Sie
bleibt unvollständig und die richtigen Rezepte fehlen.
Die 100-Tage-Bilanz der großen Koalition ist im Gesundheitssektor eine eindeutige Negativbilanz. Das
Herumdoktern an den Symptomen war bisher erfolglos.
Keines der anstehenden Probleme ist ernsthaft in Angriff
genommen worden. Die Regierung hat lediglich die
Strategie fortgesetzt, sich von einem Kostendämpfungselement zum anderen zu hangeln.
Inzwischen ist so viel Druck im System, dass die
Ärzte auf die Straße gehen. Das Arzneimittelversorgungswirtschaftlichkeitsgesetz - man beachte dieses
Wort - hat letztlich das Fass zum Überlaufen gebracht.
Es ist ein Bürokratiemonster, genährt von Verordnungskorridoren, Tagestherapiekosten sowie Bonus- und Malusregelungen mit Einschränkungen der Therapiefreiheit
und ethisch problematischen Folgen.
({0})
Frau Ministerin, wir hatten Sie aufgefordert, dieses Gesetz zurückzuziehen. Der Bundesrat hat jetzt den Vermittlungsausschuss angerufen. Es wäre verheerend,
wenn Sie das einfach ignorieren würden.
({1})
Wir führen diese Haushaltsdebatte in Unkenntnis der
kommenden Gesundheitsreform. Die große Koalition
und ihre Gesundheitsministerin haben bisher mit ihren
Vorschlägen hinter dem Berg gehalten. Sie hatten wohl
Sorge, sich bei den Landtagswahlen am letzten Sonntag
eventuell zu schaden. Auch in unserem Berichterstattergespräch haben Sie, Frau Ministerin, sich darauf beschränkt, mit Inbrunst zu dementieren, dass irgendetwas
von dem, was in der Presse steht, stimmt. Bisher wissen
wir also nicht, was Sie wollen. Wir wissen aber auch
nicht, ob es irgendeine Bedeutung hat, was Sie wollen.
({2})
Morgen treffen sich nämlich die Spitzen der Koalition ohne Sie. Allerdings werden wir danach auch nicht viel
schlauer sein. Bei diesem Treffen geht es offenbar darum, einen so genannten Fahrplan zu erstellen, ohne die
Richtung oder gar das Fahrziel festzulegen.
({3})
Die Unklarheit hat Methode; denn der Grundkonflikt
in der rot-schwarzen Koalition ist bis heute nicht gelöst.
Die Union hatte im Wahlkampf ihr Konzept der
Gesundheitsprämie; das hat sie aber in den Koalitionsverhandlungen schnell aufgegeben. Demgegenüber verfolgt die SPD ihr noch viel untauglicheres Modell der
Bürgerversicherung unbeirrt weiter. Die Bürgerversicherung wäre aber das glatte Gegenteil einer zukunftsgerichteten Reform.
({4})
Die Diagnose ist doch klar gestellt: Das jetzige System ist marode. Weil das so ist, wäre es das falsche Rezept, noch mehr Bürger in dieses System zu zwingen.
({5})
Genau das aber ist es, worauf die Gesundheitsministerin
hinarbeitet.
({6})
Angesichts der demografischen Entwicklung werden die
Gesundheitsausgaben in Zukunft eher steigen. Auch angesichts der Situation auf dem Arbeitsmarkt ist das
umlagefinanzierte System der gesetzlichen Krankenversicherung, das an den Löhnen und Gehältern ansetzt,
den Anforderungen der Zukunft nicht gewachsen.
({7})
Weil das so ist, müssen wir zumindest dafür sorgen,
dass die Gesundheitskosten von den Arbeitskosten abgekoppelt werden und dass die Menschen Einfluss nehmen können auf Art und Höhe ihres Versicherungsschutzes.
({8})
Sie müssen Gestaltungsmöglichkeiten haben. Genau das
schlagen wir mit unserem Modell vor: freie Wahl des
Versicherungsschutzes mit der Pflicht, das medizinisch
Notwendige abzusichern, bei einem selbst gewählten
Krankenversicherungsanbieter, der über die Bildung von
Altersrückstellungen dafür sorgt, dass die Beiträge im
Alter nicht zu stark steigen. Das, Frau Ministerin, ist das
bessere Rezept.
({9})
Meine Damen und Herren, ich will nun noch auf zwei
Besonderheiten des Haushalts der Gesundheitsministerin
eingehen. Der größte Posten in diesem Haushalt ist der
milliardenschwere Zuschuss an die gesetzliche Krankenversicherung. Entgegen der Koalitionsvereinbarung, die ein Abschmelzen schon für dieses Jahr vorgesehen hatte, fließt dieser Zuschuss im Jahr 2006 in voller
Höhe; das sind 4,2 Milliarden Euro. Mit dem Haushaltsbegleitgesetz setzt sich die Regierung hier allerdings unter Reformdruck. Wenn im Jahr 2007 der Zuschuss sinkt
und die Mehrwertsteuer steigt, sind in diesem System,
wenn man sich nicht bewegt, Beitragserhöhungen unausweichlich.
Daneben ist dieser Haushalt von der Abtrennung des
Aufgabenbereichs Soziales vom bisherigen Ministerium
geprägt; Sie haben das erwähnt. Dadurch fallen natürlich
auch hier entsprechende Kosten an: für ein neues Gebäude, für neue Ausstattung, für 18 neue Stellen. Die finanziellen Auswirkungen dieser Neugliederung, die zu
einer Aufblähung des Regierungsapparates führt, sind
mehr als ärgerlich.
Die Halbierung des Ministeriums zieht eine Halbierung diverser Haushaltsansätze nach sich, aber leider
nicht überall. Bei der Öffentlichkeitsarbeit beispielsweise wünscht sich die Gesundheitsministerin eine Aufstockung der Mittel um 1,2 Millionen Euro.
({10})
Da möchte man doch gerne wissen, wofür. Das steht
auch im Entwurf: für die Information über die Gesundheitsstrukturreform.
({11})
Sehr verehrte Frau Ministerin, ich glaube, das hat noch
etwas Zeit. Für eine Gesundheitsreform, deren Inhalte
noch völlig ungeklärt sind und deren gesetzliche Umsetzung noch gänzlich im Nebel liegt, machen Sie bitte
keine Öffentlichkeitsarbeit.
({12})
Frau Kollegin, Sie denken an Ihre Zeit?
Frau Ministerin, es geht nicht darum, das Gesundheitssystem mehr schlecht als recht am Leben zu erhalten, sondern es geht jetzt darum, es endlich wieder auf
stabile und gesunde Beine zu stellen.
({0})
Vielen Dank.
({1})
Ich erteile das Wort der Kollegin Annette WidmannMauz, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Die Schlagzahl der Meldungen über die Inhalte einer
möglichen Gesundheitsreform nimmt seit dem vergangenen Wochenende spürbar zu.
({0})
Das Interesse an der bevorstehenden Reform ist groß,
nicht zuletzt, weil die Proteste der Ärzte der Gesundheitspolitik zusätzliche Aufmerksamkeit beschert haben.
Noch größer sind allerorten die Erwartungen an das
Ergebnis einer Reform. Während sich Union und SPD
auf ihre Konzepte berufen, hoffen die Versicherten auf
die Aufrechterhaltung einer auch im internationalen Vergleich qualitativ hochwertigen Versorgung ohne weitere
finanzielle Belastung.
Die Ärzteschaft fordert ein Ende des Verfalls der
Punktwerte und drängt auf eine angemessene Honorierung ihrer Leistungen sowie auf den Abbau von
Bürokratie im Gesundheitswesen. Die gesetzlichen
Krankenkassen verlangen nach stabilen Finanzierungsgrundlagen. Die privaten Krankenkassen sorgen sich um
die Erhaltung und die Finanzierbarkeit ihres Systems.
Die Industrie hofft, dass der Standort Deutschland
wieder ein Innovationsmotor wird und dass der Gesetzgeber in Zukunft nicht nur zu weiteren Maßnahmen zur
kurzfristigen Kostendämpfung greift, weil er damit die
unternehmerische Planungssicherheit gefährdet.
Sie sehen: Der Bogen ist weit gespannt, und ich habe
noch gar nicht alle, die in diesem System eine Rolle
spielen, erwähnt. Es ist die große Kunst, die Vielzahl der
Akteure und ihre unterschiedlichen Interessen unter einen Hut zu bringen. Zugegeben, dieses Kunststück ist
bei jeder Gesundheitsreform zu vollbringen. Dieses Mal
geht es aber um wesentlich mehr.
Seit Jahren wachsen die Ausgaben schneller als die
Einnahmen. Seit einigen Jahren müssen wir sogar feststellen, dass die Einnahmen wegen der anhaltend hohen
Arbeitslosenzahlen, wegen der rückläufigen Zahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse und
wegen einer steigenden Zahl von Rentnern regelrecht
wegbrechen. Die Frage ist daher, ob es uns gelingt, die
gesetzliche Krankenversicherung aus ihrer einseitigen
Anbindung an Löhne und Gehälter zu befreien, damit
endlich wieder mehr Arbeitsplätze in Deutschland entstehen können und die gesetzliche Krankenversicherung
auf ein stabiles Fundament gestellt wird.
Die nächste Frage betrifft die Entwicklung der Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung. Der medizinisch-technische Fortschritt ist für viele kranke
Menschen ein Segen; er bedingt aber einen Ausgabenzuwachs. Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität ignoriert
im Grunde diese Dynamik. Deshalb muss bei einer anstehenden Reform politisch auch entschieden werden, ob
der Gesundheitssektor als Wachstums- und Beschäftigungssektor erschlossen werden soll und wie dies ohne
zusätzliche Belastungen bei den Lohnnebenkosten geschehen kann.
({1})
Wenn die Wachstums- und Beschäftigungspotenziale
im Gesundheitswesen gehoben werden, wird dies zur
Schaffung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse und zu einer Verbesserung der Einnahmesituation der öffentlichen Haushalte beitragen.
Vor allem ist dies aber die Voraussetzung dafür, eine
qualitativ hochwertige Versorgung weiterhin zu gewährleisten.
Die große Koalition sollte eigentlich in der Lage sein,
auf die genannten Fragen Antworten zu finden.
({2})
Seit Jahren wird ein Reformstau beklagt. Die Europäische Kommission drängt auf die Einhaltung der
Maastrichtkriterien und dabei auf Reformen auch im
Feld der Sozialpolitik. Die große Koalition hat es jetzt in
der Hand, eine Gesundheitsreform zu gestalten, die
- wie es die „Bild“-Zeitung heute formuliert - „länger
hält als von zwölf bis Mittag.“
({3})
Daher sollte sich für uns eine Verständigung auf den
kleinsten gemeinsamen Nenner verbieten.
CDU, CSU und SPD sind Volksparteien, bei denen
auch parteiintern um den richtigen Weg gerungen wird.
Deshalb sind sie in der Lage, einen Weg zu finden, der
den Herausforderungen, vor denen unser Gesundheitswesen steht, gerecht wird und gleichzeitig einen breiten
gesellschaftlichen Konsens widerspiegelt.
Die gesetzliche Krankenversicherung hat nach den
jetzt vorliegenden vorläufigen Finanzdaten im Jahr 2005
einen Überschuss von rund 1,8 Milliarden Euro erzielt.
Auch im Jahr 2006 kann wegen der Anhebung des Bundeszuschusses für die versicherungsfremden Leistungen
um weitere 1,7 Milliarden Euro auf 4,2 Milliarden Euro
damit gerechnet werden, dass die gesetzliche Krankenversicherung mit einer schwarzen Null abschließt. Dennoch werden Beitragssatzsenkungen kaum realisiert
werden. Rein rechnerisch sind immerhin noch circa
78 Kassen verschuldet.
Ich hoffe sehr, dass das Sparpaket, das derzeit im
Vermittlungsausschuss liegt, zügig verabschiedet werden kann, damit die gesetzliche Krankenversicherung in
diesem Jahr nicht ins Defizit rutscht. Mit jeder weiteren
zeitlichen Verzögerung verliert das Gesetz an finanzieller Wirkungskraft. Die zügige Verabschiedung des Arzneimittelsparpakets ist auch notwendig, damit wir die
Gesundheitsreform mit Sorgfalt und in Ruhe vorbereiten
können und nicht zu kurzfristigen Maßnahmen gezwungen werden.
