Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich, wünsche Ihnen einen guten Tag und uns gute
Beratungen.
Der Ältestenrat hat in seiner gestrigen Sitzung vereinbart, dass in der Haushaltswoche vom 27. März, wie üblich, keine Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und keine Aktuellen Stunden stattfinden sollen.
Ich nehme an, Sie sind damit einverstanden. - Jedenfalls
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregierung
zum Europäischen Rat am 23./24. März 2006
in Brüssel
Ich erteile das Wort dem Bundesminister des Auswärtigen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn sich
in der kommenden Woche die europäischen Staats- und
Regierungschefs zum Frühjahrsgipfel zusammenfinden,
dann geschieht das in Zeiten für Europa, die, gelinde gesagt, keine ganz einfachen Zeiten sind. Es gibt - Sie wissen das - bei vielen Bürgerinnen und Bürgern unseres
Landes ein diffuses Unbehagen gegenüber der EU. Die
Gründe dafür - Sie wissen es alle - sind komplex. Zu
den Ursachen dieser Vertrauenskrise gehört ganz sicher
auch die Sorge vor den negativen Folgen der Globalisierung. Mehr und mehr fürchten Bürgerinnen und Bürger,
Opfer der für viele beunruhigenden Veränderungen zu
sein. Die EU wird dazu von vielen auch noch als Vehikel
angesehen, das den Druck des globalen Wettbewerbs auf
sie erhöht.
Diese Befürchtungen müssen wir ernst nehmen. Wir
müssen uns mit ihnen auseinander setzen. Ich glaube, die
Reflexionsphase, die sich die Europäische Union verordnet hat, werden wir nicht nur dazu nutzen müssen, den
Weg für einen neuen Anlauf in der Verfassungsfrage zu
ebnen; wir werden vielmehr auch darüber nachzudenken
haben, wie wir den Menschen wieder das Gefühl geben,
in einer Gemeinschaft zu leben, die ihnen langfristig
Wohlstand und soziale Sicherheit garantiert.
({0})
Die EU ist nicht und darf nie nur Resonanzboden und
Verstärker für den Druck der Globalisierung sein, sondern sie muss unsere europäische Antwort auf die weltpolitischen Veränderungen sein, deren Zeugen wir sind.
Sie ist das Instrument, das uns am besten auf die Härten
des internationalen Wettbewerbs vorbereiten kann. Die
EU hilft uns, auf den Weltmärkten konkurrenzfähig zu
bleiben, und zwar durch eine möglichst kohärente
Außenpolitik, durch eine zunehmend vernetzte Innenpolitik und durch eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die
Wettbewerbsfähigkeit und gesellschaftliche Solidarität
zu einem fairen Ausgleich bringt.
({1})
Das ist die feste Überzeugung dieser Bundesregierung.
Deshalb wird sie alles daran setzen, der Bevölkerung erneut den großen politischen und wirtschaftlichen Mehrwert der Europäischen Union für unser Land zu vermitteln. Denn es ist entscheidend - ich sagte es zu
Anfang -, das Vertrauen der Bevölkerung in das Zukunftspotenzial dieser Europäischen Union zurückzugewinnen.
Die Europäische Union - das ist das Merkwürdige ist heute ein Vorbild für viele Regionen in der Welt. Sie
bringt Vorteile, die für alle spürbar sind. Ich erinnere an
Bewegungs-, Reise- und Niederlassungsfreiheit. Das
alles ist für uns inzwischen eine Selbstverständlichkeit.
Ich nenne aber auch die Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung, bei der Kooperation der Strafverfolgungsbehörden, der Polizeien und der Staatsanwaltschaften. Hier hat die EU in den letzten Jahren
insgesamt viel an Schlagkraft gewonnen.
Ich darf bei alldem an die finanziellen Leistungen erinnern, die die EU etwa aus dem Bereich der Strukturpolitik
Redetext
für die neuen Länder erbringen konnte und erbringen
wird: 36 Milliarden Euro seit der deutschen Einheit und
für die nächsten sieben Jahre - trotz der knappen Haushalte, die uns bevorstehen - immerhin noch 13 Milliarden Euro aus dem Strukturfonds für die ostdeutschen
Länder.
Förderung von Wachstum und Beschäftigung, das ist
das zentrale Thema in der Debatte um die EU und es ist
- aus meiner Sicht: Gott sei Dank - auch das zentrale
Thema des kommenden Frühjahrsgipfels.
Wie Sie wissen, verschreibt sich der Frühjahrsgipfel
seit einigen Jahren dem Thema Lissabonstrategie. Nun
will ich nicht verschweigen, dass die Ansichten über die
bisherigen Erfolge der Lissabonstrategie durchaus auseinander gehen. Diese Strategie hat sicher manche
Schwächen. Ganz sicher gibt es Bereiche, in denen wir
uns alle schon jetzt schnellere Fortschritte gewünscht
hätten.
Aber niemand bezweifelt - auch das gehört zur ganzen Wahrheit - die eminente Bedeutung der Lissabonstrategie für die Zukunft Europas. Deshalb ist es aus
meiner Sicht gut und wichtig, dass sich die europäischen
Regierungschefs dieser Frage am 23. und 24. März in
Brüssel erneut annehmen.
Sie wissen es: Die neue Bundesregierung hat wenige
Tage nach Amtsantritt das nationale Reformprogramm
nach Brüssel übermittelt. Basierend auf der Koalitionsvereinbarung skizziert es unser Modernisierungsprogramm für eine effiziente, eine zukunftsorientierte, eine
soziale Marktwirtschaft. Wir freuen uns darüber, dass
dieses Zukunftsprogramm in Brüssel positiv aufgenommen worden ist. Das bestärkt uns in dem Kurs, den wir
mit der Koalitionsvereinbarung eingeschlagen haben.
({2})
Für uns ist völlig klar, dass der nächste Zeitabschnitt
vor allen Dingen der Umsetzung dieser Strategie zu widmen ist. Wir sind froh darüber, dass der Europäische Rat
vier Handlungsfelder als vorrangig identifizieren wird
- so ist vorauszusehen -: erstens höhere Investitionen in
Forschung und Entwicklung, zweitens die Verbesserung
der Rahmenbedingungen für unternehmerische Tätigkeit, vor allen Dingen für KMUs, drittens die Verbesserung der Beschäftigungschancen vorrangiger Zielgruppen, junger Menschen, Alter und Frauen, viertens die
Energiepolitik.
Wir können das alles vorbehaltlos begrüßen, weil all
diese Themen mit dem Kernbestand der Themen in unserer Regierungsvereinbarung übereinstimmen. Wir
werden - das wissen Sie - 6 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung in den nächsten Jahren zusätzlich zur Verfügung stellen. Es ist und bleibt unser
Ziel, 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung
und Entwicklung auszugeben.
({3})
Aber es wäre zu wenig, diese Anstrengungen auf das
nationale Haushaltsgebaren zu beschränken. Wir drängen auch darauf, dass die Europäische Union in der Rubrik Wettbewerbsfähigkeit für Forschung und Entwicklung in den Jahren zwischen 2007 und 2013
50 Milliarden Euro ausgibt. Ich glaube, das ist mehr als
eine nur kleinliche Ergänzung unserer nationalen Anstrengungen.
Was den Bereich „Arbeitsmarkt, Wachstum und insbesondere Verbesserung der Rahmenbedingungen für
die Wirtschaft“ angeht, haben wir erste Schritte gemacht. Wir haben ein zentrales Informationssystem für
Unternehmensgründer auf den Weg gebracht. Wir haben
die Absetzbarkeit haushaltsnaher Dienstleistungen
deutlich erweitert. Wir werden heute im Laufe der parlamentarischen Beratung der weiteren Tagesordnungspunkte noch darüber sprechen. Wir stützen gerade mit
diesen Maßnahmen kleine und Kleinstunternehmen im
Servicebereich.
Wir haben nach dem Beschluss des Kabinetts mit dem
Ausbau der Kinderbetreuung die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert. Wir werden bis
2010 230 000 zusätzliche Plätze für Kinder unter drei
Jahren bereitstellen können. Die Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten ist verbessert worden. Mittelfristig
werden wir uns mit dem Elterngeld an sehr positiven
skandinavischen Erfahrungen, insbesondere schwedischen Erfahrungen, orientieren.
({4})
Konzepte für besondere Gruppen des Arbeitsmarkts,
von den Beschäftigten im Niedriglohnsektor bis zu den
älteren Arbeitnehmern, sind auf dem Weg. Auch darüber
wird das Parlament heute im weiteren Verlauf noch diskutieren.
Ein Bereich ist mir besonders wichtig, der Bereich
Energie. Das ist eines unserer Kernanliegen. Bei Energieeffizienz, Energieforschung und erneuerbaren Energien haben wir in Deutschland - ich glaube, das dürfen
wir hier sagen - viel geleistet. Der Anteil erneuerbarer
Energien an der Stromerzeugung liegt jetzt schon bei
über 10 Prozent.
({5})
- Sie vergessen ja auch sonst das eine oder andere, was
Sie entschieden haben, Frau Künast.
({6})
Wir haben mit dem Energieforschungsprogramm „Innovation und neue Energietechnologien“ neue Schwerpunkte gesetzt.
Frau Künast - das sage ich aber nicht nur an Sie gerichtet -, wir stärken Deutschland als innovativen
Standort für Umwelttechnologien. Wir sind mit
19 Prozent am Weltmarkt bereits deutlich führend. Es
kommt vor allem darauf an, dass wir das auch bleiben.
({7})
Die Botschaft, die von dem EU-Gipfel ausgehen
muss, ist: Wir brauchen Europa, um Globalisierung politisch gestalten zu können. Das heißt, dass wir innerhalb
der Europäischen Union Rahmenbedingungen schaffen
müssen, um Wachstum und Beschäftigung zu ermöglichen.
Das heißt aber auch - damit komme ich zu einem
nächsten Punkt -, dass wir auf die drängenden Fragen,
die sich aus der Globalisierung stellen, Antworten finden
müssen, die sozial austariert sind. Ich glaube, dass sie
nur so von der Bevölkerung tatsächlich auch akzeptiert
werden.
({8})
Das ist nicht nur unser Verständnis. Ich bin froh darüber, dass sich das mittlerweile auch in den europäischen
Institutionen durchsetzt, etwa am Beispiel der Dienstleistungsrichtlinie. Der im Europäischen Parlament gefundene Kompromiss berücksichtigt sowohl soziale wie
auch wirtschaftliche Aspekte. Die Bundesregierung begrüßt diese Entscheidung ausdrücklich. Klar ist auch:
Ein Kompromiss im Rat zu diesem Thema wird nur
dann erzielt werden können, wenn sich sowohl die Mitgliedstaaten wie auch die Kommission an diesem Ergebnis orientieren. Dazu kann ich allen Beteiligten nur raten.
({9})
Ich habe vorhin schon angedeutet: Energie und Energiesicherheit werden vermutlich nicht nur auf dem
nächsten Europäischen Rat wichtige Themen sein. Wir
sehen das in der Tat auch als ein zentrales Anliegen der
internationalen Politik. Ganz sicher geht es dabei vorrangig um die Versorgung Europas mit Energie, um Versorgungssicherheit also. Uns muss es dabei aber auch um
Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit gehen.
Wir haben am vergangenen Mittwoch mit der Vorbereitung des Energiegipfels im Kabinett den Startschuss für
ein energiepolitisches Gesamtkonzept gegeben. Ich darf
Ihnen versprechen, dass wir dieses im kommenden Jahr
auch verabschieden werden.
Wir sind davon überzeugt: Energiepolitik und Energieproblematik sind nicht nur von größter wirtschaftlicher und umweltpolitischer Relevanz; sie entwickeln
sich auch weltweit zu einem zentralen Thema der
Außen- und Sicherheitspolitik. Der jüngste Gasstreit
zwischen Russland und der Ukraine hat uns ein bisschen
Vorgeschmack auf das gegeben, was uns erwarten
könnte, wenn es uns nicht gelingt, das hier schlummernde Konfliktpotenzial einzuhegen und zum Gegenstand verantwortlicher und vor allem kooperativ ausgerichteter Politik zu machen.
Wir müssen in der EU ganz sicher unsere gemeinsamen Interessen an der Energiepolitik formulieren und
überlegen, wie wir sie zukünftig nach außen vertreten.
Ich halte gleichwohl wenig von der Idee, dass wir uns zu
einer Art Zusammenschluss energiepolitischer Habenichtse zusammenfinden, und zwar gegen diejenigen,
die über Energievorräte verfügen.
({10})
Aus meiner Sicht geht es im Augenblick vielmehr darum, Überlegungen anzustellen, wie gemeinsame außenpolitische Ansätze in Energiefragen entwickelt werden
können. Ausgangspunkt dabei ist die bestehende gegenseitige Abhängigkeit der Förder-, Transit- und, wie wir
es sind, Verbraucherländer. Mit anderen Worten: Nur ein
integrativer Ansatz, nur ein intensiver Dialog zwischen
den Verbraucherländern, den Förderländern und den
Transitländern - das ist ein wichtiges Anliegen, das mit
Anstrengungen verbunden sein wird - verspricht Erfolg.
({11})
Deshalb müssen wir den Dialog mit Russland, mit Norwegen, wo ich nächste Woche sein und über dieses
Thema reden werde, aber auch mit den nordafrikanischen Lieferländern und den Golfstaaten führen.
Ich bin mir sicher und weiß das auch aus meiner früheren Tätigkeit: Diese Zusammenarbeit wird auf Dauer
keine Einbahnstraße sein. Gerade Länder wie Russland
brauchen Hilfe bei der Steigerung der Energieeffizienz,
der Energieforschung und beim Ausbau erneuerbarer
Energien. Weil es dabei letztlich auch für unser Land um
Exportchancen geht, benötigen wir einen intensiven Dialog mit unseren Unternehmen, gerade mit den Unternehmen des innovativen Mittelstands, ganz im Sinne der
von uns geplanten Innovationsoffensive „Energie für
Deutschland“, mit der wir - ich sagte es vorhin - bei
den modernen Energietechnologien Weltspitze bleiben
wollen.
({12})
Letzter Satz zu diesem Thema. Der Energierat der
Europäischen Union hat am vergangenen Dienstag
Schlüsselbereiche, wie es dort heißt, für eine neue europäische Energiepolitik identifiziert. Sie werden jetzt dem
Europäischen Rat vorgelegt. Wir können sehr zufrieden
sein, weil unsere Kernanliegen dort sämtlich aufgenommen sind. Dazu gehört ausdrücklich, dass jeder Mitgliedstaat weiterhin über seine Gestaltung des Energiemixes bestimmen wird. Auf der Grundlage dieser
Schlüsselbereiche wird der Europäische Rat seine Arbeitsaufträge an die Kommission erteilen.
Meine Damen und Herren, so weit mit einigen wenigen Anstrichen zu dem, was auf dem Frühjahrsgipfel im
Bereich Binnenmarkt vor der Tür steht. Wir, auch die
Regierungschefs, werden uns natürlich nicht allein auf
diese Themen beschränken können. Die vielen internationalen Krisen, über die wir miteinander zu reden haben, werden ebenfalls die Tagesordnung des Frühjahrsgipfels bestimmen, naturgemäß beginnend mit der
größten Sorge, die uns umtreibt: dem iranischen Nuklearprogramm, das eine Herausforderung nicht nur für
das Nichtverbreitungsregime ist, sondern auch für die
Sicherheit und Stabilität des gesamten Nahen und Mittleren Ostens. Wir werden innerhalb der Europäischen
Union ganz sicher gemeinsam weiterhin darauf setzen,
hier tatkräftig und kreativ an diplomatischen Lösungen
zu arbeiten.
Das nächste Thema, das auf dem Frühjahrsgipfel
noch nicht zur Entscheidung ansteht, aber kurz nach der
Regierungsbildung in den palästinensischen Gebieten, ist die Lage nach der Wahl dort. Ich darf Ihnen
sagen, dass wir mit Präsident Abbas und der israelischen
Führung in engstem Kontakt stehen. In den letzten Tagen haben wir, nachdem auch die EU sich dazu geäußert
hat, beide Seiten dazu aufgerufen, Deeskalation zu betreiben und die Gewalt ruhen zu lassen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass der Friedensprozess überhaupt
eine Chance hat. Aber angesichts des Wahlergebnisses
werden wir nach der jetzt abzusehenden Regierungsbildung und der Vorstellung des Regierungsprogramms natürlich eine Neubewertung unseres künftigen Verhältnisses zur palästinensischen Regierung vorzunehmen
haben.
({13})
Ich will nicht verheimlichen, dass wir von unseren Voraussetzungen, die wir in den letzten Tagen und Wochen
immer wieder genannt haben, kaum werden Abstand
nehmen können. Dazu gehört als zentrale Bedingung der
Gewaltverzicht. Keine Regierung der Welt darf sich eine
Option auf den Terror offen halten.
({14})
Wir erwarten ebenfalls, dass die Grundlagen, die in
den letzten Jahren zwischen der palästinensischen Seite
und der israelischen Regierung für die Überwindung des
Konfliktes geschaffen wurden, auch von der zukünftigen
palästinensischen Regierung respektiert werden. Es ist
völlig klar, dass das Existenzrecht Israels nicht infrage
gestellt werden darf.
({15})
Ich komme zu einem letzten Punkt der internationalen
Politik, der uns gestern in einer gemeinsamen Sitzung
von Auswärtigem Ausschuss und Verteidigungsausschuss beschäftigt hat. Die mögliche europäische Operation im Kongo beschäftigt die Öffentlichkeit; sie beschäftigt die Regierung und sie wird auch das Parlament
beschäftigen. Ich darf sagen, dass die Europäische Union
innerhalb des Kongo in den vergangenen Jahren stark an
Profil gewonnen hat, weil sie der wichtigste Partner in
dieser schwierigen Phase des Übergangs geworden ist.
Ich will hinzufügen, dass uns der Kongo schon deshalb
nicht gleichgültig sein kann, weil die Entwicklung in der
Region der Großen Seen - neben dem Kongo gehören
dazu auch Burundi, Ruanda und andere Länder, die in
den letzten Jahren schon Stabilisierungsprozesse hinter
sich gebracht haben - für Afrika insgesamt entscheidend
sein wird.
Ich kann verstehen, dass viele sagen, der Friedensprozess im Kongo sei zu langsam verlaufen. Trotzdem muss
man feststellen, dass er stattgefunden hat: das Referendum über die Verfassung, die Verabschiedung des Wahlgesetzes und die Aufstellung der Wahllisten. Nach
45 Jahren wird es jetzt zum ersten Mal im Kongo eine
Wahl geben. Das ist der Hintergrund für die Anfrage der
Vereinten Nationen, ob die Europäische Union hier
durch militärische Präsenz helfen kann, diesen Stabilisierungsprozess abzusichern.
Wir haben unsere Voraussetzungen dafür genannt: ein
klares Mandat der Vereinten Nationen, eine ausreichende Beteiligung der anderen europäischen Partner sowie eine klare zeitliche und räumliche Begrenzung. Wir
haben gestern festgestellt, dass die Bereitschaft anderer
europäischer Staaten für eine Beteiligung - jedenfalls informell - bei Solana angezeigt worden ist. Kollege Jung
wird kommenden Montag die Partner zu einer Planungskonferenz einladen. Ich darf sagen: Wenn dort eine faire
Lastenverteilung vereinbart wird, dann steht der Weg für
Bundesregierung und Bundestag offen, zu entscheiden,
ob und in welcher Form wir uns an diesem Einsatz beteiligen werden. Ich will meine Meinung nicht verheimlichen, dass wir uns einer solchen gemeinsamen, arbeitsteiligen europäischen Anstrengung nicht verweigern
können, wenn die Voraussetzungen, die wir genannt haben, erfüllt sind.
Abschließend möchte ich sagen, dass die Vorbereitung auf unsere europäische Ratspräsidentschaft läuft.
Langsam wird absehbar, welche Aufgaben uns die Vorgängerpräsidentschaften hinterlassen. Wir werden für
diese Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 eigene
Akzente vorbereiten.
Am 25. März 2007 - also unter deutschem Ratsvorsitz; deshalb erwähne ich dieses Datum - jährt sich zum
50. Mal die Unterzeichnung der Römischen Verträge,
der Geburtsurkunden der Europäischen Union. Ich
glaube, dass uns dieses Datum Anlass bieten wird, die
unbestrittene Erfolgsgeschichte der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa Revue passieren
zu lassen. Ich darf daran erinnern, dass diese Zusammenarbeit uns allen 50 Jahre Stabilität, Wohlstand und Frieden garantiert hat. Deutschland wird sich dafür einsetzen, dass dies auch in den nächsten 50 Jahren so bleibt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die folgende
Aussprache sind nach einer interfraktionellen Vereinbarung eineinhalb Stunden vorgesehen. Ich gehe davon
aus, dass Sie damit einverstanden sind. - Dann ist es so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Markus Löning für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Außenminister, lassen Sie mich mit einem Thema beginnen, das Sie - ich finde, zu Recht und glücklicherweise nicht erwähnt haben - es ist im Vorfeld von europäischen Räten oft ein Thema gewesen -: die Aufhebung
des Waffenembargos gegenüber China. Ich muss sagen: Ich begrüße es im Namen meiner Fraktion außerordentlich, dass die Bundesregierung hier die Linie ihrer
Vorgängerregierung verlassen hat und Sie, Herr Außenminister, im Gegensatz zu Ihrem Vorgänger deutliche
Ansagen gemacht haben. Es ist wichtig, dass das
Waffenembargo gegenüber China bestehen bleibt.
({0})
Wir hatten gerade gestern eine Kollegin aus Taiwan
- sie ist Mitglied des taiwanesischen Parlamentes - zu
Gast. Sie hat geschildert, was es für die Menschen in
Taiwan, die für Demokratie in ihrem Land gekämpft haben, bedeutet, dass das Waffenembargo gegenüber China
bestehen bleibt. An dieser Stelle haben Sie immer die
Unterstützung der FDP-Fraktion.
Einen weiteren Punkt möchte ich als Vorbemerkung
kurz ansprechen: Wenn ich mit unseren europäischen
Freunden gerade aus den kleinen Ländern der EU spreche, dann ist festzustellen, dass es auch hier eine Korrektur der Politik der Bundesregierung im Vergleich zu ihrer
Vorgängerregierung gibt: Der Ton gegenüber den Partnern hat sich geändert. Der Ton ist anders geworden. Er
ist moderater geworden. Es wird nicht mehr von Achsen,
sondern von Partnerschaften geredet. Es wird von Offenheit gesprochen und es wird mit den kleinen Ländern geredet. Das halten wir für richtig. Wir unterstützen ausdrücklich, dass hier die Fehler der Vorgängerregierung
korrigiert worden sind.
({1})
Lassen Sie mich zum Thema Lissabonstrategie, dem
Hauptpunkt des Frühjahrsgipfels, einiges sagen. Wenn
man sich den Entwurf des Schlussdokuments anschaut, kommt man zu dem Ergebnis: Darin steht sehr
viel Richtiges. Aber mir stellen sich in diesem Zusammenhang folgende Fragen: Ist es richtig, dass dies auf
dieser Ebene gemacht wird? Ist es richtig, wenn die EU
in dieser Detailtiefe Vorgaben für die Wirtschaftspolitik
macht? Wäre es nicht sinnvoller, dass die EU sich erst
einmal auf das konzentriert, was wichtig für sie ist und
wofür sie die originäre Zuständigkeit hat? Wäre es nicht
richtig, dass sie sich auf Fragen des Wettbewerbs im
Binnenmarkt konzentriert? Da sind wir erfolgreich gewesen, weil die EU entsprechende Regelungen durchgesetzt hat.
Wäre es nicht wichtiger, dass die nationalen Regierungen ihre Hausaufgaben machen? Denn wir können
zwar viele Programme auf EU-Ebene verabschieden. Es
sind schöne Programme. Das meiste, was darin steht, ist
richtig und wichtig und wird von mir unterstützt. Aber
die Frage ist: Wann setzt diese Bundesregierung sie um?
Wann wird das umgesetzt, was von den Partnern angemahnt wird? Ich würde mir wünschen, dass mehr auf nationaler Ebene gehandelt wird und nicht auf internationaler Ebene große Ankündigungen gemacht werden.
Wenn ich mit unseren Partnern rede, werde ich gefragt: Was ist mit der Mehrwertsteuererhöhung? Bei
unseren europäischen Partnern gibt es erhebliche Bedenken. Sie fragen uns: Was macht diese Bundesregierung
mit der Mehrwertsteuererhöhung? Es gibt Bedenken,
dass eine solche Erhöhung die Geschwindigkeit des
Wachstums in Deutschland und damit in der Eurozone
erheblich verlangsamen wird.
({2})
Deutschland ist schon jetzt der Bremsklotz, was das
Wachstum in der Eurozone angeht. Wir werden es nach
der Erhöhung der Mehrwertsteuer umso mehr sein.
Herr Steinmeier, leider muss ich Ihnen widersprechen. Die Wirtschaftspolitik, die Sie skizziert haben, ist
nun wahrlich nicht das, was man sich unter einer wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik vorstellt. Es waren schöne Aspekte dabei, aber nicht das, was wir brauchen, um dieses Land auf Wachstumskurs zu bringen.
Sie haben weder die Steuerreform noch die Reformen
der Sozialsysteme oder die Reform auf dem Arbeitsmarkt angesprochen. Dies sind die großen Themen, die
wir angehen müssen, damit Deutschland wieder ein höheres Wachstum erfährt und wieder Motor des Wachstums in Europa sein kann. Diese Themen haben Sie umschifft. Von diesen Themen habe ich nichts gehört. Das
ist es, was die Bundesregierung anpacken muss. Dann
können wir auch auf europäischer Ebene Erfolg haben.
({3})
Ich fürchte mich vor einer Situation, in der auf europäischer Ebene Großes beschlossen, auf nationaler
Ebene nicht gehandelt und anschließend mit dem Finger
nach Brüssel gezeigt und gesagt wird: Seht, die Dinge in
Brüssel nützen nichts! - Das führt zu Euroskeptizismus.
Handeln Sie hier! Dann klappt es auch mit Europa wieder besser. Wir brauchen hier, in Deutschland, Wachstum.
Sie haben die Verfassung und die Zustimmung zu
Europa angesprochen. Ich glaube, Europa braucht Erfolge. Wir können lange über die Verfassung diskutieren;
diese Diskussionen sind teilweise sehr technisch. Was
wir brauchen, ist: Wir müssen zeigen, dass Europa handlungsfähig ist, dass Europa, wenn seine Mitgliedstaaten
gemeinsam handeln, Erfolg haben kann. Wir müssen
zeigen, dass wir gemeinsam mehr erreichen können als
einzeln. Das vermisse ich. Ich möchte, dass sich die EU
auf das konzentriert, was sie wirklich kann. Dazu würde
eine gemeinsame Außenpolitik gehören, zu der schon
gute Schritte unternommen wurden.
Für den Bereich der Wirtschaftspolitik wäre zu nennen: Die EU sollte sich auf die Ermöglichung von Wettbewerb konzentrieren. Ich habe vermisst, dass Sie klare
Worte zu der Diskussion um nationale Champions sagen.
Es ist eine Kernaufgabe auf europäischer Ebene, dass
wir in diesen Fragen klar Stellung beziehen, bevor wir
uns zu Dingen äußern, die auf nationaler Ebene umgesetzt werden. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie an dieser
Stelle die Rolle der Kommission und der EU insgesamt
wesentlich deutlicher anmahnen. Da können wir Erfolge
erzielen; da ist Europa immer erfolgreich für seine Bürger gewesen. Es erhöht die Akzeptanz Europas, wenn
wir an dieser Stelle Erfolge vorweisen können.
({4})
Wir brauchen ohne Zweifel mehr politische Integration; wir brauchen mehr Vertiefung. Aber wir müssen
die Vertiefung dort zum Tragen bringen, wo sie Erfolg
bringt.
Eines dürfen wir in dieser Diskussion nicht aus den
Augen verlieren: Europa hat immer davon profitiert,
dass es Unterschiede gibt. In Europa hat sich Fortschritt
oft daraus ergeben, dass es zwischen Modellen oder
Ideen einen Wettbewerb gegeben hat, dass es auf dem
Gebiet von Forschung und Entwicklung Wettbewerb gegeben hat, dass es aber auch dann, wenn es um politische
Ideen oder Konzepte geht, Wettbewerb gegeben hat. Das
dürfen wir bei der Diskussion über solche Dinge wie die
Lissabonstrategie nicht vergessen. Wenn wir zu einer
Nivellierung, zu einer Vereinheitlichung der Politiken
kommen, gibt es diesen Wettbewerb nicht mehr. Dieser
Wettbewerb innerhalb Europas ist immer ein Motor des
Fortschritts gewesen; er muss aufrechterhalten werden.
Nur so werden wir in Europa nach vorn kommen.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Stübgen für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zum sechsten Mal in Folge steht die Frühjahrstagung des Europäischen Rates am 23. und 24. März dieses Jahres unter dem Zeichen der so genannten Lissabonstrategie. Die Europäische Union stellt damit klar,
dass sie Wachstum und Beschäftigung in das Zentrum
ihrer Politik stellen will. Ich denke, das ist ein richtiger,
ja ein entscheidender Ansatz für die Europäische Union.
In diesem Jahr hat der erwähnte Europäische Rat eine
besondere Bedeutung, denn vor fast genau einem Jahr
wurde die Lissabonstrategie neu gestartet. Ein Neustart
war dringend geboten, weil die Lissabonstrategie der EU
auf dem besten Wege war, zu scheitern. Der bisherige so
genannte Lissabonprozess war nämlich alles andere als
ein Ruhmesblatt für die Europäische Union.
Erinnern wir uns: Im Jahr 2000 beschlossen die
Staats- und Regierungschefs ein Programm mit vielen
Superlativen. Ich zitiere: Die Europäische Union soll bis
zum Jahr 2010 zur „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten“ Wirtschaft der Welt werden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass in China, den
USA, in Asien und wo auch immer solche Sätze, die von
europäischen Regierungschefs beschlossen worden sind,
nicht einmal mehr als arrogant, sondern einfach nur als
lächerlich aufgefasst werden. Es war eine überzogene
Forderung, die nicht einlösbar war. Was dieser Erklärung
folgte, war: Familienfotos der Staats- und Regierungschefs wurden gemacht, unzählige Fensterreden europäischer Politiker wurden gehalten und es wurde unsäglich
viel Papier beschrieben. Allein, passiert ist fast nichts.
Im Jahr 2004 wurde unter Leitung von Wim Kok,
dem ehemaligen niederländischen Ministerpräsidenten,
eine Expertengruppe eingerichtet, die die Lissabonstrategie auf ihre Erfolge hin analysieren sollte.
Das Ergebnis dieser Analyse war erschütternd: Wirtschaft und Wachstum in der Europäischen Union waren
im Betrachtungszeitraum eher rückläufig. Die Probleme
auf dem Arbeitsmarkt wuchsen, insbesondere bei jungen
und älteren Menschen sowie Frauen und die Popularität
der europäischen Politik bei der Bevölkerung hat abgenommen.
In seiner Analyse des bisherigen Lissabonprozesses
definierte Wim Kok im Wesentlichen zwei Kernursachen für das Scheitern: erstens das fehlende, auf jeden
Fall nicht ausreichende Engagement der Mitgliedstaaten
und zweitens eine unübersehbare Vielzahl sich widersprechender, auf verschiedenen Ratstagungen immer
wiederholter und neu beschlossener Zieldefinitionen.
Wir müssen aus dieser Entwicklung zunächst eine
entscheidende Erkenntnis ableiten: Die Europäische
Union darf bei den Bürgern keine überzogenen Erwartungen wecken. So entscheidend es auch ist, dass
Wachstum und Beschäftigung auf europäischer Ebene
und auf allen nationalen Ebenen oberste Priorität haben,
darf die Europäische Union nicht den Eindruck erwecken, als könne sie quasi wie eine Märchenfee alle Probleme wegzaubern. Die überwiegende Mehrheit der
Menschen in der Europäischen Union glaubt übrigens
nicht an Märchen.
Solche Aktionen führen dazu - und das ist das eigentlich Schlimme -, dass bei den Menschen in Europa das
Misstrauen und die Skepsis gegenüber europäischer
Politik eher zunehmen als dass das entsteht, was wir
brauchen, nämlich mehr Vertrauen und mehr Unterstützung in Europa.
({0})
Es war völlig richtig und entscheidend, dass die neue
Kommission unter José Manuel Barroso im Jahr 2005
rasch und energisch das Ruder herumgerissen hat. Die
neu ausgerichtete Lissabonstrategie hat gute Chancen,
einen zentralen Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigung in Europa zu leisten. Nun liegt es nachprüfbar
- das ist wichtig - in den Händen der Mitgliedstaaten
- auch Deutschlands -, durch die Umsetzung der Strategie ihren eigenen Beitrag zu leisten.
Unsere Bundesregierung hat dazu einen ersten wichtigen Schritt getan. Die Bundesregierung hat das nationale Reformprogramm für den Zeitraum 2005 bis 2008
vorgelegt. Dabei hat sie drei Schwerpunkte gesetzt. Erstens: der Ausbau der Wissensgesellschaft und die Erhöhung der Dynamik des europäischen Binnenmarktes.
Das ist eine wichtige Grundlage, um die Globalisierung
aktiv als Chance nutzen zu können. Zweitens: die Ausweitung der Förderung von Innovation und Bildung, um
technologischen Fortschritt in Deutschland voranzubringen. Drittens: die Bewältigung des Problems der großen
demografischen Veränderungen - auch ein entscheidender Punkt, der uns im Übrigen noch viele Jahrzehnte beschäftigen wird - durch die zunehmende Alterung der
Gesellschaft gerade auch bei uns in Deutschland. Damit
verbunden ist die Abwendung der drohenden Verödung
unserer ländlichen Räume. Gerade hierfür ist und bleibt
die europäische Regional- und Strukturpolitik von ganz
entscheidender Bedeutung.
Darüber hinaus hat - als deutsche Aufgabe - natürlich
auch die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen eine
herausragende Bedeutung. Wir werden sicherstellen,
dass Deutschland im Jahr 2007 das Dreiprozentkriterium
des Stabilitätspakts bei der Neuverschuldung wieder einhält und damit mittelfristig mehr haushaltspolitischer
Spielraum für Wachstum und Beschäftigung zur Verfügung steht.
Der neue Ansatz der Lissabonstrategie ist vernünftig
gewählt. Mittelfristig - davon bin ich überzeugt - wird
dies substanzielle Verbesserungen für die Menschen in
Europa bringen.
Trotzdem möchte ich die Aufmerksamkeit auf einige
wachsende Konfliktpotenziale bei der Durchführung der
Lissabonstrategie lenken. Der Europäische Rat wird in
der nächsten Woche vier prioritäre Handlungsfelder
für die Lissabonpolitik beschließen. Dazu zählen erstens
höhere Investitionen für Forschung und Entwicklung
- ein Anliegen, das wir mit der deutschen Politik vorantreiben -; zweitens Verbesserung der Rahmenbedingungen für unternehmerische Tätigkeit insbesondere - das
ist ganz entscheidend - für kleine und mittlere Unternehmen, die es verstärkt in strukturschwachen Gegenden sowie im ländlichen Raum gibt; drittens Verbesserung der
Beschäftigungschancen insbesondere für junge und ältere Arbeitnehmer sowie für Frauen; viertens die Energiepolitik.
Diese vier prioritären Ziele sind völlig richtig gewählt. Sie müssen aber auch im richtigen Kontext umgesetzt werden. Derzeit herrscht bei der Europäischen
Kommission die Tendenz vor, das bisher vielfach mangelnde Engagement der Mitgliedstaaten durch zentrale
Kontrolle zu fördern, geradezu durch Bevormundung zu
ersetzen. Das ist nach meiner Überzeugung der falsche
Weg.
Für die konsequente und richtige Umsetzung ist es
von entscheidender Bedeutung, dass die Kommission
die notwendige Weichenstellung vornimmt, um dadurch
die Mitgliedstaaten anzuregen, die jeweilige nationale
Politik auf die Ziele Wachstum und Beschäftigung auszurichten.
({1})
Ein Beispiel für die Gefahr von Fehlentwicklungen
sehe ich in den gegenwärtigen Verhandlungen zu den
Strukturfondsverordnungen. Der Europäische Rat hat im
Dezember 2005 völlig zu Recht gefordert, den Einsatz
der Strukturmittel in der kommenden Finanzierungsperiode stärker an den Lissabonzielen zu orientieren. Die
Europäische Kommission ist aber im Moment dabei,
diese grundsätzlich richtige Zielstellung zu nutzen, um
- quasi durch die Hintertür - die Handlungsspielräume
der Mitgliedstaaten in zahlreichen Bereichen der Wirtschaftspolitik in unzulässiger Art und Weise einzuschränken. So ist die Kommission zum Beispiel der Auffassung, dass die klassische Unternehmensförderung
durch Investitionszuschüsse in den Ziel-2-Gebieten angeblich nicht dem Ziel Wachstum und Beschäftigung
dienen soll, also ausgeschlossen werden soll, wohingegen in den Ziel-1-Gebieten dasselbe Modell für die
Durchführung der Lissabonstrategie nützlich sein soll.
Ich denke, das ist der falsche Weg. Ich halte das Bemühen der Bundesregierung für richtig, zu erreichen,
dass auch für die Ziel-2-Gebiete - das sind vor allen
Dingen strukturschwache Gebiete in den alten Mitgliedstaaten, in Deutschland also in den westdeutschen Ländern - die Möglichkeit von Investitionsförderungen bestehen bleiben soll.
({2})
Inwiefern davon Gebrauch gemacht wird, sollen die Mitgliedsländer und deren Gebietskörperschaften eigenverantwortlich entscheiden.
