Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich, wünsche Ihnen einen guten Tag und uns gute
Beratungen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen einige Änderungen in der Besetzung des Verwaltungsrats
der Filmförderungsanstalt vorgenommen werden.
Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass der Kollege
Bernd Neumann sein Amt niedergelegt hat.
({0})
- Immerhin ist er aus Anlass dieser bedeutenden Veränderung persönlich erschienen, was ich mit Respekt registriere. - Als Nachfolger wird sein bisheriger Stellvertreter, der Kollege Wolfgang Börnsen, vorgeschlagen.
Neues stellvertretendes Mitglied soll der Kollege
Johann-Henrich Krummacher werden.
Aufseiten der Fraktion der SPD ist vorgesehen, dass
die frühere Abgeordnete Gisela Hilbrecht dem Verwaltungsrat zukünftig als stellvertretendes Mitglied angehört und an Stelle ihrer die Kollegin Monika Griefahn
neues ordentliches Mitglied wird.
({1})
Sind Sie mit diesen Veränderungen einverstanden? Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die genannten
Damen und Herren gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Kein Zurückweichen vor Rechtsextremismus - Bundespolitische Konsequenzen vor dem
Hintergrund aktueller Ereignisse in Sachsen-Anhalt und
Brandenburg ({2})
ZP 2 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes und des Telekommunikationsgesetzes
- Drucksache 16/521 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften
über die Luftaufsicht und die Luftfahrtdateien
- Drucksache 16/958 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Tourismus
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Mechthild
Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Jugendstrafvollzug verfassungsfest gestalten
- Drucksache 16/851 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Volker Beck ({6}), Britta Haßelmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Zwischenbilanz für Integrationskurse des Jahres 2005
vorlegen
- Drucksache 16/940 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({7})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuss
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
e) Beratung des Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute
Koczy, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Mit der strategischen Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika Ernst machen und
deutsches Engagement ausbauen
- Drucksache 16/941 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper,
Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Innovationspakt 2020 für Forschung und Lehre in
Deutschland - Kooperationen zwischen Bund und Ländern weiter ermöglichen
- Drucksache 16/954 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({9})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lutz Heilmann,
Eva Bulling-Schröter, Hans-Kurt Hill, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Ein einheitliches Umweltrecht schaffen - Kompetenzwirrwarr vermeiden
- Drucksache 16/927 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10})
Rechtsausschuss ({11})
Federführung strittig
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN:
Tarifliche Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid Wolff
({12}), Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Innere Sicherheit durch Regelungen zum Arbeitskampfrecht gewährleisten
- Drucksache 16/953 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({13})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister,
Otto Bernhardt, Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Nina Hauer,
Ingrid Arndt-Brauer, Lothar Binding ({14}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten
Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig
Thiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,
Christine Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Besser regulieren, dynamisch konsolidieren - Leitlinien
für die künftige EU-Finanzmarktintegration
- Drucksache 16/933 ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Addicks,
Hellmut Königshaus, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Den Südsudan beim Wiederaufbau unterstützen und vor
AIDS bewahren
- Drucksache 16/586 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({15})
Auswärtiger Ausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen Kampeter,
Norbert Barthle, Jochen Borchert, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Carsten
Schneider ({16}), Ernst Bahr ({17}), Bernhard
Brinkmann ({18}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Unverzügliche Umsetzung des Programms „Impulse für
Wachstum und Beschäftigung“ sowie des Marktanreizprogramms durch die Bundesregierung
- Drucksache 16/931 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Josef Fell,
Cornelia Behm, Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Biogaseinspeisungsstrategie entwickeln und Biogaseinspeisungsgesetz vorlegen
- Drucksache 16/582 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({19})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({20})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Federführung strittig
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter,
Winfried Hermann, Peter Hettlich und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes - Fernlinienbusverkehre ermöglichen
- Drucksache 16/842 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({21})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem ist vorgesehen, den Tagesordnungspunkt 12 - hier handelt es sich um einen Antrag zum
Übereinkommen über die biologische Vielfalt -, den
Tagesordnungspunkt 19 c - Gesetzentwurf des Bundesrates zur Verringerung steuerlicher Missbräuche und
Umgehungen - sowie den Tagesordnungspunkt 22 - Antidiskriminierung - abzusetzen.
Die Tagesordnungspunkte 9 - Pressefreiheit - und 13
- zwei Anträge zu Kuba - sollen getauscht werden.
Schließlich soll der von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachte Entwurf eines Föderalismusreform-Begleitgesetzes auf Drucksache 16/814
nachträglich gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den
Haushaltsausschuss überwiesen werden. Die vorgesehene Mitberatung des Haushaltsausschusses entfällt folgerichtig.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Darf ich auch zu diesen vorgeschlagenen Veränderungen Ihr Einvernehmen feststellen? - Dieses Einvernehmen besteht offenkundig. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung
- Drucksache 16/429 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({22})
- Drucksache 16/971 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Brandner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Klaus Brandner für die SPD-Fraktion.
({23})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wir verabschieden heute das Gesetz
zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung. Passender
als zu dieser Jahreszeit könnten wir, meine ich, die Debatte über ein solches Gesetz nicht führen; denn wir haben seit Monaten Temperaturen unter dem Gefrierpunkt,
({0})
was für die Beschäftigten der Bauwirtschaft traditionell heißt: arbeitslos und unsichere Zukunft bezüglich
möglicher Wiedereinstellung, wenn das Wetter wieder
Bautätigkeit ermöglicht.
285 000 Menschen aus der Baubranche sind in diesem Winter arbeitslos, ein beträchtlicher Teil davon, weil
der Betrieb im Winter keine Straßen bauen kann bzw.
Beton oder Mörtel wegen des Frostes nicht verarbeitet
werden können. Die Beschäftigten, die saisonbedingt jeden Winter aufs Neue entlassen werden, leben ständig in
Unsicherheit, ob sie im Frühjahr wieder eingestellt werden. Sie und ihre Familien machen sich Sorgen, wie es
weitergeht.
Ein weiterer Punkt kommt hinzu: Mit jedem weiteren
Jahr steigt das Risiko der Arbeitnehmer, die Anwartschaft auf Arbeitslosengeld zu verlieren. Aus unserer
Sicht ist dies ein unhaltbarer Zustand. Beschäftigte in
der Baubranche, aber auch in anderen stark saisonabhängigen Branchen dürfen nicht schlechter gestellt werden,
nur weil für sie die Schlechtwetterperiode keine Arbeit
zulässt.
({1})
Für diese Beschäftigten schaffen wir die Möglichkeit
des Saisonkurzarbeitergeldes. Wir verstetigen die Beschäftigung, wir erhöhen die Planungssicherheit der Beschäftigten sowie der Unternehmen und wir halten die
Qualifikation der Mitarbeiter aufrecht, die durch Arbeitslosigkeit sonst verloren gehen würde. Dies ist ein
Gewinn an persönlicher Sicherheit. Daran liegt uns allen.
Wir werden mit diesem Gesetz die bisherige, oftmals
sehr komplizierte Winterbauförderung weiterentwickeln und in ein System des Kurzarbeitergeldes integrieren. Nach dem neuen Gesetz können die Beschäftigten
in der Baubranche zwischen dem 1. Dezember und dem
31. März im Betrieb beschäftigt bleiben. Sie bekommen
dann Kurzarbeitergeld in Höhe von 60 Prozent bzw. von
67 Prozent, wenn sie ein Kind haben. Das ist zwar weniger Geld, dafür aber mehr Arbeitsplatzsicherheit.
Wir unterstützen mit diesem Gesetz die Tarifvertragsparteien in ihren Anstrengungen, Kontinuität in der Beschäftigung zu halten und kontinuierliche Löhne zu zahlen. Planbare Einkommen sind uns wichtig. Deswegen
haben wir uns für dieses Gesetz engagiert.
({2})
In den Koalitionsverhandlungen ist uns bewusst geworden, dass wir neue Regelungen in diesem Bereich
treffen müssen. Wir haben deshalb in der Koalitionsvereinbarung festgelegt, dass dieses Gesetz auf den Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien in der Bauwirtschaft
aufgebaut werden soll. Ich bin froh, dass dieser Wille
nach wie vor vorhanden ist und im Gesetz klar erkennbar
ist. Die Tarifvertragsparteien haben mit ihrer Vereinbarung ein Beispiel für innovative und verantwortungsbewusste Tarif- und Betriebspolitik gegeben.
Wir haben bewusst darauf verzichtet, dass die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen über den Umlagebeitrag
hinaus zusätzliche Leistungen einbringen müssen. Damit
meine ich ganz konkret, dass wir auf eine zusätzliche
Einbringung von Stunden aus dem Arbeitszeitkonto
oder von zusätzlichen Urlaubstagen verzichtet haben.
Die Vorausleistung von 30 Stunden für die Arbeitnehmer
und 70 Stunden für die Arbeitgeber hatte im alten System die Funktion, die Arbeitnehmer- und die Arbeitgeberseite an der Mitfinanzierung des Systems der Winterbauförderung zu beteiligen. Diese Beteiligung erfolgt im
neuen System dadurch, dass die Finanzierung der Umlage anteilig erfolgt.
Wir haben uns aus gutem Grund für den Systemwechsel im Umlagesystem entschieden. Ich sage ganz klar:
Wer mehr Vorausleistungen von den Arbeitnehmern verlangt, will damit nur eines, nämlich auch beim Saisonkurzarbeitergeld die Verteilungsfrage neu stellen. Das ist
völlig fehl am Platz. Das lehnen wir ab.
({3})
Was steckt hinter dem Umlagesystem? Ein zusätzlicher Anreiz auf der Basis der Vereinbarung der Tarifvertragsparteien im Bau wird geschaffen, indem eine
Umlage eingeführt wird, aus der ergänzende Leistungen
finanziert werden.
Die umlagefinanzierten ergänzenden Leistungen umfassen erstens die Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge an die Arbeitgeber. Diese werden von den Kosten
der Weiterbeschäftigung bei Arbeitsausfällen in den
Wintermonaten deutlich entlastet. Sie haben genau diese
Kosten in der Vergangenheit genutzt, um Arbeitnehmer
zu entlassen und der Sozialversicherung diese Kosten
aufzudrücken.
Daneben umfassen diese Leistungen zweitens das
Zuschusswintergeld für die Arbeitnehmer für jede aus
Arbeitszeitguthaben eingesetzte Arbeitsstunde zur Vermeidung von Arbeitsausfällen. Wer eine Stunde aus seinem Arbeitszeitkonto im Winter einsetzt, erhält dafür
2,50 Euro extra.
Darüber hinaus umfasst die Umlage drittens das
Mehraufwandswintergeld als Ausgleich für witterungsbedingte Mehraufwendungen bei den Beschäftigten zwischen Mitte Dezember und Ende Februar. Das
heißt, wer in dieser Zeit tatsächlich arbeitet, bekommt
1 Euro als zusätzliche Unterstützung zu seinem Verdienst hinzugerechnet.
Um es auf den Punkt zu bringen: Wir fördern mit der
Umlage das Einbringen von Stunden aus dem Arbeitszeitkonto, fördern die Arbeit trotz schlechten Wetters
und erhöhen damit die Flexibilität in der Branche. Ich
finde, dies ist ein wirklich gelungener Beitrag zu einer
modernen Arbeitszeitpolitik. Dafür haben die Tarifvertragsparteien Lob und Anerkennung verdient.
({4})
Hiervon unangetastet bleibt die Arbeitszeitflexibilisierung mit dem Ziel eines kontinuierlichen Monatslohns. Das Arbeitszeitkonto hat sich bewährt.
Mit dem Gesetz machen wir deutlich, dass wir am
Koalitionsvertrag festhalten. Wir haben dort nicht nur
vereinbart, das Saisonkurzarbeitergeld einzuführen; wir
haben dort auch ausdrücklich die Sicherung der Tarifautonomie und der Mitbestimmung begrüßt. Beides
bleibt unangetastet. Versuche, durch die Hintertür hieran
zu rütteln, haben wir verhindert. Wir geben den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein klares Signal: Die
Kultur des Misstrauens muss beendet werden. Wir haben
keinen massenhaften Missbrauch in diesem Land. Wir
wollen eine Kultur des Vertrauens. Das ist die Basis für
sinnvolle Veränderungen, zu denen wir stehen.
({5})
Mit dem Gesetz wird die Bundesagentur für Arbeit
entlastet. Wenn die Arbeitnehmer in den Betrieben bleiben, haben die Agenturen weniger Aufwand durch weniger Arbeitslosmeldungen, durch weniger Vermittlungsbemühungen und - um es deutlich zu sagen - durch
weniger Arbeit bei den Leistungsanträgen. Positiv wird
sich auswirken, dass die Bundesagentur von den Remanenzkosten, das heißt von den Sozialkosten, entlastet
wird. Wir rechnen also mit gutem Grund auch deshalb
mit einem positiven Finanzeffekt bei der Bundesagentur
für Arbeit. Wir erwarten einen positiven Effekt insbesondere für den Fall, dass es gelingt, diejenigen
70 000 Menschen, die in der Regel im Winter zusätzlich
arbeitslos werden, mit diesem Gesetz zu erreichen. Dies
sollte uns Mut machen, dass andere Branchen von diesem Gesetz lernen und möglichst bald eine Übertragbarkeit anstreben.
Im Gesetzentwurf der Bundesregierung war vorgesehen, weiteren Branchen die Möglichkeit für das Saisonkurzarbeitergeld zu eröffnen. Hieran haben wir grundsätzlich festgehalten, allerdings mit etwas höheren
Hürden. Aus meiner Sicht sind wir gut beraten, auch anderen Branchen, die ähnlich hohe Schwankungen in der
Beschäftigung haben, diese Option zu eröffnen.
Beispiele für Schwankungen gibt es im Ausbaugewerbe, bei den Malern und Lackierern sowie in der
Landwirtschaft. Im Bereich des Lackierer- und Malerhandwerks waren - um harte Zahlen zu nennen - im
September 2005 7 500 Menschen und im Dezember
23 000 arbeitslos. Im Bereich der Land- und Forstwirtschaft waren im September 2005 5 300 Menschen arbeitslos. Im Dezember waren es 19 240. Das zeigt, dass
es dort große Schwankungen und Unsicherheiten für die
Beschäftigten nur wegen des schlechten Wetters gibt.
Der Weg, über kurze Kündigungsfristen Kündigungen
durchzuführen, ist falsch. Wir unterstützen vielmehr den
Weg eines Saisonkurzarbeitergeldes und damit eine
ganzjährige Beschäftigung.
Wir haben vereinbart, nach zwei Jahren eine konstruktive Evaluation durchzuführen. Ich hätte mir gern
etwas mehr Mut unsererseits gewünscht. Dennoch will
ich die Tarifvertragsparteien in anderen Branchen mit
hohen saisonalen Schwankungen aufrufen, nach spezifischen Lösungen in ihrem Bereich zu suchen, auf deren
Grundlage das Gesetz nach der Evaluation auch für sie
gelten kann. Wir wollen, dass auch diese Branchen
- wenn sie es wollen - ein Instrument an die Hand bekommen, um Schwankungen in der Schlechtwetterzeit
auszugleichen. Dies muss ein Instrument sein, mit dem
Flexibilität und Sicherheit sinnvoll miteinander verbunden werden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Jörg Rohde für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Für die Fraktion der FDP darf ich zunächst die
von Union und SPD eingebrachten Änderungsanträge zu
dem Entwurf eines Gesetzes zur Förderung ganzjähriger
Beschäftigung ausdrücklich begrüßen. Die Beratungen
hinter den verschlossenen Türen der Koalition haben
zwei Wochen länger gedauert, als ursprünglich gedacht.
Aus unserer Sicht hat sich das Warten aber gelohnt.
Das neue Saisonkurzarbeitergeld wird die bisherige
Winterbauförderung ablösen, wobei die neue Leistung in
dem nun geänderten Gesetz wieder auf die Baubranche
beschränkt wird. Für die FDP-Fraktion begrüße ich es
ausdrücklich, dass die schwarz-rote Koalition in diesem
wesentlichen Punkt auf eine von uns erhobene Forderung eingegangen ist.
({0})
Weitere Branchen werden nun nicht gegen deren erklärten Willen in die Neuregelung einbezogen.
({1})
Dass zusätzlich eine mögliche Einbeziehung weiterer
Branchen ab dem 1. November 2008 nur durch eine Gesetzesänderung möglich ist und nicht mehr, wie ursprünglich geplant, durch eine Rechtsverordnung des
Bundesministers für Arbeit und Soziales, ist ebenfalls
eine deutliche Verbesserung gegenüber dem ursprünglichen Gesetzentwurf.
({2})
Ich bin mir übrigens sicher, dass bei dieser Änderung
nicht nur die FDP, sondern auch etliche Branchenvertreter hier in Berlin deutlich aufgeatmet haben.
Das neue Gesetz tritt exakt die Nachfolge des Vorläufergesetzes an, das die Winterbauförderung regelte und
das Schlechtwettergeld ersetzt hat. Herr Dreibus - er ist
heute nicht da; er hat mich darauf angesprochen -, ich
habe tatsächlich in den alten Sitzungsprotokollen von
damals geblättert: Das Schlechtwettergeld hatte gegenüber einem Jahresarbeitsentgelt den Nachteil, dass es mit
Nettolohnverlusten verbunden war. Das war nur einer
der Gründe, warum damals eine Neuregelung notwendig
war.
({3})
Die 1994 von Schwarz-Gelb initiierte Gesetzesänderung wurde damals, so wie das bei der heutigen Gesetzesänderung auch der Fall war, mit den Tarifpartnern in
der Baubranche abgesprochen und berücksichtigte die
besondere saisonale Abhängigkeit der Baubranche.
Auch 1997 hat die von Union und FDP getragene
Bundesregierung die Weiterentwicklung des Gesetzes
zur Förderung der ganzjährigen Beschäftigung im Baugewerbe vorangetrieben. Die FDP also hat bereits viele
Jahre die Gesetzgebung zu der Problematik der Saisonarbeitslosigkeit in der Baubranche in den Wintermonaten konstruktiv begleitet; das tun wir auch heute.
({4})
Da die Regelungen aber seit Jahrzehnten ausschließlich auf die Bauindustrie ausgerichtet sind, ist es auch
absolut richtig, nach der heutigen Neuregelung des Gesetzes zuerst zwei Jahre aktuelle Erfahrungen mit den
neuen Regelungen zu sammeln,
({5})
bevor eventuell andere Branchen ebenfalls einbezogen
werden.
({6})
Hier im Bundestag müssen wir nun gemeinsam darauf
achten, dass mit der neuen Förderung keine zusätzlichen
Belastungen auf die Beitragszahler zur Arbeitslosenversicherung zukommen. Ich bin nicht so optimistisch wie
Sie, Herr Brandner, der Sie ja gesagt haben, dass sogar
ein Überschuss herauskommt. Wir sehen das eher skeptisch.
({7})
Aber richtig ist, dass bei Inanspruchnahme von Saisonkurzarbeitergeld anstelle von Arbeitslosengeld die
Beitragszahler entlastet werden, weil sie keine Sozialversicherungsbeiträge zu finanzieren haben. Allerdings
könnte es, je nach Umfang der Inanspruchnahme von
Saisonkurzarbeitergeld anstelle von Arbeitslosengeld,
auch zu Mehrbelastungen kommen.
Ein wichtiger Baustein bei der Senkung der Belastung
für die Bundesagentur für Arbeit ist die erhöhte Flexibilisierung der Arbeitszeit mit Zeitguthaben von bis zu
150 Stunden statt, wie bisher, 10 Prozent der vereinbarten Jahresarbeitszeit. Ich bedauere natürlich, dass sich
Union und SPD nicht meinem Vorschlag anschließen
konnten und größere Zeitkorridore geschaffen haben. Ich
hätte den Arbeitnehmern gerne mehr Freiraum eingeräumt. Auch über die negativen Arbeitszeitkonten können wir vielleicht bei der nächsten Novellierung in zwei
Jahren gemeinsam diskutieren. Ich denke, hier ist noch
Potenzial, mit dem wir Geld für die Bundesagentur für
Arbeit herausholen können.
({8})
Wir hätten uns ebenfalls eine klarere Formulierung in
Bezug auf die Einbringung der Guthaben gewünscht.
Diese Arbeitszeitguthaben werden jetzt in § 175 Abs. 5
SGB III geregelt. Da wir aber wissen, dass die Einbringung von 30 Stunden aus dem Arbeitszeitguthaben derzeit tarifvertraglich in der Baubranche geregelt ist, lassen wir diese Formulierung ausnahmsweise durchgehen.
({9})
Dies ist aber gleichzeitig ein großer Vertrauensvorschuss, der den Tarifpartnern gewährt wird: Sollten die
Tarifpartner in der nächsten Tarifverhandlung beschließen, dass diese Arbeitszeitguthaben nicht eingebracht
werden müssen, stünde die Bundesagentur für Arbeit finanziell im Regen. Das gilt es zu vermeiden.
({10})
Wir hoffen, dass sich die Tarifpartner an dieser Stelle ihrer Verantwortung bewusst sind.
({11})
Aus unserer Sicht sollten die Anreize zum Ansparen
von größeren Arbeitszeitguthaben ausgebaut werden;
das wäre eine Aufgabe für die Tarifpartner.
({12})
Leider ist der Union in einem Punkt eine Nachbesserung nicht gelungen: Am 27. Januar 2006 berichtete das
„Handelsblatt“, dass auch der Kollege Meyer von der
Union forderte, bei Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld nach dem Bezug von Saisonkurzarbeitergeld eine
Anrechnung vorzusehen. Hier befindet sich nun aus unserer Sicht die Achillesferse des vorliegenden Gesetzentwurfes.
({13})
Die Einführung eines Saisonkurzarbeitergeldes darf
nicht dazu führen, dass beitragsfinanzierte Leistungen
dann zeitlich kumuliert in Anspruch genommen werden
können.
({14})
Im Extremfall könnte ein Arbeitnehmer in der Baubranche nun je nach Auslegung des Gesetzes im Spätsommer
und Herbst vier Monate arbeiten und danach vier Monate Saisonkurzarbeitergeld beziehen und hätte dann
möglicherweise Anspruch auf Arbeitslosengeld I statt
auf Arbeitslosengeld II. Hier muss die Bundesagentur
für Arbeit ihr besonderes Augenmerk darauf richten, ob
bei dieser Neuregelung nicht doch aus Versehen eine
Hintertür entstanden ist und Mitnahmeeffekte auftreten.
({15})
Auch wir als FDP werden die Praxis kritisch begleiten
und gegebenenfalls vorzeitige Korrekturen des Gesetzes
fordern.
Wir hoffen, dass sich die Einsparungen durch die Nutzung der flexiblen Arbeitszeitkonten und die vermiedene
Bürokratie in den Arbeitsagenturen auf der einen Seite
sowie eine mögliche verstärkte Inanspruchnahme des
Gesetzes zum Saisonkurzarbeitergeld und mögliche Mitnahmeeffekte auf der anderen Seite insgesamt gegeneinander aufwiegen und das Gesetz somit kostenneutral
für die Bundesagentur für Arbeit ausfällt.
Deswegen begrüßen wir auch die im nachgebesserten
Gesetzentwurf verankerte Evaluation, sodass der Bundestag über die Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt und
die finanziellen Auswirkungen für die Arbeitslosenversicherung und den Bundeshaushalt genau informiert wird.
Besonders für Gesetzentwürfe einer schwarz-roten Koalition gilt natürlich: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!
({16})
Wir sehen also den Ergebnissen der Wirkungsforschung zu diesem Gesetz mit Spannung entgegen.
Nach Abwägung aller eingearbeiteter Änderungen
durch Union und SPD gegenüber den noch offenen
Wünschen unserer Fraktion haben wir uns aber dazu
durchgerungen, die Einführung des neuen Saisonkurzarbeitergeldes zu unterstützen und dem Gesetzentwurf
trotz eines leichten Bauchgrimmens bezüglich der Kostenneutralität des Gesetzes zuzustimmen.
Als Nächstes sollte sich die Koalition aber - und hier
besonders Sie, Herr Minister Müntefering ({17})
den noch drängenderen Fragen zur Bekämpfung der
Massenarbeitslosigkeit zuwenden: der Flexibilisierung
des Tarifrechts, der Reform des Kündigungsschutzrechtes und der Schaffung von Anreizen für die Rückkehr
der geringfügig bzw. schwarz Beschäftigten in den ersten Arbeitsmarkt. Das sind nur einige Beispiele, Herr
Minister. Frisch ans Werk! Wir werden Ihre Arbeit konstruktiv begleiten.
Vielen Dank.
({18})
Nächster Redner ist der Kollege Ralf Brauksiepe für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Mit dem Gesetz zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung wollen wir einen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung der Winterarbeitslosigkeit nicht nur, aber
gerade auch in der Baubranche leisten. Mit dem hier vorgelegten Gesetzentwurf schaffen wir ein neues Instrument, führen wir das Saisonkurzarbeitergeld ein und ersetzen damit die bisherige Winterbauförderung.
Es geht uns darum, mit diesem Gesetz die ganzjährige
Beschäftigung dadurch zu fördern, dass die von Arbeitslosigkeit bedrohten Arbeitnehmer beschäftigt bleiben
und die Beitragsleistung Saisonkurzarbeitergeld beziehen, und damit zu vermeiden, dass Arbeitnehmer und
Arbeitnehmerinnen in witterungsabhängigen Branchen
in die Arbeitslosigkeit entlassen werden und von der
Bundesagentur für Arbeit aufgrund der gesetzlichen Regelungen, die es dafür schon gibt, aufwendig betreut
werden müssen, obwohl sich in vielen Fällen Arbeitgeber und Arbeitnehmer einig sind, dass die Beschäftigung
nach dem Winter fortgesetzt werden soll.
Wir wollen das tun, um damit einen wesentlichen
Beitrag zur Lösung eines Problems zu leisten, das uns
seit vielen Jahren beschäftigt. Man darf auch keine Illusionen schüren: Auch in Zukunft wird die Winterarbeitslosigkeit höher sein als die Arbeitslosigkeit im
Sommer. Ich denke aber, wir haben die begründete
Hoffnung, dass wir mit diesem Gesetz einen wesentlichen Beitrag leisten, um Arbeitslosigkeit im Winter zu
vermeiden.
({0})
Deswegen ist dies eine gute Nachricht für all die
Menschen, die ihre Arbeit unter schwierigen Bedingungen tun müssen. Nicht nur dieser Winter - darauf hat der
Kollege Brandner zu Recht hingewiesen - war ein Beispiel dafür. Es geht darum, etwas für die Menschen zu
tun, die unter schwierigen Umständen hart arbeiten, und
auch etwas für die Arbeitgeber zu tun, die unter ordentlichen, abgesicherten und gesetzlich vorgesehenen Bedingungen zu ihren Leuten stehen und die mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch durch schwierige
Zeiten gehen und sie im Winter nicht auf die Allgemeinheit abschieben wollen.
({1})
All denen, die sich gesetzes- und tariftreu verhalten,
wollen wir hier ein Angebot machen.
Ich will deutlich sagen, dass es für ein solch schwieriges Problem, wie es sich uns hier stellt, sicherlich keine
einfachen Lösungen gibt.
Wie schwierig die Gefechtslage manchmal ist, erkennt man auch an manchen Beiträgen: Wenn der Kollege Rohde hier schon Lenin zitiert, dann sieht man
daran, dass das Problem, mit dem wir uns hier beschäftigen, kein Problem wie jedes andere ist.
({2})
Wir sind dankbar dafür, dass Sie, Kollege Rohde - unter
Hinweis auf wen auch immer und unter Hoffnung auf
was auch immer -, für die Liberalen die Unterstützung
dieses Gesetzentwurfs signalisiert haben.
Natürlich hat es - das will ich deutlich sagen - Gespräche darüber gegeben, wie wir mit diesem Problem
verfahren sollen. Wir machen Anhörungen nicht einfach nur, weil uns irgendwelche Vorschriften dazu zwingen, sondern weil wir auf das, was dort gesagt wird, hören wollen, weil wir das nacharbeiten und daraus
Konsequenzen ziehen. Sie dürfen dem Minister nicht
vorwerfen, man hätte ihn dazu bringen müssen, Zwangsbeglückungen zu verhindern. Wir haben alle - schon in
der ersten Lesung des Gesetzentwurfs - gesagt: Wir wollen keine Zwangsbeglückung anderer Branchen. Wir haben in der Tat eine vernünftige Regelung gefunden, um
das zu verhindern.
({3})
Bezüglich der Ausweitung auf andere Branchen
- das sage ich genauso klar - meinen wir, was wir sagen.
Wir wollen in der Bauwirtschaft jetzt ein neues Instrument ausprobieren. Die Wirkung werden wir sehr genau
analysieren. Wenn sich dieses neue Instrument in der
Bauwirtschaft bewährt, dann liegt es im Interesse der
großen Koalition, dass dieses Instrument auch auf andere Branchen angewandt wird, weil wir die effektive
Bekämpfung der Winterarbeitslosigkeit überall dort wollen, wo sie ein Problem darstellt. Das ist unser Ziel, das
wir auch realisieren werden. Wir werden dieses Problem
angehen. Wir werden keine Schnellschüsse machen,
sondern ein ordentliches und evaluiertes Instrument anwenden.
({4})
Es geht nicht darum, irgendetwas auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben. Wir müssen vielmehr von
der gegenwärtigen Situation ausgehen. Wie sieht diese
Situation aus? Dieses Gesetz wird seine Wirkung nur
dann entfalten, wenn die Tarifparteien Regelungen treffen, die zu diesem Gesetz passen. Es geht nicht darum,
dass irgendwer der Erfüllungsgehilfe des anderen ist.
Weder ist der Gesetzgeber der Erfüllungsgehilfe der Tarifvertragsparteien noch umgekehrt. Die Regelungen
beider müssen sinnvoll ineinander greifen, damit dieses
Instrument wirken kann.
Zum jetzigen Zeitpunkt haben wir nur in der Bauwirtschaft Rahmenbedingungen, zu denen dieses Gesetz passen kann. Das ist nicht - das ist völlig klar - von heute
auf morgen in anderen Branchen zu schaffen. Andere
Branchen werden zwei Winter lang die Gelegenheit haben, sehr sorgfältig zu analysieren, wie dieses Instrument in der Bauwirtschaft funktioniert. Danach können
sie die Entscheidung treffen, ob sie es auch in ihrem Bereich wünschen. Wir hoffen, dass dieses Instrument insgesamt zu einer Vermeidung von Winterarbeitslosigkeit
führt. Das gilt selbstverständlich immer dann, wenn die
Branchen das wollen. Wir wollen keine Verabredung zulasten Dritter. Wir wollen auch nicht, dass politisch entschieden wird, welche Branchen etwas Neues machen
sollen.
Wir sind der festen Überzeugung, dass die Tarifvertragsparteien - sie sind am nächsten dran - ein entscheidendes Wort dabei mitzureden haben, was in ihrem
Bereich passieren soll. Aufgabe des Gesetzgebers ist es
gleichwohl, die Gemeinschaft der Beitragszahler vor
Verträgen und Vereinbarungen zulasten Dritter zu schützen. Genau das tun wir mit diesem Instrument.
({5})
Herr Kollege Rohde, Sie haben das Problem angesprochen, dass mit Leistungen der Bundesagentur für
Arbeit andere Leistungen begründet werden können.
({6})
Man muss in diesem Zusammenhang sagen, woher dies
eigentlich kommt. Wir machen jetzt zwar etwas Neues
für die Bauwirtschaft. Es ist aber nicht so, als hätte es
dort bisher keine Regelung zur Winterförderung gegeben. Das, was Sie hier kritisieren, gilt immer für das Zusammenspiel von Lohnersatzleistungen bzw. verschiedener arbeitsmarktpolitischer Instrumente. Zurzeit wird die
Winterbauförderung nicht auf das Arbeitslosengeld angerechnet.
Ich bitte darum, sich daran zu erinnern, was bezüglich
der umlagefinanzierten Leistungen vereinbart wurde.
Das Mehraufwandswintergeld wird gezahlt, wenn jemand kurzarbeitet, nicht bei Kurzarbeit gleich null, sondern wenn jemand grundsätzlich Kurzarbeit macht, in
dieser Zeit aber stundenweise arbeitet. Wollen Sie denn
jemandem, der zehn oder 20 Stunden gearbeitet und dafür auch den entsprechenden Zuschlag erhalten hat, am
Ende sagen: „Wir behandeln dich so, als hättest du in
dem betreffenden Monat nicht gearbeitet, und ziehen dir
das Geld vom Arbeitslosengeld ab, das gezahlt wird,
wenn keine Arbeit geleistet wird“? Das geht doch nicht.
Welchen bürokratischen Aufwand wollen Sie hier eigentlich betreiben? Fragen Sie doch einmal im Arbeitgeberlager nach, ob die einen solchen bürokratischen Aufwand wollen. Man muss doch einen vernünftigen
Mittelweg gehen und zusätzliche Bürokratie, wo sie vermeidbar ist, wirklich vermeiden. Das tun wir mit diesem
Gesetz.
({7})
Natürlich wird die Frage, ob man in größerem Maße
als früher von einer Beitragsleistung in eine andere übergeht, im Rahmen der Evaluation, die wir vornehmen
werden, eine Rolle spielen. Das ist vollkommen klar.
Wenn sich da Probleme ergeben, wird der Gesetzgeber
handeln.
({8})
Es hat eine Reihe von Gesprächen gegeben, die zu
den Änderungsanträgen geführt haben, die gestern im federführenden Ausschuss eine Mehrheit gefunden haben.
Ich will mich in diesem Zusammenhang bei all denen,
die daran mitgewirkt haben, herzlich bedanken. Ich will
mich auch noch einmal ausdrücklich an den Kollegen
Klaus Brandner wenden, der gesagt hat, es seien alle
Versuche abgewehrt worden, an der Mitbestimmung zu
rütteln. Ich möchte vor Legendenbildung warnen, lieber
Kollege Brandner; denn ich war bei ein paar Gesprächen
zu diesem Thema dabei, um nicht zu sagen: bei allen.
Dass in diesen Gesprächen die sozialdemokratische
Seite Versuche, an der Mitbestimmung zu rütteln, hätte
zurückweisen müssen, daran kann ich mich mit Verlaub
nicht erinnern.
({9})
Die Tarifvertragsparteien haben in der Zwischenzeit
eine Klarstellung vorgenommen, und zwar dahin gehend, dass der Arbeitgeber in der Schlechtwetterzeit
über die Fortsetzung, Einstellung oder Wiederaufnahme
der Arbeit nach Beratung mit dem Betriebsrat letztlich
nach seinem pflichtgemäßen Ermessen alleine entscheidet. Das ist die Vereinbarung, die die Tarifvertragsparteien getroffen haben. Wir sorgen mit diesem Gesetz dafür, dass diese Vereinbarung, wie auch all die anderen
Vereinbarungen, die die Tarifvertragsparteien beschlossen haben, gelten.
Ich will es deutlich sagen: Mitbestimmung und soziale Gerechtigkeit in schwieriger Zeit und unter neuen
Bedingungen ist nichts, was man Christdemokraten und
Christlich-Sozialen mühsam abringen muss. Soziale Gerechtigkeit und gerechte Teilhabe sind unser Herzensanliegen; das muss man uns nicht abringen. Dafür stehen
wir als große Volkspartei.
({10})
Deswegen werden wir diesen Regelungen zur Durchsetzung verhelfen, und zwar in dem Wissen, dass es Risiken gibt und dass niemand vorhersagen kann, wie sich
der Wegfall der Stunden, die vorher zu leisten waren,
auswirken wird. Wir begrenzen jedoch die möglichen
Risiken und werden die Kostenentwicklung im Auge haben.
Es geht hier um ein vernünftiges Miteinander von
gesetzlichen und tariflichen Regelungen. Wir alle gemeinsam müssen ein großes Interesse daran haben, dass
die Anreize, die wir zur Aufrechterhaltung und zur Weiterentwicklung der Flexibilisierung in der Bauwirtschaft
setzen, genutzt werden. Deshalb kann ich nur dahin gehend appellieren und alle bitten, mit dafür zu sorgen,
dass die Arbeitszeitguthaben, die es in den allermeisten
Betrieben gibt, breit zur Anwendung kommen. Denn
dieses Gesetz basiert darauf, dass im Sommer über Arbeitszeitguthaben Überstunden angehäuft werden, die
ohne Belastung der Allgemeinheit der Beitragszahler im
Winter abgebaut werden können. Das ist im Interesse der
Allgemeinheit, aber auch im Interesse der Arbeitgeber,
da sie dadurch das Auszahlen von Überstunden mit entsprechenden Zuschlägen im Sommer vermeiden. Der
Gesetzgeber hat alles in seiner Macht Stehende getan,
um zu einer vernünftigen Regelung zu kommen.
Ich appelliere an alle Beteiligten in der Bauwirtschaft,
auch an die, bei denen die entsprechende Regelung noch
fehlt, ihren Teil dazu beizutragen, dass es nicht zu Missbrauch kommt. Der Gesetzgeber hat seinen Teil getan.
Jetzt sind die Tarif- und Betriebsparteien in der Bauwirtschaft gefordert, das umzusetzen, damit wir zu einer guten gemeinsamen Regelung kommen.
({11})
Ich freue mich, dass sich bei der Verabschiedung dieses Gesetzes eine breite Zustimmung abzeichnet. Ich
will deutlich sagen: Dies ist der gemeinsame Wille der
Fraktionen der großen Koalition und auch der Wille der
Fraktionsführungen.
In diesem Zusammenhang will ich eines klarstellen
- denn gelegentlich höre ich Bemerkungen, die Kanzlerin solle sich mehr um die Innenpolitik kümmern -:
({12})
Ich gehe davon aus, dass niemand böswillig behauptet,
sie habe dies in der Vergangenheit nicht getan. Dennoch kann ich jedem, den es betrifft, nur sagen: Wenn
es um Arbeitszeitguthaben, Winterausfallgeld-Vorausleistungen, Ersatzleistungen und vieles andere geht,
können viele hier in diesem Hause von der Kanzlerin
noch eine Menge lernen;
({13})
denn sie kennt sich damit aus und hat sich auch maßgeblich darum gekümmert, dass diese Regelung zustande
gekommen ist.
({14})
Der Arbeitsminister sieht mich gerade an. Natürlich
gilt das auch für ihn. Es wäre ja auch seltsam, wenn es
nicht so wäre.
({15})
Die Botschaft, die von diesem Gesetzentwurf ausgeht, lautet: Dieses Land hat eine gute Bundeskanzlerin.
Der Vizekanzler ist fast genauso gut;
({16})
das ist ebenfalls eine wichtige Nachricht. Diese Botschaft kommt in den Regelungen, auf die wir uns verständigt haben, zum Ausdruck.
Nach intensiven Beratungen ist ein guter Gesetzentwurf zustande gekommen. Ich freue mich über die Zustimmung im federführenden Ausschuss und hoffe, dass
wir sie auch im Parlament finden werden. Ich wünsche
all denjenigen, die von dem Inhalt dieses Gesetzes betroffen sind, dass es die Wirkungen entfaltet, die wir uns
gemeinsam von ihm versprechen. Ich wünsche also vor
allem all denjenigen, die in der Bauwirtschaft beschäftigt sind, für die nächsten Jahre viel Arbeit.
Vielen Dank.
({17})
Ich erteile nun das Wort der Abgeordneten Kornelia
Möller, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Alle Jahre wieder kommen
im Winter zu den Millionen Menschen ohne Arbeit noch
Hunderttausende hinzu und alle Jahre wieder bietet die
Politik keine befriedigende Lösung dieses Problems an.
Das soll sich nun ändern.
Ja, das Gesetz, das wir heute verabschieden, ist längst
überfällig und es ist nötig. Erinnern wir uns: Im
Jahre 1995 wurde das Schlechtwettergeld von der Regierung Kohl ersatzlos gestrichen. Eine gut funktionierende Regelung fiel den Sparanstrengungen des damaligen Finanzministers Theo Waigel zum Opfer. Waigel
befand, das Schlechtwettergeld sei zu teuer und belaste
die Bundesanstalt für Arbeit über Gebühr.
({0})
Das Ergebnis dieses kurzsichtigen sozialen Einschnitts
war und ist ein erheblicher Anstieg der saisonalen Arbeitslosigkeit in den Bauberufen und ähnlich witterungsabhängigen Branchen - alle Jahre wieder. Ausbaden
müssen dies die Bauarbeiter in Hamburg und Leipzig, in
München und Schwerin.
Aber unter dem Strich wurden nicht nur sie, sondern
wurde auch die Bundesanstalt für Arbeit zusätzlich belastet. In diesem langen, harten Winter wirkt sich das besonders negativ aus und es erschwert die Lage der ohnehin bereits gebeutelten Beschäftigten der Bau- und
Baunebengewerke sowie der Unternehmen dieses Zweiges zusätzlich. Das Fehlen einer Schlechtwettergeldregelung hat die Zahl der Arbeitslosen mit in die Höhe getrieben. Viele Menschen stehen auf der Straße; sie
erwarten zu Recht auch von der Politik eine Regelung.
Wir als Linksfraktion begrüßen, dass ein gelungenes,
wenn sicherlich auch nicht ganz einfaches Gemeinschaftswerk zwischen der öffentlichen Hand, den zuständigen Gewerkschaften sowie den beteiligten Unternehmerverbänden zustande gekommen ist.
({1})
Das ist ein zufrieden stellendes Ergebnis, vor allem für
die Hauptbetroffenen: die Beschäftigten des Baugewerbes und ähnlicher witterungsabhängiger Branchen. Das
ist doch schon mal was, im Gegensatz zu anderen Projekten, mit denen hoch geschraubte Versprechen abgegeben wurden, die dann aber entweder im Sande verliefen
oder die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes in Armut führten und ihnen ihre Bürgerrechte aberkannten.
So viel zum Stichwort Reformen.
Ich danke denen, die diesen Gesetzentwurf vorbereitet haben. Dabei handelt es sich insbesondere um die
Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt, den Zentralverband des Deutschen Baugewerbes und den Hauptverband der Deutschen Bauindustrie.
({2})
Sie schufen im Juli vergangenen Jahres mit ihrer tariflichen Vereinbarung zur Weiterentwicklung der Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauindustrie
die praktischen Voraussetzungen dafür, dass dieses
Gesetz, wenn es dann beschlossen ist, erstmals im
Winter 2006/2007 wirksam werden kann.
Ganz wesentlich ist, dass mit dieser Regelung ein
Weg beschritten wird, der sichert, dass sich beide Tarifpartner aktiv an der Beschäftigungssicherung in ihrer
Branche beteiligen.
Vom Gesetzgeber erwarten wir, nun unverzüglich zu
prüfen, welche weiteren Branchen in den Geltungsbereich des vorliegenden Gesetzes einbezogen werden
können.
({3})
Das sind bei 5 Millionen Arbeitslosen kleine Schritte,
aber immerhin weisen sie diesmal in die richtige Richtung.
Die Anregungen des DGB, der eine Ausweitung auf
weitere Branchen vorschlägt, zum Beispiel auf das Hotel- und Gaststättengewerbe in den Saisongebieten, die
Verarbeitung von landwirtschaftlichen Produkten, den
Erwerbsgartenbau sowie den Kabel- und Freileitungsbau, unterstützen wir ausdrücklich. Umso mehr bedauern wir, dass die Regierungskoalition kurzfristig mit einem Änderungsantrag die Hürden für die dringend
notwendige Einbeziehung weiterer Branchen sehr hoch
gelegt hat. Erst im Winter 2008/2009 soll es möglich
sein - und dann ausschließlich auf Basis eines neuen Gesetzes und nicht, wie ursprünglich vorgesehen, im Rahmen einer Rechtsverordnung des BMA -, weitere Branchen einzubeziehen.
Gestern erreichte mich eine Resolution - es ist nicht
die einzige, aber ich führe sie exemplarisch an - von Betriebsräten und Beschäftigten der Ziegelindustrie, die um
ihre Arbeitsplätze fürchten, sollte das Gesetz sie ausschließen. Sie schreiben ganz konkret: Das Gesetz zur
Förderung ganzjähriger Beschäftigung könnte die Rettung für viele Familien sein, die sonst in das ALG II gingen. Auch sie weisen darauf hin, dass die Bundesagentur
für Arbeit durch die Begrenzung auf wenige Branchen
weit stärker finanziell belastet würde. Um auf Ihren Ausdruck zurückzukommen, Herr Brauksiepe: Eine
Zwangsbeglückung würden sie gerne annehmen.
({4})
Ich muss mich schon fragen: Reden Sie denn nicht
mit den Menschen vor Ort, kriegen Sie so etwas nicht
mit, sprechen sie nicht mit den Leuten? Oder haben Sie
keine Ahnung, haben Sie niemanden, der sich mit der
Materie auskennt? Denn es ist doch so, dass man zunächst einmal nachdenken und nachfragen muss, ehe
man ein Gesetz verabschiedet.
({5})
Die Beschäftigten der Ziegelindustrie sind nicht die
Einzigen, die vergessen werden. Es trifft auch Beschäftigte, die zwar saisonalen, aber keinen Witterungseinflüssen ausgesetzt sind, zum Beispiel Künstler, vor allem Schauspieler und künstlerische Produktionskräfte,
die zwischen ihren Engagements immer wieder arbeitslos sind. Auch hier müssen dringend Lösungen gefunden
werden.
({6})
Ich möchte daran erinnern, dass 2003 im Zuge von
Hartz III die so genannte Anwartschaftszeitverordnung nach § 123 SGB III von Rot-Grün ersatzlos gestrichen wurde. Alle Betroffenen, die nicht mehr als acht
Beschäftigungsmonate pro Jahr erreichen, sind seitdem
nicht mehr in der Lage, ihre Phase von witterungsbedingter und/oder saisonaler Arbeitslosigkeit mit dem
Arbeitslosengeld I zu überbrücken, weil sie den dafür
nötigen Anspruch nicht mehr aufbauen können. Um einmal eine Zahl zu nennen: Nach Berechnungen der
IG BAU sind von dieser Regelung allein im Bauhauptgewerbe 400 000 Beschäftigte betroffen.
Trotz der hohen Zahl der betroffenen Menschen sah
es eine Weile so aus, als würden die Beschäftigten der
Bauindustrie noch länger auf eine zufrieden stellende
Schlechtwetterregelung warten müssen. Denn während
der ersten Ausschussberatung zog Schwarz-Rot plötzlich
die eingereichte Vorlage zurück. Anlass waren vermutlich Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Regierungslagers
({7})
- genau -, hervorgerufen durch den Widerstand der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Im
Kern ging es dabei um den Vorwurf, die Beschäftigten
der Bauindustrie könnten mit dem Saisonkurzarbeitergeld zu gut wegkommen. Ich empfehle den Verantwortlichen der BDA, sich nicht von einer neoliberalen Ideologie oder von Sozialneid leiten zu lassen, sondern sich
stattdessen der Realität zu öffnen.
({8})
Es ist also vor allem den weit fortgeschrittenen Tarifverhandlungen der Verbände der Baubranche und der
IG BAU zu verdanken und damit dem gewerkschaftlichen Druck - das zu betonen, ist in dieser Zeit besonders
wichtig -, dass der vorliegende Gesetzentwurf den Weg
in die heutige Sitzung des Bundestages geschafft hat.
Wir werden dem Gesetz zur Förderung ganzjähriger
Beschäftigung zustimmen und wir werden uns dafür engagieren, dass auch die Beschäftigten ähnlicher, durch
saisonale Schwankungen gefährdeter Bereiche von diesen Regelungen profitieren können.
Lassen Sie mich abschließend noch eines sagen: Wir
werden unseren Kampf gegen Hartz IV im Interesse aller Menschen, die von Erwerbslosigkeit bedroht oder betroffen sind, weiter führen.
({9})
Ceterum censeo: Hartz IV ist ein schlechtes Gesetz.
Hartz IV muss weg.
Danke.
({10})
Das Wort hat nun die Kollegin Brigitte Pothmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
Ihnen von der großen Koalition bereits im Januar bescheinigt, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf, der ein
Saisonkurzarbeitergeld vorsieht, ein richtiges Ziel verfolgen. Wir unterstützen dieses Vorhaben ausdrücklich;
denn Sie greifen damit unserer Meinung nach ein Problem auf, das immer mehr Beschäftigte betrifft. Denn
unsichere Arbeitsverhältnisse und diskontinuierliche
Erwerbsverläufe nehmen einen immer größeren Raum in
unserer Gesellschaft ein.
Damit komme ich auch schon zum eigentlichen Problem. Von solchen unsicheren Arbeitsverhältnissen sind
sehr viele Menschen in sehr vielen verschiedenen Branchen betroffen; sie sind kein Alleinstellungsmerkmal der
Baubranche.
({0})
Sie aber legen hier leider einen Gesetzentwurf vor,
den man als Auftragsarbeit für die Bauwirtschaft, als
eine Lex Baubranche bezeichnen kann. Die darin enthaltenen Regelungen sind explizit auf die Bauwirtschaft
ausgerichtet. Es besteht nicht die Möglichkeit, die Regelungen auf andere Branchen zu übertragen.
({1})
Die Regelungen dieses Gesetzentwurfs beschränken sich
auf witterungsbedingten Arbeitsausfall in der Zeit von
Dezember bis März und sind nur für Arbeitgeber mit
entsprechendem Tarifvertrag attraktiv. Das trifft auf andere Bereiche, wie im Übrigen auch im Gesetzentwurf
zu lesen ist - auch Sie, Herr Brandner, haben das gerade
gesagt -, leider nicht zu. Beides stellt zielgerichtet auf
die Baubranche ab. Das hat die Anhörung sehr deutlich
gemacht. Mit ihrem Änderungsantrag hat die große Koalition das quasi eingestanden.
Aber, Herr Brandner, Herr Brauksiepe, es gibt immer
mehr Bereiche, in denen solche Probleme, die schon
ganz richtig und ausführlich beschrieben wurden, auftreten. In immer mehr Arbeitsfeldern wird projektbezogen
gearbeitet, zum Beispiel in der Film- und Medienindustrie, bei den Kulturschaffenden und immer mehr auch in
der Wissenschaft.
Das Problem ist auch nicht auf die Winterarbeitslosigkeit beschränkt; in diesem Punkt ist Ihre Annahme ebenfalls falsch. Was ist zum Beispiel mit der Wintergastronomie? Was ist mit bestimmten Zweigen der
Landwirtschaft? Denken Sie nur an die Jobs an den Skiliften oder in der Alm- und Gondelwirtschaft! Hier ist
der Arbeitsanfall im Winter groß; die Angestellten
bräuchten im Sommer ein Kurzarbeitergeld. All die Probleme, die hier beschrieben worden sind, treffen auch
die Beschäftigten in diesen Bereichen. Aber denen reichen Sie nicht die helfende Hand; denen zeigen Sie die
kalte Schulter. Für Sie ist der Wetterfrosch nur von Dezember bis März ein Risikopatient auf dem Arbeitsmarkt. Das wird der Wirklichkeit aber leider nicht gerecht.
({2})
Ich finde diese Regelung deshalb so überraschend,
weil Sie in Ihrem Gesetzentwurf und in Ihrer Rede die
umfassend positiven Wirkungen beschrieben haben.
Sie haben gesagt, dass durch das Kurzarbeitergeld circa
25 Prozent der saisonbedingten Entlassungen vermieden werden könnten.
Außerdem haben Sie gesagt, dass damit Einsparungen
bei der Bundesagentur für Arbeit, aber auch beim Bund
verbunden sein könnten. Ich frage Sie: Warum wollen
Sie diese positiven Effekte so stark begrenzen? Das sind
doch Argumente dafür, diese Maßnahme auch auf andere Branchen auszuweiten.
Ganz offensichtlich trauen Sie Ihren eigenen Aussagen nicht wirklich über den Weg. Wie sonst wäre dieser
zweijährige Feldversuch, den Sie nur für die Baubranche
vorsehen - das betone ich noch einmal ausdrücklich -,
zu verstehen? Vor 2008 dürfen sich andere Branchen
nicht bewegen; sie werden sonst erschossen.
({3})
Das ist ein falscher Weg.
Ich will Ihnen noch etwas sagen: Ich halte Wirkungsforschung ausdrücklich für richtig. Ich finde schon, dass
man Instrumente, die man einführt, nach einer gewissen
Phase daraufhin überprüfen muss, ob sie tatsächlich die
Wirkung haben, die man sich erhofft hat. Wenn Sie die
Wirkungsforschung aber so eng begrenzen, nämlich auf
die Bauwirtschaft, dann werden Sie natürlich keinerlei
Erkenntnisse darüber gewinnen, wie diese Regelung in
anderen Branchen wirken wird. Es gibt dann nämlich
keine Möglichkeit, zu sagen: Okay, wenn wir das und
das tun, dann hat das in der Gastronomiebranche diese
und jene Wirkung. Sie werden nach zwei Jahren sagen
können, wie sich das in der Bauwirtschaft auswirkt. Damit bleibt die Begrenzung aber weiterhin bestehen; denn
Erkenntnisse darüber, wie sich eine Übertragung bewerkstelligen lässt, werden Sie auf diese Weise nicht gewinnen.
Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Auf
den Baustellen der Republik werden die Baggerfahrer
und die Betonmischer eine Ehrenrunde für die große Koalition drehen. Für alle anderen Branchen aber ist dieser
Gesetzentwurf - und das trotz des Einsatzes der Kanzlerin - ein Meisterstück der Unentschlossenheit und Halbherzigkeit.
({4})
Dafür können Sie nicht allen Ernstes eine Unterstützung
von uns Grünen erwarten. Mehr als eine Enthaltung ist
leider nicht drin.
Ich danke Ihnen.
({5})
Für die Bundesregierung erhält nun der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes
zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung werden wir
die Winterarbeitslosigkeit im Baugewerbe effektiv und
nachhaltig bekämpfen. Dies haben sich CDU/CSU und
SPD bereits im Koalitionsvertrag als wichtiges Projekt
vorgenommen. Nun setzen wir diesen Teil der Koalitionsvereinbarung um. Damit ist klar, dass die Koalition
ihre Hausaufgaben erfüllt. Punkt für Punkt werden die
Dinge erledigt, die zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
notwendig sind.
Wenn man sich ausschließlich am Kalender orientieren würde, dann dürften wir uns alle miteinander freuen;
denn in vier Tagen ist Frühlingsanfang. Ich gehe davon
aus, dass Sie sich alle so wie ich auf wärmere Temperaturen freuen und dem hoffnungsvoll entgegensehen. Die
meteorologische Realität sieht leider anders aus: Der
kalte Winter hat Deutschland nach wie vor fest im Griff,
was mit einem erheblichen Einfluss auf den Arbeitsmarkt verbunden ist.
({0})
Durch die aktuelle Witterung wird uns noch einmal deutlich vor Augen geführt, dass das heute zu beratende Gesetz zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung notwendig und sinnvoll ist. Die Bundesregierung will damit die
Winterarbeitslosigkeit effektiv und nachhaltig bekämpfen.
Wie ist die Situation bisher? Allein für den Baubereich kann man feststellen, dass es Jahr für Jahr im Winter etwa 140 000 bis 150 000 Menschen gibt, die im November entlassen werden und denen man sagt: Melde
dich arbeitslos. Im April, wenn die Saison losgeht, stelle
ich dich wieder ein. - Die Folge ist, dass die Arbeitslosenversicherung alle Kosten für diese Arbeitslosen zu
tragen hat - die Sozialversicherungsbeiträge, das Arbeitslosengeld und alles, was damit zusammenhängt -,
sie der Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt in Wahrheit
aber überhaupt nicht zur Verfügung stehen, weil sie sich
darauf verlassen, dass ihr ehemaliger Arbeitgeber sie
wieder einstellt. Sie schlagen dieses Angebot nur aus,
wenn sie eine bessere Beschäftigung finden.
Diesen Zustand wollen wir ändern. Ziel ist, dass die
Betriebe ihre Beschäftigten nicht entlassen. Dafür wollen wir ein neues Instrument anbieten. Damit wollen wir
vor allem zwei Dinge erreichen: Wir wollen, dass die
Beschäftigungsverhältnisse der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in der Bauwirtschaft stabilisiert werden,
und wir wollen die tariflichen Ansätze zur Arbeitszeitflexibilisierung und die ganzjährige Beschäftigung durch
gesetzliche Maßnahmen besser als bisher flankieren.
Wir sind überzeugt, dass wir auf dem richtigen Weg
sind; denn von der ganzjährig sicheren Beschäftigung
profitieren alle. Der Bauarbeiter profitiert davon, weil
ihm nicht gekündigt wird und er seine Arbeit behält. Der
Betrieb profitiert davon, weil er seine Beschäftigten
nicht entlassen muss und so auch auf kurzfristige Aufträge reagieren kann. Auch die Bundesagentur für Arbeit, also die Arbeitslosenversicherung, profitiert davon,
weil damit die Kosten sinken.
({1})
Ich will ausdrücklich sagen, dass die Wirtschaft im
Sektor Bau - dazu gehören für mich die Arbeitnehmer
und die Gewerkschaften genauso wie die Arbeitgeber vorbildliche Arbeit geleistet hat. Sie hat nämlich entsprechende Tarifverträge abgeschlossen, die einen Mechanismus ermöglichen, auf den ich noch eingehen
möchte.
Zur Kurzarbeit muss man Folgendes wissen - das
sage ich für diejenigen, die diese Diskussion verfolgen -:
Das Instrument der Kurzarbeit gibt es auch bisher schon.
Ein Unternehmen kann aus konjunkturellen Gründen für
seine Beschäftigten Kurzarbeit anmelden, um deren Entlassung zu vermeiden. Ein anderer Grund können strukturelle Umsteuerungen sein, wenn also ein Betrieb umgebaut oder ein Standort geschlossen wird. Auch dann kann
Kurzarbeit gemacht werden.
Wir erweitern nun dieses Instrument, indem wir die
Kurzarbeit auch bei saisonalen Schwankungen ermöglichen; das ist etwas Neues. Kurzarbeit bedeutet, dass der
Arbeitgeber für die Beschäftigten, für die er Kurzarbeit
beantragt und die Kurzarbeit machen, die Sozialversicherungsbeiträge in vollem Umfang zahlen muss. Das
hat natürlich zur Folge, dass sich viele Betriebe überlegen, ob sie überhaupt Kurzarbeit anmelden. Das hätte
nämlich zur Folge, dass die Arbeitnehmer nicht arbeiten,
der Arbeitgeber aber die Sozialversicherungsbeiträge
Monat für Monat abführen muss.
Die Bauwirtschaft hat es nun durch tarifvertragliche
Vereinbarungen ermöglicht, dass dem Arbeitgeber, der
für seine Beschäftigten Kurzarbeit anmeldet, die dafür
anfallenden Sozialversicherungsbeiträge durch ein Umlagesystem erstattet werden. Das ist ein Instrument der
Solidarität; denn alle Unternehmer, auch diejenigen, bei
denen es keine Kurzarbeit gibt, müssen in dieses System
einzahlen, damit denjenigen, die Kurzarbeit anbieten,
die anfallenden Sozialversicherungsbeiträge erstattet
werden können. Nur so ist Kurzarbeit für Arbeitgeber attraktiv.
Für die Arbeitnehmer gibt es Arbeitszeitkonten. Ich
will hier noch einmal ausdrücklich sagen: Diese Arbeitszeitkonten gibt es in der Bauwirtschaft schon länger. Bisher war es so, dass der Arbeitnehmer, bevor er das Wetterausfallgeld in Anspruch nehmen konnte, 30 Stunden
durch sein Kontingent abgelten musste. Von der 31. bis
zur 100. Stunde musste der Arbeitgeber zahlen und ab
der 101. Stunde sprang dann die Bundesagentur für Arbeit ein. Dies wird jetzt durch das Umlagesystem in der
Bauwirtschaft von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gezahlt. Die Arbeitnehmer erhalten für jede Stunde, die sie
im Winter bei schlechtem Wetter leisten, für die also
Kurzarbeit nicht in Anspruch genommen wird, auf den
Stundenlohn einen Zuschlag von 2,50 Euro.
Die Bundesregierung und die Tarifvertragsparteien
sind sich darüber einig, dass die gefundene Lösung für
die Arbeitnehmer attraktiv ist und nicht dazu führen
wird, dass Kurzarbeit leichtsinnig angemeldet wird, sonParl. Staatssekretär Gerd Andres
dern dass die vorhandenen Arbeitszeitkonten der Arbeitnehmer im Winter eingesetzt werden, weil das auch für
die betroffenen Arbeitnehmer eine attraktive Alternative
ist.
Die Bundesregierung wünscht sich - das hat sie auch
im Gesetzentwurf, der im Kabinett beschlossen wurde,
festgelegt -, dass diese Möglichkeit auch auf andere
Branchen übertragen wird. Herr Dr. Brauksiepe hat das
in seiner Rede ausdrücklich auch für die Union erklärt.
Ich bin Herrn Dr. Brauksiepe, Klaus Brandner und den
Koalitionsfraktionen außerordentlich dankbar.
Wenn sich das Instrument als wirkungsvoll erweist
- es wird über zwei Winterabschnitte hinweg in seiner
Wirkung erprobt und evaluiert -, dann wollen wir die
Möglichkeit schaffen, dass es auch von anderen Branchen genutzt werden kann.
({2})
Deswegen stelle ich an meine Vorrednerin Frau Pothmer
gewandt ausdrücklich fest: Es stimmt nicht, dass andere
erschossen werden, sobald sie sich bewegen. Was ist das
übrigens für eine militärische Ausdrucksweise für eine
Grüne? Ich muss schon sehr bitten.
({3})
Das stimmt nicht. Ich fordere vielmehr die anderen
Branchen auf: Machen Sie Ihre Hausaufgaben und treten
Sie in Verhandlungen ein! Die Maler und Lackierer haben das getan. Für andere gilt das genauso. Denn es sind
tarifliche Regelungen notwendig, damit man das Instrument nutzen kann. Darauf müssen sie vorbereitet sein.
Ich bin durchaus hoffnungsvoll. Wir probieren das Instrument in zwei Winterperioden - nämlich im Winter
2006/2007 und 2007/2008 - aus. Dann wird im Jahr
2008 für die Periode 2008/2009, also interessanterweise
vor der Bundestagswahl, vom Gesetzgeber - es liegt in
den Händen des Gesetzgebers, also der Mehrheit dieser
Regierungskoalition - zu prüfen sein, ob es für andere
Branchen geöffnet werden soll.
Wenn wir Erfolg haben, dann werden wir das Instrument für andere Branchen öffnen und dann müssen diese
Branchen ihre Vorarbeit geleistet haben. Deswegen fordere ich alle, die Interesse haben, auf: Kommt in die Puschen und schafft entsprechende Umlagesysteme und
Arbeitszeitkonten! Dann kann man dieses System wunderbar nutzen und es wird allen nutzen, die von saisonalen Beschäftigungsschwankungen betroffen sind.
({4})
Ich komme zu einem letzten Gedanken. Es ist wahr:
Wir haben etwas Zeit verloren. Wir hätten das Vorhaben
früher umsetzen müssen. Dazu waren Verhandlungen
notwendig. Ich habe die Hoffnung und bitte darum, dass
der Gesetzentwurf im Bundesrat zügig beraten und umgesetzt wird.
Mein zweiter Wunsch ist, dass wir das Gesetz möglichst unbürokratisch umsetzen. Der Bundesregierung ist
es ernst mit dem Thema Bürokratieabbau.
({5})
Das soll auch beim neuen Saisonkurzarbeitergeld gelten.
Deswegen sollten wir, statt weitere bürokratische Hürden aufzubauen, für ein unbürokratisches Verfahren sorgen.
({6})
Ich komme nun zu meinem Anfangsgedanken zurück.
Noch ist es Winter, auch am Arbeitsmarkt. Aber - auch
die Medien berichten darüber - der Frühling ist bereits
zu spüren. Er ist auch am Arbeitsmarkt zu spüren. Ich
fordere Sie ausdrücklich auf: Helfen Sie mit, dass der
Gesetzentwurf - es gibt schließlich eine breite Zustimmung dazu - mit den Tarifvertragsparteien zügig in die
Praxis umgesetzt werden kann! Mein ausdrücklicher
Dank gilt Frau Falk, Herrn Dr. Brauksiepe, Klaus
Brandner und den Kolleginnen und Kollegen meiner
Fraktion, ({7})
Herr Staatssekretär, Sie können nicht alle namentlich
aufführen.
- dass sie mitgeholfen haben, dass wir diesen Gesetzentwurf heute beschließen können.
Herzlichen Dank.
({0})
Peter Rauen ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits bei
der Einbringung des Gesetzentwurfs haben alle im
Hause deutlich gemacht, dass es uns ein großes Anliegen
ist, ganzjährige Beschäftigung in witterungsabhängigen
Branchen zu schaffen. Unser Arbeitsminister, Herr
Müntefering, hat gesagt, dass das keine Zwangsveranstaltung für die eine oder andere Branche sein soll, sondern ein Angebot für die Tarifparteien auf beiden Seiten.
Ich glaube, wir haben nach einer intensiven Beratung,
wie sie im Parlament selten stattfindet, erreicht, dass mit
dem Gesetzentwurf diese Vorgabe unseres Arbeitsministers auch erfüllt wird.
Der Vorwurf, dass die Regelung nur für die Baubranche gilt, geht meiner Meinung nach ins Leere, weil das
Gesetz zurzeit nur für diese Branche angewandt werden
kann; denn die anderen Tarifparteien haben noch keine
Regelungen getroffen, die die Anwendung dieses Gesetzes ermöglichen.
Wenn jetzt zum Beispiel die Land- und Forstwirtschaft, die Baustoffindustrie, das Maler- und Lackiererhandwerk und das Steinmetz- und Bildhauerhandwerk
Überlegungen anstellen, wie sie mit dem Gesetz in ihren
Branchen ganzjährige Beschäftigung ermöglichen können, dann kann durch die Evaluierung - also nach zwei
Winterperioden - festgestellt werden, ob das Gesetz die
gewünschte Wirkung erbracht hat, um es gegebenenfalls
auf andere Branchen ausdehnen zu können.
Frau Pothmer, Sie haben gesagt, das Gesetz sollte
auch für Branchen gelten, in denen im Winter Hauptsaison ist und im Sommer saisonbedingt Kurzarbeit erforderlich ist. Das lässt der Gesetzentwurf - mit ganz kleinen Änderungen - zu. Aber es ist wichtig, dass alle
erkennen, dass dieses Gesetz seinen Zweck erfüllt.
Ich will deutlich machen, wie sich die nun geplanten
Regelungen betreffend die Förderung ganzjähriger Beschäftigung von den bislang im Baugewerbe geltenden
unterscheiden - Ähnliches gibt es, angefangen mit dem
Schlechtwettergeld, seit Anfang der 80er-Jahre, wie es
Herr Andres soeben geschildert hat -, damit das Gesetz
erfolgreich wird und damit sich die Bauarbeiter im Winter nicht mehr arbeitslos melden müssen. Zurzeit ist es
so, dass jedes Jahr von Dezember bis März circa
280 000 Bauarbeiter arbeitslos werden, davon etwa
140 000 witterungs- und auftragsbedingt. Nach den bislang geltenden Regelungen müssen die Arbeitnehmer
selber 30 Stunden auf ein Arbeitszeitkonto einbringen,
bevor sie Winterausfallgeld bekommen. Die Unternehmen haben in die Sozialkasse des Baugewerbes eingezahlt, um die Kosten des Winterausfallgeldes und die
Sozialversicherungsbeiträge von der 31. Stunde bis zur
100. Stunde erstattet zu bekommen. Ab der 101. Stunde
hat eine Regelung gegriffen, wie wir sie nun in etwa vorhaben, nämlich dass der Unternehmer seinen Mitarbeitern die Ausfallstunden in Höhe des Arbeitslosengeldes
bezahlt. Allerdings muss er bislang die Sozialversicherungsbeiträge ab der 101. Stunde aus eigener Tasche
zahlen. Das hat dazu geführt, dass sich viele Unternehmer bereits im August bzw. September sorgenvoll gefragt haben, wie sie finanziell über den Winter kommen
sollen.
Für diese Unternehmer ändert sich generell etwas erheblich; denn es gilt demnächst, dass die Arbeitnehmer
von Dezember bis März ab der ersten Ausfallstunde
Saisonkurzarbeitergeld bekommen, und zwar nicht nur
bei schlechtem Wetter, sondern auch bei einer verminderten Auftragslage, die in der Regel mit der schlechten
Witterung im Winter einhergeht. Den Unternehmern
werden alle Kosten im Zusammenhang mit den Sozialversicherungsbeiträgen durch die Sozialkasse des Baugewerbes erstattet. Sie haben also kein individuelles Risiko mehr zu tragen, wenn sie die Bauarbeiter im Winter
weiterbeschäftigen.
Diese Botschaft ist wichtig: Die Unternehmer können
zusammen mit ihren Belegschaften dem Winter sorgenfrei entgegensehen; denn wenn es schlechtes Wetter gibt
bzw. die Arbeit ausgeht, dann können die Unternehmer
ohne individuelles Risiko auf das Saisonkurzarbeitergeld
zurückgreifen. Ich bin sicher, dass das im Gegensatz zu
allen bisherigen Regelungen zur Winterbauförderung
Wirkung haben wird und dass die Zahl der durch Witterung und Arbeitsausfall bedingten Entlassungen erheblich zurückgehen wird.
Es dürfen aber keine Fehlanreize entstehen, weil
sonst das Gesetz ins Leere geht; das ist ein ganz wichtiger Punkt. In der Anhörung ist darauf hingewiesen worden, dass etwa 70 Prozent der Baufirmen Arbeitszeitkonten führen und dass davon wiederum die große
Mehrheit in den letzten Jahren gar kein Winterausfallgeld benötigt hat. Man hat bis zu 150 Stunden vorgearbeitet und ist damit - einschließlich Urlaub - über den
Winter gekommen. Das heißt, diese Firmen müssen auch
in Zukunft so handeln, weil mit dieser Flexibilisierung
ein hohes Maß an Produktivität erreicht worden ist. Das
ist ein entscheidender Punkt.
Nach dem Gesetz zahlen Arbeitnehmer 0,8 Prozent
und Arbeitgeber 1,2 Prozent in die Kasse ein. Wer einzahlt, der will irgendwann auch etwas herausbekommen.
Die Firmen, die bereits ganzjährige Beschäftigung auf
freiwilliger Basis erreicht haben - das sind die meisten -,
dürfen wir nicht bestrafen. Es ist daher äußerst wichtig,
dass den Bauarbeitern für jede ausgefallene Arbeitsstunde, zu deren Ausgleich sie ihre Arbeitszeitkonten,
für die sie im Sommer vorgearbeitet haben, einsetzen,
um Winterarbeitslosigkeit zu vermeiden, 2,50 Euro
steuer- und sozialversicherungsfrei gezahlt werden. Das
bedeutet, dass ein Bauarbeiter, der 150 Stunden vorgearbeitet hat und sich diese Überstunden im Sommer nicht
auszahlen lässt, im Winter mit 375 Euro netto zusätzlich
belohnt wird. Dieser Bauarbeiter bekommt des Weiteren
ein Mehraufwandswintergeld in Höhe von 1 Euro pro
geleistete Arbeitsstunde in der Zeit vom 15. Dezember
bis zum letzten Kalendertag des Monats Februar. Dadurch kann er noch einmal - bis maximal 450 Stunden,
die man eigentlich nicht erreichen kann - zusätzlich
circa 100 bis 250 Euro netto bekommen. Das ist für jemanden, der ein Bruttoeinkommen von 30 000 Euro im
Jahr hat und netto 21 000 Euro ausgezahlt bekommt,
eine ganze Menge Geld.
Ich gehe davon aus, dass die Unternehmer, die jetzt
flexibilisiert haben, auch in Zukunft bereit sind, zu flexibilisieren, weil es diesen Anreiz gibt, und dass diejenigen, die in die Kasse einbezahlen, ohne dass sie Kurzarbeitergeld in Anspruch nehmen, sich so wie bisher
verhalten werden. Anders verhält es sich mit denen, die
das nicht über Arbeitszeitkonten organisieren konnten.
So lässt zum Beispiel die Region, in der eine Firma beheimatet ist, das nicht immer zu. Ich weiß, wovon ich
rede. Mein Betrieb ist in der Eifel. Ob ich früher eine
Baustelle in Bitburg oder an der Mosel hatte, machte
beim Schlechtwettergeld einen Unterschied von zehn bis
20 Tagen aus. Es gibt also regionale Unterschiede.
Ich glaube, dass dieses Gesetz im Endergebnis wirklich seinen Zweck erfüllen wird. Wir haben wesentliche
Veränderungen vorgenommen. Wir sollten stolz darauf
sein, dass wir das gemeinsam geschafft haben.
({0})
Ich halte es für äußerst wichtig, dass wir in den Gesetzentwurf geschrieben haben, dass derjenige, der ein Arbeitszeitkonto einbringt, um über den Winter zu kommen, erst dann Kurzarbeitergeld bekommt, wenn die
Stunden in der Schlechtwetterzeit eingebracht sind. Die
Firmen, die keine Vereinbarungen getroffen haben, sind
davon nicht berührt. Es liegt aber in der Natur des Unternehmers, dass er produktiv arbeiten will. Wenn er es geschafft hat, zu flexibilisieren, dann wird er das auch beibehalten. Wichtig ist, dass seine Mitarbeiter aufgrund
des neuen Gesetzes nicht die Dummen sind und über die
2,50 Euro hinaus 1 Euro zusätzlich pro geleistete Stunde
im Winter bekommen. Das ist aus meiner Sicht für den
Erfolg des Gesetzes die entscheidende Regelung.
Ich sage ebenso wie Ralf Brauksiepe: Wenn das, was
wir erhoffen, eintritt und wir in zwei Jahren feststellen,
dass dieses neue Gesetz kostenneutral ist und es die
Lohnzusatzkosten nicht erhöht, dann werden wir als Parlament überhaupt kein Problem damit haben, diese Regelung auf andere Branchen zu übertragen. Lassen Sie
uns diese zwei Jahre Erfahrung sammeln! Wir tun alle
gut daran; denn nicht immer verhalten sich die Menschen so, wie wir als Politiker das gerne hätten.
({1})
Umgekehrt ist es übrigens genauso. Auch wir verhalten
uns nicht immer so, wie die Menschen es gerne hätten.
Das liegt in der Natur der Sache. Nach zwei Jahren haben wir die Erfahrung. Dann, Frau Pothmer, geht der
Vorwurf, das sei nur eine Sache für das Baugewerbe, ins
Leere. Dort geht es um rund 700 000 Mitarbeiter in
Deutschland. Aber in allen saisonabhängigen Branchen
sind 2,5 Millionen Menschen beschäftigt. Wenn wir da
eine ganzjährige Beschäftigung ermöglichen, dann ist
das sinnvoll für alle. Ich finde, der Gesetzentwurf ist gut.
Wir sollten ihn mutig vertreten und die Botschaft senden: Leute, ihr könnt mit eurer Belegschaft über den
Winter kommen. - Dann werden wir auch weniger Entlassungen im Winter haben.
Schönen Dank.
({2})
Bevor der Kollege Kolb das Wort erhält, erteile ich
dem Kollegen Küster das Wort zur Geschäftsordnung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr
Präsident! Wir sind in einer Kernzeitdebatte und die Präsenz in dieser Kernzeitdebatte - diesen Vorwurf richte
ich besonders an die eigene Fraktion - ist nicht überzeugend. Wir haben uns vor mehreren Jahren darauf verständigt, dass in der Kernzeit wichtige Debatten für die
Politik in Deutschland zu führen sind.
({0})
In den letzten Wochen hat sich gezeigt, dass die Präzenz
im Plenum bei den Debatten am Donnerstagvormittag
alles andere als den Kernzeitdebatten angemessen waren. Um zukünftig mehr Präsenz zu erreichen, beantrage
ich namens meiner Fraktion, dass wir die Abstimmung
zu dem jetzt debattierten Gesetzentwurf in der dritten
Lesung namentlich durchführen. Ich bitte meine Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen dafür
um Verständnis. Das bringt durchaus einige Unbequemlichkeiten mit sich, was nicht zu vermeiden ist. Sie haben aber, so glaube ich, durchaus Verständnis dafür, weil
wir hier in der Vergangenheit in der Kernzeit vor fast
leerem Saal debattiert haben. Das erklärt diesen Antrag.
Vielen Dank für Ihr Verständnis.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dazu fällt manchem
manches ein. Das kann bei anderer Gelegenheit noch
einmal ausgetragen werden. Ich will jetzt nur darauf aufmerksam machen, dass eine namentliche Abstimmung
nach § 52 unserer Geschäftsordnung stattfinden muss,
wenn eine Fraktion dies beantragt. Ich sage das, damit
sich alle darauf einstellen können.
Herr Kollege Küster, im Übrigen gehe ich davon aus,
dass Sie die Schriftführer frühzeitiger als das Präsidium
unterrichtet haben, damit sichergestellt ist, dass die namentliche Abstimmung mit einer hinreichend ordentlichen Besetzung der entsprechenden Abstimmungsurnen
durchgeführt werden kann.
({0})
Nun hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDPFraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
muss sagen - auch ich bin schon einige Zeit Abgeordneter in diesem Parlament -: Herr Küster, ich habe wiederholt erlebt, dass Mitglieder der Bundesregierung herbeizitiert werden; aber dass die Parlamentsabgeordneten
herbeizitiert werden, ist wirklich ein Novum
({0})
und zeigt, wie die Verhältnisse in Ihren Reihen anscheinend zu bewerten sind.
Zu dieser Debatte lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt
zusammenfassend sagen, dass es so aussieht, als wenn
eine breite Mehrheit diesen Gesetzentwurf in der veränderten - ich füge hinzu: in der verbesserten - Form verabschieden wird. Bei aller Begeisterung über sich selbst,
die die große Koalition hier an den Tag gelegt hat: Ich
finde, ein Grund zur Selbstzufriedenheit besteht nun
wahrlich nicht. Denn das, was wir heute verabschieden,
ist nur ein recht kleiner Schritt für die Betroffenen. Herr
Kollege Brandner, es werden bei weitem nicht alle in
den Genuss dieser neuen Regelung kommen. Wenn am
Ende 40 000 bis 50 000 Menschen von dieser neuen Regelung profitieren und wenn ihnen Arbeitslosigkeit erspart bleibt, dann wäre das sicherlich als Erfolg anzusehen.
Vor diesem Hintergrund finde ich es schon bemerkenswert, Herr Brauksiepe, dass der Kollege Rauen
sagte, es seien die intensivsten Verhandlungen gewesen,
an die er sich erinnern kann. Wenn Sie sich bei einer vergleichsweise kleinen Maßnahme schon so anstrengen
müssen, dann darf man allerdings gespannt sein, wie es
bei den wirklich wichtigen Vorhaben dieser Legislaturperiode - beim Tarifvertragsgesetz, beim Kündigungsschutz und bei der Reform der sozialen Sicherungssysteme - aussehen wird.
({1})
Wir haben gesagt, es solle niemand gegen seinen Willen in diese Regelung einbezogen werden. Diese Forderung hat einen Hintergrund: Wir alle haben Schreiben
aus dem Bereich der Trockenbauer, der Baustoffindustrie, des Hotel- und Gaststättengewerbes und des Einzelhandels bekommen. Wir möchten also, dass nur diejenigen, die das wirklich wollen, einbezogen werden. Das ist
keine Schikane, sondern hat einen ganz konkreten Hintergrund. Die Messlatte für den Erfolg dieser Neuregelung ist, dass sie mindestens kostenneutral ist.
Entscheidend für das Erreichen der Kostenneutralität ist die Mitwirkung der Tarifparteien; denn Sie haben
darauf verzichtet, in diesem Gesetz festzulegen, dass Arbeitszeitguthaben aufgebaut werden müssen. Ab dem
zweiten Winter nach In-Kraft-Treten dieser Regelung
wird es sehr spannend sein, zu sehen, ob es tatsächlich
noch Arbeitszeitguthaben gibt. Wir befürchten, dass im
ersten Winter vorhandene Arbeitszeitguthaben eingebracht werden und dass die Bundesagentur im zweiten
Winter sehr viel stärker belastet wird. Das wäre aus unserer Sicht in der Tat problematisch. Wir fordern also die
Mitwirkung der Tarifparteien. Das bedeutet im Ergebnis,
dass dieses Gesetz nur für diejenigen Branchen gelten
sollte, die ihm zustimmen.