({4})
Uns allen ist bewusst, dass der gesetzlichen Krankenversicherung bereits im Jahr 2007 wieder rote Zahlen
drohen. Allein durch die Maßnahmen im Haushaltsbegleitgesetz müssten die Beiträge um 0,5 Beitragssatzpunkte steigen. Handlungsbedarf ist also klar vorhanden.
In den letzten Tagen ist viel darüber geschrieben worden, was man alles tun könnte, um die Probleme zu lösen: Ein Gesundheitssoli ist ins Gespräch gebracht worden; es war die Rede von einem Dreisäulenmodell, bei
dem die Versicherten neben einem einkommensabhängigen auch einen Pauschalbeitrag leisten sollen, und man
hörte immer wieder, die private Krankenversicherung
solle am Finanzausgleich der Kassen beteiligt werden.
All diese Vorschläge sind mehr oder weniger gut geeignet, das Publikum zu unterhalten. Mit den Inhalten der
Reform haben sie aber nichts zu tun. Die Gespräche über
die Reform werden von den Koalitionsspitzen erst morgen aufgenommen. Letztlich ist entscheidend, in welchem Gesundheitssystem die Instrumente - sie sind alle
bekannt - zur Anwendung gelangen; denn danach bemisst sich ihre Wirkung.
Der Union kommt es bei der anstehenden Reform
vor allem darauf an, dass von ihr Effekte für mehr
Wachstum und Beschäftigung ausgehen. Das muss unser
wichtigstes Ziel sein.
({5})
Darüber hinaus muss die Finanzierungsreform einen
Beitrag zur Nachhaltigkeit und damit zur Demografieresistenz der gesetzlichen Krankenversicherung leisten.
Der Wandel der Erwerbsbiografien und die abnehmende
Bedeutung von Erwerbseinkommen als Ausdruck wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit führen zu Veränderungen
in der Struktur der Einkommen und damit eben auch der
Einnahmebasis der gesetzlichen Krankenversicherung.
Die Lösung ist eine Erfassung der wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit auf breiterer Basis. Starke Schultern
müssen sich an der Finanzierung der Solidarität stärker
beteiligen als schwache.
({6})
Wir brauchen auch mehr Freiheit im System.
({7})
- Beifall von der FDP hören wir gerne. - Aus Sicht der
Versicherten bedeutet das mehr Wahlmöglichkeiten hinsichtlich des Leistungsumfangs.
({8})
Aus Sicht der Leistungsanbieter und der Kostenträger
bedeutet das mehr Vertragsfreiheit. Das darf aber nicht
zu einer Schwächung der Freiberuflichkeit führen, sondern muss zu einer Stärkung der Versorgung - auch über
die Sektorengrenzen „ambulant“ und „stationär“ hinweg - führen.
Mit dem Gesundheitsstrukturgesetz haben wir ab
1993 den Weg für mehr Wettbewerb in der gesetzlichen
Krankenversicherung geebnet. In Zukunft muss es bei
dem Wettbewerb aber nicht nur um die Beitragshöhe,
sondern auch um Qualität und Leistungen gehen. Damit
leistet der Wettbewerb einen nachhaltigen Beitrag zur
Steigerung der Effizienz des Systems. Intransparente
Strukturen werten Leistungsanstrengungen ab und befördern mangelndes Kostenbewusstsein. Damit müssen wir
Schluss machen; denn diese Strukturen schwächen die
Wahrnehmung der jeweiligen Verantwortung und behindern die Erschließung von Innovationen für die Patienten. Unser Ziel muss sein, das Kostenbewusstsein zu
schärfen und die Eigenverantwortung zu stärken.
Schließlich muss eine Reform auch den Anforderungen der Globalisierung, den offenen Dienstleistungsmärkten und der gestiegenen Morbidität der Menschen
Rechnung tragen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einige Worte zu
den Ärzteprotesten der vergangenen Tage sagen. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat Verständnis für die
Proteste der Ärzte. Die zentralen Forderungen nach einer
angemessenen Honorierung mit festen Preisen und einer
Entbürokratisierung der medizinischen Versorgung finden unsere Zustimmung.
({9})
Wir haben bereits in den zurückliegenden Verhandlungen zum GKV-Modernisierungsgesetz das Ende der
Budgetierung und damit der fallenden Punktwerte
durchgesetzt.
Allerdings ist es der Selbstverwaltung nicht gelungen,
die Vorarbeiten für die morbiditätsorientierten Regelleistungsvolumina rechtzeitig abzuschließen. Daher wird
die Budgetierung noch nicht - wie es im Gesetzentwurf
formuliert wurde - zum Jahresende erfolgen können.
Der Union liegt ungeachtet dessen daran, dass Ärzte
künftig nicht mehr das Morbiditätsrisiko tragen. Deshalb wollen wir eine Honorierung der ärztlichen Leistungen mit festen Eurobeträgen. Denn wer Ärzten für ihre
schwierige und verantwortungsvolle Arbeit die dafür angemessene Honorierung verweigert, der schadet der medizinischen Versorgung aller Patienten.
({10})
Wir wollen darüber hinaus die Auflagen und Reglementierungen, die zu mehr Bürokratie geführt haben,
überprüfen und vor allen Dingen entschlacken. Die Vorschläge der Bundesregierung für den Bürokratieabbau
auch im Gesundheitswesen werden von uns nachdrücklich unterstützt. Frau Schmidt, da haben Sie unsere volle
Unterstützung, insbesondere was die Disease-Management-Programme betrifft. Sie gehören auf den Prüfstand. Denn die aufwendigen Dokumentationspflichten
sind erst aus der Verknüpfung mit dem Risikostrukturausgleich entstanden. Wir wollen die Entkopplung von
den Disease-Management-Programmen erreichen.
Ich denke, es wird deutlich, dass wir die Anliegen der
Ärztinnen und Ärzte aufgreifen und dass wir hohen
Respekt vor ihrer verantwortungsvollen Aufgabe haben.
Umgekehrt erwarten wir aber auch, dass die Proteste
nicht auf dem Rücken der Patientinnen und Patienten
ausgetragen werden. Wir haben kein Verständnis dafür,
wenn einzelne Ärzte zum Beispiel krebskranken Menschen, die teure Zytostatika benötigen, das Rezept mit
dem Hinweis aushändigen, dieses Rezept müsse der Patient künftig selbst bezahlen, falls es zu einer Bonus-Malus-Regelung komme. Dies ist aus unserer Sicht eine
nicht zu verantwortende Verunsicherung der Patientinnen und Patienten.
({11})
Denn es steht noch überhaupt nicht fest, welche Wirkstoffe betroffen sein werden und ob die Bonus-MalusRegelung überhaupt zum Einsatz kommt, wenn die
Selbstverwaltung vor Ort keine anderweitigen Vereinbarungen trifft. Mit einem solchen Verhalten wie auch mit
der Drohung der Rückgabe der KV-Zulassung schaden
sich die Ärzte selbst.
Ich hoffe, dass wir sehr bald zu einer sachlichen Diskussion zurückkehren. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion biete ich die Gesprächsbereitschaft an. Ich freue
mich auf die Diskussionen über den Haushalt und eine
große Reform.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Frank Spieth, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin! Finanzminister Steinbrück hat in seiner heutigen Einbringungsrede zum Bundeshaushalt 2006 angekündigt, sich als Finanzpolitiker mit den Ausgaben der
gesetzlichen Krankenversicherung verantwortungsvoll
befassen zu wollen. Aus langjähriger Erfahrung weiß
ich: Wenn sich Finanzpolitiker mit den sozialen Sicherungssystemen befassen, muss man dies eher als eine
Kampfansage und Bedrohung empfinden denn als ein
sozial verträgliches Angebot zur Lösung der Probleme in
der gesetzlichen Krankenversicherung.
Mit der Erhöhung der Zuzahlung bei Arzneimitteln,
der Eintrittsgebühr bei Ärzten und Zahnärzten, der Erhöhung der Zuzahlung bei Krankenhausaufenthalten und
Kuren, der Abschaffung des Zuschusses für Brillen, der
Abschaffung des Sterbegeldes und vielen weiteren Maßnahmen haben Gesundheitsministerin Schmidt, Herr
Seehofer und die damals noch nicht existierende große
Koalition massiv in das Leistungsangebot bei Krankheit
eingeschnitten und versucht, über Kostendämpfung, also
auf der Ausgabenseite, die Probleme in den Griff zu bekommen. Die Krankengeldzahlung und der Zahnersatz
sind zwar als Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung verblieben, müssen aber von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie von den
Rentnerinnen und Rentnern alleine mit 0,9 Prozent Sonderbeitrag finanziert werden. Vor diesem Hintergrund
sage ich: Das Maß ist voll.
({0})
Kein weiterer Leistungsabbau und keine weiteren
Zuzahlungen mehr, jedenfalls nicht mit uns! Mit der bisherigen Politik wurden Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Geringverdiener und Rentner mit kleinen Renten
zum Teil von der Gesundheitsversorgung abgehängt.
Aber die gesetzliche Krankenversicherung ist genau dafür da, allen Menschen bei Krankheit die erforderlichen
und zweckmäßigen Leistungen zur Verfügung zu stellen,
unabhängig davon, wie viel Geld sie im Portemonnaie
haben.
({1})
Wir haben es gemeinsam in der Hand. Wenn wir es
politisch wollen - ich sage Ihnen: viele Menschen in
Deutschland wollen dies -, dann können wir eine gesetzliche Krankenversicherung schaffen, die gesund und
nicht krank macht. Eine gesunde Krankenversicherung
ist machbar, wenn wir das eigentliche Problem anpacken: das Einnahmeproblem.
Die seit fast 30 Jahren bestehende Massenarbeitslosigkeit in Deutschland und die völlig verfehlten Rezepte
zu ihrer Überwindung haben die Einnahmebasis der gesetzlichen Krankenversicherung nachhaltig beschädigt.
Darüber hinaus gehen der gesetzlichen Krankenversicherung erhebliche Einnahmen verloren: durch ständige
Kürzungen der Beitragszahlungen für Arbeitslose, durch
den Verlust sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze
und die Zunahme von Minijobs, durch die stagnierenden
Löhne und Gehälter, die Streichungen von Sonderzahlungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld und durch den
Wechsel von gut Verdienenden zur privaten Krankenversicherung.
({2})
Der Einnahmeverlust der Krankenkassen wird jetzt
noch zusätzlich durch die Tatsache verschärft, dass Rentenerhöhungen seit 2004 faktisch unterblieben sind. Dies
trifft insbesondere Krankenkassen mit hohem Rentneranteil.
Angesichts dieser Tatsache ist es aus unserer Sicht geradezu unverantwortlich, dass die Bundesregierung beabsichtigt, die Einnahmen aus der erst im Jahre 2004 beschlossenen Erhöhung der Tabaksteuer - mit diesen
Einnahmen sollten ja versicherungsfremde Leistungen
wie solche rund um Schwangerschaft und Mutterschutz
finanziert werden - im kommenden Jahr zum Teil und
ab 2008 komplett zur Sanierung des Bundeshaushalts
einzukassieren. Das Vertrauen in die steuerliche Finanzierung der nicht beitragsgedeckten Leistungen der
Krankenkassen wird damit nachhaltig erschüttert.
Die Absicht des Kollegen Lauterbach - ich vermute,
das ist nicht nur seine persönliche Meinung -, für die
Krankenversicherung der Kinder, die bisher beitragsfrei mitversichert waren, eine Steuerfinanzierung einzuführen, hat vor diesem Hintergrund für die Finanzausstattung der Krankenkassen und die Solidarität die
Langzeitwirkung eines gefährlichen Blindgängers. Dadurch wird eher die private Krankenversicherung gestärkt.