Auch besteht bei diesem so genannten Earmarking
die Gefahr - der Beschluss des Europäischen Rates vom
Dezember letzten Jahres war gut gemeint -, dass die bisherige Strategie der Europäischen Kommission zu einer
zusätzlichen Bürokratisierung der Ausreichung von
Strukturfondsmitteln führt. Die Europäische Kommission hat vor, zusätzlich zu allen Prüfmechanismen, die
angewandt werden, bevor Strukturfondsmittel an die
Mitgliedsländer ausgereicht werden, eine Prüfinstanz
einzurichten, die einen so genannten Kennungsprozess
einleitet, in dem geprüft wird, inwieweit bestimmte Mittel der Erreichung des Lissabonziels dienen.
Wenn das so genannte Earmarking - es ist gut gemeint und dem Grunde nach auch richtig - zu mehr Bürokratie, Komplexität und Kompliziertheit beim Einsatz
europäischer Fördermittel im Bereich der Infrastruktur
oder Sozialpolitik führt, dann erreichen wir genau das
Gegenteil von dem, was wir brauchen. Wir brauchen
nämlich weniger Bürokratie und mehr Eigenverantwortung.
({3})
Wir brauchen eine Lissabonstrategie, die erreichbare
Ziele klar definiert und diese Ziele engagiert verfolgt.
Wir werden Wachstum und Beschäftigung nur erreichen,
wenn alle Akteure der nationalen und der europäischen
Politik an einem Strang ziehen. Dabei ist es wichtig, dass
wir auch das Forum des Deutschen Bundestages nutzen,
um die Verzahnung von europäischer und nationaler
Politik deutlich zu machen.
({4})
Gerade vor dem Hintergrund der Globalisierung der
Weltwirtschaft und dem rasanten Wirtschaftswachstum,
zum Beispiel in Indien und in China, müssen wir mehr
denn je deutlich machen, dass die Völker und Staaten
Europas nur gemeinsam erfolgreich sein werden.
({5})
Die Fraktion von CDU und CSU wird die Reforminitiativen der Bundesregierung im Rahmen der Lissabonstrategie aktiv begleiten und unterstützen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich erteile nun das Wort der Kollegin Monika Knoche
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Herren und Damen! Herr Außenminister Steinmeier, Sie
haben Ihre Rede zur Lissabonstrategie und dem EU-Gipfel damit begonnen, dass Sie gesagt haben: Die Menschen haben ein diffuses Unbehagen, was Lissabon angeht. Ich bin nicht der Meinung, dass die Menschen von
ihrem Gefühl her dagegen sind. Aber sie haben mit der
Lissabonner Strategie Erfahrungen gesammelt. Deshalb
lehnen sie sie ab. Diese Ablehnung ist richtig.
({0})
Man kann den Menschen doch nicht vorenthalten,
dass es sich in Gesamteuropa um ein konzertiertes Vorgehen handelt, wenn überall Arbeitsrechte und soziale
Sicherungsstandards abgebaut werden. Das Ziel ist
doch die Privatisierung aller sozialen Sicherungssysteme, um börsennotierten Aktienunternehmen Zuwächse
zu verschaffen, die sich dann im Ergebnis als Arbeitsplatzabbau niederschlagen. Das ist doch die Realität, die
die Menschen erfahren.
({1})
Die Ablehnung der Lissabonner Strategie zeigt doch
- genauso wie die Arbeitskämpfe, die wir derzeit in
Deutschland erleben -, dass der Abbau der sozialen
Standards nichts mit Zugewinn an Freiheiten zu tun hat.
Wir wollen ein freiheitliches Europa und für ein freiheitliches Europa ist es existenziell wichtig, dass die Menschen soziale Sicherheit haben.
({2})
Denn kollektive Rechte sind die Ausgangsbasis für individuelle, freie Entscheidungen im Blick auf die Lebensgestaltung. Alle diese Prozesse muss man doch zusammenfügen. Die Menschen sind nicht gefühlig dagegen,
sondern sie haben ein politisches Bewusstsein,
({3})
das Sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Hätten Sie es
zur Kenntnis genommen, dann hätten Sie eine Abstimmung über die europäische Verfassung zugelassen. Doch
das haben Sie nicht gemacht.
({4})
In der europäischen Verfassung sind sowohl das Lissabonner Konzept - in zusammengefasster Weise - als
auch eine Militarisierung der europäischen Außenpolitik
enthalten.
({5})
Bevor ich darauf zu sprechen komme, noch einen Satz:
Ich habe sehr wohl verfolgt, dass Frau
Es kommt darauf an, demnächst eine
Debatte über unser Verständnis von Freiheitsbegriff zu
führen. Ich sehe das in einem sehr engen Zusammenhang mit dem Abbau der Sozialsysteme und meine, eine
Definition der Marktwirtschaft, die hinter die Definition
der sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards zurückfällt, kann doch nicht die Zukunft sein.
({0})
Der zweite Tagesordnungspunkt des Gipfels ist die
Energiepolitik. Ich möchte in diesem Zusammenhang
bewusst über die deutsche und europäische Außenpolitik
sprechen. Wir haben uns vorgestern zu Beratungen im
Auswärtigen Ausschuss und im Verteidigungsausschuss
zusammengefunden. Wir haben dort erfahren, dass es
tatsächlich das ernste Vorhaben Europas ist, im Kongo
militärisch präsent zu sein. Niemand im Kongo will eine
europäische Präsenz. Womöglich muss Solana noch hinfahren, um Kabila davon zu überzeugen, dass er europäische Hilfe braucht.
({1})
Nichts braucht der Kongo so wenig wie deutsche Soldaten. Die Menschen dort brauchen eine gute, unabhängige
Polizei, sie brauchen eine Besoldung für ihr eigenes Militär und vor allen Dingen einen sehr langen Atem für
Friedensbildungs- und Aussöhnungsprozesse. Aber sie
brauchen keinesfalls deutsches und europäisches Militär
vor Ort.
({2})
Warum tut Europa das? Bislang hieß es immer, die
Bündnisverpflichtungen und die Ausrichtung der NATO
sowie die transatlantischen Beziehungen seien für uns
maßgeblich. Plötzlich spielt die NATO gar keine Rolle
mehr. Es geht um eine europäische militarisierte Außenpolitik. Aber wenn es in diesem Fall zum Konflikt
kommt, sollen die Truppen wieder zurückgezogen werden. Warum soll das Militär dann überhaupt dorthin? Die
Fragen für mich lauten: Welche strategischen Absichten
sind damit verbunden? Welche Gewöhnungseffekte für
die Bevölkerung sollen bereits jetzt erzielt werden?
({3})
Ein weiterer Aspekt: Gestern Abend sah ich zu Hause
in den Nachrichten, dass im Irak wieder gebombt wird.
Das muss doch einen deutschen Außenminister veranlassen, dieses Geschehen in seiner Regierungserklärung mit
einigen Worten zu verurteilen.
({4})
Dort findet ein Krieg um Ressourcen, ein Krieg um Öl
statt. Es war von vornherein klar - jedenfalls für alle, die
diesen Krieg abgelehnt haben -, dass es niemals zu einer
Befriedung dieses Landes kommen kann, weil man mit
militärischen Mitteln keinen Frieden schaffen und keine
Demokratie herstellen kann. So sieht derzeit die Situation im Irak aus.
({5})
Dann muss ich auch noch hinsichtlich des hochsensiblen Bereichs der Iranpolitik beobachten, dass die
EU 3 jetzt sozusagen eine Vortruppe gebildet haben, um
es den US-Amerikanern zu ermöglichen, ihre DrohMonika Knoche
kulisse gegen den Iran aufzubauen. Das ist nicht die
deutsche Beteiligung an einer europäischen konzertierten Außenpolitik, wie wir sie uns als Friedenspolitikerinnen und -politiker vorstellen. Das ist nicht das, was
Deutschland in der Welt zeigen muss.
({6})
Bei aller Kritik am iranischen Staatspräsidenten ist
doch offenkundig, dass der Iran nicht gegen den Atomwaffensperrvertrag verstößt. Aber sein Nachbarland Indien, das massiv dagegen verstoßen hat, kommt zu Vertragsabschlüssen mit den USA. Warum das Ganze? Steht
das nicht doch im Zusammenhang damit, dass die einen
die „Have“ und die anderen die „Have not“ sind?
({7})
Geht es nicht vielleicht darum, dass die Staaten, die einen großen Energiehunger zu befriedigen haben, sowohl
über Atomkraftwerke als auch über Atombomben verfügen dürfen, während die Staaten, die produzieren und
exportieren müssen, nicht die Souveränität über ihre
Ressourcen behalten sollen?
({8})
Ist das nicht die eigentliche Energiefrage, um die es
geht?
Ich will, dass die neue Regierung im Deutschen Bundestag - nicht für uns Abgeordnete, sondern für die Bevölkerung - deutlich macht, wie sie die Interessen
Deutschlands definiert. Gehört die Energie - ähnlich wie
in Polen, wo schon von einer Energie-NATO die Rede
ist - zu unseren neuen Interessen, die in der Welt gesichert werden sollen? Wir müssen in Deutschland dringend eine Debatte darüber führen, worin die Interessen
Deutschlands bestehen.
Danke.
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Kurt Bodewig, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
letzte Redebeitrag verführt zu einer Anmerkung. Frau
Kollegin Knoche, Zerrbilder, wie Sie sie gerade gezeichnet haben, leisten weder einen Beitrag zur politischen
Kultur in Deutschland noch schaffen sie Sicherheit und
Vertrauen bei den Menschen.
({0})
Eines will ich ganz klar sagen: Der Außenminister
dieser Regierung hat in Kontinuität zur Vorgängerregierung immer deutlich gemacht, dass wir an friedlichen
Lösungen interessiert sind: sowohl was den Irak betrifft
als auch mit Blick auf das Bemühen der europäischen
Staaten angesichts der atomaren Entwicklung im Iran.
Das können Sie nicht leugnen. Hier stehen Sie übrigens
in einer sehr unguten Tradition. Ich erinnere nur an den
Besuch Ihres Parteivorsitzenden bei Milošević. Sie können nicht einfach die realen Veränderungen in der Welt
negieren und gleichzeitig diejenigen diffamieren, die
versuchen, in einem internationalen Kontext friedliche
Lösungen zu entwickeln. Das ist nicht seriös.
({1})
Ich will auf das Thema dieser Debatte zu sprechen
kommen, die Lissabonstrategie. Der Philosoph Friedrich Nietzsche - ich stimme ihm nicht in allem und erst
recht nicht per se zu; aber an diesem Satz ist viel Wahres
- hat einmal gesagt: „Wir leben in einem System, in dem
man entweder Rad sein muss oder unter die Räder gerät.“ Wir befinden uns in einem globalen Wettbewerb.
Die Entwicklungen in der Welt haben große Bedeutung
für unsere eigene Ökonomie und damit auch für die Zukunftschancen der Menschen, die in unserem Land und
in ganz Europa leben.
In Staaten wie Indien, China oder Brasilien hat sich
eine große Dynamik entwickelt. Diese Dynamik muss
für uns und für ganz Europa als ein Zentrum der globalen Welt Ansporn sein. Es handelt sich hierbei aber auch
um bedrohliche Entwicklungen - ich denke zum Beispiel an den Aufbau der Energiereserven in China und
das Leerkaufen der Stahlmärkte -, die unbedingt europäischer Antworten bedürfen. Ich bin dem Außenminister
sehr dankbar, dass er die Themen Versorgungssicherheit,
Energieeffizienz und erneuerbare Energien sowie die
Möglichkeiten, unsere Abhängigkeit von bestimmten
Energieträgern zu beenden, angesprochen hat.
({2})
Ich glaube, dass diese Aspekte wichtig sind und dass wir
in diesem Bereich vorankommen müssen.
Gleichzeitig will ich aber auch sagen: Es macht keinen Sinn, in Panik zu verfallen. Deutschland ist die Exportnation Nummer eins. In den Bereichen Wissenschaft
und Wirtschaftsentwicklung haben wir große Kapazitäten. Es täte uns gut, wenn wir unser Land wieder etwas
selbstbewusster betrachten würden, als es in manchen
verzerrten Darstellungen und Auseinandersetzungen,
auch und vor allem im Wahlkampf, geschieht.
({3})
Ich fand es richtig, dass Wim Kok die Lissabonstrategie genau analysiert und sie sozusagen vom Kopf auf die
Füße gestellt hat. Sie ist ein wichtiges, großes und ehrgeiziges europäisches Projekt.
Es hat Rückschläge gegeben - unter anderem hat der
11. September 2001 zu einer veränderten internationalen
Lage geführt -, aber darauf stellen wir uns ein.
An einer Stelle, lieber Michael Stübgen, möchte ich
widersprechen: Ich glaube nach wie vor, dass es richtig
ist, dass wir uns in Europa das Ziel setzen, der wissensbasierte Wirtschaftsraum, der wir sind, zu bleiben und
ihn weiterzuentwickeln. Ich finde, dabei haben wir eine
ganze Menge erreichen können. Wir müssen unsere Anstrengungen aber weiter verstärken, wie die nationalen
Reformprogramme, die jetzt als Konsequenz aus dem
Kok-Bericht gefordert sind, sehr deutlich machen. Wir
sind dabei, die Reformschritte, die für unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit notwendig sind - ich erinnere
an die Agenda 2010 -, zu realisieren, und man kann
mittlerweile erkennen, dass die ersten Veränderungen
wirksam werden. Ich kann allen nur empfehlen, den
neuen OECD-Bericht zu lesen, in dem - das wissen wir
aus Vorabveröffentlichungen - deutlich stehen wird,
dass Deutschland einen Aufholprozess begonnen und
große Fortschritte gemacht hat. Für die nahe Zukunft
wird eine gute Aufstellung Europas prognostiziert. Das
ist doch etwas.
Der Koalitionsvertrag dieser Koalition steht in Kontinuität mit den Reformen der Vergangenheit. Die Reformen zeigen jetzt Wirkung und sind von der Europäischen Kommission zu Recht positiv eingeschätzt
worden. Ich finde, das lässt sich sehen und das sollten
wir auch thematisieren.
({4})
Das Ziel der Lissabonstrategie, den Gesichtspunkt der
Nachhaltigkeit zu betonen, ist richtig. Dies muss auf allen Entwicklungsfeldern und Handlungsfeldern geschehen: Energiepolitik, Innovation, Technologieförderung,
stärkere Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen und vieles mehr. Mit dem nationalen Reformprogramm geben wir hierauf die richtigen Antworten. So
stellen wir für die Bildung bis 2009 13 Milliarden Euro
zusätzlich bereit. Das ist wichtig und wird die Erfolge
bringen, die wir brauchen. Gleichzeitig müssen wir die
Qualität von Beschäftigung den demografischen Erfordernissen anpassen. Das ist eine große Aufgabe, die
nicht immer einfach ist, der wir uns aber bewusst stellen.
Populismus ist leicht, aber ernsthafte Politik auf diesem
Gebiet ist eine ganz entscheidende Voraussetzung für
unsere Zukunftsfähigkeit.
({5})
Ich will aber auch sagen, Herr Löning: Wir werden
Europa nicht nur über den Markt machen. Europa können wir nur mit den Menschen machen; wir müssen sie
mitnehmen. Ich glaube, ein Grund für unseren Erfolg ist
der soziale Frieden, die Gewissheit, teilzuhaben an den
Erfolgen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Damit sind in Europa bestimmte Projekte verbunden. Ich
nenne an dieser Stelle die Dienstleistungsrichtlinie. Es
war ein großer Erfolg, dass die SPE und die EVP im
Europäischen Parlament einen Kompromiss gefunden
haben und das Herkunftslandprinzip als eine Bedrohung
aus der Dienstleistungsrichtlinie herausgenommen
wurde. Auch jetzt sollen fremde Anbieter Zugang zu den
Dienstleistungsmärkten haben, aber nicht um den Preis
des Sozialdumpings, der Absenkung von Standards. Der
Wettbewerb muss vielmehr auf der Ebene innovativer
Produkte stattfinden.
({6})
Deswegen habe ich Erwartungen an den Frühjahrsgipfel. „Flexicurity“, das Zusammenfügen der Flexibilität, die wir den Menschen abfordern, und der Gewissheit
der Menschen, sozial abgesichert zu sein, wird ein
Thema sein. Mobilität der Einzelnen darf kein Gegensatz zu sozialer Sicherheit sein. Beides muss miteinander
verbunden werden. Aber auch für die sozialen Sicherungssysteme gilt, dass wir in einer flexibleren Welt leben.
Für mich ist wichtig, dass wir Investitionen thematisieren, zum Beispiel Investitionen in Bildung, in Weiterbildung, in lebenslanges Lernen, in Kinderbetreuung und
Chancengleichheit, in erneuerbare Energien und Energieeffizienz, und den Fokus der Forschung auf die großen Zukunftsthemen richten. Europas Licht unter den
Scheffel zu stellen, ist falsch. Es gibt große europäische
Projekte: die transeuropäischen Netze oder das Technologieprojekt „Galileo“, das nur in Europa in dieser Konsequenz möglich war. Das zeigt: Europa hat Wirkung,
wenn wir Europa ernst nehmen, wenn wir es fördern und
wenn wir Europa als Entwicklungschance nicht nur für
unser Land, sondern im Kontext aller Mitgliedstaaten
der Europäischen Union sehen.
({7})
Wir müssen Zukunftsprojekte auf die Tagesordnung
setzen und die nationalen Reformprogramme der einzelnen Mitgliedstaaten mit den Schwerpunkten der europäischen Politik abstimmen. Die Energiepolitik ist ein Beispiel dafür. Wir brauchen keine Vergemeinschaftung der
einzelnen Subjekte von Politik in der EU. Wir können
auf europäischer Ebene die nationalen Anstrengungen
im Bereich Energie miteinander koordinieren, wobei jedes Land seinen eigenen Energiemix entwickeln muss.
Es war richtig, dass wir die erneuerbaren Energien gefördert haben. Zurzeit werden sie weltweit nachgefragt.
Es war aber genauso wichtig, dass wir auch Technologieprozesse auf den Weg gebracht haben; denn diese zeigen jetzt Wirkung.
({8})
Abschließend möchte ich noch etwas sagen. Europa
wird nicht funktionieren, wenn nur der wirtschaftsliberale Grundsatz gilt: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle
gedacht. Europa wird nur funktionieren, wenn wir in
gleichen Werten, aber auch in gleichen politischen Kontexten denken. Wenn uns das gelingt, dann kann Europa
wieder ein Schwungrad werden für eine Entwicklung,
die uns nach vorne bringt.
Wir haben guten Grund, der deutschen Regierung für
den Wirtschaftsgipfel Vertrauen entgegenzubringen. Damit muss natürlich die Aufforderung verbunden sein, die
Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit als Sicherung der
Zukunft zukünftiger Generationen nicht aus dem Blick
zu verlieren, aber gleichzeitig den Erhalt des Sozialmodells Europa sicherzustellen; denn das unterscheidet uns
von anderen Zentren in der Welt. Das bedeutet Stärke
und zugleich eine Chance für die Zukunft.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf dem
Regierungsgipfel in der nächsten Woche wird es um den
Lissabonprozess gehen und damit um die Zukunft Europas. Wir hören aus der Bevölkerung häufig die Frage,
was unter dem Lissabonprozess eigentlich zu verstehen
ist. Man kann das ganz einfach formulieren. In einfaches
Deutsch übersetzt, geht es um die Frage: In welchem Europa wollen wir leben?
Wie wir beim Scheitern der Abstimmung über den
Verfassungsvertrag sehen konnten, stellen die Bürgerinnen und Bürger viele Fragen: Was tut die EU für mich
und mein Leben? Schadet sie mir nur? Ist sie nur Antreiber in einem globalen Wettbewerb? - Dieses Gefühl haben viele im Augenblick. - Welche Zukunftschancen eröffnet die Europäische Union mir und meinen Kindern
oder zahlen wir nur drauf? Wie und was produzieren wir
eigentlich in Deutschland? Welche Dienstleistungen bieten wir an? Welche und wie viele Arbeitsplätze entstehen hier?
Das ist der Kern des Ganzen. Damit beschäftigen wir
uns nicht nur heute in dieser Debatte, sondern das ganze
Jahr über, und damit befasst sich die Regierung in der
nächsten Woche auf dem Regierungsgipfel.
Ich glaube, dass die Bundesregierung nicht in allen
Bereichen nur Positives dazu beiträgt. Die Mehrwertsteuererhöhung in der größten Volkswirtschaft in Europa zum Beispiel ist nicht gerade ein Beitrag, um bei
der Verfolgung dieser Strategie weiterzukommen und
die Konjunktur anzukurbeln.
Aber auch mit der Lissabonstrategie an sich haben
wir, so wie sie gegenwärtig ausgestaltet ist, ein Problem.
Ich hoffe, dass die Regierungschefinnen und -chefs sich
dem in der nächsten Woche annehmen. Mit der Überarbeitung der Lissabonstrategie hat das Wachstumsziel
- dabei geht es um Wachstum und Arbeit - Vorrang vor
anderen Zielen bekommen. Die EU-Nachhaltigkeitsstrategie ist quasi abgetrennt worden und wird auf einem eigenen Gipfel im Juni dieses Jahres diskutiert. Bei
der Nachhaltigkeitsstrategie handelt es sich zudem um
eine Strategie, die nicht einmal klare Ziele enthält, deren
Einhaltung man kontrollieren kann. Eine solche Strategie ist meines Erachtens nicht hinreichend; denn eigentlich gehören beide Prozesse zusammen. Man kann doch
nicht ernsthaft der Meinung sein, man wolle in dieser
Republik ein Wachstum, durch das mehr Ressourcen
verbraucht werden. Eine Chance für Wachstum in Europa gibt es nur dann, wenn man sagt: Wir schaffen neue
Arbeitsplätze, indem wir ganz gezielt in Umwelttechnologien, in Energieeinsparung und in Energieeffizienz investieren. - Damit könnte Europa weltweit führend sein.
({0})
Das ist die Antwort auf die Frage, wie wir leben wollen
und welche Arbeitsplätze wir wollen. In diesem Bereich
sind Arbeitsplätze zu halten bzw. im Rahmen der Umstrukturierungsprozesse sind neue Arbeitsplätze zu
schaffen.
Ich will als Beispiel den Bereich Windkraft nennen,
der bisher, wenn wir darüber diskutiert haben, liebend
gern veralbert wurde. Zurzeit besteht weltweit eine
Knappheit an Windturbinen. Aufgrund der Auftragslage
sind Windkraftwerke bis Ende 2007 quasi ausverkauft.
Sie sehen also: Deutschland und Europa müssen dort ein
Prä haben; sie müssen in diesem Bereich technologisch
vorne sein, weil das ein Zukunftsmarkt ist. An solchen
Stellen gilt es weiterzudenken.
({1})
Unserer Auffassung nach muss sich die Regierung bei
der Kommission dafür einsetzen, dass es eine integrierte
Strategie für die Erreichung wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Ziele gibt. Das muss die deutsche
Rolle sein.
Weil ich Herrn Kauder bis hier vorne höre, der beim
Thema Windkraft schon wieder die Subventionen anspricht, sage ich Ihnen eines ganz klar: In dieser Republik und in ganz Europa werden so viele Subventionen
gezahlt, an deren Sinn man ernsthaft zweifeln kann. Lassen Sie Deutschland eine treibende Kraft sein, die den
Mut hat, Subventionen, die in die falsche Richtung gehen, infrage zu stellen und sich nach vorne zu bewegen.
({2})
Ich erinnere nur daran, dass Frau Merkel in Anlehnung
an die Worte von Herrn Blair einmal gesagt hat, dass
hier zu viel Agrar und zu wenig Zukunft ist. Ich glaube,
dass man die Haushalte und den Finanzrahmen - dabei
geht es um die Frage, wie er für die Zukunft ausgestaltet
wird - wirklich dahin gehend durchkämmen muss, dass
nur zukunftsorientierte, wenn auch degressive Subventionen gezahlt werden. Wir haben an dieser Stelle nichts
zu verschenken und wir haben gerade in der europäischen Finanzpolitik jede Menge Gründe, nicht ständig
den alten Lobbys anzuhängen.
({3})
Gerade mit Blick auf die Energie, die in der nächsten
Woche ein Kernthema sein wird, haben wir an Sie die
Forderung, ambitionierter vorzugehen, als dies im
Grünbuch der Europäischen Kommission zur Energie vorgesehen ist. Was im Grünbuch steht, ist definitiv
nicht ambitioniert genug. Es enthält keine konkreten
Ziele und Handlungsschritte. Es fehlen konkrete Ausbauziele im Bereich der erneuerbaren Energien, der
Energieeffizienz und der Energieeinsparung. Es wird
schlicht und einfach alles gleichberechtigt nebeneinander gestellt. Wir meinen, dass es bei der Strategie „Weg
vom Öl“ nicht reicht, alles nebeneinander zu stellen. Wir
müssen inhaltlich überlegen, ob die einzelnen Energiebereiche überhaupt eine Zukunft haben und ob sie uns
als Exportweltmeister weiterhelfen können. Wir setzen
auf die drei E: erneuerbare Energien, Effizienz und Einsparen. Hier sind die Arbeitsplätze Europas.
({4})
Mich stimmt es ehrlich gesagt nachdenklich, dass uns
beim Energiegipfel nicht das Bundesumweltministerium vertreten hat, sondern das Wirtschaftsministerium.
Wir wissen ja, dass viele in diesem Lande sagen: Das
Problem der deutschen Wirtschaft hat einen Namen; er
lautet Glos. Mich stimmt es noch frustrierter, dass uns
dort ein NRW-Kohle-Lobbyist vertreten hat. Ich glaube
nicht, dass wir so weiterkommen.
({5})
Ich meine, dass Deutschland die Möglichkeit hat, bei
einer Art dritten industriellen Revolution in Europa eine
Führungsrolle einzunehmen; das hat diese Regierung
aber noch nicht aufgegriffen, Frau Merkel. Man muss
dies für viele Arbeitsbereiche durchdeklinieren. Wir
brauchen eine Vorreiterrolle Deutschlands. Wir benötigen einen nationalen Energieplan, der auch nach
Europa ausstrahlt und mit dem konkrete Ziele gesetzt
werden, die in Europa umgesetzt werden können. Dabei
geht es bis hin zur Frage, wie wir den 7. Forschungsrahmenplan nutzen können. So wird Zukunft gesetzt. Wir
wollen aufhören mit den Investitionen in rückwärts
gewandte Forschungsprojekte wie zum Beispiel die
Euratom. Wir brauchen Investitionen in die erneuerbaren
Energien und für die Steigerung der Energieeffizienz.
({6})
Frau Merkel, als Letztes zum Thema Energiemarkt
möchte ich noch eine Bitte äußern: Setzen Sie dem
Handkuss von Jacques Chirac klare Worte entgegen und
sorgen Sie dafür, dass es keine neue Art von Protektionismus und Monopolstellung für einzelne Unternehmen
in Europa gibt!
({7})
Sprechen Sie klare Worte in Europa! Wir brauchen mehr
Wettbewerb und mehr Wettbewerbskontrolle in Europa.
({8})
Wir haben also Erwartungen an den Gipfel in der
nächsten Woche. In der nächsten Woche muss eine Antwort auf die Frage gegeben werden, in welchem Europa
wir leben wollen. Die Antwort kann nur sein, dass wir
das Soziale und das Ökologische in Europa im wahrsten
Sinne des Wortes miteinander verbinden.
Noch ein Satz zum Thema Kongo, das hier eine Rolle
gespielt hat. Wir wissen, Deutschland und ganz Europa
haben hier eine große politische Verantwortung. Aber
lassen Sie uns nicht nur über zeitliche Begrenzungen und
klare Aufträge diskutieren. Lassen Sie uns auch die Problemfelder benennen. Die Frage ist: Welche Verantwortung haben wir hinsichtlich der Rohstoffsituation und
des Raubbaus, der dort betrieben wird? Auch müssen
wir die Frage klären: Was würden deutsche Soldaten machen, wenn sie einem Kindersoldaten gegenüberstünden? Hier besteht Anlass zur Diskussion. Wir wissen um
unsere Verantwortung. Wir wissen aber auch um die
zeitlichen Probleme.
({9})
Das Wort erhält nun der Kollege Laurenz Meyer für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ungefähr die Hälfte der Zeit
für die Umsetzung des Lissabonprozesses ist verstrichen, aber vom Erreichen der Ziele sind wir noch weit
entfernt. Das ist leider das Ergebnis der Analyse.
Wir begrüßen, dass sich die EU neu ausrichtet. Das ist
besser als die vorherige Situation. Das geht uns aber
nicht weit genug und es ist auch noch nicht klar genug.
Die EU muss sich nicht um alles kümmern. Sie soll sich
auf die Kernbereiche konzentrieren, in denen sie wirklich handlungsfähig ist und Schwerpunkte setzen kann.
Die Bundesregierung hat - das haben wir hier häufig
diskutiert - in vielen Bereichen eigene Akzente gesetzt:
im Bereich Forschung und Entwicklung, im Bereich der
rechtlichen Rahmenbedingungen insbesondere für die
kleineren und mittleren Unternehmen und schwerpunktmäßig im Energiebereich.
Ich will noch einen Punkt hinzufügen, der heute Morgen ein bisschen zu kurz gekommen ist: Wir fordern die
Bundesregierung auf, bei dem Abschluss der Welthandelskonferenz eine klare Position zu beziehen. Es kann
nicht sein, dass nur in den Bereichen Entwicklungshilfe
und Landwirtschaft Regelungen beschlossen werden.
Wir brauchen ebenso klare Rahmenbedingungen für unsere Industrie und unsere Dienstleistungsunternehmen
und für den Schutz des geistigen Eigentums.
({0})
Wir haben die Forschungs- und Entwicklungspolitik
sowie die Technologiepolitik in den Mittelpunkt gestellt.
Wir haben beschlossen, dass wir dafür die Haushaltsmittel erhöhen wollen. Wir appellieren noch einmal an die
Bundesregierung, die Weichen dafür zu stellen, dass
diese Mittel noch vor Verabschiedung des Haushalts verausgabt werden können, sodass die Handlungsfähigkeit
der Bundesregierung sichergestellt ist.
Das Thema Energiepolitik hat hier schon eine große
Rolle gespielt; Frau Künast hat es in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen gestellt. Ich möchte zunächst einmal
für meine Fraktion klarstellen: Wir finden es gut, dass
die Energiepolitik deutlich weniger ideologisch betrieben wird
({1})
und sich stärker an den drei Vorgaben konzentriert, Energie sicher, preisgünstig sowie verbraucher- und umweltfreundlich bereitzustellen.
({2})
Laurenz Meyer ({3})
Die neue Ausrichtung der Energiepolitik ist hinsichtlich
der Zahl der Arbeitsplätze und damit der Beschäftigung
sicherlich ein wichtiger Grundsatz. Das Grünbuch der
EU enthält in diesem Zusammenhang gute Akzente, die
wir unterstützen.
Ich möchte hinzufügen, Herr Außenminister - Sie haben das vorhin angesprochen -, dass wir Ihre Auffassung bezüglich des Themas Energiesicherheit im Kern
teilen. Die Energiesicherheit ist heute in Europa keine
nationale Angelegenheit mehr. Ein Ziel der EU muss
sein, im Bereich der strategischen Energiesicherheit gemeinsame Aktivitäten zu entwickeln. Wir dürfen nicht
vergessen, dass 60 Prozent unserer Energie aus Gas und
Öl gewonnen werden. Aber wir beschäftigen uns überwiegend mit den restlichen 40 Prozent der Energieversorgung. Wir sollten die strategische Bedeutung Europas, diese Quellen zu sichern und die Versorgung der
Bevölkerung und der Unternehmen zu gewährleisten,
nicht aus den Augen verlieren. Dazu muss jedes Land
seinen Beitrag leisten.
({4})
Ich sage Ihnen ganz offen, Frau Künast - ich hoffe,
dass wir in diesem Punkt hier im Parlament eine breite
Übereinstimmung erzielen -: Ich bin gerade im Nachhinein froh darüber, dass der bewährte Energiemix in
Deutschland trotz aller Schwierigkeiten erhalten worden
ist. Ich möchte keine ausschließliche Konzentration auf
die Kernenergie, von der man dann abhängig ist, wie es
in Frankreich der Fall ist. Ich möchte keine Situation wie
in England, das nach einer Umsteuerung in der Energiepolitik voll auf Gas gesetzt hat und damit jetzt vor die
Wand läuft. Unser Energiemix aus Öl, Gas, Kernenergie,
Braun- und Steinkohle und den regenerativen Energien
ist eine gute, verlässliche Grundlage. Wir sollten darauf
hinwirken, ihn zu erhalten.
({5})
Zu begrüßen ist, dass der Aspekt, die Kosten niedrig
zu halten, berücksichtigt wird.
({6})
Liebe Frau Künast, in dieser Hinsicht gibt es sicherlich
Unterschiede zwischen uns. Wir wollen nicht an den
Produktionsmengen, etwa bei den regenerativen Energien, herumdrehen. Aber wenn schon Mengen festgelegt
werden müssen, dann sollten wir wenigstens das Ziel
verfolgen, diese Mengen so effizient und kostengünstig
wie möglich zu produzieren. Dass das Finanzierungssystem im Bereich Windenergie, die Sie in Ihrer Antwort
auf den Zwischenruf des Kollegen Kauder angesprochen
haben, etwas mit Zukunft zu tun hat, kann ich nicht erkennen. Es ist ein Programm für Kapitalanleger, nicht
für die Ökologie.
({7})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf einen
weiteren Punkt zu sprechen kommen, der vielleicht auch
die Kollegen von der SPD freuen wird. In der Diskussion geht es auch darum, dass die Steinkohlesubventionen gesenkt werden müssen. Sie haben in diesem Zusammenhang festgestellt, Frau Künast: Wind ist
Zukunft, Steinkohle ist Vergangenheit. Darauf kann ich
nur erwidern: Verglichen mit den Subventionen für die
Windenergie sind die Steinkohlesubventionen geradezu
wirtschaftlich.
({8})
Die Frau Bundeskanzlerin hat sich entschuldigt; sie
kann vorübergehend nicht an der Debatte teilnehmen.
Ich will ihr für den Energiegipfel trotzdem Folgendes
mit auf den Weg geben - auch Sie, Herr Steinmeier, nehmen daran teil -: Es muss eine Abkehr von dem kurzfristigen Denken in der Energieversorgung erfolgen, das
zurzeit bei den Energieunternehmen verbreitet ist; das
müssen Sie den Energieunternehmen beim Energiegipfel
übermitteln. In der Energieversorgung geht es - nicht anders als in vielen viel weniger von langfristigen Investitionen abhängigen Bereichen - um kurzfristige Optimierung: Da werden Kernkraftwerke für eine bestimmte
Zeit nicht mehr für wirtschaftlich gehalten. Dann wird
verstärkt auf Gaskraftwerke gesetzt. Die Entwicklung,
das Gas in der Grundlast zu verbrennen, statt es in Haushalten, Autos usw. einzusetzen, halte ich für verheerend.
({9})
Jetzt, da die Gaspreise steigen, werden auf einmal die
Gaskraftwerke wieder zurückgefahren. - Die Unternehmen, die von der Politik eine Langfriststrategie verlangen, agieren in ihrem eigenen Bereich so kurzfristig, wie
es nicht schlimmer geht. Das muss man ihnen - auch bei
dem Energiegipfel - ins Stammbuch schreiben.
({10})
Wir müssen vor allen Dingen dafür Sorge tragen, dass
die stromintensiven Unternehmen in Deutschland erhalten bleiben. Ich sage ganz deutlich: Wenn wir nicht jetzt
aktiv werden - das ist auch eine Aufforderung an den
Umweltminister und den Wirtschaftsminister für die anstehenden Fragen, seien es die Emissionszertifikate oder
andere -, dann wird es in zwei Jahren keine NE-Metallindustrie in Deutschland mehr geben. Deshalb müssen
wir die Bedingungen schnellstmöglich ändern, damit in
Deutschland die Arbeitsplätze in diesem Bereich erhalten werden können und eine Zukunft haben.
({11})
Für den Gipfel ist des Weiteren wichtig, dass die
Märkte sich zunehmend abzuschotten drohen. Das zeigt
der Vorgang im Zusammenhang mit Eon. Wir wollen
Wettbewerb und grenzüberschreitende Möglichkeiten.
Was im Grünbuch bis 2007 geplant ist, ist völlig richtig
und wird von uns unterstützt. Mehr Wettbewerb kann
uns nur helfen. Dazu gehört aber auch, der in Europa
vorhandenen Tendenz einer nationalen Abschottung der
Märkte entgegenzuwirken. Eon ist aus unserer Sicht ein
gutes Beispiel, weil es Ergänzungen in den Märkten vornimmt. Notwendig sind auch internationale Player, wenn
Europa seine strategische Bedeutung beibehalten will.
({12})
Laurenz Meyer ({13})
Ein weiterer wichtiger Bereich, der ebenfalls bereits
angesprochen wurde, sind die kleinen und mittleren
Unternehmen. Dass hier ein Schwerpunkt gesetzt wird,
ist absolut richtig und wird von uns in jeder Weise unterstützt; denn ehrlicherweise ist festzustellen, dass die großen DAX-Unternehmen tendenziell eher Arbeitsplätze
in Deutschland abbauen werden, als weitere zu schaffen.
Wir müssen deshalb auf die kleinen und mittleren Unternehmen setzen und uns vor Augen halten, dass ein Maschinenbau- oder Chemieunternehmen in Deutschland
durchschnittlich 300 Beschäftigte hat. Das sind zum Teil
Weltmarktführer. Diese gilt es zu unterstützen.
({14})
Das geplante Mittelstandsentlastungsgesetz soll hier wirken und zum Abbau von Bürokratie, der Buchführungs-,
der Nachweis- und der Dokumentationspflichten, sowie
zur Beschleunigung der Genehmigungsverfahren beitragen. Insbesondere diese Unternehmen sind darauf angewiesen, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben wollen.
Auch über Steuern und Abgaben müssen wir im Zusammenhang mit der für 2008 geplanten Unternehmensteuerreform reden.
