Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/16/2006

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich, wünsche Ihnen einen guten Tag und uns gute Beratungen. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen einige Änderungen in der Besetzung des Verwaltungsrats der Filmförderungsanstalt vorgenommen werden. Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass der Kollege Bernd Neumann sein Amt niedergelegt hat. ({0}) - Immerhin ist er aus Anlass dieser bedeutenden Veränderung persönlich erschienen, was ich mit Respekt registriere. - Als Nachfolger wird sein bisheriger Stellvertreter, der Kollege Wolfgang Börnsen, vorgeschlagen. Neues stellvertretendes Mitglied soll der Kollege Johann-Henrich Krummacher werden. Aufseiten der Fraktion der SPD ist vorgesehen, dass die frühere Abgeordnete Gisela Hilbrecht dem Verwaltungsrat zukünftig als stellvertretendes Mitglied angehört und an Stelle ihrer die Kollegin Monika Griefahn neues ordentliches Mitglied wird. ({1}) Sind Sie mit diesen Veränderungen einverstanden? Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die genannten Damen und Herren gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Kein Zurückweichen vor Rechtsextremismus - Bundespolitische Konsequenzen vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse in Sachsen-Anhalt und Brandenburg ({2}) ZP 2 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes und des Telekommunikationsgesetzes - Drucksache 16/521 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({3}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Luftaufsicht und die Luftfahrtdateien - Drucksache 16/958 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Tourismus c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Jugendstrafvollzug verfassungsfest gestalten - Drucksache 16/851 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({5}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({6}), Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Zwischenbilanz für Integrationskurse des Jahres 2005 vorlegen - Drucksache 16/940 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({7}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Haushaltsausschuss Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert e) Beratung des Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute Koczy, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Mit der strategischen Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika Ernst machen und deutsches Engagement ausbauen - Drucksache 16/941 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({8}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Innovationspakt 2020 für Forschung und Lehre in Deutschland - Kooperationen zwischen Bund und Ländern weiter ermöglichen - Drucksache 16/954 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({9}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lutz Heilmann, Eva Bulling-Schröter, Hans-Kurt Hill, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Ein einheitliches Umweltrecht schaffen - Kompetenzwirrwarr vermeiden - Drucksache 16/927 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10}) Rechtsausschuss ({11}) Federführung strittig ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN: Tarifliche Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid Wolff ({12}), Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Innere Sicherheit durch Regelungen zum Arbeitskampfrecht gewährleisten - Drucksache 16/953 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({13}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Nina Hauer, Ingrid Arndt-Brauer, Lothar Binding ({14}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Christine Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Besser regulieren, dynamisch konsolidieren - Leitlinien für die künftige EU-Finanzmarktintegration - Drucksache 16/933 ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, Hellmut Königshaus, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Den Südsudan beim Wiederaufbau unterstützen und vor AIDS bewahren - Drucksache 16/586 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({15}) Auswärtiger Ausschuss ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffen Kampeter, Norbert Barthle, Jochen Borchert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Carsten Schneider ({16}), Ernst Bahr ({17}), Bernhard Brinkmann ({18}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Unverzügliche Umsetzung des Programms „Impulse für Wachstum und Beschäftigung“ sowie des Marktanreizprogramms durch die Bundesregierung - Drucksache 16/931 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Cornelia Behm, Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Biogaseinspeisungsstrategie entwickeln und Biogaseinspeisungsgesetz vorlegen - Drucksache 16/582 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({19}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({20}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Federführung strittig ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Peter Hettlich und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes - Fernlinienbusverkehre ermöglichen - Drucksache 16/842 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({21}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Tourismus Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Außerdem ist vorgesehen, den Tagesordnungspunkt 12 - hier handelt es sich um einen Antrag zum Übereinkommen über die biologische Vielfalt -, den Tagesordnungspunkt 19 c - Gesetzentwurf des Bundesrates zur Verringerung steuerlicher Missbräuche und Umgehungen - sowie den Tagesordnungspunkt 22 - Antidiskriminierung - abzusetzen. Die Tagesordnungspunkte 9 - Pressefreiheit - und 13 - zwei Anträge zu Kuba - sollen getauscht werden. Schließlich soll der von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachte Entwurf eines Föderalismusreform-Begleitgesetzes auf Drucksache 16/814 nachträglich gemäß § 96 der Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Die vorgesehene Mitberatung des Haushaltsausschusses entfällt folgerichtig. Präsident Dr. Norbert Lammert Darf ich auch zu diesen vorgeschlagenen Veränderungen Ihr Einvernehmen feststellen? - Dieses Einvernehmen besteht offenkundig. Dann ist so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung - Drucksache 16/429 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({22}) - Drucksache 16/971 Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Brandner Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so vereinbart. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Klaus Brandner für die SPD-Fraktion. ({23})

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir verabschieden heute das Gesetz zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung. Passender als zu dieser Jahreszeit könnten wir, meine ich, die Debatte über ein solches Gesetz nicht führen; denn wir haben seit Monaten Temperaturen unter dem Gefrierpunkt, ({0}) was für die Beschäftigten der Bauwirtschaft traditionell heißt: arbeitslos und unsichere Zukunft bezüglich möglicher Wiedereinstellung, wenn das Wetter wieder Bautätigkeit ermöglicht. 285 000 Menschen aus der Baubranche sind in diesem Winter arbeitslos, ein beträchtlicher Teil davon, weil der Betrieb im Winter keine Straßen bauen kann bzw. Beton oder Mörtel wegen des Frostes nicht verarbeitet werden können. Die Beschäftigten, die saisonbedingt jeden Winter aufs Neue entlassen werden, leben ständig in Unsicherheit, ob sie im Frühjahr wieder eingestellt werden. Sie und ihre Familien machen sich Sorgen, wie es weitergeht. Ein weiterer Punkt kommt hinzu: Mit jedem weiteren Jahr steigt das Risiko der Arbeitnehmer, die Anwartschaft auf Arbeitslosengeld zu verlieren. Aus unserer Sicht ist dies ein unhaltbarer Zustand. Beschäftigte in der Baubranche, aber auch in anderen stark saisonabhängigen Branchen dürfen nicht schlechter gestellt werden, nur weil für sie die Schlechtwetterperiode keine Arbeit zulässt. ({1}) Für diese Beschäftigten schaffen wir die Möglichkeit des Saisonkurzarbeitergeldes. Wir verstetigen die Beschäftigung, wir erhöhen die Planungssicherheit der Beschäftigten sowie der Unternehmen und wir halten die Qualifikation der Mitarbeiter aufrecht, die durch Arbeitslosigkeit sonst verloren gehen würde. Dies ist ein Gewinn an persönlicher Sicherheit. Daran liegt uns allen. Wir werden mit diesem Gesetz die bisherige, oftmals sehr komplizierte Winterbauförderung weiterentwickeln und in ein System des Kurzarbeitergeldes integrieren. Nach dem neuen Gesetz können die Beschäftigten in der Baubranche zwischen dem 1. Dezember und dem 31. März im Betrieb beschäftigt bleiben. Sie bekommen dann Kurzarbeitergeld in Höhe von 60 Prozent bzw. von 67 Prozent, wenn sie ein Kind haben. Das ist zwar weniger Geld, dafür aber mehr Arbeitsplatzsicherheit. Wir unterstützen mit diesem Gesetz die Tarifvertragsparteien in ihren Anstrengungen, Kontinuität in der Beschäftigung zu halten und kontinuierliche Löhne zu zahlen. Planbare Einkommen sind uns wichtig. Deswegen haben wir uns für dieses Gesetz engagiert. ({2}) In den Koalitionsverhandlungen ist uns bewusst geworden, dass wir neue Regelungen in diesem Bereich treffen müssen. Wir haben deshalb in der Koalitionsvereinbarung festgelegt, dass dieses Gesetz auf den Vereinbarungen der Tarifvertragsparteien in der Bauwirtschaft aufgebaut werden soll. Ich bin froh, dass dieser Wille nach wie vor vorhanden ist und im Gesetz klar erkennbar ist. Die Tarifvertragsparteien haben mit ihrer Vereinbarung ein Beispiel für innovative und verantwortungsbewusste Tarif- und Betriebspolitik gegeben. Wir haben bewusst darauf verzichtet, dass die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen über den Umlagebeitrag hinaus zusätzliche Leistungen einbringen müssen. Damit meine ich ganz konkret, dass wir auf eine zusätzliche Einbringung von Stunden aus dem Arbeitszeitkonto oder von zusätzlichen Urlaubstagen verzichtet haben. Die Vorausleistung von 30 Stunden für die Arbeitnehmer und 70 Stunden für die Arbeitgeber hatte im alten System die Funktion, die Arbeitnehmer- und die Arbeitgeberseite an der Mitfinanzierung des Systems der Winterbauförderung zu beteiligen. Diese Beteiligung erfolgt im neuen System dadurch, dass die Finanzierung der Umlage anteilig erfolgt. Wir haben uns aus gutem Grund für den Systemwechsel im Umlagesystem entschieden. Ich sage ganz klar: Wer mehr Vorausleistungen von den Arbeitnehmern verlangt, will damit nur eines, nämlich auch beim Saisonkurzarbeitergeld die Verteilungsfrage neu stellen. Das ist völlig fehl am Platz. Das lehnen wir ab. ({3}) Was steckt hinter dem Umlagesystem? Ein zusätzlicher Anreiz auf der Basis der Vereinbarung der Tarifvertragsparteien im Bau wird geschaffen, indem eine Umlage eingeführt wird, aus der ergänzende Leistungen finanziert werden. Die umlagefinanzierten ergänzenden Leistungen umfassen erstens die Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge an die Arbeitgeber. Diese werden von den Kosten der Weiterbeschäftigung bei Arbeitsausfällen in den Wintermonaten deutlich entlastet. Sie haben genau diese Kosten in der Vergangenheit genutzt, um Arbeitnehmer zu entlassen und der Sozialversicherung diese Kosten aufzudrücken. Daneben umfassen diese Leistungen zweitens das Zuschusswintergeld für die Arbeitnehmer für jede aus Arbeitszeitguthaben eingesetzte Arbeitsstunde zur Vermeidung von Arbeitsausfällen. Wer eine Stunde aus seinem Arbeitszeitkonto im Winter einsetzt, erhält dafür 2,50 Euro extra. Darüber hinaus umfasst die Umlage drittens das Mehraufwandswintergeld als Ausgleich für witterungsbedingte Mehraufwendungen bei den Beschäftigten zwischen Mitte Dezember und Ende Februar. Das heißt, wer in dieser Zeit tatsächlich arbeitet, bekommt 1 Euro als zusätzliche Unterstützung zu seinem Verdienst hinzugerechnet. Um es auf den Punkt zu bringen: Wir fördern mit der Umlage das Einbringen von Stunden aus dem Arbeitszeitkonto, fördern die Arbeit trotz schlechten Wetters und erhöhen damit die Flexibilität in der Branche. Ich finde, dies ist ein wirklich gelungener Beitrag zu einer modernen Arbeitszeitpolitik. Dafür haben die Tarifvertragsparteien Lob und Anerkennung verdient. ({4}) Hiervon unangetastet bleibt die Arbeitszeitflexibilisierung mit dem Ziel eines kontinuierlichen Monatslohns. Das Arbeitszeitkonto hat sich bewährt. Mit dem Gesetz machen wir deutlich, dass wir am Koalitionsvertrag festhalten. Wir haben dort nicht nur vereinbart, das Saisonkurzarbeitergeld einzuführen; wir haben dort auch ausdrücklich die Sicherung der Tarifautonomie und der Mitbestimmung begrüßt. Beides bleibt unangetastet. Versuche, durch die Hintertür hieran zu rütteln, haben wir verhindert. Wir geben den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein klares Signal: Die Kultur des Misstrauens muss beendet werden. Wir haben keinen massenhaften Missbrauch in diesem Land. Wir wollen eine Kultur des Vertrauens. Das ist die Basis für sinnvolle Veränderungen, zu denen wir stehen. ({5}) Mit dem Gesetz wird die Bundesagentur für Arbeit entlastet. Wenn die Arbeitnehmer in den Betrieben bleiben, haben die Agenturen weniger Aufwand durch weniger Arbeitslosmeldungen, durch weniger Vermittlungsbemühungen und - um es deutlich zu sagen - durch weniger Arbeit bei den Leistungsanträgen. Positiv wird sich auswirken, dass die Bundesagentur von den Remanenzkosten, das heißt von den Sozialkosten, entlastet wird. Wir rechnen also mit gutem Grund auch deshalb mit einem positiven Finanzeffekt bei der Bundesagentur für Arbeit. Wir erwarten einen positiven Effekt insbesondere für den Fall, dass es gelingt, diejenigen 70 000 Menschen, die in der Regel im Winter zusätzlich arbeitslos werden, mit diesem Gesetz zu erreichen. Dies sollte uns Mut machen, dass andere Branchen von diesem Gesetz lernen und möglichst bald eine Übertragbarkeit anstreben. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung war vorgesehen, weiteren Branchen die Möglichkeit für das Saisonkurzarbeitergeld zu eröffnen. Hieran haben wir grundsätzlich festgehalten, allerdings mit etwas höheren Hürden. Aus meiner Sicht sind wir gut beraten, auch anderen Branchen, die ähnlich hohe Schwankungen in der Beschäftigung haben, diese Option zu eröffnen. Beispiele für Schwankungen gibt es im Ausbaugewerbe, bei den Malern und Lackierern sowie in der Landwirtschaft. Im Bereich des Lackierer- und Malerhandwerks waren - um harte Zahlen zu nennen - im September 2005 7 500 Menschen und im Dezember 23 000 arbeitslos. Im Bereich der Land- und Forstwirtschaft waren im September 2005 5 300 Menschen arbeitslos. Im Dezember waren es 19 240. Das zeigt, dass es dort große Schwankungen und Unsicherheiten für die Beschäftigten nur wegen des schlechten Wetters gibt. Der Weg, über kurze Kündigungsfristen Kündigungen durchzuführen, ist falsch. Wir unterstützen vielmehr den Weg eines Saisonkurzarbeitergeldes und damit eine ganzjährige Beschäftigung. Wir haben vereinbart, nach zwei Jahren eine konstruktive Evaluation durchzuführen. Ich hätte mir gern etwas mehr Mut unsererseits gewünscht. Dennoch will ich die Tarifvertragsparteien in anderen Branchen mit hohen saisonalen Schwankungen aufrufen, nach spezifischen Lösungen in ihrem Bereich zu suchen, auf deren Grundlage das Gesetz nach der Evaluation auch für sie gelten kann. Wir wollen, dass auch diese Branchen - wenn sie es wollen - ein Instrument an die Hand bekommen, um Schwankungen in der Schlechtwetterzeit auszugleichen. Dies muss ein Instrument sein, mit dem Flexibilität und Sicherheit sinnvoll miteinander verbunden werden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Jörg Rohde für die FDP-Fraktion.