({3})
Wir haben volles Verständnis dafür, dass über die
Krankenversicherung der Kinder und ihre Finanzierung
diskutiert und entschieden wird. Allerdings fragen wir
Sie: Wo bleiben bei Ihren Vorschlägen die bisher beitragsfrei mitversicherten Angehörigen? Millionen
Frauen, die über kein eigenes Einkommen verfügen, verschwinden in dieser Debatte gleichsam im Bermudadreieck. Für Frau Müller in Rostock, Frau Schmidt in Konstanz, Frau Meier in Erfurt und Frau Schulz in
Saarbrücken gilt eines gleichermaßen: ohne Arbeit kein
Einkommen und ohne Einkommen keine eigene Krankenversicherung.
({4})
Denn diese Frauen haben nicht, wie Frau Ackermann,
einen vermögenden Ehemann. Sie benötigen auch weiterhin den solidarischen Krankenversicherungsschutz
der Versichertengemeinschaft. Das Vertrauen in die
Steuerfinanzierung könnte unserer Meinung nach relativ einfach hergestellt werden:
Erstens. Die Bundesregierung hält an dem Vorhaben
der Finanzierung versicherungsfremder Leistungen aus
der erhöhten Tabaksteuer fest und nutzt diese nicht zur
Sanierung des Haushalts.
Zweitens. Für die Bezieher des Arbeitslosengeldes I
und II werden, wie bis 1995, wieder Beiträge auf der
Grundlage des ursprünglichen Bruttoentgeltes entrichtet.
Außerdem unterbleibt die Absenkung der Sozialabgaben
für Hartz-IV-Empfänger.
Drittens. Die Bundesregierung erhöht nicht, wie geplant, die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte auf
19 Prozent, sondern reduziert sie für Medikamente auf
7 Prozent.
({5})
Mit diesen vertrauensbildenden Maßnahmen wäre in
diesem Hause eine offene Debatte über die Zukunft der
Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung
möglich.
Wir benötigen eine solidarische und soziale Bürgerversicherung, die einen umfassenden Gesundheitsschutz
gewährleistet. Dafür ist von jedem und jeder und von allen Einkommensarten der gleiche prozentuale Beitrag zu
entrichten.
({6})
Nur so sind Solidarität und Gerechtigkeit zwischen Gutund Geringverdienern und zwischen Gesunden und
Kranken zu gewährleisten.
Schönen Dank.
({7})
Das Wort hat nun die Kollegin Anja Hajduk,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, wenn man sich die
Zahlen ansieht, dann erkennt man einen dramatischen
Absturz ab 2005. Ihr Haushalt 2005 umfasste 84 Milliarden Euro, in diesem Jahr enthält er 4,5 Milliarden Euro,
im nächsten Jahr werden es noch 1,9 Milliarden Euro
sein und bis zum Ende der Legislaturperiode wird er auf
360 Millionen Euro heruntergefahren.
({0})
Man könnte ja denken: So stark sollten wir die Frau
Schmidt gar nicht entlasten. Jetzt geht das alles auf die
Schultern von Minister Müntefering. Ich will sagen: Bei
der Beratung dieses Haushalts stellen wir hier eine große
Veränderung fest.
Eines einmal vorneweg: Es gibt die große Koalition
und die gewählte Kanzlerin Merkel hat natürlich die
Organisationshoheit. Sie kann sagen: Wir machen aus
ehemals zwei Ministerien drei, weil wir sie in der Koalition brauchen. Wir von der Opposition werden sehr genau hinschauen, wie teuer der Spaß ist. Es gibt wirklich
kein Pardon, wenn beim Personal, bei den Mieten, bei
den Umbauten und bei den Umsetzungen zu hohe Kosten entstehen. Wir werden die Haushaltsseite sehr genau
unter die Lupe nehmen. Ich bin mir sicher, dass das die
Regierungskoalition natürlich auch tut.
({1})
- Auch bei Herrn Müntefering ist das sehr viel, jetzt sind
wir aber bei Frau Schmidt, die auch 18 zusätzliche Stellen bekommen hat.
Der zweite Punkt, der wirklich sehr wichtig ist und
den ich ins Zentrum dieser Rede stellen will, ist die Entwicklung des Budgets von derzeit 4,5 Milliarden Euro
über zwei Jahre hinweg auf 360 Millionen Euro, also das
vollkommene Abschmelzen des steuerfinanzierten Beitrags für die versicherungsfremden Leistungen.
({2})
Das ist heute Morgen bei der Auseinandersetzung mit
Finanzminister Steinbrück schon Thema gewesen. Ich
finde, die große Koalition macht hier einen kapitalen
Fehler. Sie legen den Rückwärtsgang ein.
Frau Ministerin, ich finde es in Ordnung, dass Sie lachen,
({3})
weil ich weiß, dass wir Ihre Position vielleicht eher unterstützen, ohne dass Sie jetzt reden oder mir laut antworten können; ich will nicht zu weit gehen. In einer Situation in Deutschland, in der wir eine höhere
Steuerfinanzierung der versicherungsfremden Leistungen brauchen, ist es ein kapitaler Fehler, hier den
Rückwärtsgang einzulegen und zu meinen, man
bräuchte einfach nur Druck aufs System auszuüben.
({4})
Ich will das begründen: Druck aufs System wollen
auch wir Grünen ausüben. Wir glauben, dass es noch Reformen auf der Angebotsseite bedarf. Ich will aber nicht
einfach nur so Druck auf eine große Koalition ausüben,
die sich dann im Zweifel nicht einigt. Wer zahlt dann
den Preis? Das sind die Menschen, die dann auf dem Beschäftigungsmarkt wegen zu hoher Lohnnebenkosten
schlechtere Chancen haben. Sie setzen sich unter einen
Zeitdruck; denn die Gesundheitsreform soll nicht nur bis
zum 1. Januar 2007 verabredet sein, sondern sie soll ab
dem 1. Januar 2007 finanziell greifen. Sie kürzen hier
letztlich zulasten der Beschäftigungschancen. Das halten
wir für einen grundsätzlichen Fehler. Nicht, weil wir den
Haushalt nicht in Ordnung bringen wollen, sondern weil
es Sinn macht, sind wir bereit, die Steuerfinanzierung
versicherungsfremder Leistungen - sie sind ja auch definiert worden - auch im Gesundheitsbereich vorzunehmen. Hier ist die große Koalition auf einem ganz falschen Trip.
({5})
Ich möchte durchaus auch auf den Streit eingehen,
den wir im letzten Jahr im Haushaltsausschuss hatten.
Der Haushaltsausschuss hat sich mit der Akzeptanz der
Bereitstellung der Steuergelder in Höhe von mehreren
Milliarden Euro schwer getan. Das war auch in meiner
Fraktion durchaus ein Thema. Das will ich hier nicht
leugnen. Wir haben uns aber eher darüber auseinander
gesetzt, dass die steuerliche Gegenfinanzierung nicht gesichert ist. Wir haben uns also nicht so sehr über die
grundsätzliche Steuerfinanzierung geärgert bzw. diese
auch ausdrücklich nicht kritisiert.
Wir haben eine Tabaksteuerreform durchgeführt,
die nur zum Teil Erfolg hatte.
({6})
Am Anfang hat sie auch aufgrund von Ausweichreaktionen zu Mindereinnahmen geführt. Wir wissen heute,
dass wir etwas ausgelassen haben, nämlich die Besteuerung der so genannten Sticks. Erst durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes lassen wir uns
jetzt endlich dazu treiben, hier zu einer vernünftigen
Ausweitung der Besteuerung zu kommen. Wir Grünen
werden an dieser Stelle darauf drängen - das wird jetzt
ja wohl durch eine Verordnung geschehen -, dass die
steuerlichen Ausnahmetatbestände dort beseitigt werden. Das wird - ich will nicht zu optimistisch sein und
gleich mehr als 2 Milliarden Euro versprechen - vielleicht zu 1 bis 1,5 Milliarden Euro Mehreinnahmen führen. Solche steuerlichen Mehreinnahmen, die nicht
zweckgebunden sind, sollten dazu dienen - ich sehe, Sie
nicken -, versicherungsfremde Leistungen im Gesundheitsbereich zu finanzieren.
({7})
Meine allerletzte Bemerkung zur Gesundheitsreform.
Mir bleibt nicht die Zeit, darauf lange einzugehen, weil
meine Redezeit eigentlich abgelaufen ist. Bei aller Unterstützung einer Finanzierung durch Steuermittel für die
soziale Sicherung: Machen Sie nicht den kapitalen Fehler, die Beiträge für Kinder aus Steuermitteln zu finanzieren, solange es die Trennung von PKV und GKV
gibt.
({8})
Wir Grünen wollen einen gemeinsamen Markt. Wir
wollen keinen Schutzzaun um die PKV, sodass nur bestimmte Leute eintreten können. Wir wollen einen
gleichberechtigten Zugang zu allen Kassen. Dafür muss
die PKV in einen gemeinsamen gesetzlichen Markt
überführt werden. Dann können wir auch über andere
Dinge wie Steuerfinanzierung reden. An dieser Stelle
müssen Sie Acht geben.
Frau Kollegin Hajduk, bitte kommen Sie zum
Schluss.
Ich komme zum Schluss und freue mich auf die weiteren Haushaltsberatungen.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Elke Ferner von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist eben schon einiges zu der Frage der Einnahmeentwicklung der Krankenversicherungen gesagt worden.
Wir sehen, dass die Einnahmeentwicklung seit einigen
Jahren nicht mit der Ausgabenentwicklung Schritt hält.
Das zieht eine Erhöhung der Versicherungsbeiträge nach
sich, die sowohl das verfügbare Einkommen der Versicherten vermindert als auch den Faktor Arbeit zusätzlich
belastet.
Ich sage aber auch zu den Debatten, die wir jetzt führen müssen: Wer glaubt, man könne sich nur auf die Einnahmesituation konzentrieren, springt zu kurz; denn wir
haben auch ein Problem auf der Ausgabenseite.
({0})
- Wir können darüber gleich noch reden. Herr Platzeck
bestreitet das nicht, werter Kollege. Wenn Sie mir aber
nicht glauben und das vertiefen wollen, können Sie
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung bemessen sich an den sozialversicherungspflichtigen Lohn- und Gehaltssummen der Pflichtversicherten
und den Beiträgen der freiwillig Versicherten. Der Anteil
dieser Einkommen am Gesamteinkommen geht allerdings aus den verschiedensten Gründen zurück; auch
dazu ist schon einiges gesagt worden. Gleichzeitig steigt
der Anteil anderer Einkünfte am gesamten Volkseinkommen.
Insofern sage ich: Es ist nicht einzusehen, dass immer
weniger die Beitragsbasis dafür liefern sollen, dass alle
ein vernünftiges und funktionierendes Gesundheitssystem dann vorfinden, wenn sie es brauchen.
({1})
Wir sind der Meinung, dass wir, wenn wir in Zukunft die
notwendige medizinische Versorgung für alle gewährleisten wollen, dafür sorgen müssen, dass sich alle nach
ihrer jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit an
den Kosten des Systems beteiligen.
Der Punkt Tabaksteuer und der damit verbundene
Zuschuss zu den Krankenkassen sind schon diskutiert
worden. Wir als Gesundheitspolitiker und Gesundheitspolitikerinnen sehen das durchaus kritisch; da gibt es
überhaupt kein Vertun. Darüber werden wir mit Sicherheit noch zu reden haben. Aber ein finanzpolitischer
Amoklauf, wie er hier von der linken Seite des Hauses
vorgeschlagen wird, kommt für uns ebenfalls nicht infrage. Mit den Forderungen nach weniger Steuern hier
und mehr Zuschüssen da im Gesundheitsbereich sowie
mehr Investitionen in den anderen Bereichen kämen wir
locker auf eine Verdoppelung des Volumens des Bundeshaushalts. Ein bisschen mehr finanzpolitische Seriosität
hätte ich auf Ihrer Seite des Hauses schon erwartet.