({15})
Die angesprochenen Unternehmen sind in erster Linie
darauf angewiesen, dass die Lohnnebenkosten gesenkt
werden. Schauen wir einmal, welchen sinnvollen Beitrag
die FDP dazu leisten kann. Wir werden jedenfalls dafür
kämpfen und Sie sollten mitkämpfen. Die Erhöhung der
Mehrwertsteuer spielt in diesem Zusammenhang keine
entscheidende Rolle. Vielmehr muss es uns gelingen, die
Lohnnebenkosten zu senken; denn das ist der entscheidende Ansatzpunkt.
({16})
Deutschland ist das größte Land in der EU. Die EU
wird ihre Ziele nicht erreichen, wenn Deutschland seine
Ziele nicht erreicht. Ich füge für alle, die das noch nicht
kapiert haben, ausdrücklich hinzu: Deutschland wird
seine Ziele nicht erreichen, wenn der Osten Deutschlands die vorgegebenen Ziele nicht erreicht. So weit
muss man das herunterbrechen. Nur wenn wir in den
neuen Bundesländern große Erfolge erzielen, werden
wir in den nächsten sechs bis acht Jahren unsere Ziele in
Deutschland insgesamt erreichen. In diesem Zeitraum
können wir wieder unter den ersten drei Ländern Europas sein, wenn wir uns anstrengen. Damit würden wir
den größten Beitrag zur Umsetzung des hier zur Rede
stehenden Konzeptes leisten, wonach Europa zum führenden Wirtschaftsraum in der Welt werden soll.
Vielen Dank.
({17})
Ich erteile nun dem Kollegen Christian Ahrendt das
Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Minister! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
Bundesregierung fährt in der nächsten Woche mit
schwerem Gepäck zum Europäischen Rat; der Kollege
Löning hat das schon angesprochen. Zu diesem Gepäck
gehört die geplante Mehrwertsteuererhöhung. Es ist zu
erwarten, dass wir im nächsten Jahr beim Wirtschaftswachstum 0,5 bis 0,7 Prozent als Folge dieser Steuererhöhung einbüßen werden.
({0})
Mein Vorredner hat darauf hingewiesen, dass Deutschland die größte Volkswirtschaft in der EU ist. Wenn unser Wirtschaftswachstum im nächsten Jahr zurückgeht,
dann wird das auch Folgen für die anderen Volkswirtschaften in Europa haben. Dementsprechend kritisch
stehen die europäischen Finanzminister der geplanten
Mehrwertsteuererhöhung in Deutschland gegenüber.
Das hat die letzte Sitzung des Ecofin-Rates gezeigt.
Ich sage ganz klar, dass wir eine Mehrwertsteuererhöhung nicht brauchen, um die Maastrichtkriterien zu erfüllen.
({1})
Das Haushaltsdefizit lag 2005 bei 3,3 Prozent. Für 2006
wird ein gleich hohes Defizit prognostiziert. 0,1 Prozent
Defizit entsprechen rund 2,5 Milliarden Euro. Wir müssen also 7,5 Milliarden Euro einsparen, um schon 2006
die vorgegebene Defizitgrenze zu erreichen. Ich glaube,
das ist zu schaffen.
({2})
Man muss außerdem sehen, dass das Sparen leichter geworden ist; denn in Deutschland steigen die Steuereinnahmen wieder. Wir haben im Februar dieses Jahres
29,7 Milliarden Euro mehr Steuern eingenommen als im
Februar 2005. Im Januar 2006 erhöhten sich die Steuereinnahmen um 6 Prozent im Vergleich zum Januar 2005.
Wir können also festhalten: Wir stehen nicht vor einem Wirtschaftsboom, den wir bremsen müssten. Deswegen brauchen wir keine Mehrwertsteuererhöhung als
Wachstumsbremse. Vor diesem Hintergrund sollten Sie
noch einmal darüber nachdenken, ob wir die geplante
Mehrwertsteuererhöhung brauchen; denn rückläufiges
Wirtschaftswachstum hat letztendlich weniger Steuereinnahmen zur Folge.
({3})
Die Mehrwertsteuererhöhung ist ein schweres Gepäckstück. Übrigens ist bislang in den Reden auf die
kleinen und mittelständischen Unternehmen relativ wenig eingegangen worden. Das andere schwere Gepäckstück für die deutsche Regierungsdelegation ist Folgendes: Wir alle wissen, dass nachhaltiges wirtschaftliches
Wachstum in Europa nur möglich ist, wenn wir einen
freien und fairen Wettbewerb haben. 25 verschiedene
Körperschaftsteuergesetze im europäischen Binnenmarkt verhindern diesen freien und fairen Wettbewerb
gerade für kleine und mittelständische Unternehmen.
Wir brauchen eine Initiative, um zu einer schnellen Harmonisierung im Steuerrecht zu kommen.
({4})
Die Kommission hat im Dezember 2005 mit der Sitzlandbesteuerung einen sehr konkreten Vorschlag gemacht, um den kleinen und mittelständischen Unternehmen den Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu
ermöglichen. Es gilt, vor allen Dingen zwei Hindernisse
abzubauen: Die kleinen und mittelständischen Unternehmen müssen erstens vor den hohen Befolgungskosten,
die sie haben, geschützt werden und zum zweiten muss
es gerade kleinen und mittelständischen Unternehmen
möglich sein, bei Investitionen im Ausland grenzüberschreitend Verluste mit Gewinnen, die im Inland entstehen, zu verrechnen.
({5})
Die kleinen und mittelständischen Unternehmen haben
nämlich nicht die steuerlichen Optimierungsmöglichkeiten, die Großunternehmen zur Verfügung haben. Insofern ist es sehr befremdlich, wenn die Bundesregierung
den Vorschlag der Sitzlandbesteuerung, die gerade diesen Unternehmen weiterhelfen soll, schlichtweg ablehnt
und dabei auf ein Konzept abhebt, das kurzfristig und
auch mittelfristig in Europa nach dem derzeitigen Stand
nicht zu erreichen ist.
Ich will dazu drei Punkte vortragen: Erstens. Wenn
wir eine Steuerharmonisierung bei den Bemessungsgrundlagen der Körperschaftsteuer in Europa erreichen
wollen, dann brauchen wir die Zustimmung aller europäischen Staaten. Wir haben hier das Einstimmigkeitsprinzip. Wer in den letzten Tagen die Zeitung gelesen hat,
der weiß, dass bereits fünf Staaten ihr Veto dagegen angekündigt haben.
Zweitens. Die Arbeitsgruppen, die im Rahmen der
Harmonisierung des Steuerrechts die Körperschaftsteuer auf europäischer Ebene behandeln, haben sich
bisher ausschließlich mit den Problemen beschäftigt, die
Großunternehmen und Großkonzerne haben. Die Fragen, die kleine und mittelständische Unternehmen betreffen, sind nicht einmal in die Arbeitsgrundlagen aufgenommen worden. Ein weiteres Problem ist, dass
Verbände, die wesentlich zur Aufklärung beitragen können, nicht in die Arbeiten einbezogen sind.
Drittens. Wenn man zur Erreichung des Lissabonziels
in der Zukunft mehr tun will, als das in der Vergangenheit der Fall war, dann gilt: Wir erreichen nachhaltiges
wirtschaftliches Wachstum in Europa nur, wenn den
kleinen und mittelständischen Unternehmen der Binnenmarkt in Europa geöffnet wird. Deswegen brauchen wir
eine deutliche Verbesserung des freien Zugangs zum
Binnenmarkt. Das heißt, wir brauchen eine zügige Harmonisierung des Körperschaftsteuerrechts.
({6})
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir haben
heute Freitag. In sechs Tagen reisen Sie zum Europäischen Rat nach Brüssel. Sie haben also die Gelegenheit,
die Koffer neu zu packen und die Probleme Mehrwertsteuererhöhung und Sitzlandbesteuerung anders zu lösen.
Ich danke Ihnen.
({7})
Herr Kollege Ahrendt, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag und verbinde das
mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Kelber für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Ruf Europas ist außerhalb unseres Kontinents
wesentlich besser als in Europa selbst. Viele Menschen
weltweit setzen Hoffnungen auf das europäische Gesellschafts-, Sozial- und Wirtschaftsmodell. Sie setzen darauf, dass wir unser Versprechen eines nachhaltigen
Wachstums mit Leben erfüllen, in den globalen Verhandlungen, in unseren Zielsetzungen, aber auch in der europäischen Tagespolitik. Der US-amerikanische Autor und
Ökonom Jeremy Rifkin bringt es in seinem Buch „Der
europäische Traum“ zum Ausdruck. Europas sozialökologische Marktwirtschaft, sein Bekenntnis zur Nachhaltigkeit, zu seiner kulturellen Vielfalt und zur internationalen Zusammenarbeit hat für ihn weltweit
Vorbildcharakter.
Wir haben eine große Verantwortung. In Asien, in
Afrika und in Lateinamerika haben Länder begonnen,
sich zu Organisationen zusammenzufinden, die die
Grundideen der Europäischen Union aufnehmen. Deswegen wird unser Erfolg in Europa entscheiden, ob andere Regionen den Mut finden, von einem reinen Konkurrenzkampf oder einem Brutalkapitalismus, wie
Rifkin ihn nennt, zu einer Kultur der Kooperation und
Nachhaltigkeit zu finden.
Es war übrigens ein deutscher Forstwissenschaftler,
Georg Ludwig Hartig, der 1804 den Begriff der Nachhaltigkeit prägte. Ich darf zitieren:
Es läßt sich keine dauerhafte Forstwirtschaft denken und erwarten, wenn die Holzabgabe aus den
Wäldern nicht auf Nachhaltigkeit berechnet ist.
Jede weise Forstdirektion muss daher die Waldungen ... so hoch als möglich, doch so zu benutzen suchen, daß die Nachkommenschaft wenigstens ebensoviel Vorteil daraus ziehen kann, ...
Hartig hat nicht von möglichst hohen Quartalsgewinnen gesprochen. Hartig hat auch nicht davon gesprochen
- das ist anders als bei der Ausführung von EU-Kommissionspräsident Barroso zur Rolle der Nachhaltigkeit
in der Lissabonstrategie -, dass man jetzt eben ein paar
Bäume mehr fällen müsse, weil man gerade Geld brauche. Er wusste vielmehr, dass ohne Nachhaltigkeit
Wirtschaftswachstum geringer ausfällt, dass bald die
Schäden den wirtschaftlichen Nutzen übersteigen.
An diese Erkenntnis muss sich die Europäische Union
erinnern. Das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit aus dem
Vertrag von Amsterdam 1999, aus dem Vertrag von
Nizza 2001 oder aus dem Verfassungsentwurf 2003 beginnt, in der Tagespolitik hohl zu klingen. Mein Eindruck ist: Zumindest große Teile der EU-Kommission
haben den Pfad der Nachhaltigkeit leichtfertig verlassen.
In der Fortschreibung der Lissabonstrategie werden die
guten Ansätze zur Nachhaltigkeit vernachlässigt.
({0})
Ein Beispiel ist das Grünbuch der EU zur Energieversorgung. Ich behaupte nicht, dass es nur Falsches
enthält. Aber: Man setzt auf nicht nachhaltige Mechanismen. Die nachhaltigen Optionen wie Energieeffizienz
und erneuerbare Energien werden unterbewertet.
({1})
Dabei muss doch jedem klar sein, dass ein Mehr an denjenigen Verhaltensweisen, die die Probleme verursacht
haben, niemals die Lösung der Probleme sein kann.
({2})
Man muss auf neue Methoden setzen.
Die EU-Kommission macht einen schweren Fehler,
wenn sie nicht begreift, dass diese Politik auf ein falsches Gleis führt, auf ein totes Gleis, also auf ein Gleis,
das nicht weiterführt. Da nützt es nichts, das Tempo zu
erhöhen, eine zweite Lok vorzuspannen, den Ticketverkauf zu liberalisieren oder die Signaltechnik zu erneuern. Der Zug muss zurück auf das richtige Gleis, auf eine
nachhaltige Streckenführung; denn Nachhaltigkeit ist die
große wirtschaftliche Chance Europas. Es geht nicht um
den Wettlauf um niedrige soziale und ökologische Standards, sondern um den Wettbewerb um die besten Ideen,
um die anspruchsvollsten Qualitätsstandards und um die
höchste Lebensqualität.
({3})
Ich bin nun einmal Energiepolitiker. Daher möchte
ich Beispiele aus dem Bereich der Energiepolitik nennen. Bisher hat die Weltwirtschaft etwa 1 Milliarde
Menschen Wohlstand gegeben. Weitere 3 Milliarden
Menschen aus den aufstrebenden Staaten klopfen an die
Tür des Wohlstands. Für unsere Art der Energieversorgung, der Rohstoffverwendung und der Mobilität hat das
immense Folgen. Die Preisanstiege der letzten beiden
Jahre auf allen Rohstoffmärkten waren darauf nur ein
Vorgeschmack.
In dieser energiehungrigen Welt entstehen immense
Märkte für neue Energie- und Effizienztechnologien,
für Klimaschutztechnologien und für neue Mobilitätstechnologien. Die Welt braucht zusätzlich Solarzellen
für die Elektrifizierung dort, wo noch überhaupt keine
Netze vorhanden sind. Die Welt braucht Windenergie für
die Wasserstoffproduktion. China, Australien, Indien
und auch die USA - auch deren Kraftwerkswerte sind
erschreckend - brauchen effiziente und saubere Kohlekraftwerke. Außerdem braucht die Welt das 1- oder 2-Liter-Auto, um von Erdöl auf Biokraftstoffe umsteigen zu
können. Alle diese Produkte könnten aus Europa kommen. Das ist möglich, wenn wir zu Hause, hier in Europa, den Markt dafür schaffen, wenn wir zeigen, dass
Nachhaltigkeit das richtige Zukunftsmodell ist.
({4})
Diese Märkte wären nicht nur wegen des Exports im
wohlverstandenen Eigeninteresse: Da die Preise für
Rohstoffe und Energie weiter deutlich anziehen werden
und ihrer Verfügbarkeit Grenzen gesetzt sind, müssen
wir unsere Nutzung verringern, um einer Kostenexplosion zu entgehen. Das müssen wir jetzt tun. Die Volkswirtschaften, die dabei den größten Erfolg haben, werden für sich die besten Wettbewerbsvorteile finden
können. Darüber hinaus werden wir über eine solche
Strategie den aufstrebenden Ländern in Asien, in Afrika
und in Lateinamerika zeigen, dass es ein Zukunftsmodell
gibt, das Nachhaltigkeit mit Wohlstand optimal verbinden kann.
Ich stelle fest, dass die EU in dieser Frage leider nicht
mutig genug vorangeht, dass in den Mitgliedsländern zu
viele Bremser sitzen, dass wir ein Forschungsprogramm
entwerfen, durch das zweieinhalbmal so viel für die Nuklearforschung wie für die Erforschung aller erneuerbaren Energien zusammen ausgegeben wird. Der Anteil
der Mittel für erneuerbare Energien an den Mitteln für
die Energieforschung insgesamt soll unter dem heutigen
Anteil an der Energieerzeugung liegen, obwohl wir die
erneuerbaren Energien doch massiv ausbauen wollen.
Die Hälfte der Mitgliedstaaten nutzt die Atomenergie
gar nicht; weitere Mitgliedstaaten wollen aussteigen.
Auch für die strategische Ausrichtung des Grünbuchs
zur Effizienzrichtlinie gilt: zu wenig, zu mutlos, nicht
auf die Konsequenzen ausgerichtet, die wir ziehen müssen. Das ist die EU-Realität des Jahres 2006. Deswegen
ist einer meiner Wünsche, Herr Außenminister: Nachhaltigkeit muss einer der Schwerpunkte in unserer EURatspräsidentschaft 2007 werden.
Wenn man kritisiert, muss man auch loben können.
Die EU kann auch anders. Sie kann konsequent sein. Das
macht Hoffnung. Wer nicht schon immer von der Idee
Europa überzeugt war, braucht sich nur die Konferenz
der Klimarahmenkonvention in Montreal anzusehen:
25 Staaten mit einer Stimme pro Innovation, pro Klimaschutz, pro Nachhaltigkeit. Das hat der Konferenz auch
den Ausschlag gegeben. Ohne die Stimme der Europäischen Union wäre Montreal kein Erfolg geworden. Das
können wir uns auf jeden Fall zuordnen. Diese Konsequenz möchte ich gern auf die gesamte Lissabonstrategie
angewandt sehen, aus Eigennutz und als weltweites Vorbild.
Georg Ludwig Hartig hatte Recht: Die gesamte Wirtschaft kann von der Forstwirtschaft lernen, was Nachhaltigkeit bedeutet. - In dieser Frage ist der Holzweg ein
guter Weg.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort nun dem Abgeordneten Dr. Hakki
Keskin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Außenminister - er ist gerade
noch hier im Saal -,
({0})
Sie haben von der Erfolgsgeschichte Europas gesprochen. Ich würde Ihnen sicherlich Recht geben, wenn Sie
gesagt hätten: Europa war lange Zeit nicht nur für die
Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union eine
Hoffnung, und zwar eine Hoffnung auf Sicherung des
Friedens, des Wohlstands, der Demokratie und des Sozialstaats.
Seit rund einem Jahrzehnt wird die Hoffnung
Europa jedoch leider immer mehr erschüttert. Wir sehen
täglich, dass Millionen Menschen hier bei uns, aber auch
in anderen Staaten tief beunruhigt sind. Sie haben Angst
um die eigene Zukunft, aber auch um die Zukunft ihrer
Kinder. Es ist nicht allein die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, die die Menschen sorgt, sondern vor allem die
längst verlorene Balance zwischen den Großunternehmen und der arbeitenden Bevölkerung.
({1})
Wir erfahren fast täglich von hemmungslosem Agieren
mancher Unternehmen, nämlich von Verlagerung der
Arbeitsplätze in das Ausland oder von Lohnkürzung und
Arbeitszeitverlängerung für die Beschäftigten. Wie
Recht hatte Mahatma Gandhi mit seiner Feststellung:
Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse,
aber nicht für jedermanns Gier.
({2})
Die EU darf nicht lediglich zu einem Freiraum für die
Interessen der mächtigen Wirtschaftskreise degradiert
werden. Wir, die linke Fraktion, akzeptieren nicht, dass
manche Unternehmen ihre Milliardengewinne in
Deutschland erwirtschaften, aber hier bei uns kaum
Steuern zahlen.
({3})
Daher fordere ich die Bundesregierung auf, sich konsequent für die europaweite Angleichung von Steuerund Zinssätzen stark zu machen.
Wir akzeptieren nicht, dass die großen Erdöl- und
Erdgaskonzerne ihre marktbeherrschende Stellung ausnutzen und ihre Preise allein im letzten Jahr um nahezu
20 Prozent und damit völlig unangemessen erhöhten.
Die Gewinne der drei größten Erdölkonzerne Exxon,
Shell und BP stiegen im letzten Jahr im Durchschnitt um
37 Prozent. Wir akzeptieren also nicht, dass die politisch
Verantwortlichen hierbei tatenlos zusehen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, spätestens nach der
Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und in den
Niederlanden sollten die Alarmglocken geläutet haben.
Die EU-Bürgerinnen und -Bürger haben ein Recht auf
ein soziales und ihre sozialen Rechte sicherndes Europa.
({5})
Sie haben ein Recht darauf, dass durch eine Politik der
sozialen Gerechtigkeit die Zunahme der Kluft zwischen
Arm und Reich gestoppt wird.
({6})
Sie haben ein Recht darauf, dass die EU nicht nur für die
Interessen der Wirtschaft und Großkonzerne da ist, sondern auch für die Belange und Interessen aller Menschen.
({7})
Sie haben ein Recht darauf, dass sich die EU gemäß ihrer Gründungsidee als eine Friedensgemeinschaft weltweit aktiv engagiert, jedoch nicht mit militärischen Mitteln. Kurzum: Sie haben ein Recht auf Arbeit, soziale
Gerechtigkeit, Sicherheit und Frieden in der Welt.
Die Fraktion Die Linke fordert daher einen Paradigmenwechsel in der Politik. Gemeinsam mit den Gewerkschaften, Verbänden, Vereinen und der Friedensbewegung sagen wir Ja zur „Hoffnung soziales Europa“
und Nein zu Neoliberalismus und Sozialabbau.
Ich danke Ihnen.
({8})
Herr Kollege Keskin, ich gratuliere auch Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag, verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Silberhorn
für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir stecken in der europäischen Politik in einer
Vertrauenskrise, die nach meiner Einschätzung weit
tiefer reicht, als das in dem Scheitern des Verfassungsvertrages in Frankreich und den Niederlanden zum Ausdruck kommt. Wir können das daran erkennen, dass
auch die Briten und die Polen mit diesem Verfassungsvertrag ihre liebe Not haben.
({0})
Deswegen, glaube ich, ist es wichtig, dass wir nicht
ein Signal des „Weiter so“ aussenden und dass wir erkennen, dass es sich hier nicht nur um ein Kommunikationsproblem handelt. Ich hielte es für einen völlig falschen Ansatz, wenn wir jetzt in der Öffentlichkeit den
Eindruck erweckten, die Leute in Frankreich und den
Niederlanden hätten das nur nicht verstanden oder den
Vertrag vielleicht nicht genau gelesen, wir müssten ihnen das lediglich noch einmal erklären und dann würden
sie schon richtig abstimmen.
({1})
Das wäre ein völlig falsches Signal. Wir müssen ganz
im Gegenteil deutlich machen, dass wir Respekt vor dem
Votum der Wähler haben. Deshalb dürfen wir nicht nur
eine neue Kommunikationsstrategie entwerfen, wie das
die Europäische Kommission getan hat, sondern müssen
uns sehr genau überlegen, wie wir weiter vorgehen wollen.
Ich kann, nach allem, was wir von dort hören, nachvollziehen, dass man in Frankreich und den Niederlanden wohl kaum denselben Verfassungsvertrag ein
zweites Mal zur Abstimmung vorlegen kann. Die Tatsache, dass die Vorstellungen in diesen Ländern nicht in
die Richtung gehen, die wir einmal angedacht hatten,
nämlich einen Verfassungsvertrag plus X zur Abstimmung zu stellen, sondern dass man dort eher über das
Modell eines Verfassungsvertrages minus X nachdenkt,
ist ebenfalls ein Ausdruck der Akzeptanzkrise, vor der
wir stehen.
Ich glaube, dass wir gut beraten sind, wenn wir zunächst versuchen, Zeit zu gewinnen; denn es macht vor
den Wahlen in Frankreich Mitte 2007 wohl keinen Sinn,
das Projekt des Verfassungsvertrages zu forcieren. Wir
haben aber auch ein Interesse daran, dass dieser Vertrag
jetzt nicht atomisiert wird. Ich denke, dass wir spätestens
nach den nächsten Beitritten zur EU, nämlich Bulgariens
und Rumäniens, zu einer institutionellen Reform kommen müssen. Ich glaube aber, dass es jetzt notwendig ist,
dieses Projekt der institutionellen Reform ein Stück zurückzustellen. Wir haben lange darüber diskutiert. Wir
sind nicht so weit gekommen, wie wir wollten; aber wir
müssen uns jetzt auch den wirtschaftlichen Herausforderungen wieder stärker zuwenden, vor denen die Unternehmen und die Arbeitnehmer in unserem Land stehen,
({2})
vor denen wir auch im Rahmen der Globalisierung und
im Zuge der Osterweiterung stehen. Auf dem Gipfel, der
nächste Woche stattfindet, bietet sich die Gelegenheit,
die eher technokratisch ausgerichteten Fragen institutioneller Reformen ein bisschen in den Hintergrund zu rücken - da besteht ja auch kein Zeitdruck - und sich den
wirtschaftlichen Fragen zu stellen.
({3})
Ich darf daran erinnern, dass man vorhatte, den Binnenmarkt zum 31. Dezember 1992 zu vollenden. Wir haben dies bis heute nicht geschafft. Das wäre ein Projekt,
über das wir anlässlich des Frühjahrsgipfels und in der
Zeit danach einmal ausführlicher diskutieren sollten.
Wenn man bedenkt, dass Tendenzen eines ökonomischen Patriotismus sichtbar werden, dann kann man erkennen, dass wir uns nicht unbedingt in Richtung Vollendung des Binnenmarktes bewegen.
Es ist notwendig, dafür zu sorgen, dass von diesem
Frühjahrsgipfel keine falschen Signale ausgehen. Ich
meine damit, dass wir in der Europäischen Union von
der Überregulierung Abstand nehmen müssen, die in
vielen Details zum Ausdruck kommt.
({4})
Auch mit Blick auf die Lissabonstrategie ist Vorsicht geboten. Wenn Ziele vorgegeben werden, die zu einer
schleichenden Kompetenzausweitung der Europäischen
Union führen würden, dann wäre das eine Entwicklung,
die für die Umsetzung der Lissabonstrategie nicht hilfreich ist.
({5})
Wenn sich die Kommission unter der Überschrift bessere Rechtsetzung von dem Konzept einer Mindestharmonisierung weiter verabschiedet und eher das Konzept
einer Maximalharmonisierung verfolgt, was darauf hinausläuft, viel mehr und viel genauer in Brüssel zu regulieren, dann wäre auch das kein Schritt zu mehr Deregulierung und zur Vollendung des Binnenmarktes.
Es gibt in den Vorlagen, über die der europäische Gipfel nächste Woche diskutieren wird, einen weiteren
Punkt, den ich kritisieren möchte. Es ist notwendig, dass
wir nicht ständig neue Einrichtungen und Behörden in
der Europäischen Union schaffen. Aus einer Art Funktionärsdenkweise heraus wird aber versucht, den wirtschaftlichen Herausforderungen, vor denen wir stehen,
mit neuen Institutionen und Einrichtungen zu begegnen.
Es kann doch nicht sein, dass nächste Woche der europäische Gipfel kreißt und ein europäisches Technologieinstitut gebiert. Ich habe nichts dagegen, dass wir
Forschung fördern und dass man schon existierende europäische Institute miteinander vernetzt. Aber ich halte
nichts davon, dass man neue Einrichtungen schafft. Die
Antwort der Europäischen Union auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts kann nicht sein, dass man
im Rahmen der Lissabonstrategie auf dem anstehenden
europäischen Gipfel ein Technologieinstitut oder andere
Einrichtungen gründet.
Aus meiner Sicht wäre das Signal wichtig, dass die
Staats- und Regierungschefs die Dienstleistungsrichtlinie verabschieden wollen. Das wäre ein Anreiz für mehr
Wachstum und Beschäftigung. Mir liegt daran, darauf
hinzuweisen, dass mehr Beschäftigung und mehr Wachstum vor allem für kleine und mittlere Betriebe wichtig
ist. Denn wir wissen, dass insbesondere dort neue Arbeitsplätze und neue Ausbildungsplätze geschaffen werden. Es ist daher notwendig, in den kommenden
Wochen, in denen über die Dienstleistungsrichtlinie diskutiert wird, darauf hinzuwirken, dass gerade die Interessen der kleinen und mittleren Betriebe besondere Berücksichtigung finden.
Ich will dies konkretisieren. Dazu gehört, dass das
Lauterkeitsrecht durch die Dienstleistungsrichtlinie nicht
ausgehebelt wird. Gerade kleine und mittlere Unternehmen sind auf einen fairen Wettbewerb angewiesen. Dazu
gehört zum Beispiel auch das Detail, dass man das Verbot von Verkäufen unter Einstandspreisen aufrechterhält,
weil dadurch kleine und mittlere Unternehmen vor
Verdrängungspraktiken marktstarker Konzerne geschützt werden.
Ich möchte einen weiteren Vorschlag machen, was
auf diesem Frühjahrsgipfel angestoßen werden könnte.
Ich würde es begrüßen, wenn wir den Vorschlag des
Europäischen Parlaments aufgriffen und einen neuen
Anlauf zum Schutz des geistigen Eigentums unternehmen würden. Wir haben viele Jahre darüber diskutiert,
sind dabei aber nicht sehr weit gekommen. Das Gemeinschaftspatent ist gescheitert und das Europäische Patentübereinkommen steht nach wie vor außerhalb des
Binnenmarkts. Es wäre jetzt an der Zeit, einen neuen
Anlauf zum Schutz des geistigen Eigentums zu unternehmen, gerade auch deshalb, weil uns diese Frage im
Hinblick auf die Welthandelsorganisation beschäftigt.
({6})
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen,
nämlich die Verlagerung von Arbeitsplätzen. Wir müssen erkennen, dass diese Tendenz ein Ausdruck des
freien Handels ist, den wir gefördert haben und der neue
wirtschaftliche Dynamik gebracht hat. Ich rate uns, nicht
allzu hohe Erwartungen zu wecken, weil wir als Politiker es nicht verhindern werden, dass Unternehmen im
Ausland investieren und dort neue Märkte erschließen,
mit denen sie ihr Geschäft auch im Heimatland stützen
können.
Deswegen ist es meines Erachtens wichtig, zu sehen:
Die Verlagerung von Arbeitsplätzen ist keine Folge der
Osterweiterung der Europäischen Union,
({7})
sie begann schon vorher. Diese Verlagerung erfolgt nicht
nur in die neuen Mitgliedstaaten, sondern weit darüber
hinaus, sodass uns dieses Problem noch Jahre beschäftigen wird.
Allerdings gibt es in der Europäischen Union einen
besonderen Ansatz. Wir betreiben Strukturpolitik mit
europäischen Mitteln und müssen deshalb sehr darauf
achten, dass diese Fördergelder so eingesetzt werden,
dass das bestehende Fördergefälle nicht den Wettbewerb
verzerrt. Ich halte wenig von dem Ansatz, die Steuersätze in Europa zu harmonisieren. Denn wir werden sehen, dass andere Mitgliedstaaten nicht mitmachen werden. Gerade die Staaten, die niedrige Steuersätze haben,
sehen darin einen Wettbewerbsvorteil und haben überhaupt keinen Grund, diesen Wettbewerbsvorteil zu ihren
Lasten und zu unseren Gunsten aufzugeben.
Aber wir können dort, wo wir Gelder ausgeben, die
Vergabe von Strukturfördermitteln und von nationalen
Beihilfen, die unter der Aufsicht der Kommission steht,
an bestimmte Kriterien knüpfen. Eines dieser Kriterien
muss sein, dass mit diesen Geldern neue Arbeitsplätze
geschaffen und nicht nur Arbeitsplätze verlagert werden.
Denn das Schlimme ist doch, dass wir Gelder für Investitionen in anderen Staaten ausgeben, ohne dass damit
neue Arbeitsplätze geschaffen werden.
({8})
Es ist doch nachvollziehbar, dass kein Arbeitnehmer es
mittragen kann, wenn wir mehrfach zahlen. Als Deutsche bezahlen wir ja erstens zu einem Viertel die Strukturförderung. Zweitens zahlen wir dadurch, dass wir
Einnahmen aus Unternehmensteuern verlieren, wenn
Unternehmen ins Ausland gehen. Wir zahlen drittens dadurch, dass wir auch Einnahmen aus der Erhebung der
Einkommensteuer bei denjenigen Arbeitnehmern verlieren, denen gekündigt wird, und wir diesen dann auch
noch Arbeitslosengeld zahlen. Wir zahlen also dreimal.
Deswegen ist es eine Frage der europäischen Solidarität und des fairen Wettbewerbs, dass Strukturförderung
und nationale Beihilfen nicht missbraucht werden, um
den Wettbewerb zu verzerren.
({9})
Wir müssen die Fairness des Wettbewerbs vielmehr
dadurch sicherstellen, dass wir die Vergabe von Mitteln
an die Schaffung neuer Arbeitsplätze knüpfen und Mittel, die zweckwidrig verwendet werden, zurückfordern.
({10})
Das ist der richtige Weg. Wir müssen den fairen Wettbewerb fördern und Missbrauch unterbinden. Dann werden wir auch in der Europäischen Union eine Wirtschaftspolitik verfolgen können, die wieder die
Zustimmung der Bürger, der Arbeitnehmer und des Mittelstandes findet.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das, was wir in dieser Debatte heute von der Regierung
und den Regierungsfraktionen über die Zukunft Europas
und insbesondere über die Lissabonstrategie gehört haben, ist in hohem Maße widersprüchlich; das muss man
schon sagen. Die Ausführungen des Kollegen Kelber zur
ökologischen Bedeutung und zur Nachhaltigkeit der
Energiepolitik kann ich zumindest in weiten Teilen unterstützen. Aber, Kollege Kelber, Sie können doch nicht
damit zufrieden sein, dass Sie zwar für eine fortschrittliche Rhetorik verantwortlich sind, Kollege Steinmeier
heute Morgen aber kein einziges Mal in seiner Regierungserklärung das Wort „Nachhaltigkeit“ im Zusammenhang mit der Lissabonstrategie erwähnt hat. Das
kann doch nicht sein.
({0})
Die Zielsetzung einer nachhaltigen Entwicklung - das
sollte man auch der Regierung sagen - ist nach Art. 6
des EG-Vertrages ein globales Ziel dieser Verträge. Die
Nichtberücksichtigung im Rahmen der Lissabonstrategie
verstößt gegen Art. 6. Denn die nachhaltige Entwicklung
ist das allen Gemeinschaftspolitiken übergeordnete Ziel.
Ökologische Gründe stehen bei der Regierung nicht im
Vordergrund. Aber weil wir wissen, dass eine gesunde
Umwelt, ein schonender Umgang mit Ressourcen und
die Förderung von Innovationstechnologien im ökologischen Bereich ökologisch wichtig sind, aber auch ökonomisch die Zukunft der Europäischen Union prägen
müssen, ist für uns Bündnisgrüne die Nachhaltigkeit ein
zentraler Punkt der Lissabonstrategie. Das sollte diese
Regierung im Interesse unserer ökonomischen Struktur
in sehr viel stärkerem Maße berücksichtigen.
({1})
Herr Kelber, auch das, was Sie zur Energiepolitik gesagt haben, ist richtig. Aber wenn man sich das Regierungshandeln konkret anschaut, stellt man fest: Einerseits steht in der deutsch-französischen Vereinbarung die
Energiepolitik ganz vorne. Man spricht sich dafür aus,
sie zu einem europäischen Thema machen zu wollen.
Andererseits stehen in anderen Reden Deutschland und
Frankreich Seit’ an Seit’ bei der Verhinderung der Europäisierung dieses Bereiches. Frau Merkel hat sich auch
heute Morgen im Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union dahin gehend geäußert. Das sei nationale Politik. Deutschland will Schutzmauern errichtet
haben, eventuell sogar ausbauen.
Wenn man sich die Situation, wie sie sich gerade nach
diesem Winter darstellt, anschaut, kommt man zu dem
Schluss: Wir brauchen eine Europäisierung; wir brauchen den Wettbewerb in der Energiepolitik, um voranzukommen. Wir brauchen keine nationalen Schutzmauern
in diesem Bereich.
({2})
An anderer Stelle gibt es dann Ihre Rhetorik über
Wettbewerbsfähigkeit. Das Einzige, was in Hinsicht auf
Wachstum und Beschäftigung für diese Regierung charakteristisch ist, ist doch die Rhetorik und keine realen
Taten. Überall, wo Sie die Chance haben, nationale
Strukturen zu erhalten, tun Sie das auch. Ich nenne als
Stichwort die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Fast alle EUMitgliedstaaten, sogar Frankreich, begeben sich auf den
Weg, die Grenzen für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu öffnen. Es gibt eine Europäisierung dieses
Politikbereichs. Nur die deutsche Bundesregierung steht
fest dazu, an dieser Stelle Mauern hochzuziehen, und das
möglichst bis 2011. Das kann nicht die Zukunft der
Europäischen Union sein.
({3})
Ich will noch einen weiteren Punkt nennen, bei dem
die Politik widersprüchlich ist, und zwar den Bildungsbereich. Sie haben zu Recht gesagt: Da liegt die Zukunft
der Europäischen Union. - Ja. Wir unterstützen Sie bei
Ihrem Bemühen, bei den nationalen Zielen im Forschungs- und Bildungsbereich weiterzukommen. Auf
der anderen Seite muss man sich vor Augen halten, was
Sie im Rahmen der Föderalismusreform machen wollen:
Sie übertragen die absolute und alleinige Verantwortung
für diesen Bereich den Ländern. Wenn ich das in den
letzten 20 Jahren richtig beobachtet habe, dann ist es so,
dass die Länder sich bei dem Bereich, für den sie allein
zuständig waren, nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben, so auch, als es darum ging, die deutsche Bildungspolitik europaweit wettbewerbsfähig zu machen.
({4})
Dagegen ist doch festzuhalten: Die einzigen Innovationen, die es in den letzten Jahren in der Bildungspolitik
gab, sind doch vom Bund angestoßen worden. Sie wollen an dieser Stelle alles wieder zurücknehmen. So werden wir nicht wettbewerbsfähiger; so verschleudern wir
die Ressourcen, auch die Bildungsressourcen, die wir in
der Zukunft benötigen. Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, an dieser Stelle würde ich mir wünschen, dass Sie den Geist, den Fortschritts- und Reformgeist der rot-grünen Koalition, in die große Koalition
hineintragen und sich an dieser Stelle nicht ständig von
der CDU und der CSU ausbremsen lassen. Der Fortschritt ist manchmal eine Schnecke. Aber wenn man mit
Bezug auf das, was Sie in der EU-Politik geleistet haben,
davon sprechen wollte, dass der Fortschritt eine Schnecke ist, dann wäre das noch geprahlt. Sie sollten in Zukunft etwas dynamischer werden, und zwar nicht nur in
der Rhetorik, sondern auch in den Taten.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Gert Weisskirchen
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Der geschätzte Vorredner, den ich
sehr mag, hört jetzt leider nicht zu.
Vielleicht sagen Sie ihm noch einmal, dass Sie ihn
mögen. Das erhöht vielleicht die Neigung, zuzuhören.
Vielleicht hört er jetzt noch ein bisschen genauer zu.
Lieber Rainder, ich mag dich ja.