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für die Fraktion der FDP darf ich zunächst die von Union und SPD eingebrachten Änderungsanträge zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung ausdrücklich begrüßen. Die Beratungen hinter den verschlossenen Türen der Koalition haben zwei Wochen länger gedauert, als ursprünglich gedacht. Aus unserer Sicht hat sich das Warten aber gelohnt. Das neue Saisonkurzarbeitergeld wird die bisherige Winterbauförderung ablösen, wobei die neue Leistung in dem nun geänderten Gesetz wieder auf die Baubranche beschränkt wird. Für die FDP-Fraktion begrüße ich es ausdrücklich, dass die schwarz-rote Koalition in diesem wesentlichen Punkt auf eine von uns erhobene Forderung eingegangen ist. ({0}) Weitere Branchen werden nun nicht gegen deren erklärten Willen in die Neuregelung einbezogen. ({1}) Dass zusätzlich eine mögliche Einbeziehung weiterer Branchen ab dem 1. November 2008 nur durch eine Gesetzesänderung möglich ist und nicht mehr, wie ursprünglich geplant, durch eine Rechtsverordnung des Bundesministers für Arbeit und Soziales, ist ebenfalls eine deutliche Verbesserung gegenüber dem ursprünglichen Gesetzentwurf. ({2}) Ich bin mir übrigens sicher, dass bei dieser Änderung nicht nur die FDP, sondern auch etliche Branchenvertreter hier in Berlin deutlich aufgeatmet haben. Das neue Gesetz tritt exakt die Nachfolge des Vorläufergesetzes an, das die Winterbauförderung regelte und das Schlechtwettergeld ersetzt hat. Herr Dreibus - er ist heute nicht da; er hat mich darauf angesprochen -, ich habe tatsächlich in den alten Sitzungsprotokollen von damals geblättert: Das Schlechtwettergeld hatte gegenüber einem Jahresarbeitsentgelt den Nachteil, dass es mit Nettolohnverlusten verbunden war. Das war nur einer der Gründe, warum damals eine Neuregelung notwendig war. ({3}) Die 1994 von Schwarz-Gelb initiierte Gesetzesänderung wurde damals, so wie das bei der heutigen Gesetzesänderung auch der Fall war, mit den Tarifpartnern in der Baubranche abgesprochen und berücksichtigte die besondere saisonale Abhängigkeit der Baubranche. Auch 1997 hat die von Union und FDP getragene Bundesregierung die Weiterentwicklung des Gesetzes zur Förderung der ganzjährigen Beschäftigung im Baugewerbe vorangetrieben. Die FDP also hat bereits viele Jahre die Gesetzgebung zu der Problematik der Saisonarbeitslosigkeit in der Baubranche in den Wintermonaten konstruktiv begleitet; das tun wir auch heute. ({4}) Da die Regelungen aber seit Jahrzehnten ausschließlich auf die Bauindustrie ausgerichtet sind, ist es auch absolut richtig, nach der heutigen Neuregelung des Gesetzes zuerst zwei Jahre aktuelle Erfahrungen mit den neuen Regelungen zu sammeln, ({5}) bevor eventuell andere Branchen ebenfalls einbezogen werden. ({6}) Hier im Bundestag müssen wir nun gemeinsam darauf achten, dass mit der neuen Förderung keine zusätzlichen Belastungen auf die Beitragszahler zur Arbeitslosenversicherung zukommen. Ich bin nicht so optimistisch wie Sie, Herr Brandner, der Sie ja gesagt haben, dass sogar ein Überschuss herauskommt. Wir sehen das eher skeptisch. ({7}) Aber richtig ist, dass bei Inanspruchnahme von Saisonkurzarbeitergeld anstelle von Arbeitslosengeld die Beitragszahler entlastet werden, weil sie keine Sozialversicherungsbeiträge zu finanzieren haben. Allerdings könnte es, je nach Umfang der Inanspruchnahme von Saisonkurzarbeitergeld anstelle von Arbeitslosengeld, auch zu Mehrbelastungen kommen. Ein wichtiger Baustein bei der Senkung der Belastung für die Bundesagentur für Arbeit ist die erhöhte Flexibilisierung der Arbeitszeit mit Zeitguthaben von bis zu 150 Stunden statt, wie bisher, 10 Prozent der vereinbarten Jahresarbeitszeit. Ich bedauere natürlich, dass sich Union und SPD nicht meinem Vorschlag anschließen konnten und größere Zeitkorridore geschaffen haben. Ich hätte den Arbeitnehmern gerne mehr Freiraum eingeräumt. Auch über die negativen Arbeitszeitkonten können wir vielleicht bei der nächsten Novellierung in zwei Jahren gemeinsam diskutieren. Ich denke, hier ist noch Potenzial, mit dem wir Geld für die Bundesagentur für Arbeit herausholen können. ({8}) Wir hätten uns ebenfalls eine klarere Formulierung in Bezug auf die Einbringung der Guthaben gewünscht. Diese Arbeitszeitguthaben werden jetzt in § 175 Abs. 5 SGB III geregelt. Da wir aber wissen, dass die Einbringung von 30 Stunden aus dem Arbeitszeitguthaben derzeit tarifvertraglich in der Baubranche geregelt ist, lassen wir diese Formulierung ausnahmsweise durchgehen. ({9}) Dies ist aber gleichzeitig ein großer Vertrauensvorschuss, der den Tarifpartnern gewährt wird: Sollten die Tarifpartner in der nächsten Tarifverhandlung beschließen, dass diese Arbeitszeitguthaben nicht eingebracht werden müssen, stünde die Bundesagentur für Arbeit finanziell im Regen. Das gilt es zu vermeiden. ({10}) Wir hoffen, dass sich die Tarifpartner an dieser Stelle ihrer Verantwortung bewusst sind. ({11}) Aus unserer Sicht sollten die Anreize zum Ansparen von größeren Arbeitszeitguthaben ausgebaut werden; das wäre eine Aufgabe für die Tarifpartner. ({12}) Leider ist der Union in einem Punkt eine Nachbesserung nicht gelungen: Am 27. Januar 2006 berichtete das „Handelsblatt“, dass auch der Kollege Meyer von der Union forderte, bei Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld nach dem Bezug von Saisonkurzarbeitergeld eine Anrechnung vorzusehen. Hier befindet sich nun aus unserer Sicht die Achillesferse des vorliegenden Gesetzentwurfes. ({13}) Die Einführung eines Saisonkurzarbeitergeldes darf nicht dazu führen, dass beitragsfinanzierte Leistungen dann zeitlich kumuliert in Anspruch genommen werden können. ({14}) Im Extremfall könnte ein Arbeitnehmer in der Baubranche nun je nach Auslegung des Gesetzes im Spätsommer und Herbst vier Monate arbeiten und danach vier Monate Saisonkurzarbeitergeld beziehen und hätte dann möglicherweise Anspruch auf Arbeitslosengeld I statt auf Arbeitslosengeld II. Hier muss die Bundesagentur für Arbeit ihr besonderes Augenmerk darauf richten, ob bei dieser Neuregelung nicht doch aus Versehen eine Hintertür entstanden ist und Mitnahmeeffekte auftreten. ({15}) Auch wir als FDP werden die Praxis kritisch begleiten und gegebenenfalls vorzeitige Korrekturen des Gesetzes fordern. Wir hoffen, dass sich die Einsparungen durch die Nutzung der flexiblen Arbeitszeitkonten und die vermiedene Bürokratie in den Arbeitsagenturen auf der einen Seite sowie eine mögliche verstärkte Inanspruchnahme des Gesetzes zum Saisonkurzarbeitergeld und mögliche Mitnahmeeffekte auf der anderen Seite insgesamt gegeneinander aufwiegen und das Gesetz somit kostenneutral für die Bundesagentur für Arbeit ausfällt. Deswegen begrüßen wir auch die im nachgebesserten Gesetzentwurf verankerte Evaluation, sodass der Bundestag über die Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt und die finanziellen Auswirkungen für die Arbeitslosenversicherung und den Bundeshaushalt genau informiert wird. Besonders für Gesetzentwürfe einer schwarz-roten Koalition gilt natürlich: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! ({16}) Wir sehen also den Ergebnissen der Wirkungsforschung zu diesem Gesetz mit Spannung entgegen. Nach Abwägung aller eingearbeiteter Änderungen durch Union und SPD gegenüber den noch offenen Wünschen unserer Fraktion haben wir uns aber dazu durchgerungen, die Einführung des neuen Saisonkurzarbeitergeldes zu unterstützen und dem Gesetzentwurf trotz eines leichten Bauchgrimmens bezüglich der Kostenneutralität des Gesetzes zuzustimmen. Als Nächstes sollte sich die Koalition aber - und hier besonders Sie, Herr Minister Müntefering ({17}) den noch drängenderen Fragen zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit zuwenden: der Flexibilisierung des Tarifrechts, der Reform des Kündigungsschutzrechtes und der Schaffung von Anreizen für die Rückkehr der geringfügig bzw. schwarz Beschäftigten in den ersten Arbeitsmarkt. Das sind nur einige Beispiele, Herr Minister. Frisch ans Werk! Wir werden Ihre Arbeit konstruktiv begleiten. Vielen Dank. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Ralf Brauksiepe für die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Mit dem Gesetz zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung wollen wir einen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung der Winterarbeitslosigkeit nicht nur, aber gerade auch in der Baubranche leisten. Mit dem hier vorgelegten Gesetzentwurf schaffen wir ein neues Instrument, führen wir das Saisonkurzarbeitergeld ein und ersetzen damit die bisherige Winterbauförderung. Es geht uns darum, mit diesem Gesetz die ganzjährige Beschäftigung dadurch zu fördern, dass die von Arbeitslosigkeit bedrohten Arbeitnehmer beschäftigt bleiben und die Beitragsleistung Saisonkurzarbeitergeld beziehen, und damit zu vermeiden, dass Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in witterungsabhängigen Branchen in die Arbeitslosigkeit entlassen werden und von der Bundesagentur für Arbeit aufgrund der gesetzlichen Regelungen, die es dafür schon gibt, aufwendig betreut werden müssen, obwohl sich in vielen Fällen Arbeitgeber und Arbeitnehmer einig sind, dass die Beschäftigung nach dem Winter fortgesetzt werden soll. Wir wollen das tun, um damit einen wesentlichen Beitrag zur Lösung eines Problems zu leisten, das uns seit vielen Jahren beschäftigt. Man darf auch keine Illusionen schüren: Auch in Zukunft wird die Winterarbeitslosigkeit höher sein als die Arbeitslosigkeit im Sommer. Ich denke aber, wir haben die begründete Hoffnung, dass wir mit diesem Gesetz einen wesentlichen Beitrag leisten, um Arbeitslosigkeit im Winter zu vermeiden. ({0}) Deswegen ist dies eine gute Nachricht für all die Menschen, die ihre Arbeit unter schwierigen Bedingungen tun müssen. Nicht nur dieser Winter - darauf hat der Kollege Brandner zu Recht hingewiesen - war ein Beispiel dafür. Es geht darum, etwas für die Menschen zu tun, die unter schwierigen Umständen hart arbeiten, und auch etwas für die Arbeitgeber zu tun, die unter ordentlichen, abgesicherten und gesetzlich vorgesehenen Bedingungen zu ihren Leuten stehen und die mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch durch schwierige Zeiten gehen und sie im Winter nicht auf die Allgemeinheit abschieben wollen. ({1}) All denen, die sich gesetzes- und tariftreu verhalten, wollen wir hier ein Angebot machen. Ich will deutlich sagen, dass es für ein solch schwieriges Problem, wie es sich uns hier stellt, sicherlich keine einfachen Lösungen gibt. Wie schwierig die Gefechtslage manchmal ist, erkennt man auch an manchen Beiträgen: Wenn der Kollege Rohde hier schon Lenin zitiert, dann sieht man daran, dass das Problem, mit dem wir uns hier beschäftigen, kein Problem wie jedes andere ist. ({2}) Wir sind dankbar dafür, dass Sie, Kollege Rohde - unter Hinweis auf wen auch immer und unter Hoffnung auf was auch immer -, für die Liberalen die Unterstützung dieses Gesetzentwurfs signalisiert haben. Natürlich hat es - das will ich deutlich sagen - Gespräche darüber gegeben, wie wir mit diesem Problem verfahren sollen. Wir machen Anhörungen nicht einfach nur, weil uns irgendwelche Vorschriften dazu zwingen, sondern weil wir auf das, was dort gesagt wird, hören wollen, weil wir das nacharbeiten und daraus Konsequenzen ziehen. Sie dürfen dem Minister nicht vorwerfen, man hätte ihn dazu bringen müssen, Zwangsbeglückungen zu verhindern. Wir haben alle - schon in der ersten Lesung des Gesetzentwurfs - gesagt: Wir wollen keine Zwangsbeglückung anderer Branchen. Wir haben in der Tat eine vernünftige Regelung gefunden, um das zu verhindern. ({3}) Bezüglich der Ausweitung auf andere Branchen - das sage ich genauso klar - meinen wir, was wir sagen. Wir wollen in der Bauwirtschaft jetzt ein neues Instrument ausprobieren. Die Wirkung werden wir sehr genau analysieren. Wenn sich dieses neue Instrument in der Bauwirtschaft bewährt, dann liegt es im Interesse der großen Koalition, dass dieses Instrument auch auf andere Branchen angewandt wird, weil wir die effektive Bekämpfung der Winterarbeitslosigkeit überall dort wollen, wo sie ein Problem darstellt. Das ist unser Ziel, das wir auch realisieren werden. Wir werden dieses Problem angehen. Wir werden keine Schnellschüsse