({2})
Zur Kollegin Hajduk möchte ich Folgendes sagen:
Hinsichtlich des Zuschusses - das haben wir im Haushaltsausschuss in den letzten drei Jahren miteinander
diskutieren können - kann ich mir zugute halten, dass
ich zu denjenigen gehört habe, die diesen Entschließungsantrag, den wir damals als Koalition beschlossen
haben, nicht wollten, dass nämlich der Zuschuss gekürzt
wird, wenn die Steuereinnahmen nicht hoch genug sind.
Die Fraktion der Grünen war aber zusammen mit einigen
aus meiner Fraktion an dieser Stelle die treibende Kraft
gewesen.
({3})
Insofern muss ich sagen, liebe Anja Hajduk: Es ist zu
kurz gesprungen, die Kürzung des Zuschusses aus den
Einnahmen der Tabaksteuer zu beklagen und damals an
dem Entschließungsantrag mitgewirkt zu haben.
({4})
- Wenn dem so ist, dann nehme ich das zurück. Aber ich
habe das anders in Erinnerung.
({5})
Zur Ausgabenseite ist festzustellen, dass wir auch die
Strukturen effizienter machen müssen. Für das Gesundheitswesen muss das gelten, was auch für alle anderen
Bereiche gilt: Mit dem vorhandenen Geld muss so gewirtschaftet werden, dass ein verantwortungsvoller Umgang mit den Versichertenbeiträgen bei einer hohen medizinischen Qualität gewährleistet ist.
Was die Ärzteproteste angeht - für die ich in Teilen
Verständnis habe -, kann ich nicht nachvollziehen, dass
sich die Ärzteschaft lediglich die Politik als Sündenbock
ausgeguckt hat. Es mag zwar an der einen oder anderen
Stelle Kritikpunkte geben, aber die Verteilung der Honorare innerhalb der Kassenärztlichen Vereinigungen auf
die einzelnen Ärztegruppen wird ebenso wie die steigenden Arzneimittelausgaben nicht thematisiert. Angesichts
der Tatsache, dass im vergangenen Jahr 3,8 Milliarden Euro mehr für Arzneimittel als für ärztliche Honorare ausgegeben wurden, sollte man sich vielleicht einmal an die eigene Nase greifen. Denn wir Politiker greifen nicht zum Rezeptblock und verschreiben etwas, was
viel oder wenig Geld kostet; das machen die Ärzte. Deshalb haben wir das Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz geschaffen.
({6})
Wer behauptet, es gäbe ein Arzneimittelbudget je Praxis oder eine Mengenbegrenzung je Patient, der hat entweder das Gesetz nicht gelesen oder versucht bewusst,
die Menschen zu verunsichern. Beides sieht das Gesetz
nicht vor; es ist nicht beabsichtigt und es wird nicht eingeführt.
({7})
Insofern rate ich zu mehr Sachlichkeit, als sie derzeit gegeben ist, wo alle nur mehr Geld für das Gesundheitssystem fordern, ohne zu sagen, wie die Mittel aufgebracht
werden sollen. Denn letztendlich müssten es die Versicherten tragen. Alle Forderungen zusammengerechnet
machen locker 1,5 bis 2 Beitragspunkte zusätzlich aus.
Wir haben in den nächsten Wochen auch über die Zukunft des Gesundheitssystems zu diskutieren. Aus unserer Sicht muss das Gesundheitssystem in Zukunft auch
weiterhin die notwendige medizinische Versorgung für
alle auf einem hohen Qualitätsniveau gewährleisten. Es
muss auch solidarischer finanziert werden und demografiefest sein. Ich glaube, dass das Prinzip der Solidarität, wie wir es aus der gesetzlichen Krankenversicherung kennen, nicht gering zu schätzen ist. Es ist kein
marodes System.
({8})
Die privaten Krankenversicherungen könnten die Infrastruktur - auch die ärztliche Versorgung im ambulanten Bereich - nicht ausreichend bereitstellen, wenn alles
über risikoabhängige Prämien finanziert werden müsste.
Das wissen Sie genauso gut wie ich.
({9})
Rechnen Sie doch einfach einmal die Honorare hoch!
Wie viele Milliarden Euro mehr müssten in das Gesundheitssystem fließen, um nur die bestehenden medizinischen Leistungen aufrechtzuerhalten, wenn für alle gesetzlich Versicherten die gleichen Honorare wie für die
jetzt privat Versicherten bezahlt werden müssten?
({10})
Das sind die klassischen Fehlberechnungen, die wir von
Ihrer Fraktion schon kennen.
Ich glaube, das Prinzip, dass die Jungen für die Älteren, die finanziell Starken für die Schwächeren und die
Gesunden für die Kranken einstehen, ist nach wie vor
tragfähig. Fast 90 Prozent der Versicherten beteiligen
sich an diesem System.
({11})
Ich meine, dass wir auch weiterhin an einer solidarischen Finanzierung festhalten müssen, die - wie gesagt - eine erweiterte Beitragsbasis erfordert und sich
vor allen Dingen am jeweiligen Einkommen orientiert
statt an einer Pro-Kopf-Berechnung. Insofern ist dem,
was Matthias Platzeck gestern dargelegt hat, nichts hinzuzufügen.
({12})
Ich möchte noch etwas zu den medizinischen Leistungen anmerken. Wir wollen, dass alle notwendigen
medizinischen Leistungen auf einem hohen Niveau verfügbar sind, und zwar unabhängig davon, ob jemand
jung oder alt, Mann oder Frau ist, wie der individuelle
Gesundheitszustand aussieht, wie hoch das Einkommen
und in welcher Krankenkasse jemand versichert ist. Wir
wollen auch, dass jeder einen Versicherungsschutz hat.
Zu viele Menschen sind nicht mehr krankenversichert.
Das ist ein wachsendes Problem in unserer Gesellschaft,
({13})
das ebenfalls viele Ursachen hat. Es ist für uns ein wichtiger Punkt, den wir auch in der Koalitionsvereinbarung
festgehalten haben.
Frau Kollegin Ferner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Gerne.
Herr Seifert, bitte.
Liebe Frau Kollegin Ferner, können Sie mir bitte einmal erklären, warum Sie - genauso wie viele andere zum x-ten Mal die falsche Behauptung verbreiten, dass
das Solidarprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung darauf beruhe, dass die Jungen für die Alten und
die Starken für die Schwachen einstünden? Denn bei der
gesetzlichen Krankenversicherung geht es ausschließlich
darum, dass die Gesunden für die Kranken einstehen.
Das Besondere an dieser Versicherung ist, dass nicht Alt
gegen Jung ausgespielt wird, sondern dass ausschließlich diejenigen, die gesund sind - die Gesundheit ist
quasi ihre Prämie -, diejenigen finanzieren, die krank
sind. Das ist doch etwas anderes als bei der Rentenversicherung. Dort geht es um das Verhältnis von Alt zu Jung.
Herr Kollege Seifert, alles zusammen ist richtig. Natürlich stehen die Gesunden für die Kranken ein. Aber
auch die Jungen stehen für die Alten ein; denn ältere
Menschen haben einen höheren Bedarf an medizinischen
Leistungen. Zudem sind die Ausgaben für die Älteren
höher und in der Regel sind die Beiträge, die die Älteren
zahlen, geringer. Natürlich stehen in der gesetzlichen
Krankenversicherung auch diejenigen, die ein höheres
Einkommen haben, für diejenigen ein, die ein niedrigeres Einkommen haben. Ich finde, das ist in Ordnung.
({0})
Denn egal wie alt oder jung jemand ist und egal wie viel
er oder sie verdient, niemand, der heute jung und gesund
ist und gut verdient, ist davor gefeit, dass er schon morgen oder übermorgen krank ist, möglicherweise nicht
mehr gut verdient und auf die Hilfe und die Solidarität
anderer angewiesen ist. Ich glaube, in der Sache sind wir
uns einig. Aber Ihre Aussage, dass in der gesetzlichen
Krankenversicherung nur die Gesunden für die Kranken
einstünden, ist sicherlich nicht richtig.
Wir müssen darüber hinaus noch einmal über die Verteilung der Risiken diskutieren. Hier gibt es erhebliche
Unterschiede zwischen der GKV und der PKV, aber
auch innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung.
Die Risiken in der Versichertenstruktur sind nicht nur im
Hinblick auf Alter und Einkommen, sondern auch im
Hinblick auf die Krankheitsbilder unterschiedlich gewichtet. Auch über diesen Punkt werden wir diskutieren
müssen. Bei der Hebung der Effizienzreserven im System müssen wir uns anstrengen. Aber wir dürfen einen
Fehler nicht machen - das sage ich jedem, egal welcher
Fraktion er angehört -: Wenn wir beginnen, hier zu wackeln, und auch nur vor einer Lobbygruppe einknicken,
dann haben wir alle zusammen schon verloren. Ich wünsche uns viel Rückgrat und Mut bei der bevorstehenden
Reform.
In der mir verbleibenden Zeit möchte ich noch einen
weiteren Punkt ansprechen. Die Kollegin von der FDP
hat darauf hingewiesen, dass Ulla Schmidt an dem morgigen Gespräch nicht teilnimmt. Die Situation ist, dass
wir einen Teil des Koalitionsvertrages noch nicht ausverhandelt haben.
({1})
Schon bei den ersten Gesprächen haben sich nur die
Spitzen der Parteien getroffen.
({2})
Ulla Schmidt wird bei den anstehenden Verhandlungen
auf jeden Fall eine wichtige Rolle spielen; das ist ganz
normal. Aber es ist auch kein unnormaler Vorgang, dass
bei den ersten Sondierungsgesprächen nur die Fraktionsund Parteivorsitzenden miteinander reden.
Zum Abschluss wünsche ich uns, dass wir über die
Frage, wie die Reform des Gesundheitssystems weitergehen soll, gut diskutieren und hoffentlich zu belastbaren und nachhaltigen Ergebnissen kommen werden. Ich
freue mich auf die Diskussionen, insbesondere auf die
alternativen Konzepte von der linken und der rechten
Seite des Hauses.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Konrad Schily von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Frau Ministerin! Meine Damen und
Herren! Es ist ein uralter ärztlicher Grundsatz, dass der
liebe Gott vor die Therapie die Diagnose gestellt hat. Die
Erkennung von Symptomen reicht da nicht. Symptome
haben nur hinweisenden Charakter, was die eigentliche
Diagnose, die Krankheit, angeht. Wenn ich als Arzt
symptomatisch therapiere, also die Symptome behandle,
ist dies ärztlich nur vertretbar, wenn ich weiß, dass die
Diagnose, die Krankheit, zum Tode führen wird. Das
heißt, ich kann dem Patienten das Leiden erleichtern,
zum Beispiel die Schmerzen nehmen. Wir nennen das
Palliativmedizin.
Welches sind die Symptome unseres Gesundheitssystems? Tausende von Ärzten sind in den vergangenen
Wochen auf die Straße gegangen; am Freitag der letzten
Woche waren es 30 000 hier in Berlin. Sie leiden unter
einer immer weiter wachsenden Last von Bürokratie. Sie
wissen nicht, ob die von ihnen erbrachte Leistung überhaupt bezahlt werden wird, und sie wehren sich dagegen,
Gehilfen einer staatlichen Rationierungspolitik zu werden - wie Ärztekammerpräsident Hoppe es formuliert
hat.
({0})
Das Gesundheitssystem scheint unaufhaltbar immer
teurer zu werden. In wechselnder Reihenfolge wurden
die verschiedenen Beteiligten in der Vergangenheit verantwortlich gemacht, das heißt: zur Kasse gebeten, und
werden dies wohl auch in der Zukunft; ich kann das
beurteilen. Einmal waren es die Krankenhäuser - mit
diagnosebezogenen Fallpauschalen und Budgetierungen -, dann waren es die Ärzte, denen ebenfalls Budgets
verordnet wurden, dann wurden die Patienten mit einer
Praxismaut, einer Gebühr von 10 Euro für das Betreten
einer ärztlichen Praxis, belegt.