({0})
Du hast möglicherweise nicht zugehört, als der Außenminister gesprochen hat. Ich habe hier den Text seiner
Rede und ich möchte einfach nur zitieren, um ein mögliches Missverständnis auszuräumen:
({1})
Im Bereich Energie und gerade bei unserem Kernanliegen Energieeffizienz, Energieforschung und erneuerGert Weisskirchen ({2})
bare Energien haben wir viel geleistet. - Das bezieht
sich auch auf die rot-grüne Koalition. Dann hat er gesagt: Der Anteil erneuerbarer Energien an unserer
Stromerzeugung beträgt bereits über 10 Prozent.
Ich will damit nur sagen: Bei diesem Punkt gibt es,
lieber Kollege Steenblock, eine Kontinuität zwischen der
rot-grünen und der schwarz-roten Koalition, eine Kontinuität, die genau auf jener Leistung fußt, die wir beide
gemeinsam vorangetrieben haben. Ich bitte, dass dieses
nicht dementiert, sondern fortgesetzt und verstärkt wird.
({3})
Ich will jetzt an einen Punkt anknüpfen, den nicht nur
Sie, sondern auch andere Redner in vergleichbarer Weise
angesprochen haben. Zum Beispiel Herr Silberhorn hat
es getan. Er hat den Begriff „ökonomischer Patriotismus“ benutzt. Ich glaube, wir sind in einer noch dramatischeren Situation. Die Europäische Union bewegt sich
gegenwärtig weg von einem integralen Konzeptansatz
und hin zu der Versuchung - dort drüben haben wir solche Stimmen schon gehört; anderswo, zum Beispiel in
Italien, gibt es sie auch - des Populismus.
({4})
Der Populismus aber ist die Vorstufe zur Wiederkehr des
Nationalismus. Das muss man sehr genau im Blick haben. Wenn ich meinen ehemaligen Parteifreund Oskar
Lafontaine an der einen oder anderen Stelle höre, muss
ich sagen: Das ist Populismus pur,
({5})
da wird schon Rechtspopulismus mit aufgesogen.
({6})
Das hilft Europa überhaupt nicht. Das gefährdet im Gegenteil den Fortschritt,
({7})
den wir in den letzten 50 Jahren, lieber Kollege Dehm,
quer durch dieses Parlament gemeinsam erarbeitet haben. Der jedoch darf nicht aufs Spiel gesetzt werden,
schon gar nicht von Populismus pur, um das ganz deutlich zu sagen.
({8})
Warum ist das nötig? Die Europäische Union darf weder zur Fortress, wie die Engländer sagen, zu einer Burg,
auf der man sich protektionistisch, nationalistisch verschanzt, noch - das sehen wir jetzt auf den Kanarischen
Inseln - zur Fluchtburg derer werden, die aus den zentralen Regionen Afrikas flüchten, die nur noch eine einzige
Hoffnung im Kopf und im Herzen haben, nämlich endlich nach Europa zu kommen. Deswegen kommt es darauf an, den Demokratieansatz, den wir in der Europäischen Union seit vielen Jahren erarbeitet haben, der ein
anderer als der der Weltmacht USA ist, zu unterstützen,
zu fördern, zu verstärken. Wir verstehen Demokratisierung, Förderung der Demokratie nicht als ein militärisches Draufsetzen, wie wir das im Irak gesehen haben,
wo man glaubte, Demokratie durch Bomben durchsetzen
zu können. Das wollen wir nicht.
({9})
Wir wollen Demokratie dort fördern, wo Menschen
bereit sind, sich Demokratie selbst zu Eigen zu machen.
Hier liegt ganz klar der Unterschied zwischen der Europäischen Union und anderen auf der Erde. Dieser Unterschied muss verdeutlicht werden. Es geht darum, was
auch der Außenminister am Schluss seiner Rede gesagt
hat, Kollege Schockenhoff, dass wir den Menschen im
Kongo, die jetzt auf dem Weg sind, sich die eigene Demokratie von innen und von unten durch einen demokratischen Wahlakt selbst zu erkämpfen, helfen, und zwar
nicht durch eine Militarisierung des Denkens, sondern
indem wir die Sicherheit bieten, die das Land nicht
selbst von innen und von unten produzieren kann. Dann,
wenn sie es wollen und wenn uns die Vereinten Nationen
dazu beauftragen, müssen wir ihnen dabei helfen, dass
die Demokratie endlich an Boden gewinnt, damit sie
sich ihre Freiheit selbst erarbeiten können. Darum und
um nichts anderes geht es im Kongo.
({10})
Ich bin froh und dankbar, dass wir nun im Auswärtigen Ausschuss darüber eine intensive Diskussion führen
und endlich dazu kommen, auch den Menschen in diesem Teil der Erde, der in den letzten Jahrzehnten in blutigen Bürgerkriegen versunken war, eine Chance zu
geben, mit ihnen gemeinsam die Demokratie zu entwickeln, zu fördern und zu gestalten. 45 Jahre lebt dieses
Land Demokratische Republik Kongo ohne eigenen
Wahlakt, ohne die Legitimationsgrundlage für das eigene staatliche Handeln zu produzieren. Jetzt haben sich
25 Millionen Männer und Frauen - das muss man sich
einmal überlegen - registrieren lassen, in Wählerverzeichnisse eingeschrieben. Manche sind Dutzende von
Kilometern - das haben wir von Kolleginnen und Kollegen gehört, die dort waren; Uschi Mogg und Rolf Kramer waren in den letzten Tagen dort und haben das beschrieben - gelaufen, um sich in Wählerverzeichnisse
einzuschreiben. Was ist das für ein ungeheurer Qualitätssprung! Mitten im Herzen Afrikas sind Menschen bereit,
wählen zu gehen, den Präsidenten selbst zu bestimmen,
nachdem sie die Verfassung in einer wirklich demokratischen Volksentscheidung selbst bestimmt haben. Warum
sollen wir denn diesen Menschen, wenn sie uns darum
bitten, nicht die Chance geben, das zu tun, was nötig ist,
um ihre eigenen demokratischen Institutionen weiterzuentwickeln?
({11})
Darum gehen wir, wenn es der Bundestag will, mit
1 500 Soldatinnen und Soldaten - 500 davon kommen
aus der Bundesrepublik Deutschland - in diese Region.
Können wir uns diesem Wunsch ernsthaft verschließen?
Soll die Bundesrepublik Deutschland Nein sagen, wenn
die Menschen im Kongo den Aufbruch in die Demokratie selbst wollen? - Nein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind verpflichtet, multilateral effektiv zu handeln,
Gert Weisskirchen ({12})
die internationale Verantwortung der Europäischen
Union wahrzunehmen und die Europäische Union mit
ihren Instrumenten ESVP und GASP zu stärken und zu
stützen. Darum geht es, nicht um Populismus, sondern
darum, den Menschen in Afrika eine Chance zu geben.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Doris Barnett von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
War die Lissabonstrategie von 2000 wirklich nur ein
Griff nach den Sternen mit viel zu kurzen Armen? Hat
sie nicht vielmehr Europa aufgeweckt und endlich auf
den Erfolgsweg geschickt? In der Tat ist heute schwer
vorstellbar, dass wir binnen der nächsten vier Jahre zum
wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt werden. Wenn wir uns in
der Politik aber keine Ziele mehr setzen würden, keine
Träume mehr verwirklichen wollten, wenn wir nur noch
in Routine verfielen, dann müsste man fragen: Wozu das
alles?
Die Lissabonstrategie des Jahres 2000 hat natürlich
etwas mit dem Millennium und mit der Aufbruchstimmung zu tun, die wir damals auch in Deutschland wollten und politisch auch erfolgreich umsetzen konnten.
Aber, zugegeben, die Welt richtet sich weder nach
Deutschland noch nach Europa. Deshalb hat Europa
seine Visionen im vergangenen Jahr ein Stück weit angepasst. Die Ziele wurden dabei nicht aus den Augen verloren: Wir brauchen mehr und bessere Arbeitsplätze; wir
müssen unsere Wettbewerbsfähigkeit durch Innovationen erhöhen; der Binnenmarkt muss vollendet werden;
wir brauchen nachhaltiges ökologisches Wachstum und
- ganz wichtig - der soziale Zusammenhalt in Europa
muss gestärkt werden.
Lissabon wird zwangsläufig scheitern, wenn die Menschen das Gefühl haben, sie seien nur Schachfiguren im
Spiel um Wettbewerbsfähigkeit. Unser Vizekanzler
brachte es auf den Punkt: „Die Wirtschaft ist für die
Menschen da - nicht umgekehrt.“
({0})
Deshalb ist das viel beschworene europäische Sozialmodell von so großer Bedeutung. Für die Menschen
ist Lissabon ein Projekt, das den Wohlstand mehren, die
sozialen Rahmenbedingungen wahren, ein Leben in
Würde ermöglichen, Beschäftigung schaffen und soziale
Sicherheit für die Jungen und die Alten sichern soll. Nur
wenn das klar ist, werden sie akzeptieren, dass der notwendige Wandel in Europa ihnen viel abverlangt.
Flexicurity ist keine Einbahnstraße. Auch wenn der
Rat die Lissabonstrategie neu ausgerichtet und deren
Schwerpunkte auf Wachstum und Beschäftigung gelegt
hat, dürfen wir den sozialen Dialog als Schlüsselfunktion
nicht außen vor lassen; denn die so genannten weichen
Faktoren bestimmen den Erfolg der Implementierungsbemühungen um Bürokratieabbau, um Investitionen in
Wissen und Innovation, um die Erschließung des Unternehmenspotenzials usw. Weiche Faktoren - das bedeutet, dass wir in Europa glaubwürdige Antworten brauchen:
eine altersgerechte Arbeitszeitgestaltung, die Anpassungsfähigkeit von Arbeitnehmern und Unternehmen,
ein verändertes System der sozialen Sicherheit bei hoher
Mobilität, die Förderung der Vereinbarkeit von Beruf
und Familie und - siehe Frankreich - die Integration Jugendlicher in den Arbeitsmarkt.
Die Menschen fragen sich zunehmend - und das zu
Recht -, welches Gesellschaftsmodell sich in Europa
abzeichnet. Sie wollen die Standards kennen, die ihnen
Europa zugesteht. An diesem Punkt kommen wir sehr
schnell zu der seit langem heiß diskutieren Dienstleistungsrichtlinie. Als die vorgelegt wurde, konnte man
sich beim besten Willen nicht des Eindrucks erwehren,
dass es hierbei um niedrige Löhne und niedrigere Standards bei freiem Marktzugang geht, dass das alte gegen
das neue Europa ausgespielt werden sollte, und zwar
mit dem kleinen Nebeneffekt, dass unliebsame Standards, die manche als Ballast empfinden, geschleift
werden können. Plötzlich war von Harmonisierung
nicht mehr die Rede. Glaubte Brüssel wirklich, durch
eine 180-Grad-Drehung schneller zu mehr Wachstum
und Beschäftigung zu gelangen?
Zugegeben, in Sachen Dienstleistungen haben wir in
Deutschland noch einiges nachzuholen. Wir haben uns ja
ins Zeug gelegt, um den Anteil an Dienstleistern, insbesondere an Selbstständigen, massiv zu erhöhen, unter anderem durch die nicht von allen geliebte Ich-AG, die wir
in diesem Jahr mit dem Überbrückungsgeld zu einer
neuen Form des unterstützten Weges in die Selbstständigkeit umwandeln werden. Aber die Dienstleistungsrichtlinie kann und darf nicht als Einfalltor verstanden
werden, um soziale Errungenschaften zu schleifen. Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit haben bei uns einen
hohen Stand erreicht. In der letzten Woche haben wir
zum Beispiel den Arbeitsschutzbericht der Bundesregierung zur Kenntnis genommen. Es gibt bei uns große
Fortschritte: Wir haben weniger Todesfälle, weniger Wegeunfälle, weniger Verrentungen und weniger RehaMaßnahmen. Das alles würden wir aufs Spiel setzen,
wenn wir einem umfassenden Herkunftslandprinzip zustimmen würden.
({1})
Es ist schon verwunderlich, dass wir europaweit bei
der Chemiekalienpolitik, beim Pflanzenschutz die Standards ohne Rücksicht auf Arbeitsplatzverluste hochschrauben. Aber da, wo es um die arbeitenden Menschen
geht, scheinen diese Mechanismen nichts mehr zu gelten. Aber was sonst soll das europäische Sozialmodell
ausmachen, wenn nicht den Schutzmechanismus für die
Arbeitnehmer? Deshalb ist es vom europäischen Parlament richtig, am Ursprungstext der Dienstleistungsrichtlinie und seiner Ausrichtung massive Korrekturen vorzunehmen. Ich danke der Bundesregierung ausdrücklich
dafür, dass die Ablehnung des Herkunftslandprinzips
nicht nur eine Textstelle im Koalitionsvertrag ist, sondern auch ihre erklärte Position bei den anstehenden
Ministerrunden.
({2})
Zu Recht verweist sie in ihrer Positionierung für die
Gespräche darauf, dass der ursprüngliche Richtlinientext
einen Verlust an Rechtssicherheit für die Bürgerinnen
und Bürger sowie die Unternehmen bedeuten würde,
was nicht absehbare Effizienzverluste auslösen und uns
gerade jetzt in der Erholungsphase unnötig zurückwerfen könnte. Nein, hier hat die Kommission keinen Weitblick gehabt und sogar ihr erklärtes Ziel des europäischen Sozialmodells aus den Augen verloren. Es ist gut,
dass jetzt nochmals nachgedacht wird. Ich kann unsere
Minister nur ganz kräftig ermuntern, hierbei standfest zu
bleiben, weil es letztlich allen Menschen in Europa zugute kommt, selbst denen, die im Augenblick noch einen
Vorteil für sich sehen.
Denn Mindestlöhne um die 3 Euro pro Stunde können niemals ein Wachstum in Europa auslösen. Allerdings gebe ich zu, dass wir selbst unsere Hausaufgaben
noch machen müssen. Während in 18 von 25 EU-Staaten
bereits ein Mindestlohn eingeführt wurde und damit
auch für Dienstleistungen eine Einkommensuntergrenze
besteht, stehen wir erst am Anfang einer dringend notwendigen Debatte. Wir müssen uns schon anstrengen,
um bis zum Herbst zu einem Ergebnis zu kommen.
Gerade hier halte ich es mit unserem verstorbenen
Bundespräsidenten Rau, der nie müde wurde, zu fordern,
dass es in unserer deregulierten Welt eine Schutzmacht
für die kleinen Leute geben muss. Denn im weltweiten
Wettbewerb arrangieren sich die Multis; das ist richtig.
Das europäische Sozialmodell, die Schutzhülle für die
Arbeitnehmer, muss allerdings von uns Parlamentariern
hier in Deutschland und auf europäischer Ebene immer
wieder erstritten und durchgesetzt werden. Bleiben wir
wachsam!
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b
sowie Zusatzpunkt 7 auf:
19 a) - Zweite und dritte Beratung des von den Frak-
tionen der CDU/CSU und der SPD einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuer-
lichen Förderung von Wachstum und
Beschäftigung
- Drucksache 16/643 -
- Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur steuerlichen Förderung von
Wachstum und Beschäftigung
- Drucksache 16/753 -
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 16/974 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
Ortwin Runde
Dr. Barbara Höll
Kerstin Andreae
bb)Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/976 Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider ({2})
Otto Fricke
Roland Claus
Anja Hajduk
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Eindämmung missbräuchlicher Steuerge-
staltungen
- Drucksachen 16/634, 16/749 -
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({3})
- Drucksache 16/975 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
Carl-Ludwig Thiele
Christine Scheel
bb)Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/977 Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider ({5})
Otto Fricke
Roland Claus
Anja Hajduk
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen
Kampeter, Norbert Barthle, Jochen Borchert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Carsten
Schneider ({6}), Ernst Bahr ({7}),
Bernhard Brinkmann ({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Unverzügliche Umsetzung des Programms
„Impulse für Wachstum und Beschäftigung“
sowie des Marktanreizprogramms durch die
Bundesregierung
- Drucksache 16/931 Zu dem Gesetzentwurf zur steuerlichen Förderung
von Wachstum und Beschäftigung liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Es
gibt keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin
Dr. Barbara Hendricks.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die größte Herausforderung der kommenden Jahre
und zugleich die zentrale Aufgabe einer verantwortungsvollen Finanzpolitik wird es sein, die Verschuldung der
öffentlichen Haushalte nachhaltig zu begrenzen. Dabei
geht es nicht nur darum, den rechtlichen nationalen und
europäischen Vorgaben Rechnung zu tragen. Nein, vielmehr gilt es auch, wieder finanzielle Handlungsspielräume zur Bewältigung von zentralen Zukunftsaufgaben
zu gewinnen. Entscheidend ist, diese Ziele miteinander
zu kombinieren, damit beides gelingt: die Wachstumskräfte zu stärken und die Staatsfinanzen nachhaltig zu
konsolidieren.
Dieses finanzpolitische Zweisäulenmodell bestimmt
auch die Leitlinien der Steuerpolitik der nächsten Jahre.
Danach muss das vorrangige steuerpolitische Ziel die
Weiterentwicklung unseres Steuersystems sein:
Erstens muss es dem Staat auf allen Ebenen - der
Bundes-, der Länder- und der Gemeindeebene - dauerhaft sichere Einnahmen garantieren und damit zur erforderlichen Stabilisierung des Haushalts beitragen; dieses
erste Ziel der Steuerpolitik gerät manchmal in Vergessenheit.
Zweitens muss das Steuersystem wirtschaftsfördernde
Impulse geben und somit auch die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Deutschland im internationalen Wettbewerb spürbar steigern.
Drittens brauchen wir eine gerechte, gleichmäßige
und transparente Besteuerung sowie eine sozial ausgewogene Verteilung der Lasten zur Finanzierung der
staatlichen Aufgaben.
In diesem Zusammenhang freue ich mich, dass das
Bundesverfassungsgericht klargestellt hat, dass die etwas seltsame Idee von Herrn Professor Kirchhof aus
dem Jahr 1995, der so genannte Halbteilungsgrundsatz,
tatsächlich nicht mit unserer Verfassung in Einklang zu
bringen ist.
({0})
Die ehrgeizige Zielsetzung, die wir insgesamt verfolgen, ist nicht zuletzt im Interesse einer für den Bürger
berechenbaren und verlässlichen Regierungspolitik.
({1})
Das ist allerdings nicht von heute auf morgen und nur
mit einem umfassenden Bündel aufeinander abgestimmter steuerlicher Maßnahmen zu verwirklichen.
Bereits im Dezember letzten Jahres sind deshalb
gleich mehrere Steuergesetze in Kraft getreten, die als
klares politisches Signal für die Reformfähigkeit der
Bundesregierung verstanden werden sollten und von den
Bürgerinnen und Bürgern auch so verstanden werden.
({2})
Um es klar zu sagen: Für mich gibt es zu dem eingeschlagenen strikten Sparkurs der öffentlichen Haushalte
keine Alternative. Mit einer Ausgabenkürzung allein ist
es nämlich nicht getan. Es darf kein Zweifel daran bestehen, dass die Gesetzentwürfe, die aktuell auf der Agenda
der Bundesregierung stehen, nur einen weiteren Schritt
im Rahmen unseres steuerlichen Gesamtkonzeptes für
die nächsten Jahre darstellen können.
Ich weiß, dass gleich wieder jemand von der FDP den
„großen Wurf“ fordern wird.
({3})
Aber „große Würfe“ machen normalerweise nur Hunde
an Zäunen.
({4})
Mit dem Gesetz zur Eindämmung missbräuchlicher
Steuergestaltungen, das, wie die bereits eingeleiteten
Maßnahmen, im laufenden Jahr, also 2006, greifen soll,
wollen wir dem Gestaltungsmissbrauch und der nicht gerechtfertigten Ausnutzung von Gesetzeslücken im Steuerrecht entgegenwirken. Vorgesehen sind unter anderem
die Beschränkung der Anwendung der 1-Prozent-Regelung auf Fahrzeuge des notwendigen Betriebsvermögens, die Steuerpflicht für Umsätze zugelassener öffentlicher Spielbanken und die Möglichkeit der Ahndung der
missbräuchlichen Weitergabe von Tankbelegen und anderen Belegen an Dritte. Auch diese Maßnahmen sollen
nicht nur direkt oder indirekt zur Konsolidierung der
öffentlichen Haushalte beitragen, sondern auch der
Steuergerechtigkeit dienen.
Eingangs hatte ich darauf hingewiesen, dass die Sanierung der öffentlichen Haushalte zwar ein wichtiges
Ziel der Bundesregierung, nicht aber ihr einziges ist.
Mindestens ebenso bedeutsam ist es, mit geeigneten
Maßnahmen entscheidende Impulse für einen wirtschaftlichen Aufschwung zu geben.
Daher haben wir im Januar dieses Jahres ein umfassendes Programm zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung auf den Weg gebracht, das, wie Sie wissen,
ein beeindruckendes Gesamtvolumen von 25 Milliarden
Euro hat. Zur kurzfristig erforderlichen Stärkung der
Wachstumskräfte sind unter anderem eine gezielte Wiederbelebung der Investitionstätigkeit und die steuerliche
Gewährung von Liquiditätsvorteilen für kleine und mittelständische Unternehmen notwendig. Darüber hinaus
muss der private Haushalt als Feld für neue Beschäftigungsmöglichkeiten steuerlich besser erschlossen werden. Dadurch wird zugleich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert.
Nicht zuletzt im Interesse dieser besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist im vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von
Wachstum und Beschäftigung - die begünstigenden
Teile dieses Gesetzes sollen weitgehend rückwirkend ab
Januar 2006 gelten - vorgesehen, die steuerliche Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten spürbar
auszuweiten. Außerdem wird die degressive AfA für bewegliche Wirtschaftsgüter für zwei Jahre befristet wieder auf 30 Prozent - maximal auf das Dreifache der linearen AfA - angehoben sowie verstärkt der Abzug von
Handwerkerrechnungen für Renovierungs-, Erhaltungsund Modernisierungsmaßnahmen von der Steuerschuld
ermöglicht. Dies wird insbesondere dem Handwerk und
anderen mittelständischen Gewerben Impulse geben.
Zur Stärkung der Liquidität mittelständischer Unternehmen schlagen wir darüber hinaus vor, die Umsatzgrenzen bei der Istversteuerung in den alten Bundesländern
zu verdoppeln und die für die neuen Bundesländer bereits geltende Sonderregelung zu verlängern.
Es ist verschiedentlich, insbesondere von den Oppositionsparteien, moniert worden, dass das, was die Bundesregierung bislang vorgelegt hat, keinesfalls der große
Wurf sei.
({5})
Für diesen Vorwurf fehlt mir, ehrlich gesagt, jegliches
Verständnis. Die Bundesregierung kann sich mit ihrer
100-Tage-Bilanz wirklich sehen lassen. Für die Anfangsphase der 16. Legislaturperiode hat die große Koalition bereits Beachtliches geleistet, nicht zuletzt im
steuerlichen Bereich.
({6})
Entscheidend ist aber, dass die Bundesregierung sich mit
Vernunft an die sorgsam ausgehandelte Agenda des Koalitionsvertrages hält. In einem ersten Schritt geht es darum, durch rasch wirksame Maßnahmen auf eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und eine Belebung
der Konjunktur hinzuwirken. In einer zweiten Phase sollen grundlegende strukturelle Reformen in Angriff genommen werden, die sorgfältiger Vorbereitung bedürfen,
zum Beispiel die Unternehmensteuerreform. Schnellschüsse können und wollen wir uns nicht leisten.
({7})
Ich denke, mit den bereits umgesetzten und noch anstehenden Maßnahmen unter dem Motto „Sanieren, Investieren, Reformieren“ sind wir auf einem viel versprechenden Weg.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Carl-Ludwig Thiele
von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Für die FDP begrüße ich die
Zielrichtung des vorliegenden Gesetzentwurfes. Denn
auch wir sind der Auffassung, dass die Rahmenbedingungen für zusätzliches Wachstum und Beschäftigung dringend verbessert werden müssen. Auch als
Opposition freuen wir uns darüber, dass sich die Stimmung in unserem Land verbessert und die Leute mehr
Kraft erhalten, die Zukunft selbst zu gestalten. Es ist allerdings nicht automatisch so, dass, nur weil die CDU
mit in der Regierung ist, nach sieben mageren Jahren unter Rot-Grün sieben fette Jahre unter Schwarz-Rot kämen.
({0})
Wir brauchen mehr Wachstum: Durch ein höheres
Wirtschaftswachstum entstehen dauerhaft mehr Arbeitsplätze, die Ausgaben für den Arbeitsmarkt sinken und
das Steueraufkommen steigt. Die Überschrift des Gesetzes der Koalitionsfraktionen wird durch seinen Inhalt
aber nicht gedeckt. Die vorgesehenen Maßnahmen sind
im Gesamtzusammenhang zu sehen: Parallel zu diesem
Steuergesetz planen Sie mit der Anhebung der Mehrwertsteuer und der Versicherungsteuer um 3 Prozent
die größte Steuererhöhung, die es in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland je gegeben hat. Ab dem
nächsten Jahr werden den Bürgern 25 Milliarden Euro
pro Jahr mehr abgenommen. Dieses Geld wird den Menschen fehlen, um in anderen Bereichen gewünschte
Nachfrage zu tätigen und damit Beschäftigungseffekte
auszulösen. Wir als FDP halten diese Steuererhöhungsorgie für grundfalsch und werden ihr im Bundesrat auf
keinen Fall zustimmen.
({1})
Der Finanzminister und der Wirtschaftsminister kennen
diesen Zusammenhang und wissen deshalb, dass dieses
Gesetz die gewünschte Wirkung nicht entfalten wird; sie
wissen, hier werden Placebos verteilt, aber nicht die
Weichen für eine bessere Zukunft unseres Landes gestellt. Das ist vermutlich der Grund, warum sie bei der
abschließenden Beratung dieses Gesetzes im Bundestag
nicht anwesend sind.
({2})
Die FDP hat die Sorge, dass die größte Steuererhöhung in der Geschichte Deutschlands den Aufschwung
bremsen wird. Der Euroraum ist nicht der Wachstumsmotor der Welt. Das für 2006 prognostizierte Wachstum
der Weltwirtschaft ist mit 4,5 Prozent enorm. Das
Wachstum in Europa liegt mit 2,4 Prozent deutlich niedriger. Die Bundesregierung hat das Wachstum in
Deutschland für dieses Jahr auf 1,4 Prozent geschätzt.
Deshalb sind wir der Auffassung, dass Deutschland
keine Verschlechterung der Stimmung vertragen kann,
und wir appellieren noch einmal an die Koalition, diese
Mehrwertsteuererhöhung ernsthaft zu überdenken, weil
die schädlichen Folgen jedem klar sind, sogar der Koalition.
({3})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,
durch die Feststellungen der PISA-Studie wissen wir
alle, dass die Bildung in unserem Land dringend verbessert werden muss. Wir wissen allerdings auch, dass das
in den Elternhäusern anfängt. Wenn in der Frage der
Mehrwertsteuererhöhung zwei plus null gleich drei ist,
dann fängt PISA hier im Deutschen Bundestag, bei der
Koalition und der Bundesregierung an.
({4})
Wegen der Steuererhöhungen sind die vorgesehenen
Maßnahmen nicht geeignet, in Deutschland dauerhaft
Wachstum anzuregen. Viele Regelungen verkomplizieren das Steuerrecht weiter und lassen jedes steuerpolitische Konzept vermissen. Die Gesetzentwürfe sind damit
weder Ausdruck eines klaren steuer- und wirtschaftspolitischen Konzeptes, noch tragen sie der Tatsache Rechnung, dass die öffentlichen Haushalte insbesondere
durch Einsparmaßnahmen, Subventionsabbau und die
Überprüfung von Leistungsgesetzen zu sanieren sind.
Wer sich mit unserem Steuerrecht beschäftigt und
sich längere Zeit damit auseinander setzt - Sie, Frau
Staatssekretärin, gehörten sieben Jahre einer anderen
Bundesregierung als Staatssekretärin an -, der weiß,
dass Trippelschritte nicht ausreichen. Trippelschritte
wurden reichlich gegangen, auch damals, unter Ihrer
Führung. Wir brauchen einen größeren Wurf. Diesen in
der Form rhetorisch zu brandmarken, wie Sie das vorhin
in Ihrer Rede getan haben, ist ziemlich daneben.
({5})
Das Steuerrecht muss einfacher und verständlicher
werden. In der gestrigen Debatte im Deutschen Bundestag zu diesem Thema hat die FDP einen ausformulierten
Gesetzentwurf vorgelegt. Ich appelliere an Sie, sich diesen genau anzusehen. Er kann modifiziert werden. Er
kann nach einer Anhörung verändert werden. Aber wir
können doch nicht bis zum Jahr 2008 warten, ohne zu
wissen, ob etwas kommt und wenn, was. Es besteht Unsicherheit allerorten. Das ist das Gegenteil dessen, was
unser Staat an wirtschaftlichen Rahmenbedingungen
braucht.
({6})
Angesichts dessen, dass hier häufig gesagt wird, die
Durchschnittssteuerbelastung in Deutschland sei niedrig, kann ich Sie nur auffordern, einmal zum Finanzamt
zu gehen und zu erklären, Sie wollten nach der Durchschnittsbelastung besteuert werden. Das wird Ihnen
nicht gelingen. Für Investitionen und die Schaffung von
Arbeitsplätzen sind die Durchschnitts- und die Spitzensteuersätze von entscheidender Bedeutung.
Sie müssen erkennen - die SPD bitte ich, in diesem
Punkt endlich aus ihren ideologischen Schützengräben
herauszukommen -, dass sich andere Länder mit uns in
einem internationalen Wettbewerb befinden und dass
sie ihre Positionen schon verbessert haben. Wir müssen
dringend die Wettbewerbsposition Deutschlands verbessern. Bei der Steuerbelastung durch Unternehmensteuern liegen wir in Europa an der Spitze. Das führt dazu,
dass in unserem Land nicht entsprechend investiert wird
und dass eine entsprechende Zahl von Arbeitsplätzen
nicht geschaffen wird. Deshalb muss das angegangen
werden.
({7})
- Das ist durchaus denkbar. Sie, Herr Kollege, können
aber schon bei unserer Steuerreform mitmachen. Dann
hätten wir das Ganze ein Jahr früher geschafft.
({8})
- Das ist richtig. Aber die Zielrichtung muss stimmen.
Ich höre, zumindest vonseiten der SPD, dass nicht alle
Zielrichtungen geteilt werden.
Zum Thema Kinderbetreuung: Wir finden es gut,
dass die ideologischen Grabenkämpfe endlich ausgestanden sind, dass private Haushalte als Arbeitgeber anerkannt werden und dass das nicht mehr als Dienstmädchenprivileg abgetan wird, so wie Sie das früher häufig
getan haben. Die Regelungen hierzu sind aber ausgesprochen kompliziert. Sie sind in ihrer Kompliziertheit
auch nach der Anhörung und der Beratung im Finanzausschuss schwer zu übertreffen: Ein Teil der Familien
soll einen Teil der Kosten für einen Teil der Kinder für
einen Teil der Aufwendungen absetzen dürfen. Es gibt
ein Nebeneinander von Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten, Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen, Steuerbefreiungen und Steuervergünstigungen. Das versteht kein Mensch. Dazu braucht jeder
Steuerpflichtige einen Steuerberater, und dabei können
die Beratungskosten steuerlich nicht einmal mehr berücksichtigt werden.
({9})
Das ist absurd, meine verehrten Kollegen.
({10})
Ich bitte Sie, unseren Gesetzentwurf in diesem Punkt
zu prüfen, der einen Abzug von bis zu 1 000 Euro im
Monat vorsieht. Diese Regelung ist ganz klar. Sie könnten sie jederzeit isoliert aus unserem Gesetzentwurf
übernehmen.
Die Dienstwagenbesteuerung ist ausweislich der
Anhörungen des Finanzausschusses nicht geeignet, mehr
Wachstum in unserem Lande zu ermöglichen. Hierzu
müssen Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen
von der Koalition, Ihre Einstellung aus meiner Sicht ändern. Denken Sie nicht nur an die Bürger, die diese Autos fahren und denen Sie neue Belastungen zumuten,
denken Sie doch bitte auch an die Bürger, die diese Autos in Deutschland bauen, und deren Familien, die auf
den Erhalt der Arbeitsplätze angewiesen sind.
({11})
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Wenn wir
nicht begreifen, dass wir alle mehr arbeiten müssen, um
unseren Lebensstandard zu halten, wenn wir nicht begreifen, dass wir die Probleme unseres Landes nur lösen
können, wenn wir den Bürgern mehr zutrauen als dem
Staat, und wenn der Bürger nicht endlich mehr Freiheiten bekommt, damit er selbst Verantwortung übernehmen kann, dann befinden wir uns leider auf dem falschen Weg.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, die FDP
ist jederzeit zu konstruktiver Zusammenarbeit bereit.
({12})
Unsere Konzepte liegen auf dem Tisch und die von Ihnen geplanten Steuererhöhungen machen wir auf keinen
Fall mit - weder hier im Deutschen Bundestag noch im
Bundesrat.
({13})
Fangen Sie deshalb an, auf der Ausgabenseite des
Staates zu sparen, wie es von der Union vor der Wahl
auch propagiert wurde, und verzichten Sie auf diese
Steuererhöhungen. Sie helfen unserem Land nicht, Sie
schaden ihm.
({14})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katherina Reiche von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten heute in zweiter und dritter Lesung einen wichtigen Baustein zur Zukunftssicherung unseres Landes,
nämlich den Gesetzentwurf zur steuerlichen Förderung
von Wachstum und Beschäftigung.
Die Zukunftsfähigkeit unseres Landes wird sich daran
entscheiden, in welchem Maße unser Land die Fähigkeit
besitzt, sich selbst zu verändern und zu modernisieren.
In diesem Zusammenhang stehen zwei zentrale Themen
ganz oben auf der Tagesordnung, nämlich das Thema Innovation und das Thema Energie und Umwelt.
Innovationen sind für unser Land von zentraler Bedeutung; denn die wirtschaftliche Entwicklung stützt
sich in zunehmendem Maße auf Wissenschaft, auf Wissen und auf Innovation. Kostensenkungen allein werden
in Zukunft nicht ausreichen. Das Wort unseres Bundespräsidenten Horst Köhler, dass wir um das Maß besser
sein müssen, um das wir teurer sind, ist mittlerweile ja
zu einem geflügelten Wort geworden.
Es geht also darum, neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, mit denen wir uns auf den Weltmärkten von den Wettbewerbern absetzen können. Deutschland muss zu einer Innovationswerkstatt werden. Wir
brauchen ein besseres Reizklima für Spitzenforschung
und Technologie. Wir müssen uns also so aufstellen,
dass neue Ideen eine Chance zur Umsetzung haben und
daraus möglichst schnell marktreife Produkte werden.
Die Bundesregierung hat dies erkannt und die richtigen Schlüsse daraus gezogen, indem wir in dieser Legislaturperiode zusätzlich 6 Milliarden Euro in Forschung
und Entwicklung investieren werden. Mit diesen Mitteln
werden unter anderem der Pakt für Forschung und Innovation, die Exzellenzinitiative und auch der Pakt für
Hochschulen finanziert.
Wir wollen aber auch ausgewählte innovative Leuchtturmprojekte fördern, um den Technologiestandort
Deutschland zu stärken.
({0})
Beispiele hierfür sind das Satellitennavigationssystem
Galileo, die Weiterentwicklung von konventionellen
Kraftwerken mit dem Ziel der Nullemission und auch
die Entwicklung der Brennstoffzelle.
Angesichts der schwierigen Haushaltslage ist die Mobilisierung dieser 6 Milliarden Euro wirklich ein Kraftakt. Es ist zugleich aber auch ein Signal an die Länder
und die Wirtschaft, diesem Beispiel zu folgen und auch
in ihrem Bereich die Investitionen zu steigern. Vor allem
soll es aber auch Forschern, Wissenschaftlern und jungen Talenten weltweit zeigen, dass wir es mit der Innovationswerkstatt Deutschland ernst meinen.
Die Förderung von Wissenschaft und Forschung
schafft Investitionen und Arbeitsplätze in der Lasertechnik, in der Informationstechnologie, in der Nanotechnologie und im Maschinen- und Anlagenbau. Aber auch
bei den erneuerbaren Energien sind wir Weltspitze. Milliarden wurden investiert und Hunderttausende von Arbeitsplätzen geschaffen. Aber - auch das gehört zur
Wahrheit dazu -: Geld ist das eine, innovationsfreundliche Rahmenbedingungen sind mindestens ebenso wichtig, damit sich Ideen überhaupt entfalten und neue Technologien entwickelt werden können. Deshalb müssen
wir besser werden, zum Beispiel bei der Grünen Gentechnik und bei der Telekommunikation.
({1})
Die Innovationskraft des Landes zu stärken, ist für uns
eine ökonomische und eine soziale Frage zugleich. Hier
wollen wir in den nächsten Jahren Fortschritte machen.
Die Fähigkeit unseres Landes, sich zu verändern, bemisst sich auch daran, wie wir mit unseren Rohstoffen,
Ressourcen und der Energie umgehen. Die Entwicklung
der Rohstoff- und Energiepreise sowie der steigende Bedarf von Energie weltweit zeigen uns, dass wir Energie
und Rohstoffe besser nutzen müssen, um unseren Wohlstand zu sichern.
Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang kurz ein
paar Worte zu dem erst kürzlich veröffentlichten Grünbuch der Europäischen Kommission zur Energiepolitik.
Das Grünbuch ist zu Recht nicht ohne Kritik geblieben.
Aber es unterstreicht deutlich eine wichtige Strategie:
Katherina Reiche ({2})
weg vom Öl, hin zu mehr Energieeffizienz und zu erneuerbaren Energien. Wenn wir unsere Energieerzeugung
nicht wettbewerbs- und zukunftsfähiger gestalten, dann
wird der Energiebedarf der Europäischen Union in den
nächsten 20 bis 30 Jahren zu 70 Prozent durch Importe
gedeckt werden müssen; derzeit sind es 50 Prozent. Also
sind die effiziente Nutzung von Energie und die Vermeidung von Energieverschwendung zentrale Punkte unseres Regierungshandelns.