machen, sondern ein ordentliches und evaluiertes Instrument anwenden. ({4}) Es geht nicht darum, irgendetwas auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben. Wir müssen vielmehr von der gegenwärtigen Situation ausgehen. Wie sieht diese Situation aus? Dieses Gesetz wird seine Wirkung nur dann entfalten, wenn die Tarifparteien Regelungen treffen, die zu diesem Gesetz passen. Es geht nicht darum, dass irgendwer der Erfüllungsgehilfe des anderen ist. Weder ist der Gesetzgeber der Erfüllungsgehilfe der Tarifvertragsparteien noch umgekehrt. Die Regelungen beider müssen sinnvoll ineinander greifen, damit dieses Instrument wirken kann. Zum jetzigen Zeitpunkt haben wir nur in der Bauwirtschaft Rahmenbedingungen, zu denen dieses Gesetz passen kann. Das ist nicht - das ist völlig klar - von heute auf morgen in anderen Branchen zu schaffen. Andere Branchen werden zwei Winter lang die Gelegenheit haben, sehr sorgfältig zu analysieren, wie dieses Instrument in der Bauwirtschaft funktioniert. Danach können sie die Entscheidung treffen, ob sie es auch in ihrem Bereich wünschen. Wir hoffen, dass dieses Instrument insgesamt zu einer Vermeidung von Winterarbeitslosigkeit führt. Das gilt selbstverständlich immer dann, wenn die Branchen das wollen. Wir wollen keine Verabredung zulasten Dritter. Wir wollen auch nicht, dass politisch entschieden wird, welche Branchen etwas Neues machen sollen. Wir sind der festen Überzeugung, dass die Tarifvertragsparteien - sie sind am nächsten dran - ein entscheidendes Wort dabei mitzureden haben, was in ihrem Bereich passieren soll. Aufgabe des Gesetzgebers ist es gleichwohl, die Gemeinschaft der Beitragszahler vor Verträgen und Vereinbarungen zulasten Dritter zu schützen. Genau das tun wir mit diesem Instrument. ({5}) Herr Kollege Rohde, Sie haben das Problem angesprochen, dass mit Leistungen der Bundesagentur für Arbeit andere Leistungen begründet werden können. ({6}) Man muss in diesem Zusammenhang sagen, woher dies eigentlich kommt. Wir machen jetzt zwar etwas Neues für die Bauwirtschaft. Es ist aber nicht so, als hätte es dort bisher keine Regelung zur Winterförderung gegeben. Das, was Sie hier kritisieren, gilt immer für das Zusammenspiel von Lohnersatzleistungen bzw. verschiedener arbeitsmarktpolitischer Instrumente. Zurzeit wird die Winterbauförderung nicht auf das Arbeitslosengeld angerechnet. Ich bitte darum, sich daran zu erinnern, was bezüglich der umlagefinanzierten Leistungen vereinbart wurde. Das Mehraufwandswintergeld wird gezahlt, wenn jemand kurzarbeitet, nicht bei Kurzarbeit gleich null, sondern wenn jemand grundsätzlich Kurzarbeit macht, in dieser Zeit aber stundenweise arbeitet. Wollen Sie denn jemandem, der zehn oder 20 Stunden gearbeitet und dafür auch den entsprechenden Zuschlag erhalten hat, am Ende sagen: „Wir behandeln dich so, als hättest du in dem betreffenden Monat nicht gearbeitet, und ziehen dir das Geld vom Arbeitslosengeld ab, das gezahlt wird, wenn keine Arbeit geleistet wird“? Das geht doch nicht. Welchen bürokratischen Aufwand wollen Sie hier eigentlich betreiben? Fragen Sie doch einmal im Arbeitgeberlager nach, ob die einen solchen bürokratischen Aufwand wollen. Man muss doch einen vernünftigen Mittelweg gehen und zusätzliche Bürokratie, wo sie vermeidbar ist, wirklich vermeiden. Das tun wir mit diesem Gesetz. ({7}) Natürlich wird die Frage, ob man in größerem Maße als früher von einer Beitragsleistung in eine andere übergeht, im Rahmen der Evaluation, die wir vornehmen werden, eine Rolle spielen. Das ist vollkommen klar. Wenn sich da Probleme ergeben, wird der Gesetzgeber handeln. ({8}) Es hat eine Reihe von Gesprächen gegeben, die zu den Änderungsanträgen geführt haben, die gestern im federführenden Ausschuss eine Mehrheit gefunden haben. Ich will mich in diesem Zusammenhang bei all denen, die daran mitgewirkt haben, herzlich bedanken. Ich will mich auch noch einmal ausdrücklich an den Kollegen Klaus Brandner wenden, der gesagt hat, es seien alle Versuche abgewehrt worden, an der Mitbestimmung zu rütteln. Ich möchte vor Legendenbildung warnen, lieber Kollege Brandner; denn ich war bei ein paar Gesprächen zu diesem Thema dabei, um nicht zu sagen: bei allen. Dass in diesen Gesprächen die sozialdemokratische Seite Versuche, an der Mitbestimmung zu rütteln, hätte zurückweisen müssen, daran kann ich mich mit Verlaub nicht erinnern. ({9}) Die Tarifvertragsparteien haben in der Zwischenzeit eine Klarstellung vorgenommen, und zwar dahin gehend, dass der Arbeitgeber in der Schlechtwetterzeit über die Fortsetzung, Einstellung oder Wiederaufnahme der Arbeit nach Beratung mit dem Betriebsrat letztlich nach seinem pflichtgemäßen Ermessen alleine entscheidet. Das ist die Vereinbarung, die die Tarifvertragsparteien getroffen haben. Wir sorgen mit diesem Gesetz dafür, dass diese Vereinbarung, wie auch all die anderen Vereinbarungen, die die Tarifvertragsparteien beschlossen haben, gelten. Ich will es deutlich sagen: Mitbestimmung und soziale Gerechtigkeit in schwieriger Zeit und unter neuen Bedingungen ist nichts, was man Christdemokraten und Christlich-Sozialen mühsam abringen muss. Soziale Gerechtigkeit und gerechte Teilhabe sind unser Herzensanliegen; das muss man uns nicht abringen. Dafür stehen wir als große Volkspartei. ({10}) Deswegen werden wir diesen Regelungen zur Durchsetzung verhelfen, und zwar in dem Wissen, dass es Risiken gibt und dass niemand vorhersagen kann, wie sich der Wegfall der Stunden, die vorher zu leisten waren, auswirken wird. Wir begrenzen jedoch die möglichen Risiken und werden die Kostenentwicklung im Auge haben. Es geht hier um ein vernünftiges Miteinander von gesetzlichen und tariflichen Regelungen. Wir alle gemeinsam müssen ein großes Interesse daran haben, dass die Anreize, die wir zur Aufrechterhaltung und zur Weiterentwicklung der Flexibilisierung in der Bauwirtschaft setzen, genutzt werden. Deshalb kann ich nur dahin gehend appellieren und alle bitten, mit dafür zu sorgen, dass die Arbeitszeitguthaben, die es in den allermeisten Betrieben gibt, breit zur Anwendung kommen. Denn dieses Gesetz basiert darauf, dass im Sommer über Arbeitszeitguthaben Überstunden angehäuft werden, die ohne Belastung der Allgemeinheit der Beitragszahler im Winter abgebaut werden können. Das ist im Interesse der Allgemeinheit, aber auch im Interesse der Arbeitgeber, da sie dadurch das Auszahlen von Überstunden mit entsprechenden Zuschlägen im Sommer vermeiden. Der Gesetzgeber hat alles in seiner Macht Stehende getan, um zu einer vernünftigen Regelung zu kommen. Ich appelliere an alle Beteiligten in der Bauwirtschaft, auch an die, bei denen die entsprechende Regelung noch fehlt, ihren Teil dazu beizutragen, dass es nicht zu Missbrauch kommt. Der Gesetzgeber hat seinen Teil getan. Jetzt sind die Tarif- und Betriebsparteien in der Bauwirtschaft gefordert, das umzusetzen, damit wir zu einer guten gemeinsamen Regelung kommen. ({11}) Ich freue mich, dass sich bei der Verabschiedung dieses Gesetzes eine breite Zustimmung abzeichnet. Ich will deutlich sagen: Dies ist der gemeinsame Wille der Fraktionen der großen Koalition und auch der Wille der Fraktionsführungen. In diesem Zusammenhang will ich eines klarstellen - denn gelegentlich höre ich Bemerkungen, die Kanzlerin solle sich mehr um die Innenpolitik kümmern -: ({12}) Ich gehe davon aus, dass niemand böswillig behauptet, sie habe dies in der Vergangenheit nicht getan. Dennoch kann ich jedem, den es betrifft, nur sagen: Wenn es um Arbeitszeitguthaben, Winterausfallgeld-Vorausleistungen, Ersatzleistungen und vieles andere geht, können viele hier in diesem Hause von der Kanzlerin noch eine Menge lernen; ({13}) denn sie kennt sich damit aus und hat sich auch maßgeblich darum gekümmert, dass diese Regelung zustande gekommen ist. ({14}) Der Arbeitsminister sieht mich gerade an. Natürlich gilt das auch für ihn. Es wäre ja auch seltsam, wenn es nicht so wäre. ({15}) Die Botschaft, die von diesem Gesetzentwurf ausgeht, lautet: Dieses Land hat eine gute Bundeskanzlerin. Der Vizekanzler ist fast genauso gut; ({16}) das ist ebenfalls eine wichtige Nachricht. Diese Botschaft kommt in den Regelungen, auf die wir uns verständigt haben, zum Ausdruck. Nach intensiven Beratungen ist ein guter Gesetzentwurf zustande gekommen. Ich freue mich über die Zustimmung im federführenden Ausschuss und hoffe, dass wir sie auch im Parlament finden werden. Ich wünsche all denjenigen, die von dem Inhalt dieses Gesetzes betroffen sind, dass es die Wirkungen entfaltet, die wir uns gemeinsam von ihm versprechen. Ich wünsche also vor allem all denjenigen, die in der Bauwirtschaft beschäftigt sind, für die nächsten Jahre viel Arbeit. Vielen Dank. ({17})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile nun das Wort der Abgeordneten Kornelia Möller, Fraktion Die Linke. ({0})

Kornelia Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003811, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle Jahre wieder kommen im Winter zu den Millionen Menschen ohne Arbeit noch Hunderttausende hinzu und alle Jahre wieder bietet die Politik keine befriedigende Lösung dieses Problems an. Das soll sich nun ändern. Ja, das Gesetz, das wir heute verabschieden, ist längst überfällig und es ist nötig. Erinnern wir uns: Im Jahre 1995 wurde das Schlechtwettergeld von der Regierung Kohl ersatzlos gestrichen. Eine gut funktionierende Regelung fiel den Sparanstrengungen des damaligen Finanzministers Theo Waigel zum Opfer. Waigel befand, das Schlechtwettergeld sei zu teuer und belaste die Bundesanstalt für Arbeit über Gebühr. ({0}) Das Ergebnis dieses kurzsichtigen sozialen Einschnitts war und ist ein erheblicher Anstieg der saisonalen Arbeitslosigkeit in den Bauberufen und ähnlich witterungsabhängigen Branchen - alle Jahre wieder. Ausbaden müssen dies die Bauarbeiter in Hamburg und Leipzig, in München und Schwerin. Aber unter dem Strich wurden nicht nur sie, sondern wurde auch die Bundesanstalt für Arbeit zusätzlich belastet. In diesem langen, harten Winter wirkt sich das besonders negativ aus und es erschwert die Lage der ohnehin bereits gebeutelten Beschäftigten der Bau- und Baunebengewerke sowie der Unternehmen dieses Zweiges zusätzlich. Das Fehlen einer Schlechtwettergeldregelung hat die Zahl der Arbeitslosen mit in die Höhe getrieben. Viele Menschen stehen auf der Straße; sie erwarten zu Recht auch von der Politik eine Regelung. Wir als Linksfraktion begrüßen, dass ein gelungenes, wenn sicherlich auch nicht ganz einfaches Gemeinschaftswerk zwischen der öffentlichen Hand, den zuständigen Gewerkschaften sowie den beteiligten Unternehmerverbänden zustande gekommen ist. ({1}) Das ist ein zufrieden stellendes Ergebnis, vor allem für die Hauptbetroffenen: die Beschäftigten des Baugewerbes und ähnlicher witterungsabhängiger Branchen. Das ist doch schon mal was, im Gegensatz zu anderen Projekten, mit denen hoch geschraubte Versprechen abgegeben wurden, die dann aber entweder im Sande verliefen oder die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes in Armut führten und ihnen ihre Bürgerrechte aberkannten. So viel zum Stichwort Reformen. Ich danke denen, die diesen Gesetzentwurf vorbereitet haben. Dabei handelt es sich insbesondere um die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt, den Zentralverband des Deutschen Baugewerbes und den Hauptverband der Deutschen Bauindustrie. ({2}) Sie schufen im Juli vergangenen Jahres mit ihrer tariflichen Vereinbarung zur Weiterentwicklung der Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauindustrie die praktischen Voraussetzungen dafür, dass dieses Gesetz, wenn es dann beschlossen ist, erstmals im Winter 2006/2007 wirksam werden kann. Ganz wesentlich ist, dass mit dieser Regelung ein Weg beschritten wird, der sichert, dass sich beide Tarifpartner aktiv an der Beschäftigungssicherung in ihrer Branche beteiligen. Vom Gesetzgeber erwarten wir, nun unverzüglich zu prüfen, welche weiteren Branchen in den Geltungsbereich des vorliegenden Gesetzes einbezogen werden können. ({3}) Das sind bei 5 Millionen Arbeitslosen kleine Schritte, aber immerhin weisen sie diesmal in die richtige Richtung. Die Anregungen des DGB, der eine Ausweitung auf weitere Branchen vorschlägt, zum Beispiel auf das Hotel- und