({2})
Man sollte die Missbrauchsgefahren auch bei der
Verkettung - beispielsweise Saisonkurzarbeitergeld im
Anschluss an eine viermonatige Tätigkeit und Erwerb
der Ansprüche auf Arbeitslosengeld I - nicht ausblenden. Wenn ich an Hartz IV denke, dann fällt mir ein,
dass wir in der jüngeren Vergangenheit wirklich haben
erleben müssen, dass gut gemeinte Regelungen in der
Praxis zu sehr viel höheren Ausgaben geführt haben.
Das muss hier vermieden werden.
Da wir die Evaluierungsklausel im Gesetzentwurf
unterbringen konnten und da er auf die Baubranche beschränkt ist, können wir ihm zustimmen. Aber wir werden sehr genau beobachten, wie sich diese Regelung in
der Praxis auswirkt.
Vielen Dank.
({3})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Andreas Steppuhn für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe Herrn Küster, als er die namentliche Abstimmung beantragt hat, so verstanden, dass er die Bedeutung dieses Gesetzentwurfs, der heute Vormittag in
der Kernzeit debattiert wird, zum Ausdruck bringen
möchte. So sollten wir diesen Antrag verstehen.
({0})
Ich habe nichts dagegen, dass Herr Brauksiepe für
seine Fraktion hier hervorhebt, dass in der CDU manchmal die besseren Sozialdemokraten wären. Herr
Brauksiepe, zur Klarheit gehört aber sicherlich, auch
deutlich zu machen, dass es die CDU/CSU-Fraktion am
Anfang der Beratung des Gesetzentwurfs gewesen ist,
die die Frage der Mitbestimmung von Betriebsräten
beim Saisonkurzarbeitergeld sehr wohl thematisiert hat.
({1})
Von daher kann man schon sagen, dass die Mitbestimmung in dieser Frage in den Ausschüssen eine Rolle gespielt hat.
Ziel des Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung - dieses Zukunftsmodells - ist es, einen
wesentlichen Beitrag zur Vermeidung der Winterarbeitslosigkeit und zur Verstetigung der Beschäftigungsverhältnisse im Baugewerbe zu leisten. Der vorliegende Gesetzentwurf ist in einer so genannten Triparität zwischen
dem zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales und den Tarifvertragsparteien des Baugewerbes
erarbeitet worden und wird einen wichtigen Beitrag dazu
leisten, dass Winterarbeitslosigkeit zukünftig vermieden
werden kann.
({2})
Die Tarifvertragsparteien des Baugewerbes haben sich
bei ihrer Tarifpolitik im Ergebnis auf ein umlagefinanziertes System verständigt, in dem sich sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber finanziell engagieren.
Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf können wir
davon ausgehen, dass die Winterarbeitslosigkeit in der
Bauwirtschaft bereits im kommenden Winter spürbar gesenkt werden kann. Dies kann nur in unser aller Interesse
sein.
({3})
Die zukünftige Förderung wird in das System des
Kurzarbeitergeldes integriert. Das bedeutet, das neue
Saisonkurzarbeitergeld wird nunmehr auch bei einem
saisonbedingten Arbeitsausfall gewährt. Wichtig ist
auch, zu betonen, dass durch den Fortbestand der Beschäftigungsverhältnisse die Arbeitsagenturen durch entfallende Arbeitslosmeldungen und damit entfallende Bearbeitung von Leistungsanträgen in erheblichem Maße
entlastet werden.
Die Beratung im federführenden Ausschuss für Arbeit und Soziales, aber auch die Anhörung haben dazu
geführt, dass die CDU/CSU-SPD-Koalition gemeinsam
die Ihnen vorliegenden Änderungen eingebracht hat. Ein
nicht unwesentlicher Punkt ist hierbei die Ausweitung
auf andere Branchen, die zunächst ausgeklammert
wurde. Vorerst wollen wir aber die Entwicklung nach
der Neuregelung im Baugewerbe, verbunden mit einem
Evaluierungsprozess, abwarten. Das heißt aber nicht
- das ist schon deutlich gemacht worden -, dass wir andere Branchen ausschließen wollen; nach wie vor wird
von uns gewünscht, dass auch andere Branchen zukünftig von einem derartigen Saisonkurzarbeitergeld profitieren.
Ich denke hierbei insbesondere an die Branchen, die
in ihrem Bereich das Problem der schlechten Auftragslage oder witterungsbedingter Ausfälle bislang durch
eine so genannte eintägige Kündigungsfrist, wie das zum
Beispiel im Maler- und Lackiererhandwerk der Fall ist,
regeln. Da löst man schon heute die Kostenfrage im
Prinzip zulasten der Bundesagentur für Arbeit, indem
dieses Risiko auf die BA verlagert wird.
Daher gilt hier das Motto „Aufgeschoben ist nicht
aufgehoben“, sondern im Gegenteil: Die Erfahrungen
im Baugewerbe werden uns ermöglichen, dieses Modell
zukünftig passgenau auf andere Branchen zu übertragen.
Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens gab es
auch Vorschläge für Inhalte, die im Tarifvertrag für das
Baugewerbe eindeutig geregelt sind - das möchte ich an
dieser Stelle betonen -, und zwar mit dem Ziel, Kostenbelastungen zuungunsten der Beschäftigten zu verschieben. Ebenso wurde vorgeschlagen, Vorausleistungen der
Arbeitnehmer im Rahmen der Arbeitszeitflexibilisierung, sprich: der Arbeitszeitkonten, gesetzlich zu verankern. Dazu sage ich an dieser Stelle deutlich: Die Vorausleistungen der Arbeitnehmer sowie der Arbeitgeber
sind bereits per Tarifvertrag im Rahmen eines Umlageverfahrens über die Sozialkassen des Baugewerbes geregelt, sodass sich das Gesetz nunmehr darauf beschränkt,
zu beschreiben, wofür angesparte Stunden verwandt
werden müssen. Alles andere hätte auch einen Eingriff
in die Tarifautonomie bedeutet.
Die CDU/CSU-SPD-Koalition setzt mit der Verabschiedung des heute vorliegenden Gesetzentwurfs ein
deutliches Signal für eine Verstetigung der Beschäftigungsverhältnisse im Baugewerbe, auf das die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Bauwirtschaft
lange gewartet haben. Gerade wir als sozialdemokratische Bundestagsfraktion erwarten, dass Winterarbeitslosigkeit ab sofort vermieden werden kann, wie es das erklärte Ziel dieses Gesetzentwurfs ist. Ich danke allen, die
sich für dieses Gesetz engagiert haben; das ist eine gute
Sache.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Gesetzentwurf zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/971,
den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der
Stimme? - Dann ist der Gesetzentwurf bei Enthaltung
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit der Zustimmung aller übrigen Fraktionen in zweiter Beratung
angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Hierzu ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen und
mir vielleicht einen Hinweis zu geben, wenn diese Besetzung überall erfolgt ist. - Das scheint jetzt der Fall zu
sein. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ich bitte um Nachsicht, dass wir für die Abstimmung
ein bisschen mehr Zeit einräumen müssen. Denn auch
diejenigen Abgeordneten, die jetzt im Foyer hektische
Laufbewegungen vollführen, sollen noch rechtzeitig die
Urnen erreichen.
Bevor ich die Abstimmung schließe, würde ich mich
gerne wegen der für manche nicht absehbaren Abstimmungslage bei den Parlamentarischen Geschäftsführern
vergewissern, ob irgendjemand Informationen darüber
hat, dass noch Kollegen unterwegs sind.
({0})
- Auch ich sehe dahinten noch jemanden laufen.
Ich frage noch einmal, ob noch Kolleginnen oder Kol-
legen im Saal sind, die ihre Stimmkarte nicht abgegeben
haben, bzw. ob noch jemand von Kollegen weiß, die sich
auf dem Wege befinden und denen wir die Chance geben
sollten, sich an der Abstimmung zu beteiligen. - Ich er-
halte keine entsprechenden Hinweise. Dann schließe ich
hiermit die Abstimmung.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstim-
mung werden wir Ihnen wie immer später bekannt ge-
ben.1)
1) Ergebnis Seite 1894 C
Präsident Dr. Norbert Lammert
Für den nächsten Tagesordnungspunkt kann ich verlässlich zusagen, dass er nicht mit einer namentlichen
Abstimmung beginnt. Also mögen bitte all diejenigen,
die sich nun wieder in anderen Gremien zusammenfinden müssen, den Saal räumen, damit wir die für die anschließende Debatte notwendige Konzentration haben.
({1})
Darf ich die Kolleginnen und Kollegen, die an der Debatte teilnehmen wollen, bitten, sich auf den hinreichend
vorhandenen Plätzen niederzulassen!
({2})
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele,
Dr. Volker Wissing, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der direkten Steuern
- Drucksache 16/679 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollen für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen werden. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
FDP legt Ihnen, dem Deutschen Bundestag, heute ein
Konzept für ein völlig neu formuliertes Steuerrecht vor.
Es ist das erste Gesamtkonzept zur Reform der direkten
Steuern, also der Steuern auf Einkommen und Gewinn,
das bereits als Gesetzestext vorliegt und damit direkt in
die parlamentarischen Beratungen Eingang finden kann.
In der gestrigen Ausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ konnten Sie in einer Analyse des Instituts
Allensbach lesen, dass zwei Drittel der Bürger in
Deutschland der Meinung seien, das deutsche Steuerrecht sei ungerecht.
({0})
Das sind wahrscheinlich die zwei Drittel, die Steuern
zahlen; das restliche Drittel wird davon nicht berührt
sein. Das heißt, nahezu alle Steuerzahler in Deutschland
halten das Steuerrecht für ungerecht. Es geht für den
Deutschen Bundestag, den Gesetzgeber, darum, durch
ein neues einfaches, gerechtes Steuerrecht ohne Ausnahmen das Vertrauen der Bürger in einen fairen Steuerstaat zurückzugewinnen.
({1})
Das ist das Ansinnen der FDP. Wir sind überzeugt davon, dass man das mit solch einem ehrgeizigen Vorhaben
besser leisten kann als Sie mit Ihren vielfältigen Steuererhöhungen: 3 Prozent Mehrwertsteuererhöhung, 3 Prozent Versicherungsteuererhöhung, 3 Prozent Einkommensteuererhöhung. Damit zerstören Sie das Vertrauen
der Bürger weiter, dämmen die Nachfrage der Bürger ein
und schaden der Konjunktur und der Beschäftigung.
({2})
Wir sind der Überzeugung, dass das deutsche Steuerrecht, so wie es heute vorliegt, gar nicht mehr reformierbar ist. Man muss einen neuen Ansatz finden und sich
dabei an die Vorgaben unserer freiheitlichen Verfassung
halten.
({3})
Nur um Ihnen die Dimension der drastischen Vereinfachung aufzuzeigen, die wir durchführen wollen,
möchte ich daran erinnern, dass der heutige einschlägige
Gesetzestext in der beckschen Loseblattsammlung etwa
475 Seiten umfasst. Unser Alternativentwurf konzentriert das ganze Steuerrecht auf 33 Seiten. Schon daran
wird deutlich, wie dramatisch diese Vereinfachung ist.
({4})
Wichtig ist aber, dass wir die Grenzen und den Rahmen einhalten, die unsere freiheitliche Verfassung vorgibt und die das deutsche Steuerrecht schon lange hinter
sich gelassen hat. Nach meiner Überzeugung ist das
deutsche Steuerrecht allein schon deshalb verfassungswidrig, weil das, was im Namen des Souveräns, des
deutschen Volkes, erlassen worden ist, für die Angehörigen des deutschen Volkes völlig unverständlich ist.
({5})
Wie können wir von den Bürgern verlangen, ein Steuerrecht, das darüber hinaus auch noch strafsanktioniert ist,
einzuhalten, wenn sie gar nicht in der Lage sind, das
Steuerrecht insgesamt zu verstehen und richtig anzuwenden? Weder die Steuerberater noch die Steuerverwaltung
beherrschen das Steuerrecht. Man weiß nicht mehr, wie
man das Steuerrecht anwenden soll. Deswegen brauchen
wir hier mehr Klarheit.
Wir müssen uns daher an die Vorschriften des
Grundgesetzes erinnern. Art. 20 Abs. 2, Demokratieprinzip: Die Bürger haben einen Anspruch darauf, die
Gesetze zu verstehen, um sie vollziehen zu können.
Art. 3, Gleichheitsgrundsatz: Gleiches soll gleich behandelt werden, Ungleiches ungleich; das wird heute vielfach durch die zahlreichen Ausnahmen im Steuerrecht
verletzt. Art. 14, Eigentumsgarantie, schützt vor überDr. Hermann Otto Solms
mäßigem Steuerzugriff und vor einer Doppelbelastung
durch Steuern. Art. 12, Berufsfreiheit, sichert den Wettbewerb und die Freiheit des Gewerbes vor dem Zugriff
des Staates. Art. 6, Schutz der Ehe und Familie, stellt sicher, dass Ehe und Familie im Steuerrecht adäquat und
leistungskonform berücksichtigt werden, was ebenfalls
heute nicht der Fall ist. Deswegen schlagen wir ein
neues Steuerrecht vor, das sich strikt an diesen Rahmen
hält.
Bevor ich etwas zum Einkommensteuerrecht sage, sei
Folgendes am Rande bemerkt: Ich halte den Plan der
großen Koalition, das Unternehmensteuerrecht zu reformieren, für richtig. Man sollte sich aber nicht nur auf das
Unternehmensteuerrecht konzentrieren, sondern die Reform in Verbindung mit dem Einkommensteuerrecht sehen, damit ein harmonisches Ganzes daraus wird.
({6})
Wir haben das neue Einkommensteuerrecht in einfacher deutscher Sprache formuliert. Schauen Sie in unseren Gesetzentwurf hinein, dann werden Sie feststellen:
Auch Sie können es verstehen. Das ist ja der Maßstab für
die Bürger unseres Landes.
({7})
Wir wollen einen einfachen, niedrigen Tarif von 15,
25 und 35 Prozent. Das haben wir hier schon öfter diskutiert. Der Stufentarif hat den Vorteil, dass jeder Bürger
seine Steuerbelastung ohne einen Computer und ohne
Tabellen selbst ausrechnen kann. Wir wollen die Eigeninitiative und Eigenvorsorge wieder möglich machen
und deswegen eine Steuerentlastung. Wenn die Menschen wieder mehr Eigenvorsorge leisten sollen, müssen
wir ihnen den wirtschaftlichen Freiraum dafür geben.
Deswegen müssen sie bei der Einkommensteuer entlastet werden.
({8})
Die Kinder erhalten den gleichen Grundfreibetrag wie
die Erwachsenen und wir räumen einen großzügigen
Freibetrag von 12 000 Euro pro Jahr für Kinderbetreuungskosten durch sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im privaten Haushalt ein. Das ist großzügiger als
das, was die Koalition jetzt erwägt.
({9})
Für Kapitalerträge schlagen wir eine Ausnahme vor,
nämlich eine Abgeltungsteuer in Höhe von 25 Prozent,
die an der Quelle erhoben wird.
({10})
Das ist das einfachste Verfahren. Eine Steuerverkürzung
ist nicht mehr möglich, weil der Bürger dazu gar keine
Gelegenheit mehr hat. Auf Kontenabfragen und Kontrollmitteilungen auf europäischer Ebene kann vollständig verzichtet werden, weil bei diesem einfachen Verfahren nur der Nettoertrag ausgeschüttet wird. Die Steuer
wird vorher an der Quelle abgeführt. Das würde eine
dramatische Bürokratieentlastung bedeuten.
Ergebnis dieser Steuerreform: Die Steuererklärung
kann auf einer DIN-A4-Seite abgefasst werden. Wir haben das ausprobiert. Wenn Sie Ihre Einkünfte kennen,
können Sie die Steuererklärung in einer halben Stunde
ausfüllen. Man kann sie auch über das Internet an das Finanzamt schicken. Das ist ein absolut einfaches Verfahren. Es gibt keine langen Formulare mehr. Das ist das,
was der Bürger erwartet.
({11})
Zweiter Teil: Unternehmensteuerreform. Auch hier
geht es darum, die Grundprinzipien einer wettbewerbskonformen Unternehmensbesteuerung zu erreichen. Wir
müssen im internationalen Wettbewerb wieder wettbewerbsfähig werden. Dafür müssen wir uns nicht an
Irland oder Estland orientieren, aber sollten doch mit
Österreich oder den skandinavischen Ländern mithalten
können. Das erreichen wir mit einer endgültigen Belastung von 28 oder 29 Prozent.
Darüber hinaus haben wir bei der Unternehmensteuerreform besonderen Wert auf die Neutralität des Steuerrechts gelegt. Es muss rechtsformneutral, entscheidungsneutral und finanzierungsneutral sein. Das ist wichtig für
die Organisation der Unternehmen, damit die wirtschaftlichen Entscheidungen losgelöst vom Steuerrecht getroffen werden können. Das alles muss auf der Basis des gesamteuropäischen Marktes geschehen. Das Steuerrecht
muss europakonform sein. Wir dürfen uns nicht laufend
vom Europäischen Gerichtshof jagen lassen.
Zu einer rechtsformneutralen Besteuerung gehört allerdings zwingend die Abschaffung der Gewerbesteuer.
({12})
Deswegen brauchen Sie eine für die Gemeinden verträgliche Ersatzfinanzierung. Wir haben ein Zweisäulenmodell vorgeschlagen: auf der einen Seite eine deutliche Erhöhung des Anteils der Gemeinden an der Umsatzsteuer
und auf der anderen Seite einen Zuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer in gleicher Höhe mit
eigenem Hebesatzrecht. Es gibt andere Vorschläge wie
beispielsweise von der Stiftung Marktwirtschaft. Man
kann auch diese Vorschläge miteinander kombinieren.
Jedenfalls wird es nicht ohne eine Abschaffung der Gewerbesteuer gehen. Es gibt viele Möglichkeiten.
({13})
Dies alles muss mit einem europarechtsfähigen Konzernsteuerrecht und einem großzügigen Umwandlungssteuerrecht kombiniert werden, damit das Steuerrecht
wieder ein positiver Wettbewerbsfaktor im Kampf um
die Arbeitsplätze in Europa wird.
Eine abschließende Bemerkung: Machen Sie es sich
bitte nicht so leicht, dass Sie mit Ihrer Kritik nur beim
Steuerausfall ansetzen! Natürlich ist mit unserem Vorschlag ein deutlicher Steuerausfall, das heißt, eine Steuererleichterung für die Bürger verbunden. Wenn Ihnen
das nicht passt, können Sie den Tarif ändern. Dadurch
können Sie das neutralisieren. Die Systematik des Steuerrechts ist unser Kernanliegen: ein einfaches, in sich
stimmiges, geschlossenes System, bei dem die Bürger
den Eindruck gewinnen, sie werden gerecht behandelt
- ihr Nachbar kann nicht irgendwelche Ausnahmeregelungen in Anspruch nehmen, die sie nicht in Anspruch
nehmen können -, und das für die Unternehmen, insbesondere für die mittelständigen Unternehmen, europaweit und global faire Wettbewerbschancen schafft.
Wenn uns das gelingen würde, würde vom Steuerrecht jedenfalls kein Wettbewerbsnachteil für Deutschland mehr ausgehen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({14})
Es kommt nicht häufig vor, dass die Dauer des Beifalls beinahe die der Redezeit erreicht.
({0})
Ich möchte das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung auf Drucksache 16/429 bekannt geben: Abgegebene Stimmen 505. Mit Ja haben gestimmt 463, mit Nein
hat niemand gestimmt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 505
davon
ja: 463
enthalten: 42
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({2})
Wolfgang Bosbach
Helmut Brandt
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Anke Eymer ({3})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Ralf Göbel
Josef Göppel
Peter Götz
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Karl-Theodor Frhr. zu
Guttenberg
Gerda Hasselfeldt
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({6})
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Kristina Köhler ({7})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Dr. Martina Krogmann
Johann-Henrich
Krummacher
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({8})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Ingbert Liebing
Dr. Klaus W. Lippold
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({9})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({10})
Maria Michalk
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Carsten Müller
({11})
Stefan Müller ({12})
Bernward Müller ({13})
Bernd Neumann ({14})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Dr. Peter Paziorek
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({15})
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({16})
Anita Schäfer ({17})
Hermann-Josef Scharf
Dr. Andreas Scheuer
Karl Richard Schiewerling
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({18})
Andreas Schmidt ({19})
Ingo Schmitt ({20})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl ({21})
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Präsident Dr. Norbert Lammert
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({22})
Gerald Weiß ({23})
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({24})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Matthias Wissmann
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Gregor Amann
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Ernst Bahr ({25})
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({26})
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Hans Eichel
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Rainer Fornahl
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Angelika Graf ({27})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Grotthaus
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
({28})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({29})
Gerd Höfer
Iris Hoffmann ({30})
Frank Hofmann ({31})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung ({32})
Josip Juratovic
Ulrich Kasparick
Ulrich Kelber
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Rolf Kramer
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({33})
Dr. Karl Lauterbach
Helga Lopez
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({34})
Dr. Matthias Miersch
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({35})
Michael Müller ({36})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Joachim Poß
Christoph Pries
Florian Pronold
Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({37})
Michael Roth ({38})
Ortwin Runde
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({39})
Marianne Schieder
Ulla Schmidt ({40})
Silvia Schmidt ({41})
Dr. Frank Schmidt
Heinz Schmitt ({42})
Carsten Schneider ({43})
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
({44})
Swen Schulz ({45})
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Rolf Stöckel
Dr. Peter Struck
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Jörn Thießen
Hans-Jürgen Uhl
Simone Violka
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({46})
Lydia Westrich
Andrea Wicklein
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
({47})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Daniel Bahr ({48})
Uwe Barth
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich ({49})
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Joachim Günther ({50})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Birgit Homburger
Michael Kauch
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Michael Link ({51})
Patrick Meinhardt
Burkhardt Müller-Sönksen
Hans-Joachim Otto
({52})
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Frank Schäffler
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({53})
Martin Zeil
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Lothar Bisky
Heidrun Bluhm
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dagdelen
Dr. Dagmar Enkelmann
Diana Golze
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Inge Höger-Neuling
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Präsident Dr. Norbert Lammert
Katja Kipping
Monika Knoche
Jan Korte
Katrin Kunert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer ({54})
Volker Schneider
({55})
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Alexander Ulrich
Sabine Zimmermann
Fraktionsloser
Abgeordneter
Gert Winkelmeier
Enthaltung
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({56})
Volker Beck ({57})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Matthias Berninger
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Dr. Thea Dückert
Dr. Ursula Eid
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz ({58})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Renate Künast
Undine Kurth ({59})
Monika Lazar
Anna Lührmann
Winfried Nachtwei
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Irmingard Schewe-Gerigk
Rainder Steenblock
Dr. Harald Terpe
Josef Philip Winkler
Margareta Wolf ({60})
({61})
Enthalten haben sich 42 Kolleginnen und Kollegen. Der
Gesetzentwurf ist damit angenommen.
({62})
Wir fahren in der Debatte fort. Nächster Redner ist
der Kollege Otto Bernhardt für die CDU/CSU-Fraktion.
({63})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Solms, ich stimme Ihnen zu: Das
deutsche Steuerrecht ist zu kompliziert. Es ist undurchschaubar. Selbst die Fachleute haben damit ihre Probleme.
({0})
Ich stimme auch darin zu, dass das gegenwärtige Steuerrecht nicht weiter verändert werden sollte. Wir brauchen
grundlegende Reformen. Auch darin stimmen wir überein.
({1})
Wir alle - auch Sie - müssen nur akzeptieren, dass
alle Regierungen ihren Beitrag geleistet haben, bis es zu
diesem komplizierten Steuergesetz gekommen ist. Sie
waren in unterschiedlichen Koalitionen mit von der Partie.
({2})
Auch wir haben unseren Beitrag geleistet.
Ich will noch etwas Positives sagen: Ich finde es gut
und bewundernswert, dass eine kleine Fraktion
({3})
- Herr Kollege Westerwelle, von mir aus: eine mittelgroße ({4})
einen ausformulierten Gesetzentwurf vorlegt. Ganz neu
ist er nicht. Wir haben schon darüber diskutiert. Ich finde
das aber prima.
({5})
Auch im nächsten Teil kann ich noch konstruktiv
bleiben; denn Ihr Gesetzentwurf enthält manche Punkte,
die unsere Zustimmung finden. Auch wir halten es für
richtig, die Steuersätze zu reduzieren und die Ausnahmen zu beseitigen, um so die Bemessungsgrundlage zu
erweitern. Allerdings - das wissen Sie - hat die große
Koalition, was die Abschaffung von Ausnahmetatbeständen und den Subventionsabbau angeht, durch vier
Gesetze schon ziemliche Brocken bewegt. Durch diese
Gesetze - drei haben wir im Dezember verabschiedet,
eines werden wir morgen verabschieden - haben wir uns
finanziellen Spielraum geschaffen: zum einen um die
Staatsfinanzen zu sanieren und zum anderen um Beschäftigung und Wachstum fördern zu können.
({6})
Was Ihre These zur Gewerbesteuer angeht, so will ich
sagen: Ich halte es nicht für gut, von ihrer Abschaffung
zu sprechen; das erweckt bei den Kommunen einen falschen Eindruck. Aber es ist richtig, dass die Gewerbesteuer nicht mehr ins System passt, und es ist auch richtig, dass eine grundlegende Unternehmensteuerreform
nur möglich ist, wenn wir den Kommunen einen Ersatz
für die Gewerbesteuer geben.
({7})
Wir bemühen uns - das ist ganz wichtig; so steht es auch
im Koalitionsvertrag -, dies im engen Einvernehmen mit
den Kommunen zu machen.
({8})
Aber, Herr Kollege Solms, es gibt zwei kritische
Punkte - mindestens zwei; ich will mich auf zwei konzentrieren -, die jeder für sich ausreichen würde, um den
Gesetzentwurf abzulehnen; auch wenn dies noch nicht
Thema der ersten Lesung ist. Sie haben in nur zwei Sätzen von Geld gesprochen. Das hätte ich auch, wenn ich
einen solchen Gesetzentwurf vorlegen würde. Es gibt
keine umfassenden Berechnungen dazu, was Ihr Gesetz
kosten würde. Der Hinweis „Dann ändert doch die Steuersätze!“ ist zu kurz gefasst. Ich gehe davon aus, dass Ihr
Gesetzentwurf eher Steuerausfälle in der Größenordnung von 30 Milliarden Euro als von 25 Milliarden Euro
zur Folge hätte.
({9})
Wenn wir heute eine positive Tendenz zu Ihrem Gesetzentwurf zeigen würden - ich sage das jetzt etwas
polemisch -, dann würde die EU sofort zuschlagen.
Denn wenn dieses Gesetz am 1. Januar 2007 in Kraft treten würde, hätten wir keine Chance, die EU-Kriterien zu
erfüllen und dem Grundgesetz gerecht zu werden. Schon
aus diesen Gründen ist es nicht vertretbar, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Ich sage sehr deutlich: Wir als große Koalition kämpfen um das Vertrauen der Bevölkerung. Wir sind dabei
schon ein erhebliches Stück weitergekommen. Dieser
Gesetzentwurf und das, was morgen in den Zeitungen
stehen wird, werden dazu führen, dass wieder viele
Hoffnungen entstehen. Niemand kann diese Hoffnungen
erfüllen; denn niemand kann sie bezahlen. Dies ist ein
entscheidender Punkt.
({10})
Herr Kollege Solms, mein zweiter Kritikpunkt betrifft
das System als solches. Auch wir wollen, dass in Zukunft - so steht es im Koalitionsvertrag - Unternehmensgewinne einheitlich besteuert werden, egal ob sie
bei Kapitalgesellschaften oder Personengesellschaften
entstehen. Schon die dazu vorgelegten Modelle der Stiftung Marktwirtschaft und des Sachverständigenrates zeigen, wie schwierig es ist, dieses Problem zu lösen.
Ich sage vorweg und begründe es gleich in ein paar
Sätzen: Ihr Vorschlag ist keine vertretbare Lösung. Sie
wollen im Einkommensteuerrecht drei Stufen - 15,
25 und 35 Prozent - schaffen. Das ist prima, aber nicht
bezahlbar. Jetzt haben Sie erkannt, dass 35 Prozent für
Unternehmergewinne im internationalen Vergleich natürlich zu hoch sind. Wir liegen, wie Sie wissen, heute
bei 39 Prozent und müssen uns in Richtung von
30 Prozent bewegen. Deshalb sagen Sie: In den Firmen
soll das anders sein. Dort soll die dritte Stufe nicht greifen und 25 Prozent sollen das Maximum sein.
25 Prozent sind im internationalen Wettbewerb sicher
hervorragend. Aber wir werden uns 25 Prozent nicht
leisten können. Jetzt schauen Sie sich einmal die Praxis
an: Ihr Vorschlag würde dazu führen - Sie wissen, wie
gut Steuerberater Umgehungswege finden -, dass für
den selbstständigen Rechtsanwalt, der 250 000 Euro pro
Jahr verdient, ein Steuersatz von 25 Prozent gilt, während sein angestellter Mitarbeiter, der 200 000 Euro verdient, deutlich mehr Steuern zahlt. Dies ist nicht praktizierbar.
({11})
Ich vermute, dass das Verfassungsgericht hier eingreifen würde. Sie können sicher sein, dass eine solche Besteuerung schrecklich oft zu Unternehmensgewinnen
führen würde, die mit maximal 25 Prozent besteuert
werden, und nur ganz selten Gewinne über die Einkommensteuer höher besteuert würden. Diese von Ihnen vorgeschlagene Lösung ist nicht sachgerecht. Ich befinde
mich mit meiner Kritik in der guten Gesellschaft fast aller Fachleute. Wir hatten gerade gestern ein Gespräch
mit den Vertretern des Sachverständigenrats und der
Stiftung Marktwirtschaft. Beide Seiten haben deutlich
gesagt: Dieser Ansatz der FDP ist nicht realistisch und
nicht vernünftig. Das sollte man der deutschen Öffentlichkeit in aller Deutlichkeit sagen.
({12})
Nun stimme ich Ihnen wieder einmal zu, Herr Kollege Solms: Sie sagen, im Grundsatz müsse man nicht
nur, wie wir das im Koalitionsvertrag geschrieben haben, die Unternehmensbesteuerung grundlegend verändern, sondern im gleichen Atemzug auch die Einkommensteuer.
Aber ich sage: Wir als große Koalition wollen um
Vertrauen werben. Dabei sind wir bereits ein Stück vorangekommen. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag
nur das versprochen, was wir uns für die nächsten vier
Jahre auch zutrauen. Wir wollen uns nicht übernehmen.
({13})
- Herr Kollege, wenn wir uns die Unternehmensbesteuerung und die Einkommensbesteuerung ansehen, dann
werden Sie mir Recht geben, wenn ich sage: Der Reformbedarf ist bei der Unternehmensbesteuerung deutlich dringender; das hat mit dem internationalen Wettbewerb zu tun.
({14})
Nicht umsonst müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass
auch unter steuerlichen Gesichtspunkten laufend Arbeitsplätze ins Ausland verlagert und immer mehr
Gewinne nicht in Deutschland versteuert werden. Ich erinnere daran, dass dieses Thema schon im Rahmen des
Jobgipfels im März vergangenen Jahres isoliert unter
dem Aspekt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit
angegangen werden sollte. Damals wollte man die Körperschaftsteuer von 25 Prozent auf 19 Prozent senken.
Aufgrund der vorgezogenen Neuwahl konnte dieses Vorhaben nicht mehr umgesetzt werden. Umso dringender
ist jetzt der Handlungsbedarf in diesem Bereich.
An den beiden Modellen, die nun vorgelegt worden
sind, wird deutlich: Dies ist eine komplizierte Materie.
Wir wollen nicht denselben Fehler machen, den wir bereits in den letzten Jahren zum Teil gemeinsam begangen
haben, indem wir zunächst einen Schnellschuss vorgelegt und dann ein erstes und später ein zweites Veränderungsgesetz auf den Weg gebracht haben.
Wir haben, was unser Vorgehen beim Thema Unternehmensbesteuerung betrifft, einen klaren Zeitplan:
Noch vor der diesjährigen Sommerpause werden Regierung und Koalition die Eckpunkte miteinander abstimmen. Wir erwarten, dass im vierten Quartal dieses Jahres
ein Referentenentwurf vorgelegt wird, mit dem sich
dann alle Interessierten ausführlich auseinander setzen
können. In knapp einem Jahr - ich vermute: im Februar
kommenden Jahres - werden wir hier im Bundestag die
erste Lesung des von uns vorgelegten Gesetzentwurfes
durchführen. Dann haben wir Zeit, mit den Experten zu
sprechen. Dazu werden wir umfangreiche Anhörungsverfahren durchführen. Unser Ziel ist, dieses Gesetz unmittelbar vor der Sommerpause des Parlaments im kommenden Jahr zu verabschieden, damit sich sowohl die
Wirtschaft als auch - das möchte ich betonen - die Finanzverwaltungen ein halbes Jahr lang auf dieses neue
Gesetz, das am 1. Januar 2008 in Kraft treten wird, vorbereiten können.
Ich komme noch einmal auf das Stichwort Vertrauen
zu sprechen. Wir wollen keine Schnellschüsse, sondern
eine solide Gesetzesarbeit.
({15})
Vielleicht gelingt es uns ja, gemeinsam Gesetze zu machen, die viele Jahre lang Bestand haben. Denn Sie haben völlig Recht: Zwei Drittel der Bevölkerung empfinden unser jetziges Steuerrecht insbesondere deshalb als
ungerecht, weil es so schwer zu verstehen ist. Ich denke,
die Koalition ist auf dem richtigen Weg. Wir werden zunächst eine neue, solide Unternehmensteuerreform vorlegen und uns zu einem späteren Zeitpunkt auch dem
Thema Einkommensteuer widmen. Aber ich sage sehr
deutlich: Es ist besser, kleine und mittelfristige Schritte
anzukündigen und durchzuführen, als große Schritte anzukündigen, die niemand verwirklichen kann.
Danke schön.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll, Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute geht es um den Entwurf eines Gesetzes zur Reform der direkten Steuern, der von der FDP vorgelegt
wurde. Dabei handelt es sich um eines der Modelle, die
sich gegenwärtig auf dem Markt befinden. Alle Modelle
haben eines gemeinsam: Durch sie werden Großunternehmen und gut verdienende, vermögende Bürger entlastet.
Herr Solms und Herr Westerwelle, die FDP zeichnet
sich dadurch aus - das muss man Ihnen zugute halten -,
dass sie relativ offen ist. Sie sagen: Ja, wir wollen auf
Einnahmen in Höhe von 17 bis 19 Milliarden Euro verzichten. Nebenbei bemerkt füge ich hinzu: Ihr Gesetzentwurf enthält kein Finanztableau; bei dem von mir genannten Betrag handelt es sich also nur um eine grobe
Schätzung, die locker nach oben überboten werden kann.
Auf Seite 22 Ihres Gesetzentwurfes kann man nachlesen, wie sich der Rahmen für ein neues Steuerrecht aus
Ihrer Sicht darstellt:
Fünftens: Eine moderne und wachstumsorientierte
Steuerpolitik ist zwingend mit einer soliden und
nachhaltig auf Stabilität ausgerichteten Haushaltspolitik zu verbinden. Dabei muss gelten: Die Ausgaben richten sich nach den Einnahmen - nicht umgekehrt.
Das ist Klartext: Erst wollen Sie auf 17 bis
19 Milliarden Euro verzichten und dann wird es wieder
heißen, wir müssen sparen: an den Sozialleistungen, bei
der Rente. Das ist locker-flockig die Fortsetzung des neoliberalen Kurses, den wir in den letzten Jahren erleben
mussten, und befindet sich voll in Übereinstimmung mit
dem, was die Regierungskoalition uns anbietet: Wie im
Jahreswirtschaftsbericht nachzulesen ist, erwarten Sie
für dieses Jahr eine Stagnation der Einkommen und Renten, der Zuwächse von etwa 7,5 Prozent für Selbstständige und Bezieher von Vermögenseinkünften entgegenstehen. Das ist die Realität, in der wir leben. Diese
neoliberale Politik werden wir nicht mitmachen.
({0})
- Es ist keine Überraschung, aber es ist gut, dass wir die
Möglichkeit haben, es Ihnen von diesem Pult aus zu sagen, und Sie werden es sich weiter anhören müssen.
({1})
Im Gesetzentwurf der FDP heißt es, Sie wollen einen
Stufentarif mit Steuersätzen von 15, 25 und 35 Prozent. Das bedeutete eine weitere Senkung des Spitzensteuersatzes, eine Fortsetzung der Politik der letzten
Jahre von Rot-Grün. Dieser Spitzensteuersatz soll ferner
bereits bei einem Einkommen von 40 000 Euro einsetzen. Schon die Bezieher mittlerer Einkommen müssten
also zur Finanzierung des Gemeinwesens anteilig so viel
beitragen wie die Millionäre, die sich aus der Finanzierung desselben damit ein Stück weiter zurückziehen
könnten. Der vorgesehene Wegfall der Steuerfreiheit der
Feiertags- und Nachtzuschläge würde insbesondere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem geringen
Einkommen treffen. Die Entfernungspauschale soll gestrichen werden, die Werbungskostenpauschale auch.
Bezieher niedriger Einkommen würden dadurch massiv
schlechter gestellt.
Ich sagte es schon: Sie sind ganz offen. Es gibt den
berühmten Solms-Rechner, an dem jeder nachprüfen
kann, was die Vorschläge für ihn konkret heißen. Bei einem Einkommen von 25 000 Euro - Einzelveranlagung,
sprich kein Kind, kein Soli-Zuschlag; ausschließlich die
Werbungskosten angesetzt - ergäbe sich gegenüber der
heutigen Steuerbelastung von knapp 4 000 Euro eine
von nur noch 2 500 Euro, somit eine Entlastung von gerundet 1 300 Euro; das wären 5 Prozent. Bei einem Einkommen von 150 000 Euro sieht die Entlastung schon
besser aus: 14 400 Euro; das wären ganze 9 Prozent.
({2})
Das sind die Zahlen, das ist die Politik der FDP: Sie wollen fortfahren, niedrige Einkommen prozentual höher zu
belasten. Das wird zu einer weiteren Schwächung der
Binnennachfrage und des Gemeinwesens führen - eine
Politik, die wir nicht mitmachen.
({3})
Ich sage hier nochmals: Haben Sie endlich den Mut,
etwas gegen die Massenarbeitslosigkeit zu tun, gegen
Kinderarmut, gegen die soziale Auslese, die heute von
Geburt an geschieht. Das wird auch von außen bestätigt:
Alle internationalen Bildungsuntersuchungen zeigen,
dass in fast keinem anderen Land in Europa so wie in
Deutschland die soziale Herkunft über die Zukunftsaussichten der Kinder entscheidet - und dann wundern Sie
sich, dass die Leute keine Kinder bekommen! Ja, warum
denn wohl?!
Stärkung des Gemeinwesens, das heißt für uns insbesondere, dass Gesundheit und Bildung nicht weiter zu einer Ware werden dürfen. Über die Besteuerung kann die
Politik dagegenhalten: Wir brauchen eine Reform der
Einkommensteuer zur Stärkung der Menschen mit kleineren und mittleren Einkommen. Menschen mit großen
Einkommen und großen Vermögen müssen zur Finanzierung des Gemeinwesens stärker herangezogen werden.
Im Gegensatz zu Ihnen, die Sie sich für eine Streichung
der Vermögensteuer aussprechen, fordern wir die Wiedererhebung einer reformierten Vermögensteuer. Dadurch könnten wir 15 Milliarden Euro zusätzlich einnehmen.
({4})
- Doch, das glauben wir und es ist nachgerechnet; darüber können wir uns einmal unterhalten.
({5})
Auch wir fordern eine Unternehmensteuerreform.
Aber für diese muss ebenfalls gelten: Besteuerung nach
der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit - und nicht, wie
bei Ihnen, dass es letztendlich davon abhängt, wie viele
Möglichkeiten jemand hat, ganz legal Steuern zu sparen.
Sie von der FDP wollen die Verlustverrechnung für internationale Konzerne sogar noch ausweiten, indem Sie
die Organschaft abschaffen und die Gruppenbesteuerung
ausweiten wollen. Das hieße ein Fortschreiten der neoliberalen Politik, wenn Ihr Gesetzentwurf umgesetzt
würde.
Das ist mit uns nicht zu machen. Unser Konzept ist
ein anderes. Wir sagen: Sozial gerechte Steuerpolitik ist
notwendig. Ein solches Konzept ist auch auf dem Markt.
Damit werden Sie sich in Zukunft noch stärker auseinander setzen können und müssen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Frechen, SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wir beraten heute einen Gesetzentwurf
der FDP. Diesen kennen wir noch aus dem vergangenen
Jahr. Er war schon Gegenstand der Beratungen.
({0})
- Teilweise. Mit dem Teil zur Einkommensteuer haben
sich, bis auf wenige Ausnahmen, schon die Sachverständigen beschäftigt.
({1})
Der Gesetzentwurf wurde aber zurückgenommen, weil
der Teil zur Unternehmensteuer fehlte. Um ihn ist der
Entwurf nun ergänzt worden.
Ich finde, es verdient Respekt, dass Sie uns einen ausformulierten Gesetzentwurf vorgelegt haben. Der Urheber hat sich viel Mühe gemacht.
({2})
Ich glaube, ich sehe den Urheber direkt an. Er sitzt in der
ersten Reihe. Das sind doch Sie, Herr Solms. Ein ausformulierter Gesetzentwurf zwingt Sie - auch das ehrt Sie -,
Farbe zu bekennen; denn wenn ein Gesetzentwurf ausformuliert vorliegt, kann man sich näher mit den Details
befassen.
Die Auseinandersetzung mit diesem Gesetzentwurf
muss unter der Prämisse stehen: Was bringt ein solches
Gesetz und was kostet es? Sie sprechen davon, dass dadurch Investitionstätigkeiten angeregt und Arbeitsplätze
neu geschaffen werden sollen. Aber ist das wirklich so?
({3})
Wir haben in den letzten sieben Jahren die Steuern so
deutlich gesenkt wie nie zuvor.
({4})
Wir haben historisch niedrige Steuersätze.
({5})
Ist das durch Investitionen belohnt worden? Ich glaube,
hier sind ganz erhebliche Zweifel zulässig. Man kann
natürlich sagen, dass die Senkungen nicht ausreichen.
Aber wann reichen sie aus? Wenn wir in Europa bei einem Steuersatz von 0 Prozent angekommen sind? Ich
bin überzeugt, dass davon weder Europa noch die einzelnen Staaten etwas hätten, sondern nur die Aktionäre.
Wir dürfen, wenn wir die Steuersätze senken wollen,
nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen. Das
heißt, die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage
muss möglichst auf europäischer Ebene vorgenommen
werden, damit die Steuersätze wirklich vergleichbar
sind. 25 Prozent von X sind nicht unbedingt mehr als
10 Prozent von Y. Aber gut, bei Rechnungen mit Unbekannten sollte sich der Staat besser heraushalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir streiten in unregelmäßigen Abständen über das Defizitkriterium des
Wachstums- und Stabilitätspakts von 3 Prozent. Sie tragen dieses Kriterium oftmals wie eine Monstranz vor
sich her. Wie passt da eine Belastung der öffentlichen
Haushalte von 20 Milliarden Euro - ich bin noch recht
vorsichtig - in die Diskussion? Die Finanzminister der
Länder haben übereinstimmend diesen Teil des Gesetzes, der in der Anhörung behandelt wurde, als nicht finanzierbar bezeichnet. Dabei sind wir noch davon ausgegangen, dass der Höchststeuersatz bei 35 Prozent
liegt. Diesen wollen Sie für unternehmerische Tätigkeit
nun auch noch auf 25 Prozent senken. Das ist doch dann
gar nicht mehr finanzierbar.
Ich bin davon überzeugt, dass wir alle hier der Meinung sind, dass das Steuerrecht vereinfacht werden
muss, dass wir also Ausnahmetatbestände streichen, Gesetzeslücken und Steuerschlupflöcher schließen müssen.
Ich finde, die große Koalition ist hier auf einem guten
Weg;
({6})
Herr Bernhardt hat das schon gesagt.
Ich möchte nicht an das erinnern, was wir alles schon
hätten tun können, wenn alle mitgespielt hätten; denn
Nachkarten bringt nichts. Ich erinnere an die Plenarsitzung vom 15. Dezember letzten Jahres, in der wir - zum
Teil mit den Stimmen des ganzen Hauses - die Eigenheimzulage abgeschafft, Steuerschlupflöcher geschlossen und einige nicht unerhebliche Ausnahmeregelungen
gestrichen haben. Diesen Weg werden wir konsequent
fortsetzen. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition, sind natürlich herzlich eingeladen, uns bei
der Reform der Einkommensteuer und der Unternehmensteuer zu begleiten.
({7})
Die Menschen sind, auch weil sie von allen Seiten
eingetrichtert bekommen, unser Steuerrecht sei sehr
kompliziert, davon überzeugt, dass es kompliziert ist.
({8})
- Wenn Sie sich zu Wort melden, dann kann ich Sie verstehen und Ihnen antworten. Wenn Sie allerdings keine
Antwort wollen, dann sprechen Sie bitte etwas leiser.
({9})
Die Menschen wollen aber auch im Einzelnen gerecht
behandelt werden; das halte ich für einen sehr vertretbaren Anspruch. Wir alle wissen: Durch Pauschalierungen
werden Lebenssachverhalte Einzelner ausgegrenzt und
sie führen zum Verlust von Gerechtigkeit. Deshalb sollten wir uns immer fragen: Wie viel Vereinfachung können wir mit unserem Anspruch an Gerechtigkeit vertreten? Ich sage „sollten“; denn im Gesetzentwurf der FDP
kommt das Wort „Steuergerechtigkeit“ nicht gerade oft
vor. In den fünf Kriterien, die dort als Rahmen vorgegeben werden, heißt es nur einmal: „Einfachheit hat Vorrang vor Einzelgerechtigkeit in jedem Detail“.
({10})
Das merkt man, und zwar nicht nur im Detail.
Der Bund Deutscher Finanzrichterinnen und Finanzrichter schreibt dazu in seiner Stellungnahme:
Dem an sich zu unterstreichenden Postulat des vorliegenden Gesetzentwurfs, dem Gebot der Einfachheit Vorrang gegenüber dem Streben nach Einzelfallgerechtigkeit einzuräumen, kann daher in dieser
Allgemeinheit nicht zugestimmt werden.
Wir stimmen darin überein, dass es im Steuerrecht keine
Einzelfallgerechtigkeit geben kann, aber der Vereinfachung auf Gedeih und Verderb alles unterzuordnen,
bringt die soziale Balance doch ganz erheblich in Schieflage.
({11})
Im Gutachten des DIW steht dazu:
Beim Konzept der FDP konzentrieren sich die Entlastungen auf den mittleren und oberen Bereich.
Mündlich wurde in der Anhörung dann ergänzt: Die Einkommensungleichheit nimmt beim FDP-Konzept deutlich zu.
Nochmals zur Verdeutlichung: Arbeitnehmer, Rentner
und Empfänger von Lohnersatzleistungen hätten nach
dem Willen der FDP einen Spitzensteuersatz von
35 Prozent, während Einkünfte aus unternehmerischer
Tätigkeit einem Spitzensteuersatz von nur noch
25 Prozent unterlägen.
({12})
- Das steht in Ihrem Gesetzentwurf. Vielleicht sollten
Sie ihn einmal lesen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich näher auf das Thema Vereinfachung eingehen. Selbstverständlich ist es eine Vereinfachung, wenn man ganze
Vorschriften streicht oder weglässt, wenn man das Gesetz neu fasst. Bei der Streichung der Steuerfreiheit von
Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägen oder der
Übungsleiterpauschale handelt es sich aber nicht um
eine Vereinfachung auf Kosten der Einzelfallgerechtigkeit. Diese Ausnahmen brauchen Sie, damit der Spitzensteuersatz abgesenkt werden kann.
({13})
Ein weiterer Punkt der angeblichen Vereinfachungen
ist die Einführung eines einkommensabhängigen Werbungskostenabzugs. Für die Kolleginnen und Kollegen
von der FDP scheint es aus Vereinfachungsgründen gerechtfertigt, dass ein Arbeitnehmer mit einem Einkommen von 250 000 Euro per se - also ohne Nachweis mit 5 000 Euro entlastet werden muss, ein Arbeitnehmer
mit einem Einkommen von 40 000 Euro aber nur mit
800 Euro. Das Motto „Wer mehr hat, bekommt auch
mehr“ führt den Gedanken der Vereinfachung ad absurdum.
({14})
Manchmal frage ich mich wirklich, wo die Kolleginnen
und Kollegen, die einen solchen Gesetzentwurf einbringen, leben.
Die doppelte Haushaltsführung, der Heimarbeitsplatz,
die Fahrten zwischen der Wohnung und der Arbeitsstätte all das sind nach Meinung der FDP Kosten der allgemeinen und privaten Lebensführung. Glauben Sie wirklich,
dass die Fahrtkosten eines Chemikers privat veranlasst
sind, wenn ein Labor von A nach B verlegt wird? Glauben Sie, dass man jederzeit die Kinder aus der Schule
nehmen und in eine andere Schule schicken und das
Haus verkaufen könnte und dass die Ehefrau ihren Job
aufgeben könnte, wenn ein Unternehmen von Y nach Z
zieht und seinen Sitz verlagert?
({15})
Das alles halten Sie für machbar und zumutbar für die
Arbeitnehmer.
({16})
- Herr Westerwelle, viele von uns, die hier sitzen - ich
glaube, es sind sogar die meisten -, haben eine doppelte
Haushaltsführung. Wenn Sie von der FDP das aufgrund
Ihres persönlichen Lebenswunsches als Dinge der persönlichen Lebensführung ansehen, dann ist das eine Sache. Für die meisten von uns ist die doppelte Haushaltsführung aber sicherlich beruflich begründet.
({17})
Zu diesem Bereich ist in Ihrem Gesetzentwurf zu lesen:
Der weit gehende Verzicht auf Steuerbefreiungen
und subventionsähnliche Tatbestände ermöglicht
hohe Freibeträge und eine radikale allgemeine Tarifsenkung ...
({18})
- Auch wir sind Teil der Bevölkerung, Herr
Dr. Westerwelle, aber vielleicht in Ihren Augen nicht.
({19})
- Das sollten wir aber sein.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Solms zulassen?
Ja, natürlich.
Bitte schön.
Frau Kollegin, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen,
dass die Abgeordneten keinen Anspruch auf die steuerliche Geltendmachung der doppelten Haushaltsführung
haben, weil sie eine Kostenpauschale bekommen?
Da ich ein höflicher Mensch bin, nehme ich natürlich
alles zur Kenntnis, was Sie sagen, Herr Dr. Solms. Sie
haben selbstverständlich Recht: Die doppelte Haushaltsführung wird bei uns Abgeordneten mit der Kostenpauschale extra abgegolten. Wenn wir zum nordrhein-westfälischen Modell übergehen sollten, was mitunter in der
Diskussion ist, dann wird für uns die doppelte Haushaltsführung wie für jeden Arbeitnehmer selbstverständlich unter die Werbungskosten fallen. Gestern gab es
dazu im WDR in der Sendung „Hart, aber fair“ mit Frau
Kollegin Nina Hauer und Herrn Siegfried Kauder eine
Diskussion. Ist Ihre Frage damit beantwortet? - Gut.
({0})
Man fragt sich schon: Wem dienen die Steuersenkungen? Wer trägt die Belastungen? Professor Dr. Hickel
schreibt in seiner Stellungnahme:
Wird dieser auf Arbeitseinkommen konzentrierte
Abbau von Steuervorteilen mit der Senkung des
Einkommensteuertarifs verglichen, dann ist die sozial ungerechte Verschiebung der Steuerlast nicht
mehr zu übersehen.
Zum Schluss möchte ich noch einmal aus Ihrem Gesetzentwurf zitieren:
Es ist nicht die Aufgabe des Steuerrechts, erst Einkommen übermäßig „wegzusteuern“ und dann den
nach Abzug der Verwaltungskosten verbleibenden
Betrag wieder an die Gruppen zu verteilen...
Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, genau das ist
Sinn und Ziel des Steuerrechts. Was Sie lapidar als „Verwaltungskosten“ ansehen, sind die vielfältigen Aufgaben
des Staates: soziale Sicherung, Bildung und Infrastruktur. All diese Aufgaben werden zu 75 Prozent aus Steuermitteln finanziert, insbesondere die soziale Sicherung.
Der Staat hat die Aufgabe, einen Ausgleich an Chancen,
Verteilungsgerechtigkeit und Teilhabe zu gewährleisten.
Er ist für die Steuergelder verantwortlich. Damit muss er
verantwortlich umgehen und nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit besteuern.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Er hat mit dem Einsatz der Steuergelder sowohl dem
Gemeinwohl als auch jedem Einzelnen zu dienen. Das
hat etwas mit Gerechtigkeit und Solidarität zu tun. Man
kann es auch „Sozialstaat“ nennen.
Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.
Gut gemeint ist das Gegenteil von gut. Ich freue mich
auf die Ausschussberatungen.
({0})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin
Christine Scheel.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich fand es interessant, Herr Dr. Solms, dass Sie
heute zum ersten Mal im Zusammenhang mit Ihren Steuervorschlägen gesagt haben, es gehe Ihnen nicht unbedingt um die Senkung der Steuersätze, sondern es gehe
Ihnen um die Struktur. Das heißt, dass das, was Sie in
den letzten Jahren mit Ihrem Dreistufentarif und den
Steuersätzen von 15, 25 und 35 Prozent politisch im
Land verkündet haben, überhaupt keinen Bestand mehr
hätte, wenn man sich die Struktur anschaut und die
Finanzierung, die damit verbunden ist, in den Vordergrund stellen würde. Ihr Modell bricht also zusammen.
({0})
Frau Scheel, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Solms zu?
Gerne.
Bitte schön.
Frau Scheel, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen,
dass ich in meiner Rede ausgeführt habe, dass wir an unserem Stufenmodell selbstverständlich festhalten und
wir eine Steuerentlastung für die Bürger für notwendig
erachten, damit sie mehr finanziellen Freiraum für Eigenvorsorge und eigene Initiativen gewinnen können?
Aber für diejenigen, die der Meinung sind, man sollte
nicht so verfahren und keine Steuerentlastung herbeiführen, sollte die Möglichkeit bestehen, den Tarif anders zu
gestalten. Dies ist ein Thema für sich, aber die Strukturreform als solche ist der Kern, weil sich erst aus der
Struktur eines einfachen Steuerrechts das Vertrauen der
Bürger in einen fairen Steuerstaat zurückgewinnen lässt.
Nein, Herr Dr. Solms, Sie bestätigen meine Auffassung, dass Sie langsam dahin kommen, zugeben zu müssen, dass Ihr Gesetzentwurf nicht finanzierbar ist und
dass die öffentlichen Haushalte die Steuerausfälle nicht
verkraften. Deswegen gehen Sie jetzt einen Schritt zurück und schlagen vor, sich zuerst auf die Struktur zu
konzentrieren und erst dann die Steuersätze in den Blick
zu nehmen. Die Konsequenz wäre, dass die von Ihnen
vorgeschlagene Senkung der Steuersätze nicht haltbar
wäre. Das ist die Wahrheit und das muss man den Bürgerinnen und Bürgern auch sagen.
({0})
Viele Ziele, die Sie in Ihrem Steuermodell formuliert
haben, teilen wir. Wir teilen die Auffassung, dass das
Steuerrecht zu kompliziert ist und vereinfacht werden
muss. Wir teilen auch die Auffassung, dass in die Steuervorlagen eine verständlichere Sprache Eingang finden
muss, damit die Bürger und Bürgerinnen verstehen, was
in den Formularen gefordert wird.
({1})
Wir teilen auch die Auffassung, dass wir ein international wettbewerbsfähiges Steuerrecht brauchen.
So weit, so gut. Aber um auf Ihren Einwand zurückzukommen: Bei der Fraktion der FDP passen Anspruch
und Wirklichkeit nicht zusammen,
({2})
weil Ihr Steuerrecht bei genauerer Betrachtung in den
einzelnen Facetten nicht unbedingt einfacher wird. Es
wird vielmehr in verschiedenen Punkten komplizierter
und schafft ein Eldorado für Steuergestalter. Wir alle bemühen uns doch, Steuerschlupflöcher zu schließen. Wir
alle in diesem Haus bemühen uns doch in den Fraktionen
mehr oder weniger intensiv darum, dass die von teuren
und guten Beratern eröffneten Steuergestaltungsmöglichkeiten im Sinne der Allgemeinheit der Steuerzahler,
die das zu finanzieren hätten, nicht mehr so stark genutzt
werden können. Wir wollen die Steuerschlupflöcher
schließen, aber Sie schaffen mit der von Ihnen beabsichtigen Struktur neue Schlupflöcher. Das halte ich für ein
Riesenproblem; denn wir sind in der Diskussion schon
viel weiter.
({3})
Vorhin wurde festgestellt, dass Ihr Modell mit einem
Einnahmeausfall in Höhe von 17 Milliarden bis
19 Milliarden Euro verbunden wäre. Ich sage klipp und
klar: Das geht nicht. Eine machbare Steuerreform - eine
Einkommen- und Unternehmensteuerreform - in
Deutschland muss ohne Einnahmeausfälle für die öffentlichen Haushalte auskommen. Sie nehmen mit Ihren
Vorstellungen - das finde ich an der FDP so absurd keinerlei Rücksicht auf die finanziellen Handlungsspielräume des Staates. Sie tragen nichts zur Konsolidierung
des Haushaltes bei. Sie haben, wenn es um die Stabilisierung des Steueraufkommens ging, immer wieder die Abschaffung der Eigenheimzulage und der Steuersparfonds
abgelehnt, weil Sie das als Steuererhöhung interpretiert
haben. Davon sind Sie jetzt etwas abgerückt - darüber
bin ich froh -, aber es schwebt immer noch im Raum.
Auf der anderen Seite geben Sie aber das Geld des
Staates mit vollen Händen aus. Sie haben einen Antrag
zum Unterhaltsrechtes im Bundestag eingebracht - er
wird heute Nachmittag beraten -, der voller nicht ausgereifter und ausfinanzierter Versprechen ist. 200 Euro
Kindergeld - das klingt klasse. Wenn man den Bürgerinnen und Bürgern, die Kinder haben, 200 Euro Kindergeld zusagt, dann wird sicherlich jeder sagen: Super,
darüber freue ich mich. Aber das kostet den Staat
9 Milliarden Euro und Sie sagen nicht, woher Sie das
Geld nehmen wollen.
Ich frage mich, wie das alles zusammenpasst: Sie fordern Steuer- und Abgabensenkungen und Mehrausgaben
für Bildung, Forschung, Verteidigung und Familien,
({4})
aber die Maastrichtkriterien sollen eingehalten werden.
Im Bundestag steht aber keine Gelddruckmaschine. Das
Manna fällt auch nicht vom Himmel.
({5})
Dieser Lebensrealität sollten Sie sich endlich stellen.
({6})
Bei Ihnen werden in einzelnen Bereichen Konzepte mit
einem gewissen Tunnelblick - ohne Rücksicht auf die
finanziellen Folgen - erarbeitet.
Herr Kollege Koppelin, der für die FDP dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages angehört, betreibt immer ein bisschen Konsolidierungsrethorik, mit
der er auch seine Forderung nach Einhaltung des Wachstums- und Stabilitätspakts garniert. Das passt aber nicht
zusammen. Sie müssen sich langsam entscheiden, ob Sie
in der Bundesrepublik Deutschland eine verantwortungsvolle Oppositionspolitik mit gesamtstaatlicher Verantwortung machen wollen oder nicht.Bislang sieht es
aber so aus, dass Sie das nicht machen wollen.
({7})
Es bleibt Ihr Geheimnis, wie Sie die Finanz- und
Haushaltspolitik gestalten wollen. Insgesamt ist Ihre Politik jedenfalls inkonsistent. Aber ab und zu gibt es bei
Ihnen einen Lichtblick. Sie, meine Damen und Herren
von der FDP-Fraktion, haben die Vorlage zur Familienpolitik, die Sie in der letzten Sitzungswoche eingebracht
haben, konsequenterweise zurückgezogen, weil Ihre
Haushälter festgestellt haben, dass die vorgeschlagenen
Maßnahmen nicht finanzierbar sind.
({8})
Herr Westerwelle, Sie haben einerseits der Regierung
vorgeschlagen, auf die geplante Mehrwertsteuererhöhung zu verzichten - dem kann ich nur zustimmen; aus
konjunkturellen Gründen haben Sie Recht -, und andererseits den Gewerkschaften nahe gelegt, auf Lohnerhöhungen zu verzichten. Ich kann Ihnen von der FDPFraktion nur raten: Schließen Sie sich dem Pakt der Vernunft, wie Sie ihn nennen, an! Ziehen Sie Ihren Gesetzentwurf zurück! Überarbeiten Sie ihn und schauen Sie
sich die realen finanziellen Rahmenbedingungen für
Bund, Länder und Kommunen an! Dann können wir
weiter diskutieren.
({9})
Nicht nur wir sind der Auffassung, dass Ihre Vorschläge nicht finanzierbar sind. Sie regieren in fünf Bundesländern mit.
({10})
Davon stehen nun in drei Ländern, Sachsen-Anhalt,
Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, Wahlen an. In
all diesen Ländern werben Sie für Ihr Modell und sagen:
Der Steuervorschlag der FDP ist Superklasse.
({11})
Aber nennen Sie mir einen einzigen Ministerpräsidenten
aus den drei Bundesländern, in denen Sie mitregieren,
der bereit wäre, Ihren Gesetzentwurf in den Bundesrat
einzubringen und zu sagen: Hier, Jungs und Mädels,
({12})
lege ich euch einen Gesetzentwurf vor; den wollen wir. Keiner der Ministerpräsidenten ist tatsächlich der Meinung, dass Ihr Gesetzentwurf Superklasse ist, weil alle
wissen, dass das nicht finanzierbar ist, dass es sich um
eine Luftnummer handelt.
({13})
Wer Haushaltsverantwortung trägt, muss das sehen.
Wer weiß, wie ein Haushalt funktioniert und welche
Wirkungen bestimmte Maßnahmen haben, und sich im
Steuerrecht auskennt, der weiß auch, dass Steuerausfälle in den Anfangsjahren noch viel höher sind als in
den folgenden Jahren. Bezogen auf Ihren Vorschlag, bedeutet das: Die Tarifänderung wirkt zwar sofort. Aber
die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage greift erst
später. Wenn man Ihren Vorschlag umsetzte, dann hätte
man Steuerausfälle nicht, wie von Ihnen behauptet, in
Höhe von 17 bis 19 Milliarden Euro pro Jahr, sondern in
Höhe von rund 32 Milliarden Euro im ersten Jahr. Ich
möchte sehen, wie dann die Verhandlungen in Brüssel
liefen. Sie riskieren, dass Deutschland an die EU Strafgeldzahlungen in Höhe von 10 Milliarden Euro leisten
muss. Dieses Risiko gingen Sie ein. 10 Milliarden Euro
just for fun! Das geht nicht; das ist unverantwortlich.
({14})
Wer sagt, dass die Gesamtsteuerbelastung in Deutschland viel zu hoch sei, hat Recht, was die Strukturen in
einzelnen Bereichen anbelangt. Aber die Steuerquote in
Deutschland liegt - das sollten Sie bitte einmal zur
Kenntnis nehmen - bei knapp über 20 Prozent. Das ist
fast der niedrigste Wert in Europa. Nur die Slowakei
liegt mit 18,4 Prozent noch etwas darunter. Wir müssen
sicherlich die Struktur vereinfachen.
({15})
Aber wir dürfen nicht auf breiter Ebene Steuerentlastungen vornehmen, weil das, wie gesagt, nicht verantwortbar wäre.
({16})
Konzentrieren wir uns daruf, dass Deutschland im internationalen Vergleich konkurrenzfähig bleibt. Die hohe
Abgabenbelastung bei den Löhnen muss im Fokus stehen. Lassen Sie uns auf das Wesentliche schauen! Die
Grünen haben eine Vorlage für ein steuerfinanziertes
Progressivmodell in den Bundestag eingebracht, durch
das kleine Einkommen von Sozialabgaben entlastet werden. Das ist für den Arbeitsmarkt, die Bezieher kleiner
Einkommen und die Arbeitgeber gut. Gehen Sie diesen
Weg mit, anstatt mit irgendwelchen Luftnummern zu
agieren!
Noch zu Ihrem Vorschlag, die Gewerbesteuer abzuschaffen. Man kann darüber reden, wie man die Kommunalfinanzen für die Zukunft regeln will. Das aber,
was ich bei allen, die die Gewerbesteuer abschaffen und
durch etwas anderes ersetzen wollen, anprangere, ist,
dass die Bürger und die Bürgerinnen nicht die Information bekommen, was das denn bedeutet. Diese kaufen
die Katze im Sack. Die Einfachsteuer ist in Wirklichkeit
ein hoch kompliziertes Zuschlagsmodell und die Bürger
erfahren nicht, wie hoch sie in letzter Konsequenz belastet werden, wenn sie Einkommensteuer plus kommunale
Zuschlagsteuern bezahlen. Die einzelnen Bürger und
Bürgerinnen erfahren nicht, wie hoch die Steuersätze für
sie wirklich sind. Das enthalten Sie den Bürgern vor. Frau Präsidentin, ich bin sofort mit meiner Rede am
Ende.
Die Rhetorik klingt gut, aber Sie ignorieren die Zusammenhänge. Auch eine Oppositionspartei muss ihrer
gesamtstaatlichen Verantwortung nachkommen, aber da
ist bei Ihnen Fehlanzeige.
Danke schön.
({17})
Das Wort hat der Kollege Hans Michelbach, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Niemand hier sollte bezweifeln, dass wir eine Reform der Einkommensteuer und der Unternehmensbesteuerung benötigen, um wieder mehr Wachstum und
Beschäftigung zu erzielen.
({0})
Der ausformulierte Gesetzentwurf der FDP nötigt mir
Respekt ab. Er bedarf sicher einer vertiefenden und umfassenden Diskussion. Er ist eine gute Grundlage. Darüber darf man nicht einfach locker hinweggehen. Er ist
eine Grundlage für die weiteren Schritte in der Steuerpolitik. Der Gesetzentwurf der FDP wirft aber zum heutigen Zeitpunkt - das müssen Sie, geschätzter Herr Kollege Dr. Solms, zugeben - zahlreiche Fragen und
Zweifel auf. Insbesondere ist es mehr als fraglich, ob das
angegebene Haushaltsvolumen von 17 bis 19 Milliarden Euro einer näheren Überprüfung standhält. Nach
ersten Berechnungen unsererseits belaufen sich die Kosten auf über 21 Milliarden Euro. Das ist bei einem strukturellen Defizit des Bundeshaushaltes von heute
60 Milliarden Euro eine große Zahl. Es wird ein steiniger Weg, bis diesem Gesetzentwurf zugestimmt werden
kann.
Wir sollten uns angesichts der angespannten Haushaltslage weder eine Verfassungswidrigkeit der Haushalte noch eine des Steuerrechts auf Dauer leisten. Wir
müssen jetzt schrittweise mit Vernunft vorgehen. Meine
Damen und Herren von der FDP, auch für Sie gilt: Schalmeienklänge sind von kurzer Dauer, wenn das Instrument gepfändet wird. Das ist die Situation.
({1})
Die Einhaltung der Verfassung und des europäischen
Stabilitätspaktes ab 2007 muss zunächst oberste Priorität
genießen. Ohne dass wir konsolidiert haben, werden wir
keine Wachstumsziele erreichen und werden wir keine
Kraft für die Steuerpolitik haben.
({2})
Das ist die Grundlage. Wir müssen Schritt für Schritt
vorgehen. Ein Wolkenkuckucksheim nützt unseren Steuerzahlern nichts; denn die Schulden von heute sind die
Steuern von morgen. Das würde letzten Endes auch nicht
der Generationengerechtigkeit und der Planungssicherheit unserer Unternehmen entsprechen.
({3})
Haushaltskonsolidierung und Generationengerechtigkeit ist die Gemeinschaftsaufgabe dieses Deutschen
Bundestages. Deshalb steht die große Koalition für Realität und Praktikabilität in der Steuerpolitik. Wir haben
im Koalitionsvertrag nur das festgelegt, was wir in dieser Legislaturperiode einhalten können. Der Bau von
steuerpolitischen Luftschlössern, meine Damen und
Herren, kostet Sie zwar nichts, aber die zerstörten Erwartungen sind teuer. Nur Glaubwürdigkeit schafft das
notwendige Vertrauen für Wachstum und Beschäftigung.
({4})
83 Prozent der Bürger sind heute zuversichtlich, dass es
zu einem Wirtschaftsaufschwung kommt. Die verbesserte Stimmung ist auf diese Glaubwürdigkeit, auf diese
neue Vertrauensbasis, zurückzuführen. In der Steuerpolitik müssen wir dies nutzen, um einzelne Maßnahmen
umzusetzen.
Alles zu seiner Zeit: Wir werden in dieser Woche das
Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und
Beschäftigung in zweiter und dritter Lesung verabschieden. Das ist von wesentlicher Bedeutung für den beginnenden Aufschwung, für mehr Wachstum und für neue
Jobs. Die Verabschiedung dieses Gesetzes ist der erste
machbare Schritt. Vernünftige Steuerpolitik bedeutet,
Schritte zu vollziehen, die wirklich nutzen und auch finanzierbar sind.
({5})
Die Regelung zur Förderung der privaten Haushalte
als Arbeitgeber, die gezielte Belebung der Investitionstätigkeit, insbesondere der kleinen und mittleren Unternehmen, das ist der richtige Ansatz. Hinzu kommen: Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen bei privat
genutzten Häusern und Wohnungen, die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen durch eine Änderung der
Umsatzbesteuerung - die Umsatzgrenze wird in den alten Bundesländern von 125 000 Euro auf 250 000 Euro
angehoben -; die Abschreibungsbedingungen für bewegliche Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens werden
durch eine bis zum 31. Dezember 2007 befristete Anhebung der degressiven Abschreibung auf 30 Prozent verbessert. Das sind zählbare Hilfen für den Mittelstand: Er
kann möglichst schnell mehr investieren, weil er über
mehr Liquidität verfügt. Wir vollziehen einen wichtigen
Schritt, um mehr Investitionen durch unseren Mittelstand zu ermöglichen.
({6})
Dieser steuerlichen Förderung von Wachstum und
Beschäftigung müssen natürlich größere Schritte in der
Steuerpolitik folgen. Da sind wir beieinander.
({7})
Es wird neue Anläufe zur Steuervereinfachung und
zur Förderung der steuerlichen Wettbewerbsfähigkeit
geben. Tatsache ist: Die Steuerbelastung der Unternehmen liegt im EU-Durchschnitt bei 24,8 Prozent und in
Deutschland bei 39 Prozent. Diese Differenz ist natürlich nicht tragbar. Wir brauchen einen wettbewerbsfähigen Standort. Wir müssen etwas tun; sonst wandern unsere Betriebe in die mittel- und osteuropäischen Länder
ab. Deswegen hat für uns nach der Haushaltskonsolidierung eine Reform der Unternehmensbesteuerung zum
Zwecke der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit auf
dem europäischen Markt oberste Priorität. Das ist unser
Ziel; das ist unser Weg.
({8})
Die Ausgangslage ist ein wichtiger Punkt. Wir müssen unser Gesamtkonzept weiterentwickeln. Dieses
Gesamtkonzept muss für den Bürger verständlich, ausgewogen und akzeptabel sein. Es muss die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen deutlich verbessern, es
muss die kommunale Autonomie stärken und es darf
Bund und Ländern allenfalls in der Startphase eine maßvolle Anschubfinanzierung abverlangen. Schließlich
muss es für alle Beteiligten nachvollziehbar und berechenbar sein.
Es lohnt sich, für diese Aufgabenstellung in den
nächsten Wochen und Monaten zu arbeiten. Im Koalitionsvertrag mit der SPD hat die CDU/CSU eine grundlegende Reform der Unternehmensbesteuerung zum
1. Januar 2008 fest vereinbart.
({9})
Die Modellvorschläge, der Vorschlag der Stiftung
Marktwirtschaft und jener des Sachverständigenrates,
liegen jetzt vor. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit können
diese Vorschläge zu einem gemeinsamen Ergebnis führen. Ich erinnere an den Vorschlag der FDP, an andere
Vorschläge und an unsere Vorschläge: Es besteht ein
breiter Konsens darüber, dass die Verbesserung der
Wettbewerbsfähigkeit durch eine Reform der Unternehmensbesteuerung oberste Priorität haben muss. Wenn
wir diesen Gesetzentwurf in diesem Jahr zustande bringen, dann haben die Unternehmen Planungssicherheit.
Das In-Kraft-Treten dieses Gesetzes zum 1. Januar 2008
wäre ein wichtiges Zukunftssignal. Qualität ist immer
besser als Schnelligkeit. Das ist der Weg, den wir jetzt
beschreiten müssen.
({10})
Wir müssen die vorliegenden Vorschläge und Modelle mit Blick auf das Ziel einer international wettbewerbsfähigen Steuerpolitik in den nächsten Wochen und
Monaten unvoreingenommen prüfen.
Ich kann Ihnen versichern: Bei der Reform der Unternehmensbesteuerung werden uns insbesondere die folgenden Zielsetzungen leiten: die weitgehende Rechtsform- und Finanzierungsneutralität, die Einschränkung
von unsauberen Gestaltungsmöglichkeiten, die Verbesserung der Planungssicherheit für Unternehmen und die
öffentlichen Haushalte, die nachhaltige Sicherung der
deutschen Steuerbasis sowie natürlich als Hauptziel die
Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit
und Europatauglichkeit des Unternehmensteuerrechts.
Wir werden diese Reform Schritt für Schritt anpacken, solide finanziert, mit einem vernünftigen Weg in
die Zukunft. Unsere Steuerzahler, Wirtschaft und Bürger, brauchen standortfreundlichere und steuersystematisch bessere Bedingungen. Damit werden wir mehr
Wachstum und Beschäftigung erreichen. Diesen Weg
sollten wir gemeinsam beschreiten. Dafür sollte es in
diesem Haus einen breiten Konsens geben. Lassen Sie
uns deswegen gemeinsam in der großen Koalition, aber
auch mit allen anderen Fraktionen an diesem Weg ganz
vernünftig arbeiten.
Herzlichen Dank.
({11})
Als Nächster spricht Dr. Volker Wissing für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich zunächst ein paar Sätze zu Frau Kollegin Scheel sagen. Von den Grünen bin ich ganz schön
überrascht. Sie von den Grünen passen ganz gut zur großen Koalition; Sie trippeln da ganz wunderbar mit.
({0})
Diese Debatte hat eines deutlich gemacht: Wir haben
Konzepte; Sie haben sie nicht. Wir kämpfen für die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger; Sie sorgen für die
Belastung.
({1})
Wir wollen ein einfaches und gerechtes Steuersystem
mit niedrigen Sätzen, das die Menschen wieder verstehen; Sie wollen den finanzpolitischen Stillstand.
({2})
Ihre kleinmütigen Einwände machen deutlich, woran
es Ihnen fehlt: Ihnen fehlt es an Mut. Ihnen fehlt es an
der Kraft, Reformen durchzusetzen. Ihnen fehlt es an
Konzepten. Ihnen fehlt es an dem Willen, für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes das zu erreichen, was
sie dringend brauchen, nämlich steuerliche Entlastung.
({3})
Wir wollen für die Bürgerinnen und Bürger eine Entlastung um 20 Milliarden Euro erreichen und haben dazu
einen konkreten Gesetzentwurf vorgelegt. Sie - um Ihnen das deutlich vor Augen zu führen - planen eine
Mehrwertsteuererhöhung und wollen die Bürger mit
20 Milliarden Euro zusätzlich belasten.
({4})
Das ist das krasse Gegenteil von dem, was Deutschland
braucht. Das ist das krasse Gegenteil von dem, was die
FDP will. Das ist das krasse Gegenteil von dem, was wir
Ihnen in einem konkreten Entwurf heute vorgelegt haben.
({5})
Unser Konzept würde die Binnennachfrage stärken.
Ihre Mehrwertsteuererhöhung, lieber Kollege, bremst
sie. Unser Konzept würde die Wirtschaft ankurbeln und
Arbeitsplätze schaffen. Ihre Stillstandspolitik belastet
die Wirtschaft und bedroht Arbeitsplätze. Die FDP hat
Farbe bekannt. Wir haben ein durchdachtes Konzept
vorgelegt.
Nur, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
großen Koalition, wo bleiben denn Ihre Vorschläge? Von
der SPD - Sie haben so kräftig dazwischengerufen - ist
sowieso nicht mehr viel zu erwarten.
({6})
Herr Scheelen, Sie haben Ihr finanzpolitisches Profil
nach dem letzten Bundestagswahlkampf im Grunde genommen über Bord geworfen. Wenn man eine Mehrwertsteuererhöhung um 2 Prozentpunkte kategorisch
ablehnt und dann eine Erhöhung um 3 Punkte mitmacht,
spricht das für sich; dazu braucht man nicht mehr viel zu
sagen.
({7})
Sie von der CDU/CSU, Herr Michelbach - Herr
Bernhardt ist auch noch da -, sagen, alles, was die FDP
vorschlage, gehe nicht, sei falsch und völlig abwegig.
({8})
Ich möchte Ihnen einmal vorhalten, dass Sie auf Ihrem
Parteitag ganz ähnliche Tarife beschlossen haben.
({9})
Herr Merz ist nicht mehr im Raum. Mit Herrn Kirchhof
wollen Sie nichts mehr zu tun haben. Was zurückbleibt,
ist eine finanzpolitische Wüste bei der CDU/CSU.
({10})
Da war eine Bierdeckelsteuer-Kanzlerkandidatin. Da
war eine Kopfpauschalen-Kanzlerkandidatin. Daraus ist
eine Trippeltippelkanzlerin geworden. Schneller, als Sie
das gemacht haben, hat kaum eine Partei in diesem Land
ihre politischen Inhalte über Bord geworfen. Von dem,
mit dem Sie bei der Bundestagswahl angetreten sind, ist
wirklich nicht mehr viel übrig geblieben.
({11})
Sie kritisieren unser Konzept, Frau Frechen, aber Sie
übersehen dabei: Wir haben wenigstens eines; Sie nicht.
({12})
Sie können sich gern an uns abarbeiten, aber Sie werden
die Verantwortung nicht los. Eine Regierung, die es
nicht schafft, eigene Reformkonzepte auf den Tisch zu
legen, kann die Probleme dieses Landes nicht lösen. Sie
sollten regieren, nicht opponieren.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hätten uns gefreut, wenn wir heute einen Regierungsentwurf hätten
mitberaten können. Dann hätten wir wenigstens einen
Wettbewerb der Ideen. Aber so steht die FDP alleine da
mit einem Gesetzentwurf. Es liegt klar auf der Hand,
dass Deutschland ein Problem hat: Deutschland hat eine
Opposition mit Konzepten und eine konzeptionslose Regierung.
({14})
Das war schon fast der Auftrittsbeifall.
({0})
Der Kollege Reinhard Schultz spricht für die SPDFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich nehme den Beifall für mich nicht in Anspruch. - Herr Solms hatte eigentlich ganz nett angefangen und damit eine Debatte eingeleitet, die für die Kernzeit verhältnismäßig sachlich war. Aber was der Herr
Wissing dann nachgeschoben hat, hat diesen Stil gesprengt. Insofern eröffnen sich neue Freiräume für nachfolgende Redner.
({0})
- Nein, eigentlich neige ich nicht dazu.
Es ist ja so, dass neue Mehrheiten, neue Koalitionen
sich neue Adhäsionsflächen suchen. Das ist für einige
- für die FDP, aber auch für andere in diesem Hohen
Hause - sicher in hohem Maße gewöhnungsbedürftig.
Diejenigen, die über lange Zeit sozusagen in der Opposition Koalitionen gebildet haben und mit anderen gewisse
Berührungspunkte hatten, insbesondere im Schnittfeld
„Neoliberalala“, wundern sich natürlich, dass der andere, der sozusagen untreu geworden ist, seine Adhäsionsflächen nun bei der SPD sucht und dass die beiden
Volksparteien andere Schnittmengen finden als CDU/
CSU und FDP, ebenso als SPD und Grüne. So ist das
halt.