({1})
Das jüngste dieser Instrumente ist das „Arzneimittelverordnungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz“. Es wird nicht zu
der beabsichtigten Kostenreduktion, sondern zu noch
mehr Bürokratie und sicherlich auch zu einer erheblichen Störung des Arzt-Patient-Verhältnisses führen.
Bisher gab es bei den zahllosen Reformen der Vergangenheit nur einen Gewinner: die ausufernde Bürokratie
und die aus dem Misstrauen geborenen Kontrollinstrumente. Beide kosten Geld und verteuern das System.
({2})
Über Patienten und kranke Menschen wird schon lange
nicht mehr gesprochen. Es heißt inzwischen sogar „Gesundheitskasse“, nicht mehr „Krankenkasse“. Im Vordergrund der Debatte steht immer das Geld, das nicht
reicht. So hören wir jetzt wieder die scheinmoralische
Rhetorik derer, die über eine Zweiklassenmedizin klagen
und damit eigentlich aussagen wollen, dass es noch
Menschen gebe, denen man in die Tasche greifen kann.
Ziel dieser Rhetorik ist es, auf die so genannten Reichen
mit dem Finger zu zeigen, also auf die 10 Prozent privat
Versicherten, die oft bis zu 40 Prozent der Kosten in den
Praxen decken. Damit will man davon ablenken, dass
man auch in den Taschen der gesetzlich Versicherten
schon wieder herumfingert nach jedem Euro, der vielleicht noch zu holen ist.
({3})
Das nennt sich dann „Gesundheitssoli“ und/oder „eine
pauschale Abgabe für jeden Einzelnen“. Dem Bürger
wird also immer mehr Geld aus der Tasche gezogen und dafür werden ihm die Leistungen auch noch gekürzt! Das System ist so angelegt, dass die Einzelnen
möglichst wenig mitmachen können und, mit Verlaub,
für dumm verkauft werden.
({4})
Die Einzelnen können nicht erkennen, was für Kosten
sie verursachen, was also die ärztliche Behandlung kostet und was sie für die hohe Bürokratie an die Kassen zu
zahlen haben. Ein Kostenbewusstsein der Einzelnen
kann sich so nicht herausbilden. Was den Einzelnen
bleibt, ist das ungute Gefühl, für relativ wenig Leistung
immer mehr bezahlen zu dürfen.
({5})
So weit die Symptome.
Und was ist die Diagnose? Es ist uns in Deutschland
gelungen, ein System, das für 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung entworfen wurde - nämlich für die, die sich
aus eigener Kraft, gleich aus welchem Grund, nicht absichern können -, auf 90 Prozent der Bevölkerung auszudehnen. Wir haben damit in großem Maßstabe nichts anderes bewiesen, als dass der Staat den Bürgern nicht
mehr zurückgeben kann als das, was er ihnen zuvor genommen hat - und dies abzüglich der Kosten für die Bürokratie; Herr Koppelin hat das heute Morgen bereits gesagt. Wir haben weiter bewiesen, dass unfreie
bürokratische Systeme weder sozial noch effektiv noch
kostengünstig sind,
({6})
dass sie den Bürger zu entmündigen trachten und seine
freie Entscheidung durch staatliche Maßregeln ersetzen.
Verehrte Kollegen, insbesondere von der CDU/CSU,
bevor Sie zustimmen, dieses Zwangskollektiv auf
100 Prozent auszudehnen,
({7})
erinnern Sie sich an die Väter der sozialen Marktwirtschaft und bedenken Sie, dass Wohlstand und sozialer
Zusammenhang in gegliederten und freien Systemen
entstehen und nicht in staatlichen Großbürokratien.
({8})
Der Staat kann nicht mehr ausgeben, als er einnimmt.
Eines muss klar sein: Die Richtungsentscheidung, die
ansteht, heißt: entweder freie Berufe im Gesundheitswesen oder staatliche Erfüllungsorgane;
({9})
entweder freie, eigenverantwortliche Bürger oder deren
Gängelung - unter dem Deckmantel der Fürsorge und
der Solidarität - durch Gesetze, Verordnungen und Maßregeln; entweder eine Preisbildung zwischen überschaubaren Versichertengemeinschaften oder eine staatliche
Versicherungsbürokratie; entweder gezielte Hilfen für
diejenigen, die sich aus eigener Kraft keine Gesundheitsversorgung leisten können, oder eine Umverteilung nach
dem Gießkannenprinzip - mit den bekannten Ungerechtigkeiten.
Die FDP steht für Freiheit, Solidarität, Eigenverantwortung und Wettbewerb. Nicht dieses Parlament und
keine Regierung, gleich welcher Couleur, sind die Ärzte
der Nation und sie haben kein Recht, unser Leben vormundschaftlich zu gestalten.
({10})
Diese Auffassung, auch wenn sie leider nicht häufig
Mehrheitsmeinung war, gehört zur vornehmsten Tradition der europäischen Aufklärung.
Verabschieden wir uns von der alles durchdringenden
Bevormundung durch den Staat, hier besonders im Gesundheitswesen! Achten wir die freien Berufe und vertrauen wir der Individualentscheidung des Bürgers für
seine Vorsorge und seine individuelle Lebensweise! Unsere Pflicht als Parlamentarier ist es, den Rahmen einer
freien Entwicklung zu schaffen und zu garantieren. Damit würden die Mittel frei werden, um den Schwachen in
der Gesellschaft wirklich zu helfen. In einem freien Gesundheitswesen ist Platz für Therapiefreiheit, für Zuwendung dem wirklich Hilfsbedürftigen gegenüber.
Nicht zuletzt wird es wieder Raum geben für ein Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Therapeut, ohne
das - auch dies gehört zum gesicherten Kernbestand unseres Wissens - eine Heilung zwar nicht unmöglich, aber
sehr erschwert wird.
Zurück zum Anfang: Vor der Therapie kommt die
Diagnose. Ich hoffe, die Koalition bringt den Mut zur
ehrlichen Diagnose auf und wird sich nicht als Kurpfuscher betätigen, der versucht, sich mit symptomatischer
Behandlung über die Zeit zu retten.
Ich danke Ihnen.
({11})
Herr Kollege Schily, ich gratuliere Ihnen im Namen
des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Norbert Barthle von
der CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Verehrte Frau Ministerin! Herr Kollege Schily, auch ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Jungfernrede, wenngleich ich gestehen will, dass mir dieser Begriff aus Respekt vor Ihrer Person und Ihrem Lebensalter
nur schwer über die Lippen geht. Aber dennoch: Ich gratuliere von Herzen.
({0})
In einem haben Sie Recht: Die anstehende Gesundheitsreform erfordert von uns allen, den Spagat zwischen
Markt und Menschlichkeit zu leisten. Ich darf Ihnen versichern: Wir von der großen Koalition werden es schaffen, eine Reform zu machen, die Markt und Menschlichkeit unter einem Vorzeichen vereinigt.
({1})
Wir müssen an dieser Stelle aber auch ehrlich sein. Verehrte Frau Ministerin, wenn wir auf die vergangenen
Jahre zurückblicken, auch die vor Ihrer Regierungszeit,
dann stellen wir fest, dass unter immer größerer öffentlicher Begleitmusik mehrfach reformiert wurde. Viele der
Reformen haben sich mit dem Attribut „groß“ geziert,
ohne auch nur mittelfristig, geschweige denn langfristig
eine wirklich nachhaltige Besserung zu erzielen. Deshalb wird es Aufgabe der großen Koalition sein, die
wirklich notwendige Neuorientierung für die kommenden Jahre in Gang zu bringen. Das ist die große Herausforderung.
Deshalb erfüllt es mich mit Zuversicht, dass sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der Ministerin getroffen
hat und in dieser Woche die Koalitionsspitzen zusammentreten. Herr Müntefering, selbst wenn es etwas länger dauern sollte, aus den recht unterschiedlichen Konzepten einen zukunftsfähigen Wurf zu basteln, so sage
ich Ihnen: Nehmen Sie sich die Zeit! Das Motto der großen Koalition lautet: Qualität geht vor Geschwindigkeit. - Das muss unser Markenzeichen sein. Daran sollten wir uns halten.
({2})
Ich kann als CDU-Abgeordneter aus Baden-Württemberg sagen: Die Landtagswahlen sind vorüber und wir
sind mit dem Ergebnis höchst zufrieden. Also: Ran ans
Werk! Es stehen neue Themen an.
({3})
Schauen wir uns den Einzelplan 15 genauer an, so
fällt mir als Haushälter gleich eine kleine Besonderheit
auf. Obwohl das Bundesgesundheitsministerium nach
der Trennung vom Bereich Arbeit und Soziales wieder
seinen alten Zuschnitt aus der Zeit vor 2002 aufweist,
haben sich doch - die Kollegin Hajduk hat darauf aufmerksam gemacht - die Stellen im Leitungsbereich erheblich vermehrt. Obwohl das Bundesfinanzministerium
dazu seinen Segen erteilt hat, schauen wir Haushälter der
großen Koalition sehr sorgsam auf diesen Aspekt.
({4})
- Ich darf Ihnen versichern, Frau Kollegin: Wir schauen
darauf. Dafür brauchen wir die Grünen nicht.
({5})
Wie groß die Notwendigkeit einer umfassenden Gesundheitsreform ist, zeigt ein Blick auf das Gesamtvolumen des Haushalts. Frau Ministerin hat bereits darauf
hingewiesen: Von den 4,5 Milliarden Euro sind 4,2 Milliarden Euro durchlaufender Posten. Es verbleiben bescheidene 381 Millionen Euro. Das ist wahrlich ein kleiner, aber feiner Etat. Wir Haushälter stehen im Zuge der
notwendigen Haushaltskonsolidierung zu dem Beschluss, den Zuschuss an die gesetzliche Krankenversicherung von 1,5 Milliarden Euro in 2007 auf 0 Euro in
2008 zurückzuführen, auch wenn wir wissen, dass der
GKV aufgrund der Zusatzkosten durch die Erhöhung der
Mehrwertsteuer ein Defizit von 5 Milliarden Euro droht.
Das entspricht immerhin einem halben Beitragssatzpunkt. Man kann schon sagen: Auch aufgrund dieser
Tatsache erhöht sich der Druck, eine Reform durchzuführen, ganz von selbst; denn eine Erhöhung der Beiträge ist ausgeschlossen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz die Auffassung
der Haushälter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum
Ausdruck bringen. Wir Haushalts- und Finanzpolitiker
vertrauen auf unsere politische Führung und auf unsere
Fachpolitiker, wenn es darum geht, einen Kompromiss
zu finden. Wir bitten aber eindringlich, dabei einen ordnungspolitischen Grundsatz nicht aus den Augen zu verlieren: Mehr Geld für das System ohne echte strukturelle
Reformen im System kann es nicht geben. Ich zitiere,
was der Bundesfinanzminister heute Vormittag in seiner
Einbringungsrede gesagt hat:
Das heißt, wir unterlassen … alles, was der konjunkturellen Aufhellung schaden könnte.
Wir dürfen also keinesfalls den bequemen Weg beschreiten, nur die Einnahmeseite der GKV zu verbessern. Dies
würde die Probleme der laufenden Kostensteigerungen
weder mittel- noch langfristig lösen, sondern letztlich
nur die Abgabenlast der Bürgerinnen und Bürger erhöhen.
({6})
Deshalb muss sich die Reform zunächst aus eigenen
Mitteln und ohne zusätzliche Einnahmen finanzieren.
Eine Finanzierung aus Steuermitteln kommt nur dann infrage, wenn echte, weitreichende Strukturreformen gelingen. Das wird die Aufgabe der Kolleginnen und Kollegen sein. Ich bin zuversichtlich, dass sie dies auch
schaffen.