Gaststättengewerbe in den Saisongebieten, die Verarbeitung von landwirtschaftlichen Produkten, den Erwerbsgartenbau sowie den Kabel- und Freileitungsbau, unterstützen wir ausdrücklich. Umso mehr bedauern wir, dass die Regierungskoalition kurzfristig mit einem Änderungsantrag die Hürden für die dringend notwendige Einbeziehung weiterer Branchen sehr hoch gelegt hat. Erst im Winter 2008/2009 soll es möglich sein - und dann ausschließlich auf Basis eines neuen Gesetzes und nicht, wie ursprünglich vorgesehen, im Rahmen einer Rechtsverordnung des BMA -, weitere Branchen einzubeziehen. Gestern erreichte mich eine Resolution - es ist nicht die einzige, aber ich führe sie exemplarisch an - von Betriebsräten und Beschäftigten der Ziegelindustrie, die um ihre Arbeitsplätze fürchten, sollte das Gesetz sie ausschließen. Sie schreiben ganz konkret: Das Gesetz zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung könnte die Rettung für viele Familien sein, die sonst in das ALG II gingen. Auch sie weisen darauf hin, dass die Bundesagentur für Arbeit durch die Begrenzung auf wenige Branchen weit stärker finanziell belastet würde. Um auf Ihren Ausdruck zurückzukommen, Herr Brauksiepe: Eine Zwangsbeglückung würden sie gerne annehmen. ({4}) Ich muss mich schon fragen: Reden Sie denn nicht mit den Menschen vor Ort, kriegen Sie so etwas nicht mit, sprechen sie nicht mit den Leuten? Oder haben Sie keine Ahnung, haben Sie niemanden, der sich mit der Materie auskennt? Denn es ist doch so, dass man zunächst einmal nachdenken und nachfragen muss, ehe man ein Gesetz verabschiedet. ({5}) Die Beschäftigten der Ziegelindustrie sind nicht die Einzigen, die vergessen werden. Es trifft auch Beschäftigte, die zwar saisonalen, aber keinen Witterungseinflüssen ausgesetzt sind, zum Beispiel Künstler, vor allem Schauspieler und künstlerische Produktionskräfte, die zwischen ihren Engagements immer wieder arbeitslos sind. Auch hier müssen dringend Lösungen gefunden werden. ({6}) Ich möchte daran erinnern, dass 2003 im Zuge von Hartz III die so genannte Anwartschaftszeitverordnung nach § 123 SGB III von Rot-Grün ersatzlos gestrichen wurde. Alle Betroffenen, die nicht mehr als acht Beschäftigungsmonate pro Jahr erreichen, sind seitdem nicht mehr in der Lage, ihre Phase von witterungsbedingter und/oder saisonaler Arbeitslosigkeit mit dem Arbeitslosengeld I zu überbrücken, weil sie den dafür nötigen Anspruch nicht mehr aufbauen können. Um einmal eine Zahl zu nennen: Nach Berechnungen der IG BAU sind von dieser Regelung allein im Bauhauptgewerbe 400 000 Beschäftigte betroffen. Trotz der hohen Zahl der betroffenen Menschen sah es eine Weile so aus, als würden die Beschäftigten der Bauindustrie noch länger auf eine zufrieden stellende Schlechtwetterregelung warten müssen. Denn während der ersten Ausschussberatung zog Schwarz-Rot plötzlich die eingereichte Vorlage zurück. Anlass waren vermutlich Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Regierungslagers ({7}) - genau -, hervorgerufen durch den Widerstand der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Im Kern ging es dabei um den Vorwurf, die Beschäftigten der Bauindustrie könnten mit dem Saisonkurzarbeitergeld zu gut wegkommen. Ich empfehle den Verantwortlichen der BDA, sich nicht von einer neoliberalen Ideologie oder von Sozialneid leiten zu lassen, sondern sich stattdessen der Realität zu öffnen. ({8}) Es ist also vor allem den weit fortgeschrittenen Tarifverhandlungen der Verbände der Baubranche und der IG BAU zu verdanken und damit dem gewerkschaftlichen Druck - das zu betonen, ist in dieser Zeit besonders wichtig -, dass der vorliegende Gesetzentwurf den Weg in die heutige Sitzung des Bundestages geschafft hat. Wir werden dem Gesetz zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung zustimmen und wir werden uns dafür engagieren, dass auch die Beschäftigten ähnlicher, durch saisonale Schwankungen gefährdeter Bereiche von diesen Regelungen profitieren können. Lassen Sie mich abschließend noch eines sagen: Wir werden unseren Kampf gegen Hartz IV im Interesse aller Menschen, die von Erwerbslosigkeit bedroht oder betroffen sind, weiter führen. ({9}) Ceterum censeo: Hartz IV ist ein schlechtes Gesetz. Hartz IV muss weg. Danke. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben Ihnen von der großen Koalition bereits im Januar bescheinigt, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf, der ein Saisonkurzarbeitergeld vorsieht, ein richtiges Ziel verfolgen. Wir unterstützen dieses Vorhaben ausdrücklich; denn Sie greifen damit unserer Meinung nach ein Problem auf, das immer mehr Beschäftigte betrifft. Denn unsichere Arbeitsverhältnisse und diskontinuierliche Erwerbsverläufe nehmen einen immer größeren Raum in unserer Gesellschaft ein. Damit komme ich auch schon zum eigentlichen Problem. Von solchen unsicheren Arbeitsverhältnissen sind sehr viele Menschen in sehr vielen verschiedenen Branchen betroffen; sie sind kein Alleinstellungsmerkmal der Baubranche. ({0}) Sie aber legen hier leider einen Gesetzentwurf vor, den man als Auftragsarbeit für die Bauwirtschaft, als eine Lex Baubranche bezeichnen kann. Die darin enthaltenen Regelungen sind explizit auf die Bauwirtschaft ausgerichtet. Es besteht nicht die Möglichkeit, die Regelungen auf andere Branchen zu übertragen. ({1}) Die Regelungen dieses Gesetzentwurfs beschränken sich auf witterungsbedingten Arbeitsausfall in der Zeit von Dezember bis März und sind nur für Arbeitgeber mit entsprechendem Tarifvertrag attraktiv. Das trifft auf andere Bereiche, wie im Übrigen auch im Gesetzentwurf zu lesen ist - auch Sie, Herr Brandner, haben das gerade gesagt -, leider nicht zu. Beides stellt zielgerichtet auf die Baubranche ab. Das hat die Anhörung sehr deutlich gemacht. Mit ihrem Änderungsantrag hat die große Koalition das quasi eingestanden. Aber, Herr Brandner, Herr Brauksiepe, es gibt immer mehr Bereiche, in denen solche Probleme, die schon ganz richtig und ausführlich beschrieben wurden, auftreten. In immer mehr Arbeitsfeldern wird projektbezogen gearbeitet, zum Beispiel in der Film- und Medienindustrie, bei den Kulturschaffenden und immer mehr auch in der Wissenschaft. Das Problem ist auch nicht auf die Winterarbeitslosigkeit beschränkt; in diesem Punkt ist Ihre Annahme ebenfalls falsch. Was ist zum Beispiel mit der Wintergastronomie? Was ist mit bestimmten Zweigen der Landwirtschaft? Denken Sie nur an die Jobs an den Skiliften oder in der Alm- und Gondelwirtschaft! Hier ist der Arbeitsanfall im Winter groß; die Angestellten bräuchten im Sommer ein Kurzarbeitergeld. All die Probleme, die hier beschrieben worden sind, treffen auch die Beschäftigten in diesen Bereichen. Aber denen reichen Sie nicht die helfende Hand; denen zeigen Sie die kalte Schulter. Für Sie ist der Wetterfrosch nur von Dezember bis März ein Risikopatient auf dem Arbeitsmarkt. Das wird der Wirklichkeit aber leider nicht gerecht. ({2}) Ich finde diese Regelung deshalb so überraschend, weil Sie in Ihrem Gesetzentwurf und in Ihrer Rede die umfassend positiven Wirkungen beschrieben haben. Sie haben gesagt, dass durch das Kurzarbeitergeld circa 25 Prozent der saisonbedingten Entlassungen vermieden werden könnten. Außerdem haben Sie gesagt, dass damit Einsparungen bei der Bundesagentur für Arbeit, aber auch beim Bund verbunden sein könnten. Ich frage Sie: Warum wollen Sie diese positiven Effekte so stark begrenzen? Das sind doch Argumente dafür, diese Maßnahme auch auf andere Branchen auszuweiten. Ganz offensichtlich trauen Sie Ihren eigenen Aussagen nicht wirklich über den Weg. Wie sonst wäre dieser zweijährige Feldversuch, den Sie nur für die Baubranche vorsehen - das betone ich noch einmal ausdrücklich -, zu verstehen? Vor 2008 dürfen sich andere Branchen nicht bewegen; sie werden sonst erschossen. ({3}) Das ist ein falscher Weg. Ich will Ihnen noch etwas sagen: Ich halte Wirkungsforschung ausdrücklich für richtig. Ich finde schon, dass man Instrumente, die man einführt, nach einer gewissen Phase daraufhin überprüfen muss, ob sie tatsächlich die Wirkung haben, die man sich erhofft hat. Wenn Sie die Wirkungsforschung aber so eng begrenzen, nämlich auf die Bauwirtschaft, dann werden Sie natürlich keinerlei Erkenntnisse darüber gewinnen, wie diese Regelung in anderen Branchen wirken wird. Es gibt dann nämlich keine Möglichkeit, zu sagen: Okay, wenn wir das und das tun, dann hat das in der Gastronomiebranche diese und jene Wirkung. Sie werden nach zwei Jahren sagen können, wie sich das in der Bauwirtschaft auswirkt. Damit bleibt die Begrenzung aber weiterhin bestehen; denn Erkenntnisse darüber, wie sich eine Übertragung bewerkstelligen lässt, werden Sie auf diese Weise nicht gewinnen. Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Auf den Baustellen der Republik werden die Baggerfahrer und die Betonmischer eine Ehrenrunde für die große Koalition drehen. Für alle anderen Branchen aber ist dieser Gesetzentwurf - und das trotz des Einsatzes der Kanzlerin - ein Meisterstück der Unentschlossenheit und Halbherzigkeit. ({4}) Dafür können Sie nicht allen Ernstes eine Unterstützung von uns Grünen erwarten. Mehr als eine Enthaltung ist leider nicht drin. Ich danke Ihnen. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Bundesregierung erhält nun der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres das Wort.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung werden wir die Winterarbeitslosigkeit im Baugewerbe effektiv und nachhaltig bekämpfen. Dies haben sich CDU/CSU und SPD bereits im Koalitionsvertrag als wichtiges Projekt vorgenommen. Nun setzen wir diesen Teil der Koalitionsvereinbarung um. Damit ist klar, dass die Koalition ihre Hausaufgaben erfüllt. Punkt für Punkt werden die Dinge erledigt, die zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit notwendig sind. Wenn man sich ausschließlich am Kalender orientieren würde, dann dürften wir uns alle miteinander freuen; denn in vier Tagen ist Frühlingsanfang. Ich gehe davon aus, dass Sie sich alle so wie ich auf wärmere Temperaturen freuen und dem hoffnungsvoll entgegensehen. Die meteorologische Realität sieht leider anders aus: Der kalte Winter hat Deutschland nach wie vor fest im Griff, was mit einem erheblichen Einfluss auf den Arbeitsmarkt verbunden ist. ({0}) Durch die aktuelle Witterung wird uns noch einmal deutlich vor Augen geführt, dass das heute zu beratende Gesetz zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung notwendig und sinnvoll ist. Die Bundesregierung will damit die Winterarbeitslosigkeit effektiv und nachhaltig bekämpfen. Wie ist die Situation bisher? Allein für den Baubereich kann man feststellen, dass es Jahr für Jahr im Winter etwa 140 000 bis 150 000 Menschen gibt, die im November entlassen werden und denen man sagt: Melde dich arbeitslos. Im April, wenn die Saison losgeht, stelle ich dich wieder ein. - Die Folge ist, dass die Arbeitslosenversicherung alle Kosten für diese Arbeitslosen zu tragen hat - die Sozialversicherungsbeiträge, das Arbeitslosengeld und alles, was damit zusammenhängt -, sie der Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt in Wahrheit aber überhaupt nicht zur Verfügung stehen, weil sie sich darauf verlassen, dass ihr ehemaliger Arbeitgeber sie wieder einstellt. Sie schlagen dieses Angebot nur aus, wenn sie eine bessere Beschäftigung finden. Diesen Zustand wollen wir ändern. Ziel ist, dass die Betriebe ihre Beschäftigten nicht entlassen. Dafür wollen wir ein neues Instrument anbieten. Damit wollen wir vor allem zwei Dinge erreichen: Wir wollen, dass die Beschäftigungsverhältnisse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Bauwirtschaft stabilisiert werden, und wir wollen die tariflichen Ansätze zur Arbeitszeitflexibilisierung und die ganzjährige Beschäftigung durch gesetzliche Maßnahmen besser als bisher flankieren. Wir sind überzeugt, dass wir auf dem richtigen Weg sind; denn von der ganzjährig sicheren Beschäftigung profitieren alle. Der Bauarbeiter profitiert davon, weil ihm nicht gekündigt wird und er seine Arbeit behält. Der Betrieb profitiert davon, weil er seine Beschäftigten nicht entlassen muss und so auch auf kurzfristige Aufträge reagieren kann. Auch die Bundesagentur für Arbeit, also die Arbeitslosenversicherung, profitiert