Möglicherweise gibt es in der Politik manchmal mehrere vertretbare richtige Antworten zur Lösung eines
Problems. Die große Koalition geht, weil sie gemeinsam
handeln muss, einen gemeinsamen Weg, der sowohl die
Frage der Konsolidierung der Staatsfinanzen als auch die
Frage des Wachstums und die Frage eines modernen,
wettbewerbsfähigen Steuerrechts für Unternehmen unter
einen Hut bringen wird. Das ist ein anderer Ansatz, als
andere ihn haben.
Einige von uns waren gestern Abend Zeugen einer
merkwürdigen Veranstaltung des Bundesverbands mittelständischer Wirtschaft,
({1})
bei der Herr Solms viel Beifall bekommen hat, was ich
verstehen kann; denn was er gesagt hat, passte hervorragend zusammen: am besten Nullsteuerstaat und
100 Prozent Subventionen; das ist das, was bei einer bestimmten Klientel immer Begeisterungsstürme weckt.
({2})
Ich will aber bei dieser Gelegenheit folgenden Eindruck beschreiben; ich finde, auch das muss einmal gesagt werden. Ich rede als Mittelstandsbeauftragter meiner Fraktion sehr viel mit Verbänden. Die meisten sind
sachliche Ratgeber und das ist auch hilfreich. Aber wenn
so ein Zirkusdirektor wie der Mario Ohoven den stellvertretenden Bundeskanzler, den Herrn Solms und den
stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU
als Punchingball benutzt, nach ihnen redet und sie dann
zur Minna macht, nur um selber zu glänzen, dann ist das
keine Gesprächsgrundlage mehr. Mit dieser Verbandsspitze werde ich kein Gespräch mehr führen. Da gibt es
viele andere, sachliche Ratgeber, die uns in mittelstandspolitischen Fragen weiterhelfen werden.
({3})
- Das ist ein halbseidener Zirkusdirektor. Ich setze mich
auch nicht zu ihm an den Tisch, weil man Angst haben
muss, auf ein Pressebild zu kommen, auf dem Handschellen zu sehen sind.
({4})
Das hat mit Seriosität überhaupt nichts zu tun. Das darf
man doch wohl einmal sagen. Ich verstecke mich auch
Reinhard Schultz ({5})
nicht hinter meinem Mandat, sondern sage meine Meinung sehr offen.
Zurück zu dem Gesetzentwurf. Herr Solms, Sie haben, finde ich, einen strukturellen Fehler gemacht: Sie
haben den 25-Prozent-Ansatz bei den Unternehmensteuern auf die privaten Einkommen übertragen. Es gibt
aber keine Schnittstelle, wo Sie private Einkommen
nach Leistungsfähigkeit besteuern und den thesaurierten
Gewinn der Unternehmen unter Wettbewerbsgesichtspunkten niedriger besteuern, sondern Sie setzen das auf
einer bestimmten Ebene gleich. Das begründet im Wesentlichen den riesigen Steuerausfall. Das passt nicht zusammen. Wer thesaurierte Gewinne der Unternehmen
niedrig besteuern will, der muss erst recht die Besteuerung nach Leistungsfähigkeit bei den Privaten beachten.
Ansonsten führt er alle in den Staatsbankrott. Unabhängig davon möchte ich erwähnen, dass Sie in Ihrem Finanztableau, das nur aus einer Zeile besteht, viele
Punkte, die in Ihrem Gesetzentwurf vorhanden sind,
überhaupt nicht benennen.
Das Kindergeld wurde schon angesprochen. Entsprechende Änderungen werden im Gesetzentwurf und in
der Begründung behandelt. Diese Änderungen würden
zu einem zusätzlichen Betrag in Höhe von
9 Milliarden Euro führen. Ich weiß auch nicht, was die
Vererbbarkeit von Ansprüchen aus der Riesterrente
- ein interessanter Gedanke - kosten würde. Aber umsonst ist dies bestimmt nicht zu haben.
All das sind Bestandteile, die die Wüste, die Sie gerade beschrieben haben, nicht gerade beleben. 46 Jahre
Ihrer Regierungsverantwortung bedeuten auch 46 Jahre
der Verwüstung des deutschen Steuerrechts. Da darf man
sich überhaupt nichts vormachen. Wir alle wissen, dass
Steuerrecht zu einem großen Teil Richterrecht ist. Zu
versuchen, im Rahmen einer Vereinfachungsorgie die
kritischen Punkte erst einzusammeln, um dann von
Finanzrichtern sozusagen wieder zurückgepfiffen zu
werden, ist nicht ehrlich und nicht seriös.
({6})
Deswegen würde Ihr Gesetz, würde es jemals im Gesetzblatt stehen, durch Tausende Seiten von Verordnungen unterfüttert werden müssen. Das kennen wir seit
Kirchhof.
({7})
Kirchhof, der große Vereinfacher, hatte erklärt: Nur drei
Seiten Gesetz und der Rest wird in Verordnungen geregelt. Diese Regelungen liegen aber außerhalb des Parlaments und tragen nicht zur Transparenz für den Steuerbürger bei. Das finde ich nicht in Ordnung.
({8})
Wenn wir ein gerechtes Steuerrecht wollen, dann müssen
die entsprechenden Eckpunkte, in denen die Lebenswirklichkeiten berücksichtigt werden, im Gesetz stehen.
Das gilt für die Privaten genauso wie für die Unternehmen.
Man muss sich schon deswegen aus politisch-didaktischen Gründen mit Ihrem Gesetzentwurf auseinander
setzen, weil Sie ein Lehrbeispiel dafür sind, dass Einfachheit manchmal mit Schlichtheit gleichzusetzen ist,
in keinem Falle ist sie aber, siehe Steuerrecht, mit Gerechtigkeit gleichzusetzen.
Ich glaube auch, dass die Wettbewerbsfähigkeit beim
Unternehmensteuerrecht nicht allein durch den Steuersatz bestimmt wird. In Gesprächen mit der Stiftung
Marktwirtschaft und mit dem Sachverständigenrat haben
wir eine Menge gelernt. Bis zum Sommer wird es noch
eine Reihe zusätzlicher Modelle geben. Aus diesen Modellen, die gegeneinander konkurrieren, können wir lernen. Trotzdem gilt, dass sich ein Unternehmen, das am
Standort Deutschland investieren will, mehr anschauen
wird als nur einen plakativen Steuersatz. Es wird sich
auch die übrigen Rahmenbedingungen - beispielsweise
Steuerrecht, Infrastruktur, Qualität der Mitarbeiter, Anzahl der Streiktage - anschauen.
Steuerrecht ist ein Standortfaktor unter mehreren. Der
Steuersatz wiederum ist nur ein Teil davon. Ich bin Unternehmer und weiß einen niedrigen Steuersatz zu schätzen. Ich schätze aber auch beispielsweise vernünftige
Abschreibungsbedingungen und die Möglichkeit von
Drohverlustrückstellungen. Das heißt, Bemessungsgrundlage und Steuersatz gehören zusammen. Das
Schicksal eines Unternehmens ist manchmal genauso
wechselvoll wie das einer Privatperson. Daher muss man
alle möglichen Situationen, die sich für ein Unternehmen ergeben können, im Hinterkopf haben, wenn man
eine Unternehmensteuerreform will, wie man das auch
bei Privaten im Hinblick auf die Besteuerung ihrer Einkünfte tut.
Dieser Gesetzentwurf wird die Debatte bereichern. Er
wird die Stoßrichtung aber nicht verändern. Ich warne
dringend davor, als könnten Sie nach dem Hase-undIgel-Prinzip einfach nur große Vereinfachungsfahnen
schwenken und den Eindruck erwecken, die Koalition
würde ihre Unternehmensteuerreform nicht über die
Rampe bringen.
Nach den Gesprächen in unseren Reihen - die Taktzahl der Begegnungen nimmt ja Gott sei Dank zu - bin
ich sehr sicher, dass wir diese Reform hinbekommen
werden, weil wir den Willen dazu haben. Aber wir wollen auch eine Unternehmensteuerreform haben, die länger gültig ist als eine Wahlperiode und die nicht durch
veränderte Mehrheitsverhältnisse in dreieinhalb Jahren
wieder infrage gestellt werden kann. Die große Koalition
hat die Chance, etwas zustande zu bringen, das von längerer Dauer ist. Das ist die Planungssicherheit, die die
Unternehmen brauchen.
Vielen Dank.
({9})
Für die Linksfraktion spricht Oskar Lafontaine.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Abgeordnete Solms hat für die Freien Demokraten in aller Klarheit die Position dieser Partei dargelegt. Er hat das Steuergesetz mit dem Freiheitsprinzip
in der Verfassung begründet. Darauf will ich eingehen.
Es ist richtig, wenn Sie ein einfaches und gerechtes
Steuersystem verlangen. Wer wollte dem widersprechen? Es ist ebenfalls richtig, wenn Sie sagen, die Menschen müssen das Steuerrecht verstehen, damit sie ihre
Steuererklärung abgeben können.
Unser Widerspruch zu Ihrem Gesetzentwurf kristallisiert sich an Art. 14 des Grundgesetzes, den Sie ebenfalls bemüht haben, den Sie aber interessanterweise sehr
verkürzt zitiert haben. Worauf Sie immer wieder verweisen, ist die Eigentumsgarantie. Ich lese Ihnen einmal den
ersten Absatz vor:
Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze
bestimmt.
Was Sie aber in Ihren Reden immer vergessen, sind
die weiteren Absätze dieses wichtigen Artikels des
Grundgesetzes. Deshalb möchte ich Ihnen einen Auszug
daraus vorlesen:
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich
dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
Eine Enteignung ist … zum Wohle der Allgemeinheit zulässig.
({0})
Zum Verständnis: Damit ist nicht die Enteignung älterer
Arbeitnehmer über die Sozialgesetzgebung gemeint. Die
Väter des Grundgesetzes
({1})
haben vielmehr etwas ganz anderes gemeint. Weil Sie
Art. 14 Abs. 2 des Grundgesetzes übersehen, ist Ihr
Steuervorschlag völlig falsch und inakzeptabel. Denn er
greift die derzeitige Entwicklung unserer Gesellschaft
überhaupt nicht auf und spiegelt sie nicht wider.
Im Jahreswirtschaftsbericht steht die schlichte Feststellung der Bundesregierung - ich wiederhole sie an
dieser Stelle -: Die Löhne wachsen nicht, die Renten
wachsen nicht, die sozialen Leistungen gehen zurück,
nur die Einkommen aus Vermögen und selbstständiger
Tätigkeit wachsen um 7,25 Prozent. Wie man bei dieser
Situation einen Gesetzentwurf einbringen kann, mit dem
die Tendenz einer solchen Entwicklung verschärft
würde, ist niemandem verständlich. Daher wird er von
der großen Mehrheit der Bevölkerung strikt abgelehnt.
({2})
Es wird keine gerechte Steuergesetzgebung in
Deutschland geben, wenn wir bei der jetzigen Entwicklung der Vermögen und Einkommen keine ordentliche
Vermögensbesteuerung einführen, wie es sie in anderen modernen Industriestaaten gibt. Für die Fraktion Die
Linke möchte ich für diejenigen, die heute Zeit haben,
uns zuzuhören, einen einfachen Hinweis geben: Das
reine Geldvermögen der Deutschen beträgt 4 000 Milliarden Euro. Die Hälfte davon, 2 000 Milliarden Euro,
gehören den oberen Zehntausend bzw. 1 Prozent der Bevölkerung. Würde man also nur diese Hälfte mit 5 Prozent besteuern, gäbe es in den öffentlichen Kassen
Mehreinnahmen von 100 Milliarden Euro. Dies zeigt,
dass die ganzen sozialen Kürzungen der letzten Jahre
und die ganze Reformpolitik völlig überflüssig und
- wenn man es hart formuliert - ein einziger Schwindel
waren.
({3})
Nun weiß ich, dass sich niemand von der Mehrheit
dieses Hauses an diese einfache Gesetzgebung wagen
möchte. Der Verweis auf andere mit uns konkurrierende
Staaten wirft aber die Frage auf, warum eine ordentliche
Vermögensbesteuerung in Schweden, Großbritannien
und den Vereinigten Staaten möglich ist
({4})
und warum sie hier in Deutschland nicht möglich sein
soll. Solange diese extreme Schieflage nicht beseitigt ist,
gibt es kein gerechtes Steuersystem in Deutschland.
({5})
Ein weiterer Punkt. Wir möchten nicht nur, dass die
Verfassung wieder ernst genommen wird. Wir möchten
auch, dass die Einkommens- und Lohnentwicklung in
Deutschland der lebendigen Arbeit folgt und nicht dem
toten Kapital.
({6})
Ich wiederhole diesen Satz: Die Einkommens- und Lohnentwicklung in Deutschland soll der lebendigen Arbeit
folgen und nicht dem toten Kapital. Das krasse Gegenteil geschieht seit vielen Jahren. Ich wiederhole die Aussage aus dem Jahreswirtschaftsbericht: Für leistungslose
Einkommensbezieher, wenn man so will, ergibt sich ein
Zuwachs von 7,25 Prozent, während die große Mehrheit
des arbeitenden Volkes in diesem Jahr überhaupt keinen
Zuwachs ihrer Löhne bzw. Renten erwarten kann.
Auf diese Art und Weise kann es einfach nicht weitergehen. Dem Ganzen wird mit einer solchen Vereinfachung, wie Sie sie hier vielleicht gut gemeint vortragen,
die Krone aufgesetzt, wenn die Zuschläge für die Nachtund Schichtarbeit besteuert werden sollen und die Pendlerpauschale abgeschafft werden soll. Gleichzeitig sagt
man aber: Werdet flexibler, werdet beweglicher auf dem
Arbeitsmarkt. Das alles passt nicht mehr zusammen. Aus
diesem Grund lehnen wir den Gesetzentwurf ab.
({7})
Im Grunde genommen geht es in der entwickelten
Volkswirtschaft - wie ein Ökonom, an dem sich heute
viele die Schuhe abputzen, die bei weitem nicht an ihn
heranreichen, nämlich John Maynard Keynes, schon vor
vielen Jahren geschrieben hat - darum, dass es in einem
solchen Entwicklungsstadium, in dem wir uns heute befinden, darauf ankommt, die Ersparnisse wieder in Investitionen umzulenken. Das ist das Kernerfordernis einer Volkswirtschaft, wie wir sie heute vorfinden. Gegen
das Kernerfordernis, Ersparnisse in Investitionen umzulenken, verstoßen Sie massiv mit Ihren Vorschlägen.
Es geht darum, durch eine moderne Gesetzgebung in
Deutschland wieder eine ordentliche öffentliche Investitionsquote zu erreichen wie in unseren europäischen
Nachbarstaaten. Wir werden in Deutschland niemals bei
Wachstum und Beschäftigung zulegen, wenn wir nicht
zumindest eine ähnlich hohe öffentliche Investitionsquote haben wie die europäischen Nachbarstaaten.
({8})
Ein weiterer Punkt. Solange wir die Ersparnisse nicht
in Bildungsinvestitionen und in Investitionen in die
Forschung umlenken, werden wir unsere Volkswirtschaft
nicht modernisieren können. Unsere Volkswirtschaft
wird nicht durch immer neue Steuersenkungsrunden
wachsen und modernisiert. Das wurde in den letzten Jahren erfolglos versucht. Wir sollten uns ein Beispiel an
Volkswirtschaften nehmen, die wachsen. Das sind etwa
die skandinavischen Länder. Ein solches Gesetz, wie Sie
es hier vorlegen, hätte in diesen Volkswirtschaften nicht
die geringste Chance.
({9})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Peter
Rzepka.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir hatten ja gerade das Vergnügen, den größten
Finanzpolitiker aller Zeiten hier im Plenum des Deutschen Bundestages zu hören.
({0})
Sie eröffnen wieder das Gruselkabinett, Herr Kollege
Lafontaine, wenn Sie in einer steuerpolitischen Debatte
mit Stichworten wie Enteignung und Vermögensteuer arbeiten. Sie treiben mit dieser Argumentation Kapital und
Investitionen aus Deutschland heraus und anschließend
beklagen Sie sich über Arbeitslosigkeit und die Notwendigkeit, die Not leidenden Sozialsysteme zu reparieren.
({1})
Wir diskutieren heute über den Gesetzentwurf der
FDP-Fraktion. Ich denke, wir müssen bei dieser Gelegenheit einige Bemerkungen zum Ausgangspunkt machen, und zwar über die andauernden Bemühungen des
Steuergesetzgebers, Einzelfallgerechtigkeit herzustellen. Das hat das deutsche Steuerrecht letztlich widersprüchlich, unübersichtlich und ineffizient werden lassen. Schließlich ist auch die Steuergerechtigkeit auf der
Strecke geblieben, weil nur diejenigen die Möglichkeiten zur Steuerminderung nutzen können, die eine teure
Steuerberatung bezahlen können.
Wir streben daher neben der für das Jahr 2008 geplanten strukturellen Reform der Unternehmensbesteuerung
eine Neuformulierung auch des deutschen Einkommensteuerrechts an. Letztere hat das Ziel, die Einkommensteuer einfacher, verständlicher, effizienter und damit
auch gerechter zu gestalten. Hierzu halten wir allerdings
am linear-progressiven Steuertarif fest. Wir wollen die
Zahl der Ausnahmetatbestände reduzieren sowie durch
Typisierungen und Pauschalierungen das Besteuerungsverfahren modernisieren und Bürokratie abbauen. Die
Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit
bleibt allerdings für uns eine wichtige, auch verfassungsrechtlich gebotene Leitlinie steuerpolitischen Handelns.
({2})
Schließlich müssen die Steueränderungen auch sozial
ausgewogen realisiert werden.
Angesichts des internationalen Steuerwettbewerbs hat
für uns allerdings die Reform der Unternehmensbesteuerung Priorität. Das neue Unternehmensteuerrecht
soll die Steuerbasis in Deutschland nachhaltig sichern, Investitionsanreize setzen, das Wirtschaftswachstum beleben und Arbeitsplätze schaffen. Dabei streben auch wir,
wie die FDP, Rechtsform- und Finanzierungsneutralität
an. Wir sind allerdings realistisch genug, zu erkennen,
dass angesichts des bestehenden Konsolidierungsdrucks
in allen öffentlichen Haushalten Nettoentlastungen nur
insoweit zu realisieren sein werden, als die ausgelösten
Wachstumsimpulse zusätzliche Steuereinnahmen bewirken.
Die Notwendigkeit einer Reform der direkten Steuern, die die FDP-Fraktion mit ihrem vorliegenden Gesetzentwurf auf den Weg bringen will, ist also unbestritten.
Lassen Sie mich zu einigen Details des vorliegenden
Gesetzentwurfs sprechen. Sie von der FDP-Fraktion
schlagen vor, dass Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteile
zur gesetzlichen Rentenversicherung sofort und in voller
Höhe steuerlich abzugsfähig sein sollen. Arbeitnehmer,
deren Einkommen unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung liegt, sollen weitere Beträge - und zwar bis zum Höchstbeitrag in
der gesetzlichen Rentenversicherung - in eine private kapitalgedeckte Altersvorsorge mit steuerlicher Wirkung
investieren können. Außerdem sollen auch Selbstständige Altersvorsorgebeiträge bis zu den Höchstbeiträgen
in der gesetzlichen Rentenversicherung geltend machen
können. Und Sie versprechen noch mehr: Sonstige Aufwendungen zur Alters- und Risikovorsorge sollen über
die gesetzlichen Höchstbeiträge hinaus bis zur Höhe von
2 500 Euro zusätzlich abziehbar sein.
Demgegenüber sollen die Renten aus diesen steuerfrei gestellten Beiträgen erst zum Zeitpunkt des Zuflusses versteuert werden. Diese Vorschläge verwirklichen
zwar konsequent die Zielsetzung der nachgelagerten
Besteuerung von Alterseinkünften. Da aber die steuerfreien Einzahlungen in die Rentenversicherung und die
dann steuerpflichtigen Auszahlungen viele Jahre auseinander fallen können, ergeben sich für die Zwischenzeit
Steuerausfälle in Milliardenhöhe, die kein Finanzminister in dieser Republik vertreten kann.
({3})
Allein die steuerliche Abziehbarkeit der Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung würde in den
ersten Jahren zu jährlichen Steuerausfällen in Höhe von
über 20 Milliarden Euro führen.
({4})
Wir alle kennen diese Berechnungen. Die über die
Pflichtbeiträge hinausgehende Absetzbarkeit von Aufwendungen für die Altersvorsorge würde weitere Steuerausfälle in Milliardenhöhe zur Folge haben.
Nach Ihrem Modell sollen Kapitalerträge, die nicht
Ausschüttungen von Kapitalgesellschaften sind, mit einer Abgeltungsteuer von 25 Prozent belastet werden.
Dieser Abgeltungsteuersatz soll dem Höchststeuersatz
für unternehmerische Einkünfte bei Personenunternehmen und Kapitalgesellschaften von ebenfalls 25 Prozent
entsprechen. Die Probleme, die sich bei der Besteuerung
nach der Leistungsfähigkeit ergeben, sowie die verfassungsrechtlichen Bedenken sind bereits angesprochen
worden.
Meine Damen und Herren von der FDP-Fraktion, Sie
werden die Diskussion in der Öffentlichkeit darüber bestehen müssen, dass dann der Seniorpartner einer Anwalts- oder Steuerberatersozietät sein hohes Einkommen
mit 25 Prozent versteuern muss, während der angestellte
junge Anwalt oder Steuerberater sein Gehalt mit bis zu
35 Prozent versteuern muss. Es handelt sich damit bei
der dualen Einkommensteuer in Ihrem Konzept um einen Systembruch.
Wie Sie wissen, haben auch wir trotz der verfassungsrechtlichen Problematik vorgesehen, diese Frage vor
dem Hintergrund des internationalen Wettbewerbsdrucks
zu prüfen. Wir wissen, dass viele andere Staaten Unternehmensgewinne und Kapitalerträge niedriger versteuern.
({5})
Deswegen müssen wir uns über dieses Thema Gedanken
machen.
({6})
Wir nehmen Ihre Vorschläge deshalb auf und werden in
den Beratungen die vorgezeichnete Frage eines Übergangs zu einem dualen Steuersystem, zu einer dualen
Einkommensteuer noch im Detail prüfen.
Des Weiteren möchte ich auf die im Entwurf vorgesehene Besteuerung aller Gewinne aus der Veräußerung von Wirtschaftsgütern, die einer wirtschaftlichen
Betätigung gedient haben, eingehen, zum Beispiel auch
vermietete Immobilien und Wertpapiere. Mit der in der
Begründung Ihres Entwurfs aufgenommenen Formulierung - ich zitiere Zur Ermittlung eines eventuellen Gewinns wird als
Stichtag der Tag des Inkrafttretens des neuen Einkommensteuergesetzes eingeführt
würden Sie zwar das Problem der Rückwirkung inflationärer Scheingewinne entschärfen, aber erhebliche Bewertungsprobleme neu schaffen. Alle Wirtschaftsgüter,
die einer wirtschaftlichen Betätigung dienen, müssen
zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Gesetzes bewertet werden. Wer weiß, dass Bewertungsfragen die am
schwierigsten zu bewältigenden Aufgaben im Steuerrecht sind, wird erhebliche Bedenken gegen diesen Gesetzesvorschlag haben müssen.
Lassen Sie mich noch eine Anmerkung zu der Gewinnermittlung im Unternehmensbereich machen. Für alle
bilanzierenden Unternehmen soll nach Ihren Vorschlägen der Gewinn als steuerliche Bemessungsgrundlage
maßgebend sein, der von dem Unternehmen auf der
Grundlage des Handelsrechts ermittelt wird. Dabei sollen auch die International Accounting Standards anwendbar sein. Die steuerliche Bemessungsgrundlage
würde dann von Rechnungslegungsvorschriften bestimmt, die dem Einfluss des deutschen Steuergesetzgebers entzogen sind. Ich denke, dass wir das im Deutschen Bundestag nicht beschließen werden.
({7})
Der Kollege Solms möchte eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie das zu? - Bitte schön, Herr Solms.
Herr Kollege Rzepka, würden Sie bitte zur Kenntnis
nehmen, dass wir uns vor dem Hintergrund dessen, dass
in Europa verhandelt wird, die Rechnungslegungsvorschriften in Europa zu vereinheitlichen, keine neuen
Vorschriften dafür ausgedacht haben. Wir haben gesagt,
wir bleiben beim geltenden Recht und warten ab, was
auf europäischer Ebene vereinbart wird. Wenn wir zu
einheitlichen europäischen Bilanzierungsvorschriften
kommen, dann werden diese selbstverständlich übernommen. Bis dahin neue Vorschriften zu erarbeiten, ist
eigentlich müßig.
({0})
Herr Kollege Solms, ich stimme Ihnen völlig zu, dass
wir alles versuchen sollten, um in Europa zu einheitlichen Bemessungsgrundlagen zu kommen. Ich denke
aber, wir brauchen auch weiterhin eine Trennung von
handelsrechtlichen und steuerrechtlichen Vorschriften,
die unterschiedlichen Zwecken dienen.
({0})
Insofern werden wir uns über die steuerlichen Bemessungsgrundlagen noch detailliert Gedanken machen
müssen. So einfach, wie Sie es sich in Ihrem Gesetzentwurf gemacht haben, wird es sicher nicht gehen.
Abschließend sage ich - das ist hier in der Diskussion
schon angesprochen worden -: Die Vorschläge der FDP
reißen große Löcher in die Kassen der Finanzminister,
die durch etwaige Einnahmeerhöhungen aufgrund der
grundsätzlichen Anreizwirkung von Steuersenkungen
nicht annähernd aufgehoben werden können. Die Steuerausfälle gehen nach meiner Einschätzung weit über die
von Ihnen genannten Beträge von 17 bis 19 Milliarden
Euro hinaus. Ich gehe von weit über 30 Milliarden Euro
aus. Ich habe auf die Auswirkungen der von Ihnen vorgeschlagenen Besteuerung der Alterseinkünfte hingewiesen.
Fazit: Der Entwurf ist notwendig, weil er die Vereinfachung unseres Steuerrechts und die Reform der Unternehmensbesteuerung auf die Tagesordnung dieses
Hauses setzt. Auch wir wollen ein einfacheres Einkommensteuerrecht, eine international wettbewerbsfähige
Unternehmensbesteuerung und eine Senkung der deutlich zu hohen Staatsquote. Wir wollen aber auch einen
Staat, der über die Einnahmen verfügt, die erforderlich
sind, um die Daseinsvorsorge für unsere Bürgerinnen
und Bürger sozial ausgewogen zu gestalten.
Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Kollege.
Ich komme zum Ende.
Ihre steuerpolitischen Konzepte mit dem Ziel der
Einführung einer Flat Tax bewirken Einnahmeausfälle
auf der Seite von Bund, Ländern und Kommunen, die
die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Hand auf allen
Ebenen beeinträchtigen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Bernd Scheelen für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Kollege Lafontaine hat gerade - wie er es
gerne macht - ein flammendes Plädoyer für die Einführung einer Vermögensteuer gehalten.
({0})
Dafür gibt es in der Bürgerschaft viel Sympathie. Auch
in diesem Haus gibt es für eine Vermögensteuer sicherlich viel Sympathie.
({1})
Er hat allerdings den Eindruck erweckt, als wenn es nur
eines Beschlusses dieses Hohen Hauses bedürfe, um
eine solche einzuführen. Das ist unredlich. Das zeichnet
den Populisten aus.
({2})
Er hätte darauf hinweisen müssen, dass es sich bei der
Vermögensteuer um eine Ländersteuer handelt. Das
heißt, das Aufkommen einer Vermögensteuer steht den
Ländern - es sind bekanntermaßen 16 - zu. Dort herrschen andere Mehrheiten. Man muss sich Niederlagen
nicht selbst organisieren. Man muss Realitäten, auch bei
den Mehrheitsverhältnissen, zur Kenntnis nehmen.
Zwischen dem Herbst 1998 und dem Frühjahr 1999
hat es einen Zeitkorridor gegeben, in dem Sie das als
Bundesfinanzminister hätten machen können. In dieser
Zeit waren die Mehrheitsverhältnisse passend. Das haben Sie aber nicht hingekriegt. Deswegen sollten Sie mit
solchen Argumenten relativ vorsichtig sein.
({3})
Wir sprechen im Moment über einen Gesetzentwurf
der FDP-Fraktion. Der Titel des Gesetzentwurfs lautet:
„Entwurf eines Gesetzes zur Reform der direkten Steuern“.
({4})
Vor zwei Jahren haben Sie unter dem Titel „Entwurf eines Gesetz zur Einführung einer neuen Einkommensteuer und zur Abschaffung der Gewerbesteuer“ ein Vorläufermodell in den Bundestag eingebracht. Damals
waren Sie zumindest im Titel noch ehrlich. Insofern haben Sie hinzugelernt. Die Wörter „Abschaffung der Gewerbesteuer“ stehen nicht mehr im Titel, aber im Text.
Am Inhalt hat sich also nicht viel geändert. Insofern sage
ich: Alter Wein in neuen Schläuchen; denn auch mit diesem neuen Vorschlag wollen Sie die Gewerbesteuer abschaffen.
Unter dem Stichwort „Lösung“ fordern Sie ein
„neues, einfaches und verständliches Einkommensteuergesetz“. Zum Thema Verständlichkeit lese ich einen
Passus aus Ihrem Entwurf vor, damit die Menschen feststellen können, ob das alles tatsächlich so verständlich
ist, wie Sie glauben. § 34 lautet:
Bei unbeschränkt Steuerpflichtigen, die mit ausländischen Einkünften in dem Staat, aus dem die Einkünfte stammen, zu einer der deutschen Einkommensteuer entsprechenden Steuer herangezogen
werden, ist die festgesetzte und gezahlte und keinem Ermäßigungsanspruch mehr unterliegende
ausländische Steuer auf die deutsche Einkommensteuer anzurechnen, die auf die Einkünfte aus diesem Staat entfällt.
Die auf diese ausländischen Einkünfte entfallende
deutsche Einkommensteuer ist in der Weise zu ermitteln, dass die sich bei der Veranlagung des zu
versteuernden Einkommens - einschließlich der
ausländischen Einkünfte - nach den §§ 30 und 31
ergebende deutsche Einkommensteuer im Verhältnis dieser ausländischen Einkünfte zur Summe der
Einkünfte aufgeteilt wird. Bei der Ermittlung der
ausländischen Einkünfte sind die ausländischen
Einkünfte nicht zu berücksichtigen, die in dem
Staat, aus dem sie stammen, nach dessen Recht
nicht besteuert werden.
Ich hoffe, Sie alle haben das verstanden.
({5})
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Ich glaube, hinsichtlich der Verständlichkeit sollten
Sie noch etwas nacharbeiten.
Neben der Forderung nach einem einfachen und verständlichen Steuerrecht fordern Sie unter dem Punkt
„Lösung“, dass der normale Steuerzahler seine Steuererklärung demnächst auf einem DIN-A4-Blatt ausfüllen
kann; dazu soll er nicht mehr als eine Stunde brauchen.
({6})
Einmal unabhängig von der Frage, wieso man eigentlich
für das Ausfüllen einer einzigen DIN-A4-Seite eine
Stunde benötigt ({7})
das haben Sie so formuliert -, darf ich Sie darauf hinweisen, dass es sinnvoll wäre, sich einmal die Internetseite www.bundesfinanzministerium.de anzuschauen.
Sie werden feststellen, dass es so ein Formular schon
gibt. Es ist ein auf beiden Seiten bedrucktes Blatt. Das
ist die vereinfachte Steuererklärung für den normalen
Arbeitnehmer. Das Finanzministerium geht davon aus,
dass das Ausfüllen dieser Steuererklärung etwa
15 Minuten dauert. Das heißt, das, was Sie vorschlagen,
ist eine deutliche Verschlechterung gegenüber geltendem
Recht. Schon deswegen können wir das nicht mitmachen.
({8})
- Oh doch!
Es ist einfach ein Märchen, dass die Masse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Hause stundenlang über ihrer Steuererklärung brüte.
({9})
Das ist nicht der Fall. Mit dieser vereinfachten Form
wird die Mehrzahl der Fälle erfasst. Insofern ist in den
letzten Jahren schon eine Menge mit Blick auf Vereinfachung geschehen.
Jetzt komme ich zum Punkt Abschaffung der
Gewerbesteuer, den Sie aus dem Titel des Gesetzentwurfs gestrichen haben. Sie begründen die von Ihnen
vorgeschlagene Abschaffung der Gewerbesteuer damit,
dass die Gewerbesteuer in Deutschland international gesehen einmalig sei, dass es sie nirgendwo anders gebe,
dass sie eine Zusatzbelastung der deutschen Wirtschaft
sei und den Export belaste, den Import aber nicht. Einmal abgesehen davon, dass wir Exportweltmeister sind,
kann es so ganz dramatisch mit der Gewerbesteuer nicht
sein.
Es stimmt aber auch nicht, dass es in anderen Ländern
keine vergleichbaren Steuern gibt. Die heißen teilweise
sogar Gewerbesteuer.
({10})
Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele: In Luxemburg
heißt sie Gewerbesteuer. In Österreich gibt es eine Gewerbesteuer, die sich an der Lohnsumme orientiert.
({11})
Die haben wir in Deutschland bereits vor 30 Jahren abgeschafft.
({12})
- Doch, das war 1971. - In Frankreich gibt es die taxe
professionelle; das ist eine Wertschöpfungsteuer. In Japan gibt es die Enterprise Tax, in den USA die Franchise
Tax und in Kanada gibt es - hören Sie einmal gut zu die Gewerbekapitalsteuer. Die haben wir, glaube ich,
1998 oder 1999 abgeschafft.
({13})
Die Lohnsummensteuer haben wir, wie ich bereits sagte,
vor 30 Jahren abgeschafft. Wenn Sie sich die Namen dieser Länder ansehen, dann stellen Sie fest, dass das viele
sind - gerade die USA, Kanada und Japan -, die mit uns
auf den Weltmärkten im Export konkurrieren. So dramatisch ist die Situation offensichtlich nicht. Dieses Argument würde ich an Ihrer Stelle in Zukunft nicht mehr
verwenden.
Das eigentliche Problem im internationalen Vergleich
ist - dazu haben Sie eine Menge beigetragen -, dass Sie
zu unseren, wie ich finde, relativ moderaten Unternehmensteuersätzen - mit einer Körperschaftsteuer von
25 Prozent sind wir international durchaus konkurrenzfähig - immer die Gewerbesteuer mit 13 Prozent dazurechnen.
({14})
- Das ist ja auch in Ordnung. Es wäre aber noch mehr in
Ordnung, wenn man bei den anderen Ländern die kommunalen Steuern dazurechnen und dann den Vergleich
machen würde. Das machen Sie nicht. Das ist unredlich
und unverantwortlich. Damit schädigen Sie den Standort
Deutschland.
({15})
Die Abschaffung der Gewerbesteuer - das muss man
einmal in Zahlen ausdrücken - betrifft ein Aufkommensvolumen für die Gemeinden von netto etwa
25 Milliarden Euro. Die Zahlen für 2005 liegen vor. Die
Gewerbesteuer beträgt brutto etwa 31 Milliarden Euro.
6 Milliarden Euro gehen an Bund und Länder in Form
von Umlagen. Es verbleiben etwa 25 Milliarden Euro.
Die wollen Sie den Gemeinden erst einmal wegnehmen.
Dann sagen Sie: Natürlich brauchen sie einen Ersatz.
Das ist logisch; das kann man den Kommunen nicht ersatzlos wegnehmen. Aber die Frage ist: Wie sieht der Ersatz, den Sie vorschlagen, aus? Sie wollen ein ZweiSäulen-Modell: Zuschlagsrechte auf Einkommensteuer
und auf Körperschaftsteuer sowie Eigenbeteiligung an
der Umsatzsteuer.
Bei der Einkommensteuer gibt es ein Problem; denn
von den Einnahmen aus dieser Steuer erhalten die Gemeinden bereits einen Anteil von 15 Prozent. Das entspricht zurzeit einem Betrag von 22 Milliarden Euro.
Nach Ihrem Konzept wäre es schon außergewöhnlich
schwierig, diese Einnahmen der Gemeinden in Höhe von
22 Milliarden Euro überhaupt zu erhalten; denn Sie wollen die Einkommensteuersätze senken. Dennoch gehe
ich davon aus, dass das eventuell gelingen könnte, wenn
nämlich die Kommunen sehr hohe Zuschläge erheben
würden. Aber selbst dann bliebe bei Abschaffung der
Gewerbesteuer immer noch ein Loch von 25 Milliarden
Euro.
({16})
Es bleibt also nur noch die Umsatzsteuer übrig. Den
Anteil, der den Gemeinden aus den Einnahmen aus dieser
Steuer zufließt, wollen Sie um 9,8 Prozent erhöhen. Das
würde 14 Milliarden Euro einbringen. Es bliebe also immer noch eine Differenz von 11 Milliarden Euro übrig,
die Sie mithilfe der Körperschaftsteuer ausgleichen müssten. Sie müssen mir einmal erklären, wie das gehen soll.
Ihren Vorstellungen zufolge sollen sich die Zuschläge
für die Gemeinden in einer Größenordnung von 2 bis
4 Prozentpunkten bewegen. Damit die Belastung aus
dieser Steuer in Deutschland nicht, wie es mittlerweile
der Fall ist, bei 38 Prozent, sondern unter 30 Prozent
liegt, wollen Sie einen Körperschaftsteuersatz von
25 Prozent einführen, ergänzt durch Zuschläge für die
Kommunen in Höhe von 2 bis 4 Prozentpunkten. Dann
würde die Belastung aus dieser Steuer 27 bis 29 Prozent
betragen. Das führt allerdings gerade einmal zu Einnahmen von 2 bis 4 Milliarden Euro, sodass nach wie vor
ein Loch von 7 und 9 Milliarden Euro vorhanden wäre.
Sie sagen nicht, wie Sie dieses Loch schließen wollen; das können Sie auch gar nicht.
Berücksichtigt man, dass Sie die Steuersätze insgesamt senken wollen, ist diese Rechnung - ein Minus von
7 bis 9 Milliarden Euro - sogar sehr konservativ und zu
Ihren Gunsten ausgelegt. Vermutlich müssten die Kommunen nach Ihrem Gesetzentwurf sogar auf 15 bis
20 Milliarden Euro verzichten. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Das machen wir nicht mit.
({17})
Die Frage, wie man optisch niedrigere Steuersätze erreichen kann, haben wir Ihnen vor drei Jahren beantwortet. Damals hat die zuständige Kommission das Modell
vorgeschlagen, die Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer zu verbreitern und die Steuersätze um
40 Prozent zu senken; darüber könnte man erneut nachdenken. Auf diese Weise sind optisch deutlich niedrigere
Steuersätze zu erzielen. Sie geben ja selbst zu, dass
Deutschland, was die Steuerbelastung angeht, im internationalen Vergleich gar nicht schlecht dasteht. Das Problem sind die optisch hohen Steuersätze. Dieses Problem
lässt sich allerdings auch anders lösen, als Sie es in Ihrem Gesetzentwurf vorschlagen.
Wenn es um die Abschaffung der Gewerbesteuer
geht, bin ich ganz an der Seite meines Finanzministers,
der im Januar dieses Jahres im Finanzausschuss gesagt
hat: Wir sind offen für alle Modelle, die die Gewerbesteuer ersetzen können; allerdings müssen sie mindestens genauso gut wie die Gewerbesteuer sein. Er fügte
hinzu, dass ihm derzeit kein Modell bekannt sei, das
diese Voraussetzung erfülle: weder das der Stiftung
Marktwirtschaft noch das des Sachverständigenrates
noch der Gesetzentwurf der FDP. Aber es ist ja noch
nicht aller Tage Abend. Vielleicht arbeiten Sie noch an
Ihrem Modell und verbessern es. Dann können wir wieder darüber reden.
Herzlichen Dank.
({18})
Damit schließe ich die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist die Überweisung des
Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/679 an die Aus-
schüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung aufge-
führt sind. Abweichend von der Tagesordnung soll die
Vorlage an den Haushaltsausschuss ausschließlich ge-
mäß § 96 unserer Geschäftsordnung überwiesen wer-
den. - Dazu gibt es offensichtlich keine anderweitigen
Vorschläge und Sie sind einverstanden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 c sowie
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 g auf:
24 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 8. Dezember 2004 über
den Beitritt der Tschechischen Republik, der
Republik Estland, der Republik Zypern, der
Republik Lettland, der Republik Litauen, der
Republik Ungarn, der Republik Malta, der
Republik Polen, der Republik Slowenien und
der Slowakischen Republik zu dem Übereinkommen über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen
zwischen verbundenen Unternehmen
- Drucksache 16/914 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. März 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik
Jemen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von Luftfahrtunternehmen auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
- Drucksache 16/915 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung und Bereinigung des Lastenausgleichs-
rechts
- Drucksachen 16/916, 16/955 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
ZP 2 a)Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes und des
Telekommunikationsgesetzes
- Drucksache 16/521 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Luftaufsicht
und die Luftfahrtdateien
- Drucksache 16/958 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Tourismus
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van
Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Jugendstrafvollzug verfassungsfest gestalten
- Drucksache 16/851 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({5}), Britta
Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zwischenbilanz für Integrationskurse des Jahres 2005 vorlegen
- Drucksache 16/940 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({6})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Ute Koczy, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Mit der strategischen Partnerschaft zwischen
der Europäischen Union und Lateinamerika
Ernst machen und deutsches Engagement ausbauen
- Drucksache 16/941 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Innovationspakt 2020 für Forschung und
Lehre in Deutschland - Kooperationen zwischen Bund und Ländern weiter ermöglichen
- Drucksache 16/954 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lutz
Heilmann, Eva Bulling-Schröter, Hans-Kurt Hill,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN
Ein einheitliches Umweltrecht schaffen Kompetenzwirrwarr vermeiden
- Drucksache 16/927 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Rechtsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Ich komme zunächst zu den Tagesordnungspunkten 24 a bis 24 c sowie zu den Zusatzpunkten 2 a
bis 2 f. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Zusatzpunkt 2 g. Die Vorlage auf Drucksache 16/927
soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse überwiesen werden, jedoch ist die Federführung strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD
wünschen die Federführung des Rechtsausschusses, die
Fraktion Die Linke wünscht die Federführung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion Die Linke abstimmen, die Federführung
dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu übertragen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Damit ist dieser Überweisungsvorschlag mit den Stimmen der großen Koalition gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen bei
Enthaltung der FDP-Fraktion abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen von CDU/CSU und SPD abstimmen, die Federführung dem Rechtsausschuss zu übertragen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist mit den Stimmen
der großen Koalition gegen die Stimmen der Fraktionen
Die Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen und bei
Enthaltung der FDP-Fraktion beschlossen, die Federführung dem Rechtsausschuss zu übertragen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 j auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen hier keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 25 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 21. Mai
2003 über die strategische Umweltprüfung
zum Übereinkommen über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen ({9})
- Drucksache 16/341 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10})
- Drucksache 16/899 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({11})
Lutz Heilmann
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 b:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Pflanzenschutzgesetzes
- Drucksache 16/645 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({12})
- Drucksache 16/897 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Jahr
Dr. Christel Happach-Kasan
Cornelia Behm
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf so
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf
in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses
bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf bei den
gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({13}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Zweiundsiebzigste Verordnung zur Änderung
der Außenwirtschaftsverordnung
- Drucksachen 16/361, 16/480 Nr. 2.1, 16/746 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Ditmar Staffelt
Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 16/361 nicht zu verlangen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({14}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Einhundertzweiundfünfzigste Verordnung zur
Änderung der Einfuhrliste
- Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 16/362, 16/480 Nr. 2.2, 16/747 Berichterstattung:
Abgeordnete Gudrun Kopp
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 16/362 nicht zu verlangen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({15}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Umsetzung der Ratsentscheidung vom 19. Dezember 2002 zur Festlegung
von Kriterien und Verfahren für die Annahme
von Abfällen auf Abfalldeponien
- Drucksachen 16/573, 16/612 Nr. 2.1, 16/921 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Michael Kauch
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf
Drucksache 16/573 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({16}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Erste Verordnung zur Änderung der Zweiundzwanzigsten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
({17})
- Drucksachen 16/574, 16/612 Nr. 2.2, 16/959 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({18})
Detlef Müller ({19})
Michael Kauch
Lutz Heilmann
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf
Drucksache 16/574 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der
Fraktion der Linken angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 25 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 21 zu Petitionen
- Drucksache 16/828 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 22 zu Petitionen
- Drucksache 16/829 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 22 ist bei Enthaltung der
Fraktion der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 23 zu Petitionen
- Drucksache 16/830 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 25 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 24 zu Petitionen
- Drucksache 16/831 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht bei Gegenstimmen aus der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und
der Linken angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der LINKEN
Tarifliche Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Gregor Gysi.
({24})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir erleben im öffentlichen Dienst gegenwärtig relativ
harte und schon lang andauernde Auseinandersetzungen.
Die Gewerkschaften haben wegen der Haltung der Kommunen, aber vor allem wegen der Haltung einiger Länder zum Streik aufgerufen. Die Länder sind davon entweder gar nicht oder sehr stark betroffen, je nach Grad
der Auseinandersetzung.
Was verlangen die Arbeitgeber, die sich, wenn ich das
richtig mitbekommen habe - ich denke an die verschiedenen Positionen der Landesminister -, inzwischen nicht
mehr einig sind? Sie fordern eine Verlängerung der Arbeitszeit im öffentlichen Dienst ohne jede zusätzliche
Lohnleistung. Im Kern ist das nichts anderes als eine
Stundenlohnsenkung. Das ist nicht hinnehmbar.
({0})
Dagegen wehren sich die Gewerkschaften. Ich freue
mich, dass sie das mit deutlich mehr Selbstbewusstsein
als früher tun.
({1})
Es gibt Gerüchte - sie sind häufig in den Zeitungen zu
lesen -, denen man Glauben schenkt; das möchte ich
auch mir zubilligen. So konnte ich mehrfach lesen, dass
wir im Vergleich mit anderen Ländern einen der größten
öffentlichen Dienste hätten. Wenn man das ständig liest,
glaubt man das irgendwann auch.
({2})
- Sie finden das komisch. Sie arbeiten aber auch nicht
im öffentlichen Dienst. Sie bekommen Ihr Geld jeden
Monat und keiner verlangt von Ihnen eine Verlängerung
der Arbeitszeit. Das ist der Unterschied.
({3})
Wir haben Statistiken über den Anteil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst an der Gesamtheit der Beschäftigten. Je nach Statistik - die Statistiken unterscheiden sich etwas - beträgt ihr Anteil zwischen 12 und
16 Prozent. Der Anteil der Beschäftigten in den öffentlichen Diensten in Großbritannien und in den USA ist höher, in den skandinavischen Ländern ist ihr Anteil sogar
doppelt so hoch wie in Deutschland.
Nun werden Sie wieder die These aufstellen, dass
man in diesen Ländern nichts davon verstehe, nur in
Deutschland verstehe man etwas davon.
({4})
Ich glaube, diese These ist falsch.
({5})
Das will ich Ihnen an einem Beispiel deutlich machen.
Es wird immer gesagt, wir bräuchten weniger Staat, dort
gebe es viel zu viele Beschäftigte. Das ist auch in den
Boulevardzeitungen zu finden, die ich mit Interesse lese.
Wenn dann aber zum Beispiel in Bad Reichenhall ein
Dach zusammenbricht, schreiben die gleichen Zeitungen, dass wahrscheinlich der Bürgermeister dafür verantwortlich ist. Man muss sich entscheiden: Wollen wir
Verantwortlichkeit des Staates? Dann muss er aber auch
Beschäftigte haben. Wenn wir Sicherheit wollen - ich
denke nur an die Feuerwehr -, dann brauchen wir Beschäftigte, und wenn wir Kontrollen wollen, auch.
({6})
Zu sagen, wir bräuchten weniger Beschäftigte, aber dann
den Staat für alles verantwortlich zu machen, geht nicht
auf. Das ist die falsche Logik, und es ist auch die falsche
Philosophie.
({7})
Die nächste Frage, die sich stellt, lautet, ob wir in
Deutschland andere Arbeitszeiten haben als in anderen
Ländern. Mit seiner Arbeitszeit im öffentlichen Dienst
liegt Deutschland im Vergleich zu den Arbeitszeiten der
anderen öffentlichen Dienste in Europa über dem EUDurchschnitt, und zwar mit einer halben Stunde pro Woche. Das ist interessant. Im Vergleich zu Ländern wie
Italien oder Frankreich haben wir deutlich längere Arbeitszeiten. Die These, dass wir im Vergleich zu anderen
Ländern eine kürzere Arbeitszeit hätten, ist falsch. Ich
glaube nicht, dass die anderen Länder auch in diesem
Punkt falsche Wege gehen.
({8})
Wenn man das alles zusammennimmt, dann ist doch
klar, dass eine Gewerkschaft nicht Ja zu einer unbezahlten Verlängerung der Arbeitszeit sagen kann, sondern einen anderen Weg gehen muss.
({9})
Sie muss deutlich machen: Wenn man mehr Beschäftigung will, dann muss man mehr Leute einstellen. Damit
würde man, auch im öffentlichen Dienst, ein Problem
der Arbeitslosigkeit lösen.
({10})
Ich habe eben gesagt, wie hoch die Anteile der Beschäftigten in den öffentlichen Diensten in Großbritannien,
den USA und in Skandinavien sind. Wäre der Anteil in
Deutschland genauso hoch, dann hätten wir deutlich weniger Arbeitslose. Sie sind dazu nicht bereit und stellen
nicht mehr Leute ein. Darüber hinaus aber noch zu fordern, die Beschäftigten müssten kostenlos länger arbeiten, das ist wirklich der Gipfel.
({11})
Sie müssten wenigstens eine Bezahlung anbieten. Davon
ist bisher aber keine Rede.
({12})
Ich habe gesagt, die Gewerkschaften wehren sich. Sie
tun das mit einem größeren Selbstbewusstsein, sie haben
Nerven und halten das auch länger durch. Die Länder
halten das auch länger durch.
({13})
Es gibt immer wieder ein paar Punkte, über die man sich
verständigen muss. Hier muss man auch zu einer Auseinandersetzung bereit sein. Ich sage ganz klar: Notdienste
dürfen nie eingestellt werden. Man darf sie nicht
bestreiken. Allerdings sage ich auch: Der Arbeitgeber
darf dann aber auch keine Methoden anwenden, mit denen er den Streik unterläuft, zum Beispiel, indem er
Privatfirmen anstellt, um bestimmte Probleme zu lösen.
({14})
Beide müssen also einen bestimmten Grad an Fairness
an den Tag legen, damit man es klären kann.
Nun sind wir hier nicht die Tarifparteien; das weiß
ich. Andere werden die Auseinandersetzung führen; das
ist auch richtig. Sie sollen es tun. Es ist aber nicht so absurd, wie Sie denken, dass wir uns damit beschäftigen,
wenn es um unsere Angestellten geht. Wir haben eine
Menge damit zu tun und wir sollten einen Beitrag dazu
leisten, dass es schnell zu einer Lösung kommt und dass
nicht der eine Minister das eine und der andere Minister
das andere erzählt, sodass für die Bürgerinnen und Bürger dabei nur herauskommt, dass die Dienstleistungen,
auf die sie dringend warten, nicht erledigt werden.
({15})
Die Gewerkschaften haben in diesen Punkten Recht,
und Ihre Angebote sind indiskutabel. Es tut mir Leid.
({16})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht Peter Weiß.
({0})
- Ich bitte Sie, sich wieder hinzusetzen und diese Demonstration nicht im Deutschen Bundestag durchzuführen.
({1})
Demonstrationen kann man draußen abhalten.
({2})
Ich bitte Sie noch einmal herzlich, die Westen auszuziehen. Hier im Deutschen Bundestag führen wir die Auseinandersetzung mit dem gesprochenen Wort und nicht
mit Transparenten oder Westen. Das wissen Sie auch.
Deswegen bitte ich Sie herzlich, die Westen auszuziehen
oder den Raum zu verlassen und vielleicht vor der Tür
zu demonstrieren.
({3})
Jetzt hat der Abgeordnete Peter Weiß, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({4})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, man muss allen Bürgerinnen und Bürgern, die jetzt zuschauen, sagen: Hier hat soeben ein
Politiker gesprochen, der Mitglied einer Landesregierung war,
({0})
die für den öffentlichen Dienst Verantwortung trägt, der
sich in Berlin aus dem Staub gemacht hat und der vor der
Verantwortung geflohen ist. Dann kann man keine solche Rede halten.
({1})
Hier hat gerade jemand von allem Möglichen geredet,
aber nicht von den Bürgerinnen und Bürgern unseres
Landes.
({2})
Die konkreten Auswirkungen von sechs Wochen Streik
im öffentlichen Dienst sehen doch so aus, dass sich viele
Bürgerinnen und Bürger zum Beispiel Sorgen darüber
machen, wann endlich der Müll vor der Haustür wegkommt. Die Realität sieht doch so aus, dass manche Eltern ihren Jahresurlaub einsetzen, um die Kinder zu
Hause zu betreuen, weil die Kindertagesstätte geschlossen ist. Deswegen erfüllen die praktischen Auswirkungen dieses Streiks die Bürgerinnen und Bürger zu Recht
mit großer Sorge.
({3})
Gemäß dem Politbarometer des ZDF fordern mittlerweile 61 Prozent der Bürgerinnen und Bürger unseres
Landes das Ende der Ausstände bzw. des Streiks im öffentlichen Dienst.
({4})
Peter Weiß ({5})
Von diesen Bürgerinnen und Bürgern hat Herr Gysi nicht
gesprochen. Er kennt sie offensichtlich nicht.
({6})
In unserer Verfassung, dem Grundgesetz, spielt die
Tarifautonomie zu Recht eine große Rolle. Für den Tarifstreit und für den Abschluss von Tarifverträgen tragen
die Tarifpartner, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer,
Verantwortung. In den konkreten Diskussionen, die derzeit geführt werden, sind es die Länder und die Kommunen als öffentliche Arbeitgeber und die Gewerkschaften,
mit denen sie verhandeln.
Alle Erfahrungen lehren: Wenn sich in die Tarifverhandlungen zwischen den verantwortlichen Arbeitgebern und Arbeitnehmern diejenigen einmischen, die gar
nicht zuständig sind - wir als Bund haben unseren eigenen Tarifvertrag und sind für das Thema überhaupt nicht
zuständig -, wird es in der Regel nicht besser, sondern
schlechter.
({7})
Deswegen gilt: Auch wenn man in der Opposition sitzt
und vor allen Dingen in Talkshows gerne viel schwätzt,
({8})
so ist es doch manchmal besser, in einer Sache, für die
man nicht zuständig ist und für die man keine Verantwortung trägt, den Mund zu halten.
({9})
Der Linken in diesem Parlament kommt es mit der
Aktuellen Stunde nur darauf an, aus dem Streik und der
derzeitigen Tarifauseinandersetzung parteipolitisches
Kapital zu schlagen.
({10})
Um eine Lösung in der Sache geht es der Linken nicht.
Wir alle - die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger - haben ein Interesse daran, dass der Tarifkonflikt
möglichst bald zu einem Ende kommt und dass ein Abschluss zwischen öffentlichen Arbeitgebern und Gewerkschaften erfolgt. Nur eine Seite in diesem Parlament hat daran kein Interesse: die Linke. Sie ist die
Einzige, die diesen Streik aus parteipolitischen Gründen
verlängern will.
({11})
Der Kollege Gysi mit seinem wirtschaftspolitischen
Sachverstand, den er gerade eben bewiesen hat ({12})
- dieser angebliche Sachverstand -,
({13})
hat schon einmal in einem Teil Deutschlands zeigen können, zu welch großartigen Erfolgen dies führt.
({14})
Der wirtschaftspolitische Sachverstand eines Herrn Gysi
und seiner Genossen einschließlich der Überbürokratisierung und der Riesenverwaltung
({15})
haben doch die alte DDR in den Ruin und in den Bankrott getrieben.
({16})
Diese Art von Sachverstand hinsichtlich des öffentlichen
Dienstes, wie ihn ein Herr Gysi und seine Genossinnen
und Genossen vertreten, brauchen wir in Deutschland
wahrhaft nicht, wenn wir den öffentlichen Dienst der
Zukunft gestalten wollen.
({17})
Wenn eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema überhaupt Sinn macht - ich frage mich noch immer, ob der
Bundestag über eine Sache diskutieren soll, für die er
keine Verantwortung trägt -, dann den, an die Tarifpartner, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, zu appellieren, die
Tarifautonomie ernst zu nehmen, Einigungswillen zu
zeigen und möglichst bald zu einem positiven Ergebnis
zu kommen, mit dem der öffentliche Dienst in Deutschland in Zukunft eine Chance hat, seine Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, und mit dem auch die öffentlichen Arbeitgeber finanziell nicht überfordert
werden, sondern ihrer Verantwortung gerecht werden
können.
Vielen Dank.
({18})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, einige haben in der
Auseinandersetzung von vorhin das Wort „Schweinebande“ gehört. Wir werden mit dem Stenografischen
Dienst prüfen, ob dem so gewesen ist.
({0})
Wenn dem so gewesen ist, dann wird natürlich festgestellt, dass das ein unparlamentarischer Ausdruck ist.
({1})
Da ich dies selber nicht gehört habe, können wir das nur
mithilfe des Stenografischen Dienstes prüfen.
Ich gebe jetzt das Wort dem Kollegen Dirk Niebel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nachdem sich die Linke bundesweit wie die
Kesselflicker streitet, war das, was wir gerade eben im
Bundestag erlebt haben, wahrscheinlich ein gruppendynamisches Experiment. Ein uncharmanter Kollege
meinte, Sie hätten mit den Müllsäcken besser ausgesehen.
({0})
Nichtsdestotrotz bin ich nach sechs Wochen Streik in
Baden-Württemberg quasi ein Experte für Müllsäcke.
Wenn Ihr Gesamtkunstwerk realistisch hätte sein sollen,
dann hätten Sie auch einige von diesen kleinen possierlichen Tierchen mit den langen nackten Schwänzen mitbringen sollen, damit diese über Ihre Müllsäcke hätten
laufen können; denn das ist die Situation in Deutschland,
nicht das Kasperletheater, das Sie hier im Parlament veranstalten.
({1})
Der Redner der PDS gehörte einer Landesregierung
an, die sich mit einem sehr „soliden“ Haushalt aus der
Tarifgemeinschaft der Länder verabschiedet hat. Deswegen ist sein Vortrag hier besonders glaubwürdig gewesen.
({2})
Tatsächlich geht es aber darum, dass wir im letzten Monat 5 047 668 registrierte Arbeitslose hatten. Sie hingegen reden über einen Streik, bei dem es um 18 Minuten
Mehrarbeit geht,
({3})
und zwar in einem Arbeitsmarktsegment, in dem die Arbeitsplätze nicht nur als sicher gelten können, sondern
sicher sind.
({4})
Ich könnte für diesen Streik vielleicht noch ein gewisses Verständnis aufbringen, wenn es die erste Auseinandersetzung um Mehrarbeit in Deutschland wäre. Es ist
aber eine Auseinandersetzung aus dem vergangenen
Jahrhundert, ein Rückzugsgefecht. In ganz Deutschland
arbeiten die Beamten weitaus länger als 38,5 Stunden.
({5})
In Ostdeutschland - übrigens auch in den Ländern, in
denen Sie mitregieren, meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen von der Linken - arbeiten Angestellte
und Arbeiter länger als 38,5 Stunden.
Alle, die neu eingestellt oder befördert werden, arbeiten länger als 38,5 Stunden.
({6})
Hier geht es um ein Rückzugsgefecht in einer Auseinandersetzung des vergangenen Jahrhunderts, weil ein durchgeknallter grüner Gewerkschaftsfunktionär versucht,
({7})
die Verbändemacht zu stärken und den Bedeutungsverlust der Gewerkschaften aufzuhalten.
({8})
Dieser Gewerkschaftsfunktionär der Grünen hat es als
Aufsichtsrat bei der Lufthansa als Einziger geschafft,
sich mit Verdi selbst zu bestreiken. Das versteht beim
besten Willen kein Bürger mehr in diesem Land.
({9})
Wenn aber, wie am vorletzten Wochenende in Bayern
und Baden-Württemberg, wetterbedingt 2 100 Verkehrsunfälle mit 220 Verletzten und acht Todesfällen passieren, dann endet jedes Streikrecht.
({10})
Die Bürgerinnen und Bürger sind verzweifelt. Sie führen
einen Streik gegen die Menschen in diesem Land. Der
„Tagesspiegel“ schreibt heute über die Situation von berufstätigen Eltern - ich zitiere eine Dame, die über ihre
Situation berichtet -:
„Im Prinzip geht der ganze Jahresurlaub drauf“,
rechnet die arbeitende Mutter vor, weil die regulären 21 Schließtage der Tageseinrichtung hinzukämen. „Unverschämtheit“, findet das Petra Hummel.
Recht hat sie!
({11})
Sie machen einen Arbeitskampf zulasten der Bürgerinnen und Bürger. Sie tun so, als wollten Sie sich für die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf einsetzen. Stattdessen nehmen Sie aber den Menschen die Möglichkeit,
Kinder und Beruf miteinander zu vereinbaren.
({12})
Sie sind die wahren Unsozialen! Sie sind die Klassenkämpfer in diesem Land. Sie vernichten Existenzen.
({13})
Zufälligerweise wird in zehn Tagen in drei Bundesländern gewählt. Die Bürgerinnen und Bürger in Sachsen-Anhalt erinnern sich sehr genau, wie es damals unter
der von Ihnen tolerierten SPD-Regierung war. Die Ministerpräsidenten der Wahlkampf führenden Länder,
Herr Beck und Herr Oettinger, rollen in mannhaftem
Mutbeweis die Fahne langsam ein. Das erinnert ein wenig an Selbstmord aus Angst vor dem Tod. So werden
Sie keine absolute Mehrheit bekommen, Herr Oettinger.
Hier ist keine Hasenfüßigkeit, sondern Standhaftigkeit
gefordert.
({14})
Deswegen werden wir - wie die Menschen in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie, die sich nicht
von der IG Metall haben vergewaltigen lassen und erfolgreich gegen die Einführung der 35-Stunden-Woche
gekämpft haben - standhaft bleiben.
({15})
Wir unterstützen die Bürgerinnen und Bürger darin,
dass durchgesetzt wird, dass man in diesem Land öffentliche Dienstleistungen in Anspruch nehmen kann. Wir
sind der festen Überzeugung, dass all diejenigen, die den
Streik vorangetrieben haben, ihren Mitgliedern einen
Bärendienst erweisen. Denn spätestens bei den nächsten
Haushaltsberatungen in den Kommunen
({16})
wird jeder einzelne Bürgermeister und jeder einzelne
Landrat darüber nachdenken müssen, wo die Dienstleistungen funktioniert haben, und feststellen, dass die
Durchführung in privater Trägerschaft teilweise besser
und günstiger funktioniert hat als in öffentlicher Hand
auf Kosten des Steuerzahlers. Sie erweisen Ihren Mitgliedern und auch der Bevölkerung einen Bärendienst.
Vielen herzlichen Dank.
({17})
Für die SPD-Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Sigmund Ehrmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das war das volle Programm
„Niebel live“. Wenn man etwas mehr Ruhe in die Diskussion bringen würde, dann würde man möglicherweise den wahren Kern des Konfliktes erkennen, Herr
Gysi. Es ist zwar interessant, sich über die volkswirtschaftlichen Auswirkungen auseinander zu setzen, aber
dass es bei der speziellen Art der Auseinandersetzung
der Tarifgemeinschaft deutscher Länder mit der anderen
Seite möglicherweise um etwas ganz anderes als um den
konkreten Verhandlungsgegenstand geht,
({0})
sollte meines Erachtens deutlicher herausgearbeitet werden. Ich möchte mich jedenfalls nicht - hier schließe ich
mich Herrn Peter Weiß ausdrücklich an - in fremde Geschäfte einmischen. Gleichwohl sollte uns dieses Thema
nicht entgleiten. Herr Weiß, Sie haben auf ein wichtiges
Element unserer Verfassung hingewiesen, nämlich die
Tarifautonomie.
({1})
Die Garantie der Koalitionsfreiheit schließt auch das Instrument der Tarifautonomie ein. Das setzt allerdings voraus, dass diejenigen, die in diesem Sektor eigenverantwortlich agieren, sehr verantwortungsbewusst mit
diesem Instrument umgehen.
Wenn ich mir die aktuelle Tariftopographie genau anschaue, dann stelle ich fest, dass der jetzige Tarifkonflikt
auf der Länderebene deutlich hervortritt. Mir bleibt daher nicht erspart, den Verhandlungsführer der Tarifgemeinschaft deutscher Länder ins Auge zu fassen. Die Art
und Weise, wie Herr Möllring
({2})
mit diesem Konflikt umgeht, zeigt, dass er die Rolle, die
ein Verhandlungsführer unter Partnern hat, nicht angenommen hat.
({3})
Die Rolle beinhaltet, dass man den Beteiligten die
Chance gibt, sich in ihren Positionen anzunähern. Das ist
bei seiner Art und Weise der Verhandlungsführung noch
nicht einmal ansatzweise zu erkennen. Ich habe gelesen,
dass Herr Möllring Judoka ist.
({4})
In dieser Sportart gibt es spezielle Regeln und der Stärkere gewinnt. Das ist allerdings nicht die Rolle, die einem Verhandlungsführer in einem Tarifkonflikt des öffentlichen Dienstes gemäß ist.
({5})
Ich glaube, dass hier ganz gewaltig nachgearbeitet werden muss.
Die Verhandlungsstrategie der Tarifgemeinschaft
deutscher Länder ist für mich nichts anderes als die Wiederholung einer grundlegenden politischen Auseinandersetzung, die wir im Bundestagswahlkampf hatten. Große
Koalition hin, große Koalition her, der Konflikt besteht
zwischen dem aus sozialdemokratischer Sicht hohen Gut
der Tarifautonomie und des Flächentarifvertrags auf der
einen Seite und dem Instrument „Betriebliche Bündnisse“ auf der anderen Seite. Wir bekennen uns in der
Koalitionsvereinbarung eindeutig zur Tarifautonomie
und zum Flächentarifvertrag. Daran werden wir uns als
öffentlicher Arbeitgeber auf Bundesebene halten.
Es stellt sich die Frage nach den Beweggründen der
Bundesländer. Für mich ist eindeutig erkennbar, dass der
Flächentarifvertrag zerschlagen werden soll. Die Tarifgemeinschaft deutscher Länder, ein wichtiger Akteur,
droht dabei zu zerbrechen. Das ist auch im Hinblick auf
einen anderen Leitgedanken sehr problematisch. Es geht
um öffentliche Dienstleistungen, die für Menschen erbracht werden. Dabei bestimmen die Tarif- und die Arbeitsbedingungen die Standards der öffentlichen Aufgabenerfüllung. Daher appelliere ich eindringlich an die
Tarifvertragspartner, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, zur Vernunft zu kommen, sich anzunähern und
schließlich zu einigen, damit dieser Tarifkonflikt
möglichst bald beendet wird und damit weiterhin die
Qualität bei der Erledigung der öffentlichen Aufgaben
verantwortungsbewusst sichergestellt werden kann.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich erteile das Wort der Kollegin Silke Stokar, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
befürchtet, dass wir uns mit der heutigen, von der Linksfraktion beantragten Aktuellen Stunde keinen Gefallen
tun.
({0})
Das Stichwort „Tarifautonomie“ ist bereits genannt worden. Tarifautonomie bedeutet laut Verfassung, dass sich
die Politik zurückhält, dass die Tarifpartner ohne Einmischung von Staat und Politik ihre Auseinandersetzungen
regeln. Tarifautonomie bedeutet aber auch - das sage ich
an die Adresse von Herrn Niebel von der FDP -, dass
wir in Deutschland ein Grundrecht auf Streik haben. Es
gibt ja zwei FDPen: zum einen die Bürgerrechts-FDP
und zum anderen Herrn Niebel, der hier eine gewerkschaftsfeindliche Rede gehalten hat.
({1})
Ich denke, es steht dem Parlament nicht zu, in einer solchen Auseinandersetzung den Vorsitzenden einer Gewerkschaft so anzugreifen und zu diskreditieren.
({2})
Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst leisten einen
unverzichtbaren Beitrag zu Stabilität und Lebensqualität
in unserem Land. Das merken wir alle, wenn die Dienstleistungen vorübergehend nicht zur Verfügung stehen.
Ich komme aus Niedersachsen und kenne Herrn
Möllring, den die Länder zu ihrem Verhandlungsführer
gemacht haben, sehr gut und kann nur sagen: Es ist nicht
der berechtigte Streik der Gewerkschaften, sondern das
Machogehabe des Herrn Möllring,
({3})
das dazu führt, dass über einen so langen Zeitraum die
Kindergärten geschlossen sind und es zur Benachteiligung von Müttern und Vätern kommt, die auf die Kinderbetreuung angewiesen sind.
({4})
Herr Möllring hat klar und deutlich gesagt, dass er keinen Tarifvertrag und keine Einigung will. Tarifautonomie setzt aber Vernunft voraus.
({5})
Ich möchte aber auch einige Fragen an die Linkspartei stellen, da noch ein Redner von ihr sprechen wird. Ich
lasse Ihnen Ihre Unglaubwürdigkeit nicht so einfach
durchgehen. Erste Frage: Wie lange arbeiten denn die
Beamten in Berlin, wo Sie an der Regierung beteiligt
sind?
({6})
Zweite Bemerkung: Seit die PDS Koalitionspartner in
Berlin ist, sind 14 000 Stellen im öffentlichen Dienst in
Berlin abgebaut worden.
({7})
Im Grünflächenamt wurden 1 000 Stellen durch 1-EuroJobs ersetzt. Berlin war das erste Land, das den Flächentarifvertrag verlassen hat und aus der Tarifgemeinschaft
der Länder ausgeschert ist. Sie haben sich darauf eingelassen - ich kann das angesichts der Finanzlage von Berlin nachvollziehen -, Personalkosten in Höhe von
1,75 Milliarden Euro bis 2006 einzusparen.
({8})
Mir geht es nicht darum, diese Maßnahmen im Einzelnen zu kritisieren. Mir geht es darum, dass die PDS und
die WASG im Bundestag so tun, als wären sie die Rächer der Enterbten. Zu Recht sagt die WASG in Berlin in
Richtung PDS, dass diese, wenn sie in Regierungsverantwortung ist, eine neoliberale Politik macht. Etwas
mehr Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit, Genossen, wäre
schon angebracht.
({9})
Dann können wir uns gemeinsam sachlich mit diesen
Themen auseinander setzen.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Werner Kammer
von der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Dass diese Aktuelle Stunde
gerade auf Antrag der Fraktion Die Linke stattfindet,
wundert mich sehr.
({0})
- Lassen Sie mich doch ausreden. - Denn deren ideologische Vorgänger haben in ihrem System das Instrument
Streik nicht gekannt.
({1})
Umso mehr erstaunt mich die Wende, die Sie heute vollzogen haben. Mit Ihrem Theater ging es Ihnen nicht darum, den Menschen in Deutschland und den Streikenden
zu helfen, sondern um billige Stimmungsmache in diesem Parlament.
({2})
Zum Thema: Der seit sechs Wochen andauernde
Streik im öffentlichen Dienst richtet sich nicht direkt gegen Unternehmen; er schadet aber der Wirtschaft und
wird auf dem Rücken der Bürgerinnen und Bürger, die
für die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst aufkommen müssen, ausgetragen.
({3})
Es ist nicht nachvollziehbar, dass sich die Gewerkschaft
Verdi der 18-minütigen täglichen Mehrarbeit verweigert,
({4})
die in der freien Wirtschaft längst Realität ist. - Durch
Zwischenrufe werden Ihre Argumente nicht besser.
({5})
Sie müssen zur Kenntnis nehmen: Die Mehrheit der
Bevölkerung lehnt diesen Streik ab und will die 40-Stunden-Woche im öffentlichen Dienst, die im Übrigen bei
großen Teilen der Gewerkschaften selbst schon praktiziert wird. Auch das müssen wir bei dieser Gelegenheit
zur Kenntnis nehmen.
({6})
Verdi erzeugt mit der realitätsfernen Haltung eine negative Stimmung in der Bevölkerung gegen den öffentlichen Dienst, obwohl die Beschäftigten dort zweifellos
gute Arbeit leisten. Verdi leistet auch dem Vorschub,
dass wir in Zukunft verstärkt über Privatisierungen werden nachdenken müssen.
({7})
Die 40-Stunden-Woche ist von der Tarifgemeinschaft
der Länder mit großer Mehrheit beschlossen worden und
mit diesem Votum ist der niedersächsische Finanzminister Hartmut Möllring konsequent in die Verhandlungen
gegangen. Deshalb darf ihm seine Verhandlungsführung
hier heute nicht vorgeworfen werden.
({8})
40 Stunden Dienst in der Woche ergeben 18 zusätzliche Minuten Arbeit pro Tag und nicht 14 Minuten, wie
von Verdi vorgeschlagen. Auch die Staffelung der Mehrarbeit nach Verdienstgruppen löst das finanzielle Problem der Länder nicht. Daher werden auch die in den
Kommunen getroffenen Abschlüsse mit dieser Regelung
auf Dauer nicht haltbar sein. Auch das sei hier angemerkt.
Tatsache ist, dass die öffentlichen Haushalte entlastet
werden müssen. Daran haben alle Länder ein Interesse,
auch jene, die damit drohen, aus der Tarifgemeinschaft
auszutreten. Die bevorstehenden Landtagswahlen ändern daran ebenfalls nichts. Vielmehr sind jetzt Weitsicht
und Vernunft das Gebot der Stunde. Dies bedeutet konkret, dass Tarifabschlüsse nicht von politischen Stimmungen abhängig gemacht werden dürfen - wie hier auf
der linken Seite -, sondern von der Realität abhängig gemacht werden müssen.
({9})
Die Realität zeigt, dass es Unterschiede gibt zwischen
den Angestellten des öffentlichen Dienstes und den Arbeitern und Angestellten in der Wirtschaft, die oft mehr
als 40 Stunden in der Woche arbeiten müssen.
In diesem Zusammenhang verweise ich auf ein sehr
interessantes Zitat Ihrer Kollegin Pau. Auf der Internetseite der Gewerkschaft Verdi ist zu lesen:
Ich finde es richtig, dass die Beschäftigten im öffentlichen Dienst sich gegen längere Arbeitszeiten
wehren
({10})
- lassen Sie mich doch erst ausreden! -,
weil es nicht um 18 Minuten pro Tag geht, sondern
darum, ob die Differenz zwischen Arm und Reich
noch größer wird. Es geht also um nicht mehr und
nicht weniger als um gesellschaftliche Gerechtigkeit.
({11})
Wenn Kollegin Pau wirklich gesellschaftliche Gerechtigkeit will, dann müsste es doch in ihrem Interesse
sein, dass die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes
die gleiche Arbeitszeit haben wie die Beamten und die
meisten Arbeitnehmer in den Betrieben der freien Wirtschaft. Das wäre gerecht.
({12})
Ich fordere die Mitglieder der Tarifgemeinschaft zur
Geschlossenheit auf. Hartmut Möllring hat einen klaren
Auftrag. Der Auftrag heißt: 40-Stunden-Woche für die
Beschäftigten des öffentlichen Dienstes.
({13})
Hinter diesem Auftrag steht die Unionsfraktion geschlossen. Wer jetzt aus der Reihe der Länder ausschert,
gefährdet den Erfolg und die Handlungsfähigkeit der Tarifgemeinschaft. Ich bin der festen Überzeugung, dass es
den Tarifparteien gelingen wird, diesen Konflikt ohne
Schlichtung im Interesse aller kurzfristig zu lösen. Es
geht nämlich nicht um 18 Minuten Mehrarbeit; es geht
vielmehr darum, dass auch die Angestellten im öffentlichen Dienst einen Beitrag zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte leisten.
Gesellschaftliche Gerechtigkeit heißt auch, mit dem
Geld der Steuerzahler sorgfältig umzugehen. Dazu gehört besonders, sich auf verantwortbare Tarifabschlüsse
zu einigen.
({14})
Deshalb steht die Union fest an der Seite von Hartmut
Möllring.
Herzlichen Dank.
({15})
Herr Kollege Kammer, ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Ich habe jetzt die unangenehme Aufgabe, zwei Kollegen zu rügen. Der Kollege Reinhard Grindel hat dazwischengerufen: „Lafontaine, das ist die Schweinebande,
die hinter dir sitzt!“ und der Kollege Ernst Burgbacher
hat folgenden Zwischenruf gemacht: „Schämt ihr euch
eigentlich nicht? Diese Proleten!“ Diese Ausdrucksweisen entsprechen nicht dem parlamentarischen Sprachgebrauch. Ich rüge das.
Der nächste Redner ist der Kollege Klaus Ernst von
der Fraktion Die Linke.
({1})
Wollt ihr eure Unflätigkeiten vor oder nach meiner
Rede austauschen? Ihr könnt es auch gleich machen.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte als Erstes auf Sie eingehen, Herr
Weiß. Ich habe mit Freude zur Kenntnis nehmen können,
dass Sie den Rücktritt von Herrn Gysi bedauern. Schön!
Sie hätten allerdings auch zur Kenntnis nehmen müssen,
dass er sein Amt verlassen hat, nachdem er es angetreten
hatte.
(Lachen des Abg. Peter Weiß ({1})
({2})
Der Ministerpräsident aus Bayern ist einer, der das schon
vorher schafft. Das ist eine große Leistung.
({3})
Zweitens. Ich würde gern mit Ihnen über das reden,
was denn in diesem Streik eigentlich los ist und welche
Rolle der öffentliche Dienst hat. Ich habe das bisher so
verstanden, dass wir uns auch ein wenig darum kümmern, dass in diesem Bereich, im öffentlichen Sektor,
vorbildliche soziale Standards gelten und dass dort die
Dinge auch einigermaßen in Ordnung sind. Jetzt stelle
ich fest: In dieser Auseinandersetzung geht es darum,
dass sich gerade der öffentliche Dienst, voran die Länder, zum Vorreiter bei der Umsetzung der Beschlusslage
des Bundesverbandes der Deutschen Industrie macht.
Das alles, auch die Verlängerung der Arbeitszeit, können
Sie in dessen Programmen nachlesen.
({4})
Wenn inzwischen die öffentliche Hand und vor allem die
Länder die Tür für weitere Arbeitszeitverlängerungen
aufstoßen, dann stößt die Industrie nach - das ist doch
klar - und will dasselbe, was Sie den Beschäftigten im
öffentlichen Dienst zumuten.
({5})
Da sagt man immer, es gehe um 18 Minuten;
({6})
weil jeder 18 Minuten länger arbeiten könne, sei das
kein Thema. Natürlich kann man 18 Minuten länger arbeiten. Wir können auch eine Stunde länger arbeiten.
Wir können auch wieder 42 Stunden arbeiten, so wie das
in Bayern im öffentlichen Dienst der Fall ist.
({7})
Wir können in Krankenhäusern auch wieder Beißkeile
einführen, statt Anästhesie zu betreiben.
({8})
Sie würden auch dazu sagen, das sei ein Fortschritt, Herr
Niebel. Das ist das Problem, das wir hierzulande haben.
Es ist aber ein Rückschritt.
({9})
- Ja, ja, ich habe mir gedacht, dass Sie das ärgert. Aber
manchmal muss man die Wahrheit sagen. Sie tun immer
so, als wäre das, was Sie hier im Parlament vertreten, ein
großer Fortschritt. Was Sie hier vertreten, Herr Niebel,
ist der Weg zurück,
({10})
über die Industrialisierung zurück bis ins Mittelalter. Da
gehört ihr eigentlich hin.
({11})
Weil wir gerade dabei sind, möchte ich etwas zu Ihrem Antrag zum Streikrecht sagen, Herr Niebel. Man
darf nicht mehr streiken, wenn es schneit, weil die Straßen dann nicht geräumt werden. Man darf nicht mehr
streiken, weil dann der Müllberg liegen bleibt und darüber die Ratten laufen.