Leitlinie dabei ist: mehr Wettbewerb, mehr Transparenz sowie die Entkopplung der Beiträge von den Löhnen. Das sind die grundlegenden Voraussetzungen dieser
Reform. Wir alle wissen: Im Gesundheitswesen liegen
große Beschäftigungspotenziale. Gerade der Gesundheitsbereich ist ein Sektor, mit dem viele Menschen im
Lande ihr höchstes Gut verbinden, nämlich die Gesundheit. Sie ist allen viel wert. Nebenbei bemerkt: Gesundheit und Wellness sind absolut trendy.
Im Übrigen haben wir Haushälter der Koalition uns
bemüht, im Rahmen der Berichterstattergespräche, die
bereits stattgefunden haben, die aktuellen Herausforderungen anzunehmen. Wir sind bereit, Frau Ministerin,
nach entsprechenden Mitteln zu suchen, um die Aidsbekämpfung intensivieren zu können. Wir sehen bei der
Prävention auch insgesamt Handlungsbedarf und wollen
nach entsprechenden Ressourcen suchen, um dort mehr
tun zu können.
Dass die nachgeordneten Institute, die ich ebenfalls
erwähnen möchte, eine große Bedeutung haben, zeigt
die aktuelle Entwicklung: Bei dem Titel „Beschaffung
von Impfstoffen“ und im Haushalt des Robert-Koch-Instituts - Stichwörter „Vogelgrippe“ und „Gefährdung
durch sonstige globalisierte Seuchen“ - sehen wir eventuell Mehrbedarf. Wir werden im Verlauf der anstehenden Beratungen nach Möglichkeiten zur Gegenfinanzierung suchen. Auch da braucht es nicht der Hilfe der
Opposition, Frau Kollegin Winterstein. Die Öffentlichkeitsarbeit haben wir da selbst im Blick.
Neben dem Robert-Koch-Institut will ich auch das
Paul-Ehrlich-Institut positiv erwähnen. Gerade im Bereich der Krankheitskontrolle und der Prävention auf
dem Gebiet der Epidemiologie leistet dieses Institut hervorragende Arbeit. Das Paul-Ehrlich-Institut befasst sich
mit der Zulassung und der staatlichen Chargenprüfung
von Seren, von Impfstoffen und Ähnlichem. Die Vorfälle
in London beim Test eines deutschen Medikaments gegen multiple Sklerose zeigen, wie unverzichtbar diese
Aufgabe ist.
Auch das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information sowie das Bundesinstitut für
Arzneimittel und Medizinprodukte erfüllen wichtige
Aufgaben. Das sehen wir durchaus. Im Bereich der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung findet vieles
statt, was mit Prävention, mit Vorsorge, zu tun hat. Da
sehen wir noch weitere Potenziale für Synergien mit Ihrem Haus, Frau Ministerin. Ihr Haus muss natürlich die
Kontrollfunktion und die Lenkungsfunktion ausüben.
Dass der dafür notwendige Personalbestand vorhanden
sein muss, sehen wir. Es wird eine Herausforderung für
die kommenden Wochen sein, einen entsprechenden
Ausgleich auch mit den nachgeordneten Behörden herzustellen.
Ich will zusammenfassen: Im Gesundheitsbereich
steckt viel Potenzial für Beschäftigung, für zusätzliche
Arbeitsplätze. Es ist ein heiß umkämpfter Markt mit
starken Interessengruppen. Jeder, der einmal Gesundheitsminister war - Ihr Vorgänger weiß das wie Sie, Frau
Ministerin -, kann ein Lied davon singen, wie hart die
Auseinandersetzungen sind. Wir drücken Ihnen für die
anstehenden Verhandlungen die Daumen und sind überzeugt: Es wird zu guten Lösungen kommen, immer in
dem Sinne: Im Zentrum all unseres Interesses steht einer
und das ist der Patient, der Mensch.
({7})
Für die Menschen machen wir unsere Politik. Dafür gilt
es, Lösungen zu finden.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Inge Höger-Neuling
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
„Herr Doktor, ich verdurste!“ Eine ständig bettlägerige Patientin empfängt mich mit diesen Worten.
Ihre Zunge ist trocken, die Lippen rissig, Klingel
und Flüssigkeit außer Reichweite. Bei meinen
nächsten Besuchen keine Änderungen! Reaktion
der Heimleitung: „Wir haben kein Geld für mehr
Personal.“
Dies ist eine Passage aus der Zuschrift eines Arztes,
der Patientinnen und Patienten in Pflegeheimen betreut.
({0})
Es ist ein hilfloser, wütender Aufschrei, aber ein ganz
normaler Fall von Vernachlässigung in Pflegeheimen.
„Pflegende können an vielen Stellen den ethischen
Konflikt zwischen dem professionellen Anspruch und
dem, was das System heute bereit ist zu finanzieren,
kaum noch auflösen“, sagt die Bundeskonferenz der
Pflegeorganisationen.
Fakt ist: Der Pflegenotstand in diesem Land wächst
ständig. Das sagt auch ein Gutachten des Landespflegeausschusses Nordrhein-Westfalen. Ich zitiere: Es
„lässt sich folgern, dass spürbare Qualitätsverbesserungen eine Erhöhung des Leistungsumfangs und damit
eine bessere Personalausstattung voraussetzen“.
Auf den Punkt gebracht: Wir schulden den alten und
kranken Menschen etwas. Sie brauchen mehr Personal.
Sie brauchen besser ausgebildetes Personal. Wir brauchen mehr Geld für die Pflege.
Den ganzen Tag schon haben wir uns Reden über
Geld angehört. Auch ich rede hier über Geld, über Geld,
das nicht ausgegeben, über Geld, das nicht eingenommen wird, weil diese schwarz-rote Regierung genau wie
ihre rot-grüne Vorgängerin ihre Hausaufgaben nicht
macht.
In den vergangenen Jahren gab es wenigstens ein Modellprogramm zur Verbesserung der häuslichen Versorgung Pflegebedürftiger. Das läuft nun aus. Aus dem Etat
des Gesundheitsministeriums wird nichts, aber auch gar
nichts zur Verbesserung der Pflegesituation gefördert.
Verbesserungen im Bereich der Demenzerkrankungen
sind nur Gegenstand von Verkündungspolitik.
Es ist auch heuchlerisch, wenn Staatssekretärin
Caspers-Merk darauf hinweist, dass immer mehr Menschen in Heime eingewiesen werden, die es eigentlich
gar nicht nötig hätten. Da mag das CDU-regierte Land
Baden-Württemberg in einem aktuellen Bundesratsantrag noch so deutlich schreiben: „Handlungsbedarf besteht deswegen derzeit in allen Leistungsbereichen der
Pflegeversicherung, vorrangig im ambulanten Bereich“ ({1})
die schwarz-rote Koalition hier im Bundestag hört einfach nicht hin.
Die Koalition hört nur dem ständigen Jammern der
Arbeitgeber zu. Sie will den Kahlschlag bei den Sozialversicherungen fortsetzen. Dabei leiden gerade die kleinen Betriebe stärker unter den Kaufkraftverlusten infolge ihrer Politik als unter den so genannten
Lohnnebenkosten oder - so heißen sie neuerdings Lohnzusatzkosten.
Wir Linken im Bundestag wollen eine grundlegende
Reform der Kranken- und Pflegeversicherung. Wir
brauchen ein Ende des Teilkaskoprinzips in der Pflege.
Wir brauchen eine Versicherung, die alles Notwendige
übernimmt. Die Menschen brauchen sachgerechte
Dienstleistungen.
({2})
- Dazu, wer das bezahlen soll, komme ich noch. - Alle
müssen die Pflege bekommen, die sie brauchen.
Dazu müssen alle in die gesetzliche Kranken- und
Pflegeversicherung einzahlen: Vermieter genauso wie
Aktienbesitzerinnen bzw. Aktienbesitzer,
({3})
Selbstständige genauso wie Menschen mit Vermögen,
und zwar ohne Beitragsbemessungsgrenze, ohne Versicherungspflichtgrenze.
({4})
Niemand soll sich aus der Solidargemeinschaft verabschieden können.
({5})
Die sozialen Sicherungssysteme haben auch Kostenprobleme; aber diese Probleme sind unverhältnismäßig
geringer als die Einnahmeprobleme. Wir haben gravierende Einnahmeprobleme sowohl in der gesetzlichen
Kranken- und Pflegeversicherung als auch in den anderen Solidarsystemen.
({6})
Die Linke fordert Würde für Alte und Kranke. Wir
fordern sachgerechte Leistungen und mehr Personal sowohl für die stationäre als auch für die ambulante Pflege.
Wir sind an der Seite der Beschäftigten in den Kliniken
und an der Seite der Ärzte, die für mehr Qualität in der
Medizin und in der Pflege kämpfen.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elisabeth
Scharfenberg von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Ministerin, vor gut drei Wochen haben Sie uns offiziell
bestätigt, dass die Pflegeversicherung im Jahr 2005 ein
Defizit von 360 Millionen Euro geschrieben hat. Angesichts dieser Zahlen bestreitet wohl niemand ernsthaft,
dass die Pflegeversicherung reformiert werden muss,
und zwar dringend.
({0})
In welche Richtung das Ganze aber gehen soll, da scheiden sich die Geister,
({1})
übrigens auch zwischen CDU, CSU und SPD. Einig,
verehrte Kolleginnen und Kollegen, scheinen Sie sich jedenfalls nicht zu sein, sonst hätten wir schon längst etwas Konkretes gehört.
Wir leben in einer älter werdenden Gesellschaft.
Auch weiterhin wird die Pflegeversicherung nur eine
Teilkaskoversicherung sein, also nur einen Teil des Pflegerisikos abdecken. Umso wichtiger ist eine gute und
menschenwürdige Pflege. Sie ist finanziell und strukturell eine der wesentlichen Zukunftsaufgaben unserer Gesellschaft.
({2})
Wir können diese Aufgabe nur schultern, wenn die Pflegeversicherung ein System der Unterstützung und der
Solidarität im besten Sinne bietet. Herr Minister
Steinbrück hat dies in seiner Rede heute Morgen selbst
auf den Punkt gebracht: Die Lasten der demografischen
Entwicklung müssen solidarisch getragen werden. - Da
hat er vollkommen Recht.
Eine gelungene Pflegereform muss daher im Kern
zwei Anforderungen erfüllen:
Erstens. Die Pflegeversicherung muss sich künftig
viel mehr als heute an den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen orientieren. Das bedeutet konkret, dass wir Leistungs- und Qualitätsverbesserungen brauchen. Das heißt etwa Neudefinition des
Pflegebegriffs, mehr Prävention und Reha, CaseManagement, also bedarfsgerechte Einzelfallbetreuung,
und bessere Förderung alternativer neuer Wohnformen,
um hier nur einige Punkte zu nennen.
Zweitens. Die Finanzierung der Pflegeversicherung
muss nachhaltig, generationengerecht, vor allem aber sozial ausgewogen sein. Im Kern muss die Pflegeversicherung deshalb ein Solidarsystem bleiben.
Die große Koalition sollte endlich Mut zur Ehrlichkeit zeigen. Es gibt nämlich zwei Alternativen: Zum einen wird es bereits kurzfristig mehr Geld kosten, wenn
nur das heutige Leistungsniveau der Pflegeversicherung
gehalten werden soll, erst recht bei einer Ausweitung der
Leistungen. Zum anderen müssen Leistungen gekürzt
werden, wenn nicht mehr Geld fließen soll. So einfach
ist das. Nennen Sie das Kind doch endlich beim Namen!
({3})
Kurzum, meine Damen und Herren, eine Pflegereform verdient erst dann ihren Namen, wenn sie eine
Finanz- und eine Strukturreform beinhaltet. Im Koalitionsvertrag von Union und SPD finden wir vollmundige
Ansagen zur Pflegeversicherung. Da ist die Rede von
kapitalgedeckten Elementen als Demografiereserve,
Finanzausgleich zwischen privater und sozialer Pflegeversicherung, Leistungsverbesserungen für Demenzkranke, Bürokratieabbau usw.
({4})
Ich bin schon sehr gespannt darauf, wie das konkret aussehen soll - wahrscheinlich nicht weniger gespannt als
die Abgeordneten der großen Koalition selbst.