Eine wichtige Säule ist das Gebäudesanierungsprogramm. Der Wohnungsbestand in Deutschland beträgt
derzeit rund 39 Millionen Wohnungen, davon sind
80 Prozent aus energetischer Sicht sanierungsbedürftig.
Das ist der Grund dafür, warum wir den Gebäudebestand
in den nächsten Jahren sanieren wollen, zum Beispiel
durch das Absetzbarmachen eines Teils der Handwerkerrechnungen von der Steuer. Wir wollen aber auch die
Mittel in diesem Bereich beträchtlich aufstocken. Jährlich werden 1,4 Milliarden Euro zur energetischen Gebäudesanierung zur Verfügung stehen.
({3})
Das ist eine lohnenswerte Investition in die Zukunft. Wir
werden damit Anreize für Investitionen von insgesamt
circa 28 Milliarden Euro schaffen.
({4})
Vor allem wollen wir ein wichtiges Zukunftsfeld besetzen, nämlich den Umweltschutz als Arbeitgeber. In
der vorherigen Debatte hat Frau Künast behauptet, die
Regierung habe es verpasst, auf diesen Zug aufzuspringen. Dazu kann ich nur sagen: Wahrscheinlich hat Frau
Künast das schnelle Regierungshandeln verpasst, sonst
hätte sie gemerkt, dass wir in diesem Bereich sehr viel
tun.
({5})
Vor allem wird dieses Programm in einem sehr wichtigen Arbeitsfeld helfen, nämlich der Stärkung des Handwerks und des Mittelstandes, was uns als Union besonders wichtig ist.
({6})
Die Energieforschung ist ein weiteres wichtiges Feld
der Zukunft und muss in unserer Forschungspolitik ein
höheres Gewicht bekommen.
({7})
Die Energieforschung ist eine der zentralen Säulen der
Energiepolitik. Sie eröffnet eine Perspektive für eine sichere, umweltfreundliche und auch bezahlbare Energieversorgung der Zukunft.
({8})
Wir brauchen diese Innovation im Energiebereich, um
Umweltbelastungen zu minimieren und die Versorgungssicherheit und die wirtschaftliche Produktivität zu
erhöhen.
Deutschland zu modernisieren und zu einer Innovationswerkstatt zu machen, darin liegt eine ganz zentrale
Aufgabe dieser Legislaturperiode. Die Bundesregierung
und die sie tragenden Fraktionen aus CDU/CSU und
SPD haben hierfür die entscheidenden Pflöcke eingeschlagen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Barbara Höll von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
vorliegenden Gesetzentwürfe, über die wir heute debattieren, sollen der ganz große Wurf werden. Wir sprechen
über den Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung und zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Eindämmung missbräuchlicher
Steuergestaltungen.
Das sind in dieser Legislaturperiode bereits die Steuergesetze Nummer drei und vier. Der große Wurf waren
sie bisher alle nicht. Man hat den Eindruck, Sie bemühen
sich in dem Wettbewerb: Wie denke ich mir eine schöne
Überschrift aus und halte dabei den Inhalt möglichst
klein? Das sieht man auch am Finanztableau und zudem
daran, worüber wir bei der Behandlung dieser Gesetze in
der Öffentlichkeit am meisten diskutiert haben.
Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung wollen Sie mit
dem steuerlichen Teil dafür sorgen, dass es mit der wirtschaftlichen Entwicklung jetzt richtig vorwärts geht.
Wie soll es denn vorwärts gehen? Die umfangreichste
Maßnahme in Ihrem Programm ist die Verbesserung
der Abschreibungsbedingungen, mit der Sie die Absetzung für Abnutzung von 20 auf 30 Prozent heraufsetzen. Vor fünf Jahren sind Sie von der SPD, die Sie auch
damals an der Regierung waren, den umgekehrten Weg
gegangen. Damals hat die Maßnahme nicht richtig gegriffen. Nun soll sie richtig greifen? Es fragt sich - vor
allem vor dem Hintergrund, dass Sie im nächsten Jahr
die Mehrwertsteuer erhöhen wollen -, ob das Erfolg haben kann.
Hinsichtlich der steuerlichen Geltendmachung von
Handwerkerleistungen ist interessant, dass Sie zum einen auch bei den Handwerksdienstleistungen die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent erhöhen und zum anderen eine Steuererstattung von 20 Prozent der
Arbeitskosten ermöglichen wollen. Das heißt de facto
nichts anderes, als dass Sie bei den haushaltsnahen
Handwerkerleistungen nicht nur die Mehrwertsteuererhöhung zurücknehmen, sondern der Kunde bekommt
gleich die ganze Mehrwertsteuer wieder zurück. Damit
wollen Sie 50 000 Arbeitsplätze schaffen.
Erstens glaube ich, dass wir mit 50 000 zusätzlichen
Arbeitsplätzen nicht das Problem der über 5 Millionen
Arbeitslosen in der Bundesrepublik Deutschland lösen
werden.
({0})
Zweitens sollten Sie sich besser zu ernst zu nehmenden
Maßnahmen aufschwingen.
Im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf wurde in
der Öffentlichkeit die Möglichkeit der steuerlichen Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten am heißesten
diskutiert. Richtig wäre es gewesen, wenn der Bund den
Weg zu einer elternbeitragsfreien Kinderbetreuung für
alle Kinder geebnet hätte. Dann müssten wir nicht darüber diskutieren, welches steuerliche Modell am besten
greift.
({1})
Wir haben im Bundestag einen entsprechenden Vorschlag eingebracht. Sie haben klar signalisiert, dass Sie
sich nicht entschließen konnten, diesem Weg zu folgen.
Sie haben zwar einen Gesetzentwurf vorgelegt, aber Ihr
Vorhaben ist sozial ungerecht. Ich glaube, es lohnt sich,
Ihnen das deutlich zu machen. In sehr vielen Kommunen
sind - sofern überhaupt Kindertagesbetreuung möglich
ist - die Beiträge gleich hoch, wenn die Eltern über ein
Einkommen verfügen, egal ob es 36 000 oder
70 000 Euro im Jahr beträgt. Die Eltern zahlen trotz unterschiedlicher Einkommen gleich hohe Beiträge.
Ausgehend von etwa 3 600 Euro Kinderbetreuungskosten im Jahr heißt das auf Ihr Modell bezogen, dass
eine Familie mit einem Einkommen von 36 000 Euro
eine steuerliche Entlastung in Höhe von 640 Euro erfährt. Das ist zunächst einmal gut und wir unterstützen
das auch. Aber eine Familie mit einem Einkommen von
70 000 Euro wird bei gleicher Beitragszahlung um
830 Euro entlastet. Das halte ich für sozial ungerecht.
({2})
Deshalb haben wir einen Änderungsantrag vorgelegt,
mit dem wir das heilen wollen, was möglich ist. Wir sehen eine steuerliche Rückerstattung für alle in gleichem
Maße vor; ohne Progressionsvorbehalt kann wenigstens
bei dieser Regelung soziale Gerechtigkeit erreicht werden, auch wenn sie dann immer noch nicht unseren Vorstellungen entspricht.
In dem zweiten Gesetzesvorhaben, das heute beraten
wird, geht es um die Eindämmung missbräuchlicher
Steuergestaltungen. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass das meiste, was Sie damit angehen, nur
der Klarstellung dient, dass die legale Steuerumgehung
nicht mehr möglich sein soll. Aber das bezieht sich nur
auf einen sehr kleinen Bereich. Ich frage Sie ernsthaft:
Warum sind Sie auch hier nicht mutig genug, die richtigen Steuerumgehungsmöglichkeiten anzugehen?
Warum ist es möglich, dass in Deutschland internationale Konzerne Gewinne erwirtschaften und dadurch,
dass sie ihre Bemessungsgrundlage über Lizenzgebühren und Schuldzinsen ins Ausland verlagern können,
hier de facto keine Steuern zahlen? Das ist doch das Problem. Hier geht es um Größenordnungen, die ein Herangehen lohnen. Dazu sollten Sie den Mut aufbringen.
({3})
Wir als Linksfraktion schlagen Ihnen vor: Gehen Sie
das an! Stellen Sie sich den Erfordernissen im Steuerrecht. Im Einkommensteuerbereich ist eine Anhebung
des steuerfreien Existenzminimums notwendig. Wir
brauchen endlich eine Modernisierung des Steuerrechts
bezüglich der Steuerklassen und eine Reform der Unternehmensbesteuerung, die sicherstellt, dass auch bei Unternehmen eine Besteuerung nach der wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit erfolgt, so wie es im Einkommensteuerrecht gelten müsste.
Gerade nach der gestrigen Debatte mit der Forderung
der FDP und der Erwiderung durch die CDU/CSU fordern wir Sie auf: Lassen Sie die Finger von der Gewerbesteuer! Sie ist die einzige halbwegs stabile Finanzierungsgrundlage für die Kommunen und bietet zum
Beispiel die Basis für die öffentliche Kinderbetreuung,
einen wesentlichen Aufgabenbereich der Kommunen.
Dem Problem der über 5 Millionen Arbeitslosen müssen Sie sich auf andere Weise stellen, nicht mit einem
solchen Klein-Klein. Legen Sie endlich Vorschläge vor,
wie Sie das Problem sozial gerecht und vorwärts weisend angehen wollen! Wenn Sie nicht weiterwissen, können Sie gerne in unserem Steuerkonzept nachlesen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Das Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum
und Beschäftigung, dessen Entwurf zur Abstimmung
steht, kann bestimmt ein Stück weit gute Laune verbreiten. Es enthält durchaus Ansätze, die in die richtige
Richtung gehen. Aber es macht noch längst keinen konjunkturellen Sommer.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,
wir brauchen konjunkturelle Impulse. Diese dürfen aber
2007 nicht durch Steuererhöhungen aufgehoben werden.
({1})
Die Erhöhung der Mehrwertsteuer und der Versicherungsteuer um jeweils 3 Prozentpunkte ist kein Pappenstiel. Sie kann das verfügbare Einkommen - je nach Umsetzung - um 1 Prozent verringern. Wir haben bereits ein
Kaufkraftproblem in der Bundesrepublik Deutschland;
darauf wird ständig hingewiesen. Aber Sie konterkarieren mit dem, was Sie im nächsten Jahr tun wollen, das,
was Sie heute beschließen. Sie geben zwar in diesem
Jahr mit den 6 Milliarden Euro einen Impuls für mehr
Innovation - darauf hat Katherina Reiche bereits hingewiesen - und damit auch für mehr Wachstum und Beschäftigung, setzen aber im nächsten Jahr Steuererhöhungen mit einem Volumen von 20 Milliarden Euro
dagegen. Sie werden so den positiven Impuls dämpfen
und leider nicht das erreichen, was Sie sich vorgenommen haben. Das erinnert mich ein bisschen an die Echternacher Springprozession, bei der man einen Schritt
vor- und dann drei Schritte zurückgeht. Anschließend
wundert man sich, dass man nicht vorwärts kommt.
({2})
Vor dem Hintergrund steigender Kapitalmarktzinsen
seitens der Europäischen Zentralbank, des inflationären
Effekts der geplanten Mehrwertsteuererhöhung sowie
steigender Energiepreise schlagen Sie einen riskanten
Weg ein. Ich kann Ihnen nur raten: Kehren Sie um!
Wenn Sie etwas für die konjunkturelle Belebung tun
wollen, dann sollten Sie nicht ein solches Stückwerk wie
den vorliegenden Gesetzentwurf, sondern ein gescheites
Konzept vorlegen.
({3})
Alle Fragen, die im Zusammenhang mit der Zukunft
der sozialen Sicherungssysteme von zentraler Bedeutung sind, sind nicht beantwortet. In den Koalitionsfraktionen gibt es schon wieder Streit über das zukünftige
Vorgehen bei der Kranken- und der Pflegeversicherung.
Ich bedauere sehr, dass Sie dazu noch keinen Vorschlag
gemacht haben. Sicher hat das etwas mit den bevorstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt zu tun. Aber, Herr
Müntefering, wir wären sehr froh, wenn endlich Konzepte vorgelegt würden. Vielleicht sind Sie in der Lage,
konkret zu sagen, was geplant ist. Die Kanzlerin
schweigt jedenfalls.
({4})
Aber unsere Kritik ist nicht nur grundsätzlicher Art,
sondern betrifft auch die einzelnen Regelungen - und
das ist, wie wir finden, durchaus berechtigt.
Da ist zum einen Ihr landauf, landab gelobtes Vorhaben zur Ausweitung der steuerlichen Absetzbarkeit erwerbsbedingter Kinderbetreuungskosten, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern. Das ist
ein wunderbares Ziel, aber Ihre Lösung ist enorm kompliziert. Um das deutlich zu machen, zitiere ich aus einem Schreiben des Bundesfinanzministeriums zu den
betreffenden Regelungen:
Zur besseren Vereinbarkeit von Kinderbetreuung
und Beruf können erwerbsbedingte Kinderbetreuungskosten für Kinder bis zur Vollendung des
14. Lebensjahres in Höhe von zwei Dritteln der
Aufwendungen, höchstens 4 000 Euro je Kind, wie
Betriebsausgaben oder Werbungskosten berücksichtigt werden.
So weit ist es noch einigermaßen verständlich. Weiter
heißt es:
Dies gilt für erwerbstätige Alleinerziehende und im
Falle des Zusammenlebens beider Elternteile, wenn
beide Elternteile erwerbstätig sind. Eine entsprechende Regelung gilt auch, wenn nur ein Elternteil
erwerbstätig und der andere Elternteil behindert,
dauerhaft krank oder in Ausbildung ist.
Ist nur ein Elternteil erwerbstätig und der andere Elternteil nicht behindert, dauerhaft krank oder in
Ausbildung, dann können für alle Kinder, die das
dritte Lebensjahr vollendet, das sechste Lebensjahr
aber noch nicht vollendet haben, Kinderbetreuungskosten in Höhe von zwei Dritteln der Aufwendungen, höchstens 4 000 Euro je Kind, als Sonderausgaben geltend gemacht werden.
Dahinter steht in Klammern der genaue Paragraf und
dann heißt es:
§ 35 a EStG soll nur noch für solche Aufwendungen zur Kinderbetreuung in Anspruch genommen
werden können, die nicht unter die vorgenannten
Regelungen fallen.
Sie haben wohl gemerkt, dass das alles ein bisschen komisch ist, und deshalb etwas Wunderbares gemacht, um
das Ganze zu verbessern, nämlich einen Antrag nachgeschoben. In dem Schreiben heißt es weiter:
Klarstellend wurde durch einen Änderungsantrag
der Koalitionsfraktionen aufgenommen, dass Aufwendungen für Unterricht, die Vermittlung besonderer Fähigkeiten sowie für sportliche und andere
Freizeittätigkeiten auch durch § 10 Abs. 1 Nr. 5
EStG nicht begünstigt sind. Zudem wird durch eine
Ergänzung von § 26 a EStG eine Regelung zur Aufteilung der Kinderbetreuungskosten für den Fall
aufgenommen, dass grundsätzlich nach § 26 EStG
zusammen zu veranlagende Ehegatten eine getrennte Veranlagung nach § 26 a EStG beantragen.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren, mit allem Ernst:
Versteht das irgendjemand von denen, die nicht im Finanzausschuss sitzen, nicht aus der Finanzverwaltung
kommen und nicht Steuerberater oder Steuerberaterin
sind? Versteht das jemand aus der normalen Bevölkerung? Ich glaube nicht.
({5})
Sie haben etwas vorgelegt, was gedanklich in die
richtige Richtung geht, aber in der praktischen Umsetzung völlig unmöglich ist. Aus diesem Grunde haben
wir vom Bündnis 90/Die Grünen den Vorschlag gemacht, dass einfach ein fester Betrag von der Steuerschuld abgezogen wird, wobei völlig egal ist, ob jemand
allein erziehend ist, ob es sich um Verheiratete handelt
oder ob eine Person oder beide Personen erwerbstätig
sind. Es wird schlicht ein fester Betrag in Abzug gebracht. Alle Kinder der Steuerpflichtigen sind gleichviel
wert. Damit hätten wir eine klare Regelung, die jeder
Mensch in dieser Republik verstehen würde. Ich verstehe nicht, warum Sie sich unserem Begehren nicht anschließen können, sondern an Ihrer hochkomplizierten
Regelung festhalten, obwohl Sie immer sagen, das Steuerrecht solle einfacher und transparenter werden. Hier
haben Sie genau das Gegenteil gemacht.
({6})
Zu den Handwerkerleistungen: Wir unterstützen,
dass die Abzugsfähigkeit haushaltsnaher Dienstleistungen auf alle Handwerkerleistungen ausgeweitet wird.
Aber auch hier bleibt unklar, ob tatsächlich alle Handwerkerleistungen gemeint sind, also unabhängig davon,
ob die Handwerker in der Handwerksrolle eingetragen
sind oder nicht. Wir haben dazu einen sehr konstruktiven
Vorschlag gemacht, der dahin geht, dass man die Streitanfälligkeit im Vollzug des Steuergesetzes vermeidet.
Wir sagen: Schreiben Sie in das Gesetz hinein, wie es
gemeint ist! - Aber nein, Sie schreiben es nicht in den
Gesetzestext, sondern Sie verweisen auf die Gesetzesbegründung und darauf, dass es ein Anwendungsschreiben
der Finanzverwaltung zu diesem Thema gibt. Wahrscheinlich dauert es wieder Monate, bis es da ankommt,
wo es ankommen soll. Kein Mensch versteht es und
letztendlich werden sich wieder die Finanzgerichte mit
Streitfällen beschäftigen. Sie bauen neue Bürokratie auf,
statt Bürokratie abzubauen, was Sie in hehren Texten
immer so schön formulieren. In der Praxis halten Sie das
aber nie ein. Das ist die Kritik, die wir an diesem Punkt
haben.
Sie sorgen dafür, dass einige unerwünschte Umgehungsstrategien für Steuersparkünstler nicht länger möglich sind. Das halten wir für richtig. Wir halten es allerdings nicht für richtig, dass Sie die Regelung über die
Besteuerung von Dienstwagen verkompliziert haben,
sodass viel Streit vor den Finanzgerichten vorprogrammiert ist. Wir wollen eine Regelung, die nicht zu einer
Ungleichbehandlung zulasten der kleinen Selbstständigen - genau das bewirken Sie nämlich - führt.
Die vorgeschlagenen Regelungen sind willkürliches
Stückwerk. Sie verkomplizieren das Steuerrecht, statt es
zu vereinfachen. Sie bauen neue Bürokratien auf, statt
diese abzubauen. Sie lassen keine Linie erkennen. Politischer Anspruch und Wirklichkeit klaffen eklatant auseinander. Das ist nicht der richtige Weg. Machen Sie Ihre
Hausaufgaben gescheit! Tun Sie etwas für das Land!
Dazu muss die Umsetzung stimmen und es genügt nicht,
dass nur die Worte schön klingen.
({7})
Das Wort hat jetzt der Finanzminister von RheinlandPfalz, Herr Staatsminister Gernot Mittler.
({0})
Gernot Mittler, Staatsminister ({1}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem ursprünglichen Gesetzentwurf zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen hat die
Bundesregierung auch eine Ergänzung von § 13 b des
Umsatzsteuergesetzes vorgesehen, mit der für bestimmte
Leistungen, nämlich für Gebäudereinigungen, die Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers begründet
werden sollte. In der Gesetzesbegründung dazu hieß es
- ich zitiere -:
Da in diesem Bereich typischerweise nicht sichergestellt werden kann, dass entsprechende Umsätze
von den leistenden Unternehmern vollständig im
allgemeinen Besteuerungsverfahren erfasst werden
bzw. der Fiskus den Steueranspruch beim Leistenden realisieren kann, dient diese Maßnahme der
Verhinderung von Umsatzsteuerausfällen.
Diese Konstruktion der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft, die von der Fachwelt als ReverseCharge-Verfahren bezeichnet wird, hat im Bundesrat nur
deshalb keine Mehrheit gefunden, weil sie in der vorgeschlagenen Form praktisch kaum vollziehbar gewesen
wäre und zu teilweise nicht sachgerechten Ergebnissen
geführt hätte. Deshalb wurde sie für diesen begrenzten
Anwendungsbereich als nicht tauglich angesehen.
Im Übrigen wollte der Bundesrat eine weitere Insellösung für einen so eng begrenzten Markt vermeiden in
der Sorge, dass jede weitere Insellösung eine Verzögerung oder gar Behinderung einer bei der Umsatzsteuer
notwendigen Systemmodifikation zur Folge haben
könnte. Eine solche grundlegende Verfahrensänderung
ist jedoch im Hinblick auf die enormen Steuerausfälle,
die wir bei der Umsatzsteuer festzustellen und zu beklagen haben, unabwendbar und unaufschiebbar.
Was die Größenordnung angeht: Das Ifo-Institut
schätzt, dass dem deutschen Fiskus jährlich circa
17 Milliarden Euro verloren gehen. Zum Vergleich: Das
ist ziemlich genau so viel, wie die Gesamteinnahmen aller Länder aus der Kfz-, der Grunderwerb- und der Erbschaftsteuer zusammengenommen.
Wir erleben seit fünf Jahren eine unerhörte Erosion
des Umsatzsteueraufkommens. Seit 2000 ist der Konsum in Deutschland, also die eigentliche Bemessungsgrundlage für die Umsatzsteuer, um rund 9 Prozent
gewachsen, das Umsatzsteueraufkommen hingegen um
1 Prozent gesunken. Eine steuersystematische Begründung
dafür gibt es nicht. Wir wissen aber, dass es Steuerhinterziehung und bandenmäßig organisierte Umsatzsteuerhinterziehung insbesondere im grenzüberschreitenden
Wirtschaftsverkehr gibt, den wir mit administrativen
Möglichkeiten niemals beherrschen werden.
Unser Mehrwertsteuersystem ist geradezu eine Einladung zu Betrug und Hinterziehung. Auch hierzu ein Beispiel: 2003 hat der Bundesstaat 137 Milliarden Euro an
Umsatzsteuer eingenommen, 103 Milliarden Euro aus
Mehrwertsteuer, 34 Milliarden Euro Einfuhrumsatzsteuer. Die Gesamtsumme der in Deutschland fakturierten Mehrwertsteuer betrug 548 Milliarden Euro. In der
Kasse des Fiskus verblieben davon, wie gesagt, 103 Milliarden Euro, also weniger als ein Fünftel. Die übrigen
gut vier Fünftel oder 445 Milliarden Euro sind, fiskalisch gesehen, ein Nullsummenspiel und wurden in
einem gigantischen Zahlungs-, Berechnungs-, Verrechnungs- und Erstattungsverfahren zwischen Unternehmen
und Finanzämtern hin- und hergeschoben. In diesem
Topf von 445 Milliarden Euro - das ist das rund 1,8fache
Volumen des Bundeshaushalts - matschen allmonatlich
Staatsminister Gernot Mittler ({2})
bzw. vierteljährlich 4,8 Millionen Unternehmer - nicht
alle sind ehrenwerte Kaufleute - herum, sozusagen in einem gewaltigen Selbstbedienungsladen.
Doch wird der Fiskus nicht allein durch Steuerhinterziehung und kriminelle Machenschaften geschädigt. Es
gibt auch systemimmanente Steuerverluste, zum Beispiel im Insolvenzfalle. Im Zuge eines Planspiels, das im
vergangenen Jahr im Auftrag der Finanzminister von
Bund und Ländern zum Zwecke der Erprobung eines
Systemwechsels durchgeführt wurde, wurde der Steuerausfall durch Insolvenzen auf jährlich 5,7 Milliarden
Euro geschätzt.
Schließlich sind bei keiner anderen Steuer die Niederschlagungsbeträge in den Finanzämtern so hoch wie bei
der Umsatzsteuer: Im Durchschnitt der Jahre 2000 bis
2004 waren dies jährlich 3,3 Milliarden Euro. Das sind
rund 3 Prozent des gesamten Steuersolls. Das ist das
3,3-fache des Niederschlagungswerts bei der Lohn- und
Einkommensteuer.
Aus alldem ergibt sich: Wir brauchen eine Reform
des Umsatzsteuersystems in der Weise, dass die Umsatzsteuer auf Rechnungen zwischen Unternehmen nicht
mehr ausgewiesen wird. Diesem Ansatz liegt eine einfache Logik zugrunde. Wo die Steuer in Rechnungen nicht
offen ausgewiesen wird, also nicht bezahlt werden muss,
kann sie auch nicht hinterzogen werden.
Die Finanzminister der Länder setzen sich seit einigen Jahren vehement und einmütig für einen solchen
Systemwechsel ein. Er ist auch Bestandteil der Koalitionsvereinbarung vom November vergangenen Jahres.
Der Bundesfinanzminister wird nunmehr auf europäischer Ebene, auf die es ankommt, den Systemwechsel
durch einen Ausnahmeantrag für Deutschland nach
Art. 27 der EG-Richtlinie betreiben.
Das bereits erwähnte Planspiel führt im Ergebnis zu
einer positiven Einschätzung der Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens. Der Sachverständigenrat befürwortet diese Maßnahme in seinem jüngsten Gutachten ebenfalls.
Aber nicht nur der deutsche Fiskus ist betroffen. Auch
aus Untersuchungen in anderen Ländern, zum Beispiel
in Frankreich und Großbritannien, wissen wir, dass die
dortigen Fisken ebenfalls unter immensen Umsatzsteuerverlusten leiden. Vorsichtige Schätzungen gehen davon
aus, dass in der EU insgesamt den Staaten jährlich zwischen 60 und 80 Milliarden Euro verloren gehen. Das
sind rund zwei Drittel des Gesamthaushalts der Europäischen Union.
Wenn diese Dimension des Einnahmeverlusts bei der
Umsatzsteuer in den Köpfen der Verantwortlichen in
Brüssel und in den Mitgliedstaaten einmal realisiert sein
wird, ist der Systemwechsel nur noch eine Frage von
kurzer Zeit. Es ist gut, dass die Bundesregierung im
Sinne der Verkürzung dieser Zeit in Europa tätig wird.
Ich bin ganz sicher, dass europaweit die Umsatzsteuer
längst zur Achillesferse der öffentlichen Haushalte geworden ist.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war ein Unikum. Das war nämlich zugleich die erste und die letzte
Rede des Kollegen Mittler hier im Hause; denn er wird
sich auf eigenen Wunsch aus der politischen Tagesarbeit
zurückziehen und kandidiert nicht mehr für den Landtag
in Rheinland-Pfalz. Herr Mittler, ich bedanke mich für
Ihren Beitrag und wünsche Ihnen für Ihren persönlichen
Lebensweg im Namen des Hauses und auch persönlich
alles Gute.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schäffler von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Bei den Überschriften ist diese große Koalition wirklich groß. „Gesetz zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen“, „Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung“, das
klingt nach Konzept und Strategie. In Wirklichkeit ist es
aber Flickschusterei.
({0})
Bei Ihrer Politik stehen das weitere Abkassieren und
anschließende Verteilen von kleinen Geschenken im
Mittelpunkt. Sie glauben, dass der väterliche Staat es
richten wird. Das ist der fundamentale Unterschied zwischen Ihnen und uns.
Da Frau Staatssekretärin Hendricks Beispiele aus der
Tierwelt herangezogen hat, will ich hier auch sagen: Mit
vollen Hosen lässt sich gut stinken. - Sie wollen eine
Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte durchsetzen. Sie wollen eine Versicherungsteuererhöhung um
3 Prozentpunkte durchsetzen. Sie wollen 20 Milliarden
Euro Liquiditätsentzug beim Mittelstand durchsetzen.
Das haben Sie schon beschlossen. In diesem Jahr müssen 13-mal Sozialversicherungsbeiträge durch den deutschen Mittelstand bezahlt werden. Zum 1. Januar nächsten Jahres wollen Sie die Rentenversicherungsbeiträge
um 0,4 Prozentpunkte anheben. Außerdem wollen Sie
nach der Landtagswahl einen Gesundheitssoli einführen.
Sagen Sie der Bevölkerung doch die Wahrheit!
Gleichzeitig können jetzt alle ein bisschen Handwerkerrechnungen und ein bisschen Kinderbetreuungskosten absetzen. Das ist wirklich sehr beeindruckend.
In Ihrem großen Gesetzeswerk beschäftigen Sie sich
dann auch mit den wirklich wichtigen Themen, zum Beispiel der Versteigerung von Tankquittungen im Internet.
Morgen sind Sie wahrscheinlich der Meinung, dass wir
Handyrechnungen oder Taxiquittungen gesetzlich regeln
müssen. Dieses wichtige Thema wird nicht dazu führen,
dass die Staatsfinanzen in Deutschland tatsächlich ins
Lot gebracht werden.
({1})
Ich dachte auch, dass die Steuerstundungsmodelle mit
Ihrem Gesetz zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm bereits im Dezember abgeschafft worden seien.
Jetzt hat die Regierung wieder eins gefunden. Morgen
findet sie vielleicht wieder eins und übermorgen wieder.
Sie meinen sogar, dass Sie damit mittelfristig
500 Millionen Euro Steuermehreinnahmen erzielen können. Gut, dass das in unserem Steuersystem keiner nachprüfen kann.
Sie werden es nicht schaffen, Gestaltungsmodelle zu
verhindern, wenn Sie nicht an die grundlegende Reform
der direkten Steuern herangehen.
({2})
Wir haben Ihnen in dieser Woche ein Steuerkonzept
dazu vorgelegt. Wir brauchen jetzt ein einfacheres und
gerechteres Steuerrecht mit niedrigeren Steuersätzen. Sie
verschieben die notwendigen Reformen auf den SanktNimmerleins-Tag. Hören Sie auf, diesem Parlament
ständig Flickwerk zu präsentieren! Dieses Land hat es
besser verdient.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Olav Gutting von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit
den zwei vorgelegten Gesetzentwürfen gehen wir weitere Schritte in die richtige Richtung. Von dem Gesetz
zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung gehen positive Impulse für mehr Investitionen
und mehr Beschäftigung aus. Nur durch höheres Wirtschaftswachstum entstehen dauerhaft mehr Arbeitsplätze
in diesem Land. Nur durch mehr Wachstum sinken die
Ausgaben für den Arbeitsmarkt und steigt das Steueraufkommen.
({0})
Neben Ausgabenkürzungen und Subventionsabbau ist
ein steigendes Steueraufkommen durch mehr Wirtschaftswachstum ein wesentlicher Bestandteil der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Gerade als junger Mensch sehe ich mich hier mit in der Verantwortung,
die steigende Verschuldung zulasten zukünftiger Generationen endlich zu stoppen. Wir müssen mit dem Abtragen des riesigen Schuldenberges noch in dieser Generation beginnen.
({1})
Es geht um die Verbesserung der Rahmenbedingungen für mehr Arbeitsplätze, gerade im Mittelstand und
bei Haushalten als Arbeitgeber. Der Mittelstand und das
Handwerk profitieren von diesem Gesetz. Zur Förderung
kleiner und mittlerer Unternehmen wird die Umsatzgrenze bei der Istversteuerung bei der Umsatzsteuer in
den alten Bundesländern auf 250 000 Euro angehoben;
in den neuen Bundesländern wird diese Regelung bis
Ende 2009 verlängert. Das bringt mehr Liquidität in die
Betriebe.
({2})
Für die Handwerker bedeutet die Abziehbarkeit von
Erhaltungs- und Modernisierungsaufwendungen im
privaten Haushalt eine erhebliche Verbesserung der Situation in ihrem Kampf gegen die Schwarzarbeit. Die
Möglichkeit der Abziehbarkeit von Erhaltungs- und Modernisierungsaufwendungen schätze ich in ihrer Wirkung höher ein als die oftmals gerade vom Handwerk
geforderte Absenkung der Mehrwertsteuer auf Handwerkerleistungen. Wer die Deutschen kennt, der weiß, dass
sie Steuersparmodelle lieben. Wer die Menschen in diesem Land kennt, der weiß, dass sie viel lieber zu einem
Modell greifen, mit dem man Steuern sparen kann, als
eine vielleicht insgesamt günstigere Handwerkerrechnung zu haben.
Mit dieser Regelung ist sichergestellt, dass die Förderung ankommt. Bei einer Senkung der Mehrwertsteuer
auf Handwerkerleistungen hingegen wäre nicht sichergestellt, dass dieser ermäßigte Mehrwertsteuersatz tatsächlich die Endkunden erreicht. Impulse für das Handwerk, wie wir sie ja wollen, lassen sich also viel besser
mit der jetzt vorgeschlagenen Regelung erzielen.
({3})
Neben dem Gesetz zur steuerlichen Förderung von
Wachstum und Beschäftigung ist das Gesetz zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen ein weiterer Baustein zur Stabilisierung der öffentlichen Haushalte insgesamt. Mit den vorliegenden Maßnahmen
kommen wir dem Ziel einer gerechten, gleichmäßigen
und transparenten Besteuerung näher. Zwar lautet der Titel des Gesetzentwurfs „Gesetz zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen“, gemeint ist aber die
Eindämmung legaler Möglichkeiten zur Steuergestaltung. Das sollte man in diesem Zusammenhang erwähnen; denn diejenigen, die bisher diese Möglichkeiten genutzt und von ihnen profitiert haben, haben zu einem
überwiegenden Teil nichts Illegales getan.
Wir haben es uns nicht einfach gemacht. Es ist ein
Spagat zwischen bürokratischem Mehraufwand für Verwaltung und einige Steuerpflichtige auf der einen Seite
und einer gleichmäßigeren und gerechteren Besteuerung
auf der anderen Seite.
Da sich in den letzten Jahren ein Steuerstundungsmodell bei gewerblich geprägten Einnahme-ÜberschussRechnern entwickelt hat, das zu Steuerausfällen von
über 500 Millionen Euro führt, muss hier selbstverständlich gegengesteuert werden.
({4})
Das Argument, dass es dann hierbei zu einer teilweisen
Rücknahme der Vereinfachungsregelungen bei Einnahme-Überschuss-Rechnern komme, kann unter diesen
Voraussetzungen nicht gelten. Die geringfügige administrative Mehrbelastung bei einigen Anwendern dieser vereinfachten Gewinnermittlungsvorschriften steht in
keinem Verhältnis zu weiteren Steuerausfällen, die bei
einer Beibehaltung der jetzigen Regelung entstehen würden.
Auch die Änderung der 1-Prozent-Regelung bei der
Dienstwagenbesteuerung ist sicherlich kein Beitrag zur
Entbürokratisierung.
({5})
Sie ist vielmehr das typische Beispiel dafür, dass größere
Steuergerechtigkeit nicht immer ohne eine Verkomplizierung des Steuerrechts zu haben ist. Wer das Ziel einer
gerechten und gleichmäßigen Besteuerung erreichen will,
muss im vorliegenden Fall die Beschränkung der 1-Prozent-Regelung auf die Fälle, in denen das Fahrzeug überwiegend betrieblich genutzt wird, hinnehmen.
Vereinfachung und Pauschalierung bedeuten regelmäßig weniger Gerechtigkeit im klassischen Sinn. Man
muss sich klar machen, dass sich die radikale Vereinfachung des Steuerrechts auf der einen Seite und eine
gleichmäßige und gerechte Besteuerung auf der anderen
Seite in den Köpfen der meisten Menschen letztendlich
gegenseitig ausschließen. Verstehen Sie mich nicht
falsch! Ich sage nicht, dass wir das Ziel eines einfachen
und verständlichen Steuerrechts aufgeben sollten - nein,
ganz und gar nicht. Es bleibt aber in diesem Land noch
eine ganz erhebliche Überzeugungsarbeit zu leisten, dass
nur ein verständliches und damit einfaches Steuerrecht
auch ein gerechtes Steuerrecht sein kann.
({6})
Bis wir so weit sind, wollen wir versuchen, den administrativen Aufwand für den Steuerpflichtigen und die
Verwaltung so gering wie möglich zu halten. Im Gesetz
ist klargestellt, dass zum Nachweis der Höhe des Anteils
der betrieblichen Nutzung kein Fahrtenbuch im klassischen Sinne geführt werden muss. Die Ergebnisse der
Länderarbeitsgruppe mit den Vorschlägen zur Vereinfachung der Nachweispflicht sind dem Bericht des Finanzausschusses beigefügt. Hierzu gehört zum Beispiel die
Möglichkeit, dass für bestimmte Berufsgruppen die
überwiegend betriebliche Nutzung des Fahrzeuges unterstellt werden kann und dass formlose Aufzeichnungen
über einen repräsentativen Zeitraum von einem bis drei
Monaten als Nachweis ausreichen sollen.
Dass wir mit Augenmaß gearbeitet haben, zeigt im
Übrigen auch die Herausnahme der geplanten Änderungen bei den Gebäudereinigern aus dem Gesetzentwurf.
({7})
In diesem Fall war das Ergebnis der Abwägung, Mehraufwand auf der einen Seite und mehr Steuergerechtigkeit und Mehreinnahmen auf der anderen Seite, der Verzicht auf diese Änderung.
Was sich Menschen inzwischen alles einfallen lassen,
um Steuern zu verkürzen, zeigt im Übrigen das Beispiel
der an Dritte veräußerten Tankbelege. Mit dem Internet
wurde die Möglichkeit geschaffen, in großem Stil Tankbelege zu verkaufen, die dann von den Erwerbern zum
Nachweis angeblicher Betriebsausgaben oder Werbungskosten missbraucht werden. Die bereits bestehende Möglichkeit der Bestrafung wegen Beihilfe zur
Steuerverkürzung oder -hinterziehung reicht für diesen
Fall nicht aus. Vor diesem Hintergrund schafft jetzt die
Ergänzung der Abgabenordnung mit der Strafbewehrung
der Weitergabe der Belege endlich die Möglichkeit, diesem Treiben wirksam Einhalt zu gebieten.
({8})
Schon die öffentliche Diskussion über diesen Bereich
wird dazu beitragen.