({12})
Ich sage Ihnen: Wenn es nach Ihnen geht, darf man in
diesem Land nur noch streiken, wenn die Sonne scheint.
Was ist das für ein Streikrecht?
({13})
- Ach, mein Gott! Da werden die Beschäftigten im öffentlichen Dienst als Mörder bezeichnet. Ist Ihnen eigentlich klar, dass es bei dieser Auseinandersetzung
auch noch andere gibt, unter anderem Ministerpräsidenten und Minister der Länder, die gut verdienen und den
Beschäftigten des öffentlichen Dienstes dauernd an die
Geldbörse gehen? Das halte ich für eine Sauerei hierzulande.
({14})
Natürlich wird immer sehr gern darauf verwiesen,
dass aus Gründen der Konkurrenz mit anderen Ländern
länger gearbeitet werden muss. Dazu hat der Herr Gysi
schon einiges gesagt. Es ist so, dass wir in Deutschland
den öffentlichen Dienst inzwischen zum Vorreiter beim
Abbau von sozialen Leistungen machen. Das kann aber
nicht Aufgabe von staatlichen Instanzen sein, auch nicht
von Länderregierungen.
({15})
Wenn in Italien und in anderen Ländern Europas kürzer
gearbeitet wird, dann ist es nicht notwendig, aus irgendwelchen internationalen Gründen bei uns länger zu arbeiten.
Ich sage Ihnen, um was es wirklich geht. Sie erklären,
18 Minuten, das sei gar nicht so lange. Vielleicht ist Ihnen Folgendes aufgefallen: Wenn eine um 18 Minuten
verlängerte Arbeitszeit gelten würde, würde das unmittelbar zum Abbau von Arbeitsplätzen führen.
({16})
Sie machen sich darüber lustig, dass 250 000 Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst verteidigt werden. Die
würden Sie offensichtlich gern abbauen. Ich halte das für
einen Skandal.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss;
das wird Sie sehr freuen.
({17})
Ich möchte in dieser Frage auch die SPD nicht ganz aus
der Verantwortung nehmen. Ihr habt jetzt auf den
Möllring eingeschlagen. Da habt ihr Recht; denn er will
eigentlich gar keinen Tarifvertrag mehr. Freiheit heißt
für ihn, Freiheit von Tarifverträgen; er will keinen Tarifabschluss mehr. Das ist der eigentliche Punkt.
({18})
Aber dass ihr jetzt so besonders freundlich zu den Gewerkschaften seid, insbesondere indem ihr Möllring kritisiert und damit eine Nähe zu den Gewerkschaften herstellt, kann ich euch nicht mehr so ganz glauben.
({19})
Ich habe den Eindruck, dass der eine oder andere auch
von euch den Dolch im Gewande hat.
Der kommunale Arbeitgeberverband in BadenWürttemberg wird durch den Bürgermeister von Pforzheim vertreten, der in der SPD organisiert ist,
({20})
aber selber die ganzen Schweinereien mitmacht. Tut
doch nicht so, als wärt ihr nicht selber für die Arbeitszeitverlängerung im öffentlichen Dienst! Das ist doch
das eigentliche Problem: Die Sozialdemokraten machen
bei der Arbeitszeitverlängerung mit.
({21})
Das müsst ihr ändern. Dann wird die Situation in diesem
Land wieder einigermaßen vernünftig.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege Ernst.
Ja, komme ich gleich.
Nein, sofort.
Wir können zwar noch nicht -
Herr Kollege Ernst, Ihre Redezeit ist längst vorbei. Es
ist jetzt Schluss!
Gut. - Dann bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit. Wir können noch nicht verhindern, was Sie da treiKlaus Ernst
ben; aber wir können es wenigstens ordentlich sagen und
das tun wir auch.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Gunkel von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem
hier die Wellen hochgeschlagen und Demonstrationen
im Parlament abgehalten worden sind,
({0})
will ich versuchen, das Thema nun sachlich anzugehen
und die Sache durch die Betrachtung des historischen
Ablaufs auf einen Punkt zu bringen.
Zunächst einmal, Herr Niebel, ist die Argumentation
mit den 18 Minuten wirklich lächerlich. Das hat sich in
verschiedenen Ländern gezeigt. Da Sie aber von der Sicherheit der Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst gesprochen haben, möchte ich einmal darauf verweisen, dass in
den letzten zehn Jahren 1,5 Millionen Arbeitsplätze im
öffentlichen Dienst abgebaut worden sind.
({1})
Davon sind insbesondere diejenigen betroffen, die befristete Beschäftigungsverhältnisse haben,
({2})
also vor allem an Hochschulen und Unikliniken.
({3})
- Richtig. - Auch betriebsbedingte Kündigungen sind
durchgeführt worden, die natürlich mit Sozialplänen unterlegt waren. Aber festzustellen bleibt, dass 1,5 Millionen Arbeitsplätze weniger zur Verfügung stehen als vor
zehn Jahren. Hier von sicheren Arbeitsplätzen zu sprechen, dürfte wohl der Vergangenheit angehören.
({4})
- Nein, machen wir nicht. Ich sage Ihnen gleich, was wir
machen.
Angesichts des historischen Ablaufes muss man - darum muss ich auch unseren Koalitionspartner bitten - ein
klein wenig Verständnis für die Gewerkschaften aufbringen. Denn sie mussten zur Kenntnis nehmen, dass es
- das war besonders im Jahre 2003 der absolute Hit mit dem Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetz
für die Beamten erstmalig möglich war, durch die Öffnungsklauseln für die Länder entsprechende Veränderungen beim Weihnachtsgeld und beim Urlaubsgeld
vorzunehmen. Das war der Ausgangspunkt. Diese Möglichkeit ist übrigens von den Ländern reichlich genutzt
worden. Die Weihnachtsgelder sind radikal zusammengestrichen worden, teilweise auf Taschengeldhöhe. Das
Urlaubsgeld ist ganz weggefallen. Gleichzeitig wurde
die Arbeitszeit von 40 auf 41 Stunden, in Bayern sogar
auf 42 Stunden, angehoben. Das bedeutet eine Verkürzung des Einkommens bei gleichzeitiger Verlängerung
der Arbeitszeit, was per Gesetz für die Beamten beschlossen worden ist. Man kann das auch ein Diktat nennen.
({5})
- Das räume ich gerne ein. Ich bin darüber nicht begeistert, Herr Wieland; aber ich nehme das einfach mal zur
Kenntnis.
({6})
Tatsache bleibt aber, dass man damit etwas sehr Populäres - auf die Beamten kann man ja einschlagen durchgesetzt hat, was vorher nicht möglich war; es ist
erst durch die Öffnungsklauseln möglich geworden.
Nun müssen wir wissen, dass die Gewerkschaft Verdi,
die die öffentlich Beschäftigten vertritt, das erkannt hat
und sich von den Nebelkerzen nicht hat beeindrucken
lassen. Sie hat zur Kenntnis nehmen müssen, dass die
Tarifgemeinschaft der deutschen Länder 2003 die Tarifverträge für Weihnachts- und Urlaubsgeld und 2004 die
Tarifverträge für die Arbeitszeitvereinbarungen gekündigt hat.
Nach fast zwei Jahren Verhandlungen mit dem Bund
und den kommunalen Arbeitgeberverbänden hatte man
den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, TVöD, zustande gebracht, mit dem der frühere Bundes-Angestelltentarifvertrag abgelöst wurde. Man ist also zu einer
modernen und zukunftsweisenden Vereinbarung gekommen. Bund und Kommunen haben sich im Wesentlichen
daran gehalten. Ich denke, damit können alle leben.
Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass
drei Länder aus den Reihen der kommunalen Arbeitgeberverbände ausgeschert sind, nämlich Hamburg, Niedersachsen und Baden-Württemberg. Wenn man einmal
in die Zeitungslandschaft schaut, dann kann man allerdings feststellen, dass auch hier Dinge in Bewegung geraten sind.
Es ist ja nicht so, dass Verdi keine konkreten Vorschläge gemacht hätte.
({7})
Die Gewerkschaft hat zum einen vorgeschlagen, die Arbeitszeit - nach Einkommensgruppen gestaffelt - auf
40 Stunden anzuheben. Zum anderen hat sie vorgeschlagen, das Weihnachtsgeld, wiederum nach Einkommensgruppen gestaffelt, von 90 auf 40 Prozent zu senken. Es
sind also durchaus Vorschläge gemacht worden. Diese
gefallen einigen natürlich nicht. Deswegen war der Vorsitzende der Tarifkommission der Länder der Meinung,
sie ablehnen zu müssen. Er ist von seiner Haltung bisher
nicht abgerückt.
Man muss einmal hinterfragen, ob es nicht möglich
ist, die gemachten Vorschläge zu modifizieren. In Hamburg werden das Alter des Beschäftigten, die Anzahl seiner Kinder und seine Einkommensgruppe berücksichtigt.
In Niedersachsen wurden eine Wochenarbeitszeit von
39 Stunden und zwei zusätzliche Arbeitstage vereinbart.
Diese Lösungen kann man durchaus akzeptieren. Ich
frage mich wirklich, ob man unbedingt an den 40 Stunden festhalten und sie zum Dogma erheben muss, wenn
andere Lösungen auf der Hand liegen.
({8})
Wenn da nichts in Bewegung kommt, was kann man
dann sonst noch bewegen?
({9})
Ich möchte darauf hinweisen, dass der Innenminister
von Schleswig-Holstein, Herr Stegner, mit seiner Bemerkung sicherlich Recht hatte, dass der Verdacht auftaucht, man wolle keine Einigung.
({10})
Mein Vorschlag ist - da berufe ich mich auf diejenigen, die die Beachtung der Tarifautonomie reklamiert
haben -: Wenn es nicht alsbald zu einer Lösung kommt,
dann sollte man einen Schlichter bestellen und den Tarifkonflikt auf diese Weise lösen.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Clemens Binninger
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir führen heute Nachmittag eine Debatte, die eigentlich nicht in den Deutschen Bundestag gehört.
({0})
Die Tarifautonomie ist aus guten Gründen eine Angelegenheit der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Wir sollten uns da heraushalten.
({1})
An die Adresse der Linken möchte ich sagen: Öffentlichkeitswirksame Auftritte wie vorhin, als sich die
Hälfte der anwesenden Fraktionsmitglieder in VerdiPlastiktüten gehüllt hat, mögen Ihnen zwar gefallen.
Aber ich glaube, Verdi hat daran keinen Gefallen gefunden, weil diese Gewerkschaft auch viele anders denkende und vernünftige Mitglieder hat.
({2})
Insofern haben Sie heute Mittag mit dieser Aktion niemandem einen Dienst erwiesen.
({3})
Wenn diese Debatte für etwas gut sein soll, dann muss
man auf ein paar Eckpunkte hinweisen, entlang derer wir
diese Diskussion führen. Es geht um den öffentlichen
Dienst. In diesem Zusammenhang wird aber immer unterschlagen - auch von Verdi und den Linken -, dass von
den 6 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst
ein Großteil Beamte sind, die schon jetzt länger als
40 Stunden arbeiten. Auch die Angestellten in den neuen
Bundesländern arbeiten 40 Stunden. Alle neu eingestellten Arbeitnehmer - egal ob im Bund, in den Ländern
oder in den Kommunen - arbeiten 40 Stunden oder je
nach Arbeitsvertrag vielleicht sogar etwas länger. Da die
Mehrheit der Beschäftigten im öffentlichen Dienst schon
mindestens 40 Stunden arbeitet, sollte man also nicht so
tun, als ob jetzt der Sozialstaat zusammenbrechen
würde, wenn die Arbeitszeit Ihrer Klientel von 38,5 auf
40 Stunden heraufgesetzt wird.
({4})
Das klingt an dieser Stelle unglaubwürdig.
({5})
Wenn wir die Diskussion ernsthaft führen wollen,
müssen wir auch eine Bemerkung zu der finanziellen Situation der Arbeitgeber machen. Wir sollten nicht nur
die Zahlen aus der Statistik vergleichen, Herr Kollege
Gysi, sondern wir sollten auch erwähnen, dass der Personalkostenanteil der Länder 42 Prozent, inklusive der
Pensionen fast 50 Prozent, beträgt. Der Anteil liegt bei
den Kommunen nicht ganz so hoch. Aber die Kommunen, die durch eine Fülle von Aufgaben belastet werden,
müssen ebenfalls viel Geld für das Personal ausgeben.
({6})
Vor diesem Hintergrund muss man Arbeitgeber verstehen, die sagen: Wir müssen die Arbeitszeit an unsere
Möglichkeiten anpassen. - Das hat aber nichts damit zu
tun, dass es im Arbeitskampf bzw. in den Tarifverhandlungen berechtigte Forderungen gibt.
({7})
Wogegen ich mich aber wehre, ist, wenn in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht - ich glaube, da tut
sich niemand einen Gefallen -: Das einzige Gut, das es
zu verteidigen gilt und das alles überlagert, ist die
38,5-Stunden-Woche. Das wäre der größte Fehler. Genau dieser Eindruck entsteht im Moment. Die Menschen
in diesem Land haben den Eindruck: Es geht nur um die
Erhöhung der Arbeitszeit um 18 Minuten am Tag. Sie
fühlen sich zu Recht nicht ernst genommen, wenn Verdi
ernsthaft sagt: 18 Minuten pro Tag sind uns zu viel; aber
vier Minuten mehr am Tag wären akzeptabel. - Das ist
doch keine seriöse Tarifpolitik. Deshalb glaube ich, dass
Verdi - aber sicher auch die Arbeitgeber - gut beraten
wäre, die Diskussion im Interesse des gesamten öffentlichen Dienstes anders und offensiver zu führen und zu sagen: Wenn denn die Notwendigkeit besteht - daran besteht für mich persönlich kein Zweifel -, dann
akzeptieren wir eine solche Arbeitszeiterhöhung.
Herr Kollege Gysi, Sie haben zu mir gesagt, ich sei
nicht im öffentlichen Dienst beschäftigt. Das ist richtig.
Ich bin Mitglied des Deutschen Bundestages. Aber ich
war 23 Jahre lang als Polizeibeamter im öffentlichen
Dienst beschäftigt. Ich habe sieben Jahre lang im
Schichtdienst gearbeitet. Sie können mir abnehmen, dass
ich die Strukturen, die Bedürfnisse und viele weitere
Punkte, die zu Recht kritisiert werden, kenne.
Aber in einem Punkt müssen wir den Mut zur Wahrheit haben - das sehen viele meiner ehemaligen Kolleginnen und Kollegen genauso -: Die 40-Stunden-Woche
ist kein sozialer Einschnitt, sondern eine Chance für alle
Beteiligten, Bewährtes zu erhalten und zu sichern.
({8})
Deshalb wäre es besser gewesen, zu sagen: Wir stellen
die 40-Stunden-Woche nicht außerhalb jeglicher Diskussion. Wir haben eine ganze Reihe berechtigter Forderungen und machen nicht von vornherein den Fehler, zu sagen: Egal was ihr wollt, über die 40-Stunden-Woche ist
mit uns nicht zu reden.
Zunächst wurde argumentiert, es gehe um die Verhinderung eines Stellenabbaus. Jetzt geht es um die Frage
der Belastung.
({9})
Die Mehrheit der Menschen in diesem Land lehnt daher
- die Stimmung hat sich gedreht - diesen Streik ab und
hat kein Verständnis dafür, dass man über eine Erhöhung
der Arbeitszeit um 18 Minuten pro Tag diskutiert; denn
sie arbeitet bereits 40 Stunden pro Woche. Dieser Streik
ist diesen Menschen nicht zu vermitteln.
({10})
Am Ende dieser Debatte sollten wir an die Verhandlungspartner, an die Arbeitgeber wie an die Arbeitnehmer, das Signal senden: Alle Menschen in diesem Land
haben ein Interesse daran, dass dieser Streik bald beendet wird. Die Beschäftigten haben ein Interesse daran,
dass ihre Rechte gewahrt werden. Die Arbeitgeber haben
ein Interesse daran, dass man ihre finanziellen Möglichkeiten zumindest ernst nimmt und in die Verhandlungen
mit einbezieht.
Wir sollten am Ende nicht den Fehler machen, sagen
zu müssen: All das ist nur deswegen gescheitert, weil
man nicht bereit war, sich von der ominösen Zahl der
40- bzw. 38,5-Stunden-Woche wegzubewegen. Dieser
Fehler darf nicht passieren. Deshalb sollten wir solche
Debatten hier nicht weiterführen, sondern mehr Vertrauen in die Tarifpartner haben. Damit wäre der Sache
eher geholfen als mit einer Schaufensterdebatte heute
Nachmittag.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Andreas Steppuhn von
der SPD-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Herr Niebel, Sie haben in Ihrer Rede wieder einmal das
bestätigt, was wir von Ihnen und der FDP schon wissen,
nämlich dass Sie nicht allzu viel von Gewerkschaften
und Tarifverträgen halten. Sie haben deutlich gemacht
- das ist mir jetzt klar geworden -: Die FDP in diesem
Land ist eine arbeitnehmer- und gewerkschaftsfeindliche
Partei.
({0})
Herr Niebel
({1})
- lassen Sie mich einmal ausreden -, ich bin froh darüber, dass die FDP nicht in die Regierungsverantwortung gekommen ist; denn die Menschen in diesem Land
haben eine andere Politik verdient.
({2})
Meine Damen und Herren, der Arbeitskampf im öffentlichen Dienst läuft nunmehr in der sechsten Woche.
Viele haben bereits in der vergangenen Woche geglaubt,
dass es möglich sein würde, zu einem Kompromiss zu
kommen, der sowohl den Interessen der im öffentlichen
Dienst beschäftigten Menschen als auch den der öffentlichen Arbeitgeber gerecht wird. In der Tarifauseinandersetzung ist aber auch deutlich geworden, dass die Gewerkschaft Verdi offenbar stärker den Kompromiss
gesucht hat, als dies die Verhandlungsführung der öffentlichen Arbeitgeber der Länder, an der Spitze der Finanzminister des Landes Niedersachsen, Hartmut Möllring,
getan hat.
({3})
Von daher ist eine öffentliche Debatte über den richtigen Kurs und auch die Zielsetzung der Verhandlungsführung durch die öffentlichen Arbeitgeber zu Recht entbrannt. Tarifverträge, insbesondere in der Folge von
Arbeitskämpfen, stellen, da sie sich in freien Verhandlungen ergeben, Kompromisse dar, die die Tarifvertragsparteien eingehen. Warum bis zum heutigen Tage noch
kein Tarifergebnis erzielt worden ist, gilt es auch in dieser öffentlichen Debatte zu hinterfragen. Diese kritische
Frage muss sich auch Herr Möllring gefallen lassen, zumal hochrangige Ministerpräsidenten seine Verhandlungsführung - aus meiner Sicht zu Recht - infrage gestellt haben.
({4})
In diesen Zusammenhang gehört auch mein Eindruck,
dass sich Herr Möllring gar nicht mehr bemüht, einen tarifpolitischen Kompromiss zu suchen,
({5})
sondern darauf spekuliert, dass die Tariflandschaft im
öffentlichen Dienst weiter auseinander bricht. Man bekommt den Eindruck, dass es gegebenenfalls Ziel ist, die
Flächentarifverträge im öffentlichen Dienst gänzlich zur
Disposition zu stellen. Was die Verhandlungsführung der
Arbeitgeberseite tut, kann nicht im öffentlichen Interesse
sein, schon gar nicht im Interesse der Menschen im
Land.
({6})
Die hoch motivierten - das muss man auch einmal sagen - und engagierten Menschen, die Beschäftigten im
öffentlichen Dienst, die tagtäglich vorbildlich ihre Arbeit in Krankenhäusern, Kindergärten und anderswo verrichten, haben es verdient, dass ihre Arbeitsbedingungen
eine vernünftige und angemessene Regelung erfahren.
({7})
Die SPD-Bundestagsfraktion ruft die Tarifvertragsparteien im öffentlichen Dienst dazu auf, schnellstmöglich
an den Verhandlungstisch zurückzukehren und vor allen
Dingen ergebnisorientiert zu verhandeln.
({8})
Ich wundere mich sehr, dass der Vorschlag, in der jetzigen Situation einen Schlichter einzubeziehen, von einigen als zu früh und nicht gewollt bezeichnet wird.
({9})
Nach fast sechs Wochen Streik sollte es doch das Normalste von der Welt sein, einen Schlichter zu bestellen,
der gegebenenfalls das schaffen kann, was die Tarifvertragsparteien bislang nicht vermocht haben,
({10})
nämlich einen Kompromiss zu erarbeiten, der Grundlage
für ein zu erzielendes Tarifergebnis sein kann. Ich appelliere von daher sowohl an Verdi, aber ganz besonders
eindringlich auch an die öffentlichen Arbeitgeber: Bewegen Sie sich, damit der soziale Frieden im öffentlichen Dienst in der Bundesrepublik Deutschland wiederhergestellt wird!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Gitta Connemann von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir pflegen heute wieder einmal ein Ritual, nämlich das der Aktuellen Stunde auf Verlangen der Linken. Ich bin eine
Verfechterin von Minderheitenrechten und das Verlangen nach Durchführung einer Aktuellen Stunde ist ein
solches. Dieser Schutz sollte aber nicht missbraucht werden. Genau diesen Eindruck aber erwecken Sie, meine
Damen und Herren von der Linken,
({0})
nicht weil Ihre Schlagzahl sich mit Heranrücken der
Landtagswahlen hektisch erhöhen würde. Dies ließe sich
ja noch mit einer klassischen Konditionierung im Sinne
von Pawlow erklären: Was seinem Hund das Futter, ist
Ihnen die Aktuelle Stunde. Vielmehr beweisen Sie heute
mit der Wahl des Themas, dass dieses parlamentarische
Instrument für Sie nicht mehr ist als ein Mittel zum
Zweck, nämlich Unruhe zu stiften
({1})
und hier im wahrsten Sinne des Wortes eine Klamotte
aufzuführen,
({2})
eine Klamotte, mit der Sie dieses Haus verhöhnen, mit
der Sie die Zuschauer im Saal und auch an den Bildschirmen verhöhnen, mit der Sie die Streikenden und mit
der Sie die Bürger verhöhnen.
({3})
Mich würde in diesem Zusammenhang interessieren, ob
wir in der nächsten Woche auch eine Aktuelle Stunde zu
dem Thema der angekündigten Nullrunde des DGB erwarten dürfen, ob Sie sich dann auch entsprechend Müllsäcke überziehen werden.
({4})
Wenn sich ein Thema nicht für eine Debatte im Deutschen Bundestag eignet, dann ist es der Tarifstreit im öffentlichen Dienst der Länder und Kommunen, nicht nur,
weil der Bund nicht betroffen ist, sondern auch, weil hier
ein Recht berührt wird, das wir vor jeder staatlichen Einflussnahme schützen sollten, nämlich die Tarifautonomie.
({5})
Selbst wenn manchen von Ihnen die Erkenntnis schwer
fällt: Auch bei der Auseinandersetzung zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften im öffentlichen Dienst gilt
diese Tarifautonomie.
({6})
Wem es in der Politik mit der Wahrung dieses Grundrechtes ernst ist, der muss sich zurückhalten, wie übrigens unsere Bundesregierung. Die Bundeskanzlerin hat
erklären lassen, dass sie sich zum Tarifstreit nicht äußern
wird, da die Tarifautonomie ein hohes Gut sei.
({7})
Ich bin unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel für diesen klaren Kurs dankbar. Sie zeigt, dass das Bekenntnis
zur Verfassung für sie mehr ist als hohle Worte.
Leider ist nicht jeder so zurückhaltend. Was war in
den letzten Tagen alles zu lesen: von ungebetenen Ratschlägen an die Tarifvertragsparteien bis hin zu Forderungen nach Einschaltung von Schlichtern - ein vielstimmiger Chor, der nur noch überboten wurde von
wirklich niveaulosen Beiträgen in dieser Debatte, die ich
nur mit dem Begriff „Zumutung“ benennen kann.
({8})
Ich empfehle allen, die glauben, sich zu Wort melden zu
müssen, einmal die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 1993 zu lesen - ich zitiere -:
Mit der grundrechtlichen Garantie der Tarifautonomie wird ein Freiraum gewährleistet, in dem Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre Interessen gegenseitig in eigener Verantwortung austragen können.
Diese Freiheit findet ihren Grund in der historischen Erfahrung, dass auf diese Weise eher Ergebnisse erzielt werden, die den Interessen der widerstreitenden Gruppen und dem Gemeinwohl gerecht
werden, als bei einer staatlichen Schlichtung.
({9})
Anders gesagt: Die Tarifhoheit ist kein Tummelfeld
für die Politik. Sie eignet sich insbesondere nicht für parteipolitische Instrumentalisierung,
({10})
auch wenn die Versuchung groß ist; denn es stellen sich
viele Fragen, zu denen sich alle von uns gerne äußern
würden:
({11})
Ist es fair, die Menschen in diesem Land wegen
18 Minuten Mehrarbeit pro Tag zu bestreiken?
({12})
Ist es fair, den Ländern in ihrer tiefsten Finanzkrise den
längsten Streik im öffentlichen Dienst aufzuzwingen? Ist
es fair, die Bürger finanziell noch stärker zu belasten?
({13})
Die Personalkosten in meinem Heimatland Niedersachsen belaufen sich mittlerweile auf fast 50 Prozent des gesamten Haushaltsvolumens. Ist es fair, dass viele dieser
Bürger, die diesen Streik durch ihre Steuergelder finanzieren, in der Privatwirtschaft länger als jene 40 Stunden
in der Woche arbeiten, die den Streikenden nach wie vor
unzumutbar erscheinen, und das trotz sicherer Arbeitsplätze?
Ist es fair, zukünftige Generationen mit noch mehr
Kosten zu belasten?
({14})
Die Staatsverschuldung in Bund und Ländern ist auf Rekordhöhe angewachsen. Dies hat übrigens auch mit Versprechen vor Wahlen zu tun. Allein das Land Niedersachsen zahlt 7 Millionen Euro Zinsen pro Tag, ohne
Tilgung. Ich frage Sie: Was ließe sich mit diesem Geld
machen?
({15})
Ist es fair, die öffentlichen Angestellten besser zu behandeln als die Beamten derselben Länder? Ist es fair,
wenn einige Länder jetzt die Verhandlungslinie verlassen und den Verhandlungsführer angreifen, der auftragsgemäß einen gemeinsamen Beschluss umsetzt?
({16})
Schließlich waren sich die Länder einig: Wir brauchen
mehr Arbeitszeit ohne Lohnausgleich und die Kürzung
von Sonderzuwendungen.
Ist es fair, die Sicherheit von Menschen als Druckmittel einzusetzen? Darf es zum Ausfall von Operationssälen kommen? Die überwiegende Zahl der Menschen in
diesem Lande sagt: Nein, das ist nicht fair. Laut einer
Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen halten 61 Prozent der Deutschen den Streik für falsch. Selbst die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes lehnen diesen inzwischen mehrheitlich ab.
({17})
Als Bürgerin habe ich eine private Meinung zu all
diesen Fragen. Als Mitglied dieses Hauses und damit als
Teil dieses Staates werde ich sie hier jedoch nicht äußern; denn ich achte die Tarifautonomie.
({18})
Ich fordere Sie auf, dies auch zu tun; denn Wahlkampfgetöse hat im Tarifstreit nichts zu suchen. Lassen Sie uns
darauf vertrauen, dass die Tarifvertragsparteien über
kurz oder lang einen Interessenausgleich finden werden,
der für alle tragbar sein wird. Ich glaube, dass diese Parteien klüger sind, als wir es ihnen zutrauen.
Vielen Dank.
({19})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Gabriele
Lösekrug-Möller von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren in dieser Aktuellen Stunde über ein importiertes
Thema; diesen Import hat uns die Fraktion der Linken
beschert.
Man muss einmal deutlich machen, worum es geht.
Nicht alle haben so feinsinnig argumentiert wie meine
Vorrednerin, die meinte, uns glauben machen zu können,
sie habe ihre Meinung zu diesem Thema nicht geäußert.
Frau Connemann, da müssen Sie ein bisschen früher aufstehen. Ich glaube, durch Ihre subtilen Fragestellungen
haben wir alle begriffen, wo Sie stehen.
({0})
Wir haben in dieser Aktuellen Stunde von Herrn Gysi
einen Grundkurs in Populismus bekommen. Ich glaube
allerdings, dass Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von der Linksfraktion, mit Ihrer Modenschau der Sache,
die Verdi zu Recht vertritt, keinen Gefallen getan haben.
({1})
Reden wir aber nicht mehr über diesen Bärendienst,
den Sie einem berechtigten Anliegen erwiesen haben!
Reden wir darüber, worum es bei diesem Streit eigentlich geht! Viele haben behauptet, es ginge um diese wenigen Minuten. Ich habe schon erwartet, die zusätzliche
Arbeitszeit in Sekunden vorgerechnet zu bekommen. Ich
glaube, darum geht es nur zum Teil.
Hier geht es - das wurde zutreffend dargestellt - um
zwei andere Dinge. Es geht um die Frage, wie viel Wochenarbeitszeit zumutbar ist. Im Gegensatz zu vielen in
diesem Haus habe ich im Einzelhandel mit einer Wochenarbeitszeit von 42 Wochenstunden angefangen. Ich
kann mich gut an die Kampagne der Gewerkschaften
„Samstags gehört Vati uns“ erinnern; einige mögen sie
noch in Erinnerung haben. Die Frage der Arbeitszeit war
immer eine, über die Gewerkschaften zu Recht gestritten
haben. Ich denke, dass sie das in dieser Tarifauseinandersetzung tun, ist ihr gutes Recht.
({2})
Warum kommt man aber nicht von der Stelle? Man
kommt nicht von der Stelle, weil offenkundig nicht auf
Augenhöhe verhandelt wird. Zu all den Lobgesängen,
die wir auf den niedersächsischen Finanzminister gehört
haben, muss ich sagen: Er wäre gut beraten gewesen,
wenn er sich einmal, zum Beispiel von unserer Kanzlerin, darin hätte unterrichten lassen, wie man Verhandlungen so führt, dass man zu Ergebnissen kommt, und wie
man sie auf Augenhöhe führt. Möglich ist das.
({3})
Ich denke, an der Stelle kann der Herr Minister noch etwas lernen. Das würde dem gesamten öffentlichen
Dienst gut tun.
Worum geht es? Wir alle wünschen uns, dass es möglichst bald ein Ergebnis gibt. Ich glaube, ich spreche hier
für viele leistungsstarke und hoch motivierte Beschäftigte im öffentlichen Dienst.
({4})
Allerdings wünschen sie sich eine Auseinandersetzung,
aus der sich die Politik heraushält. Dass das geht, zeigt
im Übrigen Niedersachsen - wir stellen nicht nur
Schwierigkeiten heraus, sondern zeigen auch Lösungen
auf -, wo sich die kommunalen Arbeitgeber gestern verständigt haben. Schon sagt Herr Möllring: Das hat aber
keinen Pilotcharakter. - Das mag in der Sache richtig
sein.
({5})
- Herr Niebel, ich hatte ein bisschen Sorge um Ihren hohen Blutdruck. Das hat sich aber, glaube ich, wieder gelegt.
({6})
Sie haben heute bewiesen, dass Sie nicht nur in der Sache unbelehrbar sind, sondern dass Sie auch keinerlei
Bereitschaft zeigen, ein Argument wahrzunehmen. Deshalb lohnt es sich gar nicht, darauf weiter einzugehen.
({7})
Ich halte in der Minute, die mir noch zur Verfügung
steht, Folgendes fest: Wenn Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst streiken, haben sie das Recht dazu und einen
guten Grund. Wer Sorge hat, dass in dieser Republik an
vielen Stellen daran gearbeitet wird, Tarifverbünde zu
knacken und Flächentarifverträge infrage zu stellen,
nimmt die Verhältnisse richtig wahr. Wer meint, der
Zeitpunkt für eine Schlichtung sei gekommen - das erlaube ich mir anzufügen -, der hat ganz sicher ein zutreffendes Timing. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu
Recht einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst; wir
alle profitieren tagtäglich davon. Dazu gehört, dass die
Beschäftigten ein gewisses Maß an Sicherheit, ordentliche Bezahlung und eine angemessene Arbeitszeit haben,
damit sie alles gut erledigen können.
Ich wünsche beiden Tarifvertragsparteien gute Verhandlungen im Endspurt. Dabei müssen sich beide Seiten bewegen. Ich bin nach wie vor zuversichtlich, dass
sie das können. Sollte Herr Möllring noch Fragebedarf
haben, steht ihm die Kanzlerin sicherlich zur Verfügung.
Vielen Dank.
({8})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN
Die Bedeutung von Wahrheits- und Versöh-
nungskommissionen für eine friedliche Zu-
kunft
- Drucksache 16/932 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Marieluise Beck ({1}),
Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine baldige Zeichnung und Ratifizierung
des Zusatzprotokolls zur Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen
- Drucksache 16/360 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian
Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Werner
Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Für eine zügige Zeichnung, Ratifizierung und
Umsetzung des Zusatzprotokolls zur Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen
- Drucksache 16/455 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dazu? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Herta Däubler-Gmelin von der SPDFraktion das Wort.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
beraten heute wichtige Anträge, die zeigen, wie unverzichtbar menschenrechtliche Fragen für nahezu alle Bereiche der deutschen Politik geworden sind. Heute geht
es um den Bereich der auswärtigen Politik, aber auch um
den Bereich der Rechtspolitik und des Strafvollzuges.
Schwerpunkt ist die Bedeutung von Wahrheits- und
Versöhnungskommissionen für eine friedliche Zukunft.
Das ist ein Antrag, den CDU/CSU, SPD, FDP und
Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam eingebracht haben.
Ich finde das gut - lassen Sie mich das ausdrücklich sagen -, weil es zeigt, dass wir in sehr vielen menschenrechtlichen Fragen einen breiten Konsens haben.
Außerdem stehen Anträge der Oppositionsfraktionen
zur Diskussion, die eine zügige Zeichnung, Ratifizierung
und Umsetzung des Fakultativprotokolls vom 18. Dezember 2002 zur UN-Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung vom 10. Dezember 1984 fordern. Lassen Sie
mich ausdrücklich sagen: Wir teilen diese Forderung
und unterstützen den im Fakultativprotokoll vorgesehenen Kontrollmechanismus zum Strafvollzug auf der
Ebene der Vereinten Nationen.
Wir haben uns wie die Antragsteller über die Bremserhaltung einiger Landesjustizverwaltungen geärgert,
die mit dafür verantwortlich waren - die Zuständigkeit
ist hier sehr klar -, dass das Zeichnungsverfahren noch
nicht eingeleitet werden konnte. Deshalb ist es besonders gut, dass heute - merke: heute - die Freigabe vonseiten der Vertragskommission der Länder erfolgt ist und
der Zeichnungsprozess eingeleitet werden kann. Wir
werden uns sicherlich noch über die Art der Umsetzung,
die als Kompromiss möglich geworden ist, unterhalten
müssen. Ich will aber feststellen, dass es gut ist, dass die
Zeichnung eingeleitet werden kann.
({0})
Jetzt aber zu unserem gemeinsamen Antrag zur Bedeutung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen. Mit ihm soll die Diskussion darüber eingeleitet werden - wir werden sie sehr vertieft führen müssen -, was
die deutsche Politik tun kann, um Staaten und Gesellschaften, sei es am Ende einer Diktatur, eines Krieges,
eines Bürgerkrieges oder anderer Konflikte mit schwersten Menschenrechtsverletzungen, noch mehr zu helfen,
sich zu stabilisieren und einen neuen Anfang zu machen.
Diese Diskussion ist außerordentlich wichtig. Wir wissen, dass sie viele Staaten und Gesellschaften in ganz
verschiedenen Regionen unserer Welt betrifft. Unser Antrag zählt einige Länder auf, aber keineswegs alle. Die
Aufzählung reicht von Südafrika über Guatemala bis hin
zu Osttimor. Die Diskussion ist auch deshalb wichtig,
weil sie in die klare Schwerpunktsetzung der Vereinten
Nationen, das Peace-Building, eingebettet ist, also in
die Stabilisierung von Gesellschaften und Staaten sowie
von Menschenrechten. Beides gehört, wie wir wissen,
untrennbar zusammen.
({1})
Lassen Sie mich nur zwei Punkte nennen: Im Dezember 2005 ist es im Zuge der UN-Reform möglich geworden, die Einsetzung einer Peace-Building-Commission
zu beschließen. Jetzt muss dies umgesetzt werden. Wir
danken der Bundesregierung, dass sie sich hierfür aktiv
einsetzt. Gestern ist es gelungen, den immerhin beachtlichen Kompromiss zur Verbesserung der Arbeit der Menschenrechtskommission durch die Einrichtung eines effizienteren Menschenrechtsrates zu beschließen.
({2})
Das ermutigt trotz aller Schwierigkeiten; das will ich
gerne hinzufügen.
An beiden ermutigenden Schritten - lassen Sie mich
das wiederholen; ich tue das mit großem Dank - hat die
Arbeit der Bundesregierung einen erheblichen Anteil.
Das ermutigt uns und bestärkt uns auch darin, unsere
Forderung zu stellen, die wir im Zuge der Beratungen
über unseren Antrag mit Sicherheit noch deutlich präzisieren können und müssen.
({3})
Die Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, um
die es heute geht, sind auch Schritte der Ermutigung, jedenfalls einige von ihnen. Wie die Erfahrung zeigt, können die unterschiedlichsten Kommissionen in den verschiedensten Ländern ein wichtiges Instrument sein, um
nach schrecklichen Zeiten der Unterdrückung der Bevölkerung, bestimmter Bevölkerungsgruppen oder von
Minderheiten, nach Verbrechen, Menschenrechtsverletzungen und schrecklichem Unrecht anderer Art einen
neuen Anfang zu machen und durch die Feststellung der
Wahrheit, die Ermittlung des Sachverhalts, die Sicherung der Überwindung von Straflosigkeit und damit
auch die Sicherung von Recht eine Grundlage für eine
friedliche Zukunft zu schaffen.
Wir können das an den Ergebnissen der unterschiedlichen Wahrheits- und Versöhnungskommissionen ablesen. An ihnen können wir aber auch feststellen, was eine
solche Kommission ist, was man für ihre Arbeit braucht
und was sie nicht leisten kann.
In Südafrika zum Beispiel hat das grässliche, die
Menschenrechte verletzende, grausame Apartheidregime die schwarze Bevölkerung unterdrückt und gedemütigt, sie ihrer Rechte beraubt, ermordet und sie der
völligen Willkür ausgeliefert. Das ist, auch rückwirkend
betrachtet, eine Schande.
({4})
Typisch für die Situation Ende der 80er-Jahre war,
dass die Machthaber des Apartheidregimes einerseits
noch stark waren, andererseits aber intern, in ökonomischer Hinsicht und auf internationaler Ebene immer stärker unter Druck gerieten. Gleichzeitig gab es aufseiten
der schwarzen Bevölkerung unglaublich eindrucksvolle
Persönlichkeiten wie Präsident Mandela oder Bischof
Tutu, die gegen Rache, Vergeltung und Gewalt und für
einen friedlichen Neubeginn votierten. Sie trugen dazu
bei, dass eine Wahrheits- und Versöhnungskommission
eingerichtet wurde, die fünf wichtige Aufträge hatte:
Erstens sollte sie in einem regelhaften Verfahren, das
allerdings kein Strafverfahren sein sollte, die Wahrheit
feststellen.
Zweitens - das war ganz wichtig - sollte sie den Opfern und ihren Angehörigen ein Forum bieten, in dem sie
berichten konnten, was ihnen angetan worden war.
Drittens sollte sie die Verantwortlichkeit der Täter
feststellen.
Viertens sollte sie die Öffentlichkeit einbeziehen.
Fünftens sollte sie die mögliche Entschädigung von
Opfern einleiten
({5})
und eine begrenzte Amnestie für Täter in Erwägung ziehen.
({6})
Es ist erstaunlich - das konnten wir auch in anderen
Ländern feststellen -, was diesen Kommissionen damals
gelungen ist. Aber wir wissen ganz genau, was solche
Kommissionen nicht leisten können. Sie können kein Ersatz für ein Strafverfahren sein und sie dürfen kein Mittel sein, mit dem die Herrschenden den früher Unterdrückten sagen: Jetzt versöhnt euch mal schön.
Der Bundestag hat abgesehen von seinen Feststellungen zum Wert von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen eine ganze Reihe von Empfehlungen abgegeben,
die auch an die Bundesregierung gerichtet waren. Ich
denke, es ist jetzt unsere Aufgabe, diese Empfehlungen
noch stärker zu präzisieren und sie vielleicht zu ergänzen. Gleichzeitig müssen wir - die Regierung, der Bundestag und unsere starke Zivilgesellschaft - alle Möglichkeiten nutzen, um zu helfen, wenn unsere Hilfe
nachgefragt wird.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Toncar von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Menschenrechtspolitik ist gekennzeichnet durch die
wechselseitige Abhängigkeit des engagierten Eintretens
für Menschenrechte im Ausland und im Rahmen von internationalen Organisationen einerseits und der strikten
Beachtung und Förderung der grundlegenden Rechte unserer Bürgerinnen und Bürger in Deutschland andererseits.
({0})
Wenn wir nur eine dieser beiden Seiten vernachlässigen,
wird dadurch automatisch die andere Seite geschwächt.
Wenn also Regierungsvertreter bei Auslandsreisen im
Hinblick auf lukrative Aufträge für unsere Unternehmen, gegen die niemand etwas hat, ins große Horn blasen, sich in Menschenrechtsfragen aber eher beiläufig in
den eigenen Bart nuscheln, dann erweckt das den Eindruck, Menschenrechte seien Verhandlungsmasse. Das
können sie für uns nicht sein, meine Damen und Herren!
({1})
Wenn wir umgekehrt selbst nicht höchsten menschenrechtlichen Standards genügen, wird man uns zu Recht
Inkonsequenz und Doppelmoral vorwerfen, wenn wir
die Menschenrechte anderswo einfordern. Wir müssen
uns also immer bewusst machen, wie sehr der Einsatz
für Menschenrechte im Ausland und der Einsatz für
Menschenrechte im Inland voneinander abhängen. Dieser Gedanke verbindet die beiden Themen, die wir heute
behandeln.
In dem vorliegenden interfraktionellen Antrag geht es
um die Aufarbeitung von Unrecht nach Überwindung einer Diktatur oder eines Bürgerkrieges durch Wahrheitskommissionen. Das ist angemessen, insbesondere vor
dem Hintergrund, dass dieses Instrument seit den 90erJahren beträchtlich an Bedeutung gewonnen hat. Meist
geht es in den betroffenen Ländern darum, den Opfern
und deren Angehörigen Genugtuung, oft genug aber
auch nur die traurige Gewissheit über das Schicksal eines vermissten oder verlorenen Familienangehörigen zu
verschaffen. Voraussetzung für einen neuen Anfang ist
es oft, Klarheit darüber zu schaffen, was vorgefallen ist,
Unrecht als solches zu benennen und - im Idealfall, auch
wenn es in der Praxis oft nur schwer möglich sein wird Wiedergutmachung geschehenen Unrechts anzustoßen.
In dem Antrag heißt es zu Recht, dass Wahrheitskommissionen die Strafverfolgung der Täter - auch und
gerade der Täter am Schreibtisch - nicht ersetzen können. Amnestie für gravierende Menschenrechtsverletzungen kann und darf es auch durch Wahrheitskommissionen nicht geben.
({2})
Die Verfolgung der Täter ist zunächst Sache der nationalen Gerichte. Die UN-Tribunale für Ruanda und für das
frühere Jugoslawien sowie der Internationale Strafgerichtshof stellen aber unschätzbar wertvolle Fortschritte
dar, insbesondere wenn nationale Gerichte diese Aufarbeitung nicht leisten können, nicht leisten wollen oder
nicht leisten sollen.
({3})
- Ja.
Es ist bedauerlich, dass der Prozess gegen Slobodan
Milošević nicht zu Ende geführt werden kann. Um jeglicher Legendenbildung vorzubeugen, ist es nötig, dass
sein Tod gründlich untersucht und hierüber transparent
aufgeklärt wird.
Es ist aber auch an der Zeit, in Erinnerung zu rufen,
dass über zehn Jahre nach dem Friedensabschluss von
Dayton Kriegsverbrecher wie Radovan Karadžić und
Ratko Mladić noch immer auf freiem Fuß sind. Diese
Entwicklung ist höchst unbefriedigend und kann nicht
Bestand haben.
({4})
Gerade für das Unrecht, das im Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien angerichtet wurde, wo es vielfältige
Täter gibt und wo die Verbrechen auf vielerlei Seiten begangen worden sind, wo es nicht einfach ist, in Gut und
Böse einzuteilen, ist die Einsetzung einer Wahrheitskommission vielleicht ein geeignetes Instrument, um zur
Aufarbeitung beizutragen.
Wie im Antrag zu Recht betont wird, kann es nicht
darum gehen, eine solche Kommission einem Land von
außen überzustülpen. Jedes Land muss selbst einen Weg
finden, mit seiner Vergangenheit fertig zu werden. Wir
sollten im Rahmen der heutigen Debatte nicht vergessen,
dass auch wir Deutschen vor der Aufgabe standen und
weiterhin stehen, Unrechtsvergangenheit aufzuarbeiten.
Ich glaube, auch ohne dass wir eine Wahrheitskommission hatten, können wir mit unseren Erfahrungen den einen oder anderen Beitrag dazu leisten, solche Aufgaben
in anderen Ländern zu vereinfachen.
Nach dem Krieg hat in Deutschland lange Zeit das
Klima geherrscht, die NS-Vergangenheit nicht angemessen aufgearbeitet zu haben. Mittlerweile sind wir
glücklicherweise weit fortgeschritten; es gibt dazu eine
Menge an Bemühungen.
Wir haben auch Instrumente, um das Unrecht, das
während der SED-Diktatur in der DDR begangen worden ist, aufzuarbeiten. Wir brauchen diese Instrumente
weiterhin. Wir brauchen die Birthler-Behörde und wir
brauchen geeignete Gedenkstätten, beispielsweise das
Gefängnis Hohenschönhausen. Doch in diesem Bereich
ist noch nicht alles getan; auch das soll heute in Erinnerung gerufen werden. Es gibt die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter, deren Material bis heute nicht aufgearbeitet ist. Da schlummert noch einiges in den
Archiven, was insbesondere für die Betroffenen wertvoll
wäre; ich glaube, dass sie ein Recht auf Aufarbeitung haben. Das ist eine Aufgabe, die uns Deutschen verbleibt,
um mit unserer eigenen Vergangenheit fertig zu werden.
({5})
Es liegen auch zwei Anträge zum Zusatzprotokoll zur
Anti-Folter-Konvention vor. Darin geht es um die Einrichtungen, in die Menschen zwangsweise eingewiesen
werden: Gefängnisse, aber auch Arrestanstalten - auch
bei der Bundeswehr - oder psychiatrische Kliniken. Für
solche Einrichtungen sollen Personen bestellt werden,
die als unabhängige Beobachter notfalls auch unangekündigt Besichtigungen vornehmen und nachsehen, ob
in diesen Anstalten menschenwürdige Zustände herrschen.
Uns Liberalen geht es mit unserem Antrag darum,
nochmals ein Zeichen zu setzen, um möglichst zügig die
Zeichnung und Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur
Anti-Folter-Konvention zu erreichen. Dass wir uns in
Deutschland so schwer damit tun, die Voraussetzungen
für die Umsetzung des Protokolls zu schaffen, empfinde
ich persönlich als ausgesprochen peinlich. Das sollte so
nicht weitergehen.
({6})
Ich mache keinen Hehl daraus, dass der sich abzeichnende Kompromiss eine große Enttäuschung ist. Wie
man glauben kann, mit vier ehrenamtlichen Kräften, einem Bediensteten des höheren Dienstes und zwei Bürokräften das gesamte Bundesgebiet adäquat abdecken zu
können, ist mir schleierhaft. Die Schweiz etwa setzt das
Protokoll wesentlich konsequenter um und hat die nötigen Personalressourcen bereitgestellt. Dass der BundLänder-Kompromiss so weit dahinter zurückbleibt, ist
enttäuschend. Dieser Kompromiss zur Umsetzung des
Protokolls ist nicht mehr als ein Feigenblatt.
({7})
Die Alternative allerdings wäre, die Ratifizierung
platzen zu lassen. Das halte ich bei aller Kritik dann
doch für falsch. Wenn sich nach der Ratifizierung zeigen
sollte, dass die Bundesrepublik das nur unzureichend
umsetzt, hat man eine sehr viel günstigere Position, um
weitere Verbesserungen und eine Aufstockung der Mittel
zu fordern. Sorgen wir also dafür, dass sich Deutschland
völkerrechtlich möglichst bald bindet. Dann können wir
Nachforderungen stellen, wenn uns die Umsetzung nicht
ausreicht. Das halte ich taktisch für wesentlich sinnvoller.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Holger Haibach von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben kein
Interesse daran, die Liegestühle auf dem Sonnendeck der
Titanic einfach nur zurechtzurücken. - Diese Worte
stammen von Kevin Moley, dem US-Botschafter bei der
Menschenrechtskommission in Genf, und signalisieren
die Haltung der USA zum Kompromiss hinsichtlich des
Menschenrechtsrats, der jetzt gefunden wurde. Was dahintersteht, ist, glaube ich, relativ klar: Wenn es eine Reform geben soll, dann eine richtige Reform, bei der das
Ziel sein muss, ein effektives und glaubwürdiges Gremium zur Durchsetzung der Menschenrechte zu schaffen.
Wir haben eine Lösung. Es gibt einen Kompromiss.
Bedeutet das, dass wir in Jubel ausbrechen sollen, nach
dem Motto: Wir sind Menschenrechtsrat? Nein. Aber ich
glaube, der Kompromiss ist das Beste, was unter den gegebenen Umständen zu erreichen war. Weitere Verhandlungen hätten wahrscheinlich nicht zu einem größeren
Erfolg geführt.
Haben wir das Ziel erreicht, ein effektives, ein glaubwürdiges Gremium zu schaffen? Schauen wir uns zunächst die Kriterien in der Resolution an, die uns jetzt
vorliegt. Mitglieder werden durch einfache Mehrheit in
der Generalversammlung gewählt. Es ist möglich, Mitglieder durch eine Zweidrittelmehrheit wieder abzuwählen. Die Instrumente, über die die Kommission früher
verfügte, sind dem Menschenrechtsrat erhalten geblieben. Das war während der Verhandlungen nicht immer
sichergestellt. Es gibt zumindest ein informelles Übereinkommen darüber, dass Länder, gegen die der UNSicherheitsrat eine Resolution ausgesprochen hat, nicht
Mitglieder des Rates sein können. Es wurde auch darüber eine Verständigung herbeigeführt - das war für die
Europäer besonders wichtig -, dass es mehr Sitzungsperioden gibt. Das ist wichtig, um intensiv und zeitnah
Menschenrechtsverletzungen verfolgen zu können.
Das Ergebnis ist sicherlich weniger als ursprünglich
gewollt, aber mehr als befürchtet. Deshalb hat es zum
Schluss eine breite Unterstützung gegeben. 170 Länder
haben der Resolution zugestimmt. An dieser Stelle
möchte ich der Bundesregierung und der Europäischen
Union für ihre klare Haltung, aber auch für ihr diplomatisches Geschick danken. Denn das war keine einfache
Arbeit.
({0})
Die Nichtregierungsorganisationen haben sich damit
einverstanden erklärt. Die USA, die nicht zugestimmt
haben, haben zugesagt, die Zusammenarbeit zu pflegen,
die entsprechenden finanziellen Mittel bereitzustellen
und einen eigenen Sitz in diesem Gremium anzustreben.
Mit ihrer Haltung zu der Frage, ob der Konsens nun
gut ist oder nicht, stehen die USA übrigens nicht alleine
da. Ich würde gerne mit Erlaubnis des Präsidenten aus
der Genfer „Le Temps“ vom letzten Freitag einen Kommentar vorlesen, überschrieben mit „Konsenssuche ist Gift
für die Menschenrechte“. Der Kommentator schreibt:
Bei der Suche nach einem Konsens und angesichts
eines feindlichen amerikanischen Stimmverhaltens
haben … Verhandlungen die Debatte getötet …
Weiter heißt es:
Die USA unter der Administration Bush mögen
nicht eben die Richtigen sein, um sich als Verteidiger der Freiheiten aufzuspielen, ihre frontale Gegnerschaft hat dennoch etwas Gutes. Sie erinnert uns
daran, dass die europäische und helvetische Konzeption der Menschenrechte keine universelle ist.
Sie erinnern uns daran, dass Freiheiten erkämpft
werden müssen.
Man muss dieser Interpretation nicht zustimmen.
Aber sie zeigt ganz deutlich, dass es nicht um die Frage
der Glaubwürdigkeit der Kriterien geht, sondern dass es
darum gehen muss, dass die Menschenrechtskommission
bzw. der Menschenrechtsrat, wie er jetzt heißt, glaubwürdig arbeitet. Das ist das Entscheidende. Daran wird
sich der Erfolg dieses Gremiums messen lassen müssen.
({1})
Die entscheidenden Fragen werden sein: Können wir
es schaffen, die Kluft zwischen Nord und Süd zu schließen? Können wir es schaffen, dass die Menschen in den
anderen Teilen der Welt sehen, dass der Westen keine
doppelten Standards anlegt, wie das hier gerade angeklungen ist? - Vor wenigen Stunden bin ich aus Amman
zurückgekommen. Dort habe ich wie überall auf der
Welt viele Menschen getroffen, die wirklich begeistert
waren und im Bereich der Menschenrechte zusammenarbeiten wollen. Dafür ist Glaubwürdigkeit sehr wichtig. Ich glaube, auch hier hat die neue Bundesregierung
durch die Äußerungen von Frau Merkel in den USA und
in Russland und durch die Äußerungen von Herrn
Steinmeier in China einen guten Start hingelegt.
({2})
Meine Damen und Herren, Glaubwürdigkeit entsteht
natürlich auch und ganz besonders durch eigenes Handeln. Wir haben hier noch eine Lücke; das ist richtig und
wird durch zwei Anträge dokumentiert. Es geht um das
schon öfter erwähnte Zusatzprotokoll zur Anti-FolterKonvention und um die Schaffung von Präventiv- und
Kontrollmechanismen zur Verhinderung von Folter in
staatlichen Stellen. Es ist wahr, dass es einige Zeit gedauert hat. Es ist aber auch richtig - das ist schon
angeklungen -, dass es jetzt einen Kompromiss gibt. Wir
sind auf einem Weg. In Wiesbaden wird es eine zentrale
Stelle geben. Der Bund hat sich bereit erklärt, die Kosten
zu übernehmen. Natürlich sagen manche, dass das zu
wenig ist. Ich stimme aber dem Kollegen Toncar zu, der
gesagt hat: Wenn die Ratifizierung erst einmal vollzogen ist, dann ist es einfacher, an der Stelle noch Verbesserungen herbeizuführen.
Ich glaube auch, dass es ein ganz wichtiges Zeichen
ist, wenn sich Deutschland an vorderer Stelle an der Ratifikation beteiligt.
({3})
20 Staaten sind notwendig, um das Abkommen durch
die Ratifikation in Kraft treten zu lassen. Es wäre ein fatales Zeichen, wenn Deutschland nicht unter den ersten
20 Unterzeichnern wäre.
({4})
Die beiden Anträge verdienen einen näheren Blick.
Auf sie will ich in der verbleibenden Zeit noch eingehen:
Erstens. Die FDP bringt einen fast wortgleichen Antrag aus der letzten Wahlperiode wieder ein; das scheint
eine neue Methode zu sein. Vielleicht denken Sie einmal
daran, dass Sie in einem der Länder, die sich bis jetzt ein
bisschen geziert haben, in der Regierungsverantwortung
stehen. Ich hoffe, dass Sie dort genauso stark mit dabei
sind, das Ganze voranzubringen und zu implementieren,
wie Sie hier im Bundestag auftreten.
({5})
Ich will das nur zwischendurch sagen: Wir sind uns in
der Intention einig, aber ich möchte das trotzdem noch
kurz politisch bewerten.
Zweitens. Die Grünen machen langwierige Ausführungen darüber - von ihnen ist der andere Antrag zu diesem Thema -, welche Länder das blockiert haben. Es ist
natürlich reiner Zufall, dass in einem dieser Länder bald
Landtagswahlen stattfinden. Es ist auch reiner Zufall,
dass über die Rolle der unionsgeführten Länder gesprochen wird, aber leider nicht darüber, dass das unionsgeführte Land Hessen einen großen Beitrag dazu geleistet
hat, dass wir jetzt diesen Durchbruch erzielt haben.
({6})
Insofern glaube ich, dass das hier durchaus auch einmal
erwähnt werden darf.
Wie auch immer: Jedenfalls in der Zielsetzung sind
wir uns einig. Ich hoffe, dass der gefundene Kompromiss möglichst schnell in die Tat umgesetzt werden
kann; denn wenn dies geschieht, wäre das ein gutes Zeichen für unsere Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit
nach innen und nach außen. Es war auch ein gutes Zeichen für die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit nach
außen, wie sich Deutschland bei der Reform der Menschenrechtsgremien der UN verhalten hat. Arbeiten wir
gemeinsam daran, dass beides zum Erfolg werden kann.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Leutert von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wahrheits- und Versöhnungskommissionen dienen bekanntlich dem Zweck, einer Gesellschaft, in der
schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit stattgefunden haben, einen zivilisierten Neuanfang zu ermöglichen. Es geht darum, sich mit der eigenen Vergangenheit
auseinander zu setzen und den Frieden nicht aufs Neue
zu gefährden. Opfer sollen so die Möglichkeit erhalten,
über ihnen angetanes Unrecht sprechen zu können und
die Täter zu benennen; Täter sollen dagegen die Möglichkeit haben, ihre Opfer um Vergebung zu bitten. Es
geht also um Wahrheit und Aussöhnung. Jedoch darf
dies nicht - ich glaube, darin sind wir uns einig - die juristische Aufarbeitung schwerster Menschenrechtsverletzungen ersetzen.
In diesem Zusammenhang möchte ich einige Kritikpunkte anführen:
Erstens. Ich glaube, hier auf breite Zustimmung zu
stoßen, wenn ich sage: Am besten wäre es, wir bräuchten
gar keine Wahrheits- und Versöhnungskommissionen.
Dies wäre dann der Fall, wenn die Konflikte schon im
Vorfeld verhindert werden könnten.
({0})
In diesem Zusammenhang möchte ich allerdings die
Frage stellen, warum in dem Antrag der präventiven
Seite kein Raum eingeräumt wurde. Wir alle wissen,
dass unter anderem mangelnde Bildung sowie Armut
und soziale Ungleichheit primäre Gründe für Kriege und
Bürgerkriege sind. Zur Beseitigung dieser Ursachen bedarf es finanzieller Mittel, die die meisten betroffenen
Länder selbst nicht aufbringen können. Es wäre also
mehr als angebracht, wenn Deutschland seine auf internationaler Ebene zugesagten Mittel für Entwicklungshilfe endlich auf die versprochene Höhe anhöbe.
({1})
Zweitens. Es ist generell nachzufragen, inwieweit
Entwicklungshilfe mit militärischer Invasion im Zusammenhang steht. Diese Gelder sollen eben hauptsächlich
präventiv wirken und nicht erst dann eingesetzt werden,
wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. An
diesem Punkt möchte ich an Afghanistan erinnern.
Drittens. Es sollte kritisch hinterfragt werden, mit
welchen Regimes wir derzeit in Beziehung stehen. Sind
es Länder, in denen eventuell in naher Zukunft ebenfalls
Wahrheitskommissionen notwendig werden?
({2})
Ich darf in diesem Zusammenhang an Usbekistan erinnern. Dort starben während eines Massakers von regierungsnahen Truppen und der Polizei letztes Jahr bis zu
800 Menschen. Wir unterhalten aber in Usbekistan aus
strategischen Gründen einen Militärflugplatz und gewähren Finanzhilfen in Millionenhöhe. Auch das gehört
zur Wahrheit.
({3})
Viertens und letztens möchte ich Folgendes in den
Raum stellen: Wir hätten diese Punkte gerne während
der Erarbeitung dieses interfraktionellen Antrags mit Ihnen gemeinsam diskutiert. Aber es scheint derzeit Mode
zu werden, dass solche fraktionsübergreifenden Initiativen ohne uns stattfinden. Warum? Legen Sie auf unsere
Meinung keinen Wert oder ist das noch die Routine aus
der alten Legislaturperiode? Mich würde es freuen,
wenn Sie sich daran gewöhnten, dass im Bundestag seit
kurzem eine neue Fraktion Platz genommen hat.
({4})
- Natürlich bin ich neu, aber auch die Fraktion ist neu.
({5})
Daran sollten Sie sich gewöhnen.
({6})
Meine Fraktion wird diesem Antrag trotz aller Kritik
zustimmen, da wir im Kern mit der Zielrichtung des Anliegens übereinstimmen.
Weiterhin liegen zwei Anträge zur Zeichnung und Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur Anti-Folter-Konvention vor. Es ist klar, dass auch die Linke dieses Anliegen unterstützt und für eine zügige Bearbeitung
eintritt. Immerhin befinden wir uns schon im vierten
Jahr, seit das Protokoll zur Unterzeichnung vorliegt. Wir
wissen, dass das Problem eher auf Länderebene liegt. Insofern ist die Bundesregierung nicht der eigentliche
Adressat. Aber wenigstens können wir so unsere moralische Unterstützung für die Bundesregierung in dieser
Frage deutlich machen. Wenn wir schon einmal die Gelegenheit haben, die Bundesregierung moralisch zu unterstützen, dann wollen wir das gerne tun,
({7})
zumal es genau in diesem Punkt anders als bei dem anderen Antrag um ein präventives Mittel zur Vermeidung
von Menschenrechtsverletzungen geht.
Danke.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Volker Beck vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über mehrere Anträge, unter anderem über
den interfraktionellen Antrag zur Bedeutung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen. Dazu hat die
Ausschussvorsitzende schon die richtigen Worte gefunden und deutlich gemacht, welche Bedeutung sie haben.
Ich bin froh, dass wir als Parlamentarier bei einer solch
wichtigen menschenrechtspolitischen Initiative interfraktionell an einem Strang ziehen.
Herr Kollege Leutert, selbstverständlich muss man
über Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe diskutieren. Aber man sollte nicht alles in einen Antrag packen.
Dieser Antrag setzt sich mit einem spezifischen Instrument auseinander. Dabei geht es um die Menschenrechtspolitik, die Aufarbeitung von Vergangenheit und
die Konfliktlösung nach dem Auftreten entsprechender
Probleme. Selbstverständlich muss die Prävention eine
Rolle spielen. Das werden wir im Zusammenhang mit
der Haushaltsdebatte, die wir gestern im Ausschuss begonnen haben, hier nachholen und dafür sorgen, dass
sich die Bundesregierung an das Ziel von 0,7 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts für die Entwicklungshilfe
hält, was sie öffentlich und international zugesagt hat.
Die aktuellen Informationen deuten leider nicht in diese
Richtung.
Lassen Sie mich auf den gestrigen Tag zu sprechen
kommen; denn ich halte es für bedeutend, dass gestern
- am 15. März 2006 - die UN-Vollversammlung gegen
Volker Beck ({0})
den Willen der USA und drei weiterer Staaten die Einrichtung eines Menschenrechtsrates beschlossen hat.
Dieses neue Gremium soll die viel kritisierte Menschenrechtskommission ablösen. Kofi Annan hat vor einem
Jahr einen Vorschlag zur Neustrukturierung der Arbeit
der Menschenrechtspolitik in diesem Bereich vorgelegt.
Es ist dem Präsidenten der UN-Vollversammlung, Herrn
Jan Eliasson, dafür zu danken, dass er ein Konzept für
einen neuen Menschenrechtsrat vorgestellt hat, das zwar
nicht alle Wünsche erfüllt, aber einen erheblichen Schritt
nach vorne bedeutet und einen Fortschritt in der Arbeit
des Gremiums ermöglicht hat.
Führende Menschenrechtsorganisationen weltweit
wie Amnesty International und Human Rights Watch haben ganz realpolitisch festgestellt, dass das ein Schritt
nach vorne ist, der unterstützt werden muss. Insofern bin
ich froh über den gestern gefassten Beschluss.
({1})
Das Konzept der USA war nicht überzeugender;
denn bei der Idee, dass die ständigen Mitglieder des UNSicherheitsrats einen geborenen Sitz erhalten - das heißt,
bei denen schauen wir nicht hin, wie sie es mit den Menschenrechten halten;
({2})
sie, auch Russland und China, sind von vornherein Mitglied in diesem Gremium, während wir bei anderen,
kleineren Staaten in Zukunft noch strenger sind -, müssen wir aufpassen, dass es nicht so aussieht, als ob wir
die Menschenrechtspolitik des Westens dadurch diskreditieren, dass wir sie kulturalistisch gegen andere Staaten einsetzen. Wir müssen vielmehr immer genau darauf
achten, dass wir bei Freund und Feind das gleiche Maß
anlegen und dort Kritik üben, wo Kritik angebracht ist.
Wir dürfen nicht so tun, als dürften wir bei manchen
Ländern aus politischen oder pragmatischen Gründen
bewusst wegschauen. Das gilt für Russland, China, die
USA wie auch für Länder wie Kuba, auf das wir heute
Nachmittag noch zurückkommen werden. Ich bin froh,
dass wir uns darüber einig sind, dass die Bundesregierung richtig gehandelt hat, sich konstruktiv auf den Prozess einzulassen und ihn zu unterstützen.
Heute steht noch ein weiterer Antrag unserer Fraktion
auf der Tagesordnung. Wir haben Anfang Januar als
erste Fraktion einen Antrag zur Unterzeichnung eines
Fakultativprotokolls zur UN-Anti-Folter-Konvention
vorgelegt. Ich finde es wichtig, dass Deutschland das
Protokoll endlich unterzeichnet. Die alte Bundesregierung hat es in der Vergangenheit vergeblich versucht,
weil der Widerstand der Länder Sachsen-Anhalt, Sachsen und Niedersachsen dem entgegensteht. Ich bin froh,
dass die heutige Debatte über unseren Antrag zu der
Feststellung geführt hat - sicherlich im Zusammenhang
mit der Diskussion der letzten Wochen und Monate über
Folter in anderen Staaten und die Beteiligung deutscher
Beamter an Vernehmungen von womöglich gefolterten
Gefangenen -, dass das nicht mehr haltbar ist. Die Kritik
der Länder entzündete sich daran, dass wir einen nationalen Mechanismus implementieren müssen, um bei allen Menschen, denen die Freiheit entzogen wurde, eine
unabhängige Kontrolle durch ein eigenes Gremium einzuführen, das überprüft, ob die Menschenrechtsstandards der Anti-Folter-Konvention eingehalten werden.
Ich finde, nach dem Fall Daschner, der Diskussion
über Gefangene in anderen Ländern und der Vernehmung durch deutsche Beamte können wir nicht sagen:
Wir sind ein Land, das über alle Zweifel erhaben ist; wir
brauchen eine solche Kontrolle nicht. Ich glaube, wir
können als Signatarstaat des Zusatzprotokolls andere
Länder mit größerem Nachdruck auffordern, dieses Protokoll zu unterzeichnen und ihre Menschenrechtspraxis
überprüfbar zu machen. Wir sollten auch dafür sorgen,
dass es ein Gremium wird, das seinen Aufgaben auch
nachkommen kann.
({3})
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Im Vergleich mit anderen Ländern haben wir uns hinsichtlich der Signatur des Protokolls nicht mit Ruhm bekleckert. Bis zum heutigen Tag haben bereits 54 Staaten
das Protokoll unterzeichnet bzw. paraphiert, 16 Staaten
haben es ratifiziert. Wir hinken also schon ziemlich hinterher und sollten uns sputen.
Es freut mich, dass die FDP ihren Antrag vorgelegt
hat. Hätte sie ihn in den Ländern, in denen sie mitregiert
- nämlich Sachsen-Anhalt und Niedersachsen -, gleich
durchgesetzt, dann wären wir schon weiter. Aber Sie
wissen - frei nach Lukas -: Im Himmel ist mehr Freude
über einen reuigen Sünder als über 99 Gerechte, die der
Buße nicht bedürfen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Karin Kortmann.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! So bibelfest und theologisch gut wie Herr
Beck kann ich das nicht formulieren.
({0})
- Ich kann das sicherlich gut, aber ich will das jetzt nicht
tun.
Ich will die besondere Bedeutung von Wahrheits- und
Versöhnungskommissionen hervorheben. Das ist nicht
irgendein Instrument, das wir unter „ferner liefen“ unterstützen und wertschätzen. Vielmehr handelt es sich um
ein wichtiges Instrument, um für Frieden und Gerechtigkeit auf dieser Welt Sorge zu tragen.
({1})
Kriege und Konflikte haben zumeist eine doppelte Last
zur Folge. Unmittelbar bedeuten sie Gewalt, Zerstörung
und Rückschritte in der Entwicklung. Aber auf lange
Sicht wirken Konflikte nach. Wenn versäumt wird, begangenes Unrecht aufzuarbeiten und Verletzungen aus
der Vergangenheit zu bewältigen, dann steht die Zukunft
eines Landes auf tönernen Füßen und es bleiben wie in
den erwähnten Fällen nicht nur Narben zurück.
Letztes Wochenende hat die neu gewählte chilenische
Präsidentin ihr Amt angetreten. Sie wurde vor einiger
Zeit in einem Zeitungsinterview gefragt, was für sie die
Pinochet-Vergangenheit bedeutet. Sie hat darauf geantwortet: Nur gesäuberte Wunden können ausheilen. Sonst
werden sie sich immer entzünden und Eiter bilden. - Die
Wahrheit muss also an den Tag kommen. Um wie viel
mehr gilt das für Gesellschaften, die aus einem Konflikt
erst noch herauswachsen und die sich in einer politischen Übergangsphase befinden. Gerade dann, wenn
staatliche Strukturen fragil sind, ist allein eine juristische
Aufarbeitung vor Strafgerichten wenig realistisch. Menschenrechtsverletzungen müssen sicherlich gerichtlich
geahndet werden; daran führt kein Weg vorbei.
({2})
Aber gerade die Wahrheits- und Versöhnungskommissionen tragen zu einer gesellschaftlichen Aufarbeitung
des begangenen Unrechts bei. Sie können und dürfen allerdings eine strafrechtliche Verfolgung der Täter nicht
ersetzen, wenn es sich um schwere Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit
handelt. Darüber sind wir uns alle in diesem Haus einig.
Lassen Sie mich von Guatemala berichten, einem
Land, das vor beinahe zehn Jahren einen Bürgerkrieg beenden konnte, der über drei Jahrzehnte währte und
unvorstellbares Leid vor allem für die indigene Bevölkerung brachte. 1997, ein halbes Jahr nach dem Friedensschluss, wurde die Kommission zur historischen Aufklärung eingesetzt. Die internationale Staatengemeinschaft,
aber vor allem auch die deutsche Bundesregierung haben
diesen Prozess von Anfang an nicht nur personell, sondern auch finanziell und ideell unterstützt. Es ist gut,
wenn wir an dieser Stelle an den Kommissionsvorsitz erinnern und Professor Tomuschat, den deutschen Völkerrechtsexperten, der ihn innehatte und im Auftrag der
UNO tätig war, für seine wichtige Arbeit danken.
({3})
In dem 1999 veröffentlichten Bericht „Erinnerungen
an das Schweigen“ werden schwere Menschenrechtsverletzungen mit genozidalen Zügen gegenüber der indigenen Bevölkerung festgestellt. Folter und Verschwindenlassen waren vielerorts bekannt geworden. Für die
Mehrzahl der Fälle wurde das guatemaltekische Militär
verantwortlich gemacht. Die Wahrheitskommission legte
in ihrem umfangreichen Empfehlungskatalog die Priorität auf die Würdigung und die Entschädigung von Opfern, die Reformierung des Justizsystems, die Bildung
einer multikulturellen Nation und die Ausschöpfung der
prozessualen Möglichkeiten des Amnestiegesetzes, das
ausdrücklich die Straftatbestände Folter, Genozid und
Verschwindenlassen von der Amnestie ausnahm. Am
Beispiel Guatemalas zeigt sich, dass die größte Herausforderung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen darin liegt, die Empfehlungen in eine aktive Regierungspolitik umzusetzen sowie im Bewusstsein von
Gesellschaften und in Machtstrukturen zu verankern.
Insgesamt lassen sich nach sieben Jahren erste Ansätze einer Umsetzung feststellen. Wir stellen aber auch
fest, dass in Guatemala entschiedene Mehrheiten und
Überzeugungen sowohl in der Exekutive als auch in der
Legislative für eine energische Vergangenheitspolitik
und eine nationale Aussöhnung bislang noch nicht vorhanden sind. Daran hat sich auch durch die Regierungspolitik von Herrn Berger nichts geändert.
Mit guten und erprobten Instrumenten können die internationale und die deutsche Entwicklungspolitik zur
Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen beitragen. Ich erinnere im Zusammenhang mit Guatemala daran, dass die GTZ die dortige Regierung unterstützt und
bei der Umsetzung des Friedensabkommens und der
Empfehlung der Wahrheitskommission tätig ist. Wir haben ein Programm mit dem Titel „Programm zur Unterstützung des Friedensprozesses“ aufgelegt. Viele Bereiche, die dort angesprochen und aufgearbeitet worden
sind, können wir heute in der Regierungspolitik von
Óscar Berger feststellen. Das zeigt, wie wichtig es ist,
dass wir deutsche Entwicklungsinstitutionen haben, Herr
Leutert, die nicht militärisch tätig sind, sondern auf zivile Krisenprävention setzen und die in ausreichendem
Maße finanzielle Mittel zur Entwicklung zur Verfügung
stellen, um diesem Auftrag wirkungsvoll Rechnung tragen zu können.
({4})
Weil Sie, Herr Leutert, neu in diesem Parlament sind,
darf ich Sie darauf hinweisen, dass wir vor sieben Jahren
damit begonnen haben, die Einrichtung des zivilen Friedensdienstes zu fördern und zu unterstützen. Bisher
waren mehr als 200 dieser Friedensfachkräfte weltweit
tätig. Wenn Sie sich einmal anschauen, was sie in Guatemala an wirkungsvoller und wichtiger Arbeit leisten, indem sie zu Versöhnungsprozessen in den dörflichen Gemeinschaften beitragen und bei solch wichtigen Arbeiten
wie Exhumierungen den Auftrag übernehmen, den eigentlich die dortige Regierung hätte, dann erkennen Sie,
wie wichtig das ist, was wir im Rahmen der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit dort tun und mit 75 Millionen Euro weiterhin fördern werden.
({5})
Der innere Frieden einer Gesellschaft kommt nicht
von selbst. Er ist die Frucht eines schwierigen und sicherlich auch schmerzlichen Prozesses, an dem Zivilgesellschaft, Parlament und auch Regierungen teilhaben.
Wir wissen, dass rückwärtsgewandtes Agieren, AmnesParl. Staatssekretärin Karin Kortmann
tien oder finanzielle Entschädigungen allein nicht zu einem nachhaltigen Frieden führen. Deswegen ist es wichtig, dass wir in den bilateralen Regierungsverhandlungen
mit unseren Partnerländern darauf drängen, die Empfehlungen von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen
zu berücksichtigen. Wir unterstützen sie im Gegenzug
beim Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen und Institutionen, beim Schutz und bei der Wahrung von Menschenrechten und vor allem bei der Umsetzung dessen,
was wir unter Good Governance verstehen. Wir wollen
sie ermutigen, die Vergangenheit aufzuarbeiten, zum
Wohle und für die Zukunft ihrer Gesellschaften und
nicht zuletzt auch zum Gedenken an die vielen Opfer, für
die wir diese Arbeit machen.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte unsere heutige Debatte zur Menschenrechtspolitik mit einigen grundlegenden Anmerkungen zur Bedeutung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen beschließen. Diese Kommissionen
sind insbesondere in Lateinamerika, aber auch in vielen
Staaten Afrikas zu einem sehr wichtigen Instrument der
Aufarbeitung von schweren Menschenrechtsverletzungen geworden, wobei im Vordergrund die breit angelegte Untersuchung und Dokumentation von geschehenem Unrecht durch die Einbeziehung von Opfern und
Tätern gleichermaßen steht. Erfolgreich sind diese Kommissionen dann, wenn ihre Erkenntnisse und Empfehlungen Konsequenzen zeitigen, Eingang in die Regierungspolitik finden und aktiv genutzt werden, um das
friedliche Zusammenleben in diesen Gesellschaften, die
Opfer und Täter zugleich kennen, zu fördern.
Der Weg der internationalen Gemeinschaft war zunächst ein anderer. Sie hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Bestrafung von Kriegsverbrechen, Völkermord
und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Aufgabe
gemacht und damit entscheidend zur Durchsetzung des
Völkerrechts - von den Internationalen Militärgerichtshöfen von Nürnberg und Tokio bis hin zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag - beigetragen. Die
Aufklärung des Sachverhalts ist dabei allerdings immer
Gegenstand rechtsstaatlicher Verfahren vor Gerichten
gewesen. Wir müssen heute einräumen, dass diese Verrechtlichung bei der Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen - so wichtig und richtig sie gewesen ist und
bis heute ist - an Grenzen stößt. Das hat damit zu tun,
dass die Ursachen für Menschenrechtsverletzungen
heute immer häufiger nicht in zwischenstaatlichen, sondern in innerstaatlichen Konflikten zu suchen sind und
dass die Behörden und die Justiz von Staaten, die nach
internen Auseinandersetzungen oft noch instabil sind,
nicht immer in der Lage sind, die Strafverfolgung zufrieden stellend zu bewältigen, nämlich so, dass damit
Rechtsfrieden hergestellt werden kann.
Gestatten Sie mir dazu eine Nebenbemerkung. Ein
aktuelles Beispiel für die Begrenztheit einer nur gerichtlichen Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen
ist die Diskussion nach dem Tod von Slobodan
Milošević vor wenigen Tagen. Die Reaktionen darauf
zeigen nämlich, wie wichtig es ist, dass auch jenseits von
strafrechtlichen Konsequenzen Fakten und Wahrheit
über begangenes Unrecht ermittelt und festgestellt werden können.
({0})
Die größte Sorge von Angehörigen der Opfer ist jetzt,
dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit im ehemaligen Jugoslawien nie ans Tageslicht kommen könnten. Genau das ist aber für die Bewältigung auch des persönlich Erlebten von größter
Bedeutung; denn die Überlebenden müssen damit weiterleben.
Es gehört zu den äußerst erfreulichen Entwicklungen
der Menschenrechtspolitik, dass Wahrheits- und Versöhnungskommissionen erfolgreicher sein können als Gerichte. Ich persönlich finde es besonders erfreulich, dass
dieses Instrument von den betroffenen Staaten selbst entwickelt worden ist, dass es gewissermaßen von unten gewachsen ist und damit ein besonders hohes Akzeptanzpotenzial hat.
({1})
Wenn diese Kommissionen ein entsprechendes Mandat erhalten und auch die Unterstützung der jeweiligen
Regierung genießen, dann können sie eine wesentlich
breiter angelegte Untersuchung und Aufklärung von geschehenem Unrecht erreichen, als das in einem formalisierten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren möglich
ist. Damit haben diese Kommissionen die Gelegenheit,
eine Grundlage zu schaffen für einen gerechten Ausgleich zwischen Tätern und Opfern, für eine dauerhafte
Befriedung und Versöhnung und damit auch für die Verhütung künftiger Konflikte. Opfer und Täter müssen
nach solchen Auseinandersetzungen mit schwersten
Menschenrechtsverletzungen nämlich nicht selten weiter
miteinander leben.
Die Erfahrungen zeigen allerdings auch, dass Wahrheitskommissionen kein Allheilmittel sind. Insbesondere
reicht es nicht aus, wenn erfolgreiche Untersuchungsund Aufklärungsarbeiten ohne nennenswerte Konsequenzen bleiben oder gar als Anlass für großzügige Amnestien herhalten müssen. Wer individuelle Schuld für
Menschenrechtsverletzungen auf sich geladen hat, muss
auch künftig strafrechtlich zur Verantwortung gezogen
werden. Insoweit sind Wahrheits- und Versöhnungskommissionen kein Ersatz, aber wohl eine sinnvolle Ergänzung zur Strafverfolgung.