Besonders optimistisch bin ich nicht. Eines ist nämlich verdächtig. Da steht zwar, dass die Koalition bis
zum Sommer 2006 ein - ich zitiere - „Gesetz zur Sicherung einer nachhaltigen und gerechten Finanzierung der
Pflegeversicherung“ vorlegen will. Hier ist aber nur von
der Finanzierung die Rede. Außerdem haben Sie im
Koalitionsvertrag den Absatz zur Finanzierungsseite fein
säuberlich vom Absatz zur Leistungsseite getrennt. Im
Hinblick auf die Leistungsseite ist kein Wort von einem
Zeitplan, geschweige denn von einem Gesetzentwurf zu
finden.
Dass diese Reform kommt, glaube ich erst - das muss
ich leider sagen -, wenn der Gesetzentwurf auf meinem
Schreibtisch liegt. Als nämlich Frau Ministerin Schmidt
am 9. März das erwähnte Defizit bekannt gab, ließ sie in
der Pressemitteilung verlauten - ich zitiere -:
Wir
- also die große Koalition werden bis 2007 dafür sorgen, dass die Pflegeversicherung ... an neue Herausforderungen angepasst
und ihre Finanzierung für die Zukunft nachhaltig
gesichert wird.
({5})
Bis 2007: Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Für mich heißt das doch nichts anderes, als dass sich
die große Koalition bereits wenige Wochen nach ihren
Versprechungen im Koalitionsvertrag diese Reform im
vorgesehenen Zeitraum schon nicht mehr zutraut; sie
wird auf die lange Bank geschoben. Das ist nun wirklich
das Letzte, was die Pflegeversicherung gebrauchen
kann.
({6})
Ich erinnere noch einmal an die heutige Rede von
Herrn Minister Steinbrück. Er hat eindeutig sein massives Interesse an der Gesundheitsreform bekundet. Diese
Leidenschaft fordere ich von Ihnen, Frau Schmidt, für
die Pflegereform ein. Verschieben Sie dieses Projekt
nicht! Worauf warten Sie noch?
Den Bürgerinnen und Bürgern liegt dieses Thema
nämlich gewaltig auf der Seele. Werden die Beitragssätze steigen? Wenn ja, was bekommen sie an Leistungen dafür? Droht etwa eine Kopfprämie, getarnt als
Demografiereserve, die die sozial Schwachen mehr belasten wird als die Starken? Müssen wir bald mit weniger Pflegeleistungen rechnen? Was heißt das konkret für
demenzkranke oder behinderte Menschen?
Das sind zentrale Fragen, die die Betroffenen schon
lange stellen, Fragen, die Sie hier und heute beantworten
sollten. Denn darauf warten die Betroffenen und nicht
nur wir im Parlament.
Vielen Dank.
({7})
Frau Kollegin Scharfenberg, auch Ihnen gratuliere ich
im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im
Deutschen Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Jella Teuchner von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Wenn wir heute den Haushalt des Bundesministeriums
für Gesundheit diskutieren, dann wird deutlich, dass Gesundheitspolitik mehr ist als die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Sicher, der Einzelplan 15
ist in seinem Volumen geprägt von den Zuschüssen an
die Krankenkassen für versicherungsfremde Leistungen. Daneben gibt es aber noch eine Reihe von Aufgaben, die wir auf hohem Niveau weiterfinanzieren und bei
denen wir Schwerpunkte setzen.
Wir werden - ich denke, das ist uns allen klar - in den
nächsten Wochen Gesundheitspolitik vor allem in Bezug
auf die Frage diskutieren, wie wir die gesetzliche Krankenversicherung auf ein gesundes Fundament stellen.
Wir dürfen aber nicht übersehen, dass wir abseits dieser
Frage weitere Aufgaben haben, die bei den Beratungen
über den Haushalt des Gesundheitsministeriums im Mittelpunkt stehen.
Wir werden im Bereich der Prävention vor allem über
die Aidsprävention reden müssen. Auch wenn der neue
Spot mit Boris Becker das Thema wieder auf die Titelseiten der Tageszeitungen gebracht hat: Das Bewusstsein, sich vor einer Ansteckung schützen zu müssen und
zu können, nimmt ab. Für viele ist Aids einfach kein
Thema mehr, obwohl die Zahl der Neuinfektionen wieder steigt. Nach Angaben des RKI - das hat die Frau Ministerin schon ausgeführt - ist die geschätzte Zahl der
Neuinfektionen in Deutschland von circa 2 000 in den
vergangenen Jahren auf circa 2 600 im Jahr 2005 angestiegen. Das bedeutet eine Zunahme von 30 Prozent.
Dem müssen wir begegnen; dem trägt auch der Haushalt
Rechnung.
Wir werden im Zuge der parlamentarischen Beratungen die Frage prüfen, ob die Mittel erhöht werden
können. Sicher ist aber schon jetzt: Die Mittel werden
auf dem Niveau von 2005 fortgeschrieben. Auch in Zukunft wird der Bund die notwendigen Aidspräventionen
finanzieren.
Prävention ist aber auch Suchtprävention. Hier setzen wir unser Engagement fort. Wir fördern weiterhin
Aufklärungskampagnen und Modellprojekte. Wir müssen allerdings darüber diskutieren, wie wir diese Maßnahmen langfristig absichern. Wir sehen, dass zum Beispiel die Mittel aus der Alkopopsteuer wegfallen. Es ist
ein Erfolg - da sind wir uns sicher einig -, dass die Alkopops vom Markt für Jugendliche praktisch verschwunden sind. Das heißt allerdings auch, dass keine
Mittel für Maßnahmen zur Suchtprävention fließen.
Auch die Zuschüsse der Zigarettenindustrie zur Suchtprävention werden in naher Zukunft wegfallen.
Für den Haushalt bedeutet dies ganz klar: Wir wollen
die erfolgreiche Suchtprävention fortführen. Das müssen
wir im Haushalt berücksichtigen. Wir brauchen Mittel,
die nicht davon abhängen, ob eine bestimmte Steuer
oder Abgabe auch fließt.
({0})
Der Gesundheitshaushalt spiegelt wider, dass die Notwendigkeit einer Pandemievorsorge erkannt wird. Die
Vogelgrippe ist in Europa angekommen. Bisher ist es
eine Tierkrankheit, die zwar vom Tier auf den Menschen, aber nicht vom Menschen auf den Menschen
übertragen werden kann. Es gibt also keinen Grund, in
Panik auszubrechen und eine neue Spanische Grippe heraufzubeschwören. Es ist aber notwendig, Vorsorge zu
treffen. Für den Haushalt bedeutet dies, dass wir Geld
für die Vorbereitung eines Influenzaimpfstoffes bereitstellen. In den Beratungen werden wir prüfen müssen, ob
dies ausreicht und wie wir gegebenenfalls zusätzliche
Mittel bereitstellen können.
Wir müssen auch eine effektive Forschung sicherstellen. Daran sind mehrere Ministerien beteiligt. Wir
werden deshalb prüfen müssen, wie wir die Forschungsmittel möglichst effektiv einsetzen.
Der Einzelplan 15 des Bundeshaushaltes schreibt die
gesetzten Schwerpunkte auf einem hohen Niveau fest.
Ich bin zuversichtlich, dass wir im Zuge der parlamentarischen Beratungen die Punkte, bei denen wir einen besonderen Bedarf sehen, auch noch klären werden.
Problematisch ist allerdings, was sich bereits für die
nächsten Jahre abzeichnet. Der Wegfall der pauschalen
Abgeltung für versicherungsfremde Leistungen an die
Krankenkassen und die zusätzlichen Kosten für Arzneimittel durch die beschlossene Mehrwertsteuererhöhung
bedeuten 0,5 Beitragspunkte mehr für die gesetzliche
Krankenkasse. Wir wissen noch nicht, wie wir in Zukunft die Finanzierung der Krankenkassen organisieren werden. Sicher ist aber, dass wir keine verlässliche
Finanzierung auf Dauer hinbekommen, wenn wir die Finanzierung von der aktuellen Haushaltslage abhängig
machen.
Wir müssen auch im Auge behalten, welche Auswirkungen finanzpolitische Entscheidungen an anderer
Stelle haben. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer bei
den Arzneimitteln widerspricht dem Ziel, das wir zum
Beispiel mit dem gerade verabschiedeten AVWG verfolgen. Wir machen die Arzneimittel teurer und sorgen damit für höhere Kosten bei den Krankenkassen. Wir sollten noch einmal darüber diskutieren, ob der ermäßigte
Mehrwertsteuersatz auch für Arzneimittel sinnvoll wäre.
({1})
Wie gesagt, das sind Fragen, die sich für die nächsten
Haushalte stellen. Heute bringen wir den Haushalt für
2006 ein. Mit dem Haushalt des Bundesministeriums für
Gesundheit führen wir die gerade in der Prävention erfolgreichen Projekte fort. Das ist notwendig. Ich denke,
wir sind hier auf dem richtigen Weg.
({2})
Als letztem Redner des heutigen Tages gebe ich das
Wort dem Kollegen Jens Spahn.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir führen diese Debatte - aktueller können wir kaum sein - in
spannenden Zeiten. Natürlich ist das Ergebnis, über das
in den nächsten Tagen und Wochen verhandelt wird, unklar. Nichtsdestotrotz ist die Ausgangslage klar - ich
stimme dem Kollegen Schily zu; wir müssen erst einmal
eine Diagnose stellen -: Zum einen geht es um die Finanzierungsbasis der gesetzlichen Krankenversicherung.
Wir haben aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit eine erodierende Einnahmesituation. Zum anderen geht es um
die Frage, welche Verteilungswirkung es in der gesetzlichen Krankenkasse - Herr Kollege Seifert, Sie haben
danach gefragt - geben wird.
2040 wird das Verhältnis von dem, was ein junger
Versicherter im Durchschnitt kostet, zu dem, was ein älterer Versicherter - ich kann beruhigt darüber sprechen;
denn dann werde ich zu dieser Gruppe gehören -, wenn
man die Zahlen der letzten Zeit fortschreibt, kostet,
1 : 20 betragen. Ich werde dann einer von den Älteren
sein, 2040 nämlich genau 60 Jahre alt. Das macht deutlich, dass nicht nur eine Umverteilung zwischen Gesunden und Kranken, sondern auch zwischen Jüngeren und
Älteren stattfindet, weil das Risiko, zu erkranken, und
die damit verbundenen Kosten im Alter schlicht und ergreifend höher sind. Deswegen stehen wir aufgrund der
demografischen Entwicklung vor einer besonderen Herausforderung.
Herr Kollege Spahn, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Seifert?
Bitte schön.
Bitte, Herr Seifert.
Lieber Herr Kollege, was Sie sagen, hat doch nichts
damit zu tun, in welchem Alter Menschen krank werden.
Es ist statistisch erwiesen, dass man, auch wenn man
länger lebt, nicht länger krank ist, sondern dass sich die
Krankheits- bzw. Pflegephase meistens nur etwas später
einstellt; sie ist aber genauso lang. Demzufolge habe ich
vorhin die Frage gestellt - und ich bitte Sie, sie zu beantworten -, ob nicht gerade die Solidarität zwischen
Gesunden und Kranken das entscheidende Kriterium
der gesetzlichen Krankenversicherung ist. Ich möchte
nicht, dass Jung und Alt auch noch in der Krankenversicherung gegeneinander ausgespielt werden. Es ist schon
schlimm genug, dass dies in der Rentenversicherung geschieht.
({0})
Sehr verehrter Herr Kollege, es geht hier gar nicht darum, Menschen gegeneinander auszuspielen. Es geht
schlicht und ergreifend darum, die Fakten zur Kenntnis
zu nehmen.
({0})
Es ist heute so, dass in der Krankenversicherung der
Rentner nur 40 Prozent der Ausgaben durch das gedeckt
werden, was die Rentner selbst einzahlen. 60 Prozent
werden durch die Umverteilung von den Jüngeren zu
den Älteren finanziert. Das wollen wir ja auch; das kritisiert hier niemand. Man muss aber doch das Faktum
zur Kenntnis nehmen, dass diese Umverteilung in noch
stärkerem Maße als vor etwa 20 oder 30 Jahren stattfindet,
({1})
weil die Krankenversicherung der Rentner aufgrund der
demografischen Entwicklung einen zunehmend größeren Menschenkreis umfasst.