Insgesamt dienen die beiden Entwürfe zum einen der
Verbesserung der Investitionstätigkeit und der Stärkung
der Wachstumskräfte und zum anderen der Annäherung
an das verfassungsrechtlich gebotene Prinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Stimmen Sie deshalb zu!
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Axel Troost von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion Die Linke wird das Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung ablehnen. Neben
der in der vorgesehenen Form abzulehnenden Berücksichtigung der Kinderbetreuungskosten entfällt der übergroße Teil der Vorhaben auf Maßnahmen, die konjunkturpolitisch und wachstumspolitisch außerordentlich
fragwürdig sind. Insgesamt entfallen durch die verbesserten Abschreibungsbedingungen auf die Investitionsförderung über 12,5 Milliarden Euro. Das ist weit mehr
als die gesamte Hälfte der Mittel für dieses Programm.
Die Schwerpunktsetzung in diese Richtung basiert
auf der folgenden wirtschaftspolitischen und -theoretischen Überlegung: Verbesserte Abschreibungsbedingungen führen zu Steuererleichterungen der Unternehmen.
Dies führt zu einer verbesserten Liquidität und zu geringeren Kosten der Unternehmen und damit zu höheren
Gewinnmargen zukünftiger Investitionen. Dies wiederum soll die Investitionstätigkeit der Unternehmen
vergrößern und damit die Zahl der gesamten wirtschaftlichen Aktivitäten erhöhen.
Die Investitionstätigkeit der Unternehmen wird aber
nicht nur durch die erwartete Ertragsrate beeinflusst,
sondern insbesondere auch durch die Absatzerwartungen. Um die erwartete Ertragslage wirklich zu realisieren, müssen die entsprechenden Produkte auch abgesetzt
werden. Das Problem der bundesdeutschen Wirtschaft
ist derzeit gerade nicht, dass die Gewinnmargen zu klein
sind und die Unternehmen deswegen nicht investieren.
Das Problem ist und bleibt, dass die Erwartungen über
den Absatz auf dem Binnenmarkt relativ pessimistisch
sind, unter anderem hervorgerufen durch die Entwicklung der Einkommen der abhängig Beschäftigten und im
nächsten Jahr hervorgerufen durch die angekündigte
Umsatzsteuererhöhung.
Insofern erwarten wir von diesen verbesserten Abschreibungsmöglichkeiten dauerhaft keine zusätzlichen
Investitionen. Wohl gemerkt, dies kostet aber insgesamt
über 12,5 Milliarden Euro. Diese Maßnahme bleibt Teil
einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, deren Effekte wir in den letzten Jahren gesehen haben und die
eben nicht zu dem geführt haben, was erwartet wurde.
({0})
Dem vorgesehen Gesetz stellen wir ein Zukunftsinvestitionsprogramm von mindestens 30 Milliarden Euro
jährlich entgegen, das für den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, für Schulen und Hochschulen, Einrichtungen
für Kinder und Jugendliche oder für Krankenhäuser bzw.
Pflegeheime, vorgesehen ist.
({1})
Das heißt, wir wollen klotzen statt kleckern. Ein Programm in dieser Größenordnung schafft Hunderttausende Arbeitsplätze.
({2})
- Sie verschwenden ja gerade 12,5 Milliarden Euro.
({3})
- Nein, diejenigen, die diesem Gesetz zustimmen werden.
({4})
Wir verbessern die sozialen und ökologischen Lebensbedingungen nachhaltig und werden demokratisch
ermittelte gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigen, statt
die Entscheidungen, in welche Bereiche investiert wird,
ausschließlich der Wirtschaft zu überlassen.
Uns ist völlig klar: Um dies durchzusetzen, müssen
wir weiter Druck von unten machen. Wir werden zusammen mit anderen, die ebenfalls eine andere Wachstumspolitik wollen, das heißt mit Gewerkschafterinnen und
Gewerkschaftern, mit kritischen Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftlern sowie
mit ökologischen und Stadtteilinitiativen, versuchen, in
diese Richtung weiter Druck zu machen.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Nina Hauer von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Thema Familien beschäftigt trotz aller Anstrengungen,
die wir in den letzten Jahren unternommen haben, die
jungen Leute, vielleicht auch, weil wir sie noch immer
vor eine Weggabelung schieben. Sie müssen noch immer
die Entscheidung treffen: Gehe ich nach links, entscheide ich mich für die Familie, oder gehe ich nach
rechts, konzentriere ich mich auf meinen Beruf? Wir
wollen dafür sorgen, dass sie diese Entscheidung nicht
mehr treffen müssen, dass sie die Freiheit haben, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es selber wünschen.
({0})
Wir wissen, dass sich 40 Prozent der Akademikerinnen meiner Generation gegen Kinder entscheiden. Dabei
können wir von vielen anderen europäischen Ländern
lernen, dass natürlich beides, Beruf und Familie, zugleich möglich ist. Wir können dort auch sehen: Je höher
die Erwerbstätigkeitsquote bei den Frauen ist, desto höher ist die Geburtenrate.
Wir wollen den jungen Paaren die Freiheit geben, ihr
Leben selber zu gestalten. Es ist klar, dass nicht alles,
was berufstätige Eltern leisten, allein mit einem Steuergesetz abgegolten werden kann.
({1})
Alle Eltern, die berufstätig sind, verstehen: Es bleibt ein
Leben auf einem Bein, eine Auseinandersetzung zwischen Herz und Kopf, bei der man eine Entscheidung
treffen muss. Wir haben vielleicht wenig Möglichkeit, in
Lebenssituationen, in denen die Autopanne oder die
Grippe der Tagesmutter bzw. der Kinderfrau dazu führt,
dass ein ganzer Tagesablauf platzt, Unterstützung zu geben. Wir können aber anerkennen, dass berufstätige Eltern nicht nur für sich selber, sondern auch für die Kinder und damit letztendlich für uns alle und für die
Zukunft unserer Gesellschaft eine Leistung erbringen.
({2})
Das wollen wir tun, indem wir im Steuerrecht einführen, dass das, was beim Geschäftsessen üblich ist - dass
man es als Werbungskosten abziehen kann -, auch für
die Kinderbetreuungskosten, die bei berufstätigen Eltern
aufkommen, gilt, und zwar in der Höhe von zwei Dritteln der entstandenen Kosten, vom ersten Euro an bis zu
einer Höhe von 4 000 Euro pro Kind.
Frau Höll, Sie mögen der Meinung sein, dass wir bei
dieser Frage auf einmal die Progressionswirkung im
Steuerrecht außen vor lassen sollten. Dieser Meinung
bin ich nicht. Natürlich kann durch die Progressionswirkung eine Entlastung in den höheren Einkommensbereichen entstehen. Aber Ihr Vorschlag, die Kosten am Ende
von der Steuerschuld abzuziehen, würde bedeuten, dass
wir mit dem Deckel, den wir gesetzt haben - wir haben
auch eine haushaltspolitische Verantwortung -, für alle
Eltern viel weniger leisten könnten, als wir es jetzt tun.
Deswegen meine ich, dass die Lösung, die wir gefunden
haben - egal ob Sie, Frau Scheel, sie nachvollziehen
wollen oder nicht -, vielen berufstätigen Eltern eine Erleichterung bringt und deutlich macht, dass wir in der
Politik verstanden haben, dass berufstätige Eltern nicht
nur unseren Dank, sondern auch eine Erleichterung in
ihrer ganz normalen Lebenspraxis - auch bei der finanziellen Belastung, die sie durch die Steuern, aber auch
aufgrund der Betreuungskosten haben - brauchen.
Frau Kollegin Hauer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Höll?
Ja.
Bitte schön.
Frau Kollegin Hauer, wir beide haben uns persönlich
anders entschieden und versuchen den Spagat. Da Sie
hier ein doch sehr allgemeines Statement abgegeben haben, möchte ich Sie fragen: Stimmen Sie mir zu, dass die
von Ihnen vorgeschlagene Regelung in diesem Kontext
als minimal zu betrachten ist? Stimmen Sie mir zu, dass
es an und für sich eine Katastrophe ist, dass Sie durch
die Abschreibungsmöglichkeiten auf viel Geld verzichten wollen - dort können Sie keinen Deckel einziehen -,
aber bei der Kinderbetreuung einen Deckel bei
460 Millionen Euro einziehen? Das ist der erste Skandal.
({0})
Zweitens. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen,
dass die Regelung an der Realität in den Kommunen
vorbeigeht? Es ist nämlich in vielen Kommunen so, dass
die Eltern, wenn sie Einkommen haben, gleich hohe Beiträge zahlen müssen. Deshalb meinen nicht nur wir, sondern auch Bündnis 90/Die Grünen, dass andere Regelungen gefunden werden müssen. Das, was man macht,
sollte man wenigstens sozial gerecht gestalten. Ich finde,
das ist ein Anspruch, der auch Ihnen als Sozialdemokratin wichtig sein sollte.
Sie müssen doch einmal zur Kenntnis nehmen, dass
wir hier im Bundestag nicht die Finanzierungswege der
Kommunen klären können. Es gibt Kommunen, die koppeln die Beiträge an die Einkommen der Eltern. Es gibt
aber auch viele, die das nicht tun. Es gibt aber in jeder
Kommune einen Ausgleich für diejenigen, die die Betreuungskosten etwa für Kindergarten oder Ähnliches
gar nicht tragen können.
Das können wir aber nicht über ein Steuergesetz regeln. Wir treffen eine Regelung für diejenigen, die Steuern zahlen, also diejenigen, die jeden Tag arbeiten gehen, Sozialabgaben zahlen und Kinder erziehen. Diese
können einen größeren Betrag ihrer Betreuungskosten
als Werbungskosten steuerlich geltend machen. Sie wissen, dass das einer steuerrechtlichen Revolution gleichkommt. Das gilt ab dem ersten Euro bis zu einer Höhe
von zwei Drittel aller entstandenen Kosten bei einer
Obergrenze von 4 000 Euro pro Kind und Jahr. Besonders für eine Familie mit zwei Kindern ist das eine erhebliche Erleichterung.
Ihre schönen Ideen, dass man alle Kosten übernehmen kann und dann auch noch Steuerfreibeträge schafft,
können wir an dieser Stelle nicht durchsetzen. Wir können das den Menschen auch nicht dauernd versprechen,
wie Sie das machen, und am Ende sagen: Wir haben für
nichts die Verantwortung, deswegen interessieren wir
uns nicht dafür, was wir noch letzte Woche versprochen
haben.
({0})
Ich will auch für meine Fraktion sagen, dass wir froh
sind, erreicht zu haben, dass Betreuungskosten vom ersten Euro an geltend gemacht werden können und Eltern
nicht wie bisher oder ursprünglich angedacht erst eine
Hürde von 1 000 oder 1 500 Euro überwinden müssen.
({1})
Vielmehr können sie nun ihre Kosten vom ersten Euro
an geltend machen. Damit wird eine größere Gerechtigkeit erreicht, vor allem für diejenigen, die kleinere Einkommen haben. Auch die Krankenschwester, die Betreuungsbedarf hat, zahlt Steuern, nicht nur diejenigen
mit großen Einkommen.
({2})
Von der Regelung profitieren auch die Alleinerziehenden, die ja immer nur die Hälfte der Kosten geltend machen können. Dass es uns gelungen ist, auch diese einzubeziehen, darauf sind wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten stolz.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Georg Fahrenschon
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! In den ersten 100 Tagen ist es der großen Koalition gelungen, mit gezielten Impulsen und vertrauensbildenden Maßnahmen neuen Schwung in den Wirtschaftsstandort Deutschland zu bringen.
({0})
Seit Jahreswechsel deutet sich ein Stimmungsumschwung in Deutschland an. Die Prognosen für die wirtschaftliche Entwicklung werden deutlich besser. Die
Zuversicht bei den Verbrauchern und den Unternehmern
wächst. Die Menschen gewinnen wieder mehr Vertrauen
in die Politik. Wir schaffen es langsam, aber sicher, verlorenes Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Das ist einer der zentralen Hebel, die wir bezogen auf die Binnenkonjunktur und die Investitionen in Deutschland in der
Hand haben.
CDU und CSU nehmen gemeinsam mit unseren Kollegen von der SPD diese positiven Meldungen jedoch
nicht zum Anlass, sich auf den Anfangslorbeeren auszuruhen. Im Gegenteil: Mit dem vorliegenden Gesetz zur
steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung schaltet die Regierung Angela Merkel einen weiteren Gang hoch
({1})
und setzt damit nur knapp zwei Monate nach der ersten
Klausur des neuen Bundeskabinetts in Genshagen zentrale Beschlüsse um.
Wir setzen die Signale auf mehr Investitionen, mehr
Wachstum und eine weitere, stärkere Belebung der mittelständischen Wirtschaft. Der deutsche Mittelstand ist
zugleich Rückgrat und Lokomotive der deutschen Volkswirtschaft.
({2})
Er steht nach den aktuellen Daten des Statistischen
Bundesamtes für 99,7 Prozent aller Unternehmen, für
78,6 Prozent aller Arbeitsplätze
({3})
und für 81,9 Prozent aller Ausbildungsplätze in Deutschland. Das ist der Grund, warum es angesichts eines international immer härter werdenden Wettbewerbs dringend
nötig ist, den Mittelstand durch vernünftige Rahmenbedingungen zu stützen und weiter voranzubringen. Vor
dem Hintergrund des immer stärker werdenden Windes
der Globalisierung und des internationalen Wettbewerbs
ist es daher das zentrale Vorhaben der Bundesregierung,
die Standortbedingungen in Deutschland für deutsche
Unternehmen und für den deutschen Mittelstand im Besonderen zu stärken.
({4})
Wer im Wind steht, darf nicht nur der Naturgewalt
trotzen, um - was schwierig genug ist - stehen zu bleiben, sondern muss lernen, mit dem Wind zu segeln und
die Verhältnisse für sich und sein Boot optimal zu nutzen. Das ist der Grund, warum wir - gerade im Interesse
des Mittelstandes - die in Jahren und Jahrzehnten gewachsenen Mängel und Schwächen bei der Besteuerung
von Unternehmen in Deutschland mit gezielten Eingriffen und einer umfangreichen Steuerreform beseitigen
wollen.
({5})
Doch für eine vernünftige, langfristig angelegte und
sauber gearbeitete Reform der Unternehmensbesteuerung braucht man Zeit - Zeit, die wir nicht haben, Zeit,
die wir uns aufgrund der Gefahr des Verlustes weiterer
Arbeitsplätze und Potenziale nicht leisten können. Wir
brauchen eine pragmatische Übergangslösung, um das
Ziel einer sauberen Unternehmensteuerreform zu erreichen und um die Investitionstätigkeit und Liquidität der
deutschen mittelständischen Wirtschaft wieder zu verbessern;
({6})
denn nur durch Investitionen kann es uns gelingen, den
Konjunkturmotor weiter in Fahrt zu bringen.
Dieser Übergang trägt, ausgehend vom Koalitionsvertrag - insbesondere an dem Punkt verbesserte Abschreibungsbedingungen -, die Handschrift der CSU.
({7})
Wir leisten einen wichtigen und wirksamen Beitrag zur
Wiederbelebung der Investitionstätigkeit.
({8})
Mit der Anhebung der degressiven AfA erhöhen wir den
zulässigen Höchstsatz für Abschreibungen auf Maschinen und Anlagen von derzeit 20 auf 30 Prozent. Diese
bis Ende des Jahres 2007 befristete Maßnahme bringt
den Unternehmern bereits im Jahr 2006 eine Entlastung
in Höhe von 6,5 Milliarden Euro und wirkt in diesem
Sinne insbesondere für den Mittelstand und die Industrie, die wieder in Anlagen investieren kann, als kleines
Konjunkturprogramm.
({9})
Die höheren Abschreibungssätze, die wir mit dieser
Vorlage ermöglichen, erhöhen die Rendite einer Investition, und zwar - das ist ein ganz wichtiger Hebel umso mehr, je mehr die Betriebe investieren. Hinzu
kommt, dass die höheren Abschreibungen den technologischen Wandel unterstützen und damit die Wettbewerbsfähigkeit fördern. Den Unternehmen wird es dadurch erleichtert, ihren Maschinenpark schneller auf den
jeweils neuesten Stand der Technik zu bringen. Mit diesem minimalen Eingriff erreichen wir maximale Wirkung.
Gleichzeitig starten wir einen positiven Kreislauf:
Höhere Abschreibungssätze erhöhen die Liquidität der
Unternehmen und eröffnen ihnen einen finanziellen
Spielraum für weitere Investitionen. Gleichzeitig erhöhen wir den technischen Standard in Deutschland, was
wiederum den Unternehmen hilft, sich im internationalen Wettbewerb durchzusetzen. Das ist angewandte
Wirtschafts- und Finanzpolitik der CSU und der großen
Koalition.
({10})
Das wurde uns in der Anhörung übrigens von allen
Experten einhellig bestätigt.
Durch die Erhöhung der degressiven AfA revidiert
die große Koalition außerdem - das sei nebenbei bemerkt - eine Entscheidung der Vorgängerregierung, die
im Rahmen ihrer Steuerreform Anfang 2001 die Abschreibungssätze von 30 auf 20 Prozent gekürzt hatte.
Ein wichtiger Punkt konnte auch im Bereich der Absetzbarkeit von Handwerkerleistungen erreicht werden.
({11})
Erhaltungs- und Modernisierungsaufwendungen im
privaten Haushalt können in Zukunft mit 20 Prozent
der Aufwendungen, höchstens 600 Euro, bei der Einkommensteuer geltend gemacht werden, soweit es sich
um Arbeitskosten handelt. Dieser Abzug soll zusätzlich
zu der bisher schon bestehenden Steuerermäßigung für
haushaltsnahe Dienstleistungen, zum Beispiel Wohnungsreinigungen oder Betreuung von Familienangehörigen, und für alle handwerklich Tätigen gewährt werden. Das gilt für Wohnungen, Häuser und Grundstücke,
und zwar unabhängig davon, ob die Maßnahmen vom
Eigentümer oder vom Mieter durchgeführt werden. Bei
Inanspruchnahme beider Fördertatbestände kann damit
jeder Haushalt in Deutschland in Zukunft bis zu
1 200 Euro von seiner Steuerschuld in Abzug bringen.
Außerdem wird die bisherige, komplizierte Unterscheidung zwischen Arbeiten, die nur ein Fachmann erledigen kann, und denen, die ein Privatmann erledigen
kann, überflüssig. Die im Laufe des Verfahrens erreichte
definitorische Klarstellung des Begriffs der handwerklichen Leistung trägt erheblich dazu bei, den privaten
Haushalt als Arbeitgeber zu öffnen. Auch diese Veränderung ist nicht hoch genug zu bewerten.
({12})
Denn die privaten Haushalte im Grundsatz als Arbeitgeber anzuerkennen, ist ein zentraler Schritt, der uns jetzt
gelungen ist. Jeder, der den politischen Streit der vergangenen Jahrzehnte verfolgt hat, weiß, dass hier eine lange,
teilweise ideologisch geprägte Auseinandersetzung ihr
Ende gefunden hat.
({13})
Im Gesetz zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung kann nun sowohl für die Abrechnungen von
handwerklichen Leistungen als auch für die Kinderbetreuungskosten und für andere haushaltsnahe Dienstleistungen der private Haushalt als Arbeitgeber installiert
werden. Das Gesetz signalisiert damit ein zentrales Umdenken in Richtung einer neuen Dienstleistungsgesellschaft in Deutschland. Wir eröffnen in Zukunft endlich
diesen Bereich für den Arbeitsmarkt und schöpfen das
riesige Potenzial aus, das hier schlummert.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Vor dem
Hintergrund der aktuellen Diskussionen über einen
ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf so genannte arbeitsintensive Dienstleistungen auf europäischer Ebene
halte ich übrigens den Weg der großen Koalition mit diesem Gesetz für vernünftiger, für gangbarer und für langfristig sinnvoller,
({14})
als einer bereits ausgelaufenen und als nicht sachgerecht
beurteilten Ausnahmeregelung hinterherzutrauern.
Generell kann man am Ende des ersten Vierteljahres
feststellen, dass der Wirtschaftsmotor in Deutschland
unter der Regierung Angela Merkel wieder angesprungen ist. Das heute zu verabschiedende Gesetz wird ihm
weitere Schubkraft geben.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Ulrich Krüger
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einer der Leitgedanken unserer Politik ist die Schaffung
von Steuergerechtigkeit. Wir wissen, dass gerade in den
letzten Jahren immer mehr und vor allen Dingen sehr
wohlhabende Steuerpflichtige sich ihrer Steuerbelastung durch Steuerstundungs- und -sparmodelle entzogen haben. Ich erinnere hier nur an die verschiedenen
Medienfonds und an die New-Energy-Fonds, die allein
wegen ihrer steuerlichen Vorteile konzipiert wurden und
den Anlegern in der Anfangsphase hohe Verluste bescherten, mit denen sie die Steuerlast senken konnten,
ohne dass eine sinnvolle Renditeperspektive mit diesen
Fondszeichnungen verbunden war. Quintessenz für das
Allgemeinwesen war, dass diese Regelungen zu milliardenschweren Steuerausfällen führten, die letztlich von
den Bürgerinnen und Bürgern zu tragen waren. Dies war
ungerecht. Wir haben diese Ungerechtigkeit beseitigt.
Mit dem heute zu beschließenden Gesetzentwurf zur
Eindämmung steuerlicher Missbräuche schließen wir
weitere Steuerschlupflöcher. Das ist ein guter Beitrag für
mehr Steuerfairness zum Wohle der Bürgerinnen und
Bürger, die zu Recht einen handlungsfähigen Staat erwarten und nicht wollen, dass sie durch Steuertricks benachteiligt werden.
({0})
Lassen Sie mich zwei Punkte aus dem Gesetzentwurf
herausgreifen und ein wenig näher erläutern: zum einen
die heute schon mehrfach angesprochene so genannte
Dienstwagenbesteuerung, zum anderen die Anpassung
der Gewinnermittlung nach § 4 Einkommensteuergesetz.
Hintergrund der Änderung der 1-Prozent-Regelung
bei der Dienstwagenbesteuerung sind Steuerausfälle in
Höhe von aktuell 255 Millionen Euro pro Jahr. Diese
Ausfälle kamen dadurch zustande, dass durch die Änderung der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes zum
gewillkürten Betriebsvermögen die 1-Prozent-Regelung
auch dann zur Anwendung kam, wenn die betriebliche
Nutzung eines Kfz lediglich zwischen 10 und 50 Prozent
lag, die private Nutzung also eindeutig überwog. Bei der
1-Prozent-Regelung ging der Gesetzgeber allerdings seinerzeit davon aus, dass die private Nutzung der betrieblichen nachrangig war. Mithin kam es durch diese Ausgestaltung bei höherer privater Nutzung zu Steuervorteilen
und damit zu Nachteilen für die Allgemeinheit. Diese
Steuerlücke haben wir geschlossen. In Zukunft wird die
1-Prozent-Regelung - Kollege Gutting sprach es an nur auf Fahrzeuge angewandt, die zu mehr als
50 Prozent betrieblich genutzt werden.
({1})
Die Befürchtung, diese Regelung würde zu unverhältnismäßiger Bürokratie führen, teile ich nicht. Wenn man
die Ergebnisse einer Arbeitsgruppe der Länder Bayern,
Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein zugrunde
legt, weiß man, wie man das Problem in den Griff bekommt. Alles in allem ist das also ein weiterer Schritt
zur Schaffung von mehr Steuergerechtigkeit.
Eine andere Lücke, die heute geschlossen wird, betrifft den § 4. Damit wollen wir den Zustand beenden,
dass es pro Jahr zu Steuerausfällen in Höhe von mehreren 100 Millionen Euro kommt. Aktuell können nämlich
gewerblich geprägte Personengesellschaften Wertpapiere und Grundstücke im Rahmen des Umlaufvermögens führen und Anschaffungskosten in voller Höhe absetzen, ohne dass klar ist, wann hieraus letztlich eine
Steuerlast für die betroffenen Unternehmen resultiert.
In Zukunft wird das nicht mehr möglich sein. Dann
können Anschaffungs- und Herstellungskosten für Wertpapiere und Grundstücke nicht mehr sofort, sondern erst
zum Zeitpunkt des Zuflusses des Veräußerungserlöses
berücksichtigt werden. Das ist für alle Beteiligten, die
sich korrekt verhalten wollen, eine insgesamt sehr gerechte und sehr faire Regelung.
({2})
Des Weiteren haben wir folgende wirksame Maßnahmen ergriffen: Entsprechend dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes führen wir die Besteuerung des
Umsatzes öffentlicher Spielbanken ein. Somit können
wir - das macht 200 Millionen Euro pro Jahr aus und ist
noch sehr viel wichtiger - die gewerblichen Glücksspielanbieter, für die aktuell keine diesbezügliche Steuerpflicht besteht, wieder mit Umsatzsteuer belegen.
Die missbräuchliche Weitergabe von Tankbelegen
ist bereits angesprochen worden; sie wird zukünftig als
Steuerordnungswidrigkeit geahndet. Ferner stellen wir
klar, dass die handelsrechtliche Praxis zur Bildung von
Bewertungseinheiten bei so genannten Grund- und
Sicherungsgeschäften weiterhin das Maß aller Dinge
bleibt. Steuermehreinnahmen in Höhe von 620 Millionen Euro im Jahre 2007 bzw. von mehr als 800 Millionen Euro im Jahre 2008 werden die Folge sein - eine
Folge, die ich persönlich begrüße.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Gesetzentwurf haben wir die Weichen dafür gestellt, unser
Steuersystem in den angesprochenen Bereichen auf der
einen Seite gerechter zu gestalten und auf der anderen
Seite die dringend benötigten finanziellen Mehreinnahmen des Staates zu garantieren. Damit erfüllen wir die
Erwartung der Menschen an einen handlungsfähigen
Staat.
Herr Kollege Fahrenschon, eine Bemerkung sei mir
noch gestattet: Wenn der Sieg viele Väter hat, dann stört
mich das nicht. Hauptsache, es nutzt unserem Staat und
uns allen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur steuerlichen Förderung von
Wachstum und Beschäftigung, Drucksache 16/643. Der
Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/974, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu
liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/978 vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit
den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Fraktionen der FDP, der Linken und des
Bündnisses 90/Die Grünen. Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Wollen Sie nicht aufstehen?
({0})
Enthaltungen? - Da ihr bei der zweiten Lesung dagegen
gestimmt habt, bin ich davon ausgegangen, dass ihr auch
bei der dritten Lesung dagegen stimmen wollt. - Der Gesetzentwurf ist also mit dem gleichen Stimmverhältnis
angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/979. Wer stimmt
dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion abgelehnt.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Finanzausschuss, den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur steuerlichen Förderung von Wachstum
und Beschäftigung, Drucksache 16/753, für erledigt zu
erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 b. Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen, Drucksachen 16/634 und 16/749. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/975, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und Enthaltung der
Fraktionen Die Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen
Stimmenverhältnis angenommen.
Zusatzpunkt 7. Wir kommen zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 16/931 mit dem Titel: Unverzügliche Umsetzung des Programms „Impulse für Wachstum und Beschäftigung“ sowie des Marktanreizprogramms durch
die Bundesregierung.
({1})
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Antrag ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen aller anderen Fraktionen.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
komme ich zurück zu Zusatzpunkt 2. Es handelt sich um
den bereits gestern an die Ausschüsse überwiesenen Entwurf eines Gesetzes des Bundesrates zur Änderung des
Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes und des Telekommunikationsgesetzes auf Drucksache 16/521. Es ist interfraktionell vereinbart, dass dieser Gesetzentwurf
nachträglich an den Ausschuss für Tourismus überwiesen werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das
scheint der Fall zu sein. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Hochschulen öffnen - BAföG ausweiten
- Drucksache 16/847 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die an der Aussprache nicht teilnehmen wollen, den Plenarsaal zu verlassen.
Als erster Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin
Cornelia Hirsch von der Fraktion Die Linke.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
unserem heutigen Antrag fordern wir allem voran kurzfristige Anpassungen beim BAföG. Lassen Sie mich aus
dem Antrag zwei Kernpunkte herausgreifen und diese
im Folgenden mit Ihnen diskutieren. Der erste ist der
Anpassungsbedarf bei den Bedarfssätzen und bei den
Freibeträgen des BAföG. Man muss ja festhalten, dass
jede Nichtanpassung der Bedarfssätze wegen der Inflation und der Steigerung der Lebenshaltungskosten eine
Verringerung der Förderung bedeutet. Die Nichtanpassung der Freibeträge für das anzurechnende Elterneinkommen hat eine Verringerung des Kreises der BAföGEmpfängerinnen und -Empfänger zur Folge. Zwar besteht nach § 35 BAföG bereits die Pflicht, die Sätze regelmäßig anzupassen und einen entsprechenden Bericht
zu erstellen. Trotzdem wird die Anpassung, die eigentlich notwendig wäre, immer wieder verschleppt, so auch
aktuell: Die letzte Anpassung liegt mittlerweile rund
fünf Jahre zurück.
Wir schlagen deshalb vor, im Bundesausbildungsförderungsgesetz zu verankern, dass diese Anpassung automatisch erfolgt. Dadurch könnte man eine Verschleppung, wie es sie in der Vergangenheit immer wieder
gegeben hat, zukünftig ausschließen.
({0})
Als Zweites schlagen wir mehrere Einzelmaßnahmen
vor, die sich am besten darunter zusammenfassen lassen,
dass wir das BAföG an die aktuellen Studienrealitäten
anpassen wollen. Es geht dabei um Punkte, die wir aus
der Beratungspraxis zusammengetragen haben. Wir hoffen, dass wir in den Ausschussberatungen zu gemeinsamen Lösungen kommen können, um diese Anpassung
entsprechend vorzunehmen.
Wir sind der festen Auffassung, dass diese beiden
Kernpunkte, wenn die Vereinbarung im KoalitionsverCornelia Hirsch
trag, man wolle das BAföG erhalten, ernst zu nehmen
ist, auf jeden Fall die Zustimmung von SPD und CDU/
CSU finden müssten. Wenn keine Anpassung vorgenommen wird, dann ist aus unserer Sicht ganz offensichtlich,
dass das BAföG nicht erhalten, sondern eingeschränkt
werden soll.
({1})
Wir dürfen es aber nicht bei dieser Novelle belassen,
die kurzfristig wirken soll, sondern müssen darüber
diskutieren, wie wir das BAföG grundlegend weiterentwickeln können. Unser Ansatz ist, dass die Studienfinanzierung ein wichtiges Instrument für mehr Chancengleichheit im Studium sein kann und auch sein sollte.
Man muss, wenn es um eine neue Ausgestaltung des
BAföG geht, zwei empirische Erkenntnisse berücksichtigen, die man in der Zeit seit der Einführung des BAföG
gewinnen konnte:
Erstens. Man muss die Wirkung von Verschuldung
bedenken. Es ist klar, dass, wenn den Absolventinnen
und Absolventen nach dem Studium ein Schuldenberg
droht, Personen aus finanziell schlechter gestellten
Haushalten von der Aufnahme eines Studiums abgeschreckt werden. Das ist der falsche Weg. Von daher war
die Verschuldungsdeckelung durch Rot-Grün in Höhe
von 10 000 Euro ein Schritt in die richtige Richtung.
({2})
Daran sollten wir anknüpfen und zu einem Vollzuschuss
kommen, so wie das in den 70er-Jahren der Fall war.
Zweitens. Wir müssen das BAföG auf die Bereiche
Schule und Weiterbildung ausdehnen. Auch in diesem
Fall können wir an die Erfahrungen aus den 70er-Jahren
anknüpfen, vor allem was das BAföG für Schülerinnen
und Schüler angeht. Es hat sich klar gezeigt, dass Schülerinnen und Schülern der Zugang zur Hochschule erleichtert wird, wenn ihnen ein umfassendes BAföG zur
Verfügung steht.
({3})
Wir stellen diesen Antrag auch vor allem vor folgendem Hintergrund: Wir halten die Politik des BMBF der
letzten Monate in diesem Punkt für sehr bedenklich.
Zum kurzfristigen Reformbedarf haben Sie, Andreas
Storm, auf unsere Frage in der Fragestunde der vergangenen Woche geantwortet, dass keine Anpassung der
Bedarfssätze und Freibeträge vorgesehen sei. Ich glaube,
ich habe eben deutlich gemacht, dass gerade das notwendig und wichtig ist.
({4})
Auch zur mittelfristigen Perspektive stimmt uns bedenklich, dass es eine der ersten Amtshandlungen der
neuen Bildungsministerin war, den Auftrag für ein Studienkreditmodell der KfW zu erteilen. Der Trend geht
somit zu einer Kreditfinanzierung des Studiums. Ich
habe deutlich gemacht, dass wir gerade von einer stärkeren Verschuldung wegkommen müssten.
Wenn man bedenkt, dass es diese Bildungsministerin
war, die, damals noch in einer anderen Funktion, vor gut
einem Jahr die komplette Abschaffung des BAföG gefordert hatte - viele von Ihnen werden sich noch daran
erinnern -, dann zeigt das aus unserer Sicht sehr deutlich, dass das BAföG in der großen Koalition offensichtlich nicht die Bedeutung hat, die es aus unserer Sicht
verdient.
({5})
Wir wollen nicht, dass das BAföG quasi durch die
Hintertür ausgehöhlt wird und sich die soziale Ungleichheit verschärft. Wir hoffen, über unseren Antrag so diskutieren zu können, dass wir uns zumindest auf den
kurzfristigen Anpassungsbedarf, der zwingend erforderlich ist, verständigen können. Darüber hinaus hoffen wir,
dass wir Zeit und Muße finden, ausgerichtet an den beiden Kernpunkten Verschuldungswirkung und Ausweitung des Geltungsbereiches, zu einer grundlegenden Reform des BAföG zu kommen.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Dorothee Bär von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr
Staatssekretär! Wir müssen heute über den Antrag der
Linksfraktion, das BAföG auszuweiten, debattieren. Ich
verstehe nicht, weshalb die PDS über dieses Thema zum
jetzigen Zeitpunkt sprechen möchte.
({0})
- Der Name ist geändert, das Programm leider nicht.
({1})
Mir ist es unverständlich, wie man haushaltspolitisch
so unrealistische Forderungen aufstellen kann wie beispielsweise die Forderung nach einer elternunabhängigen und bedarfsdeckenden Grundsicherung mit Vollzuschuss
({2})
oder die Forderung nach einer Erleichterung der Ausbildungsförderung wegen vorheriger Erwerbstätigkeit.
Aber wenn man keine Regierungsverantwortung trägt,
dann kann man ruhig unrealistische Forderungen stellen,
die in keiner Weise finanzierbar sind.
Das BAföG wird offiziell erst wieder zum Jahresende
vom BMBF überprüft. Dabei werden die BAföG-Leistungen nach geltendem Recht an die Lebenshaltungskosten
und die Einkommensentwicklung angepasst. Es ist also
völlig unnötig, das jetzt erneut zu fordern.
({3})
- Sie schreien „Realität“. Das ist sehr spaßig. Ich habe
hier noch nie irgendeinen Wortbeitrag von Ihnen gehört,
der in irgendeiner Weise etwas mit Realität zu tun hatte.
Frau Kollegin Bär, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Hirsch?
Nein. - In § 35 des BAföG ist als zusätzliches Kriterium außerdem die Anpassung an die finanzwirtschaftliche Entwicklung vorgesehen. Deshalb wurde das
BAföG in den Jahren seit 2001 nicht angepasst, was
vollkommen richtig war.
Ohne eine neue Datenlage rufen Sie jetzt plötzlich
nach einer Anhebung der Freibeträge und sogar der Bedarfssätze. Das ist in unseren Augen unverantwortlich,
zumal andere Bevölkerungsteile aufgrund der wirtschaftlichen Lage auch Nullrunden oder gar Kürzungen
in Kauf nehmen müssen.
({0})
Zudem werfen Sie uns vor, dass das BAföG seinem Anspruch nicht gerecht werde. Das müssen wir entschieden
zurückweisen. Ich darf Sie auf offizielle Zahlen des
BMBF verweisen, die zeigen, dass die Zahl der BAföGGeförderten momentan kontinuierlich steigt. Der Monatsdurchschnitt liegt nun bei über 532 000 Personen,
wovon 340 000 Studierende sind. Auch die Quote der
geförderten Studierenden liegt derzeit konstant bei über
25 Prozent.
({1})
Das heißt, es besteht augenblicklich überhaupt kein Anlass, die Ausweitung des BAföG zu fordern.
Ich nehme aber einmal an, dass die Linksfraktion
auch aus folgendem Grund über die Ausweitung des
BAföG reden möchte: Die Linke unterstellt den Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag, das BAföG mithilfe des
neuen Studienkredits der KfW untergraben zu wollen.
Das ist jedoch kompletter Unsinn.
({2})
Der Studienkredit ist nur ein ergänzendes Finanzierungsinstrument. Das sage nicht nur ich, das hat auch unsere
Bundesbildungsministerin Annette Schavan wiederholt
betont. Durch ihn soll die Sozialleistung BAföG nicht
teilweise oder schleichend ersetzt werden, wie Sie das
vorhin hier fälschlicherweise behauptet haben.
Andere Finanzierungsinstrumente müssen aber diskutiert werden, weil das BAföG in seiner jetzigen Form
weder für alle Studieninteressenten gilt noch allen hilft.
Deswegen ist es für uns auch wichtig, dass wir das jetzige BAföG nur als eine von vielen Studienfinanzierungsmöglichkeiten sehen. Wir wollen durch das BAföG
erreichen, dass mehr Schülern in Deutschland der Zugang zur Hochschulbildung ermöglicht wird. Das werden wir realistischerweise aber nur dann verwirklichen
können, wenn sich wirklich alle, die von der deutschen
Hochschulbildung profitieren, auch an deren Finanzierung beteiligen. Das schließt für uns die Studenten
ebenso wie den deutschen Staat mit ein. Deswegen sind
Studiengebühren und Altersgrenzen für Förderansprüche ebenso wichtig wie eine Verknüpfung der staatlichen
Mittel mit den Regelstudienzeiten.