Die Aufklärung und Aufarbeitung schwerster Menschenrechtsverletzungen geht uns als Deutsche in besonderem Maße an, nicht nur weil es in unserem Interesse
an Sicherheit und Frieden liegt, sondern weil wir auch
eine historische Verantwortung tragen: Wir haben
nach dem Zweiten Weltkrieg selbst lernen müssen, was
die Aufarbeitung unserer Vergangenheit und was Versöhnungsarbeit bedeuten. Das fand in Deutschland zwar
nicht in einer Wahrheitskommission statt, sondern vor
allem vor Gerichten. Aber wäre nicht bei vielen Menschen - auch bei den Opfern - der Wille zu Neuanfang
und Versöhnung vorhanden gewesen und wäre nicht die
Mehrheit unserer Gesellschaft überzeugt gewesen, dass
das ganze Ausmaß der unvorstellbaren Verbrechen des
Naziregimes ans Tageslicht gebracht werden muss, dann
würde uns heute schlicht die Grundlage fehlen, auf der
wir unsere Vergangenheit als eine Verantwortung begreifen, die uns dauerhaft verpflichtet.
Wir sehen im Übrigen an bis heute existierenden
Kommissionen, etwa dem Deutsch-Tschechischen Gesprächsforum, dass wir bis heute in anderer Form durchaus Einrichtungen haben, die einen Dialog zu diesen
Themen fortsetzen.
Wir können dankbar sein für die Unterstützung, die
wir von Dritten bei der Aufarbeitung unserer eigenen
Vergangenheit erhalten haben. Ich meine, das verpflichtet uns auch heute, unsere Erfahrungen weiterzugeben
und diejenigen zu unterstützen, die selbst nun ihre jüngere Vergangenheit aufarbeiten wollen und zu einer tragfähigen Aussöhnung finden müssen.
Die Bundesregierung hat im Rahmen ihrer Entwicklungszusammenarbeit die Chance, die Regierungen, die
sich dieser Aufgabe stellen, zu unterstützen und auch die
beteiligten Akteure einzubinden. Wir wollen mit unserem Antrag die Bundesregierung ermutigen, diese Arbeit
fortzuführen und sich ihrer Verantwortung zu stellen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/932 mit
dem Titel „Die Bedeutung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen für eine friedliche Zukunft“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/360 und 16/455 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Straßenbaubericht 2005
- Drucksache 16/335 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
({1})
- Bevor ich das Wort erteile, bitte ich diejenigen, die an
der Debatte nicht teilnehmen wollen, den Plenarsaal zu
verlassen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort der Parlamentarische Staatssekretär Achim
Großmann.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Bundesminister für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung berichtet dem Deutschen Bundestag
jährlich über den Fortgang des Bundesfernstraßenbaus.
So sieht es das Fernstraßenausbaugesetz vor. Der vorliegende Bericht 2005 gibt Auskunft über die Straßenbauleistungen, die aktuellen Entwicklungen sowie wichtige
Neuerungen bei den rechtlichen, finanziellen und administrativen Rahmenbedingungen für den Fernstraßenbau
im Jahr 2004; teilweise gibt der Bericht auch über das
erste Halbjahr 2005 Auskunft.
Im Juli 2003 hat das Bundeskabinett den Bundesverkehrswegeplan beschlossen, der Grundlage dafür war,
dass der Deutsche Bundestag das Fünfte Fernstraßenausbauänderungsgesetz mit dem Bedarfsplan für die
Bundesfernstraßen beschließen konnte. Dieses ist am
16. Oktober 2004 in Kraft getreten. Der Bedarfsplan
wiederum ist die gesetzliche Grundlage für die erfolgreiche Fortsetzung eines leistungsgerechten Ausbaus des
Bundesfernstraßennetzes.
({0})
Da die Straße auch in Zukunft die Hauptlast des Verkehrs tragen wird, werden Lücken im Straßennetz geschlossen. Die vorhandene Infrastruktur soll erhalten
und Verknüpfungspunkte mit den anderen Verkehrsträgern sollen optimiert werden. Dauerhaft soll Mobilität
am Wirtschaftsstandort Deutschland gesichert werden.
Der Bedarfsplan umfasst unter Einschluss einer Planungsreserve in Höhe von etwa 12 Milliarden Euro ein
Gesamtinvestitionsvolumen von 80 Milliarden Euro, davon 51,5 Milliarden Euro für Projekte des vordringlichen Bedarfs sowie 28,8 Milliarden Euro für Projekte
des weiteren Bedarfs.
({1})
Eine wesentliche Grundlage für die Straßenplanung
ist die Verkehrsentwicklung auf den Bundesfernstraßen. So ist es immer wieder interessant, zurückzuverfolgen, wie sich diese Entwicklung in Zahlen darstellen
lässt. Zunächst ist festzuhalten, dass zum Ende des Berichtsjahres im gesamten Bundesgebiet 54,5 Millionen
Kfz zugelassen waren. Das sind rund 0,4 Millionen Kfz
mehr als 2003. Die durchschnittlichen täglichen Verkehrsstärken - das ist das, was auf den Straßen los ist,
um es einmal flapsig zu sagen - erhöhten sich im Bundesgebiet auf den Bundesautobahnen im Jahr 2004 gegenüber dem Vorjahr um 1 Prozent, auf den außerörtlichen Bundesstraßen nur um 0,1 Prozent. Der Anteil des
Schwerlastverkehrs auf den Bundesautobahnen lag bei
15,3 Prozent und auf den Bundesstraßen außerorts bei
8,3 Prozent.
Die seit langem beobachtete Konzentration des Straßenverkehrs auf den Autobahnen hat sich weiter fortgesetzt. Die Gesamtfahrleistung im Straßennetz der
Bundesrepublik Deutschland betrug im Jahr 2004 rund
697 Milliarden Kfz-Kilometer. Das sind 2,1 Prozent
mehr als im Vorjahr.
Es gibt aus den Jahren 2004/05 aber noch Interessanteres zu berichten. Das ist, finde ich, spannender als
diese Zahlen, die wichtig und miteinander vergleichbar
sind. Auch das können Sie im Bericht nachlesen. Beispielsweise haben wir die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft gegründet, die Teile der Mauteinnahmen in Zukunft verbauen soll. Außerdem haben wir
2004 mit den Ausschreibungsvorbereitungen für die
A-Modelle als PPP-Projekte, also den Bau des fünften
und sechsten Streifens auf Autobahnen unter Zuhilfenahme von privaten Investoren, begonnen. Inzwischen
sind wir einen deutlichen Schritt weiter. Sie wissen, vier
von fünf Projekten sind bereits ausgeschrieben.
({2})
Wir haben Ortsumgehungen fertig gestellt, die Beseitigung von Bahnübergängen vorangetrieben, 123 Kilometer Bundesautobahnstrecken neu gebaut und 72 Kilometer Autobahn auf sechs und mehr Fahrstreifen
erweitert sowie rund 152 Kilometer Bundesstraßen
zweistreifig und 47 Kilometer vierstreifig neu oder ausgebaut. Rund 400 Kilometer Radwege an Bundesstraßen
sind im Jahr 2004 fertig geworden. Im Rahmen des Umweltschutzes wurden für Lärmvorsorge und Lärmsanierung im Jahre 2004 rund 184 Millionen Euro investiert.
({3})
Der Bericht kann sich also sehen lassen. Insgesamt
sind fast 5,8 Milliarden Euro investiert worden; im
Jahr 2005 waren es fast 6 Milliarden Euro. Das ist eine
beachtliche Leistung.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Herr Staatssekretär! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man den Straßenbaubericht für
ein Jahr bekommt, das von einer Bundestagswahl überschattet war
({0})
- aus Ihrer Sicht war es doch so, oder? -,
({1})
denkt man: Schauen wir mal hinein und haken die verfehlte Politik von Rot-Grün ab, die dort dokumentiert
wird.
({2})
Dann liest man sich die Studie von Progtrans, die dort
zitiert wird, durch und dabei fällt einem die Aussage ins
Auge: Die stärkste erwartete Dynamik aller Landverkehre hat der Straßengüterverkehr. - Man denkt sich:
Eine CDU/CSU-geführte Bundesregierung wird sicher
angemessen darauf reagieren.
Wenn man aber den vorgelegten Finanzrahmen für
die Jahre 2006 ff. sieht, stellt man fest, dass auch eine
CDU/CSU-geführte Bundesregierung nicht auf diese
Prognose reagiert.
({3})
In Wahrheit ist nämlich das, was in Genshagen verkündet wurde, nur eine wunderbare PR-Show; die Zahlen in
diesem Bericht und im Haushaltsplan sprechen eine andere Sprache.
({4})
In Wahrheit investiert die CDU/CSU-geführte Bundesregierung in diesem Jahr 600 Millionen Euro weniger in
Straßenbauinvestitionen. Das wissen Sie natürlich alle.
Deshalb verkünden Sie die Abweichung von der rot-grünen Planung als Erfolg, vernachlässigen dabei aber, dass
mehr Investitionen nötig sind.
Der sehr geschätzte Kollege Fischer hat bei der Debatte über den Straßenbaubericht 2004 gesagt, es sei ein
Jammer, dass für die Verkehrsinfrastrukturfinanzierung
im Jahr 2005 500 Millionen Euro weniger zur Verfügung
stünden als in den Jahren 2003 und 2004. Da kann ich
nur sagen: Er hat Recht. Aber mit seiner Mitwirkung
sind es noch 100 Millionen Euro weniger geworden als
in den Jahren unter Rot-Grün.
({5})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,
letztendlich spielte in der Debatte vor einem Jahr und
auch in der jetzigen Debatte das Thema Lkw-Maut eine
große Rolle. Sie alle wissen, dass wir dem Güterverkehrsgewerbe 2,2 Milliarden Euro Maut abnehmen. Das
ist hier breit getragen worden, unter anderem weil in
§ 11 Mautgesetz steht, dass diese Mittel voll und ganz
der Verkehrsinfrastruktur zufließen sollen,
({6})
und zwar zusätzlich. Das war das Vermittlungsergebnis.
Die Wahrheit ist, wie diese Zahlen beweisen, eine andere. Damit begeht diese CDU/CSU-geführte Bundesregierung entgegen der Forderung vor der Bundestagswahl weiter den Mautbetrug, den wir unter Rot-Grün
gemeinsam angeprangert haben. Ich kann für die FDPFraktion nur sagen: Wir bedauern sehr, dass Sie sich da
nicht durchgesetzt haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union.
({7})
Man muss sich einmal folgende Zahlen vor Augen
führen. Insgesamt werden dem Straßenverkehr Belastungen in Höhe von 53 Milliarden Euro aufgebürdet - KfzSteuer, Mineralölsteuer, LKW-Maut -, obwohl hier
schließlich in diesem Jahr nur 4,3 Milliarden Euro an Investitionen fließen.
({8})
- Herr Tauss, über die Alkoholsteuer möchte ich mit Ihnen um diese Uhrzeit nicht debattieren. ({9})
So erreicht man in diesem Land sicher keine Akzeptanz
für Nutzerfinanzierungen.
Der Herr Staatssekretär hat eben auf PPP-Modelle
hingewiesen und zu Recht gesagt, es müsse in diesem
Bereich Verbesserungen geben. Aber es wird keine Akzeptanz für Nutzerfinanzierungen geben, wenn auf
der einen Seite den Menschen Geld abgenommen wird,
aber auf der anderen Seite die Versprechungen, was mit
diesen Einnahmen gemacht werden soll, nicht eingehalten werden. Das ist die Realität.
({10})
Darum unterstützen wir diejenigen, die sich in der aktuellen Diskussion für die Erstattung der Maut oder für
andere Möglichkeiten, das LKW-Gewerbe zu entlasten,
einsetzen. Wir unterstützen die Bundesregierung bei jeder sinnvollen Investition in die Verkehrsinfrastruktur.
Aber wir gehen nicht den Weg mit, den Sie im Moment
gehen. Es ist schon bemerkenswert, dass diese schwarzrote Bundesregierung am Ende weniger in die Verkehrsinfrastruktur Straße investiert, als es Rot-Grün je gemacht hat. So können Sie mit unserer Unterstützung
nicht rechnen.
Vielen Dank.
({11})
Herr Kollege Döring, ich gratuliere Ihnen im Namen
des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Blank von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Diskussion des Straßenbauberichts ist wohl die einzige Debatte in diesem Hause, in der man Zustimmung bekommt, wenn man davon spricht, dass Investitionen
geplant unter die Räder gekommen oder in den Sand gesetzt worden sind.
({0})
Unbestritten spielt die Mobilität von Menschen und
Gütern mit ihren unterschiedlichen Facetten eine zentrale Rolle im Leben jedes Einzelnen und bildet eine
Grundvoraussetzung für das Funktionieren unserer Wirtschaft. Eine Einschränkung von Mobilität beeinträchtigt
nicht nur unsere Lebensqualität, sondern gefährdet auch
die Möglichkeiten unserer wirtschaftlichen Entwicklung
und Arbeitsplätze.
Der tägliche Stau in Deutschland ist eine nicht hinnehmbare Geld- und Zeitvernichtungsmaschinerie. Studien zeigen auf, dass durch Stau jährlich 13 Millionen
Stunden Zeitverlust entstehen und 33 Millionen Liter
Kraftstoff zusätzlich verbraucht werden. Nachhaltige
Mobilität zu schaffen und zu erhalten ist also eine komplexe Herausforderung. Daran muss sich jeder Straßenbaubericht messen lassen.
Für die Straßenplanung ist die Verkehrsentwicklung
wesentlich. Kfz-Bestand und der Transitverkehr sind
wichtige Faktoren. Der Staatssekretär hat schon ausgeführt, dass zum Ende des Berichtszeitraums rund
54,5 Millionen Kfz in Deutschland zugelassen waren.
Der Verkehr auf den Autobahnen hat weiter zugenommen. Die Verkehrsstärke auf den Bundesstraßen stagniert. Dies wird schon seit längerem beobachtet. Deshalb ist der Ausbau von Autobahnen wichtig und
dringend geboten. Aber auch der Bau von Ortsumgehungen ist im Interesse und zum Schutz unserer Bürgerinnen
und Bürger notwendig.
Für den Bau von Ortsumgehungen wurden im Berichtsjahr rund 712 Millionen Euro ausgegeben. Insgesamt beliefen sich die Istausgaben für Verkehrsinvestitionen auf insgesamt 4,9 Milliarden Euro.
({1})
Das ist leider immer noch zu wenig - auch wenn es ein
stolzer Betrag ist -, um Instandhaltungsmaßnahmen sowie Neu- und Ausbau im gewünschten, aber auch im Interesse unserer Mobilität notwendigen Umfang durchzuführen; denn die Straße ist mit rund 90 Prozent der
Verkehrsleistungen im Personenverkehr und mit rund
70 Prozent der Verkehrsleistung im Güterverkehr der
Verkehrsträger Nummer eins in Deutschland und auch in
Europa.
Wenn die Straße schwächelt, schwächelt aber auch
der Verbund mit anderen Verkehrsträgern. Denn die
Straße ist der einzige flächendeckende Verkehrsträger,
der von Haus zu Haus die notwendige intermodale Vernetzung wirklich gewährleistet. Auch der ÖPNV ist auf
den Verkehrsträger Straße angewiesen, da mehr als die
Hälfte der ÖPNV-Leistungen im Straßenraum erbracht
werden.
Dass Mobilität außerordentlich notwendig ist, zeigen
die Prognosen. Im Zeitraum bis 2015 wächst die VerRenate Blank
kehrsleistung im Personenverkehr und im Güterverkehr.
Die Straße bleibt dabei unangefochten der wichtigste
Verkehrsträger im Personen- und im Güterverkehr. Das
bedeutet: Bis 2015 wird es beim Verkehrswachstum
keine Trendwende geben. Das ist auch gut so. Denn Verkehrswachstum bedeutet Wirtschaftswachstum. Eine
Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Verkehrsleistung - der Traum der Grünen - ist nicht machbar.
Denn wirklich ernsthafte wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass dies nicht möglich ist, allerhöchstens zu 1 Prozent.
Spätestens seit der EU-Osterweiterung liegt kein
Land so sehr im Mittelpunkt der europäischen Verkehrsströme wie Deutschland. Die Automobilbranche stellt
jeden siebten Arbeitsplatz in unserem Land. Umso nachteiliger wirken sich die seit Jahren zunehmenden Defizite der deutschen Straßeninfrastruktur auf die Verwirklichung der Wachstums- und Beschäftigungsziele aus.
Ziel jeder Bundesregierung war und ist die zügige
Realisierung der sieben Straßenverkehrsprojekte
„Deutsche Einheit“. Nach derzeitigen Dispositionen
soll das VDE-Straßennetz - mit Ausnahme der A 44 noch in diesem Jahrzehnt vollständig fertig gestellt werden. In diese sieben Projekte wurden bis Ende 2004 rund
12 Milliarden Euro investiert. Das sind rund 75 Prozent
der aktuellen Investitionskosten von etwa 16 Milliarden
Euro. Hinzu kommen die Finanzmittel aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung. Auch dafür
wurde aus deutschen Mitteln noch einmal ein ansehnlicher Betrag von rund 900 Millionen Euro bereitgestellt.
In die Anbindung der neuen Länder wurde also sehr viel
investiert. Zu Klagen besteht deshalb keinerlei Anlass.
Nun zum Thema Ingenieurbauwerke. Rund
15 Prozent der Brücken sind in einem kritischen Bauwerkszustand. Hier ist eine Instandsetzung umgehend
erforderlich. Aber in Panik zu verfallen, ist falsch. Denn
die Länder erheben Daten über den Bestand und den Erhaltungszustand. Für die Zustandsbeurteilung werden
Programmsysteme nach DIN 1076 genutzt, die extra für
die Bauwerksprüfung entwickelt wurden. Diese Bauwerksprüfung gilt für Brücken, Tunnel, Verkehrszeichenbrücken, Lärmschutzwände und Stützbauwerke und
wird alle drei Jahre als einfache Prüfung und alle sechs
Jahre als Hauptprüfung durchgeführt. Diese Prüfungen
müssen vorgenommen werden. Denn Brücken und Tunnel sind hinsichtlich der Investitions- und Folgekosten
die teuersten Anlagenteile der Straßen, die insbesondere
durch den stetig anwachsenden Schwerverkehr extremen
Belastungen ausgesetzt sind.
Das Thema Tunnelsicherheit hat nicht erst mit den
verheerenden Brandunfällen bei allen Verantwortlichen
eine besonders hohe Priorität.
({2})
Es sind hier Regelgrundsätze geschaffen worden, die
weit über die bestehende EU-Richtlinie hinausgehen.
Dies ist auch richtig. Aufgrund der hohen Verkehrsbelastungen auf unseren Straßen ist dies gerechtfertigt und
vertretbar, damit für die Tunnelbenutzer eine optimale
Sicherheit gewährleistet ist.
Zum Thema Sicherheit gehören natürlich auch die
Radwege. Im Berichtszeitraum sind an Bundesstraßen
Radwege in einer Größenordnung von 400 Kilometern
fertig gestellt worden. Im Zeitraum von 1991 bis 2004
wurden damit Radwege in einer Größenordnung von immerhin rund 5 100 Kilometern errichtet.
({3})
Kurz vor der Fußball-WM kann man auch anhand
des Straßenbauberichts feststellen: Sind die Leistungen
der Klinsmann-Truppe auf dem Rasen momentan auch
durchwachsen, unsere Infrastruktur im Einzugsbereich
der WM-Stadien ist weltmeisterlich. Auch wenn die
sportlichen Leistungen unserer Kicker möglicherweise
rasch vergessen sein werden, die Bürgerinnen und Bürger haben einen klaren, dauerhaften Nutzen von den Investitionen. Ich bin auch sicher: Die Besucher aus aller
Welt werden getreu dem WM-Motto „zu Gast bei Freunden“ sein und nicht im Stau stehen. Das wird mit dem
Verkehrsleitkonzept zur Fußballweltmeisterschaft gelingen, das gemäß Verabredung mit den Ländern und Kommunen einheitlich und „ohne Bruch in der Wegweisungskette“ bis hin zum Stadion umgesetzt werden wird.
Alle Infrastrukturentscheidungen sollten zügig getroffen werden. Planungs- und Investitionssicherheit für den
Verkehrsträger Straße ist eine wichtige Voraussetzung
für Klarheit und Verlässlichkeit in der Politik. Wir brauchen deshalb eine deutliche Beschleunigung von Planungszeiten und Planungsverfahren. Aus unserer Sicht
lassen sich Planungsprozesse ohne Qualitätsverlust beschleunigen. Wir sind ja mitten in den Beratungen zu einem Infrastrukturbeschleunigungsgesetz.
Nun zum Geld. Eine verlässliche Verstetigung der Finanzierung ist für die Planungssicherheit von großer
Bedeutung. So haben die vielen Programme der letzten
Jahre aufgezeigt, dass in Wahrheit keine längerfristige
Finanzierungssicherheit besteht. Wir müssen deshalb zurück zu Klarheit, Transparenz und Berechenbarkeit im
Planungs- und Finanzierungsbereich.
Wegen der knappen Haushaltslage - auch wenn der
Verkehrsbereich in den nächsten Jahren rund 4 Milliarden Euro zusätzlich erhalten soll - bleiben noch viele
wünschenswerte Projekte auf der Strecke. Deshalb müssen wir PPP-Projekte vorantreiben. Dazu gehört dann
natürlich auch, dass die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft von einem Inkassobüro der LKWMaut zu einer Gesellschaft umgewandelt wird, die verkehrsträgerübergreifend tätig ist, Kredite aufnehmen und
PPP-Ansätze in der Verkehrswegefinanzierung weiterentwickeln kann.
Vielleicht ein kleiner humorvoller Hinweis. In Nürnberg reden wir derzeit über die Umbenennung unseres
Fußballstadions, des Franken-Stadions. Es hat sich eine
Firma finanziell beteiligt und das Stadion hat jetzt den
Namen „Easy-Credit-Stadion“. Vielleicht könnten wir
auch Autobahnabschnitte nach irgendwelchen Sponsoren nennen; so bekämen wir vielleicht etwas mehr Geld
in die Kassen.
Zur Umsetzung des langfristig angelegten Bedarfsplans muss in den nächsten Wochen ein neuer Fünfjahresplan aufgestellt werden. Dieser Fünfjahresplan sollte
in Absprache mit den Ländern, aber auch mit dem Parlament rasch zustande kommen; denn er ist die Grundlage
für die Schwerpunkte der Investitionen.
Wir können uns keinen Stillstand leisten; denn die
heutigen Wirtschaftsstrukturen werden von Arbeitsteilung und Globalisierung beherrscht. Ohne Mobilität ist
das nicht zu schaffen und deswegen brauchen wir weiter
Straßenausbau und Straßenneubau.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Menzner
von der Fraktion die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatssekretär, Sie haben eben schon die Zahlen
über die Neubauten genannt, die im Jahr 2004 hinzugekommen sind. Was Sie verschwiegen haben, ist allerdings - dies macht der Bericht ebenfalls deutlich -, dass
wir über weniger Bundesstraßenkilometer als zuvor verfügen, weil nämlich meist eher nicht so gut instand gehaltene Bundesstraßen an Kommunen und Länder überschrieben wurden.
Insgesamt sind in dem Berichtszeitraum etwa
330 Kilometer Fernstraßen fertig gestellt worden, zu einem Preis pro Kilometer von etwa 5 Millionen Euro,
woraus sich insgesamt die stolze Summe von 1,6 Milliarden Euro ergibt. Aber - Frau Kollegin Blank hat das
eben angesprochen - sage und schreibe 3,7 Milliarden
Euro sind laut diesem Bericht in den letzten Jahren in
solche Autobahnen und Fernstraßen geflossen, die im
Einzugsbereich von Fußballarenen liegen. Schwarz auf
weiß in einem Extrakapitel wird ausgeführt: 56 Neubauund Erweiterungsmaßnahmen standen im Zusammenhang mit der Fußballweltmeisterschaft. Der Bericht
benennt auch, was zu tun war, damit die Fußballfans, zumindest solche, die mit dem Auto anreisen, nicht umherirren: Willkommenstafeln an Grenzübergängen, Fernzielwegweisung; sogar an farbliche Fantrennung wurde
gedacht. Alles chic, alles neu, alles perfekt. Aber was
passiert jetzt, sollte die Nationalmannschaft vielleicht in
der Vorrunde ausscheiden?
({0})
Nicht auszudenken! Deutsche Fußballfans sitzen als
Couch-Potatoes zu Hause vor dem Fernseher und die
Gäste dürften von diesen Hinweisschildern eher wenig
Gebrauch machen, weil sie in der großen Mehrzahl mit
der Eisenbahn oder dem Flugzeug anreisen werden. Ist
dies wirklich ein Szenario, für das es sich lohnt, Milliarden von Euro in Beton zu rühren? Wir meinen, in Bezug
auf die Zukunftsinvestitionen stellen sich andere Fragen.
({1})
Bei einer steigenden Verarmung der Bevölkerung,
steigenden Spritpreisen und bei dem Anwachsen der Bevölkerungskreise, die sich inzwischen sehr genau überlegen, ob sie sich Autofahrten, die nicht unbedingt nötig
sind, auch leisten können, sind andere Schlussfolgerungen zu ziehen. Statt Autobahnknoten im Umfeld von
Fußballarenen zu optimieren, hätten wir gemeinsam das
Geld viel besser in Busse und Bahnen stecken sollen,
um diese zu optimieren.
({2})
Das wäre ein Zukunftsprogramm gewesen, und zwar ein
Zukunftsprogramm für weniger CO2, weniger Energieverbrauch, weniger Lärmbelästigung und für mehr soziale Gerechtigkeit.
({3})
Stattdessen werfen Sie Geld aus dem Fenster für ein
überzogenes Straßenbauprogramm, das, wie eben angedeutet, als unterfinanziert bezeichnet wird. Wir nennen es
eher überprojektiert; denn das Geld wird immer als knapp
bezeichnet. Das, was der Bund an Fernstraßen neu baut,
entspricht 1 588 Baulosen für 50,7 Milliarden Euro. Das
ist aber nur das, was als „vordringlicher Bedarf“ bezeichnet wird. Manche bezeichnen es auch als Märchenbuch.
Wir meinen, es ist wichtiger, in die Erhaltung der
Straßen zu investieren, statt in weitere Neubauten.
({4})
Es ist wichtiger, das Geld zu konzentrieren und die vorhandenen Strukturen zu erhalten. Dem Bericht kann man
auch entnehmen, dass das schwer fällt und dass hier viel
zu tun ist.
({5})
Die Linke sagt klipp und klar: Angesichts der vielen
schadhaften Straßen und Brücken ist es viel wichtiger
und vorrangiger, in vorhandene Verkehrswege zu investieren und diese instand zu halten. Das halten wir für
nachhaltig, und zwar sowohl für ökonomisch und ökologisch als auch für sozial nachhaltig.
Danke.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Anton Hofreiter, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Herren Staatssekretäre! Alle
Jahre wieder wird der Straßenbaubericht veröffentlicht.
Alle Jahre wieder steht im Bericht, dass mehr für die Unterhaltung der bereits bestehenden Infrastruktur ausgegeben werden muss, und alle Jahre wieder passiert das
nicht.
Im Straßenbaubericht 2000 heißt es wörtlich:
Ein wesentliches Ziel der künftigen Erhaltungsplanung ist es, den Bauwerksanteil mit Zustandsnoten
zwischen 3,0 bis 3,4 weiter zu senken und Zustandsnoten über 3,5 völlig zu vermeiden.
Diesen Satz finden Sie fast wörtlich in vielen Berichten,
so auch im aktuellen.
({0})
Was hat sich in der Wirklichkeit getan?
({1})
Der Anteil der Bauwerke, bei denen kurzfristig bis sofort
eine Instandsetzung nötig ist, ist von rund 30 Prozent
auf 45 Prozent gestiegen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat berechnet, dass allein für den Unterhalt der jetzt bestehenden Infrastruktur 75 bis 85 Prozent aller bis 2020 zur Verfügung stehenden Mittel benötigt werden. Nicht mitgerechnet ist, dass die Infrastruktur wächst. Es ist auch nicht zu erwarten, dass die Mittel
mehr werden.
Es stellt sich daher die Frage: Woher wollen Sie das
Geld nehmen, sehr geehrter Vertreter von der FDP, der
Sie sich bereit erklärt haben, jede Infrastrukturmaßnahme der Bundesregierung zu unterstützen? Wir Grünen unterstützen nur sinnvolle Infrastrukturmaßnahmen.
({2})
Sehr geehrte Damen und Herren von der großen Koalition, woher wollen Sie denn das Geld nehmen? Wir Grünen kämpfen seit Jahren dafür, den Anteil der Mittel für
den Unterhalt im Haushalt zu erhöhen.
Das Bundesfernstraßennetz hat ein geschätztes Bruttoanlagevermögen von rund 175 Milliarden Euro. Man
muss sich darüber im Klaren sein, dass dies die Schätzung des Ministeriums ist. Wahrscheinlich ist es höher.
Es wird geringer geschätzt, um die Mittel für den Unterhalt geringer anzusetzen. Was gedenkt das Ministerium
zum Unterhalt dieser wertvollen Infrastruktur ernsthaft
zu tun? Wollen wir es so machen wie bei den Schienen
und Straßen in Zukunft stilllegen, weil wir mit dem Unterhalt nicht mehr hinterherkommen?
Was treibt das Ministerium stattdessen? Es plant vor
allem Neubaustrecken, die wenig bis keinen verkehrlichen oder volkswirtschaftlichen Nutzen haben. Warum
haben sie diesen Nutzen nicht? Weil sie leider in Gebieten geplant und gebaut werden, die dünn besiedelt sind
oder die Abwanderungsregionen sind.
Natürlich kann man sagen: Das ist Wirtschaftsförderung, das ist Regionalförderung. Das lässt sich immer
behaupten. Nur leider entspricht es nicht der Wahrheit.
Sie können in strukturschwachen Regionen und in unserem vorhandenen dichten Infrastrukturnetz mit zusätzlichen Straßen keine Arbeitsplätze schaffen. Das müsste
Ihnen nach den vielen Beispielen in der Praxis langsam
klar geworden sein.
({3})
Wir Grünen fordern deshalb, die Aussage des Berichts, dass mehr Geld in den Unterhalt zu stecken sei,
endlich ernst zu nehmen und in reale Zahlen umzusetzen, intelligente Konzepte zur Regionalförderung zu entwickeln, statt zu glauben, mit vierspurigen Autobahnen
in dünn besiedelten Regionen etwas erreichen zu können, mehr Geld für eine sinnvolle Gestaltung des ÖPNV
auszugeben oder mehr Geld in Bildung und Forschung
zu investieren - Geld kann man auch umwidmen -; denn
es ist immer noch sinnvoller, in Köpfe statt in Beton zu
investieren.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Jörg Vogelsänger, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Beim Ausbau der Infrastruktur wurde in Deutschland
vieles erreicht. Das sollte hier nicht schlechtgeredet werden; denn sehr viele waren daran beteiligt.
({0})
Das betrifft die schwarz-gelbe Regierung genauso wie
die rot-grüne Regierung. Ich bin sogar ein Stück weit
stolz darauf, dass unter Rot-Grün ein bisschen mehr erreicht wurde. Vielleicht ist das ein Ansporn für uns, noch
etwas besser zu werden.
({1})
Wir brauchen uns nicht zu streiten: Seit 1992 lagen
die Ausgaben für die Bundesfernstraßen immer über
5 Milliarden Euro. Mein Dank dafür richtet sich nicht
nur an die Regierung, sondern an alle Parlamentarier;
denn wir sind der Souverän, wir haben das beschlossen und das ist auch richtig so.
({2})
Obwohl vieles erreicht wurde, stehen wir gemeinsam
vor großen Herausforderungen. Der noch nicht zu Ende
gegangene Winter hat uns deutlich gemacht, wie sehr
wir alle auf eine funktionierende Verkehrsinfrastruktur
angewiesen sind. Das Wetter lässt sich nur sehr bedingt
beeinflussen. Bei Investitionsentscheidungen stehen wir
alle in der Pflicht. Herr Döring, dieser Pflicht kommt die
neue Bundesregierung nach. Die 4,3 Milliarden Euro für
das zusätzliche Programm sind gut angelegt. Mit dem
Geld werden in der Bauphase Arbeitsplätze geschaffen
und die Standortbedingungen verbessert.
({3})
Das Thema Standortbedingungen ist ganz aktuell.
Heute haben wir das Urteil des Bundesverwaltungsge1948
richts erhalten. Die Koalition hat Weitsicht bewiesen;
denn die Verkehrsanbindung an den Flughafen BBI wird
vom Bund unterstützt. Das werden wir Parlamentarier
natürlich einfordern.
({4})
Eine strategisch wichtige Entscheidung waren und
sind die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“. Es gibt
immer wieder Stimmen, die besagen, dass diese Projekte
ausschließlich den neuen Ländern zugute kommen. Das
ist grundsätzlich falsch. Herr Döring, hier seien die A 2
nach Niedersachsen und die A 9 nach Bayern genannt.
Ich denke, auch Bayern und Niedersachsen profitieren
außerordentlich von den Verkehrsprojekten „Deutsche
Einheit“.
({5})
- Richtig.
Wir haben die wirklich spannende Aufgabe, gemeinsam mit den Ländern den Fünfjahresplan für Bundesfernstraßen zu erstellen. Die Leute aus dem Osten kennen Fünfjahrespläne noch. Wir sollten uns allerdings
kein Beispiel an ihnen nehmen. Das Soll wurde immer
übererfüllt und die Volkswirtschaft ist trotzdem kaputtgegangen.
({6})
Der Fünfjahresplan wird ein Schwerpunkt unserer Arbeit sein. Dabei wird es nicht nur Jubel geben; denn
nicht jedes gewünschte Projekt kann bis 2010 realisiert
werden. Deshalb brauchen wir eine umfassende Diskussion mit den Ländern, aber auch im parlamentarischen
Bereich. Ich denke, es ist ganz wichtig, dass wir das
Ganze gemeinsam mit den Ländern umsetzen; denn sie
sind für die Planung zuständig. Daran sieht man, dass es
nur in Gemeinsamkeit geht.
Da nicht alles umsetzbar ist, sollten wir weitere Finanzierungsmöglichkeiten prüfen. Ich denke, von einem
EFRE-Bundesprogramm in der neuen Förderperiode
2007 bis 2013 profitieren Bund und Länder gemeinsam.
({7})
Zudem gilt es, weitere Möglichkeiten - von der privaten Vorfinanzierung bis hin zu Betreibermodellen für
den Fernstraßenbau - zu erschließen. Die Maut - sie hat
hier schon eine Rolle gespielt - ist außerordentlich erfolgreich. Der eine oder andere hat daran gar nicht mehr
geglaubt. Der Schritt weg von einer Steuerfinanzierung
hin zu einer Nutzerfinanzierung der Verkehrsinfrastruktur ist richtig.
({8})
Ein Thema, das hier nicht zu kurz kommen sollte, ist
der Ausbau des Radwegenetzes. Frau Kollegin Blank
hat die Zahlen schon genannt.
({9})
Ich bin der festen Überzeugung, dass die 5 100 Kilometer neu gebauter Radwege an Bundesfernstraßen Leben
gerettet haben. Ich möchte mich bei der Berichterstatterin meiner Fraktion, Heidi Wright, und den Berichterstattern aller anderen Fraktionen dafür bedanken.
Im Übrigen sollten wir die Mittel für den Radwegebau weiterhin vor die Klammer ziehen. Denn
100 Millionen Euro verbaut man schneller an einer Autobahn als an Radwegen. Deshalb sollten wir hier ein besonderes Zeichen setzen und uns weiterhin für den Radwegebau einsetzen.
({10})
Sie sehen, die Verkehrspolitik bleibt vielseitig und interessant. Jeder Wahlkreis - das wird sicherlich auch
beim Fünfjahresplan so sein - ist davon unmittelbar betroffen. Ich wünsche uns eine spannende Diskussion
zum Haushalt und faire Diskussionen zum Fünfjahresplan und zu den vielen weiteren Themen der Verkehrspolitik. Der Bericht der Bundesregierung ist dafür eine
gute Grundlage.
Vielen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/335 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 sowie Zusatzpunkt 4 auf:
7 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 16/856 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid
Wolff ({1}), Jens Ackermann, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Innere Sicherheit durch Regelungen zum Arbeitskampfrecht gewährleisten
- Drucksache 16/953 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss
Vizepräsident Wolfgang Thierse
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Alexander Ulrich, Fraktion Die Linke.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem heutigen Antrag der Linken kommt
ein weiterer Grund hinzu, warum es gut ist, dass es die
Fraktion Die Linke in diesem Hause gibt.
({0})
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften haben durch uns wieder eine Stimme im Bundestag. Das ist ein großer Fortschritt für dieses Haus.
({1})
Insbesondere die SPD hat in ihrer Regierungszeit seit
1998 trotz entsprechender Wahlaussagen und Parteibeschlüsse die Chance verpasst, den Antistreikparagrafen abzuschaffen. Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass
die SPD in Wahlkampfzeiten die Arbeitnehmer entdeckt
und dann in ihrer Regierungsverantwortung das Gegenteil ihrer Wahlversprechen macht.
({2})
Gerade im Zeitalter der Globalisierung ist es wichtig,
dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich in Gewerkschaften organisieren und für ihre Rechte streiken
können. Dies stärkt den Sozialstaat und die Demokratie.
({3})
Mit dem § 146 SGB III ist die gleiche Augenhöhe zwischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Arbeitgebern nicht mehr gewährleistet.
({4})
Die Regierung Kohl war es, die 1986 trotz massiver Widerstände der Gewerkschaften diese gesetzliche Änderung bewirkt hat mit dem Ziel, die Gewerkschaften zu
schwächen. Die Regierung Schröder hat diesen Paragrafen trotz mehrfacher Ankündigungen in der ersten Amtszeit nicht verändert.
({5})
Man ist wie so oft vor den Wünschen der Arbeitgeberund der Wirtschaftsverbände eingeknickt, obwohl - wir
erinnern uns - 202 SPD-Abgeordnete und vier SPD-geführte Länder vor das Verfassungsgericht zogen. Für die
SPD-Fraktion steht heute einmal mehr die Glaubwürdigkeit ihrer Politik auf dem Spiel.
({6})
Ohne ein wirksames Streikrecht kann die Tarifautonomie auf Dauer nicht funktionieren.
({7})
Die Chancengleichheit in Arbeitskämpfen muss wieder
hergestellt werden. Wir brauchen die Wiedereinführung
des alten § 116 Arbeitsförderungsgesetz in das Sozialgesetzbuch.
({8})
Durch die Möglichkeit der kalten Aussperrung ist die
Chancengleichheit in Tarifauseinandersetzungen nicht
mehr gegeben. Insoweit stützen wir unseren Antrag auch
auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
4. Juli 1995. Das Gericht hatte ausdrücklich festgestellt,
dass die Verwehrung von Kurzarbeitergeld die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften einschränkt. Eine
verfassungswidrige Störung der Funktionsfähigkeit der
Tarifautonomie wurde noch nicht festgestellt. Sollte
diese aber eintreten, wäre der Gesetzgeber aufgefordert,
entsprechende Maßnahmen zur Wahrung der Tarifautonomie zu treffen.
({9})
Jeden Tag können wir in der Zeitung lesen, dass Unternehmen trotz Rekordgewinnen Massenentlassungen
ankündigen und dass trotz der guten Ertragssituation die
Einkommen in vielen Branchen dieser Entwicklung hinterherhinken, und zwar zum Leidwesen der Binnenwirtschaft und der Sozialversicherung. Angesichts dieser
Tatsache muss der Gesetzgeber in diesem Jahr handeln.
({10})
Niemand muss Angst davor haben, dass unsere Gesetzgebung zu einem ständigen Arbeitskampf führen
wird. Internationale Vergleiche zeigen - das wird auch
derzeit am Beispiel Verdi deutlich -, dass die deutschen
Gewerkschaften den Streik immer als letztes Mittel eingesetzt haben. Das ist gut und war auch schon vor Einführung des Antistreikparagrafen so.
({11})
Nun zum Antrag der FDP.
({12})
Wer wie Sie Gewerkschaften als „Plage für dieses Land“
bezeichnet, muss ein gestörtes Verhältnis zur Demokratie haben.
({13})
In diesem Kontext werten wir auch Ihren populistischen
Antrag. Wer die Angst der Menschen vor der Vogelgrippe gegen die Gewerkschaften instrumentalisieren
will, der will einen anderen Staat: ein Land ohne Gewerkschaften und Arbeitnehmerrechte. Nicht mit uns!
({14})
Dass Sie einen solchen Zustand wollen, dazu passt auch
die Aussage Ihres Wirtschaftsministers in RheinlandPfalz, der tatsächlich beabsichtigt, mit disziplinarischen
Maßnahmen gegen die Streikenden im öffentlichen
Dienst vorzugehen.
({15})
- Nein, das ist nicht die gleiche Augenhöhe. Wie sollen
sich die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer denn sonst gegen die Angriffe auf den öffentlichen
Dienst wehren?
Demnächst kommt es möglicherweise auch in der
Metall- und Elektroindustrie zu einem Streik. Wir wollen in diesem Land starke Gewerkschaften und umfangreiche Arbeitnehmerrechte.
({16})
Deshalb fordere ich Sie auf: Unterstützen Sie unseren
Gesetzentwurf! Die SPD müsste das eigentlich folgenlos
tun können.
Vielen Dank.
({17})
Ich erteile das Wort Kollegen Paul Lehrieder, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Die Linkspartei hat es sich nicht
nehmen lassen, ihre Anbiederung an die Gewerkschaften
heute bei gleich zwei Gelegenheiten zu zelebrieren.
({0})
Die eine Gelegenheit, die Aktuelle Stunde, haben wir gerade hinter uns. Mit dem zweiten Streich soll das Rad
der Gesetzgebung nun ohne Not und fast auf den Tag genau um 20 Jahre zurückgedreht werden.
({1})
- Sehr geehrte Kollegen von der Linkspartei, hören Sie
mir doch einmal zu.
Sie versuchen, Probleme von heute mit Mitteln aus
dem Jahre 1969 zu lösen. Sie stellen die Gewerkschaften
in Ihrem Gesetzentwurf als bemitleidenswerte Opfer des
§ 146 SGB III bzw. des früheren § 116 AFG dar.
({2})
Dabei ignorieren Sie aber völlig, dass es nie darum ging,
das Gleichgewicht zwischen Arbeitgeberverbänden und
Gewerkschaften im Arbeitskampf zu verändern.
({3})
Durch die 1986 beschlossene Neuregelung des früheren
§ 116 des Arbeitsförderungsgesetzes sollte die neutrale
Rolle des Staates und der damaligen Bundesanstalt für
Arbeit gesichert werden - nicht mehr und nicht weniger.
({4})
Welches Verständnis Sie von der neutralen Rolle des
Staates haben, konnten wir heute Morgen sehr leidvoll
durch das von der Linkspartei dargebotene Trauerspiel
vernehmen,
({5})
als Sie sich plötzlich gelbe Säcke übergestülpt haben.
Ich dachte, es geht um das Thema Recycling: dass die
SED in die PDS und diese dann wiederum in die Linkspartei recycelt wird
({6})
bzw. dass alte Gewerkschaftler in die WASG recycelt
werden und diese ebenfalls in die Linkspartei recycelt
wird.
Aber es ging Ihnen nicht um Recycling. Das war die
Demonstration einer politischen Meinung. Daher sollten
Sie sich einmal die Mühe machen, in dem Schubfach unter Ihrem Tisch nachzuschauen. Dort finden Sie ein
graues Büchlein: die Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages. In § 4 Abs. 2 von Anhang 1, der Hausordnung des Deutschen Bundestages, heißt es: „Es ist nicht
gestattet, Spruchbänder oder Transparente zu entfalten.“
Es wäre wirklich an der Zeit - das ist längst überfällig -,
dass sich auch die Linkspartei an die Würde dieses Hohen Hauses hält, statt es nicht nur durch verbale Entgleisungen, sondern auch durch derartige Trauerspiele herabzuwürdigen.
({7})
- Darauf komme ich noch zu sprechen.
Niemand, weder Gewerkschaften noch Arbeitgeber,
können einseitige Vorteile für sich in Anspruch nehmen
und ihre Durchsetzung anschließend vom Staat finanzieren lassen. Zu dieser Neutralität ist der Staat verpflichPaul Lehrieder
tet; sonst wäre die Tarifautonomie bedroht. Kolleginnen
und Kollegen von der Linkspartei, der Teil von Ihnen,
der aus dem Westen stammt, müsste das eigentlich verinnerlicht haben. Von denjenigen von Ihnen, die aus der
ehemaligen DDR stammen, sollte es nicht zu viel verlangt sein, den Ballast der ehemaligen Staatspartei, der
Reglementierungen der Wirtschaft und der FDGB-Nostalgie endlich über Bord zu werfen.
({8})
Vielleicht sollte ich in diesem Zusammenhang Grundsätzliches klarstellen: Im Allgemeinen erhalten Arbeitnehmer bei arbeitskampfbedingtem Arbeitsausfall Leistungen von der Bundesagentur für Arbeit. Außerhalb
des Fachbereichs, in dem gestreikt wird - das wird in Ihrem Gesetzentwurf mit keinem Wort erwähnt -, wird Arbeitslosen- oder Kurzarbeiterunterstützung immer gezahlt, im Kampfgebiet dagegen nicht. Die Arbeitnehmer,
die außerhalb des räumlichen Bereichs, aber im gleichen
fachlichen Tarifbereich beschäftigt sind, erhalten im allgemeinen Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld, wenn infolge eines Arbeitskampfes Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit eintritt.
({9})
- Ich komme gleich zur kalten Aussperrung; warten Sie
es doch bitte ab.
Keine Leistungen erhält, wer am Arbeitskampf beteiligt ist, also die Streikenden. Das gilt ferner für diejenigen, welche die gleichen Forderungen erheben und vom
Ergebnis des Arbeitskampfes profitieren, aber nicht
selbst streiken. Diese Intention sollten Sie mittlerweile
kennen! Wenn im mittelbar betroffenen Gebiet dieselben
Ziele verfolgt werden, dann ruhen nach der Neutralitätsordnung die Ansprüche. Es kann nicht sein und es kann
auch niemand verlangen, dass eine Gewerkschaft mit
zwei Gruppen ein gleiches Ziel verfolgt: mit einer
Gruppe, die sie streiken lässt, und mit einer anderen, die
sie sich von der Bundesagentur bezahlen lässt. Wir wollen und dürfen Stellvertreterstreiks nicht finanzieren!
({10})
Die Gewährung von Kurzarbeitergeld an so genannte
kalt Ausgesperrte - ich komme zu Ihrem Begriff; moderieren Sie sich doch ein bisschen! - verstößt grundsätzlich gegen die Neutralität der Bundesagentur, deren
Mittel von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gemeinsam
aufgebracht werden müssen. Die Solidarität der mittelbar betroffenen Arbeitnehmer mit den aktiv Streikenden
würde gestärkt, der Arbeitskampf dadurch einseitig beeinflusst. Würden wir den Tarifpartnern ermöglichen, jedes Arbeitskampfrisiko auf die Bundesagentur abzuladen, dann würden sie auch bestimmen, wann wir die
Beiträge erhöhen müssen.
Die Linke behauptet in ihrem Gesetzentwurf, die
Streikkassen wären innerhalb weniger Tagen leer, wenn
die Gewerkschaften an kalt ausgesperrte Mitglieder zahlen müssten. Dabei sollte sie auch das Folgende bedenken: Die Arbeitslosenversicherung kann, wie jede
Schadensversicherung, das entsprechende Arbeitskampfrisiko schon deshalb nicht tragen, weil ihre Mittel bei einem Schwerpunktstreik innerhalb weniger Monate erschöpft wären. Der Schwarze Peter der Beitragserhöhung
bliebe dann am Parlament hängen. Ich kann mir gut vorstellen, wer in einem solchen Fall sofort auf die Barrikaden gehen würde: meine - in Anführungszeichen Freunde von der Linkspartei.
({11})
Eine allgemeine Subventionierung von Arbeitskämpfen und ihren Folgen würde die Gewerkschaften quasi zu
Staatsapparaten machen. Das kann niemand wollen, der
es mit freien Gewerkschaften ernst meint. Der Staat
würde zum Mitbestimmer: Denn wer für die Folgen eintreten müsste, würde auch über die Ursachen mitreden
wollen.
Die Garantie von Neutralität und Tarifautonomie ist
nicht der einzige Vorteil, den § 146 Abs. 3 SGB III den
Arbeitnehmern bietet: So muss der Arbeitgeber nachweisen - auch das verschweigen Sie in Ihrem Gesetzentwurf -, dass der Arbeitsausfall Folge eines Arbeitskampfes ist. Zu diesem Nachweis ist eine Stellungnahme der
Betriebsvertretung erforderlich. Arbeitgeber können einen Streik in einem anderen Tarifgebiet daher nicht zum
Vorwand dafür nehmen, dass sie die Arbeit einstellen
lassen. Die Regelung von 1986 wurde getroffen, um beiden Seiten die Umgehung der Neutralität zu versperren.
Die Tarifautonomie braucht darüber hinaus die Neutralität der Bundesagentur, damit die Beschäftigten sich
nicht in der Lage wiederfinden, dass ihre Arbeitskämpfe
fortdauernd von Gerichtsverfahren begleitet werden.
Sonst wären sie in der Gefahr, dass Leistungen unter Vorbehalt ausgezahlt werden - mit dem Risiko einer Rückzahlung. Genau dieses Risiko wird mit § 146 SGB III
eingedämmt.
Im Gesetzentwurf der Linkspartei heißt es weiter:
§ 146 SGB III verhindert … die Chancengleichheit
der Tarifvertragspartner und behindert so die Gewerkschaften, an einer sinnvollen Organisation des
Arbeitslebens mitzuwirken.
Dabei wird das Druckpotenzial der Gewerkschaften völlig unterschlagen. Ein Rückfall in die Regelung von
1969 trägt den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Veränderungen der heutigen Zeit in keiner Weise Rechnung. Sie geben auch keine Antwort auf die Frage, wie
der Arbeitskampf unter den aktuellen Bedingungen am
Leben erhalten werden kann, ohne dass er zum Vernichtungskampf wird.
Die Frage, ob Ihnen Arbeitnehmerinteressen und Tarifautonomie wirklich am Herzen liegen, beantworten
Sie mit Ihrem Gesetzentwurf und Ihrem Verhalten in der
heutigen Aktuellen Stunde also mit einem klaren und
deutlichen Nein - es geht Ihnen einzig und allein um
neue Bündnispartner im Gewerkschaftslager.
({12})
- Das habe ich schon gemerkt.
Aus fachlicher Sicht besteht derzeit keine Notwendigkeit, die Regelungen zur Neutralitätspflicht der Bundesagentur für Arbeit im Arbeitskampf zu ändern. Das
Bundesverfassungsgericht hat 1995 gefordert, dass der
Gesetzgeber Maßnahmen zur Wahrung der Tarifautonomie trifft, wenn sich zeigen sollte, dass in der Folge
dieser Regelung strukturelle Ungleichheiten der Tarifvertragsparteien auftreten, die ein ausgewogenes Aushandeln der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nicht
mehr zulassen und durch die Rechtsprechung nicht ausgeglichen werden können. Hierfür gibt es zurzeit aber
keinerlei Hinweise.
Die immer wiederkehrende Diskussion um den so genannten Streikparagrafen hat zwischenzeitlich Züge einer ideologischen Debatte angenommen, während die
tatsächlichen Ergebnisse der Arbeitskämpfe seit 1986
zeigen, dass die Schlagkraft der Gewerkschaften von der
gesetzlichen Regelung nicht beeinträchtigt wird. Die Arbeitgeber der in erster Linie betroffenen Metall- und
Elektroindustrie beklagen regelmäßig, dass die Tarifergebnisse tendenziell stärker zu ihren Lasten gehen.
Konkret ist der Vorschlag der Fraktion Die Linke zur Lösung ungeeignet.
Die Frage, wann Leistungen der Bundesagentur für
Arbeit an mittelbar betroffene Arbeitnehmer die Pflicht
zur Neutralität im Arbeitskampf verletzen, ist durch den
Gesetzgeber festgelegt worden. Der Gesetzentwurf der
Fraktion Die Linke macht deutlich, dass sie die Entscheidung in dieser Frage im Gesetz offen lassen und
wieder an die Selbstverwaltung der Bundesagentur für
Arbeit delegieren will. Dies dürfte rechtlich nicht mehr
möglich sein, weil es um grundrechtsrelevante Entscheidungen geht, die in den Kernbereich der betroffenen
Grundrechte aus Art. 9 Grundgesetz - hierunter fällt
die Tarifautonomie - und aus Art. 14 Grundgesetz - zum
Grundrecht auf Eigentum zählt der Anspruch auf Arbeitslosengeld - fallen.
Zudem dürfte es illusorisch sein, zu erwarten, dass
sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Rahmen der
Selbstverwaltung in der Praxis auf eine neue Neutralitätsanordnung einigen. Der Vorschlag der Fraktion Die
Linke läuft im Ergebnis darauf hinaus, dass die öffentliche Bank in der Selbstverwaltung der Bundesagentur für
Arbeit den Ersatzgesetzgeber spielt und den Inhalt der
Neutralitätsanordnung durch Zustimmung zur Auffassung der einen oder anderen Seite bestimmen müsste.
Eine Rechtsänderung ist in diesem Umfang insofern
überhaupt nicht angezeigt.
Danke schön.
({13})
Ich erteile das Wort Kollegen Heinrich Kolb, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Debatte hatte ihren Vorlauf in der heutigen Aktuellen Stunde, in der es teilweise sehr hitzig zugegangen
ist. In der Einführung des Kollegen Ulrich ist angeklungen, die FDP stehe nicht auf dem Boden des Grundgesetzes. Für die FDP-Fraktion möchte ich sehr deutlich
sagen: Die FDP bekennt sich zur Tarifautonomie, die
wesentlicher Bestandteil unseres Grundgesetzes ist. Natürlich gehört das Recht auf Streik zwingend zur Tarifautonomie. Das steht für die FDP-Bundestagsfraktion
außer Frage. Das will ich hier sehr deutlich sagen.
({0})
Auf Kosten der Sicherheit darf nach unserer Auffassung aber nicht gestreikt werden.
({1})
- Hören Sie mir zu. - Die Streiks im öffentlichen Dienst
in den vergangenen Wochen haben zum Teil zu unverhältnismäßigen Beeinträchtigungen der Sicherheit geführt. Die vorsätzlich nicht geräumten Straßen beispielsweise stellten ein hohes Sicherheitsrisiko dar. Die
meisten, die mit ihrem Fahrzeug unterwegs waren, konnten es sich nicht aussuchen, zu fahren oder nicht. Sie
mussten mit ihrem Wagen unterwegs sein.
({2})
In solchen Situationen dürfen Menschenleben nicht gefährdet werden, um tarifpolitische Forderungen durchzusetzen.
({3})
Das ist unverantwortlich und aus unserer Sicht nicht hinnehmbar.
Deswegen legen wir hier heute einen Antrag vor, mit
dem wir deutlich machen wollen, dass eine Notfallversorgung und die innere Sicherheit jederzeit, also auch im
Streikfall, sichergestellt sein müssen. Herr Kollege
Ulrich, Sie würden das sicher auch etwas differenzierter
betrachten, wenn Sie in Baden-Württemberg wohnten
und sich vor Ihrer Haustür nach sechs Wochen Müllberge türmen würden, auf denen Ratten munter herumturnen. Damit sind erhebliche Seuchengefahren verbunden. Es ist für die Menschen nicht nachvollziehbar, dass
es in einem solchen Fall nicht möglich sein kann, im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.
({4})
Weil wir wollen, dass in einem solchen Fall etwas geschehen kann, wollen wir eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage zum Ausschluss einzelner Streikmaßnahmen bei einer konkreten erheblichen Gefahr für
verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter wie Leben,
Gesundheit, körperliche Unversehrtheit und Freiheit.
Das ist der Tenor des Antrags, den die FDP hier eingeDr. Heinrich L. Kolb
bracht hat, um für solche Fälle Vorsorge zu treffen. Wir
meinen, dass eine zusammenhängende Kodierung des
Arbeitskampfrechts verfassungsrechtlich geboten ist.
Die zuständigen Stellen müssen bei Arbeitskämpfen
Maßnahmen ergreifen können, um die Notfallversorgung, den Katastrophenschutz und die Einsatzfähigkeit
der Rettungsdienste und der Polizei sicherstellen zu können und erheblichen Gefahren, zum Beispiel bei Beeinträchtigungen im Straßenverkehr, effektiv und schnell
begegnen zu können. Vor diesem Hintergrund hoffe ich
auf Ihre Zustimmung zu unserem Antrag.
Den Gesetzentwurf der Linkspartei sollte dieses Hohe
Haus allerdings ablehnen, weil er in die völlig falsche
Richtung geht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Linken, ich muss Ihnen sagen: Wenn die Linkspartei
schon mit Riesenschritten zurück in die Vergangenheit
möchte, dann muss man an dieser Stelle auch erwähnen,
dass bis 1969 mittelbar vom Arbeitskampf Betroffene
grundsätzlich kein Arbeitslosengeld erhielten. Gestreikt
wurde damals trotzdem. Das von Ihnen angeführte Argument der Chancengleichheit der Tarifparteien zieht
nach unserer Auffassung nicht.
Vielmehr ist es so, dass die Gewährung von Arbeitslosengeld auch an mittelbar Betroffene, also an kalt Ausgesperrte, zur Stärkung der Solidarität und damit unter
Umständen auch erst zu einer Beeinflussung des Arbeitskampfes führen kann und wird. Dann wäre allerdings die Frage der Neutralität der Bundesagentur für
Arbeit gestellt. Nach unserer festen Überzeugung muss
sie sich zwingend neutral verhalten. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass in der derzeitigen Regelung auch
eine Härtefallklausel vorgesehen ist.
Mit dem Gesetzentwurf aus dem Jahre 1986 wurde
gerade das Ziel verfolgt, die Neutralität der Bundesanstalt zu sichern. Die Vorschriften des damals noch geltenden Arbeitsförderungsgesetzes zu der Frage, ob und
gegebenenfalls wann Leistungsansprüche gegen die ehemalige Bundesanstalt für Arbeit derjenigen Arbeitnehmer ruhen, die mittelbar vom Arbeitskampf außerhalb
eines Arbeitskampfbezirkes betroffen sind, wurden damals konkretisiert. Das Streikrecht an sich wurde aber
nicht geändert. Außer Ihnen hat das in diesem Hause in
den letzten Jahren auch niemand infrage gestellt.
({5})
Ich glaube, hier muss auch gesehen werden, dass gerade die Gewerkschaften Fernwirkungen in Drittbetrieben, also bei mittelbar Betroffenen, durchaus als Mittel
des Arbeitskampfes einsetzen. Die von der Linken gewünschte Gesetzesänderung würde dazu führen, dass die
beitragsfinanzierte Bundesagentur für Arbeit zahlen
muss, um die Streikkassen der Gewerkschaften zu schonen. Ich sage Ihnen: Bei allem Verständnis für das Prinzip der Kostenminimierung kann dies nicht die Aufgabe
der Bundesagentur für Arbeit sein. Eine weitergehende
Inanspruchnahme der Bundesagentur für Arbeit, als wir
sie derzeit haben, würde im Übrigen auch zu Beitragserhöhungen führen. Das ist das Gegenteil von dem, was
wir brauchen. Für die Schaffung neuer Arbeitsplätze ist
vielmehr neben anderem eine Senkung der Lohnnebenkosten dringend erforderlich.
({6})
Deswegen gibt es für uns keinen überzeugenden
Grund, dem Gesetzentwurf der Linkspartei zuzustimmen. Wir werden diesen Entwurf ablehnen und ich
hoffe, dass die Mehrheit des Hauses dies ebenso sehen
wird.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich erteile Kollegin Anette Kramme, SPD-Fraktion,
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren von der Linken, an
sich müsste Ihnen unsere Antwort auf den Gesetzentwurf bekannt sein. Ihre Vorgängerfraktion PDS brachte
denselben Antrag wortidentisch bereits in der 14. Legislaturperiode ein.
({0})
Damals hat die SPD diesen Gesetzentwurf abgelehnt und
ich kann es gleich vorwegnehmen: Er wird auch aktuell
keine Zustimmung erfahren. Ihre vorgeschlagene Neuregelung stellt keine Lösung dar, sondern ist, wie so oft bei
Ihnen, blanker Populismus.
({1})
Einer rechtlichen Überprüfung hält Ihr Vorschlag
nämlich nicht stand. Die Rückkehr zum ursprünglichen
§ 116 AFG funktioniert nicht. Sie wollen, dass die Bundesagentur für Arbeit wieder die Entscheidung über die
Neutralität von Lohnersatzleistungen treffen soll. Es
handelt sich hierbei aber um eine grundrechtsrelevante
Entscheidung nach Art. 9 und Art. 14 des Grundgesetzes. Diese darf der Verwaltung vom Gesetzgeber nicht
überlassen werden.
({2})
In der Praxis dürfte es überdies illusorisch sein, zu erwarten, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der
Selbstverwaltung auf eine neue Neutralitätsanordnung
einigen. Deshalb dürfte Ihr Vorschlag keine tatsächliche
Hilfestellung für die Gewerkschaften bedeuten.
({3})
Was bedeutet § 146 SGB III in der aktuellen Fassung
für die Arbeitnehmer, die infolge eines Streiks kurzarbeiten oder arbeitslos werden?
Erste Konstellation. Alle Arbeitnehmer außerhalb der
umkämpften Tarifbranche erhalten von der BA alle Leistungen ohne Einschränkung. Um zu verdeutlichen, was
das heißt, will ich ein Beispiel bilden: Es gibt einen
Streik in der Metallindustrie. Dieser löst einen Arbeitsausfall bei einem zuliefernden Textilbetrieb aus. Die
Kurzarbeiter im betroffenen Textilunternehmen erhalten
Leistungen, da sie zu einer anderen Tarifbranche gehören.
Zweite Konstellation: Alle Arbeitnehmer der umkämpften Tarifbranche innerhalb der umkämpften Tarifgebiete erhalten keine Leistungen der BA, unabhängig
davon, ob sie selbst streiken oder vom Arbeitskampf nur
mittelbar betroffen sind. Auch hier will ich ein Beispiel
nennen.
In der Metallindustrie Tarifbezirk Nordbaden findet
ein Streik statt. Bestreikt wird ein mittelständisches Unternehmen in Nordbaden, das beispielsweise Kolben für
Kraftfahrzeuge herstellt. Infolge des Streiks kann bei
Daimler-Chrysler in Stuttgart, ebenfalls in Nordbaden,
nicht produziert werden. Die betroffenen Kurzarbeiter
erhalten keine Leistungen.
Dritte Konstellation: Arbeitnehmer der umkämpften
Tarifbranche außerhalb der umkämpften Tarifgebiete erhalten dann keine Leistungen der BA, wenn der Arbeitskampf stellvertretend für ihre Arbeitsbedingungen mitgeführt wird. Konkret bedeutet das Folgendes: Infolge
des Arbeitskampfes, beispielsweise in der Metallindustrie Nordbaden, kommt es in Metallbetrieben in Südbaden zu Arbeitsausfällen. Die mittelbar betroffenen Kurzarbeiter in Südbaden erhalten keine Leistungen, wenn
der Arbeitskampf stellvertretend für ihre Arbeitsbedingungen mitgeführt wird.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ulrich?
Aber selbstverständlich.
Frau Kollegin, Sie haben vorhin etwas über den Antrag der damaligen PDS-Fraktion im Bundestag gesagt
und darauf hingewiesen, dass die SPD diesen Antrag
auch heute ablehnen wird. Ihr damaliger Arbeitsminister
Walter Riester, vorher Zweiter Vorsitzender der IG Metall, hatte angekündigt, dass dieses Gesetz in der
15. Legislaturperiode auf den Weg gebracht wird.
({0})
Ist Ihnen das bekannt oder sagen Sie, dass Sie damit
nichts mehr zu tun haben wollen?
Das kann ich Ihnen ganz einfach beantworten: Walter
Riester hat damals zugesagt, eine Überprüfung dieser
Regelung vorzunehmen. Dies entspricht vollumfänglich
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes.
Diese Position teilen wir auch heute.
({0})
1986 änderte die Regierung Kohl den § 116 AFG.
Viele von Ihnen werden sich noch an den heftigen Widerstand der Gewerkschaften und der SPD, die Massendemonstrationen und die Unterschriftenlisten erinnern.
Gegen die Aushöhlung des Streikrechtes sind die Gewerkschaften vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. Die angefochtene Rechtsnorm hat ein Stirnrunzeln
des höchsten deutschen Gerichtes bewirkt und wurde mit
dem Etikett „Gerade noch verfassungsgemäß“ versehen.
Das Bundesverfassungsgericht hat gefordert, dass der
Gesetzgeber Maßnahmen zur Wahrung der Tarifautonomie treffen muss, wenn sich zeigen sollte, dass in der
Folge dieser Regelung strukturelle Ungleichheiten der
Tarifvertragsparteien auftreten, die ein ausgewogenes
Aushandeln der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen
nicht mehr zulassen.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist kein
Freibrief dafür, alles so zu lassen, wie es ist. Es impliziert den Auftrag an den Gesetzgeber, sehr genau zu
überprüfen, ob das Kräftegleichgewicht der Tarifvertragsparteien noch gewahrt ist. Wenn die Streikfähigkeit
der Gewerkschaften infolge des Streikparagrafen nicht
mehr gegeben ist, muss der Gesetzgeber eingreifen. Wir
werden deshalb jederzeit genau überprüfen, ob eine Beeinträchtigung der Gewerkschaften durch § 146 SGB III
stattfindet. Wir stehen für die Tarifautonomie und wollen
die Gewerkschaften als starke Verhandlungspartner. Die
aktuelle Schwäche der Gewerkschaften steht aber in keinem ersichtlichen Zusammenhang zur Regelung des
§ 146 SGB III.
Wir haben in diesem Hause schon oft über das Für
und Wider von Streiks debattiert. Wenn man Außenstehende nach ihrer Meinung fragt, dann heißt es immer
wieder: Streik ist schlecht; denn Streik verhindert Produktion, kostet Geld, schadet oft Unbeteiligten und schädigt die Volkswirtschaft. Das mag richtig sein. Richtig
ist aber auch, dass Streik das allerletzte Mittel von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist, um ihren berechtigten Forderungen Ausdruck zu verleihen.
({1})
Tarifvertragsverhandlungen führen die Gewerkschaften dann wirkungsvoll, wenn sie mit einem Streik drohen können. Deshalb ist das Streikrecht im Grundgesetz
verankert. Im übrigen Europa und in allen anderen zivilisierten Ländern dieser Welt ist die Rechtslage nicht anders. Die Bundesrepublik Deutschland ist kein rechtlicher Sonderfall, auch wenn viele das so sehen wollen.
Ein Streikrecht zu haben, macht nur Sinn, wenn auch die
Fähigkeit zum Streik besteht. Vor diesem Hintergrund
sind Ihre Äußerungen, meine Damen und Herren von der
FDP, unerträglich.
({2})
Die Besteuerung von Streikgeldern zu fordern, ist
schlicht eine Unverschämtheit.
({3})
Diese Forderung zielt einzig und allein darauf ab, der
Arbeitnehmerseite und den Gewerkschaften einen Stock
zwischen die Beine zu werfen und sie zu schwächen. Die
FDP ist es auch, die die Gewerkschaften als Plage bezeichnet.
Meine Damen und Herren von der FDP, Sie benutzen
regelmäßig schwierige tarifpolitische Auseinandersetzungen dazu, die Tarifautonomie infrage zu stellen und
den politischen Einfluss der Gewerkschaften in dieser
Republik auf null zurückzufahren. In diese Richtung
zielt auch Ihr vorliegender Antrag, der so überflüssig
wie ein Kropf ist.
({4})
Die Rechtslage ist eindeutig. In lebenswichtigen Bereichen sind die Gewerkschaften verpflichtet, einen Notdienst einzurichten, um Schäden von der Allgemeinheit
und besonders schützenswerten Dritten abzuwenden.
({5})
Geschieht das nicht, dann haftet die Gewerkschaft. Wird
kein Notdienst eingerichtet und ergeben sich daraus konkrete Gefährdungen für die Allgemeinheit, so steht ein
Einschreiten der Polizei in jedem Fall in deren Ermessen.
({6})
- Sie, meine Damen und Herren von der FDP, gaukeln
den Bürgern und Bürgerinnen nur vor, dass die Streiks
im öffentlichen Dienst eine Gefahr für Leib und Leben
darstellen. Das ist schlichtweg falsch.
({7})
Arbeitgeber und Verdi haben bekanntlich Notdienstvereinbarungen abgeschlossen. Dadurch ist die Gesundheitsversorgung der Patienten und Patientinnen gesichert.
({8})
Bei winterlichen Straßenverhältnissen rücken auch die
Autobahnmeistereien aus.
({9})
Die Tarifautonomie hat einen großen Beitrag dazu geleistet, den sozialen Frieden in unserem Land dauerhaft
herzustellen und soziale Konflikte auf eine geregelte Art
und Weise auszutragen. Davon profitieren auch die Unternehmen.
({10})
Im Hinblick auf das Arbeitskampfrecht ist Deutschland die „weiße Krähe“ unter den europäischen Ländern.
Man muss intensiv suchen, um in Europa ein Land zu
finden, in dem das Streikrecht so stark einschränkenden
Regelungen unterworfen ist und zugleich die Aussperrung zugelassen ist oder zumindest praktiziert wird.
({11})
Ich fände es nur angemessen, wenn führende Verbandsvertreter der Arbeitgeberseite einmal auf diesen
Vorteil des Wirtschaftsstandorts Deutschland hinweisen
würden. Stattdessen kommt es immer wieder zu unerträglichen Äußerungen.
({12})
Der frühere BDI-Präsident Rogowski verkündete öffentlich, dass er aus den Tarifverträgen und dem Betriebsverfassungsgesetz am liebsten ein Lagerfeuer machen
würde. Die Mitbestimmung sieht er als einen Irrtum der
Geschichte an.
({13})
Der Streik im öffentlichen Dienst ist jetzt in der
sechsten Woche. Es ist an der Zeit, die verfahrene Situation aufzulösen. Auf kommunaler Ebene deuten sich Lösungen an. Die Länder sollten dem Beispiel der Kommunen folgen und einen Schlichter einsetzen. Daran ist
weiß Gott nichts Ehrenrühriges. Deshalb fordere ich Sie
auf, Herr Möllring: Lenken Sie ein und stellen Sie sich
dem Schlichter!
Vielen Dank.
({14})
- Nein.
Ich erteile das Wort Kollegen Markus Kurth, Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem
alle rechtlichen Aspekte, die gegen eine erneute Änderung des § 146 SGB III sprechen, lang und sehr ausführlich behandelt worden sind, will ich mich kurz Ihrer
politischen Argumentation zuwenden, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke. Sie
unterstellen, dass durch diese Regelung das Streikrecht
seit 1986 praktisch in seinen Grundfesten erschüttert
worden ist und dass keine Streiks mehr stattgefunden haben. Wenn dem so gewesen wäre, dann müssten wir die
Regelung in der Tat noch einmal ändern.
Aber ein Blick auf die Streikwirklichkeit und die
Kampffähigkeit der Gewerkschaften seit 1986 zeigt
doch, dass die Veränderungen damals nicht zu dem geführt haben, was Sie hier an die Wand malen.
({0})
- Sie lachen, aber Sie können es nicht bestreiten. Es ist
klar, dass die Gewerkschaften durchsetzungsstark sind
und mobilisieren können. Das zeigen schon die großen
Streiks in der Metallindustrie in den Jahren 1994 und
1995 und auch der Bochumer Streik bei Opel im Jahr
2004.
({1})
Sie behaupten in Ihrem Antrag überdies:
Die absehbaren Fernwirkungen eines Arbeitskampfes in einem Unternehmen, dessen Produktion eng
mit Zulieferfirmen verflochten ist, können einen
Arbeitskampf von vornherein aussichtslos machen.
Ich sehe es so - gerade angesichts der Ereignisse bei
AEG in Nürnberg -, dass die Verflechtung mit der Zulieferindustrie einen Arbeitskampf überaus wirksam macht
und dass die Gewerkschaften insbesondere im Metallund Elektrobereich nach wie vor eine relativ starke Hebelwirkung entfalten können. Das funktioniert auch. Die
Verflechtung in der Metallindustrie stärkt sogar den Flächentarifvertrag. Ich möchte gerne den Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall,
Werner Busch, zitieren - das habe ich schon einmal getan, um der FDP zu zeigen, dass die Arbeitgeber den
Flächentarif durchaus schätzen -:
In einem weit verzweigten Netz von Lieferbeziehungen, wie es die deutsche Industrie darstellt, ist
die ökonomische Friedenssicherung besonders
wertvoll. Ein Mehrfaches an Kapitalbindung und
Zinskosten wäre nämlich fällig, wenn beispielsweise die Automobilhersteller zu einer Lagerhaltung gezwungen würden, die das Risiko eines zweiwöchigen Arbeitskampfes ihrer Zulieferer
ausschalten sollte.
Das zeigt, wie wichtig ökonomische Friedenssicherung
ist und in welchem Maße der Flächentarifvertrag dazu
beiträgt. Das zeigt aber auch, welche ökonomischen Risiken es zur Folge hätte, wenn wir die Regelungen von
vor 1986 wieder einführten.
({2})
Durch gesteigerte Lagerhaltungskosten erhöhten sich
dann die Kosten auf der Unternehmensseite. Das heißt,
wir müssen in der politischen und der ökonomischen Argumentation die Dinge gegeneinander abwägen. Nicht
alle kennen mich aus der letzten Legislaturperiode,
({3})
aber ich bin wirklich der Letzte, der den Gewerkschaften
feindlich gesonnen ist oder das Streikrecht einschränken
will.
({4})
Sehr wohl bin ich für eine nüchterne und ausgewogene
Betrachtung.
({5})
- Herr Kolb, da Sie mir applaudieren, möchte ich auf
den Antrag Ihrer Fraktion eingehen.
({6})
Es ist schon ein starkes Stück, dass Sie die Vogelgrippe
in Verbindung mit Müllbergen bringen, eine Gefahr für
die innere Sicherheit konstruieren und auf diese Weise
die verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie angreifen. Das ist ein Bubenstück, das zumindest an Populismus und Kurzfristigkeit dem Gesetzentwurf von der
Linken in keiner Weise nachsteht. Sie können den Gewerkschaften doch nicht unterstellen, die innere Sicherheit mutwillig zu gefährden. Das ist mitnichten der Fall.
Es gibt schließlich Notdienste.
({7})
Ich plädiere für Ausgewogenheit sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Die Fraktion Die Linke hat fristgerecht beantragt, gemäß § 80 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung unmittelbar
in die zweite Beratung einzutreten. Zu diesem Geschäftsordnungsantrag erteile ich das Wort dem Kollegen Ulrich Maurer.
Verehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen
und Kollegen! Wir haben in den Vorgesprächen der Parlamentarischen Geschäftsführer gehört, dass Sie eine
ausführliche Beratung unseres Gesetzentwurfs in den
Ausschüssen wünschen.
({0})
Wir möchten Ihnen stattdessen eine sofortige Abstimmung vorschlagen, weil die Frage nach der kalten Aussperrung - es geht darum, dass sich die Tarifpartner auf
gleicher Augenhöhe begegnen - bereits im Vorfeld der
unmittelbar bevorstehenden massiven Tarifauseinandersetzung in der Metallindustrie eine große Rolle spielen
wird.
({1})
Im Übrigen habe ich der heutigen Debatte entnommen, dass sich die SPD-Fraktion dem Standpunkt der
CDU/CSU-Fraktion bereits vollständig angeschlossen
hat. Zudem habe ich den diversen SPD-Parteitagsbeschlüssen - diese lauten allerdings anders - entnommen,
dass die Vorbereitung in dieser Frage bereits 20 Jahre
andauert. Deswegen steht, glaube ich, einer sofortigen
Abstimmung nichts im Weg.
({2})
Ich erteile dem Kollegen Hartmut Koschyk, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke,
die gerade beendete Debatte hat gezeigt, dass Sie mit Ihrem Gesetzentwurf in diesem Haus inhaltlich völlig isoliert sind. Nun wollen Sie die Geschäftsordnung bemühen und nach einem entsprechenden Beschluss mit
Zweidrittelmehrheit sofort in die zweite Beratung eintreten. Das zeigt, dass es Ihnen nicht um die ernsthafte Beratung Ihres Antrags geht, sondern dass Sie den Bundestag für Ihr Polittheater missbrauchen wollen.
({0})
Das weise ich namens der Fraktionen der CDU/CSU, der
SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen entschieden zurück. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
({1})
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den
Antrag der Fraktion Die Linke, unmittelbar in die zweite
Beratung einzutreten? - Wer stimmt dagegen? ({0})
Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Damit hat der Antrag die erforderliche Mehrheit nicht erreicht.
Wir kommen damit zur Überweisung. Es wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/856 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Der Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/953 soll
ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist auch diese Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes
- Drucksachen 16/858, 16/912 - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes
- Drucksache 16/644 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1})
- Drucksache 16/964 Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Dr. Christel Happach-Kasan
Cornelia Behm
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Hans-Heinrich Jordan, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ende November 2005 hat sich der EU-Agrarrat auf eine Festlegung
zur Reform des EU-Zuckermarktes geeinigt. Diese Einigung steht in Übereinstimmung mit den Vorgaben des
Panelspruches der Welthandelsorganisation. Die Zuckermarktreform berücksichtigt insbesondere die EBA-Initiative zur Förderung der Interessen der ärmsten Entwicklungsländer.
Für die Bundesrepublik Deutschland ist der vorliegende Kompromiss des Agrarrates ein erheblicher Einschnitt in den traditionellen Zuckerrübenanbau und in
die deutsche Zuckerproduktion. In Deutschland sind
über 46 000 Rübenbauern, 6 500 Arbeitnehmer in der
Zuckerindustrie sowie rund 20 000 Beschäftigte in den
vor- und nachgelagerten Bereichen betroffen. Die Zuckerproduktion in Deutschland hat einen Umfang von
circa 4 Millionen Tonnen. Zu keinem Zeitpunkt in den
zurückliegenden Jahren wurde so tief wie jetzt durch die
bevorstehende neue Marktordnung in das Produktionsgeschehen und in die Einkommenssituation der Zuckerrübenbauern eingegriffen.
({0})
Das beherzte Eingreifen der neuen Bundesregierung
konnte noch größere wirtschaftliche Folgen für die deutsche Zuckerproduktion verhindern.
({1})
Die Zuckerproduktion aus Zuckerrüben hat in
Deutschland eine lange, eine zweihundertjährige Tradition. Mit den Arbeiten von Andreas Sigismund
Marggraf um das Jahr 1750 und seinem Schüler Franz
Carl Achard um 1800 stellen wir die ersten Pioniere der
Zuckergewinnung. Hier in Berlin-Kaulsdorf wurden
erste Zucht- und Anbauversuche mit ertragreicheren Rübensorten gemacht. In Kunern, Niederschlesien, entstand die erste Zuckerfabrik. In der Region Halberstadt,
Sachsen-Anhalt, wurde die erste weiße Zuckerrübe gezüchtet, die quasi die Stammmutter der heutigen Zuckerrübe bildet.
Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich auch in
Deutschland die Zuckerproduktion aus der Zuckerrübe
entscheidend durch. Die Bördeböden Sachsen-Anhalts
wurden Spitzenstandorte für den Zuckerrübenanbau. Der
Zuckerrübenanbau mit den notwendigen Massentransporten führte Ende des 19. Jahrhunderts zur erheblichen
Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in vielen Gebieten Deutschlands. Somit wurde die Zuckerrübe nicht
nur zur sicheren Einkommensquelle für die Landwirtschaft, sondern sie war auch Motor für das allgemeine
Erschließen und Stärken des ländlichen Raumes.
({2})
In der Altmark, in meinem Wahlkreis, führte beispielsweise der Ausbau des Eisenbahnnetzes um 1900
dazu, dass kein Ort weiter als 10 Kilometer von der
nächsten Eisenbahnstation entfernt lag. Mit Stolz konnten die altmärkischen Bauern auf die größte Zuckerfabrik Europas jener Zeit verweisen.