davon, weil damit die Kosten sinken. ({1}) Ich will ausdrücklich sagen, dass die Wirtschaft im Sektor Bau - dazu gehören für mich die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften genauso wie die Arbeitgeber vorbildliche Arbeit geleistet hat. Sie hat nämlich entsprechende Tarifverträge abgeschlossen, die einen Mechanismus ermöglichen, auf den ich noch eingehen möchte. Zur Kurzarbeit muss man Folgendes wissen - das sage ich für diejenigen, die diese Diskussion verfolgen -: Das Instrument der Kurzarbeit gibt es auch bisher schon. Ein Unternehmen kann aus konjunkturellen Gründen für seine Beschäftigten Kurzarbeit anmelden, um deren Entlassung zu vermeiden. Ein anderer Grund können strukturelle Umsteuerungen sein, wenn also ein Betrieb umgebaut oder ein Standort geschlossen wird. Auch dann kann Kurzarbeit gemacht werden. Wir erweitern nun dieses Instrument, indem wir die Kurzarbeit auch bei saisonalen Schwankungen ermöglichen; das ist etwas Neues. Kurzarbeit bedeutet, dass der Arbeitgeber für die Beschäftigten, für die er Kurzarbeit beantragt und die Kurzarbeit machen, die Sozialversicherungsbeiträge in vollem Umfang zahlen muss. Das hat natürlich zur Folge, dass sich viele Betriebe überlegen, ob sie überhaupt Kurzarbeit anmelden. Das hätte nämlich zur Folge, dass die Arbeitnehmer nicht arbeiten, der Arbeitgeber aber die Sozialversicherungsbeiträge Monat für Monat abführen muss. Die Bauwirtschaft hat es nun durch tarifvertragliche Vereinbarungen ermöglicht, dass dem Arbeitgeber, der für seine Beschäftigten Kurzarbeit anmeldet, die dafür anfallenden Sozialversicherungsbeiträge durch ein Umlagesystem erstattet werden. Das ist ein Instrument der Solidarität; denn alle Unternehmer, auch diejenigen, bei denen es keine Kurzarbeit gibt, müssen in dieses System einzahlen, damit denjenigen, die Kurzarbeit anbieten, die anfallenden Sozialversicherungsbeiträge erstattet werden können. Nur so ist Kurzarbeit für Arbeitgeber attraktiv. Für die Arbeitnehmer gibt es Arbeitszeitkonten. Ich will hier noch einmal ausdrücklich sagen: Diese Arbeitszeitkonten gibt es in der Bauwirtschaft schon länger. Bisher war es so, dass der Arbeitnehmer, bevor er das Wetterausfallgeld in Anspruch nehmen konnte, 30 Stunden durch sein Kontingent abgelten musste. Von der 31. bis zur 100. Stunde musste der Arbeitgeber zahlen und ab der 101. Stunde sprang dann die Bundesagentur für Arbeit ein. Dies wird jetzt durch das Umlagesystem in der Bauwirtschaft von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gezahlt. Die Arbeitnehmer erhalten für jede Stunde, die sie im Winter bei schlechtem Wetter leisten, für die also Kurzarbeit nicht in Anspruch genommen wird, auf den Stundenlohn einen Zuschlag von 2,50 Euro. Die Bundesregierung und die Tarifvertragsparteien sind sich darüber einig, dass die gefundene Lösung für die Arbeitnehmer attraktiv ist und nicht dazu führen wird, dass Kurzarbeit leichtsinnig angemeldet wird, sonParl. Staatssekretär Gerd Andres dern dass die vorhandenen Arbeitszeitkonten der Arbeitnehmer im Winter eingesetzt werden, weil das auch für die betroffenen Arbeitnehmer eine attraktive Alternative ist. Die Bundesregierung wünscht sich - das hat sie auch im Gesetzentwurf, der im Kabinett beschlossen wurde, festgelegt -, dass diese Möglichkeit auch auf andere Branchen übertragen wird. Herr Dr. Brauksiepe hat das in seiner Rede ausdrücklich auch für die Union erklärt. Ich bin Herrn Dr. Brauksiepe, Klaus Brandner und den Koalitionsfraktionen außerordentlich dankbar. Wenn sich das Instrument als wirkungsvoll erweist - es wird über zwei Winterabschnitte hinweg in seiner Wirkung erprobt und evaluiert -, dann wollen wir die Möglichkeit schaffen, dass es auch von anderen Branchen genutzt werden kann. ({2}) Deswegen stelle ich an meine Vorrednerin Frau Pothmer gewandt ausdrücklich fest: Es stimmt nicht, dass andere erschossen werden, sobald sie sich bewegen. Was ist das übrigens für eine militärische Ausdrucksweise für eine Grüne? Ich muss schon sehr bitten. ({3}) Das stimmt nicht. Ich fordere vielmehr die anderen Branchen auf: Machen Sie Ihre Hausaufgaben und treten Sie in Verhandlungen ein! Die Maler und Lackierer haben das getan. Für andere gilt das genauso. Denn es sind tarifliche Regelungen notwendig, damit man das Instrument nutzen kann. Darauf müssen sie vorbereitet sein. Ich bin durchaus hoffnungsvoll. Wir probieren das Instrument in zwei Winterperioden - nämlich im Winter 2006/2007 und 2007/2008 - aus. Dann wird im Jahr 2008 für die Periode 2008/2009, also interessanterweise vor der Bundestagswahl, vom Gesetzgeber - es liegt in den Händen des Gesetzgebers, also der Mehrheit dieser Regierungskoalition - zu prüfen sein, ob es für andere Branchen geöffnet werden soll. Wenn wir Erfolg haben, dann werden wir das Instrument für andere Branchen öffnen und dann müssen diese Branchen ihre Vorarbeit geleistet haben. Deswegen fordere ich alle, die Interesse haben, auf: Kommt in die Puschen und schafft entsprechende Umlagesysteme und Arbeitszeitkonten! Dann kann man dieses System wunderbar nutzen und es wird allen nutzen, die von saisonalen Beschäftigungsschwankungen betroffen sind. ({4}) Ich komme zu einem letzten Gedanken. Es ist wahr: Wir haben etwas Zeit verloren. Wir hätten das Vorhaben früher umsetzen müssen. Dazu waren Verhandlungen notwendig. Ich habe die Hoffnung und bitte darum, dass der Gesetzentwurf im Bundesrat zügig beraten und umgesetzt wird. Mein zweiter Wunsch ist, dass wir das Gesetz möglichst unbürokratisch umsetzen. Der Bundesregierung ist es ernst mit dem Thema Bürokratieabbau. ({5}) Das soll auch beim neuen Saisonkurzarbeitergeld gelten. Deswegen sollten wir, statt weitere bürokratische Hürden aufzubauen, für ein unbürokratisches Verfahren sorgen. ({6}) Ich komme nun zu meinem Anfangsgedanken zurück. Noch ist es Winter, auch am Arbeitsmarkt. Aber - auch die Medien berichten darüber - der Frühling ist bereits zu spüren. Er ist auch am Arbeitsmarkt zu spüren. Ich fordere Sie ausdrücklich auf: Helfen Sie mit, dass der Gesetzentwurf - es gibt schließlich eine breite Zustimmung dazu - mit den Tarifvertragsparteien zügig in die Praxis umgesetzt werden kann! Mein ausdrücklicher Dank gilt Frau Falk, Herrn Dr. Brauksiepe, Klaus Brandner und den Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion, ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Staatssekretär, Sie können nicht alle namentlich aufführen.

Dr. h. c. Gerd Andres (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000038

- dass sie mitgeholfen haben, dass wir diesen Gesetzentwurf heute beschließen können. Herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Peter Rauen ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bereits bei der Einbringung des Gesetzentwurfs haben alle im Hause deutlich gemacht, dass es uns ein großes Anliegen ist, ganzjährige Beschäftigung in witterungsabhängigen Branchen zu schaffen. Unser Arbeitsminister, Herr Müntefering, hat gesagt, dass das keine Zwangsveranstaltung für die eine oder andere Branche sein soll, sondern ein Angebot für die Tarifparteien auf beiden Seiten. Ich glaube, wir haben nach einer intensiven Beratung, wie sie im Parlament selten stattfindet, erreicht, dass mit dem Gesetzentwurf diese Vorgabe unseres Arbeitsministers auch erfüllt wird. Der Vorwurf, dass die Regelung nur für die Baubranche gilt, geht meiner Meinung nach ins Leere, weil das Gesetz zurzeit nur für diese Branche angewandt werden kann; denn die anderen Tarifparteien haben noch keine Regelungen getroffen, die die Anwendung dieses Gesetzes ermöglichen. Wenn jetzt zum Beispiel die Land- und Forstwirtschaft, die Baustoffindustrie, das Maler- und Lackiererhandwerk und das Steinmetz- und Bildhauerhandwerk Überlegungen anstellen, wie sie mit dem Gesetz in ihren Branchen ganzjährige Beschäftigung ermöglichen können, dann kann durch die Evaluierung - also nach zwei Winterperioden - festgestellt werden, ob das Gesetz die gewünschte Wirkung erbracht hat, um es gegebenenfalls auf andere Branchen ausdehnen zu können. Frau Pothmer, Sie haben gesagt, das Gesetz sollte auch für Branchen gelten, in denen im Winter Hauptsaison ist und im Sommer saisonbedingt Kurzarbeit erforderlich ist. Das lässt der Gesetzentwurf - mit ganz kleinen Änderungen - zu. Aber es ist wichtig, dass alle erkennen, dass dieses Gesetz seinen Zweck erfüllt. Ich will deutlich machen, wie sich die nun geplanten Regelungen betreffend die Förderung ganzjähriger Beschäftigung von den bislang im Baugewerbe geltenden unterscheiden - Ähnliches gibt es, angefangen mit dem Schlechtwettergeld, seit Anfang der 80er-Jahre, wie es Herr Andres soeben geschildert hat -, damit das Gesetz erfolgreich wird und damit sich die Bauarbeiter im Winter nicht mehr arbeitslos melden müssen. Zurzeit ist es so, dass jedes Jahr von Dezember bis März circa 280 000 Bauarbeiter arbeitslos werden, davon etwa 140 000 witterungs- und auftragsbedingt. Nach den bislang geltenden Regelungen müssen die Arbeitnehmer selber 30 Stunden auf ein Arbeitszeitkonto einbringen, bevor sie Winterausfallgeld bekommen. Die Unternehmen haben in die Sozialkasse des Baugewerbes eingezahlt, um die Kosten des Winterausfallgeldes und die Sozialversicherungsbeiträge von der 31. Stunde bis zur 100. Stunde erstattet zu bekommen. Ab der 101. Stunde hat eine Regelung gegriffen, wie wir sie nun in etwa vorhaben, nämlich dass der Unternehmer seinen Mitarbeitern die Ausfallstunden in Höhe des Arbeitslosengeldes bezahlt. Allerdings muss er bislang die Sozialversicherungsbeiträge ab der 101. Stunde aus eigener Tasche zahlen. Das hat dazu geführt, dass sich viele Unternehmer bereits im August bzw. September sorgenvoll gefragt haben, wie sie finanziell über den Winter kommen sollen. Für diese Unternehmer ändert sich generell etwas erheblich; denn es gilt demnächst, dass die Arbeitnehmer von Dezember bis März ab der ersten Ausfallstunde Saisonkurzarbeitergeld bekommen, und zwar nicht nur bei schlechtem Wetter, sondern auch bei einer verminderten Auftragslage, die in der Regel mit der schlechten Witterung im Winter einhergeht. Den Unternehmern werden alle Kosten im Zusammenhang mit den Sozialversicherungsbeiträgen durch die Sozialkasse des Baugewerbes erstattet. Sie haben also kein individuelles Risiko mehr zu tragen, wenn sie die Bauarbeiter im Winter weiterbeschäftigen. Diese Botschaft ist wichtig: Die Unternehmer können zusammen mit ihren Belegschaften dem Winter sorgenfrei entgegensehen; denn wenn es schlechtes Wetter gibt bzw. die Arbeit ausgeht, dann können die Unternehmer ohne individuelles Risiko auf das Saisonkurzarbeitergeld zurückgreifen. Ich bin sicher, dass das im Gegensatz zu allen bisherigen Regelungen zur Winterbauförderung Wirkung haben wird und dass die Zahl der durch Witterung und Arbeitsausfall bedingten Entlassungen erheblich zurückgehen wird. Es dürfen aber keine Fehlanreize entstehen, weil sonst das Gesetz ins Leere geht; das ist ein ganz wichtiger Punkt. In der Anhörung ist darauf hingewiesen worden, dass etwa 70 Prozent der Baufirmen Arbeitszeitkonten führen und dass davon wiederum die große Mehrheit in den letzten Jahren gar kein Winterausfallgeld benötigt hat. Man hat bis zu 150 Stunden vorgearbeitet und ist damit - einschließlich Urlaub - über den Winter gekommen. Das heißt, diese Firmen müssen auch in Zukunft so handeln, weil mit dieser Flexibilisierung ein hohes Maß an Produktivität erreicht worden ist. Das ist ein entscheidender Punkt. Nach dem Gesetz zahlen Arbeitnehmer 0,8 Prozent und Arbeitgeber 1,2 Prozent in die Kasse ein. Wer einzahlt, der will irgendwann auch etwas herausbekommen. Die Firmen, die bereits ganzjährige Beschäftigung auf freiwilliger Basis erreicht haben - das sind die meisten -, dürfen wir nicht bestrafen. Es ist daher äußerst wichtig, dass den Bauarbeitern für jede ausgefallene Arbeitsstunde, zu deren Ausgleich sie ihre Arbeitszeitkonten, für die sie im Sommer vorgearbeitet haben, einsetzen, um Winterarbeitslosigkeit zu vermeiden, 2,50 Euro steuer- und sozialversicherungsfrei gezahlt werden. Das bedeutet, dass ein Bauarbeiter, der 150 Stunden vorgearbeitet hat und sich diese Überstunden im Sommer nicht auszahlen lässt, im Winter mit 375 Euro netto zusätzlich belohnt wird. Dieser