Im Kern stimme ich Ihnen zu. Natürlich geht es um
die Solidarität zwischen Gesunden und Kranken. Aber
das Risiko, zu erkranken, insbesondere das Risiko, chronische bzw. schwer wiegende Krankheiten zu bekommen, ist im Alter höher als in jüngeren Jahren. Es geht
aber, wie gesagt, nicht darum, Menschen gegeneinander
auszuspielen, sondern darum, die Tatsachen zu sehen.
Darauf müssen wir Antworten finden.
Zudem stehen wir auf der Ausgabenseite vor der Situation, dass sich die Ausgaben von Jahr zu Jahr erhöhen, gleichzeitig aber Frust und Unlust im System zunehmen. Das sehen wir an den Ärzteprotesten. Wir alle
spüren Frust und Unlust aber auch bei den Patienten, die
stark verunsichert sind; das erlebe ich oft bei Veranstaltungen in meinem Wahlkreis. Insofern müssen wir uns
fragen, ob all das Geld, das wir in das System geben,
auch vernünftig verteilt wird.
Ich komme nun von der Ausgangslage - hier kann
man sicherlich Konsens herstellen - zur Zielbeschreibung. Zum ersten besteht natürlich das Ziel, die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland lohnunabhängiger zu machen. Die schlichte Koppelung an den
Lohn hat zum einen dazu geführt, dass die Lohnebenkosten steigen, und zum anderen dazu, dass wir alle gesundheitspolitischen Diskussionen - das bezieht sich
auch auf das letzte Gesetz, das wir in diesem Bereich beschlossen haben - fortwährend unter dem Stichwort Beitragssatzstabilität bzw. Kostendämpfung führen. Aus
dieser Spirale wollen wir heraus. Natürlich wollen wir
auch in Zukunft Solidarität. Im Grunde geht es bei dem
Streit zwischen den Koalitionspartnern an der einen oder
anderen Stelle darum, wie diese Solidarität ausgestaltet
werden soll. Darüber werden wir in den nächsten Wochen verhandeln.
Herr Kollege Schily, ich möchte noch eines sagen.
Das eine oder andere dessen, was Sie beschrieben haben,
mag im Grundsatz richtig sein. Nun beginnen wir nicht
bei null und können das System nicht so basteln, dass es
in allen Grundzügen am besten ist, sondern wir müssen
das bestehende System verändern.
({2})
In dieser Situation macht es wenig Sinn, grundsätzliche
Diskussionen zu führen. Es darf nicht verkannt werden,
dass es darum geht, ein über 100 Jahre gewachsenes
System zu verändern.
Es geht - auch aufgrund der gerade geführten Diskussion - im Ziel darum, das ganze System auf demografiefeste Beine zu stellen. Es ist mir wichtig, deutlich zu sagen - auch wenn es in der Diskussion darüber an der
einen oder anderen Stelle schwierig wird -: Die private
Krankenversicherung, das einzige System in Deutschland, in dem Demografiefestigkeit gegeben ist, muss in
ihrer Substanz im Grundsatz auch in Zukunft erhalten
bleiben. Das eine System sollte eher ein wenig vom anderen - besseren, demografiefesteren - System lernen
als umgekehrt.
({3})
Ich glaube, es lohnt sich hierbei, jeden Streit und jede
Diskussion, auch innerhalb der Koalition, zu führen.
({4})
Auf der Ausgabenseite geht es darum, die Forderung
nach mehr Wettbewerb - sie steht seit Jahrzehnten in fast
allen Parteiprogrammen - mit Leben zu füllen, vor allem, damit wir am Ende zu Vergütungsstrukturen kommen, die dazu führen, dass es denen, die im Gesundheitswesen tätig sind, wieder Freude macht, morgens
den Dienst am Menschen zu beginnen, sodass wir den
Frust und die Unlust der letzten Zeit nicht weiter erleben
müssen. Insofern geht es auch darum, die Strukturen so
zu gestalten, dass sie genau dies fördern.
Herr Kollege Spahn, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Hajduk?
Jawohl, ich erlaube eine Zwischenfrage.
Bitte schön, Frau Hajduk.
Herr Kollege Spahn, Sie haben hier gerade das Hohelied auf die Demografiefestigkeit der privaten Krankenversicherung gesungen. Ich will meiner Frage vorausschicken, dass es hierzu auch unter den Experten
unterschiedliche Erkenntnisse gibt. Finden Sie es auch
vorbildlich, dass man beim Wechsel von einer privaten
Krankenversicherung nicht einmal seine Altersrückstellungen mitnehmen kann?
Es ist vollkommen unbestritten - das sagen wir in der
Koalition; das sagt im Übrigen auch die Kommission,
die Frau Zypries schon in der letzten Legislaturperiode
in ihrem Hause einberufen hat -, dass wir beim Versicherungsvertragsrecht zu Änderungen kommen wollen.
Wir wollen - das steht nicht zur Diskussion -, dass diese
Altersrückstellungen portabel sind.
({0})
Sie haben das in den sieben Jahren, in denen Sie in der
Regierung waren, noch nicht ganz hinbekommen. Wir
wollen das aber in den nächsten Jahren tatsächlich angehen.
({1})
Ich möchte eine Frage ansprechen, die mir bei der
ganzen Diskussion im Grundsatz am wichtigsten ist:
Welche Vision, welche Idee, haben wir für das Gesundheitswesen in Deutschland? Wollen wir immer nur die
ganzen Detaildiskussionen zu den Fragen, mit denen wir
uns hier im Alltag beschäftigen, führen oder haben wir
auch eine Idee davon, wie sich der Bereich Gesundheit
in Deutschland entwickeln kann? Er ist nämlich ein
Wachstumsmarkt des 21. Jahrhunderts, in dem schon
heute 4,2 Millionen Menschen in der Regel Dienst am
Menschen leisten, in Berufen, die sich nur bedingt nach
China oder sonstwo auslagern lassen, weil der Dienst am
Menschen nur vor Ort geleistet werden kann. Trotz aller
Diskussionen ist Deutschland in der pharmazeutischen
Industrie, bei der Medizintechnik, aber auch bei Ablaufprozessen in vielen Bereichen weltmarktführend. Wir
haben die Chance, dort weitere Potenziale zu erschließen.
Es ist ein Bereich, den die Menschen offensichtlich
nutzen wollen; denn fast 50 Prozent der Ausgaben im
Gesundheitswesen werden nicht von der gesetzlichen
Krankenversicherung, sondern von den Menschen getätigt. Das fängt bei Wellness an und umfasst viele andere
Bereiche, wo freiwillig zusätzliche Ausgaben getätigt
werden. Wir haben in Deutschland jetzt die Chance, neben dem Wachstumsmotor Mobilität - wir denken an die
Eisenbahn - und dem Wachstumsmotor Kommunikation
- wir denken an Internet und andere Dinge - den Wachstumsmotor Gesundheit und Lebensqualität und damit
Arbeitsplätze zu schaffen. Ich glaube, dies muss als Vision, als Idee, als Leitbild für alle künftigen Reformen,
auch bei der Finanzierung, herhalten.
({2})
Ich möchte mir als zuständigem Berichterstatter unserer Fraktion für das Thema HIV/Aids erlauben, meiner
Freude darüber Ausdruck zu verleihen, dass das Thema
HIV/Aids und die damit verbundenen Entwicklungen
hier mehrfach - von den Kolleginnen und Kollegen, aber
auch von der Ministerin - angesprochen wurden. Wir haben zwar in Deutschland glücklicherweise ein niedriges
Niveau an Infizierungen erreicht;
({3})
nichtsdestotrotz muss uns die Steigerungsrate von
20 Prozent binnen eines Jahres umtreiben. Wir müssen
die sich daraus ergebenden neuen Herausforderung annehmen.
Es ist ein Kennzeichen von Prävention, dass man sie
nicht nur einmal betreibt - wie zu Beginn der 80erJahre -, dass sie nicht für immer vorhält. Es gibt nämlich
immer wieder neue Menschen auf der Welt. Ich selbst
gehöre dem Jahrgang 1980 an. Ich habe die ganzen Debatten, weil ich mich dafür interessiere, erst im Nachhinein verfolgt. Junge Menschen meines Alters haben
sich logischerweise mit der Entwicklung in den 80erJahren gar nicht befasst, weil sie sie gar nicht bewusst
wahrgenommen haben. Umso mehr stehen wir in der
Verantwortung, die Diskussion über HIV/Aids - trotz aller Werbung der Pharmaindustrie ist es noch immer
keine heilbare Krankheit - und über die besonderen Herausforderungen, vor denen wir stehen, in den Mittelpunkt zu stellen. Das müssen wir insbesondere vor dem
Hintergrund der Entwicklungen in Osteuropa tun, wo
zum Teil Steigerungsraten zu verzeichnen sind, wie sie
in der Frühzeit von Aids in Afrika verzeichnet wurden.
Ich bin daher froh darüber, dass die Bundesregierung
nunmehr offensichtlich geklärt hat, wer für die Zusammenarbeit mit unseren osteuropäischen Freunden zuständig ist.
({4})
- Der Kollege Beck hat eine Zwischenfrage.
Moment, die Zwischenfragen lasse ich zu.
Entschuldigung.
Ich wollte Sie während der letzten zehn Sekunden Ihrer Rede eigentlich nicht mehr unterbrechen, weil alle
noch andere Dinge vorhaben. Wenn Herr Beck aber eine
kurze Zwischenfrage stellen will, dann bitte schön.
Ich bedanke mich für die Großzügigkeit des Präsidenten.
Ich finde es gut, wenn für die Aidsprävention mehr
Mittel zur Verfügung gestellt werden. In der Tat kommen neue Herausforderungen auf uns zu und es gibt eine
Veränderung des Verhaltens. Wichtig ist aber, dass man
Präventionsmaterialien verbreitet, erreichbar und verfügbar macht, die eine klare Sprache sprechen. Es macht
keinen Sinn, bei den Themen Sexualität und Verhaltensänderung drum herum zu reden. Würden Sie mir zustimmen, wenn ich behaupte, dass es falsch ist, wenn sich
Unionsabgeordnete bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung oder der Bundesgesundheitsministerin darüber beschweren, dass es im Internet zielgruppenspezifische Materialien gibt, in denen zu Sexualität
und dazu, wie man beim sexuellen Verhalten HIV-Infektionen verhindern kann, eine klare Sprache gesprochen
wird?
Ohne das Material, um das es geht, im Einzelfall zu
kennen, stimme ich zumindest im Grundsatz zu. Natürlich ist es wichtig, zielgruppen- und risikogruppenspezifische Arbeit zu leisten. Zu diesen Gruppen gehören insbesondere schwule Männer, neuerdings aber auch
Migranten, insbesondere aus Osteuropa. Natürlich muss
für diese Zielgruppen entsprechendes Material bereitgehalten werden. Im Einzelfall würde ich das aber gerne
bewerten, nachdem ich das entsprechende Material gesehen habe.
({0})
Abschließend möchte ich sagen: Die Ausgangslage
ist klar. Das Ziel ist klar. Die Dinge, die anstehen, werden wir in den nächsten Wochen, ohne uns von „Spiegel“, „Focus“, „Bild“ oder sonstigen Zeitungen nervös
machen zu lassen, diskutieren. Ich würde mich freuen,
wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition
- ich schaue von links nach rechts -, uns konstruktiv begleiten und am Ende auch unterstützen würden, die nötigen Dinge zu tun.
Ich freue mich, weil ich zum ersten Mal die seltene
Ehre habe, als Letzter zu reden, Ihnen allen noch einen
schönen Abend und gute Gesundheit wünschen zu können.
({1})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Mittwoch, den 29. März 2006,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.