({3})
- Herr Tauss, in folgendem Punkt sind wir uns aber wieder einig: Wenn man den Antrag der Linken durchliest,
dann kann man erkennen, dass die Linke ganz bewusst
ein schleppendes Studienverhalten und Bummelstudenten fördern will.
({4})
Das ist natürlich genau Ihre Meinung, weil Sie Ihre unmotivierte Klientel mit diesem Antrag unterstützen wollen.
({5})
Bei mir ist das Studium noch nicht so lange her,
({6})
als dass ich nicht wüsste, wen Sie mit diesem Antrag unterstützen wollen, und ich muss ganz ehrlich sagen: Ich
möchte nicht, dass der Staat für diese Art von Studenten
zusätzlich Geld ausgibt.
({7})
Die Höchstdauer der Förderung an der tatsächlichen Studiendauer der Studenten zu orientieren, wie Sie das in
Ihrem Antrag fordern, hieße ja, die Studenten bis zur
Rente zu fördern. Bei aller Liebe: Das können Sie vom
deutschen Staat nicht erwarten.
({8})
Fördern und Fordern heißt unsere Devise, um den
Studenten nicht das Gefühl zu vermitteln, dass das, was
nichts kostet, auch nichts wert ist. Deshalb plädiere ich
für ein umfassendes Studienfinanzierungsmodell mit
unterschiedlichen Instrumenten, wie beispielsweise Studiendarlehen, steuerbegünstigten Bildungskonten und
den bereits erwähnten KfW-Studienkrediten. Eine willkürliche Ausweitung des BAföG, wie es Ihre Fraktion
will, ist unserer Meinung nach überhaupt nicht gerechtfertigt. Das BAföG kann von seiner Grundidee und seiner Ausgestaltung her nur ein Instrument von vielen
sein, durch das die Chancengleichheit der Studierenden
und der Zugang zur Hochschulbildung ermöglicht werden.
Ich bitte Sie daher, Ihren unsinnigen Antrag zurückzuziehen und die Öffentlichkeit damit auch nicht zu belästigen, damit wir uns hier im Bundestag mit sinnvollen
Themen und nicht mit Ihren unrealistischen Forderungen, die in keiner Weise finanzierbar sind, auseinander
setzen können.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Barth von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wenn als Tenor des Antrages festgestellt
wird, dass die Ausbildungsförderung reformbedürftig
ist, dann ist das richtig.
({0})
Tatsache ist, dass die BAföG-Sätze in den letzten Jahren
nicht erhöht worden sind und deshalb real erheblich gesunken sind. Zutreffend ist ebenfalls, dass wir weniger
Studenten aus sozial schwächeren Schichten an den Universitäten haben als aus solchen, die gut situiert sind.
({1})
Die Vorschläge, die im vorliegenden Antrag zur Lösung dieses Problems unterbreitet werden, sind allerdings von Sozialromantik und Verteilungsmentalität
geprägt und lassen vor allem jeden Gedanken an Eigenverantwortung und insbesondere an Leistungsanreiz
völlig vermissen.
({2})
Gerade unsere Hochschulen sollten aber die Zentren von
Leistung und Eigenverantwortung und deshalb auch
Zentren von Leistungswillen und Leistungsanreiz sein.
({3})
BAföG für alle, möglichst hoch und solange man will
- Kollegin Bär hat darauf zu Recht hingewiesen -, das
ist nicht nur unbezahlbar, sondern das ist in einem leistungsorientierten Bildungssystem auch der grundsätzlich
falsche Weg. Wenn das Ihre Vorstellung von lebenslangem Lernen ist, liebe Kollegin Hirsch, dann kann ich Ihnen bereits heute sagen, dass wir auch auf diesem Gebiet
relativ wenig Gemeinsamkeiten feststellen werden.
({4})
Sie behaupten, dass die Einführung von Studiengebühren zur Benachteiligung von Menschen aus sozial
schwachen Verhältnissen beim Zugang zum Studium
führt. Einen Beweis für diese Behauptung bleiben Sie
schuldig. Ich sage: Die Einführung von Studiengebühren kann ein geeignetes Mittel nicht nur zur Verbesserung der finanziellen Situation der Hochschulen sein,
sondern auch und insbesondere zur Erhöhung der Motivation der Studenten.
({5})
Zum Beweis dieser Behauptung führe ich das Beispiel Österreich an. Dort hat man im Jahr 2001 Studiengebühren eingeführt.
({6})
Stimmte nun Ihre Theorie, müsste man heute feststellen,
dass in Österreich nur noch Reiche studieren. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Der Anteil von Studierenden
aus Elternhäusern mit Pflichtschulabschluss - das ist unser Hauptschulabschluss - liegt in Österreich mit 33 Prozent wesentlich höher als bei uns, wo es gerade
21 Prozent sind.
({7})
Die Zahl der Absolventen, Frau Kollegin, ist in Österreich hingegen in den letzten Jahren um 20 Prozent gestiegen. Im Gegenzug ist die Zahl derer, die während ihres Studiums nicht eine einzige Prüfung absolviert
haben, um die Hälfte gesunken.
({8})
Das zeigt: Studiengebühren vermögen sehr wohl eine
Auslese zu bewirken, allerdings eine Leistungsauslese.
Das würde ich mir auch für deutsche Hochschulen wünschen.
({9})
Gerade einmal 20 Prozent eines Jahrganges schließen in
Deutschland ihr Studium erfolgreich ab. Diese Quote zu
verdoppeln, wäre ein Ziel. Aber dazu braucht man Leistungsanreize, Eigenverantwortung und auch Leistungsauslese.
({10})
Die Ursachen für den geringen Anteil Studierender
aus sozial schwachem Milieu sind nicht im BAföG oder
in den Studiengebühren zu suchen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Hirsch?
Nein. - Zu viele dieser Jugendlichen kommen schon
in ihrer Schullaufbahn - das ist der entscheidende Punkt überhaupt nicht in die Nähe der Hochschulreife. Deswegen stellt sich schon im Schulsystem die Aufgabe, die
Integration in das Bildungswesen zu fördern.
({0})
Es geht um das Herausbilden von Leistungsmotivation,
von der Freude am Lernen. Es geht auch um die Erkenntnis des Wertes von Bildung.
({1})
Die Verbesserungen des BAföG sind deswegen trotzdem nötig. Die FDP hat ihr langfristiges Modell des Bürgergeldes vorgestellt. Das ist sehr umfangreich. Wir haben deshalb vor einigen Jahren das so genannte
Dreikörbemodell in die Diskussion eingeführt. In dem
ersten Korb werden die bisherigen Sozialleistungen für
alle Studierenden zusammengefasst. Der zweite Korb
besteht aus einer bedarfsabhängigen staatlichen Zusatzleistung für sozial Schwächere. Der dritte Korb soll
letztlich eine Darlehenskomponente enthalten, die allen
zugänglich ist. Darüber muss man sicherlich noch im
Detail reden.
({2})
Wichtig ist aber, dass mit diesem Ansatz der Leistungsgedanke mit den sozialen und finanziellen Aspekten in
Einklang gebracht wird. Das ist aus unserer Sicht wichtig. So können wir erreichen, dass die Sicherung des Lebensunterhaltes und angemessener Studienbedingungen
für Studierende, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, nicht infrage gestellt wird
({3})
und dass wir ein unbürokratisches, den tatsächlichen Lebenshaltungskosten angepasstes Finanzierungs- und Fördersystem bekommen, das Leistung - auch im familiären Bereich - belohnt.
Herr Tauss, die SPD hat bereits 1998 in ihrem Wahlprogramm ein ähnliches Modell angekündigt. Sie hatten
aber in den sieben Jahren gemeinsamer Regierung mit
den Grünen nicht die Kraft, dieses Modell umzusetzen.
({4})
Wenn Sie sich im Sinne der genannten Ziele jetzt in der
Koalition dazu bereit finden könnten, ein System zu entwickeln, das die genannten Anforderungen erfüllt, dann
kann ich Ihnen unsere konstruktive Mitarbeit zusagen.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Ernst Dieter Rossmann,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Linkspartei hat en gros und en détail einen großen Bogen
geschlagen, was die BAföG-Diskussion angeht. Wir sind
dafür, uns an der BAföG-Debatte zu orientieren.
Wir freuen uns als Sozialdemokraten, dass sich das,
wofür wir gekämpft haben, im Koalitionsvertrag widerspiegelt, nämlich die klare Aussage: Das BAföG als Sozialleistung bleibt in seiner jetzigen Struktur erhalten.
Der Zuschuss wird nicht reduziert.
({0})
Da Äußerungen der Ministerin aus der Vergangenheit
angesprochen worden sind, haben wir eine Bitte: Sorgen
Sie in der CDU dafür, dass dieses gute Fördergesetz
nicht wieder vonseiten der Länder infrage gestellt wird.
Ich war erschrocken, aus Schleswig-Holstein zu hören,
dass der dortige Finanzminister auch das BAföG auf den
Prüfstand stellen will.
({1})
Wir wollen gemeinsam - das haben Frau Bär und andere
bereits angesprochen - den über 560 000 jungen Menschen, die nach dem BAföG als Studierende oder Schüler gefördert werden, ein gutes Signal geben.
Ihrer Sorge, Frau Hirsch, dass das BAföG durch die
Studienkredite infrage gestellt werden könnte, möchte
ich entgegenhalten: Gerade weil wir Sozialdemokraten
in dieser Koalition auf gleicher Augenhöhe so stark sind,
dürfen Sie sicher sein, dass die Studienkredite nur additiv, nicht alternativ eingeführt werden können.
({2})
Wenn Sie das nicht überzeugt, dann können wir uns
bei einem Blick in den Haushaltsplanentwurf 2006 darüber freuen, dass beim BAföG eine Steigerung von
3,24 Prozent vorgesehen ist. Das entspricht 70 Millionen Euro zusätzlich. Diese Maßnahme wäre nicht vorgesehen, wenn man an der Stelle Einsparungen vornehmen
wollte.
({3})
- Wenn Sie noch etwas Geduld haben, dann werde ich
noch darauf zu sprechen kommen.
Die Koalition schafft es sogar, Zuwächse beim
BAföG zu finanzieren. Das müssen wir allerdings auch
für die Zukunft einhalten. Denn bei aller Freude über die
Haushaltszahlen 2006, Kollege Kretschmer, müssen wir
feststellen: Es sind für die Jahre 2007, 2008 und 2009
wieder geringere Beträge veranschlagt. Das wird aber
nicht in der Form greifen können, weil wir das BAföG
erhalten wollen.
Wenn in diesem Parlament Anträge debattiert werden,
dann können wir von der großen Koalition Ihre Vorschläge entweder ignorieren bzw. majorisieren oder wir
gehen argumentativ auf die Sachfragen ein. In diesem
Sinne will ich die Spiegelstriche in Ihrem Antrag aus unserer Sicht differenziert bewerten.
Ihren Vorschlag einer gesetzlich verankerten Anpassung der Bedarfssätze an die Entwicklung von Lebenshaltungskosten, Einkommen und des Mietniveaus im
Sinne des italienischen Modells der Rolltreppe werden
wir nicht mittragen. Das wäre systemwidrig zu allen anderen bestehen Sozialleistungen; denn in keinem Bereich gibt es eine gesetzlich verankerte automatische Anpassung. Vielmehr erfolgt eine Anpassung immer
infolge einer politisch souveränen Entscheidung, die die
komplexen Zusammenhänge berücksichtigt. Insofern
sage ich Ihnen deutlich: Das können wir uns nicht vorstellen.
Was Ihren Vorschlag der Anhebung des Freibetrags
bei eigenem Vermögen und die Anrechnungsgrenze bei
eigenem Jahreseinkommen angeht, sollte man vielleicht
die jungen Menschen, die sich Sorgen machen, dass sie
kein eigenes Vermögen haben dürfen, darauf hinweisen,
dass es im BAföG bereits jetzt für eigenes Vermögen einen Freibetrag von 5 200 Euro gibt. Diesen Freibetrag
wollen Sie auf 10 000 Euro anheben. Das ist bei aller
Großzügigkeit zu viel und lässt sich nicht realisieren.
({4})
Bei einem eigenen Monatseinkommen von 112 bis
215 Euro, das nach den bestehenden BAföG-Regelungen nicht mit angerechnet wird, ist eine Anhebung auf
mindestens 400 Euro monatlich etwas zu freigiebig und
erklärt sich daraus, dass es in der Opposition keine Grenzen der Freigiebigkeit gibt. Auch diesem Vorschlag können wir uns nicht annähern.
Mehr als skeptisch sind wir auch in Bezug auf die von
Ihnen vorgeschlagene gesetzliche Anpassung der Regelstudienzeit entsprechend den Studienbedingungen.
Hier soll die Beweislast zulasten der Hochschulen umgekehrt werden. Wenn nicht so zügig studiert wird, dass
die Regelstudienzeit eingehalten wird, dann soll nach Ihrem Vorschlag der Anspruchszeitraum automatisch verlängert werden. Wir lehnen das ab. Wir nehmen das zwar
als Problem zur Kenntnis. Aber dazu gibt es schon Einzelfallentscheidungen im Bereich des BAföG. Wir müssen vielmehr dafür sorgen - Stichworte „Hochschulpakt“ und „gemeinschaftliche Anstrengungen für mehr
Kapazitäten an den Hochschulen“ -, dass sich die Studienbedingungen insgesamt so verbessern, dass das Studium trotz wachsender Studentenzahlen innerhalb der
Regelstudienzeit absolviert werden kann.
({5})
Sie haben außerdem eine Anpassung der Fördersätze
vorgeschlagen. Aber auch hier gilt: Es ist wichtiger, in
die Strukturen zu investieren als in den Transfer. Wir
sollten die Strukturen so verbessern, dass die Regelstudienzeit eingehalten werden kann. Ich glaube, dazu können auch die Hochschulen beitragen. Ich erinnere Sie in
diesem Zusammenhang - gerade im Hinblick auf Ihre
Forderung, den Förderanspruch zwischen zwei Ausbildungsabschnitten zeitlich auszuweiten - daran, dass die
Hochschulen selber in der Lage sind, eigene Modelle zu
entwickeln. Es gibt bereits gute Ansätze. Sehen Sie sich
an, was die Humboldt-Universität in Berlin Beispielhaftes geleistet hat! Sie hat den Übergang vom Bachelorzum Masterstudiengang so organisiert, dass keine förderfreien Fehlzeiten entstehen.
An die Adresse des Koalitionspartners - schließlich
müssen wir gemeinsam eine Lösung erarbeiten - richte
ich die Frage, ob man nicht ernsthaft über die Frage der
Altersgrenze von 30 Jahren nachdenken sollte. Frau
Bär, Sie haben polemisch gefragt, ob die einen nicht genauso engagiert studierten wie die anderen. Diese parteipolitische Zuteilung - quasi mit kleinster Münze - fand
ich nicht in Ordnung. Aber wir wollen, dass mehr Menschen mit beruflicher Qualifikation studieren.
({6})
In diesem Zusammenhang sollte man darüber nachdenken, welche Bedeutung einer Altersgrenze zukommt, bis
zu der man BAföG erhält. Sie haben uns vorgehalten,
dass das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz mit dem
so genannten Meister-BAföG zu einer Disparität im Vergleich zu den Promotionen führt. Es darf nicht sein, dass
Menschen mit beruflicher Qualifikation, die aufgrund
unseres Werbens eine Hochschule besuchen, keine Förderung erfahren, wenn sie älter sind. Nach dem AFBG
ist keine Hochschulförderung möglich, genauso wenig
wie nach dem BAföG, wenn man nicht vor 30 mit einem
Masterstudium begonnen hat. Darüber sollten wir in der
Koalition noch einmal nachdenken.
Das Gleiche gilt in Bezug auf die Fremdsprachenförderung im Rahmen des BAföG. Natürlich hat derjenige, der direkt nach seiner schulischen Laufbahn ein
Studium aufnimmt, in der Regel zwei Fremdsprachen
erlernt. Derjenige, der nach einem beruflichen Bildungsweg ein Studium an einer Hochschule bzw. Fachhochschule aufnimmt, muss nicht automatisch zwei Fremdsprachen beherrschen. Deshalb sollte man darüber
nachdenken, ob die bisher geltende enge Regelung nicht
erweitert werden sollte.
Ich wünsche mir, dass dies alles in den 17. BAföGBericht, der im Übrigen nicht von der Regierung allein,
sondern zusammen mit unabhängigen Sachverständigen
erarbeitet wird - das macht seinen Charme aus; dadurch
kann er uns besondere Hinweise geben -, aufgenommen
wird.
Letzter Punkt. Die Linkspartei macht einen großen
Himmel auf, wenn sie - so will ich es einmal ausdrücken - ein Bildungsgeld für alle fordert, und zwar ohne
Berücksichtigung von Einkommen und Familienverantwortlichkeit. Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Das wird
keine Priorität haben. Priorität muss vielmehr sein, dass
wir in dieser Legislaturperiode einen Vorschlag zur Anpassung der Höchstsätze und der Freibeträge im Rahmen
unserer Möglichkeiten erarbeiten sowie Möglichkeiten
für strukturelle Änderungen - diese sind in einzelnen
Punkten durchaus diskussionswürdig - aufzeigen.
Auch im Hochschulbereich gilt: Die Verbesserung der
Strukturen und der Kapazitäten hat absolute Priorität vor
der Verbesserung des Transfers. Wir dürfen aber den
Transfer nicht vergessen, damit das BAföG für über
600 000 junge Menschen, die es in absehbarer Zeit in
Deutschland in Anspruch nehmen werden, leistungsfähig bleibt.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich erteile das Wort Kollegen Kai Gehring, Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zum Ende der Ära Kohl war das BAföG ein Patient im
Koma. Rot-Grün hat die Ausbildungsfinanzierung wieder zum Leben erweckt. Durch unsere Reform ist die
Zahl der BAföG-Geförderten von 1998 bis zum
Jahr 2004 um über 50 Prozent gestiegen. Die Studienanfängerquote stieg unter Rot-Grün um fast
10 Prozentpunkte auf 38 Prozent.
({0})
Das waren Schritte hin zu einem solidarischen und zukunftsfähigen Bildungssystem, wie wir es dringender
denn je benötigen.
({1})
Derzeit entstehen Rahmenbedingungen, die eine
BAföG-Debatte erforderlich machen. Schließlich müssen wir erleben, wie Landesregierungen aus Union und
FDP reihenweise allgemeine Studiengebühren einführen, zuletzt gestern in Nordrhein-Westfalen. Auch BAföGEmpfänger werden hier, anders als im Wahlkampf versprochen, zur Kasse gebeten.
Eine solche Politik konterkariert die Ziele des BAföG.
Sie setzt neue soziale Hürden, belastet Studierende, das
BAföG und den Bundeshaushalt. Dann ist die eine Möglichkeit: Die Studierenden nehmen ein Darlehen auf, um
die Gebühren zu begleichen. Dann aber gesellen sich bei
vielen Absolventen die Gebührenschulden zu den BAföGSchulden hinzu. Nicht jeder junge Akademiker hat die
Möglichkeit, problemlos zwei Schuldenberge abzutragen. Die Folge wird sein: Bei der Rückzahlung des
BAföG ist mit größeren Ausfällen als bisher zu rechnen.
Die zweite Möglichkeit ist: Die Betroffenen verzichten
aus den genannten Gründen auf ein Darlehen und versuchen, die Studiengebühren aus ihrem eigenen Portemonnaie zu begleichen. Dann aber steigen ihre Lebenshaltungskosten und damit der erforderliche BAföG-Bedarf.
Sie können es also drehen und wenden, wie Sie mögen.
Der Murks, den Ihre Parteikolleginnen und Parteikollegen in den Ländern mit Studiengebühren anrichten, fällt
auf Sie und die BAföG-Politik im Bund zurück.
({2})
Nun hat die große Koalition Studienkredite eingeführt. Dies hat natürlich nichts mit Studiengebühren oder
gar dem BAföG zu tun. Die Studienkredite sollen nicht
die Ausgaben für Studiengebühren der Länder finanzieren. Dies habe auch keinerlei Auswirkungen auf das
BAföG. Natürlich nicht! Ich möchte hier die Bildungsministerin zitieren; denn ich finde es schon merkwürdig,
dass sie diese Verbindung in der Vergangenheit gezogen
hat. Ich zitiere aus der „Welt“ vom 4. April 2005:
... Studiengebühren und Studienfinanzierung müssen zusammen gesehen werden. Allerdings muß
das BAföG noch so lange erhalten bleiben, bis es
einen tatsächlich attraktiven Markt der Bildungsfinanzierung gibt.
Genau darüber müssen wir reden. Was will eigentliche
die neue Bundesregierung in Sachen BAföG und Bildungsfinanzierung auf den Weg bringen?
({3})
Wir Grüne meinen: Es geht um eine verbesserte Lebensunterhalts- und Bildungsfinanzierung für Studierende.
Herumlaborieren am BAföG allein löst das Problem im
Übrigen nicht.
({4})
Es kann und darf nicht Aufgabe des Bundes sein, die
Studiengebühren der Länder zu finanzieren, und zwar
weder durch das BAföG noch durch Studienkredite.
({5})
Allerdings ist es auch nicht so einfach, wie es sich die
Linkspartei vorstellt. Ein Punkt hat mich dabei ganz besonders verblüfft. Sie wollen Erwachsene bei Weiterbildungsmaßnahmen mit einer bedarfsdeckenden Grundsicherung mit Vollzuschuss unterstützen. Heißt das, dass
ein Spitzenmanager während seines Führungskräftetrainings staatliche Unterstützung bekommt? Eine solidarische Bildungsfinanzierung sieht aus meiner Sicht anders
aus.
({6})
Das Gleiche gilt für nicht konsekutive Masterstudiengänge. Wollen Sie wirklich einen Abteilungsleiter mit
Vollzuschuss unterstützen, der jetzt seinen Master of
Business-Administration nachholt? An diesen Stellen
fand ich Ihren Antrag sozial ungerecht und alles andere
als überzeugend, auf alle Fälle aber unpräzise.
({7})
Richtig ist: Wir dürfen nicht alleine auf das Alter gucken, sondern wir müssen generell bei der Unterhaltsund Bildungsfinanzierung auf die unterschiedlichen Lebens- und Lernphasen der Menschen in diesem Land
Rücksicht nehmen und stärker an der Flexibilisierung
von Bildungsbiografien arbeiten. Für uns Grüne steht
fest: Wir brauchen eine zukunftsfähige und solidarische
Ausbildungsförderung, eine öffentlich finanzierte Förderung, die Zugänge und Teilhabe sichert und alle bedürftigen Studierenden unterstützt und nicht als Quersubventionierung für die Gebührenpläne der Länder herhalten
muss.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Michael Kretschmer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Die Hochschulen sind unsere Talentschmieden. Sie
bilden den wissenschaftlichen Nachwuchs von morgen
aus und sie sind die Basis für das, was Deutschland ist:
das Land der Ideen, in dem Einfallsreichtum und Schöpferkraft zu Hause sind.
Wir wissen, dass große Herausforderungen auf die
deutschen Hochschulen zukommen. Die Zahl der Studierenden wird deutlich steigen. Eine Prognose der Kultusministerkonferenz besagt, dass wir im Jahr 2011 mit
445 000 Studienanfängern rechnen können. Das sind
60 000 mehr als heute. Das ist eine gute Nachricht.
({0})
Denn diese große Zahl an Studierenden ist ein großer
Vorteil für unser Land. Es ist die Basis dafür, dass wir
den Standortwettbewerb für uns entscheiden können.
Deshalb steht außer Frage, dass auch in Zukunft jeder
studieren kann, der das Zeug dazu hat, unabhängig vom
Geldbeutel der Eltern. Kein Talent darf verloren gehen.
({1})
Dazu haben wir im Koalitionsvertrag eine klare Aussage
getroffen. Wir haben uns auch klar zum BAföG bekannt.
Der Haushaltsansatz für dieses Jahr zeigt mit weit über
einer halben Milliarde Euro deutlich, dass wir das auch
ernst nehmen. Im Übrigen: Es gibt auch in den kommenden Jahren einen Rechtsanspruch und das ist gut so.
({2})
Wenn die Zahl der BAföG-Berechtigten steigt, wird
auch das BAföG erhöht.
Aber das BAföG ist nur ein Instrument der Studienfinanzierung. In einer Debatte wie dieser reicht es nicht
aus, nur auf diesen Aspekt zu fokussieren. BAföG ist für
Bedürftige. Niemand darf auf der Strecke bleiben, weil
seine Eltern nicht vermögend sind. Das ist ein Grundsatz, der in unserem Sozialstaat gilt. Er soll helfen, diejenigen zu unterstützen, die sich selbst nicht helfen können.
({3})
Wo Familiensolidarität und Eigenverantwortung
möglich sind, fordern wir sie auch ein.
({4})
Wer studiert, investiert in sich selbst. Daher ist es richtig,
Studierende auch an den Kosten ihrer Ausbildung zu beteiligen.
({5})
Das müsste eigentlich auch im Interesse der PDS sein,
wenn ihr Ruf nach sozialer Gerechtigkeit mehr wäre als
ein Lippenbekenntnis.
({6})
Warum soll ein Arbeiter mit kleinem Gehalt über seine
Steuern BAföG für ein Akademikerkind aus gut betuchtem Haus bezahlen?
({7})
Dies ist nicht sozial gerecht.
({8})
Was hat eine elternunabhängige und bedarfsdeckende
Grundsicherung für alle und ohne Rückzahlung mit sozialer Gerechtigkeit zu tun? Das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, ist ein Rundum-sorglos-Paket, das nicht zu
finanzieren ist und das den Studierenden in der Tat jegliche Eigenverantwortung abnehmen soll. So etwas
können wir nicht zulassen.
({9})
Es ist absurd, BAföG für alle zu fordern. Einmal angenommen, jeder der 2 Millionen Studierenden würde
tatsächlich den BAföG-Höchstsatz bekommen: Das
würde 14 Milliarden Euro im Jahr kosten. Das sind
13,5 Milliarden Euro mehr als heute. Die Summe von
14 Milliarden Euro ist zweimal so hoch wie der Gesamtetat des Bundesforschungsministeriums. Solche Forderungen sind Hirngespinste von Leuten, die hoffen, nie zu
regieren und nie Haushaltsverantwortung übernehmen
zu müssen.
({10})
Wenn wir über Studienfinanzierung ehrlich sprechen,
dann müssen wir uns neuen Wegen öffnen. Ihre Rezepte
von gestern taugen nicht für die Zukunft. Es ist Zeit,
dass wir die Studienfinanzierung mit einer Kombination
aus BAföG, Stipendien, Bildungssparen, Bildungsdarlehen
und Studienbeiträgen auf sichere Füße stellen. Dazu haben Sie in Ihrem Antrag kein Wort verloren.
({11})
Stattdessen wollen Sie BAföG jenseits der Altersgrenze von 30 Jahren. Wie ahnungslos! An deutschen
Hochschulen wird schon heute viel zu lange studiert.
Studierende treten im Durchschnitt mit 28 oder 29 Jahren ins Berufsleben ein. Das ist viel zu spät im internationalen Vergleich. Unser Ziel muss eine Ersteinstellung
mit ungefähr 25 Jahren sein. Denn je früher ein Akademiker in den Beruf einsteigt, desto höher ist seine persönliche Bildungsrendite, desto höher ist aber auch der
Nutzen für die Gemeinschaft, die auch in Zukunft einen
großen Teil der Ausbildungskosten finanzieren wird.
Das sind die wirklichen Herausforderungen der Zukunft. Wir wollen, dass 40 Prozent eines Altersjahrgangs
ein Studium beginnen und es auch beenden. Heute liegen wir bei 30 Prozent. Heute hört ein Viertel der UniErstsemester vor dem Abschluss auf. Dieser Wert muss
sich verbessern. Wir brauchen mehr Studierende und wir
brauchen vor allen Dingen Studierende, die ihr Studium
auch abschließen.
({12})
- Frau Kollegin, auch ich habe neben meinem Studium
gearbeitet und habe es beendet.
Dazu benötigen die Hochschulen mehr Freiheit. Die
Forderung, die von diesem Haus an die Länder gehen
kann, ist: Die Bundesländer müssen ihren Hochschulen
mehr Freiheit geben.
({13})
Sie müssen ihnen in der Frage der Finanz-, aber auch der
Personalautonomie mehr zutrauen.
({14})
Sie, meine Damen und Herren von der PDS, machen
davor die Augen zu. Sie sträuben sich gegen Studienbeiträge, die die Lehre verbessern könnten. Sie geißeln den
KfW- Studienkredit, statt anzuerkennen, dass es ein interessantes Angebot ist, diejenigen zu unterstützen, die
heute keine Unterstützung erhalten. Sie gaukeln vor,
eine Politik mit dem Füllhorn betreiben zu können, ohne
zu sagen, wie das Wünsch-dir-was-Programm, das Sie
aufgeschrieben haben, finanziert werden soll. Es wäre
ein Zeichen von Seriosität gewesen, von Ihnen auch einen Vorschlag zur Gegenfinanzierung zu hören.
Klar ist: Die Studienfinanzierung wird sich in den
kommenden Jahren verändern. Bildungssparen muss in
unserem Land so selbstverständlich werden wie ein Bausparvertrag. Die Einführung von Studienbeiträgen wird
eine Qualitätsoffensive einläuten. Studierende werden
das Studium viel stärker als bisher als Investition begreifen. Sie werden genau hinschauen und sich fragen: Wo
bekomme ich die beste Ausbildung für mein Geld?
Verändern muss sich selbstverständlich auch die Kultur des Stipendienwesens. Studienbeiträge ohne ein ausgeklügeltes Stipendiensystem in Deutschland wird es
nicht geben, weil wir wollen, dass auch in Zukunft jeder
ein Studium aufnehmen kann, der das Zeug dazu hat.
Diese Koalition von CDU, CSU und SPD setzt so klar
auf Innovation wie keine andere Bundesregierung in der
Vergangenheit.
({15})
Keine Bundesregierung hat so viel Geld in die Hand genommen, um Forschung und Entwicklung und Wissenschaft voranzubringen. Deswegen brauchen wir nicht
solche Anträge wie den Antrag von Ihnen, sondern ein
klares Konzept. Ich denke, das hat diese Koalition.
Vielen Dank.
({16})
Ich erteile das Wort Kollegen Swen Schulz, SPDFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren auch
auf den Tribünen! Eine Vorbemerkung, Herr Kretschmer. Es ist richtig, dass diese große Koalition sehr viel
Geld in die Hand nimmt, um zu investieren und etwas
für Innovation zu tun.
({0})
Der Redlichkeit halber muss man festhalten, dass es die
Vorgängerregierung durch die Blockade im Bundesrat
auch ein bisschen schwer hatte.
({1})
Diese Blockade ist jetzt zum Glück weggefallen. Wir arbeiten zusammen.
Ich habe mich über den Antrag der Fraktion der Linken nicht so geärgert wie einige derjenigen, die vor mir
geredet haben. Wir sollten ihn als einen weiteren Anstoß
nehmen, darüber nachzudenken, welche Maßnahmen
wir zugunsten der Studierenden ergreifen sollten.
Da ist zunächst einmal wichtig, festzuhalten, dass wir
beim BAföG einen guten Stand haben. Nach einer langen Zeit der Einschränkungen hat die rot-grüne Regierungskoalition das BAföG reformiert und entscheidend
verbessert.
({2})
Swen Schulz ({3})
Die Ausbildungsförderung ist dadurch viel attraktiver
geworden und es profitieren wesentlich mehr Studierende davon. Die Quote von Studierenden gerade aus sozial nicht so starken Schichten konnten wir dadurch erheblich erhöhen. Darauf können wir auch stolz sein,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
An die Adresse der Linken und auch der Grünen sage
ich: Wir Sozialdemokraten werden das BAföG in dieser
Form auch für die nächsten Jahre sichern, obwohl es bei
einigen hier im Haus dazu durchaus andere Vorstellungen gab oder vielleicht auch noch gibt. Es ist ganz klar:
Das BAföG in dieser Form muss mindestens bleiben.
Dafür stehen wir Sozialdemokraten.
({5})
Natürlich stellt sich die Frage, ob wir beim BAföG
noch mehr tun sollten. Es gibt dafür gute Argumente. Im
Grunde ist das eine Art Daueraufgabe. Der Kollege
Rossmann ist im Einzelnen auf die Vorschläge der Linken eingegangen. Für das Thema des Antrags „Hochschulen öffnen“ - so steht es im Titel - ist die Verbesserung des Angebots an den Hochschulen mindestens
genauso wichtig.
({6})
Die Studierenden müssen schnell den gewünschten Studienplatz bekommen und in der Regelstudienzeit ein
hochwertiges, gut betreutes Studium absolvieren können.
({7})
Wir haben in den letzten zwei Jahren viel für die Spitzenförderung getan. Das war und ist richtig. Die Exzellenzinitiative ist ein starkes Stück Zusammenarbeit von
Bund und Ländern.
({8})
Sie bringt den Wissenschaftsstandort Deutschland nach
vorn. Das wollen und werden wir fortsetzen.
Gleichzeitig macht das den Blick für die weiteren Herausforderungen in unserem Hochschulsystem frei. Wir
müssen uns verstärkt der Lehre und dem Studienangebot
zuwenden; denn wir interessieren uns nicht nur für die
Nobelpreisträger, sondern auch für all die anderen, die
eine akademische Ausbildung anstreben und deren
Kompetenz Deutschland dringend benötigt.
({9})
Ich füge hinzu: Das ist auch der Nährboden für Weltklasseforschung. Nur wenn wir ein sehr gutes Angebot in der
Breite und eine exzellente Lehre haben, kann sich daraus
auch eine starke Spitze entwickeln.
({10})
Wir brauchen - da sind wir uns wohl alle einig - mehr
Akademiker. Mehr Studierende sind nicht etwa eine Belastung, kein bedrohlicher Berg am Horizont, sondern
eine tolle Chance für unser Land.
({11})
Wir wollen die Menschen fürs Studium gewinnen, sie
davon überzeugen, dass der Weg an die Hochschule richtig ist und Perspektiven bietet. Darum müssen wir auch
dafür sorgen, dass die Studienbedingungen optimal sind,
und zwar für alle.
({12})
Auf diese politische Einstellung kommt es an. Wir
konnten in den letzten Jahren die Studienanfängerquote
deutlich steigern. Das ist gerade ein Erfolg der angesprochenen BAföG-Refom. Allerdings, muss man sagen, hat
dieser Aufschwung jüngst eine leichte Delle bekommen.
({13})
Das liegt jedoch nicht am BAföG, sondern vielmehr an
der abschreckenden Wirkung der geplanten Studiengebühren.
({14})
Ich sage das noch einmal ganz klar, auch an meine Vorredner, Frau Bär und Herrn Kretschmer: Bildung zu verteuern, ist deutlich der falsche Weg.
({15})
Wir sehen natürlich auch, dass einige Bundesländer in
der Vergangenheit Studienplätze abgebaut haben.
({16})
Ich könnte das jetzt im Einzelnen ausführen und aufzeigen, dass etwa Baden-Württemberg und Bayern zu wenig für die Lehre machen,
({17})
während zum Beispiel Rheinland-Pfalz da eine ganze
Menge tut und wirklich vorbildlich ist.
({18})
Ich will es aber einfach dabei belassen, zu sagen, dass
die Bundesländer ganz offenkundig Hilfe bei den notwendigen Investitionen in die Hochschulen benötigen.
({19})
- Herr Kretschmer, Sie schütteln den Kopf. Ich denke,
dass die Initiative der Bundesministerin Dr. Schavan da
wirklich sehr zu begrüßen ist.
({20})
Swen Schulz ({21})
Sie strebt einen Hochschulpakt von Bund und Ländern an. Ich hoffe, Sie unterstützen das, Herr Kollege.
({22})
Die Gespräche sind noch nicht abgeschlossen; aber
eines sollte schon heute klar sein: Es darf nicht so laufen,
dass der Bund den Ländern einfach mehr Geld für die
Forschung gibt in der bloßen Hoffnung, dass sie dann
mehr für die Lehre tun. Damit würde der Bund seiner
Verantwortung nicht gerecht.
({23})
Außerdem hätte das eine falsche Mittelverteilung zur
Folge; denn dann würden diejenigen zusätzlich bedacht,
die forschungsstark sind, während diejenigen, die sich
besonders um die Lehre kümmern - das ist ja unser
Thema an der Stelle -, alleine gelassen würden. Das dürfen wir nicht zulassen.
({24})
Zum Hochschulpakt gehört ganz wesentlich, dass er
erstens verbindlich für den quantitativen Ausbau der Kapazitäten an den Hochschulen sorgt und zweitens darüber hinaus die Qualität im Blick hat, damit die Lehre
verbessert wird. Der Pakt muss neben der Exzellenzinitiative ein eigenständiges Instrument sein, das die Schaffung von Studienplätzen und ausgezeichnete Lehre unterstützt.
({25})
Die beiden Länder Rheinland-Pfalz und Sachsen haben dafür ein interessantes Modell nach Schweizer Vorbild vorgestellt. Sein Charme besteht darin, dass die
Bundesländer endlich die Verantwortung für ihre Landeskinder übernehmen
({26})
und deren Studium, auch wenn es in anderen Bundesländern durchgeführt wird, finanziell unterstützen. Die Länder können sich dann nicht länger wegducken und die
Leute einfach zum Studieren in ein anderes Bundesland
schicken.
Das trifft eines der zentralen Probleme, die wir heute
haben: Es gibt kaum einen Anreiz für die Länder, in die
Lehre zu investieren. Mit dem vorgeschlagenen neuen
System der Studienfinanzierung würde aber ein Wettbewerb um die attraktivsten Studienplätze eröffnet.
({27})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist doch wirklich eine echte Vision für die Hochschulpolitik: Die
Lehre wird von der finanziellen Last zur Lust der Länder, die sich dann um die Studierenden reißen.
({28})
Der Bund könnte sich über die Finanzierung ausländischer Studierender an diesem Modell wesentlich beteiligen.