({3})
- Ja, aber es ist so.
Ich hoffe, wir stimmen überein, dass der kurze historische Rückblick bei diesen historischen Veränderungen
zum Thema gehört. Die Zuckerrübenproduktion hatte
also eine über ökonomische Aspekte hinausgehende
sozial-kulturelle Bedeutung.
Wir haben den politischen Auftrag, Voraussetzungen
zu schaffen, dass die Zuckerproduktion in Deutschland
an geeigneten Standorten fortgeführt werden kann. Die
Regierung der Bundesrepublik Deutschland hat dazu im
Agrarrat und in Hongkong entscheidende Voraussetzungen durchsetzen können. Die Ergebnisse liegen uns mit
diesem Gesetzentwurf vor.
Wir können die Zuckerproduktion in die Betriebsprämienregelung integrieren. Dies bedeutet auch den Einbau der Zuckerproduktion in das deutsche Entkopplungsmodell.
({4})
Die Gesetzesvorlagen der Bundesregierung und der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD verfolgen das Ziel,
die Ausgleichszahlungen an die Zuckererzeuger zu
100 Prozent betriebsindividuell zu binden. Es gibt keine
Umverteilung des Prämienvolumens zwischen den Regionen. Ziel dieses Vorschlages ist, Härtefälle und Fälle in
besonderer Situation zu vermeiden.
Als Referenz für den einzelbetrieblichen Ausgleich
sollen die vertraglich vereinbarten Liefermengen für das
kommende Wirtschaftsjahr 2006/07 herangezogen werden. Das vermindert den Verwaltungsaufwand erheblich
und damit natürlich auch Bürokratie. Der teilweise in die
Diskussion gebrachte differenzierte Ausgleich nach
A- und B-Rübenquote bringt keine Vorteile; denn ab diesem Wirtschaftsjahr gibt es im Rahmen des gemeinsamen Marktes für Zucker keine Unterscheidung zwischen
A- und B-Quote mehr. Deshalb halte ich es für richtig,
eine einheitliche Liefermenge entsprechend der Vereinbarung mit der Zuckerfabrik oder mit Vermarktern als
Grundlage für den Zuckerausgleich zu wählen.
Die Zuckermarktordnung bietet bis 2014/2015 gute
Voraussetzungen zur weiteren Entwicklung. Damit wird
den Wirtschaftsbeteiligten und der EU-Zuckerwirtschaft
eine langfristige Planungsgrundlage gegeben. Entscheidend ist, dass schon auf die Zuckerpreissenkung ab
dem Jahr 2006/2007 in vier Jahresscheiben bis 2010 reagiert wird, sodass sich aus der Zuckerpreissenkung von
36 Prozent eine Rübenpreissenkung von 39 Prozent ergibt.
Für die Rübenbauern wird die Preissenkung durch die
entkoppelte Direktzahlung teilweise ausgeglichen. Dieser Ausgleich umfasst für das Jahr 2008/20009 zum Beispiel 64,2 Prozent.
({5})
- Genau. - Die Betriebsprämienregelung beinhaltet, dass
die ab dem Jahr 2010 unterschiedlichen Zahlungsansprüche für die Rübenbauern im Rahmen des so genannten
Gleitflugs bis 2013 zu regional einheitlichen Zahlungsansprüchen angepasst werden. Diese Entscheidung
scheint vor dem Hintergrund der übrigen Betriebstypen
auch sachgerecht.
({6})
Im Komplex der Gesamtmaßnahmen zur Neuordnung
der Zuckerrübenmarktordnung darf dennoch nicht vergessen werden, dass schmerzvolle Einkommenseinbußen in traditionellen bäuerlichen Zuckerrübenproduktionsbetrieben künftig zu verzeichnen sind und dass
Produktionsumstellungen in vielen aufgebenden Betrieben mit neuen Einkommensmöglichkeiten gesucht
werden müssen. Entscheidend für die Situation in den
Zuckerrübenproduktionsbetrieben ist, dass für den Zuckerrübenanbau mittelfristig die Voraussetzung für eine
planbare Entwicklung geschaffen wird und die Branche
zukunftsorientiert dasteht.
({7})
Die Zuckerrübenproduktion darf unter keinen Umständen aus Deutschland verschwinden.
Ich möchte abschließend feststellen, dass mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes und mit den
Beschlüssen des EU-Agrarrats sicherlich nicht alle Erwartungen erfüllt werden können. Dessen ungeachtet ist
äußerst positiv zu werten, dass zum 30. April 2006 eine
Gesetzesanpassung für Deutschland vorliegen kann und
die Preissenkungen geringer sind bzw. der Preisausgleich höher ist, als noch Mitte 2005 angekündigt worden ist.
({8})
Wir haben es mit einem insgesamt sachgerechten Gesetzentwurf zu tun.
Aus den genannten Gründen möchte ich dem Deutschen Bundestag empfehlen, dem vorliegenden Gesetzentwurf zuzustimmen.
Danke schön.
({9})
Herr Kollege Jordan, dies war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation und alle
guten Wünsche für Ihre weitere politische Arbeit.
({0})
Ich erteile nun das Wort Kollegen Hans-Michael
Goldmann, FDP-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die FDP-Bundestagsfraktion wird der Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes gern
zustimmen, weil sie im Grunde genommen das Ergebnis
einer politischen Überlegung ist, die wir schon vor Jahren auf den Weg gebracht haben.
({0})
Sehr geschätzter Kollege Dr. Jordan und Peter Bleser,
Sie beide wissen das auch genau. Nur, die politische
Großwetterlage hat sich ein bisschen geändert. Heute jubelt Rot-Schwarz über etwas, was damals von Blau-Gelb
auf den Weg gebracht worden ist. Ich musste mich seinerzeit im wahrsten Sinne des Wortes schützen, damit
mir dafür nicht Rübenschnitzel um die Ohren flogen. Ich
kann mich noch sehr gut an eine Veranstaltung hier im
Maritim-Hotel erinnern, auf der ich gesagt habe - das ist
vielleicht auch einmal für die jüngeren Zuhörer auf der
Tribüne interessant -: Der europäische Zuckerpreis, den
der Verbraucher zahlt, ist dreimal so hoch wie der Weltmarktpreis.
({1})
- Das ist Fakt, auch wenn sich das in letzter Zeit ein bisschen angepasst hat, weil der Weltmarktpreis etwas gestiegen ist.
Es ist niemandem auch nur andeutungsweise klar zu
machen, warum bei uns die Zuckerverwender viel mehr
Geld für Zucker zahlen müssen als andere und wir uns
gleichzeitig darüber beklagen, dass die Zuckerproduzenten Marktanteile verlieren und Arbeitsplätze verloren
gehen. Man muss die Dinge schon ein bisschen im Zusammenhang sehen. Deswegen stimmen wir dieser Änderung zu.
Ihre Ausführungen, Herr Dr. Jordan, finde ich sehr
liebenswert - ich schätze Sie auch wirklich sehr -, aber
sie sind mit dem Blick zurück nicht zukunftsfähig. Wir
müssen uns darauf einstellen, dass wir mit allen Agrarprodukten - wir haben gute Agrarprodukte - im internationalen Wettbewerb bestehen können. Wir können uns
nicht auf den nationalen Markt zurückziehen, weil dieser
nationale Markt nicht so ergiebig ist. Im Wechselspiel
zwischen nationalem Markt und internationalem Markt
können wir auch nicht so gegensätzliche Ansprüche stellen. Wir wollen mit unseren Produkten nach Indonesien,
nach China, nach Indien und nach Brasilien und gleichzeitig sagen wir: Ihr „bösen“ Brasilianer dürft mit eurem
Rohrzucker nicht auf unseren Markt. Dieses Spielchen
ist ausgespielt. Dafür steht die WTO.
Die WTO will im Grunde genommen, dass die Produktion dort stattfindet, wo die Rahmenbedingungen am
besten sind. Wir werden davon profitieren, wenn wir uns
innovativ aufstellen. Das müssen wir in allen Bereichen
tun, so auch im Agrarbereich. Das können wir mit den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesen Branchen auch prima hinbekommen.
({2})
- Das werden auch unsere Zuckerrübenbauern können,
weil das zum Tragen kommt, was schon damals in einem
FDP-Antrag stand, nämlich ein 60-prozentiger Ausgleich für Einbußen. Ich gebe zu, dass ich damals bei
2011/2012 war; jetzt haben wir eine Regelung bis 2015.
Es wird sehr spannend werden. Sie können ganz sicher
sein, dass wir da an der Seite unserer Landwirte sind,
dass wir diese Regelung auch über 2008 hinaus befürworten, wenn wieder darüber nachgedacht wird, wie
viele europäische Mittel der Landwirtschaft, dem ländlichen Raum zur Verfügung gestellt werden.
Aber wir stehen noch vor einer ganz anderen dramatischen Herausforderung, und zwar in Bezug auf die Situation bei der Milch. Lassen Sie uns innerhalb der Agrarpolitik auch hier gemeinsam den Weg zu mehr Markt
und mehr Wettbewerb gehen. Es hat sich gezeigt, dass
eine Quotenregelung bei der Milch keine Lösung im
Hinblick auf mehr Markt ist. Wir haben bei der Milch
eine Überproduktion - 118 oder 120 Prozent -, die dazu
führt, dass der Liter Milch heute viel billiger ist als
1 Liter Wasser. Ich denke, unter diesem ganz simplen
Gesichtspunkt müssen wir uns auf den Weg machen,
auch in diesem Bereich Veränderungen herbeizuführen.
Lassen Sie mich einen letzten Gedanken aufgreifen.
Sie werden vielleicht nicht nachvollziehen können, warum ich immer wieder auf die Eins-zu-eins-Umsetzung
zurückkomme. Ich will nicht verstehen, dass wir uns
über Bürokratie auf europäischer Ebene beschweren und
dann nicht eine europäische Vorgabe ganz simpel eins zu
eins in nationales Recht umsetzen. Das ist unsere Zielsetzung: Was Europa vorgibt, setzen wir eins zu eins national um. Wenn wir mehr machen wollen, dann soll
man uns doch lassen. Selbstverständlich kann ein Landwirt, der die Bedingungen für seine Tiere, für seine Produktion im Wettbewerb etwas anders sieht als andere
Europäer, beispielsweise der Spanier oder der Grieche,
mehr machen. Aber wir sollten grundsätzlich an der
Eins-zu-eins-Umsetzung festhalten.
Wenn wir das machen und uns damit am Weltmarkt
orientieren, werden wir unsere Landwirtschaft zukunftsfähig aufstellen, und zwar ohne große staatliche Zuwendungen. Damit werden wir den wohl entscheidendsten
Beitrag zum Bürokratieabbau leisten, der die Landwirtschaft in besonderer Weise belastet. In diesem Sinne
stimmen wir der heute zu beschließenden gesetzlichen
Vorlage sehr gerne zu.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegen Gustav Herzog, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
kommt ja nicht allzu häufig vor, dass ich dem Kollegen
Goldmann zustimme; aber in dem Fall muss ich sagen,
dass das durchaus die Richtung der FDP war. Aber nach
Ihrer Formulierung, Herr Kollege Goldmann, warte ich
auf eine Aussage von Ihnen, dass auf Antrag der FDP
die Zuckerrübe erst erfunden worden ist.
({0})
Machen Sie sich nicht zum Vater aller Dinge, die wir gemeinsam auf den Weg bringen!
({1})
Eine zweite kurze Bemerkung, und zwar zu der Einszu-eins-Umsetzung. Wissen Sie, Herr Kollege Goldmann,
das würde auch ein Stück Gleichschritt bedeuten. Aber
ich bin der Auffassung, dass die deutsche Politik und die
deutschen Landwirte immer einen Schritt voraus sein
sollten. Von daher lassen Sie uns immer gemeinsam überlegen: Was macht die EU gut und was können wir besser
machen? Eine einfache Eins-zu-eins-Umsetzung wird
auch der versammelten Intelligenz dieses Hauses nicht
gerecht.
({2})
Ich weiß nicht, wer von Ihnen in den letzten Tagen
einmal versucht hat, jemandem außerhalb der Branche
zu erklären, was sich hinter dem Betriebsprämiendurchführungsgesetz oder überhaupt der reformierten Zuckermarktordnung verbirgt. Das ist ein äußerst schwieriges
Unterfangen.
({3})
Ich habe es trotzdem versucht und gesagt, das ist im
Grunde genommen der große Weg, den wir mit den
Agrarbeschlüssen von 2003 eingeschlagen haben, nämlich weg von der Produktförderung, von den Milchseen
und den Zuckerbergen, hin zu mehr unternehmerischer
Freiheit, indem wir die Landwirte direkt unterstützen.
Dass dieser Weg richtig ist, zeigt sich an dem aktuellen
Beschluss der Europäischen Union, eine Zuckerquotenkürzung um 2,5 Millionen Tonnen vorzunehmen.
({4})
Die Zuckermarktordnung gibt in der neuen Fassung
Planungssicherheit. Über einen auch von uns geforderten Restrukturierungsfonds ermöglicht sie es, auf die
Veränderungen einzugehen. Aber ich glaube, hier ist
durchaus zu sagen: Das wird eine sehr große Herausforderung für die Landwirte, für die Zuckerrübenbetriebe
sein, auch wenn die Diskussion in der Europäischen
Union dazu geführt hat, dass die Direktbeihilfe von
60 auf 64 Prozent erhöht worden ist. Eine Studie der
FAL hat gezeigt, dass die Einkommensverluste wesentlich geringer sein werden, als die ersten Vorschläge der
Kommission uns haben befürchten lassen.
Aus der Studie ergibt sich weiterhin, dass der Zuckerrübenanbau in Deutschland bleiben wird, dass es wohl
zu keinen weiteren Quotenverlusten kommen wird und
dass die deutsche Zuckerrübenwirtschaft wettbewerbsfähig ist. Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass die Branche in den letzten Jahren die Herausforderungen angenommen und darauf reagiert hat und dass entsprechende
Veränderungen vorgenommen wurden.
Vor den konkreten Entscheidungen - es ist sozusagen
kurz vor zwölf -, die für die Anbauplanung wichtig sind,
schaffen wir mit diesem Gesetz Planungssicherheit für
die Landwirte. Ich denke, wir haben einen guten Kompromiss gefunden, auch wenn ich als Rheinland-Pfälzer,
Herr Kollege Jordan, natürlich gerne gesehen hätte,
wenn wir auf die A- und B-Quotenproblematik eingegangen wären. Aber im Bundesrat gab es ein Votum gegen die Forderung aus Rheinland-Pfalz. Ich denke trotzdem, dass diese Forderung gerechtfertigt gewesen ist
und ihre Erfüllung dem deutschen Zuckerrübenanbau
geholfen hätte.
Insgesamt gesehen haben wir eine Integration bezüglich des Ausgleichs geschafft. Unsere Ablehnung bezieht
sich auf den Zeitrahmen. Entsprechende Regelungen
hätten einen deutlich höheren Verwaltungsaufwand bedeutet, Herr Kollege Goldmann.
({5})
Ich denke, es ist der richtige Weg, dass es die gleichen
Regeln für alle landwirtschaftlichen Produkte gibt. Dass
der Ausgleich zu 100 Prozent erfolgt und erst im Jahre
2010 in die Flächenprämie eingeht, bedeutet für die
Landwirte durchaus Planungssicherheit. Sie wissen jetzt,
worauf sie sich einzustellen haben. Ob wir 2008 nach
der Neubewertung reagieren müssen, wird sich zeigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, das vorliegende Gesetz ist ein gutes Gesetz. Die gute Nachricht
für die Branche ist, dass die Rübenbauer Planungssicherheit haben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegin Kirsten Tackmann,
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Nach dem Diskurs über die Bettgewohnheiten von Schweinen in der vergangenen Woche sprechen wir heute über den Zuckerberg.
Die Bundesrepublik hat laut dem jüngsten Agrarbericht beim Zucker einen Selbstversorgungsgrad von
141 Prozent erreicht, und das bei Rübenzucker, der auf
dem Weltmarkt überhaupt nicht konkurrenzfähig ist. Das
gelingt nur, weil der Zuckermarkt einer der am stärksten
regulierten Märkte überhaupt ist.
Es ist schon gesagt worden, dass in der EU der kostendeckende A-Quotenpreis dreimal höher ist als auf
dem Weltmarkt. Dafür liegt der Preis für den C-Quotenexportzucker bei einem Zehntel des A-Quotenpreises,
damit er international überhaupt konkurrenzfähig ist.
Damit gefährden die reichen EU-Länder die regionalen
Märkte in den Entwicklungsländern. Andererseits wird
- auch das hat Herr Goldmann schon gesagt - billiger
Rohrzucker aus Lateinamerika vom EU-Markt fern gehalten. Dieser Markt ist nicht einmal wirtschaftlich sinnvoll, von Aspekten wie sozial, ökologisch oder fair einmal ganz abgesehen. Es muss sich also etwas ändern.
({0})
Die spannende Frage ist: Wer sind die Gewinner und
wer sind die Verlierer? Für meine Fraktion ist klar, dass
die Folgen der verfehlten Agrarstrukturpolitik nicht auf
den Schultern der 43 000 einheimischen Zuckerrübenanbaubetriebe abgeladen werden dürfen. Nur deshalb stimmen wir dem vorliegenden Gesetz zu, mit dem ein Teilausgleich für die Verluste der einheimischen Erzeuger
infolge der Garantiepreissenkung geregelt wird.
({1})
Diese Zustimmung ändert aber nichts an unserer deutlichen und grundsätzlichen Kritik am Umgang mit dem
Problem. Die Regelungen setzen an der falschen Stelle
an; sie sind halbherzig und zementieren altbekannte Ungerechtigkeiten wie zum Beispiel die Benachteiligung
Ostdeutschlands bei der Quotenverteilung. Im Wesentlichen ist das Gesetz die Fortsetzung einer falschen Politik
mit anderen Mitteln. Denn wir kaufen uns aus den staatlichen Preisgarantien quasi teilweise heraus und zahlen
sie bis zum Jahr 2014 stattdessen als Betriebsprämie.
Da die Anbauverpflichtung durch die Entkoppelung
der Betriebsprämien entfällt, kann man wenigstens hoffen, dass der eine oder andere den Rübenanbau doch
- wie politisch gewollt - aufgibt. Bei den Zuckerrübenstandorten gibt es ja Anbaualternativen. Aber ob das
wirklich so kommt, ist fraglich, weil die Kompensation
bei allen für dieses Jahr abgeschlossenen Zuckerrübenverträgen erfolgt und der zusätzlich realisierbare Preis
vermutlich immer noch attraktiv genug ist.
Eines steht aber auch für uns Linke fest: Wir wollen,
dass die Rübe bleibt.
({2})
Denn die Verarmung an Kulturpflanzen ist ohnehin ein
Problem. Auch ein weniger intensiver Anbau würde den
Zuckerberg abbauen. In der Bioenergieerzeugung bekommt die Rübe vielleicht eine ganz neue Perspektive.
({3})
Die Profiteure der Neuordnung des EU-Zuckermarkts sind vermutlich nur die großen Zuckerverarbeiter. Von ihnen erwarten wir, dass sie diesen Vorteil zum
Erhalt der 250 000 Arbeitsplätze in der Branche nutzen.
({4})
Für die Verbraucherinnen und Verbraucher fordern wir
eine Weitergabe dieses Vorteils über eine Lebensmittelpreissenkung. Denn sie finanzieren diese Reform mit ihren Steuern.
Sicher, auch der Zuckermarkt ist ein Spannungsfeld
höchst unterschiedlicher Interessen. Gerade deshalb
brauchen wir eine zukunftsfähige politische Strategie.
Regionale Märkte müssen geschützt und der internationale Handel mit kostendeckenden Preisen sowie sozialen
und ökologischen Produktionsstandards fair gestaltet
werden.
({5})
Quoten können dann durchaus ein sinnvolles politisches
Instrument auch auf der Ebene der WTO sein.
Vor allem aber muss sich die Grundphilosophie der
Förderung der Landwirtschaft von einem Nachteilsausgleich hin zu einer Bezahlung gesellschaftlich gewollter
Leistungen ändern. Wir brauchen politische Rahmenbedingungen für eine flächendeckende, die natürlichen
Ressourcen schonende und die Kulturlandschaft pflegende Landwirtschaft, in der auch die Zuckerrübe ihren
Platz hat.
Mit diesem Plädoyer danke ich für die Aufmerksamkeit.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegin Ulrike Höfken, Fraktion
des Bündnisses 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Reform der Zuckermarktordnung schlägt
sich jetzt also in dem Zweiten Gesetz zur Änderung des
Betriebsprämiendurchführungsgesetzes nieder. Das ist
wahrscheinlich der Weg in die unternehmerische Freiheit und die Entbürokratisierung. Eine Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Vorgabe erfolgt damit wieder nicht. Wir
unterstützen dieses Gesetz nur insofern,
({0})
als wir gesagt haben: Wir wollen mithelfen, den zeitlichen Ablauf zu beschleunigen.
({1})
Ansonsten ist klar: Eine Veränderung der bestehenden
Zuckermarktordnung war dringend erforderlich. Wir haben uns immer hinter die Ziele der Doharunde gestellt
und ganz klar für einen fairen Welthandel eingesetzt.
({2})
Man muss prüfen, was jetzt vorliegt: Dient es diesen
Zielen? An diesem Punkt - so muss man sagen - sind
Lobhudeleien reichlich überflüssig. Frau Künast wäre
bei dem gleichen Verhandlungsergebnis vermutlich von
denjenigen, die jetzt in Jubelchöre ausbrechen, geteert
und gefedert worden.
({3})
Man muss sich also fragen: Werden Millionen an EUMitteln, Millionen an Steuergeldern für die Ziele eingesetzt, die wir unterstützen wollen? Ich muss dazu sagen:
Das Verhandlungsergebnis geht ganz klar zum einen an
den entwicklungspolitischen Zielen und zum anderen an
der Unterstützung der ländlichen Räume, der kleinen
und mittleren bäuerlichen Betriebe vorbei. Denn die Profiteure werden neben den Zuckerverarbeitern vor allem
die Großbetriebe der Zuckerindustrie zulasten der kleinen und mittleren Betriebe sein, die mittelfristig keine
Perspektive mehr haben.
({4})
Stattdessen hätte man - das haben wir im Europäischen Parlament gefordert - eine radikale Mengenbegrenzung beschließen können.
({5})
Dann wäre dieser hohe Preisausgleich - durch die Beschränkung auf den EU-Selbstverbrauch inklusive der
Menge, die von den AKP-Staaten und den Geberländern
kommt - nicht notwendig gewesen. Einen Teil dieses
Aufwandes hätte man sich dann gespart.
({6})
Man muss klar hinzufügen: Die 13 AKP-Länder sind
die Leidtragenden. Sie werden in ihren Konversionsmaßnahmen nicht ausreichend unterstützt. Ich persönlich stehe sehr kritisch der Frage gegenüber, ob das, was
man mit der Zuckermarktreform bewirken will, in Ländern wie Brasilien wirklich der Armutsbekämpfung
dient. Denn Liberalisierungsschritte, bei denen gleichzeitig die notwendigen Rahmenbedingungen fehlen
- das sagen auch die entwicklungspolitischen Gruppen;
das ist nach den bisherigen Entwicklungen auch sehr
deutlich geworden -, tragen weder zur Bekämpfung der
Armut noch zu einer positiven Wirtschaftsentwicklung
bei. Man muss schon sehen: Auch der Umwelt wird eine
solche Konzentration auf die Zuckererzeugung in
Schwellenländern möglicherweise überhaupt nicht gut
tun.
Ganz klar ist auch: Die Ausgleichszahlungen in
Höhe von etwa 6 Milliarden Euro werden fast ausschließlich aus der Tasche der Verbraucher geleistet.
Was die Zukunftsperspektiven, die Sie mit den Mitteln, die aufgebracht werden, für die ländlichen Regionen in Deutschland schaffen wollen, angeht, muss man
ganz klar sagen - diesen Beitrag werde ich Ihnen nicht
ersparen -: Was Sie mit der einen Hand geben, reißen
Sie mit dem „Arsch“ wieder ein.
({7})
- Ja. Mit der Streichung von Mitteln bei der Verordnung
„Ländlicher Raum“ haben Sie eine unglaubliche Rasur
von Geldern für die Diversifizierung und Konversion
vorgenommen.
Gleichzeitig soll eine Perspektive in der Äthanolerzeugung liegen. Mit der Besteuerung der Biokraftstoffe, die Sie gleichzeitig vornehmen, machen Sie diese
Perspektive für die Zuckerrübenerzeugung wieder zunichte. Sogar Betriebe wie Opel oder Ford beschweren
sich, dass Sie die gefällten Entscheidungen für Investitionen in erfolgreiche Kraftfahrzeuge, nämlich in die
neuen Entwicklungen in diesem Bereich, völlig konterkarieren. Das heißt, Sie betreiben eine Politik, bei der
Sie einerseits sagen, Sie möchten neue Perspektiven
schaffen, die Sie jedoch andererseits durch eine völlig
kontraproduktive Politik im Bereich der Besteuerung
und im Bereich der Finanzen wieder zunichte machen.
Das kann nicht sinnvoll sein. Deshalb lehnen wir dieses
Gesetz ab.
Danke.
({8})
Kollegin Höfken, ich unterstelle, dass Sie jenes Wort
ohne Zweifel als ein Zitat unseres größten Klassikers
verwendet haben.
({0})
Insofern geht es unbeanstandet durch.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Wilhelm
Priesmeier, SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Uli Höfken, du bist vermutlich nicht so mutig, zumindest das, was die Kritik an
dem Gesetz angeht, auf einer Versammlung von Zuckerrübenbauern in Rheinland-Pfalz vorzutragen. Es gehört
ein bisschen mehr dazu, als hier nur banale Kritik zu
üben. Es geht doch wirklich um die Substanz. Zumindest
nach Kenntnisnahme und ausreichendem Studium dieses
Gesetzes kann man sagen, dass wir in der Substanz ein
vernünftiges Gesetzeswerk auf den Weg gebracht haben.
Es passt in den Rahmen dessen, was wir mit der Umgestaltung der Gemeinsamen Agrarpolitik, mit der Entkoppelung begonnen haben. Es hat genau die gleiche Zielrichtung. Ich glaube, wer sich von diesen Grundsätzen
verabschieden möchte, der täuscht sich im Hinblick auf
die Möglichkeiten, die wir haben.
Bei aller Kritik an den Folgewirkungen der Zuckermarktordnung kann man zumindest eines sagen: Der
bisherige Zustand hätte nicht aufrechterhalten werden
können. Spätestens 2009 wäre der Zuckermarkt zusammengebrochen. Das erkennt man im Augenblick an den
auflaufenden Interventionsmengen, die sich in einer
Größenordnung von zirka 1,5 Millionen Tonnen bewegen. Das hätte in der Fortschreibung spätestens 2009 in
einer Situation geendet, die für den gesamten Markt
nicht mehr tragbar gewesen wäre.
({0})
Aus diesem Grund war es zwingend geboten, zu handeln. Das ist von allen Beteiligten anerkannt worden.
Es hat eine von allen Betroffenen formulierte gemeinsame Position gegeben. Es gab eine große Abstimmungsrunde, in die sowohl der Deutsche Bauernverband
als auch die beteiligte Zuckerwirtschaft und die politische Ebene vor den Verhandlungen in Brüssel eingebunden waren. Im Wesentlichen wurde das, was dort als
Verhandlungslinie vereinbart worden ist, in Brüssel umgesetzt. Das ist für uns ein großer Erfolg; denn es ist das
zum Tragen gekommen, was in besonderer Weise unsere
Strukturen, die durchaus wettbewerbsfähig sind, sichert, das heißt, wir können in Deutschland auch künftig
noch Zuckerrüben anbauen und wir werden eine hervorragend aufgestellte Zuckerwirtschaft behalten.
({1})
Das sage ich als jemand, der aus einer Region kommt,
die an diesem Kompromiss schwer zu knabbern hat, als
jemand, der aus Südniedersachsen kommt und weiß, wie
hoch die Wertschöpfung beim Zucker in der gesamten
Region ist. Sie beträgt nämlich fast 55 Millionen Euro.
Ich weiß auch, was es bedeutet, wenn die Betriebserträge
in der Fortschreibung bis 2013 um bis zu 40 Prozent sinken werden.
In dieser Situation sollte man die Hände jedoch nicht
in den Schoß legen. Die Optionen sind vielmehr aufgezeigt. Dazu gehören vor allen Dingen Investitionen in
Biomasse. Die Betriebe, die bislang überwiegend vom
Zucker gelebt haben, sind durchaus bereit, sich umzuorientieren, diese Einkommensalternativen zu nutzen und
damit den Erhalt ihres Betriebes zu sichern.
An dem erforderlichen Strukturwandel führt das natürlich nicht vorbei. Das sehen wir in unserer Region in
ganz besonderer Weise. Die Betriebe mit einer Größe
von mehr als 100 Hektar wachsen, die kleineren Betriebe werden langsam aufgegeben. Dieser Entwicklung
kann man sich unter marktwirtschaftlichen und ökonomischen Gesichtspunkten nicht entgegenstellen. Man
sollte aber die Betriebe, die aufgeben wollen oder müssen, begleiten.
Vor dem Hintergrund dieses Gesetzes gibt es die
Möglichkeit, dies durchaus kompatibel zu gestalten, indem die auf den jeweiligen Betrieb bezogene Prämienregelung zunächst einmal bis 2010 aufrechterhalten bleibt
und danach dann die flächenbezogenen Prämien sukzessive abgeschmolzen werden. Jede andere Lösung wäre
undenkbar gewesen. Alle diesbezüglichen Vorschläge
sind im Bundesrat abgelehnt worden. Auch die Bayern
haben dem Gesetzentwurf zwar nur mit Widerwillen,
aber letztendlich doch zugestimmt.
Ich glaube, dass wir als Konsequenz in Deutschland
eine Zuckermarktwirtschaft zumindest für den Zeitraum
bis 2015 und darüber hinaus behalten werden. Der technologische Fortschritt und der Fortschritt in der Entwicklung gerade im Bereich der Züchtung lassen hoffen.
Wir sind nicht mehr allzu weit weg von der 15-TonnenRübe. Hier gilt es, diese Wettbewerbs- und Standortvorteile zu nutzen, auch mit Blick auf die Konkurrenz zum
Zucker aus Zuckerrohr. Aber eines ist klar: Eine vollständige Liberalisierung kann es nicht geben, weil die
Rübe mit dem Rohrzucker dauerhaft nicht konkurrenzfähig ist, selbst wenn der Weltmarktpreis im Augenblick
wieder auf 350 Dollar pro Tonne gestiegen ist. Das ist
eine kurzfristige Entwicklung. Der Markt ist sehr volatil
und bewegt sich einmal rauf und einmal runter.
Aus dem Grunde fordere ich, dass wir bei der Ausgestaltung der Modalitäten im Rahmen der WTO Zucker
zum sensiblen Produkt machen und die spezielle Schutzklausel auch für uns nutzen.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes. Das
sind die Drucksachen 16/858 und 16/912. Der Ausschuss
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/964, den Gesetzentwurf anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP
Vizepräsident Wolfgang Thierse
und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Stimmergebnis wie in der
zweiten Lesung angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD zur Änderung des Betriebsprämien-
durchführungsgesetzes, Drucksache 16/964. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfeh-
lung, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/644 für
erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei
Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenom-
men.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 13 a und
13 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Irmingard Schewe-Gerigk,
Marieluise Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Presse- und Meinungsfreiheit in Kuba einfordern
- Drucksache 16/934 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2})
Auswärtiger Ausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marina
Schuster, Florian Toncar, Burkhardt MüllerSönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Menschenrechte in Kuba einfordern und die
kubanische Zivilgesellschaft fördern
- Drucksache 16/945 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Volker Beck, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute auf Grundlage eines Antrages unserer Fraktion mit der Menschenrechtssituation in Kuba. In
diesem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf,
bilateral und auf europäischer Ebene dazu beizutragen,
dass alle politischen Gefangenen in Kuba unverzüglich
freigelassen werden,
({0})
gemeinsam mit den EU-Partnern gegenüber der kubanischen Regierung die Aufhebung des Reiseverbots für die
„Damen in Weiß“ und Oswaldo Payá Sardiñas zu fordern und dafür einzutreten, dass die im Jahr 2005 verschärften Repressionen gegen die Opposition von der
kubanischen Regierung zurückgenommen werden.
({1})
Damit haben wir die Forderung des Europäischen
Parlamentes, die mit Stimmen aus allen hier im Haus
vertretenen Parteien beschlossen wurde, aufgegriffen.
Wir machen kein Copyright geltend, sondern sagen: Das
verdient die Unterstützung des Deutschen Bundestages.
Ich bin ein bisschen traurig, dass unser Angebot, den
Antrag gemeinsam einzubringen, bislang nicht aufgegriffen wurde. In dieser Woche waren wir fast so weit,
mit CDU/CSU und SPD einen gemeinsamen Text zu beschließen. Wir haben das auch der Linksfraktion angeboten. - Wir sind ja nicht so.
({2})
Leider wurde unser Angebot von keiner Seite aufgegriffen. Ich meine, wir sollten jetzt im Ausschuss gemeinsam dafür sorgen, dass der Deutsche Bundestag in dieser
wichtigen Menschenrechtsdebatte zu einer gemeinsamen
Position findet.
Die Menschenrechtssituation in Kuba ist weiterhin
besorgniserregend. Insbesondere Presse- und Meinungsfreiheit werden massiv eingeschränkt. Nach wie vor
sitzen Dutzende Menschenrechtsverteidiger und gewaltlose Dissidenten unter menschenunwürdigen Bedingungen in Haft. Die Zahl der politischen Gefangenen
wird derzeit auf über 300 geschätzt. Viele der Inhaftierten sind nach Berichten schwer krank und erhalten keinen oder nur mangelhaften Zugang zu einer Gesundheitsversorgung. Darüber hinaus mehren sich die
Berichte über Misshandlungen dieser Häftlinge.
Das Europäische Parlament hat den kubanischen
„Damen in Weiß“ im Dezember 2005 den SacharowPreis für Menschenrechte verliehen. Die „Damen in
Weiß“ sind Familienangehörige der im Jahr 2003 verhafteten und verurteilten Regimekritiker, die seitdem couragiert für die Freilassung ihrer Angehörigen sowie für das
Recht auf freie Meinungsäußerung in Kuba demonstrieren. Die kubanische Regierung verweigert dieser Gruppe
trotz vieler Bemühungen die Ausreise, um den Preis entgegenzunehmen. Auch Oswaldo Payá Sardiñas,
Sacharow-Preisträger des Europäischen Parlamentes von
2002, wird immer noch die Freiheit zur Aus- und Wiedereinreise nach Kuba verweigert.
Das sind skandalöse Zustände, die ein klares Wort des
Deutschen Bundestages erfordern.
Volker Beck ({3})
({4})
Im Zusammenhang mit der kubanischen Politik muss
man sich aber selbstverständlich überlegen - das tun wir
in unserem Antrag -, mit welchen Maßnahmen, mit welchem Regime man Maßnahmen gegenüber der kubanischen Regierung durchsetzen kann.
In unserem Antrag verweisen wir darauf, dass wir die
Blockadepolitik der amerikanischen Regierung - so, wie
sie gegenwärtig angelegt ist - nicht für hilfreich halten.
Vorsichtig ausgedrückt, muss man sagen, sie hat eine
positive Veränderung für die kubanische Bevölkerung
eher behindert. Vielmehr diente und dient das US-Embargo mit seiner Verschärfung im Jahr 2004 systemstabilisierend, weil es der kubanischen Führung einen Vorwand für seine Politik liefert. Leid tragend ist die
Bevölkerung.
({5})
Dies zu sehen und zu kritisieren, bedeutet aber nicht,
dass man zu den Menschenrechtsverletzungen schweigen und im Engagement nachlassen darf, auch wenn
man hier im Haus über die Instrumente, mit denen das
Ziel erreicht werden kann, vielleicht durchaus streitet.
Dass wir aber kritisiert werden, weil wir die Menschenrechtspolitik eines Landes hier im Deutschen Bundestag zur Sprache bringen, finde ich eine Ungeheuerlichkeit. Der Parlamentarische Geschäftsführer der
Linksfraktion sagt, auf Kuba gelte die Todesstrafe und
die Behandlung von Homosexuellen sei auch inakzeptabel, aber das Gleiche gelte für etliche amerikanische
Bundesstaaten.
({6})
Es sei doch seltsam, wie unterschiedlich Menschenrechte wahrgenommen würden, je nachdem, ob der jeweilige Staatschef mit den USA befreundet sei oder
nicht.
({7})
Ich finde, es ist ein Skandal, dass Sie hier klatschen.
({8})
Denn die rot-grüne Koalition hat in der letzten Wahlperiode Anträge zu den USA verabschiedet: Im Folterantrag,
der vom Bundestag beschlossen wurde, werden die Zustände in Guantanamo kritisiert. Wir haben eigens einen
Antrag zum Umgang der Amerikaner mit der Todesstrafe eingebracht.
Wir schauen bei Freund und Feind, bei Gegnern und
bei engen Verbündeten gleichermaßen auf die Einhaltung der Menschenrechte.
({9})
Wer bei Menschenrechten seinen Freunden einen Rabatt
gibt, ist ein schlechter Freund.
({10})
Kollege Beck, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Die Menschenrechtspolitik unseres Landes ist nur
dann glaubwürdig, wenn wir nirgendwo wegschauen,
überall hinschauen und an der Seite der Menschenrechtsverteidiger in allen Ländern stehen, die tapfer für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit streiten.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegen Peter Weiß, CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst möchte ich - was den üblichen Usancen im
Parlament nicht ganz entspricht - den beiden Oppositionsfraktionen, die Anträge zu Kuba eingebracht haben,
dafür herzlich danken,
({0})
weil ich es gut finde, dass das Thema Kuba auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages kommt.
({1})
Viele Mitbürgerinnen und Mitbürger machen, weil es
relativ günstig ist, auf Kuba Urlaub und bekommen dort
ein Scheinbild vorgeführt. Die bittere Wahrheit für die
Bürgerinnen und Bürger in Kuba ist: In Kuba lebt und
überlebt immer noch eines der letzten stalinistischen
Regime in der Welt.
({2})
Die Menschenrechtsverletzungen auf Kuba verschlimmern sich weiter. Verhaftungen von Dissidenten gehören
nach wie vor zum gängigen Instrumentarium des kubanischen Regimes unter Fidel Castro. Fidel Castro wird im
Alter nicht weiser oder gnädiger;
({3})
vielmehr nimmt die Repression zu.
In den vergangenen Monaten sind die Haftbedingungen für die in kubanischen Gefängnissen einsitzenden
Dissidenten nochmals drastisch verschärft worden. Angehörige von Dissidenten werden ebenso wie deren Umfeld zunehmend von regierungstreuen Gruppen unter
Peter Weiß ({4})
Druck gesetzt. Inhaftierte Dissidenten, deren Angehörige im In- und Ausland auf die Verstöße der kubanischen Regierung gegen die Menschenrechte aufmerksam
machen, werden erpresst. Falls sich die Angehörigen
weiterhin für ihre Freilassung einsetzen, drohen Konsequenzen. Dies ist auch mit Blick auf die medizinische
Versorgung der Inhaftierten höchst alarmierend, die in
vielen Fällen durch die Familie getragen werden muss.
Die Meinungs- und die Pressefreiheit, die Versammlungs- und die Reisefreiheit werden unterdrückt.
Deswegen ist es gut, dass das Europäische Parlament
mit einer überwältigenden Mehrheit dazu klar Stellung
genommen hat und für Europa dafür eingetreten ist, dass
wir gemeinsam auf die Einhaltung der Menschenrechte
Wert legen. Ich finde es gut, wenn wir als Deutscher
Bundestag uns dieser Resolution des Europäischen
Parlaments möglichst geschlossen anschließen.
({5})
Befremdlich stimmen muss allerdings, dass im Deutschen Bundestag nun eine politische Gruppierung sitzt,
({6})
die ihre eigenen Europaabgeordneten, die der richtigen
und guten Entschließung des Europäischen Parlaments
zu Kuba zugestimmt haben, nicht nur im Regen stehen
lässt, sondern auch politisch ausgrenzt. Das ist der eigentliche Skandal in der deutschen Politik, was Kuba anbelangt.
({7})
Wenn die PDS in ihrem Parteivorstandsbeschluss
({8})
von notwendiger Solidarität mit dem sozialistischen
Kuba spricht und ihre eigenen Europaabgeordneten
maßregelt, weil sie der menschenrechtsorientierten Entschließung des Europaparlaments zugestimmt haben,
dann zeigt sich eines: Hier sitzt keine neue Linke, hier
sitzen die alten stalinistischen Betonköpfe im Parlament.
({9})
Die internationale Menschenrechtspolitik hat in
den vielen Jahrzehnten des so genannten Kalten Krieges
darunter gelitten, dass die einen auf dem rechten und die
anderen auf dem linken Auge blind waren. Menschenrechtsverletzungen derjenigen, die mit den USA bzw.
dem Westen verbündet waren, wurden etwas milder beurteilt als Menschenrechtsverletzungen auf der anderen
Seite. Gott sei Dank - das ist ein großer Fortschritt - ist
der Kalte Krieg zu Ende. Endlich wird allen klar, dass
die Menschenrechte unteilbar sind.
({10})
Es ist für die internationale Menschenrechtspolitik
nicht nur gefährlich, sondern sogar katastrophal, dass
sich auch politische Gruppierungen zu Wort melden, die
offensichtlich nicht wissen, dass der Kalte Krieg zu
Ende ist. Deswegen glaube ich, dass es unsere Aufgabe
als Deutscher Bundestag ist, für die Unteilbarkeit der
Menschenrechte überall auf der Welt, auch und gerade
in Kuba, einzutreten.
Worum es geht, ist, dass der Wahrung der Menschenrechte, der Demokratie, der Freiheit und dem Rechtsstaat, nicht aber der Unterstützung antidemokratischer
Regime unter dem Deckmantel der sozialistischen Verbrüderung zum Durchbruch verholfen werden muss.
Auch als Bundestag stehen wir in der Verantwortung, für
die Einhaltung der Menschenrechte und für die Stärkung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft einzutreten.
({11})
Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, die auf Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Stärkung der Zivilgesellschaft ausgerichteten Kräfte in Kuba zu stärken und ihnen nicht in den Rücken zu fallen.
Das so genannte Varela-Projekt, in dessen Rahmen
Unterschriften für die Abhaltung eines durch die geltende kubanische Verfassung vorgesehenen Referendums gesammelt werden, um unter anderem die Redeund Pressefreiheit durchzusetzen, ist eine bedeutsame zivilgesellschaftliche Initiative, die auf die friedliche Gewährleistung der Grund- und Menschenrechte abzielt.
Bisher konnten in Kuba im Rahmen des Varela-Projekts
etwa 30 000 Unterschriften gesammelt werden, womit
die in der Verfassung vorgesehene Mindestzahl von
10 000 Unterschriften bereits weit überschritten ist.
Aber Herrn Castro interessieren diese Unterschriften
nicht und ihn interessiert erst recht seine eigene Verfassung nicht. Das ist leider eine Tatsache. Das Castro-Regime weigert sich, diese Unterschriftensammlung anzuerkennen und ein entsprechendes Referendum in die
Wege zu leiten. Im Gegenteil: Einem der Initiatoren des
Varela-Projekts, Oswaldo Payá, wird es sogar verweigert, Kuba für Auslandsreisen zu verlassen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Europäische Union hat im vergangenen Jahr, indem sie die so
genannten politischen Maßnahmen gegenüber Kuba gelockert hat, den Versuch gestartet, in einen kritischen
Dialog mit Kuba einzutreten. Heute, ein Jahr später,
müssen wir feststellen, dass auch dieses Entgegenkommen der Europäischen Union auf der kubanischen Seite
leider keine Antwort gefunden hat. Castro bleibt der Betonkopf, der er ist. Er bewegt sich in keine Richtung.
Deswegen muss auf dem bevorstehenden Lateinamerikagipfel der Europäischen Union in Wien ein schonungsloses und offenes Resümee gezogen werden.
Peter Weiß ({12})
({13})
Dazu gehört, dass wir uns auf eine, wie ich glaube,
gute Zukunftsstrategie einstellen müssen. Es ist offenkundig: Das aktuelle kubanische Regime unter Fidel
Castro ist weder reformwillig noch reformfähig. Dennoch gibt es in Kuba, vor allen Dingen in den dortigen
Nichtregierungsorganisationen, viele Menschen, die bereit sind, den demokratischen Wandel ihres Landes
selbst in die Hand zu nehmen. Durch unsere Außenpolitik, unsere Entwicklungszusammenarbeit und unsere
Menschenrechtspolitik sollten wir diejenigen stärken
und unterstützen, die den demokratischen Wechsel und
die Veränderung in Kuba selbst in die Hand nehmen
wollen. Ihnen sollten wir unsere Solidarität beweisen:
nicht nur durch Resolutionen des Bundestages, sondern
auch durch das konkrete Handeln in der deutschen Außenpolitik und in der Entwicklungszusammenarbeit.
({14})
Bedauerlich ist, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in den vergangenen Monaten, was ihre Beziehungen zu Kuba und vor allem ihren Umgang mit den
Dissidenten angeht, eine zum Teil sehr unterschiedliche
Praxis gewählt haben. Jetzt können wir im Bundestag so
viele Resolutionen beschließen, wie wir wollen, wir wissen: Handlungsfähig sind wir und ernst genommen werden wir international vor allem dann, wenn Europa mit
einer Stimme spricht.
({15})
Deswegen habe ich an die Bundesregierung die herzliche Bitte, alles zu unternehmen, damit wir in der Europäischen Union wieder zu einer einheitlichen, klaren, an
den Menschenrechten orientierten Kubapolitik finden
und diese gemeinsam vertreten. Im Interesse der Menschen in Kuba hoffe ich, dass wir damit Erfolg haben.
({16})
Kollege Weiß, wollen Sie Ihre Redezeit verlängern?
Der Kollege Dehm möchte Ihnen eine Zwischenfrage
stellen.
({0})
Ja.
Herr Kollege, Sie haben Fidel Castro als Stalinisten
bezeichnet und auch die Fraktion der Linken in die Nähe
des Stalinismus gerückt; wahrscheinlich würden Sie es
mit Che Guevara auch tun. Meine Frage an Sie: Wissen
Sie, dass der Stalinismus mit Millionen Toten, mit dem
Gulag verbunden ist? Ist dies nicht eine Verharmlosung
des Stalinismus und eine Verhöhnung der Opfer?
({0})
Herr Kollege Dehm, die Verfolgung und Inhaftierung
politischer Dissidenten in Kuba und die Behandlung der
Angehörigen dieser Dissidenten durch das kubanische
Regime ist genau das, was Stalin und andere Machthaber
ähnlicher Couleur uns vorexerziert haben.
({0})
Nun muss ich noch etwas zur Behandlung von Mitgliedern der eigenen Partei oder Fraktion sagen; das ist
etwas, das jede unserer Fraktionen betreffen kann. In allen Fraktionen des Deutschen Bundestages gibt es zu
verschiedenen Fragen unterschiedliche Meinungen.
Dass aber Abgeordnete einer Partei, die auch im Deutschen Bundestag vertreten ist, die im Europäischen Parlament zu Recht zu dem stehen, was Europa ausmacht
- das Bekenntnis zur Würde des Menschen und zu den
Menschenrechten -, dafür gemaßregelt werden, wie sie
gemaßregelt worden sind, das erinnert mich mehr an
Stalin als an Demokratie.
({1})
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegin Marina Schuster, FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Europäische Parlament hat Anfang Februar die nach wie vor verheerende Menschenrechtslage in Kuba kritisiert. Es hat die Mitgliedsländer
und die EU-Institutionen aufgefordert, von Havanna unmissverständlich eine Verbesserung der Situation einzufordern. Das war eine wichtige Resolution unserer europäischen Kollegen, der sich die FDP-Bundestagsfraktion
uneingeschränkt anschließt.
({0})
Die Entschließung des Europäischen Parlaments hat
einige Medienaufmerksamkeit erlangt: Denn ausnahms1968
weise sind einzelne Mitglieder der deutschen Linken
quasi über ihren eigenen Schatten gesprungen und haben
sich erlaubt, an ihrer Ikone Fidel Castro zu kratzen. Erschreckenderweise sind offensichtlich noch nicht alle
Vertreter der Linken so weit, Wahrheiten beim Namen zu
nennen.
Wie ist denn die Lage in Kuba? Die meisten der mutigen Dissidenten des Varela-Projektes sitzen jetzt schon
drei Jahre unter katastrophalen Bedingungen in kubanischen Gefängnissen. Die Angehörigen dieser Inhaftierten, die so genannten Damen in Weiß, werden in ihrem
Einsatz für ihre Angehörigen und für die Menschenrechte unterdrückt; mein Vorredner hat es zur Sprache
gebracht. Immer wieder werden Dissidenten willkürlich
zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die Presse- und Meinungsfreiheit wird vom Castro-Regime genauso unterdrückt wie die Versammlungsfreiheit. Die freie Nutzung
des Internets wird den Kubanern verwehrt, weil das Regime befürchtet, dass die Opposition sonst weiteren
Zulauf erhalten würde. Von einem sozialistischen Musterland - in Anführungszeichen - ist Kuba trotz Verbesserungen bei der Alphabetisierung oder bei der Gesundheitsversorgung meilenweit entfernt.
({1})
Umso bedenklicher ist es, dass sich einige der linkspopulistischen Führer, die kürzlich in Lateinamerika gewählt wurden, ausgerechnet Havanna zum Vorbild zu
nehmen scheinen.
Das zeigt: Wir dürfen Kuba, wo Menschenrechtsverletzungen begangen werden, nicht weiter im doppelten
Wortsinn links liegen lassen. Wir dürfen uns nicht mit
der Haltung zufrieden geben, das Problem werde sich
aufgrund des hohen Alters des kubanischen Revolutionsführers irgendwann von ganz alleine lösen. Das kann
nicht die Antwort auf die Verletzung von Freiheitsrechten sein.
({2})
Deshalb ist die heutige Debatte im Deutschen Bundestag so wichtig. Wir dürfen hierzu nicht schweigen.
Die FDP legt Ihnen aus diesem Grund einen eigenen Antrag vor. Wir begrüßen zwar ausdrücklich den Antrag der
Grünen, in dem sie sich den Forderungen des Europaparlaments anschließen, meinen aber, mit unserem Antrag
über die Forderungen der Grünen hinauszugehen und
konkretere Vorschläge zu machen.
Ich nenne Ihnen einige Punkte unseres Antrags:
Die Auslandsvertretungen der EU-Staaten in Havanna
müssen weiterhin ganz gezielt den Kontakt zu den Oppositionellen und Dissidenten pflegen, auch wenn das
dem Castro-Regime nicht passt.
Europäische und deutsche Entwicklungshilfe für
staatliche Stellen in Kuba lehnen wir ab. Aber diese
Frage stellt sich, zumindest vorerst, nicht, weil Castro
selbst den Europäern die Entwicklungszusammenarbeit
verweigert. Wir halten die Eröffnung eines Goethe-Instituts für die wesentlich sinnvollere und wirkungsvollere Maßnahme, weil so nicht staatliche Strukturen unterstützt würden, sondern die Zivilgesellschaft
unterstützt werden könnte.
In dieselbe Richtung zielt unsere Forderung, die Austauschmöglichkeiten im Schul- und Bildungsbereich
noch weiter zu intensivieren.
Wir glauben, dass das Internet eine wichtige Basis
zur Stärkung der Informations- und Meinungsfreiheit in
Kuba bieten könnte. Wir wollen gemeinsam nach Möglichkeiten suchen, dieses Medium für die Kubaner besser zugänglich zu machen.
Wir meinen, dass die Europäische Union zu einer kritischen Kubapolitik kommen muss, bei deren Formulierung sich auch die deutsche Bundesregierung stärker und
aktiver einbringen muss. Wir sind gerne bereit, nach
Überweisung der Anträge an die Ausschüsse an einem
interfraktionellen Entschließungsantrag mitzuarbeiten;
denn das wäre ein wichtiges, ein überparteiliches Signal
an das Regime in Havanna.
Vielleicht geschehen ja noch Zeichen und Wunder
und einige Kollegen der Linken im Deutschen Bundestag sind bereit, sich mit der Realität in Kuba kritisch auseinander zu setzen,
({3})
so, wie das die drei linken Einzelkämpfer im Europaparlament schon getan haben. Denn ich meine: Das Eintreten für die Freiheits- und Menschenrechte verdient und
erfordert die breite Unterstützung in diesem Hohen Haus
und kein Wegschauen zugunsten eines fälschlicherweise
romantisierten Bildes von Kuba als „Sozialismus unter
Palmen“.
({4})
Ich erteile das Wort Kollegen Christoph Strässer,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt, wie
schon gesagt worden ist, zu der heutigen Debatte keinen
eigenen Antrag der Koalitionsfraktionen. Wir in der
SPD-Fraktion sind der Auffassung, dass der richtige Termin, intensiv über diese Problematik zu diskutieren, im
Mai oder Juni sein wird, wenn es in Wien zum EU-Gipfel zu Lateinamerika und der Karibik - er ist schon
genannt worden - kommen wird. Dann werden wir uns
mit dem Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen
in Kuba sehr vehement in diese Diskussion einmischen
und werden sie begleiten. Sie können davon ausgehen,
dass wir uns in dieser Diskussion neben den anderen
Themen, um die es gehen wird, zu den Menschenrechtsverletzungen in Kuba äußern werden.
({0})
Es besteht Anlass, dann über dieses Thema zu sprechen. In der aktuellen Diskussion über die Entschließung
des EU-Parlaments ist über den Anlass zum Teil schon
gesprochen worden. Ich will das nicht alles wiederholen.
Ich möchte aber Folgendes deutlich machen: Wenn es
um Menschenrechte geht, höre ich von der linken Seite
den einen oder anderen Zwischenruf, wie zum Beispiel
das Stichwort „Folterverbot“.
({1})
Ich darf daran erinnern, dass wir in der Diskussion zum
Folterverbot vor circa einem Jahr in diesem Hause gegen populistischen Widerstand und gegen populistische
Medienschelte klargestellt haben, dass das Folterverbot
in diesem unserem Land absolute Geltung hat, während
Ihr jetziger Fraktionsvorsitzender durchs Land gereist ist
und gesagt hat, man müsse in bestimmten Situationen
über Relativierungen nachdenken. Sie sollten erst vor Ihrer eigenen Haustür kehren, bevor Sie die Unantastbarkeit der Menschenrechte ansprechen. Das will ich Ihnen
ganz deutlich sagen.
({2})
Es geht weiter: Ich bin mir sehr sicher, dass wir die
Diskussion über die Geltung der Menschenrechte in
Kuba auch in eine politische Diskussion mit einbetten
müssen. Auch kubanische Oppositionelle, die im Land
geblieben sind, sind wie ich der Auffassung, dass das
Helms-Burton-Gesetz und die Blockade der USA eben
nicht dazu beitragen, Kuba die Gelegenheit zu geben, an
bestimmten Stellen Fortschritte zu machen. Ich finde,
das sollte man auch politisch deutlich benennen, und das
tue ich an dieser Stelle.
({3})
Auch das will ich klar sagen: Damit ist aber nicht verbunden, über das, was im Lande vorgeht und von dem
wir durch internationale Menschenrechtsorganisationen
wissen, zu schweigen. Dazu werden und dürfen wir nicht
schweigen.
({4})
Deshalb zitiere ich aus einem, wie ich hoffe, auch aus Ihrer Sicht unverfänglichen Bericht, nämlich dem Jahresbericht 2005 von Amnesty International:
Das US-Embargo und damit verbundene Sanktionen wirken sich nach wie vor nachteilig auf die
wirtschaftlichen Rechte der Bürger aus.
Ich zitiere noch einmal und wiederhole:
… wirken sich nach wie vor nachteilig auf die wirtschaftlichen Rechte der Bürger aus.
Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Das ist so. Wer das
aber zum Anlass nimmt, über die Verletzung der bürgerlichen und der Freiheitsrechte auf dieser Insel zu schweigen und die Verantwortlichen falsch zu benennen, der
betrügt die Menschen in Kuba, die im Knast sitzen, die
ausreisen und nichts anderes wollen, als ihre Meinung zu
sagen, und die in Europa zu Recht einen Menschenrechtspreis bekommen haben, den sie nicht annehmen
dürfen. Dazu schweigen wir nicht.
({5})
Ich finde, das ist eine klare Aussage: Sie können die
Blockadepolitik der USA doch nicht dafür verantwortlich machen, dass in Kuba Menschen im Knast sitzen,
weil sie ihre Meinung sagen wollen. Das geht doch wohl
nicht. Das ist doch eine völlige Verkennung der allgemeinen Rechte, die wir uns lange erstritten haben.
({6})
Weil wir das ja unter menschenrechtlichen Aspekten
diskutieren, möchte ich an dieser Stelle auch noch einmal daran erinnern, dass das, was dort eingeklagt wird,
nichts Neues ist und auch nichts mit Imperialismus zu
tun hat. Das ist das Einklagen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1948, in der
steht, dass jeder Mensch in der Lage sein muss und das
Recht hat, sein Land zu verlassen und wieder dorthin zurückzukehren, wann er es will.
({7})
Das ist in der Geschichte nicht immer praktiziert worden, aber jetzt sollten wir es damit wirklich einmal ernst
meinen. Unter diesem Aspekt glaube ich, dass es gut und
richtig ist, die Menschenrechtslage in Kuba - eingebettet
in die politische Diskussion - zu thematisieren und darüber zu reden.
Ganz zum Schluss sei auch mir ein wenig Polemik
gestattet. Ich habe einer Presseerklärung Ihrer Partei entnommen - es war der letzte Satz -: Die PDS.Linkspartei
steht fest an der Seite des kubanischen Volkes.
({8})
Wer solche Freunde wie Sie hat, der braucht keine Sorge
zu haben, dass er keine Gegner mehr hat. Solche
Freunde brauchen wir nicht. Wir werden im Deutschen
Bundestag dafür sorgen, dass das kubanische Volk aus
Deutschland die Unterstützung für die Umsetzung seiner
wirtschaftlichen, sozialen und Menschenrechte erhält,
die es braucht.
Danke schön.
({9})
Ich erteile Kollegen Michael Leutert, Fraktion Die
Linke, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst: Ich freue mich sehr, dass die Linke im Bundestag
Platz genommen hat und ich die Möglichkeit habe, hier
einen alternativen Standpunkt darzulegen.
Lassen Sie mich, damit keine Missverständnisse aufkommen, gleich am Anfang sagen: Auch die Linke weiß
sehr wohl, dass es in Kuba zu Verletzungen von Menschenrechten kommt.
({0})
Im Unterschied zu Ihnen haben wir mit den Kubanerinnen und Kubanern aber sehr oft darüber gesprochen. Das
Problem bei dieser Debatte ist doch, dass es Ihnen - das
haben Ihre Debattenbeiträge gezeigt - überhaupt nicht
um die Menschenrechte und die Menschen in Kuba geht.
Sie haben lediglich das Abstimmungsverhalten im Europäischen Parlament und die Debatte in unserer Partei
dazu beobachtet.
({1})
Jetzt glauben Sie, unsere Fraktion mit solchen Anträgen
hier vorführen zu können.
({2})
- Herr Beck, es gab Zeiten, als Ihre Partei die Menschenrechte ernst genommen hat. Ich denke aber, dass diese
Zeiten, seit Sie ernsthaft meinten, die Menschenrechte
im Kosovo mit Bomben auf Belgrad verteidigen zu müssen, vorbei sind.
({3})
Sie haben unter dem Deckmantel der Menschenrechte
einen Krieg mit angezettelt, der Tausende von unschuldigen Opfern gefordert hat. Das ist ein rein instrumentelles Verhältnis zu Menschenrechten. Ein solches Verhältnis lehnen wir ab - das ist bezeichnend -; denn das ist
unerträglich.
({4})
Kollege Leutert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Na klar.
Finden Sie, dass der Besuch von Herrn Gysi bei Herrn
Milošević die angemessene Antwort auf die Menschenrechtssituation im ehemaligen Jugoslawien war?
({0})
Ja, Herr Beck, weil wir auf Dialog setzen, um die
Menschenrechtssituation zu verbessern. Hören Sie einfach weiter zu. Dazu komme ich noch.
({0})
Punkt eins: Die erste Forderung bei Menschenrechten
ist, dass sie überall gleich gelten sollen. Punkt zwei:
Menschenrechtsverletzungen sollen überall da, wo sie
stattfinden, gleichermaßen gerügt werden. In Bezug auf
Saudi-Arabien oder die Volksrepublik China stelle ich
einen völlig anderen Umgang als bei Kuba fest.
({1})
Dort wird über ökonomische Beziehungen und über Gespräche versucht, schrittweise eine Verbesserung der
Menschenrechte zu erreichen, was ich begrüße. Aber
warum gehen Sie diesen Weg bei Kuba nicht? Das ist
meine Frage.
({2})
Es gibt zum Beispiel einen Dialog über die Menschenrechte mit China.
Kuba ist auch mit den ehemals sozialistischen Staaten
in Osteuropa nicht vergleichbar.
({3})
In Kuba hat es eine Revolution gegen den absolut korrupten Diktator Batista gegeben.
({4})
Das haben die USA bis heute nicht verkraftet. In Havanna gibt es keine offizielle Botschaft der USA. Aber
es gab sehr wohl immer eine Botschaft der USA während des Pinochet-Regimes in Chile und unter dem Faschisten Franco in Spanien.
({5})
Dort gab es offensichtlich nie Probleme.
({6})
Von Anfang an haben die USA ein Embargo über
Kuba verhängt. Firmen werden Sanktionen angedroht,
wenn sie Wirtschaftsbeziehungen zu Kuba unterhalten.
Bekannt ist ebenso, dass die USA nicht bloß bereit dazu
waren, sondern die Invasion in der Schweinebucht tatsächlich durchgeführt haben. Bekannt dürfte auch Ihnen
sein, dass der demokratisch gewählte Präsident von
Chile, Salvador Allende, in einem reaktionären Militärputsch gestürzt wurde, der von den USA und ihrem Geheimdienst CIA unterstützt wurde.
({7})
Ich möchte, dass zur Kenntnis genommen wird, dass
sich die Politik unter genau diesen Umständen in Kuba
entwickelt hat. Diese Politik in Kuba hat verschiedene
Seiten und ist differenziert zu bewerten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Toncar von der FDP-Fraktion?
Wenn das nicht von meiner Redezeit abgeht, ja.
Nein, das geht es nicht.
Die Frage ist kurz. Wie ist die Haltung der Linkspartei zu den beiden vorgelegten Anträgen?
({0})
Hören Sie zu, ich komme gleich darauf zu sprechen.
Ich komme jetzt zu der Differenzierung. In Kuba gibt
es im Bildungs- und Gesundheitswesen Standards, wie
man sie in keinem anderen südamerikanischen Land findet. Kuba hat Standards erreicht, die sich mit europäischen Standards messen lassen können. Ich darf auch an
Folgendes erinnern: In der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte wird in Art. 22 die soziale Sicherheit
garantiert. Das sollte man auch in Deutschland immer
wieder erwähnen.
({0})
Ferner wird in Art. 26 das Recht auf Bildung festgeschrieben.
({1})
- Es geht um etwas anderes. Von solchen Leistungen
und Zusammenhängen ist in Ihren Anträgen niemals die
Rede gewesen. Solange so etwas nicht differenziert betrachtet wird, kann meine Fraktion einem solchen Antrag niemals zustimmen.
({2})
Auch wir sind nicht einseitig. Wir sagen sehr wohl,
dass Kuba bei der Einschätzung seiner Sicherheitslage
einige falsche Schlussfolgerungen gezogen hat.
Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit. Sie geht
zu Ende.
Ich bin gleich fertig. Ich habe sie so oft unterbrochen.
Daher bitte ich jetzt um Nachsicht.
Das wird nicht angerechnet. Gestatten Sie noch eine
Zwischenfrage des Kollegen Trittin, die Sie dann allerdings beantworten müssen?
Ich komme zum Ende.
({0})
Wir haben von Anfang an die Todesstrafe nicht nur in
Kuba kritisiert, sondern auch in den USA, in China und
anderen Ländern.
({1})
Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit überschritten.
Wir aber führen diesen Dialog gemeinsam mit den
Kubanerinnen und Kubanern.
Ich muss jetzt leider meine Rede beenden. Ich hätte
für Sie noch einige Argumente parat. Aber Sie können
meine Rede gerne ausgehändigt bekommen.
Danke.
({0})
Das Wort hat nun für die SPD-Fraktion der Kollege
Sascha Raabe.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man
Sie so reden hört, dann glaubt man fast, die ganze Welt
zwingt den armen Fidel Castro, Menschen einzusperren
und die Meinungsfreiheit zu missachten. Das ist doch lächerlich. Das können Sie keinem ernsthaft begreiflich
machen.
({0})
In Kuba sagt man: „Jeder Kopf ist eine Welt“, doch
was nutzt es einem Menschen, die Welt im Kopf zu haben, wenn er sich weder frei äußern noch reisen kann?
Eine Gesellschaft kann sich nur entwickeln, wenn sie
frei ist - sowohl gedanklich als auch physisch. Entwicklungszusammenarbeit kann entscheidend dazu beitragen, dass Menschenrechte und Grundfreiheiten in einer
Gesellschaft implementiert werden.
Formal ist Kuba ein Partnerland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit; doch 2003 hat die kubanische Regierung diese staatliche Entwicklungszusammenarbeit einseitig aufgekündigt. Das zeigt, dass diese
Regierung ein falsches Verständnis von Entwicklungspartnerschaften besitzt.
({1})
Denn bei der deutschen Entwicklungszusammenarbeit
geht es um Menschen und nicht um das politische Kalkül einer Regierung. Wir lassen uns nicht davon beeindrucken, sondern setzen unsere Entwicklungszusammenarbeit über Nichtregierungsorganisationen wie die
kirchlichen Hilfswerke und politischen Stiftungen fort.
Wir wollen auch weiterhin Wandel durch Entwicklung
und Zusammenarbeit erreichen und wir werden die kubanische Bevölkerung nicht ausgrenzen, sondern stärken.
({2})
Gleichwohl ist unsere Position zu den Menschenrechtsverletzungen durch die kubanische Regierung
glasklar. Wir erkennen durchaus an, dass für lateinamerikanische Verhältnisse die Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik in Kuba nicht schlecht ist.
({3})
Wir kritisieren auch die US-Blockadepolitik, die in gewisser Weise das System stabilisiert und der Bevölkerung schadet. Wir haben in diesem Hause schon genug
Beschlüsse zu den Menschenrechtsverletzungen in
Guantanamo Bay gefasst.
Aber - jetzt müssen Sie genau zuhören - dass die
Zahl der politischen Gefangenen im Jahr 2005 auf über
333 gestiegen ist, ist nicht hinnehmbar. Das verurteilen
wir. Deshalb stehen wir ohne Abstriche zu der Resolution des Europäischen Parlaments und wir unterstützen
die Parlamentarier, die sich dafür ausgesprochen haben.
({4})
Wir verurteilen auch das Vorgehen des Parteivorstandes der Linkspartei.
({5})
Durch Ihre Haltung beweisen Sie, dass Ihre Führungskräfte die Rede- und Meinungsfreiheit nicht ernst meinen, sondern Ihren eigenen Kollegen einen Maulkorb erteilen wollen. Durch ihre unkritische Unterstützung der
kubanischen Regierung entlarvt sich Ihre Linkspartei. Es
ist eben keine Linkspartei, sondern es ist die PDS/ML,
die alte SED mit Oskar Lafontaine an der Spitze,
({6})
einem Oskar Lafontaine, der unser demokratisch gewähltes Parlament als „Schweinebande“ und „Plapperfritzen“ diffamiert, während er mit Castros Genossen ungeniert Rotwein trinkt und mit Castro Zigarren qualmt.
({7})
Es gab schon einmal einen rechten Populisten - nämlich Roland Schill -, der aus Hamburg nach Kuba auswandern wollte. Dort könnte er sich gut mit Ihrem Oskar
Lafontaine treffen. Rechts- und Linkspopulisten gehören
vielleicht dorthin, aber nicht in den Deutschen Bundestag.
({8})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gehrcke von der Fraktion Die Linke?
Ja.
Bitte sehr.
Herr Kollege, wollen Sie zur Kenntnis nehmen, dass
ich die Zigarren aus Kuba immer Gerhard Schröder und
nicht Oskar Lafontaine mitgebracht habe, der nach meiner Kenntnis gar nicht raucht?
({0})
Was die Erklärung des Parteivorstandes der Linkspartei angeht, haben wir zwar unseren Kollegen im Europaparlament gesagt, dass wir anders abgestimmt hätten;
wir haben aber ihr Recht, so abzustimmen, wie sie abgestimmt haben, stets unterstrichen und nur darauf hingewiesen, dass Folgendes unsere Zustimmung nicht gefunden hätte: eine einseitige Schuldzuweisung an Kuba, die
Normalisierung der Beziehungen zur Europäischen
Union vereitelt zu haben, und die Aufforderung an den
Rat, Maßnahmen zu ergreifen. Wir stellen keine Blankoschecks aus. Ich finde, eine solche Kritik ist in einer Partei angemessen. Ich frage Sie, ob Sie den Text der Entscheidung des Parteivorstands überhaupt gelesen haben.
({1})
Ja, ich habe den Text gelesen, auch wenn es ein größeres Vergnügen gibt, als so einen unmöglichen Text zu
lesen.
({0})
Darin steht, dass die Linkspartei der Auffassung ist, dass
das kubanische Modell bis heute positiv auf Lateinamerika ausstrahle.
({1})
Wer einen solchen Unsinn erzählt, dass nämlich Unterdrückung, Repression und Missachtung der Meinungsfreiheit auf ganz Lateinamerika ausstrahlen sollen, der
ist noch dem alten Denken verhaftet, dem sich die Mehrheit Ihrer Mitglieder verpflichtet gefühlt hat. Der
wünscht sich die DDR zurück und ist vielleicht in Kuba
besser aufgehoben als hier.
({2})
Ich möchte in meiner Rede ein weiteres kubanisches
Sprichwort zitieren: Ein Licht, das von innen her leuchtet, kann niemand löschen. - Wir, der Deutsche Bundestag, fordern Herrn Castro auf, die Millionen Lichter zu
sehen, die in den Herzen der Kubaner auf der ganzen
Welt leuchten. Es ist nicht das Staatsmodell, das strahlt.
Es ist eine Verhöhnung der unterdrückten kubanischen
Menschen, wenn Sie von der Linkspartei sagen, dass das
kubanische Modell bis heute positiv auf Lateinamerika
ausstrahle. Sie von der Linksfraktion sollten höchstens
vor Schamesröte strahlen. Wer auf dem linken Auge so
blind ist wie Sie, der sollte in Zukunft Worte wie „Solidarität“ und „Gerechtigkeit“ nicht mehr in den Mund
nehmen. Vom Freiheitsbegriff haben Sie sowieso keine
Ahnung.
({3})
Wir Sozialdemokraten werden den Dialog mit der
kubanischen Bevölkerung fortsetzen. Wir wollen des
Weiteren Wandel und Entwicklung auf Kuba durch Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen ermöglichen. Wir werden uns aber weiterhin ganz klar zu
den dortigen Menschenrechtsverletzungen äußern. Es
stünde Ihnen gut an, meine Damen und Herren von der
Linksfraktion, wenn Sie sich daran beteiligten, anstatt in
alte Zeiten zurückzufallen und uns, das demokratisch gewählte Parlament, durch Ihren Fraktionsvorsitzenden beschimpfen zu lassen, während Sie sich gemeinsam mit
den demokratisch nicht legitimierten Machthabern Kubas irgendwo an den Strand in die Sonne legen.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 16/934 und 16/945 zu überweisen, und
zwar zur federführenden Beratung an den Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss sowie den
Ausschuss für Kultur und Medien. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
will ich auf den Debattenverlauf in der gestrigen Aktuellen Stunde Bezug nehmen. In diesem Debattenverlauf
hat die Kollegin Claudia Roth gegenüber dem Kollegen
Dirk Niebel die Bemerkung „Herr Kollege, sind Sie bescheuert?“ geäußert. Weder meine Schriftführer noch ich
haben dies akustisch zur Kenntnis nehmen können; es
war hier oben nicht zu hören. Ich habe deshalb gestern
nicht darauf reagiert. Nun ist diese Bemerkung aus dem
Protokoll ersichtlich. Ich möchte deshalb darauf hinweisen, dass ich die Bemerkung „Herr Kollege, sind Sie bescheuert?“ als unserem parlamentarischen Sprachgebrauch nicht angemessen erachte, und erteile deshalb
eine Rüge.
({0})
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung
- Drucksache 16/400 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
- Drucksache 16/970 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Horst Meierhofer
Lutz Heilmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Gerd Bollmann von der SPD-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Erfolgreiche Abfallpolitik muss einfach und effizient
sein. Abfallpolitik heißt für uns Sozialdemokraten in erster Linie Abfallvermeidung. Entstehender Abfall muss
nach Möglichkeit sinnvoll recycelt, das heißt stofflich
oder rohstofflich wieder verwendet werden. Ganz besonders wichtig ist jedoch, dass Entstehung, Zwischenlagerung, Transport und die Verwertung bzw. die Beseitigung von Abfällen Mensch und Umwelt nicht
gefährden. Zur Erreichung dieser Ziele gibt es zahlreiche
Gesetze, Verordnungen und auch entsprechende Überwachungsvorschriften. Diese Vorschriften sind jedoch
teilweise zu bürokratisch und behindern eine wirksame
Überwachung im Abfallrecht mehr, als dass sie zur Erreichung unserer Ziele beitragen. Die Praxis hat gezeigt,
dass einzelne Bestimmungen in der abfallrechtlichen
Überwachung nur eine Papierflut auslösen, ohne dass
es zu einem erkennbaren Nutzen für den Umweltschutz
kommt. Es ist daher notwendig und sinnvoll, die abfallrechtliche Überwachung zu vereinfachen.
Der heute vorgelegte Gesetzentwurf leistet dies und
stellt vor allen Dingen sicher, dass eine Gefährdung von
Mensch und Umwelt nicht stattfindet. Mit dem Gesetz
zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung
reagieren wir auf Forderungen von Umweltverbänden,
Verwaltung und Unternehmen. Mit der Vereinfachung
des Vollzugs helfen wir den Umweltbehörden bei der
Kontrolle. Wir senken den Vollzugsaufwand und entlasten Unternehmen. Einfach ausgedrückt: Wir bauen Bürokratie ab, verringern Personalkosten und sparen Zeit.
Das Wichtigste aber ist: Die Vereinfachung sorgt für eine
effizientere Überwachung und damit für eine Stärkung
des Umweltschutzes.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist damit ein Teil des
von der Koalition geplanten Bürokratieabbaus. Er ist
ein gutes Beispiel dafür, wie Bürokratieabbau funktionieren muss. Bürokratieabbau heißt unserer Ansicht
nach Abbau unnötiger Vorschriften und effizienter Vollzug. Keinesfalls darf Bürokratieabbau zu der Senkung
von Umweltstandards, Sozialstandards und Verbraucherrechten führen.
({0})
Wir müssen verhindern, dass unter dem Deckmantel des
Bürokratieabbaus Arbeitnehmerrechte sowie Beteiligungsrechte von Bürgern und Verbänden abgebaut werden. Insbesondere im Umweltbereich darf Bürokratieabbau nicht zu einem geringeren Schutz von Mensch,
Natur und Umwelt führen. Wir müssen die Mitsprache-,
Beteiligungs- und Einspruchsrechte von Bürgern und
Verbänden erhalten. Andererseits gibt es im Umweltschutz vielfältige Beispiele für sinnlose Bürokratie wie
Mehrfachprüfungen, doppelte Zuständigkeiten, überflüssige Formulare, veraltete Verfahren und vieles mehr.
Hier gilt es zu vereinfachen. Unser Ziel muss es sein,
den Aufwand zu verringern und damit gleichzeitig einen
effizienteren Umweltschutz zu erreichen. Diesen Weg
wollen wir weitergehen. Die Voraussetzung erfüllt der
Entwurf zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung.
Im Kern geht es bei dem heute vorgelegten Gesetzentwurf darum, das deutsche Abfallrecht mit dem EURecht zu harmonisieren und moderne Kommunikationstechniken in der abfallrechtlichen Überwachung
einzuführen. Mit der Anpassung an das europäische
Gemeinschaftsrecht erleichtern wir die Tätigkeit grenzüberschreitender Unternehmen. Dies ist in Zeiten zunehmender Globalisierung für die Wirtschaft von großer
Bedeutung. Darüber hinaus wird die reibungslose Umsetzung künftiger Änderungen verbessert. Gleichzeitig
wird sowohl im abfallrechtlichen Nachweisverfahren als
auch in den Einzelverordnungen über die Verwertung
und Beseitigung bestimmter Abfälle die elektronische
Form eingeführt. Damit werden die heutigen technischen Möglichkeiten genutzt, um die Nachweisführungen zu vereinfachen.
Nach dem derzeit gültigen Recht werden den zuständigen Überwachungsbehörden rund 125 000 Entsorgungsnachweise und 2,5 Millionen Begleitscheine pro
Jahr zur Prüfung vorgelegt. Mit der Umstellung auf elektronische Nachweisverfahren verringern wir diesen unglaublichen Papierwust und helfen allen Beteiligten. Die
Nutzung moderner Kommunikationswege entlastet Behörden und Unternehmen und vereinfacht den Datenaustausch. Vor allem aber ermöglicht das neue Verfahren
eine schnellere und effizientere Überwachung. Wir passen das Verfahren den in vielen Unternehmen und öffentlichen Dienststellen bereits üblichen elektronischen
Kommunikationsformen an. Uns ist bewusst, dass die
Umstellung für einige Beteiligte anfangs auch Probleme
bereiten wird. Darum sind beim Vollzug Übergangsfristen und Abweichmöglichkeiten eingeräumt worden.
Letztendlich werden aber alle Beteiligten bei entsprechender Bereitschaft von dem neuen System profitieren.
Weiterhin werden in einzelnen Überwachungsbereichen wichtige Vereinfachungen vorgenommen. Diese
Vereinfachungen betreffen insbesondere Vorschriften,
die in der Vergangenheit keinen Beitrag zur Verbesserung der Abfallwirtschaft leisteten. Beispielsweise hat
die Pflicht zur Führung betrieblicher Abfallkonzepte und
-bilanzen keine positiven Auswirkungen gehabt. Zukünftig entfällt daher diese Pflicht.
Dieses Gesetz ist im intensiven Dialog mit den Bundesländern und der Wirtschaft entstanden. Noch in den
letzten Wochen wurden auf Initiative Bayerns Änderungswünsche der Bundesländer eingearbeitet. Es wurde
zum Beispiel eine Bußgeldbewehrung für Verstöße gegen das elektronische Nachweisverfahren aufgenommen. Dies wird von der SPD-Fraktion ausdrücklich begrüßt. Dabei wird jedoch auch sichergestellt, dass die
Bußgeldbewehrung nur gewichtige Verstöße betrifft.
Diese Änderung ist, wie die weiteren Verbesserungen,
mit den beteiligten Ministerien und Ländern abgesprochen.
Die intensiven Gespräche und Beratungen sichern
diesem Gesetz eine breite Akzeptanz. Der vorgelegte
Entwurf ist ein gutes Beispiel für die Verbesserung von
Effizienz und Umweltschutz durch Bürokratieabbau.
Wir halten ihn für sinnvoll und notwendig und bitten um
Ihre Unterstützung.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun der Kollege Horst Meierhofer für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Mit diesem Gesetzentwurf zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung soll einerseits das deutsche
Recht an die europäischen Vorgaben sowohl in technologischer als auch in struktureller Hinsicht angepasst werden. Zugleich sollen durch den hier vorliegenden Entwurf die Unternehmen der Wirtschaft und auch die
Vollzugsbehörden von nicht notwendigen bürokratischen und arbeitsaufwendigen Pflichten entlastet werden.