Wir haben also auf verschiedenen Ebenen viel zu tun.
Deutlich ist auch, dass der Bund Handlungsmöglichkeiten benötigt, nicht um den Ländern etwas zu diktieren,
sondern um sie zu unterstützen, damit sie ein gutes Angebot machen können. Bei einer solchen Initiative verdient - vielleicht können Sie, meine Herren Staatssekretäre, das ausrichten - Ministerin Dr. Schavan unsere
volle Unterstützung.
Vielen Dank.
({29})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/847 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERPSondervermögens für das Jahr 2006 ({0})
- Drucksache 16/637 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut Schauerte das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute über ein Gesetz, in dem es um die
mittelstands- und wirtschaftsfördernden Elemente des
ERP-Sondervermögens geht. Bei dieser Gelegenheit
möchte ich daran erinnern, dass ERP für European Recovery Program steht.
({0})
Darunter versteht man das Geld, das nach dem Kriege
von den Amerikanern für den Wiederaufbau Europas
und insbesondere des zerstörten Deutschlands zur Verfügung gestellt wurde. Man kann dieses Vorgehen als einen entfernten Vorläufer der Lissabonstrategie ansehen,
die wir hoffentlich zügig aus eigener Kraft umsetzen
können.
Das Bundeskabinett hat erst Ende 2005 über die ERPWirtschaftsförderung im Jahr 2006 entschieden. Der
späte Zeitpunkt ergab sich aufgrund des Wahlkampfes.
Wir haben noch keine grundsätzlichen Entscheidungen
getroffen, wie in Zukunft die ERP-Wirtschaftsförderung
aussehen soll, wie sie strukturiert wird und was daran zu
ändern ist. Jetzt geht es darum, für das laufende Haushaltsjahr 2006 schnell die notwendigen Entscheidungen
zu treffen. Wie der Bundeshaushalt unterliegt auch das
ERP-Sondervermögen derzeit einer vorläufigen Haushaltsführung. Deswegen müssen wir jetzt Tempo machen; denn sonst ist das Jahr vorbei, bevor die Beteiligten wissen, was passieren soll.
Dieser Wirtschaftsplan umfasst ein Fördervolumen
von rund 4 Milliarden Euro in Form von langfristigen
und zinsgünstigen Krediten, insbesondere an mittelständische Unternehmen. Dabei werden die Ansätze zur Gewährung von Nachrangdarlehen und Beteiligungskapital
aufgrund neuer Förderansätze verstärkt, um der Eigenkapitalschwäche bei Gründern und mittelständischen
Unternehmen in Deutschland entgegenzuwirken.
Um den Förderwert für den Mittelstand zu ermessen,
verweise ich darauf, dass die ERP-Mittel eine besondere
Zinskomponente und eine besondere Konditionenkomponente enthalten. Die wesentlichen Gestaltungselemente sind also die Zeitschiene und die Förderungshöhe. Unterstellt man ein jährliches revolvierendes
Neukreditvolumen von 4 Milliarden Euro für den Mittelstand und die Wirtschaft, so werden über das ERP-Sondervermögen allein über die Zinsvergünstigung rund
320 bis 350 Millionen Euro an Subventionen für den
Mittelstand geleistet. Das ist also sozusagen der Haushaltsabfluss.
Gleichzeitig sind die ERP-Mittel mit Konditionen
ausgestattet, die der Markt in dieser Form nicht bietet.
Die Konditionen sind also - wir werden immer wieder
einmal schauen müssen, ob das noch der Fall ist - besonders mittelstandsfreundlich und daher für den Mittelstand von großer Bedeutung. Die Gestaltungsmöglichkeiten dieses Instruments sind: sehr lange Laufzeiten,
lange tilgungsfreie und zum Teil zinsfreie Zeiten oder
der Verzicht auf sonst übliche Sicherheiten.
Der Wert dieser Subventionen für den Mittelstand ist
in Euro und Cent nur schwer zu berechnen. Er ist deutlich größer, als die relevanten Haushaltsmittel für diesen
Bereich zunächst vermuten lassen. Die Multiplikatoroder Hebelwirkung ist also enorm. Es ist Aufgabe von
uns allen, sie weiter zu verbessern, damit wir mit einem
relativ sparsamen Mitteleinsatz möglichst schnell unsere
Ziele erreichen.
Die Schwerpunkte der ERP-Finanzierungshilfen in
2006 sind: die Förderung von Existenzgründungen und
Wachstumsfinanzierungen, der Aufbau und die Modernisierung bestehender Unternehmen im Osten - etwa die
Hälfte der Förderung geht in den Osten -,
({1})
die Innovationsförderung, die Förderung von Umweltschutzinvestitionen und die Förderung von Beteiligungskapital.
Für das Jahr 2006 ist davon auszugehen, dass das bereitgestellte Volumen von rund 4 Milliarden Euro ausreichen wird, um die Nachfrage nach Förderdarlehen zu bedienen. Der Förderansatz liegt damit auf dem Niveau des
Jahres 2005. Im Wirtschaftsplan 2006 sind rund die
Hälfte der Mittel, also rund 2 Milliarden Euro - ich habe
es bereits erwähnt -, für die Förderung von Investitionen
in den neuen Bundesländern vorgesehen. Damit bleiben
dort die Förderungsmöglichkeiten überproportional gut.
In den rund 4 Milliarden Euro sind rund 1,3 Milliarden Euro für Mezzanin-Produkte der Programme „ERPKapital für Gründung“ und „ERP-Kapital für Wachstum“ vorgesehen. Mit der verstärkten Gewährung von
eigenkapitalähnlichen Nachrangdarlehen, die bei den
Unternehmen zwischen Eigenkapital und Fremdkapital
bilanziert werden, erlangt die ERP-Förderung insgesamt
eine neue Qualität: Die Eigenkapitalschwäche der Gründer und der kleinen Unternehmen in Deutschland wird
dadurch ein wenig verbessert.
In die gleiche Richtung wirkt die vorgesehene Verstärkung des Ansatzes für Beteiligungskapital. Wir erwarten, dass über den ERP/EIF-Fonds, der mit einem
Zusagevolumen von 100 Millionen Euro dotiert ist, und
den ERP-Startfonds, für den ein Zusagevolumen von
90 Millionen Euro veranschlagt ist, gemeinsam mit privaten Investoren und über Beteiligungsfonds frisches
Kapital in einer Größenordnung von 860 Millionen Euro
mobilisiert wird. Da sehen Sie wieder die Hebelwirkung.
Der ERP-Wirtschaftsplan 2006 leistet mit diesen Förderansätzen einen wichtigen Beitrag.
Besonders erwähnenswert ist, dass das neue ERP-Innovationsprogramm finanziell abgesichert wird. Mit diesem Programm stellen ERP-SV und Bund in den kommenden fünf Jahren Zinszuschüsse für Förderkredite zur
Verfügung, die ein Antragsvolumen von circa 3 Milliarden Euro auslösen sollen.
Wie es endgültig mit dem ERP-Sondervermögen weitergeht, darauf erlaubt mir meine Redezeit nicht einzugehen. Das interessiert natürlich am meisten. Wir sind
mitten in der Arbeit. Zur groben Richtung: Wir werden
rechtzeitig zum Verfahren der Aufstellung des
Haushalts 2007, das noch vor der Sommerpause abgeschlossen sein soll, die Grundsatzentscheidung getroffen
haben, wie es mit dem ERP-Sondervermögen in
Zukunft weitergeht. Wir wollen im Förderbereich Effizienz- und Volumensteigerungen sicherstellen. Bei einem Grundkapital von 12,7 Milliarden Euro nur über ein
Fördervolumen zwischen 350 und 400 Millionen Euro
jährlich zu verfügen, verleitet dazu, einmal zu überlegen,
ob man dieses Kapital nicht effizienter und intelligenter
einsetzen kann, um aus den Erträgen eine bessere und
umfangreichere Förderung zu organisieren. Das wird die
Aufgabe sein, die wir jetzt leisten müssen.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegen Martin Zeil, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wie Herr Schauerte ausgeführt hat, handelt es
sich beim ERP-Sondervermögen in der Tat um eines der
ältesten und bewährtesten Förderinstrumente gerade für
den Mittelstand. Es ist kein Zufall, dass wir darüber erst
am Freitagmittag beraten. Denn es ist möglicherweise
das letzte Mal, dass wir über das ERP-Sondervermögen
in dieser Form diskutieren. War im Koalitionsvertrag
noch von der vollständigen Erhaltung die Rede, so hat es
seither mehrere Szenarien gegeben: Unter anderem sollen 2 Milliarden Euro an den Haushalt abgeführt werden.
Weitere Dinge erscheinen möglich.
Um es von unserer Seite sehr deutlich zu sagen: Im
Jahreswirtschaftsbericht der Regierung wird von der
„Neuordnung des ERP-Sondervermögens“ gesprochen. Die Sprache ist verräterisch. Damit soll übertüncht
werden, dass Sie planen, diese Mittelstandsgelder an den
Haushalt abzuführen.
Seit der Gründung der ERP-Fonds wurden aufgrund
des Sondervermögens Kredite in Höhe von rund
120 Milliarden Euro zur Unterstützung der mittelständischen Wirtschaft vergeben. Bis heute sind aus der ERPFörderung 8 Millionen Arbeitsplätze entstanden. Ohne
diese Förderung wäre beispielsweise nach der deutschen
Einheit der Aufbau des praktisch nicht mehr existenten
Mittelstandes in den neuen Bundesländern kaum gelungen. In den letzten 16 Jahren gab es dort fast
460 000 Kreditzusagen in einem Gesamtvolumen von
44 Milliarden Euro. 200 000 Existenzgründungen sind
hinzugekommen. Dies ist eine hervorragende Leistung.
Gerade deshalb möchte ich den zuständigen Minister,
der bisher leider auch in dieser Frage nicht durch sehr
große Durchsetzungsfähigkeit aufgefallen ist,
({0})
dringend auffordern: Reden Sie nicht nur über bessere
Rahmenbedingungen für den deutschen Mittelstand,
sondern handeln Sie auch danach und stellen Sie sich
den Plänen des Finanzministers in den Weg!
({1})
Besonders brisant ist, dass ein sozialdemokratischer
Minister die Forderungen, die der ERP-Fonds gegenüber
den Mittelständlern auf dem Kapitalmarkt hat, möglicherweise an solche Firmen verkaufen will, die sein Kollege noch im letzten Jahr als Heuschrecken gebrandmarkt hat. Widersprüchlicher geht es nun wirklich nicht.
({2})
Das schlechte Gewissen steht Ihnen von der Koalition
ins Gesicht geschrieben. Sie haben daher gesagt, ein
neues Gutachten müsse her, und haben es in Auftrag gegeben.
Durch die geplante Abführung von 2 Milliarden Euro
aus dem ERP-Sondervermögen wird das in diesem
Hause seit 50 Jahren unstrittige Substanzerhaltungsgebot erstmals verletzt. Auch der zweite Grundsatz, die
parlamentarische Kontrolle, steht zur Disposition. Wer
entscheidet bei einer möglichen Übertragung der Mittel
an die KfW über die Vergabe? Wie kann die parlamentarische Kontrolle bei der Mittelvergabe sichergestellt
werden?
Die Not der Regierung beim Haushalt mag groß sein.
Dies rechtfertigt aber nicht, dass Sie einfach das uns
vom amerikanischen Volk als Treuhänder für den Mittelstand anvertraute Geld als Steinbruch für die Lösung Ihrer Haushaltsprobleme nutzen und dabei auch noch außenpolitisches Porzellan zerschlagen. Der amerikanische
Botschafter musste Sie mit einem persönlichen Schreiben daran erinnern, dass die USA großen Wert darauf legen, in den Entscheidungsprozess eingebunden zu werden. Nach Auskunft von Völkerrechtsexperten wäre für
eine Übertragung in den Bundeshaushalt sogar eine Zustimmung des Kongresses erforderlich.
Es ist ein Armutszeugnis für Ihre Haushalts- und Finanzpolitik und schlichtweg peinlich, wenn Deutschland
seine Haushaltsprobleme unter Schwarz-Rot nur dann in
den Griff bekommt, wenn es das für den Mittelstand bestimmte Geld zweckentfremdet und damit alle mögliche
Finanzakrobatik betreibt.
({3})
Ich möchte zitieren, was der finanzpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Herr Bernhardt, im letzten
Jahr in der Debatte geäußert hat:
Wir wollen das Signal setzen: Finger weg vom
ERP-Sondervermögen! Wir brauchen dieses Vermögen ungeschmälert für die Mittelstandsförderung in Deutschland.
({4})
Lassen Sie mich abschließend sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Setzen wir heute mit der Zustimmung
zu diesem Gesetz ein klares Zeichen. Der deutsche Mittelstand hat seit Jahrzehnten in erheblichem Maße von
der Förderung durch das ERP-Sondervermögen profitiert. Die heutige Botschaft des gesamten Hohen Hauses
an die Bundesregierung muss daher sein: Hände weg
vom ERP-Sondervermögen! Machen Sie Ihre Hausaufgaben beim Haushalt, aber nicht mit dem Geld des Mittelstandes!
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Christian Lange, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat, Herr Kollege Zeil, wir bringen heute das
ERP-Wirtschaftsplangesetz 2006 in den Bundestag ein
und stellen die besagten Mittel von rund 4 Milliarden
Euro zur Verfügung. Zumindest seitdem ich hier Abgeordneter bin - seit fast acht Jahren -, diskutieren wir zu
einer ungünstigen Zeit über dieses Thema. Werten Sie es
also nicht als Missachtung gegenüber dem Mittelstand,
sondern als eine übliche Verfahrensweise.
Die Neuordnung der ERP-Wirtschaftsförderung,
die ausdrücklich nichts mit dem ERP-Wirtschaftsplangesetz, über das wir eigentlich zu diskutieren haben, zu tun
hat, bestimmt unsere Debatte und bestimmte sie auch am
Mittwoch im Ausschuss. In der letzten Legislaturperiode
haben wir schon verschiedene Erfahrungen damit gesammelt, welche Widerstände es gegen das damals beschlossene Gesetz zur Neuordnung im Bundesrat, bei
den USA, aber auch bei uns, den Kolleginnen und Kollegen im Bundestag, gab. Herr Staatssekretär, die Bundesregierung steht also vor der Aufgabe, eine Lösung zu
finden, bei der die verschiedenen Interessen berücksichtigt werden und möglichst miteinander in Einklang gebracht werden.
Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass Sie ein
Gutachten in Auftrag gegeben haben. Wir, die SPDFraktion, hoffen und erwarten, dass das ERP-Sondervermögen im Einflussbereich des Parlaments bleibt. Auch
wenn der Kollege Zeil den Eindruck erweckt hat, es
gäbe eine Kontroverse, waren wir uns eigentlich darüber
einig. Ich möchte ausdrücklich sagen: Zumindest bis
Mittwoch waren sich alle Fraktionen im Deutschen Bundestag in diesem Punkt einig.
({0})
Herr Kollege Zeil, die Begehrlichkeiten des Bundesfinanzministers sind nichts Neues. Ganz im Gegenteil! Ich
erinnere mich an eine jahrzehntelange Auseinandersetzung: egal ob Schwarz, ob Rot, ob Gelb, der Finanzminister schaut, wo er das Geld bekommt. Daher bitte
ich Sie, im Sinne dieser Einigkeit nicht zu versuchen,
eine politische Kontroverse aufzutun. Wir sollten im Gegenteil fest zusammenstehen.
Für uns, die SPD-Fraktion, steht fest, dass wir das
umsetzen, was im Koalitionsvertrag steht: Die Förderung auf Grundlage des ERP-Programms, das auf den
Marshallplan zurückgeht, muss vollständig erhalten bleiben. Dies setzen wir 2006 ohne Zweifel um.
Der Mittelstand, insbesondere Existenzgründer, wird
weiterhin vom ERP-Sondervermögen profitieren. So stehen laut Produktangebot der KfW-Mittelstandsbank
Gründern die Programme „Unternehmerkredit“, „Unternehmerkapital“ und für entsprechende Beteiligungen im
Innovationsbereich beispielsweise der Hightech-Gründerfonds, der ERP-Startfonds und die EIF/ERPDachfonds zur Verfügung. Damit fördern wir technologieorientierte Gründer und innovative kleine Technologieunternehmen und sichern den Finanzierungsbedarf
für die Entwicklung und Markteinführung neuer und
wesentlich verbesserter Produkte, Verfahren und Dienstleistungen. Hinzu kommen maßgeschneiderte Förderfenster der Kreditanstalt für Wiederaufbau für Kleingründungen.
Diese Förderkulisse ist übrigens auf gute Resonanz
gestoßen. Die aktuelle Studie des Global Entrepreneurship Monitor unterstreicht einerseits die Bedeutung des
ERP-Sondervermögens, andererseits attestiert sie
Deutschland bei der öffentlichen Förderinfrastruktur für
Existenzgründer international Platz eins.
({1})
Das macht deutlich, dass wir ein Interesse daran haben,
dass das ERP-Sondervermögen erhalten bleibt. Das
macht aber auch deutlich, dass wir gut sind.
({2})
Wichtig ist, dass das ERP-Sondervermögen weiterhin
der parlamentarischen Kontrolle unterliegt. Es hat
mich schon gewundert, was Sie, Herr Zeil, gerade gesagt
haben. Wir haben am Mittwoch im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie in Ihrer Anwesenheit einen ersten Schritt dafür getan. Wir haben nämlich einstimmig
beschlossen, dass am 29. März dieses Jahres erneut der
ERP-Unterausschuss eingesetzt wird. Damit wird unserem gemeinsamen Anliegen nach einer parlamentarischen Kontrolle Rechnung getragen werden. Wir als Koalitionsfraktion werten das als einen Schritt in die
richtige Richtung. Bitte erwecken Sie keinen falschen
Eindruck.
({3})
Die SPD-Fraktion betrachtet die Wirtschaftsförderung aus dem ERP-Sondervermögen als einen wichtigen
Baustein zur Unterstützung von Gründern und mittelständischen Unternehmen. Wir sind stolz auf die 50-jährige Tradition. Der ERP-Unterausschuss, der Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie sowie der gesamte Bundestag haben sich in den vergangenen Jahren immer für
die ERP-Förderung sehr stark gemacht. So gesehen ist
diese Einigkeit auch keine Neuerung, sondern gute Tradition.
Wir müssen nun das ERP-Wirtschaftsplangesetz nach
der heutigen ersten Lesung - der Herr Staatssekretär hat
darauf hingewiesen - zügig beraten, damit es noch seine
entsprechende Wirksamkeit entfalten kann. In den mehr
als 50 Jahren haben sich die Schwerpunkte der Wirtschaftsförderung verändert. Aber trotz der gewandelten
Bedingungen und neuer gewaltiger Herausforderungen
wie der deutschen Einheit ist das Grundprinzip des ERPSondervermögens immer gleich geblieben. Das ERPSondervermögen gibt Hilfe zur Selbsthilfe, das heißt, die
für kleine Unternehmen deutlich höheren Zinsen bei den
Banken werden mithilfe des ERP-Sondervermögens subventioniert. Außerdem werden auch Haftungsfreistellungen gewährt, um fehlendes Eigenkapital zu ersetzen oder
zu ergänzen bzw. eine Kreditgewährung überhaupt erst
möglich zu machen. So manches mittelständische Unternehmen und so mancher Existenzgründer konnte erst
aufgrund dieser Unterstützung das für Investitionen
Christian Lange ({4})
notwendige Kapital überhaupt erbringen. Bei den geförderten Unternehmen entstehen hierfür keine zusätzlichen
Kosten. Sie werden im Gegenteil durch die zinsgünstigen
Darlehen entlastet.
Das Besondere am ERP-Sondervermögen ist, dass
das Kapital in aller Regel wieder zurückfließt und damit
erneut für die Förderung mittelständischer Unternehmen
und Gründer eingesetzt werden kann. Seit Bestehen des
Vermögens sind mittlerweile mehr als 115 Milliarden Euro an Krediten zur Unterstützung der mittelständischen Wirtschaft bei uns in Deutschland geflossen und
mehr als 8 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen oder
bestehende erhalten worden.
Das ERP-Sondervermögen lag uns also schon immer
am Herzen, nicht nur wegen seiner besonderen Bedeutung für die Mittelstandsförderung, sondern auch wegen
der besonderen Umstände, wie es zur Entstehung des
ERP-Sondervermögens kam. Es war der Marshallplan
der USA für den Wiederaufbau des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Europas und vor allem Deutschlands,
der zur Entstehung dieses Sondervermögens führte. Das
ERP-Sondervermögen ist für uns Deutsche gleichzeitig
immer auch ein Symbol für unsere Verbundenheit mit
unseren amerikanischen Freunden.
Heute können wir feststellen, dass das Förderprinzip
des ERP-Sondervermögens von großer Weitsicht geprägt war. Nach dem Krieg bestanden die Amerikaner
darauf, dass diese Gelder nicht einfach ausgegeben, sondern immer wieder revolvierend eingesetzt werden müssen. Dieser revolvierende Mitteleinsatz hat sich in jedem Fall als Schlüssel für den Erfolg dieses Programms
und damit auch für unser Land herausgestellt. Auf diese
Weise konnte das Vermögen erhalten und nach dem
Rückfluss der Mittel einer neuen Fördergeneration zur
Verfügung gestellt werden. Dieses Prinzip ist schon im
deutsch-amerikanischen Abkommen des Jahres 1949/50
niedergelegt und seit 1953 auch im ERP-Verwaltungsgesetz verankert.
Es gibt nur ein anderes Land, das mit dem gleichen
Prinzip ebenso erfolgreich arbeitet, nämlich Österreich.
Auch dort wirkt der ERP-Fonds dauerhaft positiv. Andere Länder beneiden uns und Österreich um ein solches
Instrument. So manches Empfängerland bedauert, dass
es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zu solchen Marshallplanmitteln greifen konnte. Auch deshalb treten wir
nachträglich dafür ein, dass dieses wichtige Instrument
in seiner ganzen Förderkraft erhalten bleibt und weiterhin der parlamentarischen Kontrolle unterliegt.
Mit zunehmender Konjunkturerholung wird freilich
die Nachfrage nach einem solchen Programm weiter anziehen. Dem kann allerdings nur nachgekommen werden, wenn sich die deutschen Banken ihrer Aufgabe und
hohen Verantwortung für die Finanzierung des Mittelstandes bewusst sind; denn staatliche Mittel - das will
ich ausdrücklich sagen - können eine bewusste Zurückhaltung bei der Kreditvergabe nicht ausgleichen.
Deswegen richte ich zum Schluss einen kleinen Appell an die Kreditwirtschaft: Gerade die Geschäftsbanken dürfen sich der Verantwortung für die Entwicklung
der Gründungsaktivitäten in Deutschland und für die Sicherung eines starken und innovativen Mittelstandes
nicht entziehen. Sie dürfen sich nicht auf das ERP-Sondervermögen verlassen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans-Kurt Hill,
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wie Kollege Zeil sagte, ist es
vielleicht das letzte Mal, dass wir uns in diesem Haus
eine Debatte über den ERP-Wirtschaftsplan leisten.
Geht es nach dem Willen des Finanzministers, wird es
das ERP-Sondervermögen in der gegenwärtigen Form
im nächsten Jahr nicht mehr geben. Es ist eindeutig: Die
Bundesregierung drückt sich um eine klare Haltung herum. Aufseiten der Bundesregierung gibt es die Begehrlichkeit, Mittel aus dem ERP-Sondervermögen zur
Haushaltskonsolidierung heranzuziehen. Dagegen bekundet der Bundeswirtschaftsminister halbherzig, das
ERP-Sondermögen erhalten zu wollen. Allein, es fehlen
die Taten. Nun soll es ein gemeinsames Gutachten von
Wirtschafts- und Finanzministerium zur Zukunft des
ERP-Sondervermögens geben. Die Frage ist: Wozu ein
Gutachten, wenn es einer politischen Entscheidung bedarf?
({0})
Wer den Auftrag erteilt, ist fraglich, und mit welchem
Inhalt ebenso.
Das ERP-Sondervermögen soll aus rein fiskalpolitischen Gründen dem Haushalt geopfert werden. Wir werden die Politik der Plünderung der öffentlichen Haushalte zugunsten des Großkapitals, wie sie von SPD,
CDU/CSU, FDP und den Grünen betrieben wurde und
noch heute betrieben wird, nicht mitmachen.
({1})
Nach den Arbeitnehmerinnen und den Arbeitnehmern
soll nun auch der Mittelstand, die kleinen Handwerker
und Dienstleister, dafür bezahlen. Gerade für sie ist das
ERP-Sondervermögen gedacht. Sie wollen damit nur
Haushaltslöcher stopfen. So geht es nicht.
({2})
Im Wirtschaftsausschuss erzählt man uns, dass sich
die Koalition mit dem Finanzminister einigen will. Was
ist davon zu erwarten? Bestenfalls gehen nur 2 Milliarden Euro verloren, schlimmstenfalls werden weitere
Milliarden Euro an die KfW oder gar dem freien Markt
übertragen. Dem Parlament würden die demokratischen
Mitwirkungsrechte entzogen. Die jährliche Plenumsdebatte, Herr Kollege Lange, wird es in dieser Form, so
glauben wir, in Zukunft nicht mehr geben.
Die Haltung der Linken ist klar: Wir machen da nicht
mit. Wir wollen das ERP-Sondervermögen in der jetzigen Form erhalten, damit es den kleinen und mittleren
Betrieben zugute kommt.
({3})
Meine Damen und Herren, wir fordern Sie auf, auch
über die Förderpraxis der letzten Jahre zu reden und zu
hinterfragen, was hierbei zu ändern ist. Der Anteil der
ERP-Kredite an Großbetriebe stieg von 2,1 Prozent im
Jahr 2004 auf 6,6 Prozent im Jahr 2005. Das ist der falsche Weg. Der Mittelstand ist hinsichtlich Ausbildung
und Beschäftigung die Stütze der Gesellschaft und muss
gefördert werden. Angesichts der Tatsache, dass viele
Klein- und Kleinstunternehmer in existenziellen Problemen stecken, kann es nicht sein, dass sich die Fördersumme für Großbetriebe mehr als verdreifacht hat. Von
Herrn Minister Glos haben wir dazu noch gar nichts gehört.
Zum Schluss noch eine Bemerkung - ich nutze meine
Redezeit nicht ganz aus; denn es ist Freitag -: Die Erhöhung der Mehrwertsteuer und Ihre Leistungskürzung bei
Arbeitslosen und Rentnern machen Deutschland nicht
nur unsozialer, sondern stellen auch ein Konjunkturvernichtungsprogramm dar. Das sind schlechte Aussichten,
nicht nur für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
sondern auch für den Mittelstand und die kleinen Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort Hans-Josef Fell.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Hill, ich will mit einer ungewöhnlichen Zurückweisung beginnen; denn Ihre Aussage,
dass SPD, Union, FDP und Grüne in den letzten Jahren
für eine Plünderung des ERP-Sondervermögens verantwortlich gewesen seien, ist absurd und falsch. Wir waren
die Garanten und haben in den letzten Jahren fraktionsübergreifend den Substanzerhalt des ERP-Sondervermögens durchgesetzt.
({0})
Die Gründe dafür sind klar: Das ERP-Sondervermögen ist das wichtigste Instrument der Innovations-, Mittelstands- und Umwelttechnologieförderung. Allein in
dem der heutigen Debatte zugrunde liegenden ERPWirtschaftsplan 2006 sind 5 Milliarden Euro dafür vorgesehen. Unzählige mittelständische Unternehmen haben in der Vergangenheit davon profitiert und werden
dies auch zukünftig tun. Das ERP-Sondervermögen ist
aber vor allem ein Innovationsprogramm. Es ist das
wichtigste Instrument, das der Bundesregierung für ihre
Innovationsoffensive zur Verfügung steht; denn es stellt
genau dort Kapital zur Verfügung, wo andere das Risiko
scheuen. Ohne das ERP-Sondervermögen mit Mut zu Investitionen wäre jede Innovationsoffensive zum Scheitern verurteilt.
Das ERP-Sondervermögen ist darüber hinaus ein
Umweltprogramm. In den letzten elf Jahren wurden
Förderkredite in Höhe von circa 20 Milliarden Euro allein für die ERP-Umweltschutzförderung zugesagt, zum
Beispiel für Abfallwirtschaft, Abwasserreinigung, Luftreinhaltung oder Energieeinsparung. Mit ihrer Hilfe ist
die Markteinführung einer Vielzahl von Umwelttechnologien gelungen. Hiervon haben sowohl die Umwelt als
auch der Arbeitsmarkt in erheblichem Maße profitiert.
Der Deutsche Bundestag hat mit dem ERP-Sondervermögen nicht nur mutig in die Zukunft investiert; er
hat dabei auch das Vermögen erhalten, und das über
Jahrzehnte hinweg. Mit diesem Vermögen konnten Dutzende Milliarden Euro in die Zukunft des Landes investiert werden.
Der Deutsche Bundestag war sich der besonderen Bedeutung des ERP-Sondervermögens immer bewusst und
hat dieses Finanzierungsinstrument über viele Jahrzehnte verteidigt. Auch jetzt ist wieder der Mut des ganzen Hauses gefragt, da das Finanzministerium das ERPSondermögen kürzen und an die KfW verschenken will.
Es ist daher ein ebenso richtiges wie wichtiges Zeichen
des Deutschen Bundestages - da stimme ich Herrn Kollegen Lange durchaus zu -, dass der ERP-Unterausschuss wieder eingerichtet wird. Er wird die Interessen
des Bundestages erneut vertreten.
Da der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung
eine große Verantwortung für das ERP-Sondervermögen
und damit auch für die Zukunft unseres Landes tragen,
müssen beide großen Wert darauf legen, wie das Geld
angelegt wird. Auch in der Zukunft muss selbstverständlich das Substanzerhaltungsgebot gelten. Ansonsten
liefen wir Gefahr, in eine Innovationsdefensive zu geraten.
Die Regierungsfraktionen haben diese Woche zwar
unseren Antrag zur Erhaltung des ERP-Sondervermögens abgelehnt, aber dabei zu erkennen gegeben, dass sie
dem Ziel des Substanzerhaltungsgebotes grundsätzlich
zustimmen. Die Ablehnung wurde damit begründet, dass
erst Gutachten vergeben werden müssen, bevor weit reichende Entscheidungen getroffen werden. Wir begrüßen
grundsätzlich, dass möglichst viel Sachverstand herangezogen wird. Es wird eine der wichtigsten Aufgaben
des ERP-Unterausschusses zu sein, darauf zu achten,
dass die Interessen des Parlamentes bei der Gutachtenvergabe umfassend berücksichtigt werden. Die Interessen des Parlamentes sollten sich vor allem in dieser Fragestellung widerspiegeln. Es trifft sich sehr gut, dass
sich der ERP-Unterausschuss in der nächsten Sitzungswoche konstituiert. Es sollte für die Bundesregierung,
Herr Schauerte, selbstverständlich sein, die Auftragsvergabe so lange zurückzustellen, bis der ERP-Unterausschuss die Interessen des Parlamentes formuliert hat.
({1})
Ich bitte die Bundesregierung, schon zur konstituierenden Sitzung einen Bericht über die geplante Gutachtenvergabe vorzulegen.
Heute beraten wir den ERP-Wirtschaftsplan. Er zeigt
erneut in der Mittelverteilung auf, wie wichtig die ERPMittelstandsförderung ist. Wir Grüne haben die Hoffnung, dass das gesamte Parlament weiterhin bereit sein
wird, seine politische Verantwortung zu übernehmen,
und dass auch zukünftig ERP-Wirtschaftspläne beraten
werden.
Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit im
ERP-Unterausschuss, ganz in der Tradition der letzten
Jahre.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegen Michael Fuchs, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber
Herr Kollege Zeil, ich denke, die Ausführungen des Kollegen Hill haben gezeigt, dass Sie vorsichtig sein müssen, mit wem Sie in diesem Hohen Hause fraternisieren.
({0})
Sie wissen ganz genau, was wir vorhaben. Wie Kollege Lange deutlich gemacht hat, haben wir alle ein großes Interesse daran, dass das ERP-Sondervermögen auch
in Zukunft im Haushalt des Bundeswirtschaftsministeriums angesiedelt ist.
({1})
Damit das Parlament einen Zugriff darauf hat, setzen wir
in der nächsten Sitzungswoche den ERP-Unterausschuss ein. So können wir unsere Verantwortung für das
ERP-Sondervermögen wahren; das halte ich für dringend notwendig und sehr wichtig. Machen Sie sich also
keine Sorgen; die große Koalition sieht das in großer
Eintracht so. Das konnte man an der Debatte, die wir am
vergangenen Mittwoch im Wirtschaftsausschuss geführt
haben, sehr deutlich spüren.
Wir stehen auch in der Verantwortung gegenüber unseren amerikanischen Freunden. Schließlich haben uns
die Amerikaner dieses Vermögen schlicht und ergreifend
geschenkt und es so überhaupt ermöglicht, dass wir
heute über diese 12 Milliarden Euro verfügen können.
Für mich ist das ERP-Sondervermögen das Mittelstandsförderungsinstrument in Deutschland. Deswegen muss es ein von der KfW getrenntes Vermögen bleiben.
({2})
Dafür gibt es verschiedene Gründe: Würde das ERPVermögen auf die KfW übertragen, wäre es der parlamentarischen Kontrolle mehr oder weniger entzogen.
({3})
Dann stünde es unter der Kontrolle des Bundesfinanzministers.
({4})
Auch ich habe Bedenken, dass die Fiskalisten dann
manchmal zu sehr auf dieses Geld schauen könnten. Im
Übrigen gilt nach wie vor das ERP-Verwaltungsgesetz
von 1953 auf der Grundlage des deutsch-amerikanischen
Abkommens von 1949. An diesem Zustand wollen wir
auch nichts ändern.
In diesem Zusammenhang möchte ich ein weiteres
Argument ansprechen: Die ERP-Mittel sollen eingesetzt
werden, um insbesondere die Wettbewerbsfähigkeit
kleiner und mittelständischer Unternehmen sowie der
freien Berufe zu steigern. Durch die Konzentration auf
kleine und mittelständische Unternehmen - es ist eine
Umsatzhöhe von 50 Millionen Euro festgelegt - gelten
die Finanzhilfen nach den EU-Beihilferegeln als echte
Mittelstandsförderung und werden mit einem hohen Fördergehalt ausgestattet. Aber die KfW-Programme zur
Mittelstandsförderung sind auf Unternehmen mit einem
Umsatz von bis zu 500 Millionen Euro ausgelegt. Würde
also das ERP-Sondervermögen auf die KfW überführt,
wäre eine so umfangreiche Förderung wie bisher nicht
mehr möglich. Allein deshalb haben wir kein Interesse
daran, dass dies geschieht.
Darüber hinaus sollte das ERP-Sondervermögen nach
Möglichkeit in einer Summe erhalten bleiben. Wir kennen die Situation, in der sich der Bundeshaushalt befindet. Dafür haben wir alle eine Mitverantwortung. Nun
müssen wir gemeinsam überlegen, wie wir die Abzweigung der 2 Milliarden Euro so organisieren können, dass
das Vermögen an sich nicht geschmälert bzw. zumindest
die Förderung nicht gekürzt wird. Deswegen betrachte
ich eine Übertragung dieses Vermögens an den Bundesfinanzminister mit einer gewissen Skepsis, verehrter
Kollege Schauerte.
({5})
Es ist sehr zu begrüßen, dass der Wirtschaftsausschuss den ERP-Unterausschuss einsetzt. Ich denke,
dass wir uns darin alle dafür einsetzen werden, die Mittel
zu erhalten. Denn es geht darum, den Mittelständlern zu
helfen. Das soll auch so etwas wie ein Nachteilsausgleich für die Mittelständler sein, da sie Kredite natürlich nicht zu den gleichen Konditionen bekommen wie
Großunternehmen.
Durch erhöhte Ansätze für Beteiligungskapital werden wir sicherlich auch auf dem regulären Kapitalmarkt
zusätzliche Gelder mobilisieren können. Wir rechnen
- das steht auch in dem entsprechenden Haushaltsansatz - mit 860 Millionen Euro zusätzlichem Beteiligungskapital.
Meine Damen und Herren, alte Besen kehren gut. Das
gilt mit ziemlicher Sicherheit auch für das ERP-Vermögen. Es hat sich über Jahrzehnte bewährt, weil es unter
parlamentarischer Kontrolle stand. Dabei wollen wir es
belassen. Es soll weiterhin unter dem Einfluss des Bundesministers für Wirtschaft stehen.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/637 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Cornelia Behm, Dr. Reinhard Loske,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Biogaseinspeisungsstrategie entwickeln und
Biogaseinspeisungsgesetz vorlegen
- Drucksache 16/582 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Federführung strittig
Die Kollegen Franz Obermeier, Axel Berg, Michael
Kauch, Hans-Kurt Hill und Hans-Josef Fell haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben.1) Wir kommen also sofort
zur Abstimmung.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/582 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü-
nen und die Fraktion Die Linke wünschen Federführung
beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit. Die Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und
der FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie.
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke, also Federführung beim Umwelt-
ausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überwei-
sungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen
1) Anlage 2
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von
Linkspartei und Grünen abgelehnt.
Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP, also
Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie? - Wer stimmt dagegen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit derselben Mehrheit wie soeben angenommen. Die Federführung liegt also beim Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 23 sowie den
Zusatzpunkt 9 auf:
23 Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Döring, Horst Friedrich ({2}), Ernst
Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Buslenkzeiten anpassen - Mittelständische
Busunternehmen retten
- Drucksache 16/584 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Peter
Hettlich und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN
Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes - Fernlinienbusverkehre ermöglichen
- Drucksache 16/842 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus
Die Kollegen Klaus Hofbauer, Heidi Wright, Patrick
Döring, Ilja Seifert und Anton Hofreiter haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben.2) Wir kommen also sofort zur
Abstimmung.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/584 und 16/842 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 28. März 2006, 10 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein
freundliches Wochenende.