Die FDP begrüßt ausdrücklich das Ziel dieses Gesetzentwurfs. Durch ihn verbessert sich die Effizienz der abfallrechtlichen Überwachung. Bürokratie wird abgebaut
und zugleich wird der abfallrechtliche Überwachungsapparat dereguliert. Das Beste ist: Das alles geschieht ohne
jegliche Qualitätseinbußen.
({0})
Um ein kleines bisschen Wasser in den Wein zu gießen: Der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen
war bereits Mitte Januar dieses Jahres bekannt, dass es
zu Doppelungen in diesem Gesetz und im Bürokratieabbaugesetz kommt. Aber erst in dieser Woche - ich
glaube, es war vorgestern - wurden Änderungs- und
Streichungsanträge an uns weitergegeben. Wäre man
boshaft, könnte man sagen: Das ist eine Schlamperei.
Aber gutmütig, wie wir nun einmal sind, sagen wir: Besser spät als nie. Jetzt haben wir ja ein gutes Resultat.
({1})
Eine europaweit einheitlich geregelte Überwachung
erleichtert natürlich den Vollzug, insbesondere bei
grenzüberschreitenden Abfalltransporten in andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Wir als Liberale
wollen, dass die abfallrechtlichen Vorgaben in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein einheitlich hohes Niveau erreichen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, sich in allen Gesprächen auf europäischer
Ebene auch weiterhin dafür einzusetzen, dass dieser
hohe Standard überall in Europa erreicht wird und dass
die Überwachungsbestimmungen zudem überall unbürokratisch ausgestaltet werden.
Sie alle wissen, dass die bisherige abfallrechtliche
Überwachung einen enormen bürokratischen Aufwand
darstellte - Herr Bollmann hat mehrfach darauf
hingewiesen -, nicht nur für die Überwachungsbehörden, sondern auch und vor allem - das ist wahrscheinlich
das Entscheidende - für die betroffenen Unternehmen.
Mit der Einführung eines bundesweiten EDV-Verbunds zwischen Wirtschaft und Überwachungsbehörden
durch ein elektronisches Nachweisverfahren - so wird
es genannt - soll die abfallrechtliche Überwachung erheblich erleichtert werden. Auch wir glauben, dass dies
geschieht. Gerade für die kleinen und mittelständischen
Unternehmen ist es ein großer Vorteil. Deshalb begrüßen
wir es außerordentlich.
Dass die bisherige abfallrechtliche Überwachung einen immensen bürokratischen Aufwand bedeutete, sieht
man, wenn man sich vergegenwärtigt, dass für die - wie
es bisher hieß - „besonders überwachungsbedürftigen
Abfälle“ - zukünftig nur „gefährliche Abfälle“ genannt bislang bundesweit jährlich etwa 60 000 Entsorgungsnachweise, 20 000 Sammelentsorgungsnachweise und
1,5 Millionen bis 2 Millionen Abfallbegleitscheine
- Herr Bollmann hat sie bereits angesprochen - ausgestellt und natürlich auch kontrolliert werden mussten.
Solche Papierberge soll es künftig nicht mehr geben.
Das ist ein Fortschritt, den die FDP-Fraktion natürlich
sehr begrüßt.
({2})
Man muss bedenken - auch da haben mich die Ausführungen von Herrn Kollegen Bollmann sehr positiv
gestimmt -, dass die kleinen Unternehmen nicht überfordert werden dürfen. Es ist nämlich nicht so, dass auch
die kleinen Abfallentsorger bereits jetzt über sämtliche
Möglichkeiten hinsichtlich Hardware und Software verfügen, um diese Systeme sofort umzustellen. Deswegen
braucht man zum einen die genannten Fristen und zum
anderen sollte der Aufwand bei den Hardwareanforderungen so gering wie möglich gehalten werden und sollten auch die Softwareprogramme so ausgestaltet werden,
dass sie einfach und ohne großen Aufwand genutzt werden können.
Eines der Ziele der Abfallwirtschaftskonzepte bzw.
der Abfallbilanzen war es, den Betrieben, die große
Mengen an Abfällen produzieren, Planungsinstrumente
zu reichen, damit sie ihr Abfallaufkommen verringern
können. Es hat sich aber leider gezeigt, dass die Vorgaben der Abfallwirtschaftskonzept- und -bilanzverordnung in ihrer praktischen Umsetzung für die Unternehmen zu starr und zu unflexibel waren und aus diesem
Grund leider nicht gefruchtet haben. Deswegen ist es
vollkommen richtig, sowohl die Pflicht zur Aufstellung
von Konzepten und Bilanzen als auch die entsprechende
Verordnung zu streichen.
Wir als FDP werden dem Gesetzentwurf zustimmen,
weil wir für Entbürokratisierung und Deregulierung eintreten, in allen Bereichen und gerade in diesem. Wir fordern die Bundesregierung zugleich auf, von den in das
Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz neu aufgenommenen Rechtsverordnungsermächtigungen mit Augenmaß Gebrauch zu machen, damit dieser wichtige und
richtige Schritt, den wir hier heute tun, in vollem Umfang Wirkung zeigt.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat nun der Kollege Michael Brand, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir als CDU/CSU begrüßen natürlich sehr, dass der
Bund und die Länder mit der Einführung der elektronischen Nachweisführung für gefährliche Abfälle allen
Beteiligten die Tür öffnen zu effizienter, moderner und
kostengünstiger Handhabung ihrer jeweiligen Pflichten.
Diese Pflichten, die sich aus der notwendigen Überwachung von gefährlichen Abfällen ergeben, bestehen zum
Schutz der Umwelt und sie sollten den Informationsaustausch zwischen den Beteiligten im kompletten Verlauf
der so genannten Entsorgungskette ebenso effizient und
lückenlos ermöglichen wie die Überwachung durch die
Vollzugsbehörden der Länder. Wir stimmen als CDU/
CSU diesem Weg, im Übrigen nicht nur im Umweltbereich, ausdrücklich zu und wir verfolgen dabei die vor
allem für die mittelständische Wirtschaft so wichtigen
Ziele: Effizienz und weniger Bürokratie.
({0})
Dies ist der Bundesregierung in Zusammenarbeit mit
den Ländern und unter tatkräftiger Mithilfe des Parlaments auch zum größten Teil gelungen. Eine Beratung
im Parlament wäre aber keine Beratung, wenn wir als
Vertreter des Souveräns unsere Aufgabe nicht ernst nehmen würden, der Exekutive auch noch ein paar gute Ratschläge oder, anders gesagt, ein paar gut gemeinte Vorgaben zu machen. Über einige wenige Vorgaben für die
weitere Handhabung der Nachweispflichten möchte ich
hier deshalb kurz sprechen.
Vor einigen Wochen habe ich hier im Deutschen Bundestag für die Union vorgetragen, dass wir eine Einigung
zwischen der Bundesregierung und den Ländern im
laufenden Verfahren empfehlen. Mittlerweile hat es
zwischen den beteiligten Ministerien auf Bundes- und
Länderebene insbesondere einen Austausch darüber gegeben, ob und, wenn ja, in welcher Höhe es Bußgelder
für diejenigen geben müsse, die sich zukünftig gegebenenfalls nicht oder nicht wie gefordert an diesem zukünftigen elektronischen Verfahren beteiligen. Nun gibt
es zwischen den Beteiligten durchaus unterschiedliche
Ansichten darüber, wie weit der Staat gehen soll, um die
so genannten Nachweispflichtigen dazu zu veranlassen,
ihren Pflichten nachzukommen. Die Länder redeten von
Beginn an davon, dass ein Bußgeld erforderlich ist. Der
Bund dagegen hielt dies für nicht erforderlich.
Die Länder haben nun mit dem Bund einen Kompromiss gefunden, der sozusagen ein „Bußgeld light“ vorsieht, zum Teil aber den Anwendungsbereich für das
Bußgeld ausweitet. Wir als CDU/CSU sehen dies mit einer gewissen Sorge. Wir regen insbesondere an, im weiteren Verfahren, vor allem bei der Nachweisverordnung
- Herr Meierhofer hat das angesprochen -, klare Grenzen einzuziehen, um eine Überbürokratisierung und Verunsicherung der verantwortlich arbeitenden Mittelständler zu verhindern. Wenn diese Mittelständler
gefährliche Abfälle ordnungsgemäß und verantwortlich
behandeln und mit ihnen sorgsam umgehen, dann dürfen
sie nicht mit der Bußgeldkeule erschlagen werden.
Ich will es einmal deutlich formulieren: Vor allem
kann es nicht sein, dass in der Phase der Einführung der
elektronischen Nachweisführung die Behörden qualifizierte Betriebe deshalb „unter Beschuss“ nehmen können, wenn zwar die Hauptsache ordentlich erledigt
wurde, aber der dazugehörende „Papierkram“ nicht erledigt wurde oder - ich muss es präziser sagen - der „elektronische Kram“ nicht oder noch nicht perfekt funktioniert. Es darf im Übrigen auch nicht so sein, dass der
kleine und mittelständische Betrieb durch eine Praxis der
Umweltministerien benachteiligt wird, die auf zu viel
elektronische Wege setzt und damit die Kleinen gegenüber den Großen mit ihren Spezialisten benachteiligt.
Das ist das, was der Kollege Bollmann eben ausgeführt
hat. So habe ich gestern auch die Ausführungen vom
Kollegen Meierhofer im Ausschuss verstanden und es
hat tatsächlich Hinweise auf eine solche Praxis aus vergangener Zeit, zum Beispiel in Grün-geführten Umweltministerien, gegeben, die nicht im Einzelnen geprüft,
wohl aber für die kommende Praxis beachtet werden
müssen. Insofern unterliegen natürlich auch die Länder
als Ebene des praktischen Vollzugs unserer Beschlüsse
einer Beobachtung durch den Verordnungsgeber Bundestag.
Ich bitte auch vor diesem Hintergrund den Bundesumweltminister und ehemaligen Ministerpräsidenten
Gabriel, den ausdrücklichen Hinweis der CDU/CSU im
Deutschen Bundestag auf einen fairen Umgang mit den
Recyclingunternehmen in den in den nächsten Tagen anstehenden Beratungen im Bundesumweltministerium
ebenso wie in der anstehenden Sitzung des Umweltausschusses des Bundesrates - er tagt in der nächsten Woche, am 23. März - zu berücksichtigen.
Wenn das elektronische Verfahren vor allem auf
Druck der Länder schon vor der Einführung mit Bußgeldandrohungen gekoppelt werden soll und eben nicht
die weniger scharfe Möglichkeit eines Zwangsgeldes gewählt wurde, dann muss umso mehr auf sorgfältig formulierte und unmissverständliche Ausführungsbestimmungen Wert gelegt werden. Nachdem uns dies auch
vom BMU signalisiert worden ist, fiel uns als CDU/CSU
wie dem Ausschuss insgesamt die Zustimmung zu dem
grundsätzlich sehr sinnvollen vorliegenden Gesetz noch
einmal leichter.
Wir gehen bei diesem wie bei anderen Gesetzesvorhaben als CDU/CSU davon aus, dass der Bundesumweltminister und das ihm unterstehende Ministerium den gegebenen Respekt vor dem Parlament auch dadurch
umsetzen, dass die Abgeordneten nicht mit Fristen für
kurzfristige Änderungen konfrontiert werden, die eine
ernsthafte Prüfung schwer bis unmöglich machen. Nachdem wir auch in dieser Hinsicht klare Signale aus dem
BMU erhalten haben, freuen wir uns auf die weitere Arbeit an diesem Umweltbereich ebenso wie bei anderen
zwischen BMU und Parlament besprochenen Themen.
In diesem Zusammenhang muss sicherlich auch die
Verpackungsverordnung genannt werden, die von der
Leitung des BMU im Ausschuss schon länger zur Beratung angekündigt wurde. Sie hat vor allem deshalb Bedeutung, weil aktuell das Thema „Gelbe Tonne“ bzw.
„Grüner Punkt“ auf allen Ebenen, von Umweltministerkonferenz über die LAGA bis hin zu Kommunen und natürlich im Handel, Industrie und Entsorgungswirtschaft,
massiv diskutiert wird und es einen echten Handlungsbedarf gibt.
Man kann es in den Publikationen, in den Fachbeiträgen lesen: Wenn die bevorstehende Einführung der „trittinschen Pfandregelung“ - schade, dass Herr Trittin
heute nicht hier ist; beim letzten Mal hat er ja ordentlich
getobt, aber heute hat er sich etwas weggeduckt - dazu
führt, dass sozusagen als Nebenwirkung die erfolgreiche
haushaltsnahe Sammlung von Verpackungen zusammenbricht, dann werden wir alle hier im Hohen Haus politisch zur Verantwortung gezogen durch den Vorwurf, wir
hätten uns um dieses Thema nicht ausreichend gekümmert. In die laufende Debatte um die Kommunalisierung, einen nochmaligen Verkauf des DSD und die reale
Gefahr, dass letztlich die Finanzierung der kommunalen
Entsorgungsstrukturen bedroht sein könnte, muss sich
der Bund aktiv einschalten.
Nachdem der Bundesumweltminister mit gutem
Grund die letzte Beratung des hier vorliegenden Gesetzentwurfes für Ausführungen zu einem aktuellen Thema
genutzt hat, muss auch ein Vertreter aus dem Umweltausschuss die Verantwortung wahrnehmen, auf dieses
drängende und Millionen von Menschen betreffende
Thema deutlich hinzuweisen, was ich hiermit bereits getan habe.
Für den uns vorliegenden Gesetzentwurf zur elektronischen Nachweisführung bei gefährlichen Abfällen
kann ich jedenfalls die Zustimmung der CDU/CSU erklären und die anderen Fraktionen ebenfalls zur Zustimmung einladen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun die Kollegin Eva Bulling-Schröter,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister! Im Ausschuss haben die Grünen gestern
vertreten, dass sie, was den Bürokratieabbau beträfe,
zwischen FDP und Linken säßen. Erstere würden ständig undifferenziert den Abbau aller Regularien fordern
und Letztere, also wir, ein Mehr an Kontrolle, so auch
bei der abfallrechtlichen Überwachung.
Ich möchte hier noch einmal einiges richtig stellen.
Die Linke hat ausdrücklich die Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung begrüßt. Wir sind dafür, dass
die elektronischen Begleitscheine eingeführt werden und
die überholte Zettelwirtschaft endlich aufhört.
({0})
Wir haben uns lediglich erlaubt, zu kritisieren, dass bereits im letzten Sommer die Pflicht zur Erstellung betrieblicher Abfallbilanzen und Abfallwirtschaftspläne
weggefallen ist. Wir halten diese Instrumente nämlich
für sinnvoll. Schließlich dienten sie der betriebsinternen
Planung genauso wie den Überwachungsbehörden.
Gleichzeitig möchte ich erneut darauf hinweisen, dass
neben dem wunderschönen Gesetzeswerk eine nicht
mehr ganz so wunderbare Praxis existiert, in der die illegale Abfallentsorgung momentan neue Blüten treibt.
Wenn Tausende Tonnen deutschen Mülls in Tschechien
landen, dann hat das offensichtlich auch mit Problemen
beim Vollzug der abfallrechtlichen Überwachung zu
tun.
({1})
Die Sache ist doch die: Einige Firmen verlagern ihre
Scheinverwertung in Deutschland, die sie bis zur Schließung der Deponien im Juni 2005 betreiben konnten, nun
ins Ausland. Nach Prognosen verschiedener Institutionen müssten jährlich bundesweit etwa 4 bis 5 Millionen
Tonnen behandlungsbedürftiger Abfälle, die bis letztes
Frühjahr hierzulande entgegen gesetzlichen Vorschriften auf Billigdeponien landeten, nunmehr Vorbehandlungsanlagen zugeführt werden. Das kostet Geld; das ist
klar. Deshalb ist es wenig verwunderlich, dass skrupellose Unternehmen Vollzugsdefizite ausnutzen, um den
Müll im Ausland loszuwerden. Osteuropa bietet sich da
momentan besonders an - das wissen wir alle -, weil
hier EU-konforme Verwaltungen noch im Aufbau sind.
In diesem Zusammenhang wurde im Ausschuss darauf
hingewiesen, dass dieses Vorgehen kriminell sei und
nicht eine Folge von Gesetzeslücken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Punkt haben Sie formal Recht. Wenn aber der Vollzug faktisch
nicht möglich ist, dann scheint doch etwas an der Gesetzeslage nicht zu stimmen. Oder? Vielleicht sollten wir
uns einmal vor Augen führen, was momentan an den Ostgrenzen der Bundesrepublik passiert. Herr Meierhofer,
ich empfehle Ihnen, in Ihrer regionalen Zeitung nachzulesen, was zu diesem Thema geschrieben wird.
Der Umfang der deutschen Exporte von gefährlichen
und deshalb notifizierungsbedürftigen Abfällen nach Tschechien und Polen ist förmlich explodiert. Die Masse der
Abfälle, die zur Verwertung nach Tschechien bzw. nach
Polen transportiert wurden, stieg von 19 Tonnen bzw.
233 Tonnen im Jahr 2004 auf 31 000 bzw. 34 000 Tonnen
im letzten Jahr. Das ist eine Zunahme um das 250fache.
Diese Tatsache kann man nicht wegdiskutieren.
Nun sind aber nur gefährliche Abfälle zur Verwertung
notifizierungspflichtig, ungefährliche jedoch nicht. Sie
können frei gehandelt werden. Man kann wohl mit einigem Realismus davon ausgehen, dass über diesen Weg
zig Tausende Tonnen Müll nach Osteuropa wandern,
ohne dass irgendeine Kontrolle möglich wäre. Man
müsste schon reichlich naiv sein, um zu glauben, die
Mehrheit davon werde tatsächlich verwertet. Nicht umsonst klagen tschechische Bürgermeister über die rasante
Zunahme illegaler Abfalldeponien, auf denen Müll aus
Deutschland abgekippt wurde. Gerade hat mir mein Kollege Lutz Heilmann erzählt, dass gestern bei einem Treffen mit einer Delegation tschechischer Studentinnen und
Studenten genau diese Problematik angesprochen
wurde; sie ist also weitgehend bekannt.
Wir denken, eine solche Praxis müssen Ökologinnen
und Ökologen, egal welcher Partei, kritisieren dürfen,
ohne als Bürokraten, wie wir bezeichnet wurden, abgestempelt zu werden. Es ist unsere Sorge, dass es hier
Fehlentwicklungen gibt. Wir fordern Sie auf, dem entgegenzuwirken.
({2})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat nun die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl, Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrter Herr Minister! Sie werden mir zugestehen,
dass ich mich dem Vorwurf hinsichtlich des Dosenpfandes - das ist ja eine unendliche Lieblingsgeschichte -,
das aber nicht auf den vormaligen Minister Trittin, sondern auf die vorvormalige Ministerin Merkel zurückgeht, jetzt nicht anschließe.
({0})
Ich möchte mich vielmehr mit dem vorliegenden Gesetzentwurf befassen.
Der vorliegende Gesetzentwurf wurde im Umweltausschuss diskutiert und sinnvoll ergänzt. Wir Grünen
stimmen ihm auch in der zweiten Lesung zu. Ich will
aber zu den Argumenten in dieser Debatte Stellung nehmen.
Eines der Lieblingsschlagwörter in der politischen
Auseinandersetzung ist der Bürokratieabbau. Da gibt
es in der Tat diejenigen, die beim Stichwort Bürokratieabbau glänzende Augen kriegen und sofort Positives
wittern. Es gibt aber auch die anderen, die eher große
Ohren kriegen und grundsätzlich Negatives wittern. Die
Wahrheit liegt wie meistens ungefähr in der Mitte.
({1})
Bürokratie ist im Allgemeinen das Ergebnis von Bemühungen, Verhältnisse gerechter zu machen und
Schutz für Menschen und Medien zu organisieren, die
diesen Schutz brauchen, ihn im freien Spiel der Kräfte
aber nicht bekommen. Aber zum einen verselbstständigt
sich Bürokratie manchmal und erschlägt das ursprüngliche Ziel geradezu, zum anderen erreicht sie das Ziel
manchmal einfach nicht.
Wie man Bürokratie sinnvoll abbaut, zeigt die vorliegende Vereinfachung abfallrechtlicher Überwachung.
Was Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
Union und von der SPD, jetzt aber im Zuge der Föderalismusreform vorhaben - diesen Punkt will ich betonen -, ist das Gegenteil von Vereinfachung, nämlich die
absolute Verkomplizierung des Umweltrechts und damit
auch des Abfallrechts.
({2})
Womöglich wird die heutige Gesetzesvorlage als die
letzte Vereinfachung des Abfallrechts in die Historie eingehen.
Die Kolleginnen und Kollegen von der Linken haben
den Verzicht auf die früheren Regelungen mit den illegalen Transporten von Abfall ins Ausland in Zusammenhang gebracht. Die illegalen Mülltransporte nehmen
leider zu; als tatkräftige Antwort wurde solcher Müll in
Tschechien der deutschen Botschaft vor die Haustür gekippt. Diese Transporte erfüllen nicht nur die Abgeordneten der Linken mit Sorge. Von tschechischer Seite
wird uns vorgeworfen - auch Frau Bulling-Schröter hat
dies angesprochen -, unsere Pflicht zur Vorbehandlung
vor der Deponierung - dies kann natürlich auch eine
Kostensteigerung bedeuten - mache den illegalen Export
sehr attraktiv.
Also, was sollen wir tun? Sollen wir zu den aufwendigeren, früheren betrieblichen Abfallbilanzen zurückkehren, wie es die Kolleginnen und Kollegen von der Linken bei der ersten Lesung vorgeschlagen haben, oder
unsere Standards absenken, wie es die Tschechen von
uns fordern? Wir empfehlen weder das eine noch das andere.
Mit der Vereinfachung der abfallrechtlichen Vorschriften haben diese Vorgänge nichts zu tun. Der Gesetzentwurf zielt nicht auf eine Abschaffung, sondern
auf die Vereinfachung der Überwachung. Nach der
neuen Verordnung gilt auch für die Entsorger nicht gefährlicher Abfälle Registerpflicht. Das bedeutet im Vergleich zu den bisherigen Nachweisbüchern eine Hebung
und keine Senkung des Nachweisniveaus. Der Gesetzentwurf zielt auf eine EU-weite Vereinheitlichung.
Diese ist im Kampf gegen grenzüberschreitende Kriminalität ein nicht zu unterschätzendes Mittel. Ein noch
wirkmächtigeres Mittel wären allerdings gleichmäßig
hohe Standards überall in Europa. Dafür muss sich
Deutschland in der Tradition von Rot-Grün weiter einsetzen.
({3})
Ansonsten ist zu tun, was bei Kriminalität immer zu
tun ist: Die Verursacher sind zu ermitteln. Die Abfälle
sind auf deren Kosten zurückzubringen und einer sachgerechten Entsorgung zuzuführen. Das auf den Weg zu
bringen, fordern wir hiermit die Bundesregierung auf.
Zum Schluss bleibt die Hoffnung, dass uns der Fokus
auf die Regulierung in der Abfalldebatte nicht den Blick
auf das verstellt, was in der heutigen Lage eigentlich zu
tun ist. 370 Millionen Tonnen Abfälle pro Jahr, die nur
zum Teil verwertet werden, sind aus Umwelt- und Ressourcensicht einfach zu viel. Was heute Abfall genannt
wird, besteht zum größten Teil aus Wertstoffen. In Zeiten
sich anbahnender Ressourcenknappheiten und -konflikte
- längst nicht mehr nur bei der Energie - ist es die erste
Aufgabe, zu echten Stoffkreisläufen zu kommen. Die
Aufgabe dieser Stunde, die Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung auf den Weg zu bringen, war
dagegen zugegebenermaßen vermutlich relativ einfach.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung auf
Drucksache 16/400. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/970, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ein Handzeichen. - Wer ist
dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke mit der Zustimmung aller übrigen Fraktionen
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der
Gesetzentwurf mit der gleichen Mehrheit wie in der
zweiten Lesung angenommen.
({0})
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Sibylle Laurischk,
Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Unterhaltsrecht ohne weiteres Zögern sozial
und verantwortungsbewusst den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anpassen
- Drucksache 16/891 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe
und höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Sibylle Laurischk, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Unterhaltsrecht ist für viele Kinder, Frauen und Männer von
zentraler Bedeutung für ihre Existenz und ihre Lebensplanung. Es ist durch eine ausufernde Rechtsprechung
und unabgestimmte Tatbestände des Steuer- und Sozialrechts sehr unübersichtlich geworden. Im internationalen
Vergleich dauern Scheidungsverfahren in Deutschland
überproportional lange, was durch die Kompliziertheit
materiellen Rechts bedingt ist.
Dies belastet nicht nur die Justizhaushalte der Länder,
sondern insbesondere auch die Menschen, über deren
Zukunft entschieden wird. Gewandelte gesellschaftliche
Vorstellungen über das Zusammenleben von Männern
und Frauen, wechselnde Familienkonstellationen und
Patchworkfamilien werden von dem derzeitigen Unterhaltsrecht nur ungenügend erfasst.
Der Bundestag hat bereits im Jahr 2000 - Sie hören
richtig! - den Reformbedarf erkannt und die Bundesregierung aufgefordert, „zügig und mit allem Nachdruck
das geltende Unterhaltsrecht insbesondere hinsichtlich
der Abstimmung seiner Inhalte mit sozial- und steuerrechtlichen Parallelregelungen … gründlich zu überprüfen und Vorschläge zu seiner Neuregelung einzubringen“. Ein abgestimmter Gesetzentwurf liegt bis heute,
sechs Jahre nach Erkennen des Reformbedarfs, immer
noch nicht vor. Die FDP-Fraktion hat im Mai 2004 eine
Große Anfrage zum Unterhaltsrecht gestellt. Die Beantwortung wurde ständig verzögert. Kurz vor der Neuwahl
im vergangenen Jahr haben wir auch noch einen Reformantrag gestellt.
Die FDP-Fraktion lässt nicht locker.
({0})
Wir fordern auch in dieser Legislaturperiode eine Unterhaltsrechtsreform ein, und zwar mit folgenden Schwerpunkten: Der Kindesunterhalt muss einen unbedingten
Vorrang sowohl bei der Unterhaltsberechnung im Mangelfall als auch bei der Stärkung der Zahlungsmoral
gegenüber Kindern haben. Der nacheheliche Unterhaltsanspruch von Ehegatten soll begrenzt und die Eigenverantwortung nach einer gescheiterten Ehe gestärkt werden.
Angesichts des Referentenentwurfs befürchten wir,
dass zu viel Wert auf die Einzelfallgerechtigkeit gelegt
wird, sodass lange Verfahren und die Notwendigkeit entsprechender richterlicher Rechtsfortbildungen die Folge
sind. Gerade in diesem Bereich ist es oft gerechter, also
dem Rechtsfrieden dienlicher, in einem zügigen Verfahren aufgrund pauschalierter Vorschriften eine Entscheidung zu treffen; denn das Leben der Betroffenen geht
weiter. Sachverhaltsermittlungen über viele Monate hinweg und Abwägungen, gegebenenfalls über mehrere Instanzen, bedeuten Mehrkosten für die Länder, ohne dass
sie dem Bürger dienen. Auch würden freiwillige, kompetent moderierte Vereinbarungen Verfahren verkürzen
und die Akzeptanz von Unterhaltszahlungen erhöhen.
Im Übrigen würde eine straffe Pauschalierung die Unterhaltszahlungen auch transparenter und vorhersehbarer
machen.
Ein besonderes Augenmerk muss auf der Annäherung
des Unterhalts für nicht eheliche Mütter an den Unterhalt
für geschiedene Mütter liegen, die minderjährige Kinder
betreuen. Hier besteht nach meiner Meinung eine nicht
nachvollziehbare Benachteiligung, die wir auf jeden Fall
aufheben sollten.
Entscheidend für das Gelingen einer Unterhaltsreform, die die Eigenverantwortung stärkt, sind aber flankierende Maßnahmen. Für den eigenen Lebensunterhalt
kann nur die- bzw. derjenige sorgen, die bzw. der auch
die Zeit und die Möglichkeit dazu hat. Wenn Kinderbetreuungsmöglichkeiten und familienverträgliche Arbeitsplätze fehlen, ist es mit einer gesteigerten Erwerbsobliegenheit nicht weit her. Hier ist ein flexibilisierter
Arbeitsmarkt in einer entlasteten Wirtschaftsordnung
vonnöten.
Ein ungelöstes Problem wird bleiben, dass in den
meisten Fällen nur der Mangel verteilt wird und in den
seltensten Fällen von einem auskömmlichen Unterhalt
gesprochen werden kann. Hier dürfte auch einer der
Gründe liegen, warum sich immer weniger Deutsche für
eine Familiengründung und für Kinder entscheiden.
Kinder sind unterhaltstechnisch betrachtet eine Belastung, die eher akzeptiert wird, wenn nicht noch erhebliche Leistungen für das betreuende Elternteil zu erbringen sind. Hier will ich darauf hinweisen, dass wir eine
Reform des Unterhaltsvorschussrechts fordern, und
zwar dahin gehend, dass die Bezugsdauer zwar auf
36 Monate begrenzt werden sollte, der Bezug jedoch erst
mit dem Erreichen der Volljährigkeit enden sollte. Die
Benachteiligung von Kindern über zwölf Jahren gegenüber jüngeren Kindern, die derzeit Gesetz ist, ist eigentlich nicht nachvollziehbar.
({1})
Wir brauchen eine Reform des Unterhaltsrechts, die
Kindern den Vorrang gewährt, weil sie nicht für sich
selbst sorgen können. Wir brauchen eine Reform des
Unterhaltsrechts, um die Eigenverantwortung der Menschen zu fördern. Wir brauchen auch deshalb eine Reform des Unterhaltsrechts, weil in diesem sensiblen Feld
endlich Rechtssicherheit geschaffen werden muss.
Frau Justizministerin, Sie sind gefordert. Ich denke,
es wäre wichtig, sich jetzt nicht mit der „Scheidung
light“ zu befassen, sondern endlich einmal mit dem Unterhaltsrecht.
({2})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Ute
Granold das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin! Wir befassen uns heute mit der Reform
des Unterhaltsrechts. Insofern ist das Thema sehr erfreulich. Die FDP rennt allerdings offene Türen ein, weil die
Reform bereits im Gange ist.
({0})
Das Thema ist richtig, der Zeitpunkt allerdings ist
falsch. Der heute vorliegende FDP-Antrag wurde mit
geringfügigen Abweichungen bereits im Juni 2005 in
diesem Hause debattiert. Die Behandlung wurde dann
aufgrund der Bundestagswahl zurückgestellt. Frau
Laurischk, Sie und auch die FDP wissen sehr wohl, dass
in der Zwischenzeit daran gearbeitet wurde. Es gibt einen Referentenentwurf, der bereits im Rahmen einer Anhörung an die Fachverbände geschickt wurde. Die Stellungnahmen wurden geprüft und in die Formulierung
eines Gesetzentwurfes eingearbeitet. Dieser wird im
nächsten Monat dem Kabinett vorgestellt werden, sodass
wir noch vor der Sommerpause über den Gesetzentwurf
diskutieren können.
({1})
- Frau Laurischk, Sie wissen, dass wir all das, was die
FDP in ihrem Antrag fordert, bereits in das Eckpunktepapier, das im Jahr 2004 vorgelegt wurde, aufgenommen
hatten und dieses zu einem Reformpaket fortentwickelt
haben, welches das Prädikat „sehr gut“ verdient. Es findet auch die Zustimmung der Union.
({2})
Wir wollen in der heutigen Debatte nicht wiederholen, was wir im Juni letzten Jahres debattiert haben - das
kann man im Protokoll nachlesen -, sondern wir wollen
sie nutzen, um darüber zu informieren, was in Kürze hier
beraten werden wird und dann hoffentlich im nächsten
Jahr in der Praxis Anwendung findet. Ich selbst habe damals als Oppositionspolitikerin Handlungsbedarf angemahnt und angekündigt, dass wir dies von der neuen
Bundesregierung einfordern würden. Wir haben Wort
gehalten. Wir haben mittlerweile eine neue Bundesregierung und wir haben eine Reform des Unterhaltsrechts in
die Koalitionsvereinbarung aufgenommen. Diese ist
- wie gesagt - jetzt da.
1998 haben wir die Reform des Kindschaftsrechts auf
den Weg gebracht. Zügig folgend hätte auch die Unterhaltsrechtsreform kommen müssen. Es hat zwar länger
gedauert, aber nun ist sie da. Wir wollen nicht beklagen,
was in der Vergangenheit war, sondern möglichst schnell
ein gutes Gesetz für den Bürger auf den Weg bringen.
({3})
In der Praxis wurde von den Anwälten, den Bürgern
und Richtern sowie zuletzt auch vom Bundesverfassungsgericht oft ein Handeln des Gesetzgebers eingefordert. Die Rechtsprechung hat uns in der Zwischenzeit
eingeholt. Es gab eine Reihe von wegweisenden Urteilen, die in die Richtung der jetzigen Reform gingen.
Frau Laurischk, Sie haben das Unterhaltsvorschussgesetz angesprochen, das im Wege der jetzigen Reform
natürlich mit angepasst wird, allerdings in einem separaten Regelungswerk. Es wurde also nicht vergessen. Wir
haben auch die Alleinerziehenden und die Zweitehen
nicht vergessen. Wir wissen, dass in Deutschland viele
Ehen geschieden werden, dass wir einen Wandel in der
Gesellschaft haben, dass es viele Patchworkfamilien gibt
und dass wir den vielen Kindern, die von Sozialleistungen leben, helfen müssen. Das ist Konsens in diesem
Hause und auch in der Gesellschaft.
Dieser Tage haben wir wieder die Zahlen gehört: Es
gibt einen alarmierenden Rückgang der Geburtenzahl.
Wir haben die geringste Geburtenzahl seit Ende des
Zweiten Weltkrieges; dem müssen wir dringend entgegenwirken. Die Ursache dafür liegt nicht in den finanziellen Leistungen. 100 Milliarden Euro pro Jahr sind
bei weitem nicht unangemessen. Umfragen belegen vielmehr, dass die Frauenerwerbsquote stetig steigt. Das
gilt auch für die Erwerbsquote der Mütter. Frauen sind
gebildeter als früher. Sie sind mehr im Beruf und wollen
auch im Beruf bleiben. In Deutschland haben wir verglichen mit unseren europäischen Nachbarländern ein etwas verstaubtes Bild von berufstätigen Frauen. Hier gibt
es noch ein Stück weit eine Stigmatisierung. Das müssen
wir ändern. Auch eine berufstätige Mutter ist eine gute
Mutter.
Was in Deutschland fehlt, ist sicherlich eine bessere
Betreuungslandschaft. Hier besteht noch großer Nachholbedarf. Die Abdeckungsquote beträgt in Deutschland
40 Prozent; in Frankreich liegt sie bei 99 Prozent. Hieran
muss noch gearbeitet werden.
Neben dem Unterhaltsrecht muss auch das Scheidungsrecht dringend reformiert werden; Sie haben das
bereits angesprochen. Die Menschen brauchen eine gewisse Sicherheit, dass sie im Falle einer Trennung, insbesondere wenn Kinder da sind, finanziell abgesichert
sind.
Das Unterhaltsrecht muss transparent, klar und gerecht sein. Dann wird es auch von den Bürgern angenommen und in der Praxis zeitnah umgesetzt werden.
Dieses Werk ist nun da. Ich möchte einige zentrale
Punkte aufgreifen, die die Ministerin sicherlich noch im
Detail ausführen wird.
Das Wichtigste ist die Privilegierung der Kinder im
Unterhaltsrecht. Kinder haben absolute Priorität; sie stehen bei den Rangverhältnissen auf Rang eins. Zuerst
werden die Ansprüche der Kinder auf Unterhalt befriedigt. Wenn dann noch Geld zur Verfügung steht, werden
nachrangig die anderen Ansprüche befriedigt. Das ist
auch Konsens in der Bevölkerung.
({4})
Auf Rang zwei stehen alle Elternteile, die Betreuungsleistungen erbringen. Ob das die verheirateten, die
getrennt lebenden, die allein erziehenden oder die nicht
ehelichen Eltern sind, ist vollkommen egal. Alle betreuenden Eltern befinden sich im zweiten Rang. Danach
kommen die Ehegatten, die keine Betreuungsleistung erbringen, und danach die volljährigen Kinder, wobei die
volljährigen Kinder, die sich noch in der Ausbildung befinden, den minderjährigen Kindern gleichgestellt sind.
Insofern gibt es keine Benachteiligung der studierenden
oder kranken volljährigen Kinder, weil ihr Status - der
bisherigen Gesetzeslage entsprechend - erhalten bleibt.
Eine zweite ganz wesentliche Neuerung ist die Festsetzung des Mindestkindesunterhalts. Als Mindestkindesunterhalt wurde der doppelte Freibetrag des sächlichen Existenzminimums des Kindes angesetzt. Infolge
der Anhörung, die ich vorhin erwähnt habe, wurde er
noch einmal erhöht, und zwar in der ersten Altersstufe
auf 87 Prozent, in der zweiten auf 100 Prozent und in der
dritten auf 117 Prozent.
Außerdem soll die Anrechnung des Kindergeldes
auf den Unterhaltsbedarf vereinfacht werden - die bisherigen Vorschriften waren sehr verwirrend und kaum zu
verstehen -: Wenn eine Betreuungsleistung erbracht
wird, wird auf das Einkommen beider Elternteile jeweils
die Hälfte des Kindergeldes angerechnet. Ansonsten
wird das Kindergeld auf den Bedarf des Volljährigen angerechnet. Die im Gesetzentwurf festgelegte Regelung
ist sehr transparent und klar. Sie ist akzeptabel und entspricht insbesondere den Forderungen unseres höchsten
Gerichtes.
Wir haben ein Stück weit eine Harmonisierung des
Steuerrechts und des Sozialrechts vorgenommen. Die
Kinderfreibeträge ändern sich durch das neue Gesetz
nicht. Auch das Realsplitting ist ein Stück weit gesichert.
Der Unterhaltsschuldner kann 13 805 Euro absetzen,
wenn Unterhalt für einen Ehegatten geleistet wird. Auch
insofern wurde keine Änderung vorgenommen. Eine
komplette Anpassung ist nicht möglich, weil wir das Abstandsgebot im Hinblick auf die Ehe einhalten müssen.
Was die weitere Harmonisierung angeht, die auch vom
Bundesverfassungsgericht gefordert wurde, so muss dies
in den nächsten Schritten erfolgen. Wir wollen die jetzige Reform nicht überfrachten. Wir wollen zunächst das
Wichtigste auf den Weg bringen. Das ist mit diesem Gesetzentwurf gewährleistet.
({5})
Eine weitere Neuerung ist die Eigenverantwortung
für den Lebensunterhalt nach der Scheidung. Hier ist
eine ganz wichtige Neuerung vorgesehen, die übrigens
- das muss ich hier sagen - Akzeptanz in der Bevölkerung findet: Jeder sorgt für sein Einkommen selbst. Nur
wenn das nicht der Fall ist, ist in engen Grenzen Unterhalt zu leisten. - Im Gesetz wird aber klar geregelt, dass
der Unterhalt der Höhe nach und auch zeitlich beschränkt werden kann und dass er auch ausgeschlossen
werden kann. In das Gesetz wurde neu aufgenommen,
dass der Unterhaltsanspruch abgesenkt oder gänzlich
versagt werden kann, wenn jemand eine gefestigte Partnerschaft eingeht. Das ist übrigens - gemäß Rechtsprechung - auch heute schon der Fall. Auch hier haben wir
ein Stück weit Klarheit geschaffen.
Der Unterhaltsanspruch der nicht ehelichen Mutter, der derzeit auf einen Zeitraum bis zum dritten Lebensjahr des Kindes beschränkt ist und nur bei grober
Unbilligkeit fortgeführt werden kann, muss nun - das
wurde in den Entwurf des neuen Gesetzes aufgenommen - bei Unbilligkeit fortgesetzt werden. Hierzu warten wir noch auf eine Entscheidung des BGH bzw. des
Bundesverfassungsgerichts. Die Entscheidung scheint in
die Richtung zu gehen - das vermuten wir -, dass der
Unterhaltsanspruch bei Unbilligkeit fortbestehen kann.
Das bedarf aber der Einzelfallprüfung.
Bei der Betreuung durch einen Elternteil müssen wir
natürlich berücksichtigen - das war uns ganz wichtig -,
dass der Unterhaltsanspruch nicht versagt werden kann,
wenn eine Betreuungsmöglichkeit nicht gegeben ist. Wir
wissen, dass auf diesem Gebiet noch Nachholbedarf besteht. Auch dieser Konstellation wurde Rechnung getragen.
Für die jetzt vorliegenden Titel haben wir eine Übergangsregelung geschaffen. Sie werden geändert, wenn
das neue Gesetz kommt: für den Kindesunterhalt klar geregelt, für den Ehegattenunterhalt bei einer wesentlichen
Änderung und wenn es für den Berechtigten zumutbar
ist, dass abgeändert wird.
Weil meine Redezeit vorbei ist, möchte ich es dabei
belassen. Wir werden uns nicht nur mit dem Unterhalt
befassen, sondern auch mit der Strukturreform des Versorgungsausgleichs. Wir werden das Scheidungsrecht
novellieren. Frau Ministerin, darüber müssen wir noch
einmal reden, weil das ein bisschen zu schnell ging. Wir
müssen uns noch ein bisschen besser abstimmen und
darüber intensiv beraten.
({6})
Auf europäischer Ebene ist über das Grünbuch zum
Unterhaltsrecht und eine Verordnung, die dem Rat vorliegt, zu reden. Die deutsche Präsidentschaft wird im
nächsten Jahr dafür sorgen, dass hierzu auf europäischer
Ebene eine Harmonisierung und Angleichung erfolgt,
weil es auch viele binationale Ehen gibt.
Wir haben viel zu tun. Wir haben viel gemacht. Wir
machen im Sinne unserer Bürger weiter. Ich denke, zusammen mit der FDP - wenn Sie bei uns im Boot sind kriegen wir das gut hin.
Vielen Dank.
({7})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Jörn
Wunderlich, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin fernab, das Leben mit Kindern grau in
grau zu schildern. Diese Realität wird jedoch im Zwölften Kinder- und Jugendbericht beschrieben. Anstatt Rahmenbedingungen für eine grundlegende Veränderung der
Situation zu schaffen, sorgt die Politik durch die Verschärfung der Sozialgesetze schamlos dafür, dass sich
die Armut von Kindern und Jugendlichen verschärft. An
dieser Stelle frage ich: Haben Sie wirklich den politischen Willen, an der Situation grundlegend etwas zu ändern, oder wollen Sie diese Situation manifestieren?
Nun zum Unterhaltsrecht bzw. zum vorliegenden Antrag: Der Antrag hat aus meiner Sicht eine interessante
parlamentarische Entwicklung genommen. Meiner
Überzeugung nach springt hier die FDP-Fraktion auf einen Zug auf, der schon lange abgefahren und im Grunde
sogar schon angekommen ist. Rechtspolitisch wird über
das Ganze seit 2000 diskutiert - das ist schon angesprochen worden -, siehe die Beschlussempfehlungen des
Rechtsausschusses und des Familienausschusses aus den
Jahren 2000 und 2002. Den Referentenentwurf kennen
wir. Ich habe ihn in meiner Eigenschaft als Familienrichter bekommen. Den werden wir hier im Plenum noch besprechen.
Ich unterstelle Ihnen nicht, dass Sie nicht bereit sind,
sich um Veränderungen zu bemühen. Aber die Frage ist:
Wie weit reichend und umfänglich im Interesse aller Betroffenen sind die Veränderungen? Das ist die Messlatte
für mich und für meine Fraktion.
({0})
Werden wir einmal konkret. Aufgrund der Kürze meiner Redezeit - ich habe nur vier Minuten - kann ich
nicht alle Punkte ansprechen, sondern nur einige wenige.
Das Existenzminimum - ich beziehe mich jetzt nur auf
den Antrag der FDP - in Höhe von 7 700 Euro ist zu gering. Derzeit müsste zumindest ein Existenzminimum in
Höhe von 8 500 Euro für Erwachsene festgesetzt werden. Die Forderung nach einer Erhöhung des Kindergeldes auf 200 Euro ist ein anerkennenswerter Schritt.
Aber Eltern mit hohen Einkommen würden wieder privilegiert. Durch die Beibehaltung der Günstigerprüfung
erhielten Eltern, die einen Spitzensteuersatz zahlen, rund
70 Euro im Monat mehr steuerliche Entlastung.
Zur Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten: Im
Antrag ist vorgesehen, Kinderbetreuungskosten in Höhe
von 12 000 Euro absetzen zu können. Das privilegierte
Menschen mit hohen Einkommen, die die entsprechende
steuerliche Entlastung für sich in Anspruch nehmen können. Die dürfte immens sein. Hier sollte wirklich - ich
habe es schon im Ausschuss angesprochen - einmal darüber nachgedacht werden, ob es nicht doch sinnvoller
wäre, die Hälfte der Kinderbetreuungskosten unmittelbar von der Steuerschuld abzuziehen mit einer Kappungsgrenze von 2 100 Euro. Denn so erhielten alle Eltern - ich betone: alle Eltern - die Hälfte der
entsprechenden Kinderbetreuungskosten zurück.
Ein Wort zum nachehelichen Unterhalt - auch das
wurde schon angesprochen -: Wegen der schlechten
Kinderbetreuungsinfrastruktur ziehen sich besonders
viele Mütter - gegenwärtig herrscht noch das Ernährermodell vor - stark aus dem Erwerbsleben zurück. Die
Lösung kann aber nicht, wie im FDP-Antrag nahe gelegt
wird, ihr Schutz im nachehelichen Unterhaltsrecht sein.
Wir fordern mit Nachdruck den konsequenten Ausbau
einer elternbeitragsfreien, flächendeckenden Kinderbetreuung, um lückenlose Erwerbsbiografien beider Elternteile zu gewährleisten. Im Antrag taucht diese Forderung nicht auf, aber sie wurde in den Redebeiträgen der
Kolleginnen Laurischk und Granold dankenswerterweise angesprochen.
Begrüßenswert - das müssen wir sagen - ist, dass
dem Kindesunterhalt der absolute Vorrang eingeräumt
werden soll, also auch im Mangelfall. Dass die bisherigen Regelungen des Unterhaltsvorschussgesetzes
nicht ausreichen, war bisher fraktionsübergreifend und
bei den damit befassten Juristen wohl unstreitig. Dass
die Altersgrenze auf 18 Jahre angehoben werden soll, ist
eine vernünftige Erwägung. Die Beschränkung der Bezugsdauer von 72 auf 36 Monate ist allerdings der falsche Weg. Denn auch nach dem Sinn des UVG als Hilfe
in einer vorübergehenden Situation, in der kein Unterhalt erhalten werden kann, muss doch die gegenwärtige
gesellschaftliche Situation berücksichtigt werden. Zwar
sind die Armutsphasen - das wird im Antrag richtig festgestellt - kurz und in der Regel nicht länger als drei
Jahre, aber sie wiederholen sich. Das verschweigt der
Antrag, ist aber im Zwölften Kinder- und Jugendbericht
nachzulesen.
Letztlich sind Kinder und Jugendliche die Leidtragenden, wenn die Eltern aufgrund einer verfehlten Arbeitsmarktpolitik und der damit einhergehenden Arbeitslosigkeit keinen Unterhalt zahlen können. Hier soll sich der
Staat wieder aus der Verantwortung ziehen können? Geben Sie sich einen Ruck und fordern Sie endlich eine
Grundsicherung für Kinder, damit Kinder in Deutschland wirklich wieder willkommen sind.
Danke schön.
({1})
Für die Bundesregierung hat nun das Wort die Bundesministerin der Justiz Brigitte Zypries.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren Kollegen! Es gibt eben doch einen entscheidenden Unterschied zwischen Gesetzentwürfen, die die
Fraktionen im Deutschen Bundestag vorlegen, und denen, die die Regierung vorlegt. Wenn wir Gesetzentwürfe vorlegen, dann sind sie in aller Regel gut durchdacht. Sie können natürlich noch Fehler enthalten; das
will ich nicht bestreiten. Über sie wurde diskutiert: mit
allen Bundesländern, den Verbänden, den Sachverständigen und den betroffenen Kreisen. Sie wurden also schon
von der Fachöffentlichkeit begutachtet, was eine gewisse
Zeit gedauert hat. Deswegen bitte ich um Nachsicht,
dass der Regierungsentwurf erst am 5. April und nicht
schon eher vom Kabinett verabschiedet wird, was natürBundesministerin Brigitte Zypries
lich auch daran liegt, dass es zu vorgezogenen Neuwahlen kam.
Ich fände es fair, wenn auch die FDP, die den vorliegenden Antrag gestellt hat, zur Kenntnis nehmen würde,
dass sie es relativ leicht hat, weil sie erstens all diese
Diskussionen nicht führen muss, und weil sie zweitens
noch nicht einmal die Antwort der Bundesregierung auf
ihre erste Große Anfrage berücksichtigt.
({0})
Auch auf Ihre erste Große Anfrage, die Sie fast wortgleich schon einmal gestellt haben,
({1})
haben Sie eine Antwort bekommen. Seitdem haben wir
eine Menge getan. Aber Sie haben die Antwort der Bundesregierung erstens nicht rezipiert und in Ihre erneute
Anfrage zweitens nicht einbezogen, was wir darüber hinaus unternommen haben.
Denn es ist nicht so - Frau Granold hat dankenswerterweise schon darauf hingewiesen -, dass wir nur das
Unterhaltsrecht novellieren, sondern wir tun noch mehr.
Dass wir beispielsweise eine FGG-Reform durchführen
und ein großes Familiengericht schaffen, scheint an Ihnen vorbeigegangen zu sein. Zumindest kann ich das Ihrer Anfrage nicht entnehmen.
({2})
Ebenfalls kann ich Ihrer Anfrage nicht entnehmen,
dass wir all das, was mit den Themen Trennung und großes Familiengericht zu tun hat - also die Rezeption des
Cochemer Modells, die Sie unter Ziffer 7 Ihres Antrags
fordern -, im Rahmen unserer FGG-Reform umsetzen.
Es ist ja nicht so, dass wir all das nicht merken.
({3})
Wir haben diesen Bereich lediglich in einem anderen
Gesetz geregelt, weil wir ihn zusammenhängend dort regeln wollen, wo er hingehört.
Nun zu Ihren einzelnen Forderungen. Ich denke, dass
Sie es sich mit Ihrer pauschalierten Forderung nach einer
Vereinfachung und einer Harmonisierung von Steuerund Sozialrecht in dieser Form ein bisschen einfach machen. Wir haben das geprüft und haben gemeinsam mit
den Experten die Entscheidung getroffen, dass eine vollständige Harmonisierung des Unterhaltsrechts mit
dem Sozialrecht weder juristisch möglich noch praktisch sinnvoll ist. Hier geben uns alle Unterhaltsrechtsexperten Recht.
({4})
Hinsichtlich Ihrer Forderung nach der Einführung einer unterschiedlichen Rangfolge müssen wir uns noch in
der Sache auseinander setzen; denn im Zusammenhang
mit der Rangfolge geht es in der Tat um die Frage, wen
wir privilegieren. Frau Granold hat ausgeführt, dass die
Koalition im ersten Rang die Kinder privilegieren wird.
Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir in den zweiten Rang
neben den Kinder betreuenden Eltern aber nicht die Ehegatten in noch bestehender Ehe aufnehmen. Während
Sie Ehegatten in noch bestehender Ehe aufnehmen wollen, meinen wir, dass sich dieser Vorschlag nicht ausreichend und konsequent genug am Kindeswohl orientiert.
Folgendes Beispiel: Ein Mann zahlt seiner geschiedenen Frau, die die beiden kleinen Kinder erzieht, Unterhalt und heiratet seine erwerbslose Freundin. Nach Ihren
Vorstellungen könnte der Unterhaltsanspruch seiner
Exehefrau gekürzt werden. Nach unserem Entwurf allerdings geht die Kinder betreuende Mutter vor. Denn wir
meinen, dass derjenige, der Kinder betreut, auch derjenige sein sollte, der als Erster berechtigt ist, an dem ohnehin nur wenigen vorhandenen Geld zu partizipieren.
({5})
Deshalb meine ich, dass unser Entwurf besser ist. Ich
lade Sie herzlich ein, mit uns über diese konkreten Vorschläge zu diskutieren.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es keinen großen
Sinn macht, Anfragen, die man schon einmal gestellt
hat, einfach aufzubereiten und sie noch einmal zu stellen. Wenn Sie das tun, können Sie zwar Diskussionen
provozieren. Aber wie Sie wissen, rennen Sie damit bei
diesem Thema offene Türen ein. Denn die Eckpunkte
unseres Entwurfs liegen schon seit Ende 2004 vor. Sie
sind im letzten Jahr in sämtlichen Fachkreisen breit diskutiert worden. Ich denke, dass unser Entwurf ein guter
Entwurf ist. Ich bin froh, dass wir seine kleinen Schwächen - zum Beispiel bei der steuerlichen Abzugsfähigkeit - im Rahmen der Koalitionsverhandlungen bereinigen konnten. Ich bin sicher, dass die Änderung des
Unterhaltsrechts, die das Kabinett am 5. April verabschieden wird, uns und insbesondere die Kinder in
Deutschland voranbringen wird.
({6})
Als nächste Rednerin hat nun die Kollegin Ekin
Deligöz, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor einem Dreivierteljahr haben wir hier über einen ganz
ähnlichen Antrag debattiert. Damals waren wir alle uns
darüber einig, dass wir das Kindeswohl in den Mittelpunkt stellen und daran alle Regelungen und Gesetze
ausrichten müssen. Das ist auch deshalb notwendig, weil
sich in unserer Gesellschaft eines kontinuierlich verändert: Das sind die Familienverhältnisse.
Man kann zu Recht die Frage stellen, ob die bestehenden Gesetze und Regelungen des Familienrechts diesen
Veränderungen noch gerecht werden. Vor diesem Hintergrund hat es eine gewisse Berechtigung, über eine Neugestaltung des Unterhaltsrechts zu sprechen. Das bisherige Unterhaltsrecht geht davon aus, dass allen
Familienmitgliedern Unterhaltsansprüche gesichert werden. In den meisten heutigen Unterhaltsprozessen geht
es aber um den Mangelfall. In der Realität wird die Unterhaltszahlung in vielen Fällen nur unregelmäßig oder
gar nicht getätigt. Die Leidtragenden davon sind die
Kinder: Sie erfahren, während sie aufwachsen, finanzielle Zwänge. Deshalb ist es richtig, die Kinder bei der
Rangfolge der Unterhaltsberechtigten in den Vordergrund zu stellen, dann gehen sie nicht leer aus.
({0})
Diese Änderung hat auch das Ziel, dass die Väter das
Gefühl bekommen, hauptsächlich für ihre Kinder zu
zahlen, und sich dadurch ihre Zahlungsmoral verbessert.
Für eine völlig falsche Weichenstellung - das habe
ich schon in meiner letzten Rede gesagt und ich will es
hier wiederholen - halte ich den Vorschlag der FDP, den
Unterhaltsvorschuss von sechs auf drei Jahre zu begrenzen. Auch wenn das Alter der Kinder, bis zu dem
das gilt, gleichzeitig auf 18 heraufgesetzt wird, bedeutet
dies eine dramatische Verschlechterung, insbesondere
dort, wo man es gar nicht rechtfertigen kann: bei Müttern mit kleinen Kindern. Denn leider sind wir noch
nicht so weit, dass die Betreuung für unter Dreijährige
flächendeckend ausgebaut wäre, dass wir Ganztagskindergärten für kleine Kinder hätten, was es den Müttern
ermöglichen würde, zu arbeiten. Wir sind noch nicht so
weit, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in
diesem Land gewährleistet wäre.
({1})
Weil wir das nicht sind, darf eine solche Regelung nicht
zulasten von Müttern mit Kleinstkindern gemacht werden. Für diese macht es nämlich durchaus einen Unterschied, ob sie drei Jahre oder sechs Jahre lang Unterhaltsvorschuss beziehen können.
({2})
Der Vorschlag der FDP entpuppt sich als Umverteilung zulasten der Schwächsten. Sie wollen die steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten auf
12 000 Euro im Jahr und nebenbei das Kindergeld auf
200 Euro monatlich anheben - ein 9-Milliarden-EuroProgramm -, um das Problem der Unterhaltszahlungen
zu lösen. Da würde ich sagen: Thema verfehlt! So kann
man dieses Problem nicht lösen. Sie werden das Problem
säumiger Elternteile nicht durch eine Erhöhung des Kindergeldes lösen. Da müssen Sie schon das Gesetz selbst
ändern. Letzte Woche haben Sie hier noch den Ausbau
der Infrastruktur gefordert, heute fordern Sie hier ein
9-Milliarden-Euro-Programm zur Steigerung der Transferleistungen. Sie tun so, als ob man all das gleichzeitig
finanzieren könnte und als ob es überhaupt keiner politischen Anstrengungen bedürfte, das durchzusetzen.
({3})
Das ist Augenwischerei; da machen Sie den Menschen
etwas vor!
({4})
Ich glaube sogar, dass Sie selber gar nicht dahinterstehen. Wenn Sie dahinterstehen würden, hätten Sie nämlich Ihren Antrag letzte Woche nicht wieder zurückgezogen. Sie wollten ihn aber nicht zur Diskussion gestellt
haben lassen und hoffen, dass das keiner merkt. Wir
merken das aber! Stehen Sie also hinter dem, was Sie
fordern! Dann können wir ernsthaft darüber reden. Für
uns Grüne sind die Prioritäten klar: Das Kindeswohl hat
Vorrang, auch in der Familiengesetzgebung.
({5})
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat nun das Wort
die Kollegin Christine Lambrecht, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
freue mich über die Einbringung Ihres Antrages zu diesem Thema - damit setze ich mich von der Meinung einiger Vorrednerinnen und Vorredner ab -, weil wir uns
so schon vor der Einbringung ins Kabinett am 5. April
mit diesem wichtigen Thema beschäftigen können.
In einigen Punkten gibt es natürlich unterschiedliche
Auffassungen. Dazu komme ich gleich noch. Ausführlich werden wir in den parlamentarischen Beratungen
darüber sprechen. Zumindest ist aber erkennbar - das ist
an einem Tag wie heute viel wert -, dass wir von der
Grundausrichtung her in die gleiche, in die richtige
Richtung gehen. Das ist positiv zu vermerken und macht
mir Mut für die anstehenden Beratungen.
({0})
Damit ist es jetzt aber auch gut. Ich möchte nun auf
einige Unterschiede eingehen, was Sie von mir, wie ich
glaube, auch erwarten, und zwar zu Recht. Frau
Laurischk, ich will einen Satz aufgreifen, den Sie zu Beginn Ihrer Rede gewählt haben, nämlich dass Ihnen bei
dem, was die Bundesregierung auf den Weg bringen
möchte, zu viel Einzelfallgerechtigkeit gegeben sei.
Das hat mich sehr verwundert. Wir sprechen über Familienrecht und somit über Kinder, Ehegatten und Familienverhältnisse insgesamt. Wenn es einen Bereich gibt, in
dem man auf den Einzelfall, auf die Umstände des Einzelnen achten muss, dann doch im Familienrecht.
({1})
Es besteht wirklich kein Anlass, unter dem Stichwort
Bürokratieabbau pauschale Beträge, starre Ansätze und
feste Fristen vorzugeben. Lassen Sie uns doch lieber Regeln finden, die dem Einzelfall gerecht werden.
({2})
Die Kollegin Deligöz hat schon auf einen Punkt hingewiesen. Die Regelung, den Unterhaltsvorschuss nur
noch 36 Monate zu zahlen, wie Sie das vorschlagen, ist
sehr starr und nimmt keine Rücksicht auf die jeweiligen
Lebensumstände. Es gibt sicherlich Gegenden in
Deutschland, in denen eine gute Kinderbetreuung gewährleistet ist und die Mutter oder der Vater nach
36 Monaten wieder arbeiten gehen kann. Es gibt in Bayern oder Baden-Württemberg
({3})
- Passau wirft der Kollege Benneter sachkundig ein aber sicherlich auch Gegenden, in denen es schwierig
sein wird, für Kinder entsprechende Betreuungsmöglichkeiten zu finden, die es erlauben, nach 36 Monaten auf
den Unterhaltsvorschuss zu verzichten. Diese Einzelfälle
sollten wir uns vornehmen und nicht mit dem großen
Besen kommen und alle gleich behandeln. Das ist, wie
ich denke, unangebracht.
({4})
Das Ziel ist klar: Die Kinder haben in Zukunft Vorrang, egal ob sie aus einer ehelichen oder einer nichtehelichen Beziehung stammen. In dieser Frage sind alle
mittlerweile in der Realität angekommen.
Darüber hinaus haben die Eltern Vorrang, die ihre
Kinder betreuen lassen bzw. betreuen lassen müssen.
Denn von ihnen wird mehr Eigenverantwortung erwartet. Das ist der richtige Schritt in die richtige Richtung.
Man darf sich nicht mehr darauf zurückziehen, zu sagen:
einmal verheiratet, immer versorgt. Ich will niemandem
unterstellen, dass er so denkt, aber eigentlich kennen
alle, die hier sitzen - das sind fast ausschließlich Familienrechtler -, solche Fälle, in denen so gedacht wird. Eigenverantwortung ist erforderlich. Es muss aber auch
Rücksicht darauf genommen werden, dass solche Möglichkeiten nicht immer gegeben sind.
Eine weitere starre Grenze in Ihrem Antrag ist, dass
Sie eine „längere Ehe“ ab 15 Jahren Dauer definieren.
Ohne die jeweiligen Lebensumstände zu kennen und auf
sie einzugehen, ist mir das zu statisch.
Die Tücke liegt im Detail. Wir sollten uns in den parlamentarischen Beratungen die Zeit nehmen, genau darauf einzugehen. Das Kabinett wird einen Gesetzentwurf
einbringen. Wir werden ihn beraten. Ich bin mir sicher,
wir werden daraus etwas Gutes im Interesse der Betroffenen machen.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/891 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich sehe, sind
Sie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Eduard
Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU, der Abgeordneten Nina Hauer,
Ingrid Arndt-Brauer, Lothar Binding ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD, der Abgeordneten Frank Schäffler,
Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
sowie der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick,
Kerstin Andreae, Christine Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Besser regulieren, dynamisch konsolidieren Leitlinien für die künftige EU-Finanzmarktintegration
- Drucksache 16/933 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Georg Fahrenschon für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich glaube, die Debatte am heutigen
Abend ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Erstens
setzen die Fraktionen auch im neuen Deutschen Bundestag in der 16. Legislaturperiode die überfraktionelle Arbeit in Fragen des Finanzmarktes fort. Deshalb möchte
ich mich am Anfang bei allen Berichterstattern und auch
beim BMF herzlich für die Zusammenarbeit bedanken.
({0})
Zweitens beschreiben wir mit diesem Beschluss die
Grundlage einer nicht zu unterschätzenden Trendwende
der deutschen Politik im Zusammenhang mit der europäischen Rahmengesetzgebung. Ein zentrales, übergeordnetes Ziel der CDU/CSU ist es - darauf haben wir
bereits in den vergangenen Legislaturperioden hingewiesen -, frühzeitig auf die Bedingungen eines immer intensiver werdenden gemeinsamen europäischen Binnenmarktes zu reagieren.
Im Interesse des Standortes Deutschland ist es wichtig, dass wir gemeinsam mit den betroffenen Marktteilnehmern, unseren Experten, den Vertretern der Regierung und dem nationalen Parlament vorab eine deutsche
Position finden, diese gemeinsame Position dann auf europäischer Ebene einbringen und sie so weit wie möglich
durchsetzen. In diesem Sinne markiert der Beschluss
von heute Abend eine grundsätzliche Wende im Verständnis der Europapolitik unseres nationalen Parlaments weit über die Rahmenbedingungen des europäischen Finanzmarktes hinaus.
Unser Ziel ist es, vorab klar zu definieren, was wir als
Deutschland im europäischen Markt wollen. Diese Interessen wollen wir in die europäische Gesetzgebung einfließen lassen, um dadurch die Chancen des gemeinsamen Marktes besser nutzen zu können. Wir wollen nicht
so weitermachen wie bisher, nämlich verschiedenen Gesetzen, umgesetzten Richtlinien und den verschiedenen
Initiativen hinterherzuweinen und uns im Nachhinein
über die EU-Entscheidungen und die Rahmen zu bekla1986
gen, vielmehr wollen wir sie vorher positiv beeinflussen,
um unsere Größe im europäischen Markt optimal durchsetzen und einsetzen zu können.
({1})
Im deutschen Finanzsektor, im Bereich von Banken
und Versicherungen, sind in etwa 1,26 Millionen Menschen beschäftigt. Im Vergleich dazu sind in der Automobilindustrie, über die so oft gesprochen wird, nur - in
Anführungsstrichen - knapp 1 Million Menschen beschäftigt. Ich glaube, vor diesem Hintergrund wird klar,
wie wichtig die gesetzlichen Rahmenbedingungen für
Banken und Versicherungen im Gemeinsamen Markt
sind. Aus unserer Sicht ist es für den Finanzplatz
Deutschland daher von enormer Bedeutung - das ist in
dem zur Beschlussfassung anstehenden Antrag des heutigen Abends als einer der zentralen Punkte wiederzufinden -, dass dem Maßnahmenbündel des Aktionsplans
Finanzdienstleistungen aus dem Jahre 1999 keine weiteren finanzpolitischen Gesetzgebungspakete mehr beigestellt werden.
Wir haben in den letzten sechs Jahren bereits 42 Einzelmaßnahmen zur Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes für die Finanzdienstleistungen verabschiedet. Die wichtigsten Dinge sind auf den Weg gebracht:
die Eigenkapitalrichtlinie Basel II, die Prospektrichtlinie, die Wertpapierdienstleistungsrichtlinie, die Transparenzrichtlinie, die Verbraucherkreditrichtlinie und sehr
vieles mehr. Alleine durch europäische Regulierung entsteht aber noch lange kein integrierter Binnenmarkt für
Finanzdienstleistungen. Vielmehr muss es jetzt die Aufgabe der Europäischen Kommission sein - das ist die gemeinsame Meinung des Hauses -, darauf zu achten, dass
die Maßnahmen des alten Finanzdienstleistungspakets
auch in allen Mitgliedstaaten konsequent, fristgerecht
und zügig umgesetzt werden. Nur diese gemeinsame
konsequente, fristgerechte und zügige Umsetzung ist für
die Wirkung eines gemeinsamen europäischen Binnenmarktes entscheidend.
({2})
Weder den Anlegerinnen und Anlegern noch den Finanzdienstleistern und Emittenten sowie den anderen
Marktteilnehmern ist mit einer neuen Welle europäischer
Finanzmarktgesetzgebung geholfen. Wir sind sogar der
Meinung, dass das in der jetzigen Zeit kontraproduktiv
wäre.
({3})
Die Kommission operiert jetzt mit dem Begriff Better
Regulation - auf Deutsch: bessere Rechtssetzung - und
der Deutsche Bundestag wird die Kommission beim
Wort nehmen. Es ist unsere Absicht, der Kommission
sehr genau auf die Finger zu sehen, ob diesen Worten
dann auch Taten folgen. Vor diesem Hintergrund ist es
von zentraler Bedeutung, dass erstens neue Dossiers nur
vorsichtig und allein auf Basis einer umfassenden Folgenabschätzung angegangen werden, dass zweitens
Eingriffe in funktionierende Markstrukturen nur mit angemessener Begründung und dem Gebot der Verhältnismäßigkeit gestaltet werden und dass drittens bei jedem
neuen Projekt in Zukunft vorab eine umfangreiche Kosten-Nutzen-Analyse vorgenommen wird, um eine weitere Überregulierung und Bürokratie zu vermeiden.
({4})
Der heutige Beschluss ist auf diesem Weg das richtige
Signal.
Einen Schwerpunkt ihrer Arbeit sieht die EU-Kommission in der Gestaltung europäischer Strukturen für
die Finanzmarktaufsicht. Gemeinsam mit der Kommission ist die Mehrheit des Deutschen Bundestages der
Auffassung, dass eine effiziente Zusammenarbeit der nationalen Aufsichten mit dem Ziel einer einheitlichen Finanzmarktregulierung von zentraler Bedeutung ist. Bisher gibt es in den europäischen Mitgliedstaaten etwa 70
einzelne Aufsichtsinstitutionen mit den unterschiedlichsten Vorschriften und Verfahren.
Unser Ansatz im Sinne unseres Interesses lautet deshalb, dass die Aufsicht über national tätige Unternehmen
bei den nationalen Aufsichtsbehörden innerhalb eines
europäischen Systems der Aufsichtsbehörden verbleiben
muss. Grenzüberschreitende Unternehmen mit entsprechender Relevanz sollen hingegen von einem europäischen Aufsichtssystem kontrolliert werden, allerdings
nicht in Form einer neuen zentralistischen europäischen
Aufsichtsbehörde. Dagegen sprechen wir uns in dem
heutigen Antrag und dem damit verbundenen Beschluss
aus. Entscheidend sind vielmehr das Bestreben und die
Gewähr, einheitliche Regeln auch einheitlich auszulegen
und anzuwenden. Diese Linie gibt Deutschland vor.
({5})
Viel wichtiger ist nach unserer Auffassung allerdings
neben der Fragestellung, die europäischen Aufsichtsstrukturen zu regeln, die Begleitung des europäischen
Regelwerks durch die nationalen Parlamente und das
Europäische Parlament. Wir brauchen für die Regelfestsetzung eine legitimierte und demokratische Kontrolle.
In diesem Zusammenhang möchte ich in dieser Debatte auf eine Besonderheit hinweisen, das so genannte
Lamfalussy-Verfahren. Wir haben es hier mit einem
verhängnisvollen Regelkreis zu tun, indem sich erstens
die Aufseher im Verfahren selber die Regeln geben, die
sie dann zweitens auf sich selbst anwenden und durchsetzen. Es ist offensichtlich: In diesem Verfahren fehlt
jegliche demokratische Kontrolle und manchmal - das
muss man feststellen - an der einen oder anderen Stelle
auch die fachliche Kontrolle.
({6})
Das demokratisch legitimierte Parlament, das Europäische Parlament, gibt im Lamfalussy-Verfahren nur den
Rahmen für die Gesetzgebung vor. Um die Details kümmern sich eigens dafür eingesetzte Expertengruppen fern
jeglicher demokratischer Legitimation. Mit anderen
Worten: Erstmalig in der Geschichte der Europäischen
Union entscheiden nicht die demokratisch eingesetzten
Gremien über die vollständigen Rechtstexte, sondern
Fachkommissionen hinter verschlossenen Türen.
Am Ende meines Beitrags zu dieser Debatte muss ich
schon deutlich machen, dass der Ansatz, Experten hinter
verschlossenen Türen arbeiten zu lassen, um so Bürokratie zu vermeiden, auf breiter Front gescheitert ist. Ohne
die Möglichkeit, durch demokratisch legitimierte Parlamente - national wie europäisch - an der einen oder anderen Stelle Kompromisse oder Vereinfachungen durchzuführen, werden wir den hochkomplexen Bereich des
europäischen Marktes und des europäischen Finanzmarktes nicht auf einen guten Weg bringen. Das aber ist
unser zentrales Interesse.
({7})
Diesem Ziel kommen wir mit dem heutigen Beschluss ein Stück näher. Wir können uns dann in Zukunft
noch stärker einmischen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat nun für die FDP-Fraktion der Kollege
Frank Schäffler.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wenn wir heute über das Weißbuch zur
Finanzdienstleistungspolitik sprechen, dann ist dies
nicht nur für den Finanzmarkt, sondern auch für die
Wirtschaft insgesamt eine wichtige Diskussion. Deshalb
ist es gut, dass wir uns fraktionsübergreifend auf einen
gemeinsamen Antrag geeinigt haben.
Dabei will ich deutlich machen, dass die FDP-Fraktion ein großes Interesse an einem funktionierenden Finanzbinnenmarkt in Europa hat.
({0})
Wenn wir über Europa sprechen, dann fällt immer wieder das Stichwort „Bürokratie“. Eine Regulierung bedeutet zwangsläufig einen erhöhten Abstimmungsbedarf
und daher auch mehr Bürokratie. Die niederländische
Regierung hat die Bürokratiekosten in Europa im Jahr
2002 auf über 340 Milliarden Euro geschätzt. Die Niederlande selbst wollen ihre Bürokratiekosten zwischen
2003 und 2007 um 25 Prozent senken.
Könnte das Vorhaben auf die gesamte EU ausgeweitet
werden, dann wäre nach Schätzung der niederländischen
Regierung das reale Bruttoinlandsprodukt in der EU um
1,7 Prozent zu steigern. Daher kommt der Initiative der
EU-Kommission unter dem Stichwort „Better Regulation“ auch bei der Finanzmarktintegration eine hohe Bedeutung zu. Dabei sind wir skeptisch, ob wirklich eine
europäische Finanzaufsicht institutionalisiert werden
muss. Wir sind eher der Auffassung, dass wir in Europa
eine materiell einheitliche Aufsicht brauchen. Zumindest
für die Marktteilnehmer, die grenzüberschreitend tätig
sind, ist dies notwendig.
({1})
Ein wesentlicher Schwerpunkt des Weißbuchs ist die
Integration der Retail-Märkte. Wenn wir die Bevölkerung in diesem Prozess mitnehmen wollen, dann ist gerade der Privatkundenmarkt besonders geeignet, eine höhere Akzeptanz für Europa zu schaffen. Es ist wichtig,
nicht ständig ein neues Nutztier durchs Dorf zu treiben.
({2})
- Stimmt. - Vielmehr sollte man sich auf die notwendige
Regulierung beschränken. Dabei muss es möglich sein,
künftig grenzüberschreitend ein Bankkonto zu führen
oder einen Hypothekenkredit aufzunehmen.
Wir müssen aber in Deutschland auch selbst unsere
Hausaufgaben machen.
({3})
Wenn wir so gerne von gleichen Wettbewerbsbedingungen - den so genannten Level Playing Fields - sprechen,
dann müssen wir auch bei uns mehr Wettbewerb zulassen. Wachstum entsteht durch Wettbewerb, nicht durch
Abschottung.
({4})
Deshalb gehört zu einem funktionierenden Markt auch,
dass ein ausländischer Investor die Bankgesellschaft
Berlin kaufen und - unabhängig von seiner Eigentümerstruktur - den Namen „Sparkasse“ weiterführen darf.
Ich begrüße daher ausdrücklich, dass die EU ihr Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wieder
aufgreifen will.
({5})
Wettbewerb, Kapital- und Niederlassungsfreiheit sind
keine Einbahnstraße, sondern schaffen Wachstum und
damit Arbeitsplätze. Das ist gerade in Berlin sehr wichtig.
({6})
- Deshalb mache ich auch die Unterschiede deutlich, die
in diesen Fragen zwischen uns bestehen.
Ich meine auch, dass wir bei der Umsetzung von
Basel II gleiche Wettbewerbsbedingungen schaffen
müssen. So geht es nicht an, dass wir bei Haftungsverbünden von Sparkassen und Landesbank weichere Haftungskriterien - zum Beispiel bei Intergruppenforderungen - als bei konsolidierten Instituten zulassen. Hier
findet indirekt eine Wettbewerbsverzerrung statt, die wir
nicht akzeptieren können. Man kann nicht auf der einen
Seite eine gleiche und fristgerechte Richtlinienumsetzung fordern und im selben Atemzug den Wettbewerb
beschränken. Daher müssen wir auch vor unserer eigenen Haustür kehren.
Es ist deshalb an der Zeit, dass Deutschland seine
starren Bankensysteme überdenkt und die Energie, die
die Teilnehmer in die jeweiligen Abwehrschlachten investieren, für eine Fortentwicklung des Finanzmarktes in
Deutschland und Europa genutzt wird.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile nun das Wort der Kollegin Nina Hauer,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der europäische Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen ist in den letzten Jahren erfolgreich zusammengeführt worden. Über 40 Regulierungsmaßnahmen wurden
im Rahmen des Aktionsplans beschlossen. Die Umsetzung dieser Maßnahmen ist nicht nur für die Unternehmen, sondern auch - das sollte man ruhig einmal erwähnen - für die Aufsichtsbehörden und für uns
Abgeordnete des Deutschen Bundestages eine große Herausforderung.
Mit ihrem im Dezember 2005 vorgelegten neuesten
Weißbuch gibt die Europäische Kommission die Zielstellung für die Gestaltung der Finanzdienstleistungspolitik bis 2010 vor. Wir unterstützen den im Weißbuch
skizzierten Weg, gerade weil man sich auf die Privatkundenmärkte konzentriert. Diese spielen für die Altersvorsorge, aber auch die Kapitalbildung der Unternehmen eine große Rolle. Wir wissen, dass wir eine große
Verantwortung für unsere Privatkunden haben. Außerdem haben wir den größten Markt innerhalb der Europäischen Union. Wir wollen daher dafür sorgen, dass bei
den Regelungen, die die Bürgerinnen und Bürger als
Kunden betreffen, nicht ausschließlich der Weg der Maximalharmonisierung gegangen wird, sondern Mindeststandards vereinbart werden, damit es Spielraum gibt,
um auf nationale Besonderheiten einzugehen. Gerade im
Hinblick auf die Situation der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland tun wir gut daran, uns diesen
Spielraum zu erhalten.
({0})
Wir unterstützen, wie gesagt, den im Weißbuch skizzierten Weg. Wir wollen aber nicht, dass aus diesem Wegeplan ein Irrgarten wird. Unter der Überschrift „dynamische Konsolidierung“ sagen wir, was wir wollen,
nämlich nicht nur eine konsequente, sondern auch eine
gleichzeitige Umsetzung aller Richtlinien in nationale
Gesetze. Wir können es uns nicht erlauben, dass die
deutschen Marktteilnehmer aufgrund unterschiedlicher
Geschwindigkeiten bei der Umsetzung von Richtlinien
in Europa benachteiligt sind. Das betrifft nicht nur Großbritannien, das auf dem Finanzmarkt in unmittelbarer
Konkurrenz zu uns steht, sondern auch andere Länder.
Wir unterstützen den Weg zu besserer Regulierung
und weniger Bürokratie. Wir wollen, dass alles, was
wir auf den Weg bringen, darauf untersucht wird, welche
Kosten-Nutzen-Effekte es für den Markt, aber auch für
die Kundinnen und Kunden hat, und dass wir in die Lage
versetzt werden, zu überprüfen, welche Auswirkungen
das Beschlossene über die Jahre hat; denn gerade bei einem so empfindlichen Markt wie dem Finanzmarkt ist es
notwendig, nachzujustieren, nicht nur um Ungerechtigkeiten und Fehlentwicklungen zu stoppen, sondern auch
um Chancen zu ergreifen. Sonst sind andere schneller als
wir.
Wir teilen die Auffassung der Kommission, dass für
eine gemeinsame Umsetzung der Finanzmarktregulierung eine bessere Zusammenarbeit der nationalen Aufsichten vonnöten ist. Mit den diversen Aufsichtsbehörden, die momentan in Europa bestehen, ist eine
einheitliche Umsetzung - gerade angesichts der verschiedenen Kulturen der Verwaltungen - nicht zu leisten. Wir wollen außerdem den Finanzmarkt unter eine
demokratisch legitimierte Aufsicht stellen. Wir als
Parlamentarier wollen darüber berichten; denn wir sind
Teil unserer deutschen Finanzdienstleistungsaufsicht.
Aber wir wollen auch, dass das Europäische Parlament
mehr Möglichkeiten hat, zu überprüfen und zu entscheiden, was im Rahmen der Aufsicht unternommen wird,
damit wir gegebenenfalls eingreifen und Fehlentwicklungen verhindern können.
({1})
Die zukünftige Aufsichtsstruktur stellen wir uns so
vor: Für das, was auf nationaler Ebene geschieht, sollten
die jeweiligen nationalen Aufsichtsbehörden zuständig
sein; denn sie haben bislang die besseren Ressourcen.
Das bleibt auf absehbare Zeit auch so. Wichtig ist aber,
dass grenzüberschreitend tätige Unternehmen im Rahmen eines europäischen Finanzaufsichtssystems beaufsichtigt werden. Dabei ist es uns weniger wichtig, eine
neue zentrale Behörde zu errichten. Das kann vielleicht
irgendwann einmal sinnvoll sein. Wichtig ist für uns
aber jetzt, dass die verschiedenen nationalen Aufsichten
besser zusammenarbeiten, keine Synergien verlieren, Informationen austauschen sowie die Regeln einheitlich
interpretieren und anwenden, damit Wettbewerbsverzerrungen verhindert werden.
Wir wollen, dass die grenzüberschreitenden Aktivitäten nicht zu unnötigen Kosten führen. Sonst hätte die Finanzmarktintegration, überhaupt der europäische Binnenmarkt, keinen Sinn. Wir werden im Rahmen der
Verbesserung des europäischen Zahlungsverkehrs auch
darüber reden, was das eigentlich für die Bürgerinnen
und Bürger am Schalter bedeutet: Wie gestalten sich
Geldgeschäfte in Europa, insbesondere Überweisungen,
werden sie günstiger und sicherer?
Wir begrüßen, dass im Rahmen des Lamfalussy-Verfahrens bei der Zusammenarbeit der Aufsichten schon
gute Ergebnisse erzielt worden sind. Natürlich werden
wir ein wachsames Auge darauf haben, damit sich das,
was da gemacht wird, nicht der politischen Kontrolle
entzieht. Mit dem uns jetzt vorliegenden Plan - den wir
begleiten wollen, aber den wir dann stoppen werden,
wenn wir den Eindruck haben, dass eine neue Welle von
umzusetzenden Gesetzen auf uns zukommt - werden wir
dafür sorgen, dass unser Part im europäischen Finanzmarkt klar strukturiert ist, dass er transparent ist für alle,
die daran teilnehmen, und dass er wirtschaftlich erfolgreich ist.
Wir setzen auf den Finanzmarkt. Er ist unabdingbar
für mehr Wachstum. Unternehmen - insbesondere junge
Unternehmen - brauchen ihn, um an Kapital zu kommen. Eben wurde Basel II angesprochen. Ich glaube,
dass es jetzt noch zu früh ist, darüber zu reden, welche
Rolle die einzelnen Institute einnehmen sollen. Ich will
aber schon darauf hinweisen, dass Basel II auch eine
Chance bietet. Gerade kleinere und mittelständische Unternehmen bei uns klagen darüber, wie schwierig es ist,
an Kapital zu kommen. Basel II eröffnet dem Mittelstand einen neuen Weg, mehr Geld zur Verfügung gestellt zu bekommen. Oft wird der Eindruck erweckt,
Basel II führe dazu, dass kleine Handwerksbetriebe
keine Kredite mehr bekämen. Das Gegenteil dieser Horrorvision soll der Fall sein. Wir werden allerdings darauf
achten, dass die nationale Struktur unseres Finanzmarkts
berücksichtigt wird, insbesondere - das kann man offen
sagen - die Kreditabhängigkeit der mittelständischen
Unternehmen. Wir werden unsere Interessen bei der
Umsetzung der Richtlinie nicht aus den Augen verlieren.
Dieser Punkt ist auch von öffentlichem Interesse. Wir
Abgeordnete bekommen dazu nicht nur Zuschriften,
sondern haben auch in den Wahlkreisen viel damit zu
tun. Ich glaube, dass wir an diesem Beispiel deutlich machen können, was wir meinen, wenn wir eine bessere
Regulierung verlangen, eine Konsolidierung der Gesetze, die wir auf den Weg gebracht haben, fordern und
eine Weiterentwicklung des europäischen Finanzmarktes
und unserer Rolle als Marktteilnehmer aus deutscher
Sicht wollen.
Vielen Dank.
({2})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Axel Troost, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der vorliegende Antrag weist zu Recht darauf
hin, dass bisher vor allem Unternehmen von der europäischen Finanzmarktintegration profitiert haben und dass
hier nun neue Prioritäten gesetzt werden müssen. Die
Stoßrichtung der EU-Kommission, das künftige Hauptaugenmerk auch auf eine verstärkte Integration der Privatkundenmärkte zu richten, ist zu unterstützen. Auch
die Bürgerinnen und Bürger müssen in den Genuss der
für sie vorteilhaftesten Finanzdienstleistungen kommen,
die europaweit angeboten werden.
Dabei ist davon auszugehen, dass die günstigsten
grenzüberschreitenden Angebote oft aufgrund fehlenden
Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in den Verbraucherschutz nicht genutzt werden. Zur Stärkung der Privatkunden ist es aber vor allen Dingen notwendig, neben
Transparenz und Vergleichbarkeit der Finanzprodukte
einen umfassenden Verbraucherschutz zu erreichen. Wir
brauchen auf EU-Ebene ein höheres Verbraucherschutzniveau für Finanzdienstleistungsprodukte.
({0})
Der Antrag spricht sich aus unserer Sicht zu Recht gegen eine Maximalharmonisierung aus und fordert stattdessen die Koppelung von Mindeststandards und Respektierung nationaler Besonderheiten. In dem Punkt ist
auch aus unserer Sicht Überregulierung völlig fehl am
Platze. In vielen Punkten hätte ich mir allerdings konkretere Orientierungen im Einzelnen gewünscht.
Europäisches Finanzaufsichtssystem - das ist wichtig
und unterstützenswert. Dennoch müssen wir aus meiner
Sicht weit über den Antrag hinausgehen. Ich sehe ganz
erheblichen Regulierungsbedarf in den nationalen und
transnationalen Finanzsystemen.
Nur ein paar Stichworte zu den Punkten, die aus meiner Sicht eine besondere Brisanz haben. Ich zitiere noch
einmal den Chef der Commerzbank, Klaus-Peter Müller,
zum Thema Hedge-Fonds: Er geht davon aus, dass man
von vielen Fonds außer Telefonnummer und Adresse
überhaupt nichts wisse. Auch der BaFin-Präsident Sanio
spricht bezüglich der Hedge-Fonds von großen schwarzen Löchern der internationalen Finanzwelt, von denen
keiner genau wisse, was dort laufe.
Was passiert eigentlich auf diesem Sektor? Was gedenkt die Bundesregierung hier zu tun? Ich las in der
„Financial Times“ vom 10. März dieses Jahres, die Bundesregierung beabsichtige, die Meldepflicht für alle Investmentfonds zu lockern, und zwar als Reaktion darauf,
dass die Hedge-Fonds-Branche hierzulande nicht richtig
in die Gänge komme. Da stellt sich natürlich schon die
Frage, ob wir nicht doch ganz andere, neue Regulierungsbedarfe in diesem Bereich haben.
Nur zur Illustration ein zweites Stichwort. Ich zitiere
wieder Herrn Sanio: Er spricht von den Ratingagenturen als der „größten unkontrollierten Macht der internationalen Finanzmärkte“. Auch hier müssen wir gemeinsam überlegen, wie wir damit umgehen.
Zusammengefasst: Diese Initiative geht aus unserer
Ansicht in die richtige Richtung. Wir werden sie daher
unterstützen. Wir sehen aber auf dem Gebiet der Regulierung der europäischen Finanzmärkte ganz andere,
sehr viel brisantere Aufgaben und Fragestellungen, mit
denen wir uns beschäftigen müssen. Angesichts der explodierenden Renditeansprüche der Vermögensbesitzer
haben wir es heute mit neuen Formen des Finanzmarktkapitalismus zu tun, was ganz neue Formen der Regulierung erfordert. Aus unserer Sicht kommt hier ein Riesenschwall von Problemen auf uns zu. Diese sollten wir in
der künftigen Arbeit im Finanzausschuss wie auch im
Plenum diskutieren.
Danke schön.
({1})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Gerhard Schick,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Grünen unterstützen ausdrücklich das in dem gemeinsam eingebrachten Antrag formulierte Ziel, einen Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen zu schaffen, das
heißt, die bisher eingeleiteten Schritte fortzuführen.
Nachdem ich die bisherige Debatte verfolgt habe,
komme ich zu dem Ergebnis: Wir unterschätzen, was der
Begriff „dynamische Konsolidierung“ meint. Die Konsolidierung ist ziemlich dynamisch. Hinter den wenigen
Legislativmaßnahmen steht doch allerhand. Allein das
Projekt Solvency II ist ein Mammutprojekt, das für die
deutsche Versicherungswirtschaft enorme Konsequenzen haben wird. Daher ist es richtig, zu sagen: Wir ziehen die Konsequenzen aus einer teilweise etwas überladenen Liste von Legislativmaßnahmen der letzten Jahre
und schauen stärker auf die Umsetzung. Wir vertreten
hier zu Recht die Auffassung: Das Vorhaben muss in der
Europäischen Union gleichmäßig und konsequent umgesetzt werden.
Wir sollten dabei aber nicht unterschätzen, was in den
nächsten Jahren noch auf uns zukommt, um den gemeinsamen Finanzdienstleistungsmarkt wirklich zu vollenden.
({0})
Spätestens dann, wenn es um die Zahlungsverkehrsrichtlinie und die Verbraucherkreditrichtlinie geht, wird es
mit der Gemeinsamkeit an der einen oder anderen Stelle
wohl ein Ende haben. Trotzdem ist es richtig, dass wir
die Ziellinie jetzt erst einmal gemeinsam in den Blick
nehmen.
Ich möchte noch einige Anmerkungen aus grüner Perspektive machen. Sie zeigen vielleicht, wo aus unserer
Sicht Schwerpunkte sind.
Zunächst möchte ich an das anknüpfen, was Herr
Kollege Fahrenschon bereits gesagt hat - bei ihm
möchte ich mich für die Koordination noch einmal recht
herzlich bedanken -: Hinter diesem Antrag steht ein anderes Verständnis von Europapolitik; wir wollen die Europapolitik stärker antizipativ begleiten. Sie haben das
Lamfalussy-Verfahren kritisiert. Ich stimme Ihnen da
ausdrücklich zu. Die Tatsache, dass Rechtsetzung ohne
demokratische Kontrolle in Parlamenten stattfindet, ist
- das gilt insbesondere für das Lamfalussy-Verfahren ein wichtiger Bestandteil dessen, was wir klagend als
das Demokratiedefizit bezeichnen.
({1})
Dieses Demokratiedefizit drückt sich natürlich nicht
nur in dem Lamfalussy-Verfahren - es ist ein Teil der
Komitologieverfahren - aus, sondern auch in anderen
Bereichen. Dort ist man von parlamentarischer Kontrolle
ebenfalls sehr weit entfernt. Wir als Parlamentarier sollten unsere Aufgabe, diese europäischen Gesetzgebungsprozesse zu begleiten, noch ernster nehmen. Wenn ich
mir das Programm der nächsten Jahre anschaue, dann
komme ich zu dem Schluss, dass das ein hoher Anspruch
ist, den wir hier für uns formulieren, nämlich die Rechtsetzung parlamentarisch, im Finanzausschuss und hier
im Plenum, zu begleiten und zu kontrollieren und nicht
nur das sozusagen zu übernehmen, was von der europäischen Ebene kommt. Ich hoffe, dass wir es schaffen, diesem Anspruch auch wirklich gerecht zu werden. Es wäre
ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der Demokratie in
Europa.
({2})
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der
auch schon erwähnt worden ist. Es geht jetzt in einem
zweiten Schritt darum, auch den Verbraucher stärker in
den Blick zu nehmen. Wir haben Europa häufig als bürgerfern bezeichnet. Das ist auch an verschiedenen Stellen sichtbar. Eine Stelle, wo das sichtbar ist, ist die folgende: Der Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen ist
bisher stärker für Firmenkunden als für Verbraucher
Realität geworden. Es ist deswegen richtig, dass wir dem
Kapitel Privatkunden besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben. Wir Grünen werden besonders darauf
achten, dass der Verbraucherschutz bei diesen Sachen
nicht zu kurz kommt.
Beim Stichwort „Better Regulation“ ist für uns besonders wichtig, dass wir auch die Chancen nutzen, die in
einer Harmonisierung liegen, zum Beispiel für weniger
Bürokratie. Es ist einfach so, dass es für viele Unternehmen und Verbraucher eine deutliche Entlastung von Bürokratie bedeutet, wenn wir gemeinsame Regelungen
schaffen, gerade im Grenzbereich. Ich möchte also darum bitten, dass wir unter diesem Stichwort „Better Regulation“ nicht Ziele aufgeben, sondern versuchen, diese
- nämlich eine bessere Finanzierung für Unternehmen,
aber auch eine stabile Finanzmarktentwicklung, die das
Verbrauchervertrauen mit in den Blick nimmt - auch
durch eine gute europäische Rechtsetzung zu erreichen.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/933 mit
dem Titel „Besser regulieren, dynamisch konsolidieren -
Leitlinien für die künftige EU-Finanzmarktintegration“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Gibt es Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
der Antrag einstimmig angenommen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Hans-Christian Ströbele, Wolfgang
Wieland, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz
von Journalisten und der Pressefreiheit in
Straf- und Strafprozessrecht
- Drucksache 16/576 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Jörg van Essen,
Mechthild Dyckmans, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Pressefreiheit
- Drucksache 16/956 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Jerzy Montag von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern hat die Staatsanwaltschaft Potsdam Anklage gegen zwei Journalisten wegen Beihilfe zum Geheimnisverrat erhoben. Über diesen Fall hat der Deutsche Bundestag schon diskutiert; auch der Innenausschuss war
damit befasst. Dieser Fall ist nicht singulär. Allein in
diesem Jahr gab es Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden gegen Journalisten der „Wolfsburger Allgemeinen“ und der „Dresdner Morgenpost“. In den zurückliegenden Jahren gab es Ermittlungsverfahren gegen die
Zeitschrift „Max“ in Hamburg, den „Stern“, das ZDF
und Radio Bremen; ich nenne nur einige wenige Fälle.
Die Vielzahl der Fälle ergibt sich aus dem Bericht des
Deutschen Journalisten-Verbandes, der für einen Zeitraum bis 2001 einige Dutzend einschlägige Fälle dokumentiert hat.
Die Pressefreiheit in unserem Land ist nicht erst in
Gefahr, wenn die Polizei flächendeckend gegen alle
Journalisten und gegen alle Presseorgane ermittelt. Die
Pressefreiheit ist bei uns bei jedem einzelnen Fall in Gefahr. Wir müssen Vorsicht walten lassen und bei jedem
Fall solcher Ermittlungen aufpassen, worum es geht und
warum die Polizei, die Ermittlungsbehörden gegen Journalisten ermitteln.
({0})
Deswegen ist es wichtig, dass man sich dieses Phänomens annimmt.
Wir haben es mit der Offenbarung staatlicher Geheimnisse zu tun. Das ist eine Straftat. Gleichzeitig ist
die Offenlegung Aufgabe einer kritischen und freien
Presse. Wenn die Beamten, die solche Dienstgeheimnisse offenbaren, auch Straftäter sind, sind sie doch
gleichzeitig die grundrechtlich geschützten Informanten
der freien Presse. Daraus hat der Deutsche Bundestag
schon 1979 den Schluss gezogen, den damaligen § 353 c
StGB zu ändern, indem er festgelegt hat: Strafbar
machen sich nicht die Journalisten, die Geheimnisse veröffentlichen, sondern nur Beamte, die ihre Dienstverpflichtung zur Geheimhaltung verletzen. Aber diese
Trennung - Freiheit der Presse auf der einen Seite und
Schutz von Dienstgeheimnissen auf der anderen Seite ist in der Folgezeit nicht gelungen. Die neuesten Fälle
zeigen das auch ganz illuster; denn über das Konstrukt
der Beihilfe und der Anstiftung werden immer wieder,
bis zum heutigen Tage, Journalisten verfolgt und Hausdurchsuchungen durchgeführt.
Das soll und muss sich ändern. Deswegen haben wir
unseren Gesetzentwurf vorgelegt, der im Wesentlichen
in sechs Punkten Abhilfe schaffen soll:
Es gibt zwei Wege, um Journalisten in diesen Fällen
zu schützen: den prozessualen, den wir nicht für den
richtigen halten, und den materiellen, den wir für richtig
halten. Wir sagen: Beihilfe und Anstiftung zum Geheimnisverrat sollen in Zukunft für Journalisten und Mitarbeiter der Presse nicht mehr strafbar sein.
({1})
Wir wollen die Justizkontrolle insofern verbessern,
als wir den Gerichten auferlegen, bei Ermittlungen gegen Journalisten das Grundrecht der Presse, das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit immer im Blick zu
haben.
Wir wollen die Zufallsfunde beschränken, soweit das
Zeugnisverweigerungsrecht das ermöglicht.
Wir wollen die Telefonverbindungsdaten von Journalisten schützen.
Wir wollen ihre Wohnungen schützen, die bisher
nicht so geschützt sind wie die Redaktionsräume.
Last, not least wollen wir das Strafrecht entrümpeln,
indem wir § 353 d Nr. 3 StGB streichen.
({2})
Alles in allem ein Vorschlag, den wir gemacht haben,
nachdem die große Koalition zwar einiges angekündigt,
aber bisher nichts vorgelegt hat. Jetzt hat die FDP mit einem Vorschlag nachgelegt, der sich in einigen Punkten
von unserem unterscheidet. Wir werden in der weiteren
parlamentarischen Beratung darauf achten, wer den besseren Vorschlag gemacht hat. Ich würde mich aber auch
freuen, wenn die Koalition endlich in die Puschen käme
und uns einen Vorschlag vorlegen würde. Angekündigt
haben Sie das bereits; aber Sie haben bisher nichts gemacht.
({3})
Das Wort hat nun der Kollege Siegfried Kauder für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nicht bei allen, aber bei den meisten Dingen schadet
blinder Eifer nur. Es geht hier um ein sehr wichtiges und
schwieriges Thema: die Abgrenzung der Ermittlungsmöglichkeiten in Bezug auf Straftäter und Straftaten gegenüber der Pressefreiheit.
Bündnis 90/Die Grünen und die FDP haben mit bemerkenswert großer Schnittmenge zwei unterschiedliche
Gesetzentwürfe vorgelegt. Bündnis 90/Die Grünen nennt
den Entwurf „Gesetz zum Schutz von Journalisten und
der Pressefreiheit in Straf- und Strafprozessrecht“. Die
FDP ist da schon neutraler und spricht von einem Gesetz
zur Sicherung der Pressefreiheit. Aber, meine Damen
und Herren, wenn man den Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen genau ansieht, merkt man sehr
schnell die Intention.
({0})
In einem laufenden Ermittlungsverfahren leistet man
zwei Journalisten, gegen die gestern Anklage erhoben
worden ist, entweder bewusst oder bedingt vorsätzlich
Schützenhilfe.
({1})
In der Problemstellung des Gesetzentwurfes heißt es
bei Bündnis 90/Die Grünen - lassen Sie mich zitieren -:
Bei der Anordnung von Durchsuchungs- und Beschlagnahmemaßnahmen gegen Medienangehörige
fehlt in einer auffälligen Häufung die notwendige
Prüfung der Verhältnismäßigkeit unter Berücksichtigung der Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 des
Grundgesetzes ({2}).
Systematisch werden bei solchen Gelegenheiten
„Zufallsfunde“ in erheblichem Ausmaß beschlagnahmt …
({3})
Das ist nichts anderes als eine Kritik an den Ermittlungsbehörden.
({4})
Eine solche Kritik mag einem einzelnen Abgeordneten
zustehen, aber nicht diesem Hohen Haus in seiner Funktion als Gesetzgebungsorgan.
({5})
Wenn Kritik geäußert wird, dann muss sie sachlich
sein. Wer Geheimnisverrat begeht, soll und muss bestraft
werden. Man kann es nicht besser ausdrücken, als man
es im so genannten „Spiegel“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. August 1966 niedergelegt findet.
Dort heißt es:
Die Presse genießt im Strafverfahren keine Privilegien … Namentlich steht im freiheitlich-demokratischen Staat der Pressefreiheit die Mitverantwortung
der Presse für die Staatssicherheit gegenüber.
(Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele
({6})
Geheimnisverrat erschüttert die Grundfeste des inneren und äußeren Bestandes des Staates.
({7})
Deswegen ist Geheimnisverrat zu Recht strafbar.
({8})
Geheimnisverrat muss nicht nur für einen Amtsträger,
sondern auch für denjenigen strafbar sein, der Beihilfe
leistet oder den Amtsträger anstiftet.
({9})
Geheimnisverrat ist zwar ein Sonderdelikt, aber es entspricht den allgemeinen Regeln des Strafrechtes, dass
nicht nur der, der die Straftat als Haupttäter begeht, sondern auch der, der dazu anstiftet oder Beihilfe leistet, bestraft werden muss, auch wenn er die Amtseigenschaft
nicht erfüllt. Da wird der Grundsatz der strengen Akzessorietät in § 28 des Strafgesetzbuches - Juristen wissen
das - aus gutem Grund durchbrochen.
({10})
Ich hoffe, die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen merken selbst, wenn sie ihren Gesetzentwurf noch einmal sorgfältig überarbeiten, was für ein
Unsinn da produziert wurde.
({11})
Sie kommen zu dem Ergebnis, die Beihilfe solle für
einen Journalisten nicht strafbar sein, und zwar deshalb,
weil erst die Veröffentlichung eine Beihilfehandlung
darstellt. Es ist übrigens auch juristischer Standard, dass
die Möglichkeit der Teilnahme eben nicht mit der Vollendung, sondern erst mit der Beendigung des Deliktes
endet; auch das weiß jeder Jurist. Man kann allenfalls
über die Frage diskutieren, ob Beihilfe nicht strafbar sein
soll. Warum wollen Sie eigentlich das Rechtsinstitut der
Anstiftung auch noch kippen? Ihr Argument, dass die
Abgrenzung zwischen Beihilfe und Anstiftung schwierig
sei, ist doch wohl nicht der Lösungsansatz für dieses
Problem. Nein, so wird es sicherlich nicht gehen.
({12})
Bündnis 90/Die Grünen bleibt auch eine Begründung
für ihre Richterschelte schuldig. Man wirft den Richtern
und der Staatsanwaltschaft vor, diese würden das Recht
aushebeln, aber nicht um gegen den Teilnehmer einer
Siegfried Kauder ({13})
Straftat zu ermitteln, sondern um über den Umweg einer
Beschlagnahme an den Informanten heranzukommen.
({14})
Ich finde, das ist eine Unverschämtheit gegenüber den
Ermittlungsbehörden, die nichts anderes tun, als das
Recht in Deutschland zu wahren.
({15})
Um diese Meinung stützen zu können, beruft sich
Bündnis 90/Die Grünen auf eine Untersuchung des
Deutschen Journalisten-Verbandes. Diese Untersuchung
ist doch sicherlich nicht objektiv; denn sie ist von den
Betroffenen selbst durchgeführt worden.
({16})
Schauen Sie sich doch einmal an, wie viele Fälle in welchem Zeitraum untersucht wurden. Es wurden 164 Fälle
von 1987 bis zum Jahr 2000 untersucht. Wurden Fälle
selektiert oder wurden alle Fälle untersucht?
({17})
Ich habe die Vermutung, dass man genau die Fälle herausgegriffen hat, bei denen die Beihilfe- bzw. Anstiftungshandlung nicht zu einer Verurteilung geführt hat.
Aber es soll hin und wieder vorkommen, dass es nicht zu
einer Verurteilung kommt, wenn Ermittlungsbehörden
eine Hausdurchsuchung vornehmen. Ich habe in meiner
letzten Rede im Deutschen Bundestag gesagt, dass wir
es nicht immer mit Straftätern, sondern auch mit Tatverdächtigen zu tun haben. Aber auch da darf es keine Privilegien für die Presse geben, sofern sich diese nicht unmittelbar aus Art. 5 des Grundgesetzes ergeben. Sie
wissen doch genau, dass sich die Grenzen des Art. 5 aus
den allgemeinen Gesetzen ergeben.
({18})
Sie sehen, dieser Gesetzentwurf ist schon im Grundansatz parteiisch, mit heißer Nadel gestrickt und nicht
durchdacht. Dabei wollen wir nicht mitmachen.
({19})
Das ist die Philosophie von Bündnis 90/Die Grünen:
Wenn wir schon reformieren, dann gehen wir mit dem
Rasenmäher über das Strafgesetzbuch hinweg und streichen auch gleich den § 353 d Nr. 3.
({20})
- Herr Montag, hören Sie einfach einmal zu! - Ich will
Ihnen sagen, was Sie bewirken, wenn Sie den § 353 d
Nr. 3 streichen.
({21})
Diese Strafvorschrift bewirkt, dass während eines laufenden Ermittlungsverfahrens, das nicht öffentlich ist,
Aktenteile nicht in der Presse veröffentlicht und nicht
publiziert werden dürfen.
({22})
Originalakten dürfen nicht publiziert werden. Das ist gut
so. Denn Ermittlungsverfahren sind nicht öffentlich,
sondern noch geheim. Wenn Sie § 353 d Nr. 3 streichen,
hat das zur Folge, dass ein Nebenkläger, der aufgrund
des Mandatsverhältnisses vom Anwalt Aktenkopien verlangen kann, die Anklageschrift, bevor sie in der Hauptverhandlung verlesen worden ist, im Internet veröffentlichen darf.
({23})
Überlegen Sie, ob Sie so etwas wollen! Der Haftbefehl
eines verhafteten Tatverdächtigen, der nicht verurteilt
ist, erscheint im Internet. Das können Sie allen Ernstes
nicht gewollt haben.
Herr Kollege Kauder, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Hans-Christian Ströbele zu?
Selbstverständlich.
Bitte schön, Herr Ströbele.
({0})
Herr Kollege Kauder, geben Sie mir Recht darin, dass
§ 353 d, den Sie gerade angeführt haben, lediglich die
wörtliche Veröffentlichung verbietet? Das heißt, im Falle
der von Ihnen genannten Anklageschrift könnten Sie die
gesamte Anklageschrift mit all dem, was darin steht, inhaltlich wiedergeben. Sie dürfen nur nicht wörtlich zitieren. Geben Sie mir Recht, dass zahlreiche Rechtsgelehrte diese Vorschrift schon aus diesem Grunde immer
wieder kritisiert und die Abschaffung gefordert haben?
Ich brauche Ihnen nicht Recht zu geben, weil ich dies
so vorgetragen habe. Es ergibt sich schlicht und ergreifend aus dem Gesetz, dass nur die wortgetreue Weitergabe von Aktenteilen strafbar ist.
Aber, Kollege Ströbele, auch Sie kennen die Welt und
Prozessgeschichten. Ein Dokument zu veröffentlichen
hat einen höheren Aussagewert, als wenn ich den Inhalt
Siegfried Kauder ({0})
aus meiner Sicht wiedergebe. Deswegen ist diese Strafvorschrift zu Recht so gefasst worden.
({1})
Ich hätte von Ihnen eigentlich eine andere Kritik erwartet, nämlich die, dass der Anwendungsbereich relativ gering ist und Straftaten in diesem Bereich relativ
wenig verfolgbar sind. Dazu kann ich nur sagen: Das ist
der präventive Charakter dieses Gesetzes. Deswegen
hält sich die Presse daran. Ich könnte Ihnen auch entgegenhalten, dass wir erst in der letzten Legislaturperiode
§ 201 a des Strafgesetzbuches, den Schutz des höchstpersönlichen Lebensbereiches, eingeführt haben, dessen
Anwendungsbereich nicht wesentlich breiter ist als der
des § 353 d Nr. 3 des Strafgesetzbuches.
({2})
Meine Damen und Herren, ich möchte nicht alles
schlecht machen. Einige gute Ansatzpunkte hat diese
Diskussion sicher. Ich wende mich da insbesondere an
die FDP. Wir werden die Fragen des Zufallfundes überdenken müssen
({3})
und wir werden die Frage des Sammelns von Telekommunikationsdaten überdenken müssen. Aber das muss
man mit aller Sorgfalt tun.
Festhalten kann man, dass § 97 der Strafprozessordnung, also der Paragraf, der die Beschlagnahme zulässt,
letztmals im Jahr 1975 inhaltlich geändert worden ist.
Genau in diesem Jahr hat man eingeführt, dass dort, wo
ein Journalist sich der Teilnahme an einer Straftat schuldig gemacht hat, beschlagnahmt werden darf. Das funktioniert seither durch die Auslegung der Gerichte ganz
ordentlich.
Herr Kollege Montag, auch das werden Sie einräumen müssen: Das Sammeln von Post- und Telekommunikationsdaten wurde im Fall der zwei vor kurzem betroffenen Journalisten in der Beschwerde gekippt. Das
zeigt: Wenn man Beschwerdemöglichkeiten ausnützt,
kommt man zum Erfolg. Deswegen wird man prüfen
müssen, ob die Rechtsprechung nicht schon auf dem
richtigen Weg ist, ob dort schon genügend Schutz besteht und wir einer Gesetzesänderung gar nicht bedürfen,
und zwar nicht um der Gesetze willen und auch nicht
deswegen, um den Lobbyismus gewisser Bevölkerungsgruppen zu befriedigen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die FDP hat diesen Gesetzentwurf nicht in blindem Eifer erstellt. Wir haben uns damit vielmehr sehr
viel Zeit gelassen, weil wir natürlich auch die Meinung
der Vertreter der Länder eingeholt haben sowie Justizminister der Länder und Mitarbeiter in den entsprechenden
Strafrechtsabteilungen befragt haben. Sie stehen nun
nicht in dem Verdacht, einem mitzuteilen: Hier kann
man einmal eine Strafbestimmung überarbeiten oder
vielleicht aus einer Strafbestimmung eine Nummer streichen. Unser Gesetzentwurf ist in den Ländern, die wir
befragt haben, auf keinerlei Bedenken gestoßen.
Herr Kauder, Sie haben hier sehr differenziert, aber
auch sehr engagiert Stellung bezogen. Ich möchte zu
§ 353 d Nr. 3 klar sagen: Es hat auf dessen Grundlage,
wie Sie richtig bemerkt haben, kaum Verurteilungen gegeben. Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich mit
dieser Bestimmung befasst. Es hat schon im Jahre 1986
ausgeführt, dass der Wirkungskreis dieser Bestimmung
extrem klein und ihre Auswirkung sehr gering sei.
Wir sind nach langer Überlegung zu der Überzeugung
gekommen, dass es wirklich nicht zu begründen ist, warum die Veröffentlichung eines konkreten Zitats, zum
Beispiel aus einer Anklageschrift, unter Strafe gestellt
und dieses Verhalten kriminalisiert wird, die sinngemäße
Wiedergabe aber, die möglicherweise mit einer verfälschenden Darstellung des Sachverhalts einhergeht, keinerlei strafrechtlicher Verantwortung unterliegt und auch
nicht entsprechend erfasst werden kann. Deshalb halten
wir es nicht für richtig, die korrekt zitierende Berichterstattung zu kriminalisieren.
({0})
Herr Kauder, Kernpunkt ist die materielle Strafbarkeit, an der sich alle anderen Vorschriften festmachen;
denn wenn wir ein gewisses Verhalten nicht unter Strafe
stellen, dann brauchen wir uns auch in der Strafprozessordnung nicht mehr damit auseinander zu setzen. Deswegen haben wir sehr lange und sehr sorgfältig überlegt,
wie wir mit § 353 b StGB umgehen sollen. Wir sind zu
dem Ergebnis gekommen, dass wir das Anstiften anderer, eine Verletzung des Dienstgeheimnisses zu begehen,
sehr wohl weiterhin unter Strafbarkeit stellen wollen.
Das gehört nach unserer Meinung nicht zu dem, was unter den Schutz der Pressefreiheit von Journalisten fällt.
({1})
Wir haben uns den Sachverhalt, der immer wieder zu
Verfahren führt, die in der Vergangenheit so gut wie nie
eine Verurteilung der Journalisten zur Folge hatten, aufgrund dessen es aber wegen einer möglichen Strafbarkeit
in erheblichem Umfang zu Durchsuchungen, zu Beschlagnahmen und dann natürlich auch zu Zufallsfunden
gekommen ist, genau angesehen. Deshalb sagen wir: Der
Schutz von Dienstgeheimnissen reicht so weit, bis derjenige, der zur Geheimhaltung verpflichtet ist, das
Dienstgeheimnis verletzt und Unterlagen herausgegeben
hat. Wenn das passiert ist, dann ist dieser Tatbestand
vollendet. Wenn anschließend ein Journalist mit diesem
Material umgeht, dann handelt es sich nicht mehr um ein
strafbares Verhalten, das rechtfertigt, die Strafbestimmung in dieser Form, nämlich gemäß § 353 b StGB, aufSabine Leutheusser-Schnarrenberger
rechtzuerhalten. Deshalb haben wir ihn in unserem Gesetzentwurf anders angelegt, als es Bündnis 90/
Die Grünen in ihrem Gesetzentwurf tun. Ich rede jetzt
nicht über die Klugheit von Journalisten bei ihrer Berichterstattung. - Ich denke, bei manchem ist es klug, davon zu berichten; bei manchem ist man besser beraten,
es nicht in der Berichterstattung zu verwenden. - Ich
hoffe, dass auf dieser Grundlage sehr wohl eine konstruktive Beratung und vielleicht auch eine Mehrheitsfindung im Ausschuss möglich sein werden.
Unsere strafprozessualen Vorschläge sind zum Teil
eine Konsequenz daraus, aber auch eine Konsequenz aus
dem, was wir in der Praxis erleben. Wir wollen anders
als Bündnis 90/Die Grünen auch eine Änderung in der
Strafprozessordnung. Wir wollen, dass ein dringender
Tatverdacht, nicht nur ein einfacher Tatverdacht, vorliegen muss, damit es zu Beschlagnahmen kommen kann.
Darüber können wir diskutieren. Ich denke aber, das
dürfte nicht auf gravierende Bedenken stoßen.
Das, was mit § 100 h StPO passiert ist, nachdem man
damit die Vorschrift aus dem FAG abgelöst hat, bedarf
noch, wie Sie, Herr Kauder, zu Recht gesagt haben, einer
Überprüfung und wohl auch einer Korrektur; denn die
Journalisten sind dort einfach nicht erwähnt worden.
Warum soll man sie herausnehmen, wenn man andere
mit Zeugnisverweigerungsrecht und Berufsgeheimnis
erfasst? Ich denke, gerade angesichts der Bedeutung der
Pressefreiheit, die nicht nur ein Grundrecht neben vielen
anderen, sondern ein konstitutives Element unserer Demokratie ist, sind wir gut beraten, uns diese Bestimmungen vorzunehmen.
Ich habe den Eindruck, dass sich Vertreterinnen und
Vertreter der großen Koalition unserem Gesetzentwurf
vielleicht stärker nähern können als manchen Bestimmungen von Bündnis 90/Die Grünen. Wenn dabei mehr
Pressefreiheit herauskäme, dann hätte sich dieses Engagement wirklich gelohnt.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat Joachim Stünker, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, wir sind mittlerweile - wenn auch zu später
Stunde - bei diesem wichtigen Thema ganz gut in die
Diskussion eingestiegen, die wir im Rechtsausschuss des
Bundestages weiterführen werden. Ich denke, wir alle
hier sind uns darin einig, dass die Pressefreiheit für uns
ein hohes Gut ist, dass sie konstitutiv für die Demokratie
ist und die Demokratie mit Leben erfüllt.
Schon heute haben wir durch die Zeugnisverweigerungsrechte und durch die Beschlagnahmeverbote einen
umfassenden Schutz der Pressefreiheit in der Strafprozessordnung. Das müssen wir einmal feststellen. Dieser
Schutz ist von uns 2002 zum letzten Mal novelliert und
noch ein Stück weiter ausgedehnt worden. Wir haben bei
der Novellierung der Vorschriften zur Wohnraumüberwachung Überwachungsverbote zugunsten von Journalisten eingeführt. Ich denke, da brauchen wir alle uns gegenseitig nichts vorzumachen und nichts in Abrede zu
stellen. Es ist nicht so, dass der eine die Pressefreiheit
mehr schützen möchte als der andere.
Auf der anderen Seite ist uns allen auch klar, dass der
Schutz von Berufsgeheimnisträgern immer nur so weit
reichen kann, wie sich diese in Ermittlungsverfahren und
auch in Strafverfahren als nicht schuldig erweisen. Ich
glaube, auch da sollten wir uns einig sein. Das eigentliche Problem, um das es hier geht, finden wir im
30. Abschnitt des Strafgesetzbuches bei den so genannten Straftaten im Amt. Das ist ein bisschen kompliziert;
denn bei diesen Straftaten werden letzten Endes diejenigen, die Presseerzeugnisse veröffentlichen - das sind
nun einmal meistens Journalisten -, allein durch die Veröffentlichung nach allgemeiner Teilnahmelehre zum
Teilnehmer, auf jeden Fall aber zum Gehilfen, da sie
Beihilfe leisten können, bevor das Delikt beendet ist.
Das ist hier nun einmal das Problem. In dem Augenblick, in dem sie zum Teilnehmer werden, greifen die
Schutzvorschriften - Zeugnisverweigerungsrechte, Beschlagnahmeverbote usw. - nicht mehr. Dann ist das
ganze Instrumentarium der Strafprozessordnung und der
Ermittlungsmaßnahmen natürlich eröffnet. Das hat
Durchsuchungen und Beschlagnahmen - mit Zufallsfunden und allem, was dazukommt - zum Ergebnis. Ich
glaube, das finden wir alle - das habe ich aus der Diskussion heute hier ein bisschen herausgehört - im Ergebnis nicht richtig. Ich zumindest kann für meine Fraktion
sagen, dass wir angesichts des hohen Verfassungsrangs
der Pressefreiheit der Meinung sind - ich verweise auf
die Fälle, die gerade durch die Medien gehen -, dass hier
ein Änderungsbedarf besteht.
Wir wissen auf der anderen Seite natürlich, dass jede
Privilegierung von Journalisten im Rahmen staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen einer ganz besonderen Legitimation und sorgfältiger Abwägung bedarf; dies sagt
auch das Bundesverfassungsgericht. Wir wissen auch,
dass ein genereller Vorrang der schutzwürdigen Interessen von Journalisten gegenüber den Strafverfolgungsinteressen des Staates nicht zu begründen ist; auch das ist
vollkommen klar. Von daher wird die Diskussion für uns
insgesamt ein bisschen schwierig werden; man muss
schon genau hinschauen.
Ich bin der Meinung - wie auch meine Fraktion -,
dass hier Handlungsbedarf besteht; allerdings nicht in
dem Sinne, wie es in den beiden Gesetzentwürfen unterschiedlicher Art, die das Problem lösen wollen, hier dargestellt worden ist.
({0})
Ich bin explizit nicht der Meinung, dass man das Ganze
im materiellen Strafrecht lösen kann. Wir können nicht
für eine bestimmte Berufsgruppe Ausnahmen im materiellen Strafrecht vorsehen, nur weil es diese bestimmte
Berufsgruppe betrifft. Wir werden es rechtssystematisch
und verfassungsrechtlich nicht begründen können,
sozusagen eine „Lex specialis“ im materiellen Recht zu
schaffen.
Wir werden das Ganze letztendlich nur über das Prozessrecht lösen können, und zwar indem wir uns einmal
die Tathandlungen, um die es hier geht, genau anschauen. Für den Teilnehmer, für den Journalisten, um
den es hier geht, ist mit der Veröffentlichung der Tatbestand der Teilnahme erfüllt, auch wenn der Haupttäter
noch gar nicht bekannt sein sollte und ein Verfahren gegen unbekannt läuft. Deshalb ist in dem Augenblick, in
dem eine Teilnahme völlig klar ist, eine Beschlagnahme
und Durchsuchung eigentlich nicht mehr erforderlich;
denn für Ermittlungen im Zusammenhang mit seinem
Delikt - das behaupte ich einmal - brauchen wir sie
nicht mehr. Darum wird in der Tat - Herr Kollege
Kauder, das muss ich doch sagen - diese Schneise genutzt, um die Suche nach dem eigentlichen Haupttäter
vornehmen zu können. Dabei kommt es zu den Dingen,
über die wir hier gesprochen haben. Ich meine, wir müssen das Ganze im Wege des Strafprozessrechts lösen. Sie
wissen: Wir alle haben aufgrund der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zur Strafprozessordnung und
zu weiteren Vorschriften die Aufgabe, eine Novellierung
vorzunehmen. Wir haben hier schon im Dezember darüber diskutiert.
Herr Kollege Montag, wir sind durchaus tätig, aber es
dauert ein bisschen. Man muss sehr sorgfältig vorgehen,
weil das sehr schwierig und kompliziert ist. Man kann
das nicht einfach punktuell lösen. Ich denke, dass wir Ihnen noch in diesem Sommer einen Entwurf für eine Novellierung vorlegen können - dann können wir uns über
diese Fragen unterhalten -, damit wir in dem kleinen
Teilbereich, den ich versucht habe herauszuarbeiten, den
Schutz von Journalisten sicherstellen können.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Petra Pau spricht für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat einen
Gesetzentwurf zur Stärkung der Pressefreiheit vorgelegt.
Das begrüße ich namens der Fraktion Die Linke ausdrücklich.
Der Gesetzentwurf hat einen Anlass: die Durchsuchung von Redaktionsräumen des Magazins „Cicero“ im
September 2005. Das war kein Einzelfall. Razzien bei
Medien gibt es häufiger, vornehmlich bei vermeintlich
linken.
({0})
Die „taz“ könnte darüber Geschichte erzählen oder auch
die „Junge Welt“.
Die politische Farbenlehre ist aber ein ganz anderes
Thema. Heute geht es prinzipiell um die Frage, ob das
Grundgesetz überall gilt und wie es zu schützen ist. Das
Grundgesetz schützt die Pressefreiheit. Es schützt sie,
weil die Pressefreiheit für eine lebendige Demokratie
unverzichtbar ist. Zu diesem Schutz gehört, dass Journalisten das Recht haben, ihre Quellen und Informanten zu
schützen. Sie gehen den Staat nichts an. Nun sagt ein
Sprichwort, Ausnahmen bestätigen die Regel. Diese
Ausnahmen müssen aber gut begründet sein.
Darauf zielt der Gesetzentwurf der Grünen. Deshalb
unterstütze ich ihn politisch. Die vermeintlichen Ausnahmen nehmen Überhand. Überhand nehmen auch die
Kollateralschäden; denn allzu gerne wird bei Razzien in
Redaktionsstuben alles mitgenommen, was mitnehmbar
ist: CDs, Festplatten, Adressenlisten und Archive, also
alles, was im journalistischen Alltag so anfällt und vielleicht auch tiefer blicken lässt, als der Polizei aus dem
konkreten Anlass heraus erlaubt ist.
In dem konkreten Fall geht es um eine besondere
Konstruktion. Der damalige Bundesinnenminister, Otto
Schily, witterte Geheimnisverrat. Er vermutete in seinen
Diensten ein Plappermaul. Er versuchte, sein Rätsel in
den Redaktionsstuben des Magazins „Cicero“ lösen zu
lassen. Genau das darf so nicht sein. Ein Leck im Dienst
ist kein Grund, die Pressefreiheit und damit das Grundgesetz außer Kraft zu setzen.
({1})
Nun streiten sich die Rechtsgelehrten, ob der Innenminister nicht doch Recht hat. Weil das strittig ist, muss
das Recht präzisiert werden. Genau darauf zielt der Gesetzentwurf der FDP. Mit ihm sollen Bürger- und Freiheitsrechte gestärkt werden. Auch dafür werbe ich ausdrücklich.
In dieser Auseinandersetzung haben wir es übrigens
mit demselben Konflikt zu tun wie in der Debatte um
den so genannten BND-Ausschuss. Wer Bürgerrechte
verteidigt, steht im Verdacht, Sicherheitsinteressen zu
verraten. Das ist genau das Deutschland, das ich - trotz
aller Werbung - nicht bin und auch nicht will. Ich will
weiterhin einen sozialen Bürgerrechtsstaat.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am kommenden
Samstag werden wir übrigens hier in Berlin unmittelbar
neben dem Reichstag, auf dem Platz des 18. März, an die
Märzrevolution anno 1848 erinnern, und zwar - wie seit
vielen Jahren - parteiübergreifend. Die Pressefreiheit
war eines der Ziele dieser Revolution.
Abschließend: Beide Anträge gehen in die Ausschüsse. Dort können wir über die Paragrafenfeinheiten
verhandeln und auch darüber, ob ein Paragraf aus dem
Jahre 1936, der vermeintlichen Geheimnisverrat unter
Strafe stellt, so wie er im Moment gefasst ist, noch zeitgemäß ist. Man kann nicht einerseits Informationsfreiheit per Gesetz befördern und zugleich die Pressefreiheit
per Gesetz beschneiden. Das ist widersinnig. Deshalb
wird sich die Linke in den Beratungen über diese Entwürfe für eine Lösung zugunsten der Pressefreiheit und
der Bürgerrechte sowie von mehr Demokratie einsetzen.
({3})
Zum Abschluss der Debatte hat das Wort der Kollege
Peter Danckert, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin Pau, als ich Ihren
Beitrag eben hörte, habe ich gedacht: Vielleicht sollten
Sie einmal über die Zeit von 1945 bis 1989 reflektieren.
Dann reden wir noch einmal gemeinsam über Pressefreiheit.
({0})
Das hier ist doch zum Teil wirkliche Heuchelei. Es tut
mir Leid, dass ich das an dieser Stelle einmal sagen
muss.
({1})
- Ja. Man muss ein bisschen in die eigene Vergangenheit
zurückschauen, ehe man sich hier so aufspielt.
({2})
Aber jetzt komme ich zu dem Hinweis darauf, dass
wir ganz am Anfang einer parlamentarischen Debatte
stehen, die aus meiner Sicht notwendig ist. Die Verfahren der letzten Monate, vielleicht auch etwas länger zurückliegend, belegen aus meiner Sicht, dass es erforderlich ist, dass wir uns in aller Ruhe und ohne Eifer und
Zorn über diese Fragen unterhalten. Ich denke, der Fall
„Cicero“ ist kein schlechter Fall, um einmal exemplarisch darüber zu diskutieren, was dabei schief gelaufen
ist, und um gemeinsam darüber zu beraten, was wir im
Verfahren verbessern müssen.
Im Zentrum, Kollege Kauder, steht doch die Pressefreiheit. Sie ist ein ganz hohes Gut. Das würden Sie gar
nicht bestreiten; das weiß ich. Aber es gibt immer wieder
Eingriffe in die Pressefreiheit. Ich als Abgeordneter
muss ganz ehrlich sagen: Ich spreche gerne mit den Journalisten und ich fühle mich ihnen sehr verbunden, weil
wir oft gar nicht die Möglichkeit haben, an Dinge zu
kommen, die mit einem Mantel des Geheimnisses bedeckt sind. An wesentliche Informationen kommen wir
gar nicht ohne die Hilfe der Journalisten.
Nun sehe ich durchaus das Spannungsfeld zwischen
dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit - nicht
nur unseres - und dem Interesse der staatlichen Organe,
bestimmte Dinge unter Geheimschutz zu stellen. Es besteht eine Differenzierung zwischen Staatsgeheimnissen
im Sinne von § 93 StGB und den Geheimnissen im
Sinne des § 353 d. Das ist ein erheblicher Unterschied.
In diesem Bereich unserer strafgesetzlichen Regelungen
wird sehr wohl unterschieden. Ich finde, diese Differenzierung müssen wir im Verhältnis zur Pressefreiheit
nachvollziehen.
Eines kann ich mir an dieser Stelle nicht verkneifen:
Niemand in unserer Republik befindet sich in einer Situation, in der er nicht kritisiert werden darf. Wir werden
permanent kritisiert. Ich halte Kritik auch für vertretbar
- sie sollte nur nicht diskriminierend sein -, wenn wir
mit staatsanwaltschaftlichem Vorgehen oder richterlichen Entscheidungen nicht einverstanden sind. Es ist nur
immer die Frage, wie wir kritisieren. Aber dass sie außerhalb der Kritik stehen, das kann ich nicht erkennen.
({3})
- Auch in einem laufenden Ermittlungsverfahren! Ich
sage Ihnen ganz ehrlich: Auch in einem laufenden Ermittlungsverfahren muss es möglich sein, Dinge kritisch
anzusprechen.
({4})
Aber immer in der richtigen Form; das will ich Ihnen
gern konzedieren. Auf diesen Punkt muss man aufmerksam machen.
Jetzt komme ich zu dem Verfahren, das im Zentrum
unserer Überlegungen steht. Ich greife gern auf das Urteil zurück, das Sie eben ansatzweise zitiert haben, nämlich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
vom 5. August 1966, die so genannte „Spiegel“-Entscheidung. Darin ist ganz klar ausgeführt worden - ich
weiß nicht, ob das vor dem Hintergrund der Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse Bestand hat -,
dass eine Durchsuchung und Beschlagnahme, die ausschließlich dem Zweck dient, den Informanten zu ermitteln, unzulässig ist. Das hat das Bundesverfassungsgericht klar gesagt und das kann man durchaus auf diesen
Fall anwenden. Sie wissen wahrscheinlich wie ich, dass
diese Beschlagnahme- und Beschwerdeentscheidung der
Gerichte in Potsdam jetzt auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts steht. Eine Verfassungsbeschwerde
wurde eingereicht. Wir werden sehen, was daraus wird.
Der „Gehilfe“, der Journalist, war bekannt. Man
wusste auch, dass das Dokument, aus dem er zitiert hat,
unter Geheimschutz stand. Hier war also überhaupt
keine Aufklärung mehr erforderlich. Dennoch hat man
nach Wochen bzw. Monaten ganz gezielt versucht, den
Haupttäter zu ermitteln. Das ist - wenn ich mir an dieser
Stelle die Freiheit nehmen darf, das so zu bezeichnen ein Missbrauch unserer strafprozessualen Regeln. Das
tangiert sehr wohl die Pressefreiheit, die ich an dieser
Stelle ganz hoch hängen würde.
Herr Kollege.
Wie ich eingangs gesagt habe, befinden wir uns erst
am Beginn dieser Diskussion. Lassen Sie uns gemeinsam
alle relevanten Aspekte sehr sorgfältig analysieren. Wir
sollten auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abwarten, um eine noch bessere Grundlage für unsere Beratungen zu haben.
Vielen Dank und einen schönen Abend.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, die
beiden Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/576 und
16/956 an die in der Tagesordnung vorgesehenen Ausschüsse zu überweisen. - Dazu gibt es, wie ich sehe,
keine anderen Vorschläge. Dann ist so beschlossen.
Damit rufe ich den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Branntweinmonopol und von Verbrauchsteuergesetzen
- Drucksache 16/913 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO
Nach einer Verabredung zwischen den Fraktionen ist
eine Aussprache von einer halben Stunde vorgesehen. Dazu höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster erhält der Kollege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion, das Wort.
({1})
Ich danke Ihnen ausdrücklich, Herr Oswald. - Wenn
es um das Branntweinmonopol geht, kommt eigentlich
Gemütlichkeit auf. Das sieht man auch an der Teilnahme
hier im Saal. Von verschiedenen Seiten wurden sowohl
Norbert Schindler als auch ich dringend gebeten, unsere
Reden zu Protokoll zu geben. Da wir beide aber so gut
„im Stoff“ sind - das hat allerdings nichts mit Branntwein zu tun ({0})
und wir nicht groß etwas aufgeschrieben haben, konnten
wir nichts zu Protokoll geben. Wir müssen unsere Reden
daher schlicht und einfach halten. Ertragt es mit Fassung.
Für die betroffenen Landwirte, die neben ihrem landwirtschaftlichen Betrieb eine landwirtschaftliche Brennerei betreiben, ist dieses Thema allerdings von existenzieller Bedeutung;
({1})
daher nehmen wir es ernst. Die Betroffenen sitzen jetzt
vor dem Fernseher; denn für sie ist dieses Thema von
größter Bedeutung.
({2})
- Genau.
Ich möchte auf die Vorgeschichte des vorliegenden
Gesetzentwurfs hinweisen: Im Jahr 1999 haben wir das
Branntweinmonopol grundlegend reformiert, indem wir
die gewerblichen Brenner davon ausgenommen und das
Monopol auf die landwirtschaftlichen Brennereien, die
quasi eine Kreislaufwirtschaft repräsentieren, reduziert
haben. Dadurch haben wir den Zuschussbedarf aus dem
Bundeshaushalt deutlich verringert und die ökonomische
Zukunft des verbleibenden Monopols verlängert. Das
war die Überlegung, die damals dahinter stand.
Später wurden auf EU-Ebene zwei kritische Diskussionsansätze zum Branntweinmonopol verfolgt. Die erste
Frage, um die es ging, war, ob Korn ein landwirtschaftliches Produkt oder ein Industrieprodukt ist. Da man auf
dieser Ebene von diesen Dingen keine Ahnung hat, hat
man sich leider entschieden, es als Industrieprodukt
einzustufen.
({3})
Daraus mussten Konsequenzen gezogen werden. In einer
gemeinsamen Anstrengung haben wir es den Kornbrennern ermöglicht, dass sie nach wie vor ihren Getreidebrand herstellen und ihn zur Herstellung von Neutralalkohol abliefern können, wodurch wir insbesondere die
ökonomische Basis für die vielen Westfalen, die davon
betroffen sind, erhalten konnten.
Die zweite Herausforderung war noch größer: Die
Kommission hat generell hinterfragt, ob das Branntweinmonopol nicht insgesamt eine unzulässige Beihilfe
darstellt. Hier hat sich die Bundesregierung wacker geschlagen. Dafür mein großes Lob! Wir haben es hinbekommen, dass dieses Monopol zumindest bis zum
Jahr 2010 europafest erhalten bleibt und rechtzeitig, im
Jahr 2009, über eine mögliche und vielleicht nötige
Nachfolgeregelung diskutiert werden soll.
Dieser gesamte Prozess mündete in dem heute erstmals zu beratenden Gesetzentwurf. Nun müssen bestimmte Maßnahmen, die im Zusammenhang damit stehen, dass dieses Monopol früher auch gewerbliche
Brennereien beinhaltete, gesetzestechnisch bereinigt
werden.
Die Zuführung an die DKV, eine Einrichtung in Lüdinghausen - kennt kein Mensch außer den Westfalen -,
wo Korn gereinigt worden ist, um ihn als Neutralalkohol
weiterzureichen, braucht nicht mehr bedient zu werden,
weil Korn als solcher aus dem Monopol herausgefallen
ist. Die DKV hat ihren Auftrag rechtzeitig an die Monopolverwaltung zurückgegeben. Der entsprechende BeReinhard Schultz ({4})
trag steht dem Monopol jetzt für andere Zwecke zur Verfügung. Für die betroffenen Brennereien ist all das ein
großer struktureller Umbau.
Hier im Parlament sind kritische Diskussionen geführt
worden - von uns und von anderen -, dass der Aufwand
für die eigentliche Monopolverwaltung immer zulasten
dessen geht, was an Brennrechten für die Brenner finanziert werden kann, und dass die sich gefälligst auf Sparflamme zu setzen hätten. Ich will bei dieser Gelegenheit
loben, dass diese Appelle gehört worden sind: In der Monopolverwaltung wird außerordentlich wirtschaftlich
gearbeitet, im wahrsten Sinne des Wortes auf Sparflamme. Die Monopolverwaltung hat kaufmännisches
Talent an den Tag gelegt und nennenswerte Alkoholmengen in Bereiche verkaufen können, die nicht unter das
Monopol fallen. Dies ging zugunsten der betroffenen
Landwirte, ohne dass dadurch der Bundeshaushalt zusätzlich belastet wurde. Dass sich eine Verwaltung, die
über 80 Jahre auf dem Buckel hat, so hervortut, sieht man
nicht jeden Tag.
Unsere Aufgabe wird es sein, diesen Prozess zu begleiten. Das ist zwar kein volkswirtschaftlich relevanter
Bereich, aber er ist deswegen interessant - das sage ich
aus Überzeugung -, weil die Landwirte, die in ihm wirtschaften, nur selbst erzeugtes Getreide brennen, die
Rückstände dieses Brennprozesses an ihre Tiere verfüttern, wobei die Gülle und der Dung der Tiere erneut auf
den Feldern ausgebracht wird, auf denen das Getreide
wächst - Kreislaufwirtschaft im engsten Sinne. Das ist
auch der Grund, weswegen die EU diese Beihilfe akzeptiert hat: Dafür sprechen ökologische Gesichtspunkte auch ein interessanter Punkt. Der größte Teil des Produkts landet in der kosmetischen Industrie und in der
pharmazeutischen Industrie. Nur ein kleiner Teil landet
in den beiden Leberlappen von Abgeordneten und anderen Feinschmeckern; das muss man auch einmal sagen.
Es geht also weniger um die Subventionierung von Hartsäufern, sondern in erster Linie um die Förderung eines
landwirtschaftlichen Prozesses, dessen Produkte in sehr
viele unterschiedliche industrielle Verfahren einmünden.
Zur Verkürzung der Frist für die Fälligkeit der
Steuer: Das ist ein Gebot des Bundesrechnungshofs gewesen. Wir haben für die Fälligkeit bestimmter Verbrauchsteuern - Schaumwein oder Kaffee zum Beispiel relativ lange Fristen, viel länger, als jeder Kaufmann sie
gewöhnlich hat; die Umsatzsteuervorauszahlung etwa
muss pünktlich zum fünften des Monats eingehen. Fristen
von 75 Tagen dagegen waren absolut großzügig und sind
angesichts der Situation, die wir jetzt haben, nicht mehr
hinnehmbar. Der Bundesrechnungshof wollte die Frist
drastisch verkürzen: auf 35 Tage. Wir sind - so sind wir
halt - gnädig und sagen: 50 geht auch in Ordnung. Das ist
immer noch deutlich darunter und es erleichtert die Umstellung. Es kann aber durchaus passieren, dass wir diese
Schraube irgendwann einmal noch ein wenig anziehen
müssen; denn auch 50 Tage sind ein langer Zeitraum für
die Fälligkeit einer Steuerzahlung. Unter dem Strich gesehen sind die betroffenen Branchen - im Wesentlichen
die Schaumweinindustrie und die Kaffeeindustrie - aber
damit einverstanden und es gibt keine größeren Schwierigkeiten, geschweige denn ökonomische Verwerfungen.
Zum Schluss ein Appell - auch wenn das nicht sämtliche Abgeordneten massiv interessiert, allenfalls die aus
den ländlichen Räumen -:
({5})
Wir sollten versuchen, diesen relativ positiven Ansatz
des inzwischen über 80 Jahre alten Branntweinmonopols
in einer modernen Form auch über 2010 hinaus zu retten. Ich gehe davon aus, dass Norbert Schindler - er hat
den nächsten Redebeitrag - mir dabei helfen wird.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Zwischendurch erlaube ich mir, dem Kollegen
Dr. Volker Wissing von der FDP-Fraktion das Wort zu
geben.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Auch mir war aufgefallen, dass gewissermaßen Herr Schindler schon angekündigt worden ist. Aber ich war ganz sicher, dass Sie
auf eine ordnungsgemäße Debattenführung hinwirken
werden.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es hat unter RotGrün begonnen und Schwarz-Rot macht so weiter: Sie
entziehen den mittelständischen Unternehmen Liquidität, um Haushaltslöcher zu stopfen.
({1})
Zuerst war es die Vorziehung der Fälligkeit der Sozialbeiträge um einen Monat, durch die dem Mittelstand
20 Milliarden Euro entzogen worden sind.
({2})
Jetzt wollen Sie den Unternehmen weiter Liquidität entziehen, indem Sie durch eine Verkürzung der Fälligkeitsfristen von Verbrauchsteuern weiter Millionenbeträge
abschöpfen wollen.
({3})
- Nach Ihrer Vorstellung, Herr Schultz, bereitet das den
Unternehmen keine Probleme. Die Realität in Deutschland sieht aber anders aus: Die deutschen Unternehmen,
die ohnehin nur eine sehr geringe Eigenkapitalquote haben, benötigen liquide Mittel. Sie müssen investieren.
Wer die Liquidität mittelständischer Unternehmen einschränkt, schränkt ihre Flexibilität und damit ihre
Wettbewerbsfähigkeit ein. Das gefährdet in den betroffenen Branchen Arbeitsplätze.
({4})
Sie machen einseitig Politik aus der Perspektive des
Staates heraus, ganz nach dem Motto: Hauptsache, wir
bekommen möglichst viel Geld in die Kassen. Das
Schlimme ist nur, dass das zulasten der Menschen geht,
die in diesem Land Verantwortung übernehmen, die anpacken und Arbeitsplätze schaffen wollen. Denjenigen
machen Sie mit diesem Gesetz wieder das Leben schwer.
({5})
Die Frage ist: Wann bringen Sie endlich etwas auf den
Weg, das unserer Wirtschaft hilft? Machen Sie endlich
Ernst mit Ihren angekündigten Entlastungen! Stattdessen
legen Sie uns eine Belastung nach der anderen vor und
wundern sich, dass die Wirtschaft nicht in Schwung
kommt und dass wir immer mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in unserem Land verlieren. Das
kann doch nicht richtig sein.
({6})
Wenn Sie jetzt den Mittelstand erneut zur Kasse bitten, dann sollten Sie den Bürgerinnen und Bürgern auch
offen sagen, was das für Folgen hat. Sie kassieren wieder
mehr Steuern ab, machen sich dabei aber offenbar nicht
klar, wozu das führt. Sie sollten den Beschäftigten der
Sektkellereien und den Kaffeeproduzenten offen ins Gesicht sagen, dass Sie damit ganz konkret Arbeitsplätze in
unserem Land gefährden.
({7})
Ich möchte Ihnen die Zahlen vorhalten: Die Zahl der
Beschäftigten bei Spirituosenherstellern ist seit 1998
um fast 30 Prozent gesunken.
({8})
Die Zahl der Beschäftigten bei Sektkellereien ist im gleichen Zeitraum um 15 Prozent zurückgegangen. 10 Prozent der Spirituosenhersteller haben gleich ganz dichtgemacht, sie haben aufgeben müssen.
Bei den Schaumweinherstellern ist der Umsatz seit
1998 um 23 Prozent zurückgegangen
({9})
Das betrifft besonders den ländlichen Raum. Ich freue
mich, dass mein Kollege Norbert Schindler zu diesem
sehr ernsten Thema gleich noch sprechen wird; denn die
Belastungen treffen auch den Fassweinmarkt, weil sie an
die Winzerinnen und Winzer vor Ort weitergegeben werden müssen.
Trotzdem stellen Sie sich hier hin, Herr Schultz, und
sagen, das sei alles nicht schlimm, man könne ruhig
noch ein bisschen Liquidität abziehen. Die Sozialversicherungsbeiträge werden 13-mal kassiert, die Fristen
werden vorverlagert, aber über Entlastungen für den
deutschen Mittelstand redet man mal im Jahr 2008 oder
am Sankt-Nimmerleins-Tag. Was ist das für eine Politik?
Die Kuh, die Sie, meine Damen und Herren von der großen Koalition, mit Ihrem Gesetzentwurf erneut melken
wollen, gibt langsam keine Milch mehr.
Mit Ihrem Gesetzentwurf riskieren Sie weitere Arbeitsplätze in unserem Land. Das ist unverantwortlich.
Bei 5 Millionen Arbeitslosen sollten Sie eine andere Politik machen. Alles, was Arbeitsplätze gefährdet, muss
unterbleiben.
({10})
Egal, ob in den Bereichen der Spirituosen-, Schaumwein- oder Kaffeeherstellung: Unser Land hat keinen
einzigen Arbeitsplatz zu verschenken.
Die Haushaltssituation ist desolat und zweifellos dramatisch. Sie von Rot-Grün haben der großen Koalition
einen Scherbenhaufen hinterlassen; das will keiner in
Abrede stellen. Nur kommen Sie aus der Misere nicht
heraus, wenn Sie unentwegt den Mittelstand belasten,
der in Deutschland noch Arbeitsplätze schafft, der anpacken und dieses Land wieder nach vorne bringen will.
({11})
Das ist offenbar die Gruppe, die Sie sich für Ihre Belastungen besonders vorgenommen haben.
Dabei sind Sie von der CDU/CSU nicht angetreten,
um dem, was Rot-Grün hinterlassen hat, noch eins draufzusetzen. Ich erinnere mich in Sachen Mittelstandsförderung von Ihrer Seite noch an ganz andere Sätze. Der
Gesetzentwurf, den Sie uns jetzt vorlegen, schwächt den
deutschen Mittelstand und den ländlichen Raum. Eine
höhere Schaumweinsteuer bedeutet eine Belastung für
den deutschen Weinbau. Ich halte das für höchst bedenklich. Das ist unverantwortlich.
Sie sollten sich endlich daran machen und Entlastungen für den Mittelstand in angemessenem Maße auf den
Tisch legen. Sie sollten aufhören, eine Belastung nach
der anderen vorzulegen. Dem kann man so nur eine Absage erteilen.
({12})
Was unser Land braucht, ist ein klares Bekenntnis zur
mittelständischen Wirtschaft und nicht eine kleinkrämerische Finanzpolitik, mit der versucht wird, jeden Euro
abzuschöpfen, weil Sie sich nicht auf echte Strukturreformen einigen können. Das haben wir heute Morgen
schon in der Steuerdebatte gemerkt. So kommen Sie in
Deutschland nicht weiter.
({13})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Norbert Schindler,
der bereits anmoderiert wurde.
({0})
Frau Präsidentin! Danke schön für die Anmoderation
der doppelten Art. - Lieber Herr Volker Wissing, natürlich muss ich auf Ihre Feststellungen eingehen.
({0})
Seit den 80er-Jahren sind die Zeiten, in denen es in
dieser Republik noch Wohlstandszuwächse gab, vorbei.
Trotzdem haben wir alle, die im Parlament Verantwortung trugen - egal auf welcher Ebene -, bis weit in die
90er-Jahre hinein Wohlstand verteilt. Ich nehme die
CDU hier ausdrücklich nicht aus. Seit dem letzten September haben wir den Wählerauftrag und wir leben mit
einem strukturellen Defizit von 40 Milliarden Euro. Das
weiß jeder. Wir, die Union, haben vor der Wahl angekündigt: Wenn wir drankommen, gibt es Mehrbelastungen
für die Bürgerinnen und Bürger. Herr Dr. Wissing, unsere Glaubwürdigkeit muss ich hier nicht verteidigen.
Wir haben diesbezüglich auch nichts zurückzunehmen.
Natürlich haben Sie Recht, dass man in dem einen
oder anderen Fall - wie jetzt bei diesem Gesetz - wieder
Zahlungsfristen verkürzt. Herr Kollege Wissing, in dem
gesamten Bereich geht es in der Summe um 7 Millionen
Euro.
({1})
- Sie waren gestern auf Ihrem Landesparteitag und wir
hatten eine Sitzung des Finanzausschusses. Das ist kein
Vorwurf; ich verstehe das. Die Zahlen liefere ich Ihnen
gerne nach. Insgesamt geht es um 7 Millionen Euro.
({2})
Sie haben von der Sektindustrie geredet. Ich könnte
Ihnen jetzt die Sektkellereien nennen, nämlich zum Beispiel die Sektkellerei Schloss Wachenheim. Natürlich
sind sie verärgert darüber, dass ihre Zahlungsfristen jetzt
verkürzt wurden. Trotzdem: Im Etat von Herrn
Müntefering haben wir Kürzungen des Staates bei der
Wohlstandsverteilung in Höhe von 5,x Milliarden Euro
beschlossen. Wir sind angetreten, die 40 Milliarden Euro
durch Steuererhöhungen in Höhe von 20 Milliarden
Euro und durch die Streichung von Steuervergünstigungen in Höhe von 20 Milliarden Euro gegenzufinanzieren, damit sich die Verschuldungssituation der nächsten Generation in diesem Staat nicht weiter verschärft.
Wenn dieses Konzept falsch wäre, dann müssten wir
in den Umfragen draußen mit dem Fahrrad unter den
Teppich fahren. Das ist nicht so. Die Zustimmung breitester Schichten in diesem Volk sagt uns: Wir sind eigentlich gut unterwegs. Wir sind auch ehrlich und offen
unterwegs und sagen: Alle müssen bei der Bewältigung
der Zukunftsaufgaben Belastungen auf sich nehmen.
({3})
Solange es diese Solidarität draußen gibt, werden wir
immer wieder eine Bestätigung erhalten. Den ehrlichen
Schritt, den die Bundeskanzlerin dabei vorgibt, brauche
ich nicht noch einmal besonders zu betonen.
Herr Wissing, Sie haben auch die Rückgänge im
Sektbereich angesprochen. Da ist was dran. Sie wissen,
dass ich in der Weinwirtschaft zufällig gute Erfahrungen
habe. In den letzten Wochen war ich wieder auf verschiedenen Jahresveranstaltungen. Auch in den künftigen Wochen werde ich wieder unterwegs sein, um zu
den Korn- und Destillatherstellern zu gehen, und ich
kenne auch die Gefühlslage der Destillathersteller. Das
ist nicht das große Thema.
Die Rückgänge beim Sektverkauf hängen damit zusammen, dass alternative Produkte auf den Markt gekommen sind. Das akzeptiert ja auch die gesamte deutsche Sektwirtschaft. Bezüglich der Destillation und des
Branntweinmonopols habe ich mit den Beteiligten draußen diskutiert. Das muss man hier auch einmal mit
Dankbarkeit sagen.
Der Kollege Reinhard Schultz hat zu Recht darauf
hingewiesen - ich darf das hier auch so offen sagen -: In
all den sieben Jahren, in denen die SPD führend tätig
war,
({4})
war auch unser guter zwischenmenschlicher Kontakt mit
maßgeblich dafür, dass wir bei den Brennern nicht das
erlebt haben, was die Europäische Kommission bereits
seit sechs bis sieben Jahren will.
Wenn wir über die Globalisierung reden, die manche
Partei draußen gerne massiv vertritt, dann müssen wir
auch über die Konsequenzen bei den Brennern nachdenken. Viele von uns waren unterwegs - ich will jetzt gar
keine Protokolle dafür heranziehen - und haben gesagt:
Eigentlich ist das, was die Europäische Kommission da
vorhat, vernünftig. Nein, wir haben es gerettet, und zwar
natürlich auch mit der Unterstützung dieses Parlaments.
Dabei wurden Aspekte bezüglich der Destillate genannt:
Streuobstwiesen und Offenhaltung der Landschaft.
Für das, was die Destillathersteller in dieser Republik
in Sonderdarstellungen auf den Weg gebracht haben,
weil sie eigene Produkte verkaufen, hat der Staat
243 Euro pro Hektoliter Unterstützung gewährt. Es war
der deutsche Einfluss, der trotz eines Beschlusses des österreichischen Parlamentes - weil Österreich in der gleichen Situation ist, gab es da Druck - das deutsche Sonderrecht bis zum Jahr 2010 gesichert hat. Dass wir
wieder antreten werden, um darüber hinaus die Zukunft
der gesetzlichen Regelungen zu sichern, hast du,
Reinhard, schon deutlich gemacht. Dem kann ich nur
beipflichten.
Egal, ob es um 120 Millionen oder um 85 Millionen
Euro geht: Der Berufsstand hat dies bis jetzt dankbar zur
Kenntnis genommen.
({5})
Ich weiß, wovon ich rede. Es gibt auch Verständnis dafür, dass die Mittel in dem einen oder anderen Fall zusammengestrichen wurden. Auch wird zur Kenntnis genommen, dass der Abzug des Übernahmepreises, der in
der Vergangenheit 10 Prozent betragen hat, auf 5 Prozent
reduziert wird. Das bedeutet: Ab dem Jahr 2007 gibt es
eine höhere Beihilfe. Auch das ist entsprechend gewürdigt worden. Im Zusammenhang mit der 50-Prozent-Regelung wurden in der Vergangenheit schon einige Opfer
gebracht. Soweit zu der aktuellen Situation.
Die Änderung dieses Gesetzes erfolgt nicht freiwillig,
sondern auf Druck der Europäischen Gemeinschaft. Es
geht in der Definition darum - das hat schon Herr
Schultz gesagt -, bei dem Kornrecht eine Entschärfung
in der Debatte mit der Kommission in Brüssel herbeizuführen.
({6})
Ich möchte noch ein Bedenken vortragen, das wir
auch bei der Anhörung in den nächsten Wochen mit den
Fachverbänden diskutieren werden. Was passiert bei den
mehlhaltigen Getreidesorten? Eine Definition von
„Korn“ gibt es so nicht mehr. Gibt es ein Umswitchen
bei den Destillatherstellern, sodass diese dann in Italien
oder anderswo Ersatz kaufen? Denn die deutsche Bundesmonopolverwaltung für Alkohol hat derzeit einen hohen Bedarf. Sie könnte mehr Alkohol am Markt verkaufen, als sie von uns zugestanden bekommt. Wegen der
Gefahr von Swing-Geschäften der besonderen Art bin
ich sehr gespannt darauf, die Meinung der Fachverbände
zu hören. Schließlich sprechen wir heute in erster Lesung über dieses Gesetz.
Es gibt bei den Destillaten noch große Chancen, egal
ob das Alkohol- oder Kornbrenner sind; denn eine ganze
Palette von einigen Hundert oder auch Tausend Betrieben in dieser Republik betreiben die Herstellung von Alkohol als Haupterwerb. Viele betrachten die Herstellung aber nur als Ergänzung oder Zuerwerb.
In der Frage der Besteuerung von Biotreibstoffen befinden wir uns in der politischen Gestaltung. Natürlich
muss für den Begriff Ethanol als Beimischung zu Benzin
eine Lösung gefunden werden. Ich werbe ganz offen dafür, dass bei Diesel, aber auch bei Benzin mit Ethanol
auf die Umwelt Rücksicht genommen wird. Die Kornbrenner und Alkoholhersteller dieser Republik sind
bereit, dabei mitzuhelfen, um die zweite Generation sowohl bei Dieselersatz wie bei Benzinersatz - das ist
technisch vorbereitet - in den nächsten fünf bis zehn
Jahren auf den Markt zu bringen.
Im Sinne der Wertschätzung der ländlichen Räume in
unserer neuen Verantwortung zur Erfüllung des Protokolls von Kioto und auch in der Umsetzung der deutschen Gesetzgebung gibt es für uns eine Chance, weil
wir in diesem Bereich als Zentralstaat in der Mitte Europas wie bei der Einführung des Katalysators wieder
federführend sein werden. Dazu könnte man alle Bedenkenträger aus der Lobbywirtschaft der Vergangenheit, was wir auch jetzt wieder erleben, anführen. Wir
werden deutliche Zeichen setzen, dass die Wertschöpfung in Verbindung mit der Ethanolproduktion für unsere Landstriche und die Erhaltung der ländlichen
Räume - der neue Bauer nimmt auch energiepolitische
Aufgaben wahr; das ist auch für sein Einkommen wichtig - in dieser Europäischen Gemeinschaft eine besondere Bedeutung hat. Das muss die andere Zielrichtung
sein.
Lassen Sie uns nicht kleinkariert über 7 Millionen
Euro streiten; denn das wurde bereits akzeptiert.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll, Die
Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Thema Branntweinmonopol ist - das konnte man
eben verfolgen - sehr interessant. Einige von uns wissen
sehr detailliert darüber Bescheid. Ich glaube, den meisten von uns geht das Wissen aber ab. Man kann höchstens im Gebrauch beurteilen, ob es sich um einen guten
oder schlechten Wein bzw. um ein gutes oder schlechtes
Destillat handelt.
Ich finde aber den Verlauf der Debatte unter einem
anderen Aspekt interessant. Herr Schindler hat eben auf
die Ehrlichkeit abgehoben. Dabei kann ich mir den Hinweis nicht verkneifen, dass Sie im Sinne einer ehrlichen
Politik sagen müssten, dass es nicht notwendig ist,
20 Milliarden Ausgaben einzusparen und Einsparungen
im sozialen Bereich vorzunehmen. Nehmen Sie lieber
mehr Geld ein! Besteuern Sie anderes, zum Beispiel bei
der Vermögensbesteuerung!
({0})
Das müssen Sie sich auch um diese Tageszeit noch anhören.
Die SPD hat das erreichte Ergebnis gelobt. Ich finde
es aber auch interessant, dass die FDP krampfhaft versucht hat, etwas zu finden, was kritisiert werden kann.
Wenn Sie ehrlich gewesen wären - insofern muss ich Ihnen zustimmen, Herr Schindler -, dann hätten Sie wenigstens sagen müssen, dass Sie der Subventionierung
zustimmen. Das brachten Sie aber nicht über die Lippen.
Ich denke, zum gegenwärtigen Stand wird das Expertengespräch sicherlich auch im Finanzausschuss zu einer
Übereinstimmung führen.
Sie haben aber zu Recht darauf hingewiesen, Herr
Schindler, dass es noch andere Probleme gibt, die nicht
mit der vorgesehenen Regelung abgegolten sind. Ich
denke, dass noch weiter diskutiert werden muss, und
zwar nicht nur über die Frage des Benzins, sondern auch
- unter ökologischen Aspekten - über die Vermarktung
des Obstes.
({1})
Damit kommen wir zu den Abfindungsbrennereien.
Ich kann nicht verstehen, dass man dieses Thema nicht
einbezieht, wenn man über Strukturveränderungen sprechen will. Ich verstehe nicht, warum es nur in sehr begrenzten Gebieten in Deutschland möglich sein soll,
dass Bauern Streuobstwiesen betreiben und zum Beispiel alte Obstsorten wiederbeleben, aber auch die Möglichkeit haben, für die unmittelbare Abgabe an Gaststätten bzw. für einen Eigenbedarf von bis zu 300 Litern pro
Jahr selber brennen zu können.
In dieser Hinsicht besteht in Deutschland aufgrund
des derzeitigen Monopols eine sehr veraltete Regelung.
In anderen europäischen Staaten - zum Beispiel in Italien und Österreich - gibt es andere Regelungen. In
Deutschland ist es so, dass man eine Verschlussbrennerei
braucht und sehr viel investieren muss, wenn man mehr
als drei Liter destillieren will.
({2})
- Drei Hektoliter. Danke.
({3})
Insofern ist die Frage berechtigt, warum das, was in
anderen europäischen Ländern möglich ist, in Deutschland nicht geht.
({4})
In den vergangenen Jahren wurde das insbesondere von
ökologisch orientierten Bauern immer wieder beklagt.
Die Finanzgerichte mussten deren Vorhaben bisher aufgrund des Branntweinmonopols immer ablehnen.
Wenn wir über Strukturanpassungen reden, so gehört
auch dieses Thema dazu. Wenn andere europäische Staaten klug genug waren, Lösungen für entsprechende Kontrollen bei der Branntweinherstellung zu finden, dann
sollte das auch hier möglich sein. Ich hoffe, dass wir in
der Anhörung auch zu diesem Aspekt etwas erfahren
können. In diesem Sinne freue ich mich auf das Gespräch und den heutigen Abend.
Danke schön.
({5})
Die Kollegin Kerstin Andreae gibt ihre Rede zu Pro-
tokoll.1)
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/913 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu
1) Anlage 2
gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Heinz-Peter Haustein,
Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Vorverlegung des Fälligkeitstermins für Sozi-
alabgaben rückgängig machen und struktu-
relle Reformen in der Rentenversicherung ein-
leiten
- Drucksachen 16/396, 16/627 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Katja Kipping
Für die Aussprache war eine halbe Stunde vorgese-
hen. Allerdings werden die Reden zu Protokoll gegeben.
Damit schließe ich die Aussprache.2)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/627
zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Vorverlegung des Fälligkeitstermins für Sozialabgaben
rückgängig machen und strukturelle Reformen in der
Rentenversicherung einleiten“.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/396 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen?
- Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalition und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der FDP und der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz ({2}), Kai Boris Gehring, Krista Sager,
Rainder Steenblock und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Mehr Mobilität und Austausch durch ein integriertes EU-Bildungsrahmenprogramm
- Drucksache 16/837 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Hier war ebenfalls eine halbe Stunde Debatte vorge-
sehen gewesen. Die Reden werden aber zu Protokoll ge-
geben.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/837 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
2) Anlage 3
3) Anlage 4
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Addicks, Hellmut Königshaus, Dr. Werner
Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Den Südsudan beim Wiederaufbau unterstützen und vor Aids bewahren
- Drucksache 16/586 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Hier war ebenfalls eine halbe Stunde Aussprache vor-
gesehen gewesen. Die Reden werden jedoch zu Proto-
koll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/586 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({5}), Britta
1) Anlage 5
Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Kettenduldungen abschaffen
- Drucksache 16/687 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Hier werden ebenfalls alle Reden zu Protokoll gege-
ben.2)
Interfraktionell ist vereinbart, die Vorlage auf Drucksache 16/687 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 17. März 2006, 9 Uhr,
ein.
Nehmen Sie die gewonnenen Einsichten mit und haben Sie einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.