Bauarbeiter bekommt des Weiteren ein Mehraufwandswintergeld in Höhe von 1 Euro pro geleistete Arbeitsstunde in der Zeit vom 15. Dezember bis zum letzten Kalendertag des Monats Februar. Dadurch kann er noch einmal - bis maximal 450 Stunden, die man eigentlich nicht erreichen kann - zusätzlich circa 100 bis 250 Euro netto bekommen. Das ist für jemanden, der ein Bruttoeinkommen von 30 000 Euro im Jahr hat und netto 21 000 Euro ausgezahlt bekommt, eine ganze Menge Geld. Ich gehe davon aus, dass die Unternehmer, die jetzt flexibilisiert haben, auch in Zukunft bereit sind, zu flexibilisieren, weil es diesen Anreiz gibt, und dass diejenigen, die in die Kasse einbezahlen, ohne dass sie Kurzarbeitergeld in Anspruch nehmen, sich so wie bisher verhalten werden. Anders verhält es sich mit denen, die das nicht über Arbeitszeitkonten organisieren konnten. So lässt zum Beispiel die Region, in der eine Firma beheimatet ist, das nicht immer zu. Ich weiß, wovon ich rede. Mein Betrieb ist in der Eifel. Ob ich früher eine Baustelle in Bitburg oder an der Mosel hatte, machte beim Schlechtwettergeld einen Unterschied von zehn bis 20 Tagen aus. Es gibt also regionale Unterschiede. Ich glaube, dass dieses Gesetz im Endergebnis wirklich seinen Zweck erfüllen wird. Wir haben wesentliche Veränderungen vorgenommen. Wir sollten stolz darauf sein, dass wir das gemeinsam geschafft haben. ({0}) Ich halte es für äußerst wichtig, dass wir in den Gesetzentwurf geschrieben haben, dass derjenige, der ein Arbeitszeitkonto einbringt, um über den Winter zu kommen, erst dann Kurzarbeitergeld bekommt, wenn die Stunden in der Schlechtwetterzeit eingebracht sind. Die Firmen, die keine Vereinbarungen getroffen haben, sind davon nicht berührt. Es liegt aber in der Natur des Unternehmers, dass er produktiv arbeiten will. Wenn er es geschafft hat, zu flexibilisieren, dann wird er das auch beibehalten. Wichtig ist, dass seine Mitarbeiter aufgrund des neuen Gesetzes nicht die Dummen sind und über die 2,50 Euro hinaus 1 Euro zusätzlich pro geleistete Stunde im Winter bekommen. Das ist aus meiner Sicht für den Erfolg des Gesetzes die entscheidende Regelung. Ich sage ebenso wie Ralf Brauksiepe: Wenn das, was wir erhoffen, eintritt und wir in zwei Jahren feststellen, dass dieses neue Gesetz kostenneutral ist und es die Lohnzusatzkosten nicht erhöht, dann werden wir als Parlament überhaupt kein Problem damit haben, diese Regelung auf andere Branchen zu übertragen. Lassen Sie uns diese zwei Jahre Erfahrung sammeln! Wir tun alle gut daran; denn nicht immer verhalten sich die Menschen so, wie wir als Politiker das gerne hätten. ({1}) Umgekehrt ist es übrigens genauso. Auch wir verhalten uns nicht immer so, wie die Menschen es gerne hätten. Das liegt in der Natur der Sache. Nach zwei Jahren haben wir die Erfahrung. Dann, Frau Pothmer, geht der Vorwurf, das sei nur eine Sache für das Baugewerbe, ins Leere. Dort geht es um rund 700 000 Mitarbeiter in Deutschland. Aber in allen saisonabhängigen Branchen sind 2,5 Millionen Menschen beschäftigt. Wenn wir da eine ganzjährige Beschäftigung ermöglichen, dann ist das sinnvoll für alle. Ich finde, der Gesetzentwurf ist gut. Wir sollten ihn mutig vertreten und die Botschaft senden: Leute, ihr könnt mit eurer Belegschaft über den Winter kommen. - Dann werden wir auch weniger Entlassungen im Winter haben. Schönen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bevor der Kollege Kolb das Wort erhält, erteile ich dem Kollegen Küster das Wort zur Geschäftsordnung.

Dr. Uwe Küster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! Wir sind in einer Kernzeitdebatte und die Präsenz in dieser Kernzeitdebatte - diesen Vorwurf richte ich besonders an die eigene Fraktion - ist nicht überzeugend. Wir haben uns vor mehreren Jahren darauf verständigt, dass in der Kernzeit wichtige Debatten für die Politik in Deutschland zu führen sind. ({0}) In den letzten Wochen hat sich gezeigt, dass die Präzenz im Plenum bei den Debatten am Donnerstagvormittag alles andere als den Kernzeitdebatten angemessen waren. Um zukünftig mehr Präsenz zu erreichen, beantrage ich namens meiner Fraktion, dass wir die Abstimmung zu dem jetzt debattierten Gesetzentwurf in der dritten Lesung namentlich durchführen. Ich bitte meine Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen dafür um Verständnis. Das bringt durchaus einige Unbequemlichkeiten mit sich, was nicht zu vermeiden ist. Sie haben aber, so glaube ich, durchaus Verständnis dafür, weil wir hier in der Vergangenheit in der Kernzeit vor fast leerem Saal debattiert haben. Das erklärt diesen Antrag. Vielen Dank für Ihr Verständnis. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dazu fällt manchem manches ein. Das kann bei anderer Gelegenheit noch einmal ausgetragen werden. Ich will jetzt nur darauf aufmerksam machen, dass eine namentliche Abstimmung nach § 52 unserer Geschäftsordnung stattfinden muss, wenn eine Fraktion dies beantragt. Ich sage das, damit sich alle darauf einstellen können. Herr Kollege Küster, im Übrigen gehe ich davon aus, dass Sie die Schriftführer frühzeitiger als das Präsidium unterrichtet haben, damit sichergestellt ist, dass die namentliche Abstimmung mit einer hinreichend ordentlichen Besetzung der entsprechenden Abstimmungsurnen durchgeführt werden kann. ({0}) Nun hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDPFraktion das Wort.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss sagen - auch ich bin schon einige Zeit Abgeordneter in diesem Parlament -: Herr Küster, ich habe wiederholt erlebt, dass Mitglieder der Bundesregierung herbeizitiert werden; aber dass die Parlamentsabgeordneten herbeizitiert werden, ist wirklich ein Novum ({0}) und zeigt, wie die Verhältnisse in Ihren Reihen anscheinend zu bewerten sind. Zu dieser Debatte lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt zusammenfassend sagen, dass es so aussieht, als wenn eine breite Mehrheit diesen Gesetzentwurf in der veränderten - ich füge hinzu: in der verbesserten - Form verabschieden wird. Bei aller Begeisterung über sich selbst, die die große Koalition hier an den Tag gelegt hat: Ich finde, ein Grund zur Selbstzufriedenheit besteht nun wahrlich nicht. Denn das, was wir heute verabschieden, ist nur ein recht kleiner Schritt für die Betroffenen. Herr Kollege Brandner, es werden bei weitem nicht alle in den Genuss dieser neuen Regelung kommen. Wenn am Ende 40 000 bis 50 000 Menschen von dieser neuen Regelung profitieren und wenn ihnen Arbeitslosigkeit erspart bleibt, dann wäre das sicherlich als Erfolg anzusehen. Vor diesem Hintergrund finde ich es schon bemerkenswert, Herr Brauksiepe, dass der Kollege Rauen sagte, es seien die intensivsten Verhandlungen gewesen, an die er sich erinnern kann. Wenn Sie sich bei einer vergleichsweise kleinen Maßnahme schon so anstrengen müssen, dann darf man allerdings gespannt sein, wie es bei den wirklich wichtigen Vorhaben dieser Legislaturperiode - beim Tarifvertragsgesetz, beim Kündigungsschutz und bei der Reform der sozialen Sicherungssysteme - aussehen wird. ({1}) Wir haben gesagt, es solle niemand gegen seinen Willen in diese Regelung einbezogen werden. Diese Forderung hat einen Hintergrund: Wir alle haben Schreiben aus dem Bereich der Trockenbauer, der Baustoffindustrie, des Hotel- und Gaststättengewerbes und des Einzelhandels bekommen. Wir möchten also, dass nur diejenigen, die das wirklich wollen, einbezogen werden. Das ist keine Schikane, sondern hat einen ganz konkreten Hintergrund. Die Messlatte für den Erfolg dieser Neuregelung ist, dass sie mindestens kostenneutral ist. Entscheidend für das Erreichen der Kostenneutralität ist die Mitwirkung der Tarifparteien; denn Sie haben darauf verzichtet, in diesem Gesetz festzulegen, dass Arbeitszeitguthaben aufgebaut werden müssen. Ab dem zweiten Winter nach In-Kraft-Treten dieser Regelung wird es sehr spannend sein, zu sehen, ob es tatsächlich noch Arbeitszeitguthaben gibt. Wir befürchten, dass im ersten Winter vorhandene Arbeitszeitguthaben eingebracht werden und dass die Bundesagentur im zweiten Winter sehr viel stärker belastet wird. Das wäre aus unserer Sicht in der Tat problematisch. Wir fordern also die Mitwirkung der Tarifparteien. Das bedeutet im Ergebnis, dass dieses Gesetz nur für diejenigen Branchen gelten sollte, die ihm zustimmen. ({2}) Man sollte die Missbrauchsgefahren auch bei der Verkettung - beispielsweise Saisonkurzarbeitergeld im Anschluss an eine viermonatige Tätigkeit und Erwerb der Ansprüche auf Arbeitslosengeld I - nicht ausblenden. Wenn ich an Hartz IV denke, dann fällt mir ein, dass wir in der jüngeren Vergangenheit wirklich haben erleben müssen, dass gut gemeinte Regelungen in der Praxis zu sehr viel höheren Ausgaben geführt haben. Das muss hier vermieden werden. Da wir die Evaluierungsklausel im Gesetzentwurf unterbringen konnten und da er auf die Baubranche beschränkt ist, können wir ihm zustimmen. Aber wir werden sehr genau beobachten, wie sich diese Regelung in der Praxis auswirkt. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Andreas Steppuhn für die SPD-Fraktion. ({0})

Andreas Steppuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003850, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe Herrn Küster, als er die namentliche Abstimmung beantragt hat, so verstanden, dass er die Bedeutung dieses Gesetzentwurfs, der heute Vormittag in der Kernzeit debattiert wird, zum Ausdruck bringen möchte. So sollten wir diesen Antrag verstehen. ({0}) Ich habe nichts dagegen, dass Herr Brauksiepe für seine Fraktion hier hervorhebt, dass in der CDU manchmal die besseren Sozialdemokraten wären. Herr Brauksiepe, zur Klarheit gehört aber sicherlich, auch deutlich zu machen, dass es die CDU/CSU-Fraktion am Anfang der Beratung des Gesetzentwurfs gewesen ist, die die Frage der Mitbestimmung von Betriebsräten beim Saisonkurzarbeitergeld sehr wohl thematisiert hat. ({1}) Von daher kann man schon sagen, dass die Mitbestimmung in dieser Frage in den Ausschüssen eine Rolle gespielt hat. Ziel des Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung - dieses Zukunftsmodells - ist es, einen wesentlichen Beitrag zur Vermeidung der Winterarbeitslosigkeit und zur Verstetigung der Beschäftigungsverhältnisse im Baugewerbe zu leisten. Der vorliegende Gesetzentwurf ist in einer so genannten Triparität zwischen dem zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales und den Tarifvertragsparteien des Baugewerbes erarbeitet worden und wird einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Winterarbeitslosigkeit zukünftig vermieden werden kann. ({2}) Die Tarifvertragsparteien des Baugewerbes haben sich bei ihrer Tarifpolitik im Ergebnis auf ein umlagefinanziertes System verständigt, in dem sich sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber finanziell engagieren. Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf können wir davon ausgehen, dass die Winterarbeitslosigkeit in der Bauwirtschaft bereits im kommenden Winter spürbar gesenkt werden kann. Dies kann nur in unser aller Interesse sein. ({3}) Die zukünftige Förderung wird in das System des Kurzarbeitergeldes integriert. Das bedeutet, das neue Saisonkurzarbeitergeld wird nunmehr auch bei einem saisonbedingten Arbeitsausfall gewährt. Wichtig ist auch, zu betonen, dass durch den Fortbestand der Beschäftigungsverhältnisse die Arbeitsagenturen durch entfallende Arbeitslosmeldungen und damit entfallende Bearbeitung von Leistungsanträgen in erheblichem Maße entlastet werden. Die Beratung im federführenden Ausschuss für Arbeit und Soziales, aber auch die Anhörung haben dazu geführt, dass die CDU/CSU-SPD-Koalition gemeinsam die Ihnen vorliegenden Änderungen eingebracht hat. Ein nicht unwesentlicher Punkt ist hierbei die Ausweitung auf andere Branchen, die zunächst ausgeklammert wurde. Vorerst wollen wir aber die Entwicklung nach der Neuregelung im Baugewerbe, verbunden mit einem Evaluierungsprozess, abwarten. Das heißt aber nicht - das ist schon deutlich gemacht worden -, dass wir andere Branchen ausschließen wollen; nach wie vor wird von uns gewünscht, dass auch andere Branchen zukünftig von einem derartigen Saisonkurzarbeitergeld profitieren. Ich denke hierbei insbesondere an die Branchen, die in ihrem Bereich das Problem der schlechten Auftragslage oder witterungsbedingter Ausfälle bislang durch eine so genannte eintägige Kündigungsfrist, wie das zum Beispiel im Maler- und Lackiererhandwerk der Fall ist, regeln. Da löst man schon heute die Kostenfrage im Prinzip zulasten der Bundesagentur für Arbeit, indem dieses Risiko auf die BA verlagert wird. Daher gilt hier das Motto „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“, sondern im Gegenteil: Die Erfahrungen im Baugewerbe werden uns ermöglichen, dieses Modell zukünftig passgenau auf andere Branchen zu übertragen. Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens gab es auch Vorschläge für Inhalte, die im Tarifvertrag für das Baugewerbe eindeutig geregelt sind - das möchte ich an dieser Stelle betonen -, und zwar mit dem Ziel, Kostenbelastungen zuungunsten der Beschäftigten zu verschieben. Ebenso wurde vorgeschlagen, Vorausleistungen der Arbeitnehmer im Rahmen der Arbeitszeitflexibilisierung, sprich: der Arbeitszeitkonten, gesetzlich zu verankern. Dazu sage ich an dieser Stelle deutlich: Die Vorausleistungen der Arbeitnehmer sowie der Arbeitgeber sind bereits per Tarifvertrag im Rahmen eines Umlageverfahrens über die Sozialkassen des Baugewerbes geregelt, sodass sich das Gesetz nunmehr darauf beschränkt, zu beschreiben, wofür angesparte Stunden verwandt werden müssen. Alles andere hätte auch einen Eingriff in die Tarifautonomie bedeutet. Die CDU/CSU-SPD-Koalition setzt mit der Verabschiedung des heute vorliegenden Gesetzentwurfs ein deutliches Signal für eine Verstetigung der Beschäftigungsverhältnisse im Baugewerbe, auf das die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Bauwirtschaft lange gewartet haben. Gerade wir als sozialdemokratische Bundestagsfraktion erwarten, dass Winterarbeitslosigkeit ab sofort vermieden werden kann, wie es das erklärte Ziel dieses Gesetzentwurfs ist. Ich danke allen, die sich für dieses Gesetz engagiert haben; das ist eine gute Sache. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/971, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Dann ist der Gesetzentwurf bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit der Zustimmung aller übrigen Fraktionen in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Hierzu ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen und mir vielleicht einen Hinweis zu geben, wenn diese Besetzung überall erfolgt ist. - Das scheint jetzt der Fall zu sein. Dann eröffne ich die Abstimmung. Ich bitte um Nachsicht, dass wir für die Abstimmung ein bisschen mehr Zeit einräumen müssen. Denn auch diejenigen Abgeordneten, die jetzt im Foyer hektische Laufbewegungen vollführen, sollen noch rechtzeitig die Urnen erreichen. Bevor ich die Abstimmung schließe, würde ich mich gerne wegen der für manche nicht absehbaren Abstimmungslage bei den Parlamentarischen Geschäftsführern vergewissern, ob irgendjemand Informationen darüber hat, dass noch Kollegen unterwegs sind. ({0}) - Auch ich sehe dahinten noch jemanden laufen. Ich frage noch einmal, ob noch Kolleginnen oder Kol- legen im Saal sind, die ihre Stimmkarte nicht abgegeben haben, bzw. ob noch jemand von Kollegen weiß, die sich auf dem Wege befinden und denen wir die Chance geben sollten, sich an der Abstimmung zu beteiligen. - Ich er- halte keine entsprechenden Hinweise. Dann schließe ich hiermit die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstim- mung werden wir Ihnen wie immer später bekannt ge- ben.1) 1) Ergebnis Seite 1894 C Präsident Dr. Norbert Lammert Für den nächsten Tagesordnungspunkt kann ich verlässlich zusagen, dass er nicht mit einer namentlichen Abstimmung beginnt. Also mögen bitte all diejenigen, die sich nun wieder in anderen Gremien zusammenfinden müssen, den Saal räumen, damit wir die für die anschließende Debatte notwendige Konzentration haben. ({1}) Darf ich die Kolleginnen und Kollegen, die an der Debatte teilnehmen wollen, bitten, sich auf den hinreichend vorhandenen Plätzen niederzulassen! ({2}) Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, Dr. Volker Wissing, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der direkten Steuern - Drucksache 16/679 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({3}) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollen für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen werden. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP legt Ihnen, dem Deutschen Bundestag, heute ein Konzept für ein völlig neu formuliertes Steuerrecht vor. Es ist das erste Gesamtkonzept zur Reform der direkten Steuern, also der Steuern auf Einkommen und Gewinn, das bereits als Gesetzestext vorliegt und damit direkt in die parlamentarischen Beratungen Eingang finden kann. In der gestrigen Ausgabe der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ konnten Sie in einer Analyse des Instituts Allensbach lesen, dass zwei Drittel der Bürger in Deutschland der Meinung seien, das deutsche Steuerrecht sei ungerecht. ({0}) Das sind wahrscheinlich die zwei Drittel, die Steuern zahlen; das restliche Drittel wird davon nicht berührt sein. Das heißt, nahezu alle Steuerzahler in Deutschland halten das Steuerrecht für ungerecht. Es geht für den Deutschen Bundestag, den Gesetzgeber, darum, durch ein neues einfaches, gerechtes Steuerrecht ohne Ausnahmen das Vertrauen der Bürger in einen fairen Steuerstaat zurückzugewinnen. ({1}) Das ist das Ansinnen der FDP. Wir sind überzeugt davon, dass man das mit solch einem ehrgeizigen Vorhaben besser leisten kann als Sie mit Ihren vielfältigen Steuererhöhungen: 3 Prozent Mehrwertsteuererhöhung, 3 Prozent Versicherungsteuererhöhung, 3 Prozent Einkommensteuererhöhung. Damit zerstören Sie das Vertrauen der Bürger weiter, dämmen die Nachfrage der Bürger ein und schaden der Konjunktur und der Beschäftigung. ({2}) Wir sind der Überzeugung, dass das deutsche Steuerrecht, so wie es heute vorliegt, gar nicht mehr reformierbar ist. Man muss einen neuen Ansatz finden und sich dabei an die Vorgaben unserer freiheitlichen Verfassung halten. ({3}) Nur um Ihnen die Dimension der drastischen Vereinfachung aufzuzeigen, die wir durchführen wollen, möchte ich daran erinnern, dass der heutige einschlägige Gesetzestext in der beckschen Loseblattsammlung etwa 475 Seiten umfasst. Unser Alternativentwurf konzentriert das ganze Steuerrecht auf 33 Seiten. Schon daran wird deutlich, wie dramatisch diese Vereinfachung ist. ({4}) Wichtig ist aber, dass wir die Grenzen und den Rahmen einhalten, die unsere freiheitliche Verfassung vorgibt und die das deutsche Steuerrecht schon lange hinter sich gelassen hat. Nach meiner Überzeugung ist das deutsche Steuerrecht allein schon deshalb verfassungswidrig, weil das, was im Namen des Souveräns, des deutschen Volkes, erlassen worden ist, für die Angehörigen des deutschen Volkes völlig unverständlich ist. ({5}) Wie können wir von den Bürgern verlangen, ein Steuerrecht, das darüber hinaus auch noch strafsanktioniert ist, einzuhalten, wenn sie gar nicht in der Lage sind, das Steuerrecht insgesamt zu verstehen und richtig anzuwenden? Weder die Steuerberater noch die Steuerverwaltung beherrschen das Steuerrecht. Man weiß nicht mehr, wie man das Steuerrecht anwenden soll. Deswegen brauchen wir hier mehr Klarheit. Wir müssen uns daher an die Vorschriften des Grundgesetzes erinnern. Art. 20 Abs. 2, Demokratieprinzip: Die Bürger haben einen Anspruch darauf, die Gesetze zu verstehen, um sie vollziehen zu können. Art. 3, Gleichheitsgrundsatz: Gleiches soll gleich behandelt werden, Ungleiches ungleich; das wird heute vielfach durch die zahlreichen Ausnahmen im Steuerrecht verletzt. Art. 14, Eigentumsgarantie, schützt vor überDr. Hermann Otto Solms mäßigem Steuerzugriff und vor einer Doppelbelastung durch Steuern. Art. 12, Berufsfreiheit, sichert den Wettbewerb und die Freiheit des Gewerbes vor dem Zugriff des Staates. Art. 6, Schutz der Ehe und Familie, stellt sicher, dass Ehe und Familie im Steuerrecht adäquat und leistungskonform berücksichtigt werden, was ebenfalls heute nicht der Fall ist. Deswegen schlagen wir ein neues Steuerrecht vor, das sich strikt an diesen Rahmen hält. Bevor ich etwas zum Einkommensteuerrecht sage, sei Folgendes am Rande bemerkt: Ich halte den Plan der großen Koalition, das Unternehmensteuerrecht zu reformieren, für richtig. Man sollte sich aber nicht nur auf das Unternehmensteuerrecht konzentrieren, sondern die Reform in Verbindung mit dem Einkommensteuerrecht sehen, damit ein harmonisches Ganzes daraus wird. ({6}) Wir haben das neue Einkommensteuerrecht in einfacher deutscher Sprache formuliert. Schauen Sie in unseren Gesetzentwurf hinein, dann werden Sie feststellen: Auch Sie können es verstehen. Das ist ja der Maßstab für die Bürger unseres Landes. ({7}) Wir wollen einen einfachen, niedrigen Tarif von 15, 25 und 35 Prozent. Das haben wir hier schon öfter diskutiert. Der Stufentarif hat den Vorteil, dass jeder Bürger seine Steuerbelastung ohne einen Computer und ohne Tabellen selbst ausrechnen kann. Wir wollen die Eigeninitiative und Eigenvorsorge wieder möglich machen und deswegen eine Steuerentlastung. Wenn die Menschen wieder mehr Eigenvorsorge leisten sollen, müssen wir ihnen den wirtschaftlichen Freiraum dafür geben. Deswegen müssen sie bei der Einkommensteuer entlastet werden. ({8}) Die Kinder erhalten den gleichen Grundfreibetrag wie die Erwachsenen und wir räumen einen großzügigen Freibetrag von 12 000 Euro pro Jahr für Kinderbetreuungskosten durch sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im privaten Haushalt ein. Das ist großzügiger als das, was die Koalition jetzt erwägt. ({9}) Für Kapitalerträge schlagen wir eine Ausnahme vor, nämlich eine Abgeltungsteuer in Höhe von 25 Prozent, die an der Quelle erhoben wird. ({10}) Das ist das einfachste Verfahren. Eine Steuerverkürzung ist nicht mehr möglich, weil der Bürger dazu gar keine Gelegenheit mehr hat. Auf Kontenabfragen und Kontrollmitteilungen auf europäischer Ebene kann vollständig verzichtet werden, weil bei diesem einfachen Verfahren nur der Nettoertrag ausgeschüttet wird. Die Steuer wird vorher an der Quelle abgeführt. Das würde eine dramatische Bürokratieentlastung bedeuten. Ergebnis dieser Steuerreform: Die Steuererklärung kann auf einer DIN-A4-Seite abgefasst werden. Wir haben das ausprobiert. Wenn Sie Ihre Einkünfte kennen, können Sie die Steuererklärung in einer halben Stunde ausfüllen. Man kann sie auch über das Internet an das Finanzamt schicken. Das ist ein absolut einfaches Verfahren. Es gibt keine langen Formulare mehr. Das ist das, was der Bürger erwartet. ({11}) Zweiter Teil: Unternehmensteuerreform. Auch hier geht es darum, die Grundprinzipien einer wettbewerbskonformen Unternehmensbesteuerung zu erreichen. Wir müssen im internationalen Wettbewerb wieder wettbewerbsfähig werden. Dafür müssen wir uns nicht an Irland oder Estland orientieren, aber sollten doch mit Österreich oder den skandinavischen Ländern mithalten können. Das erreichen wir mit einer endgültigen Belastung von 28 oder 29 Prozent. Darüber hinaus haben wir bei der Unternehmensteuerreform besonderen Wert auf die Neutralität des Steuerrechts gelegt. Es muss rechtsformneutral, entscheidungsneutral und finanzierungsneutral sein. Das ist wichtig für die Organisation der Unternehmen, damit die wirtschaftlichen Entscheidungen losgelöst vom Steuerrecht getroffen werden können. Das alles muss auf der Basis des gesamteuropäischen Marktes geschehen. Das Steuerrecht muss europakonform sein. Wir dürfen uns nicht laufend vom Europäischen Gerichtshof jagen lassen. Zu einer rechtsformneutralen Besteuerung gehört allerdings zwingend die Abschaffung der Gewerbesteuer. ({12}) Deswegen brauchen Sie eine für die Gemeinden verträgliche Ersatzfinanzierung. Wir haben ein Zweisäulenmodell vorgeschlagen: auf der einen Seite eine deutliche Erhöhung des Anteils der Gemeinden an der Umsatzsteuer und auf der anderen Seite einen Zuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer in gleicher Höhe mit eigenem Hebesatzrecht. Es gibt andere Vorschläge wie beispielsweise von der Stiftung Marktwirtschaft. Man kann auch diese Vorschläge miteinander kombinieren. Jedenfalls wird es nicht ohne eine Abschaffung der Gewerbesteuer gehen. Es gibt viele Möglichkeiten. ({13}) Dies alles muss mit einem europarechtsfähigen Konzernsteuerrecht und einem großzügigen Umwandlungssteuerrecht kombiniert werden, damit das Steuerrecht wieder ein positiver Wettbewerbsfaktor im Kampf um die Arbeitsplätze in Europa wird. Eine abschließende Bemerkung: Machen Sie es sich bitte nicht so leicht, dass Sie mit Ihrer Kritik nur beim Steuerausfall ansetzen! Natürlich ist mit unserem Vorschlag ein deutlicher Steuerausfall, das heißt, eine Steuererleichterung für die Bürger verbunden. Wenn Ihnen das nicht passt, können Sie den Tarif ändern. Dadurch können Sie das neutralisieren. Die Systematik des Steuerrechts ist unser Kernanliegen: ein einfaches, in sich stimmiges, geschlossenes System, bei dem die Bürger den Eindruck gewinnen, sie werden gerecht behandelt - ihr Nachbar kann nicht irgendwelche Ausnahmeregelungen in Anspruch nehmen, die sie nicht in Anspruch nehmen können -, und das für die Unternehmen, insbesondere für die mittelständigen Unternehmen, europaweit und global faire Wettbewerbschancen schafft. Wenn uns das gelingen würde, würde vom Steuerrecht jedenfalls kein Wettbewerbsnachteil für Deutschland mehr ausgehen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Es kommt nicht häufig vor, dass die Dauer des Beifalls beinahe die der Redezeit erreicht. ({0}) Ich möchte das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung auf Drucksache 16/429 bekannt geben: Abgegebene Stimmen 505. Mit Ja haben gestimmt 463, mit Nein hat niemand gestimmt. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 505 davon ja: 463 enthalten: 42 Ja CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Altmaier Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({1}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Renate Blank Peter Bleser Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({2}) Wolfgang Bosbach Helmut Brandt Monika Brüning Georg Brunnhuber Leo Dautzenberg Hubert Deittert Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Anke Eymer ({3}) Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({4}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({5}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Eberhard Gienger Ralf Göbel Josef Göppel Peter Götz Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Karl-Theodor Frhr. zu Guttenberg Gerda Hasselfeldt Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Peter Hintze Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Franz-Josef Holzenkamp Anette Hübinger Hubert Hüppe Susanne Jaffke Dr. Peter Jahr Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung ({6}) Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Eckart von Klaeden Jürgen Klimke Julia Klöckner Kristina Köhler ({7}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Dr. Rolf Koschorrek Thomas Kossendey Michael Kretschmer Dr. Martina Krogmann Johann-Henrich Krummacher Dr. Hermann Kues Dr. Karl A. Lamers ({8}) Andreas G. Lämmel Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Ingbert Liebing Dr. Klaus W. Lippold Dr. Michael Luther Stephan Mayer ({9}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Laurenz Meyer ({10}) Maria Michalk Philipp Mißfelder Dr. Eva Möllring Marlene Mortler Dr. Gerd Müller Hildegard Müller Carsten Müller ({11}) Stefan Müller ({12}) Bernward Müller ({13}) Bernd Neumann ({14}) Michaela Noll Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Rita Pawelski Dr. Peter Paziorek Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Daniela Raab Thomas Rachel Hans Raidel Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({15}) Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Johannes Röring Kurt J. Rossmanith Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Albert Rupprecht ({16}) Anita Schäfer ({17}) Hermann-Josef Scharf Dr. Andreas Scheuer Karl Richard Schiewerling Georg Schirmbeck Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({18}) Andreas Schmidt ({19}) Ingo Schmitt ({20}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Wilhelm Josef Sebastian Kurt Segner Johannes Singhammer Jens Spahn Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Max Straubinger Thomas Strobl ({21}) Michael Stübgen Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Präsident Dr. Norbert Lammert Gerhard Wächter Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg Peter Weiß ({22}) Gerald Weiß ({23}) Karl-Georg Wellmann Anette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer ({24}) Elisabeth WinkelmeierBecker Matthias Wissmann Dagmar Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Gregor Amann Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Ernst Bahr ({25}) Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Dirk Becker Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Ute Berg Volker Blumentritt Kurt Bodewig Clemens Bollen Klaus Brandner Bernhard Brinkmann ({26}) Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Dr. Michael Bürsch Christian Carstensen Marion Caspers-Merk Dr. Herta Däubler-Gmelin Karl Diller Dr. Carl-Christian Dressel Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Hans Eichel Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Rainer Fornahl Dagmar Freitag Peter Friedrich Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Angelika Graf ({27}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Gabriele Groneberg Wolfgang Grotthaus Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Alfred Hartenbach Michael Hartmann ({28}) Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Petra Heß Gabriele Hiller-Ohm Petra Hinz ({29}) Gerd Höfer Iris Hoffmann ({30}) Frank Hofmann ({31}) Eike Hovermann Klaas Hübner Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Johannes Jung ({32}) Josip Juratovic Ulrich Kasparick Ulrich Kelber Hans-Ulrich Klose Astrid Klug Dr. Bärbel Kofler Walter Kolbow Rolf Kramer Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Dr. Hans-Ulrich Krüger Angelika Krüger-Leißner Jürgen Kucharczyk Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange ({33}) Dr. Karl Lauterbach Helga Lopez Dirk Manzewski Lothar Mark Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel ({34}) Dr. Matthias Miersch Marko Mühlstein Detlef Müller ({35}) Michael Müller ({36}) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Andrea Nahles Thomas Oppermann Holger Ortel Heinz Paula Joachim Poß Christoph Pries Florian Pronold Maik Reichel Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Sönke Rix Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({37}) Michael Roth ({38}) Ortwin Runde Anton Schaaf Axel Schäfer ({39}) Marianne Schieder Ulla Schmidt ({40}) Silvia Schmidt ({41}) Dr. Frank Schmidt Heinz Schmitt ({42}) Carsten Schneider ({43}) Olaf Scholz Ottmar Schreiner ({44}) Swen Schulz ({45}) Frank Schwabe Dr. Angelica Schwall-Düren Rolf Schwanitz Rita Schwarzelühr-Sutter Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Rolf Stöckel Dr. Peter Struck Dr. Rainer Tabillion Jörg Tauss Jella Teuchner Jörn Thießen Hans-Jürgen Uhl Simone Violka Dr. Marlies Volkmer Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen ({46}) Lydia Westrich Andrea Wicklein Engelbert Wistuba Dr. Wolfgang Wodarg Waltraud Wolff ({47}) Heidi Wright Uta Zapf Manfred Zöllmer FDP Jens Ackermann Dr. Karl Addicks Christian Ahrendt Daniel Bahr ({48}) Uwe Barth Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Mechthild Dyckmans Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Horst Friedrich ({49}) Dr. Wolfgang Gerhardt Miriam Gruß Joachim Günther ({50}) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Birgit Homburger Michael Kauch Hellmut Königshaus Gudrun Kopp Jürgen Koppelin Heinz Lanfermann Harald Leibrecht Ina Lenke Michael Link ({51}) Patrick Meinhardt Burkhardt Müller-Sönksen Hans-Joachim Otto ({52}) Detlef Parr Cornelia Pieper Frank Schäffler Dr. Hermann Otto Solms Dr. Rainer Stinner Carl-Ludwig Thiele Christoph Waitz Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff ({53}) Martin Zeil DIE LINKE Hüseyin-Kenan Aydin Dr. Lothar Bisky Heidrun Bluhm Dr. Martina Bunge Roland Claus Sevim Dagdelen Dr. Dagmar Enkelmann Diana Golze Heike Hänsel Lutz Heilmann Hans-Kurt Hill Inge Höger-Neuling Dr. Lukrezia Jochimsen Dr. Hakki Keskin Präsident Dr. Norbert Lammert Katja Kipping Monika Knoche Jan Korte Katrin Kunert Michael Leutert Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Kornelia Möller Kersten Naumann Wolfgang Nešković Dr. Norman Paech Bodo Ramelow Elke Reinke Paul Schäfer ({54}) Volker Schneider ({55}) Dr. Ilja Seifert Dr. Petra Sitte Frank Spieth Alexander Ulrich Sabine Zimmermann Fraktionsloser Abgeordneter Gert Winkelmeier Enthaltung BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({56}) Volker Beck ({57}) Cornelia Behm Birgitt Bender Matthias Berninger Grietje Bettin Alexander Bonde Dr. Thea Dückert Dr. Ursula Eid Hans-Josef Fell Kai Gehring Anja Hajduk Britta Haßelmann Winfried Hermann Peter Hettlich Priska Hinz ({58}) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Thilo Hoppe Ute Koczy Renate Künast Undine Kurth ({59}) Monika Lazar Anna Lührmann Winfried Nachtwei Krista Sager Elisabeth Scharfenberg Irmingard Schewe-Gerigk Rainder Steenblock Dr. Harald Terpe Josef Philip Winkler Margareta Wolf ({60}) ({61}) Enthalten haben sich 42 Kolleginnen und Kollegen. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. ({62}) Wir fahren in der Debatte fort. Nächster Redner ist der Kollege Otto Bernhardt für die CDU/CSU-Fraktion. ({63})

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Solms, ich stimme Ihnen zu: Das deutsche Steuerrecht ist zu kompliziert. Es ist undurchschaubar. Selbst die Fachleute haben damit ihre Probleme. ({0}) Ich stimme auch darin zu, dass das gegenwärtige Steuerrecht nicht weiter verändert werden sollte. Wir brauchen grundlegende Reformen. Auch darin stimmen wir überein. ({1}) Wir alle - auch Sie - müssen nur akzeptieren, dass alle Regierungen ihren Beitrag geleistet haben, bis es zu diesem komplizierten Steuergesetz gekommen ist. Sie waren in unterschiedlichen Koalitionen mit von der Partie. ({2}) Auch wir haben unseren Beitrag geleistet. Ich will noch etwas Positives sagen: Ich finde es gut und bewundernswert, dass eine kleine Fraktion ({3}) - Herr Kollege Westerwelle, von mir aus: eine mittelgroße ({4}) einen ausformulierten Gesetzentwurf vorlegt. Ganz neu ist er nicht. Wir haben schon darüber diskutiert. Ich finde das aber prima. ({5}) Auch im nächsten Teil kann ich noch konstruktiv bleiben; denn Ihr Gesetzentwurf enthält manche Punkte, die unsere Zustimmung finden. Auch wir halten es für richtig, die Steuersätze zu reduzieren und die Ausnahmen zu beseitigen, um so die Bemessungsgrundlage zu erweitern. Allerdings - das wissen Sie - hat die große Koalition, was die Abschaffung von Ausnahmetatbeständen und den Subventionsabbau angeht, durch vier Gesetze schon ziemliche Brocken bewegt. Durch diese Gesetze - drei haben wir im Dezember verabschiedet, eines werden wir morgen verabschieden - haben wir uns finanziellen Spielraum geschaffen: zum einen um die Staatsfinanzen zu sanieren und zum anderen um Beschäftigung und Wachstum fördern zu können. ({6}) Was Ihre These zur Gewerbesteuer angeht, so will ich sagen: Ich halte es nicht für gut, von ihrer Abschaffung zu sprechen; das erweckt bei den Kommunen einen falschen Eindruck. Aber es ist richtig, dass die Gewerbesteuer nicht mehr ins System passt, und es ist auch richtig, dass eine grundlegende Unternehmensteuerreform nur möglich ist, wenn wir den Kommunen einen Ersatz für die Gewerbesteuer geben. ({7}) Wir bemühen uns - das ist ganz wichtig; so steht es auch im Koalitionsvertrag -, dies im engen Einvernehmen mit den Kommunen zu machen. ({8}) Aber, Herr Kollege Solms, es gibt zwei kritische Punkte - mindestens zwei; ich will mich auf zwei konzentrieren -, die jeder für sich ausreichen würde, um den Gesetzentwurf abzulehnen; auch wenn dies noch nicht Thema der ersten Lesung ist. Sie haben in nur zwei Sätzen von Geld gesprochen. Das hätte ich auch, wenn ich einen solchen Gesetzentwurf vorlegen würde. Es gibt keine umfassenden Berechnungen dazu, was Ihr Gesetz kosten würde. Der Hinweis „Dann ändert doch die Steuersätze!“ ist zu kurz gefasst. Ich gehe davon aus, dass Ihr Gesetzentwurf eher Steuerausfälle in der Größenordnung von 30 Milliarden Euro als von 25 Milliarden Euro zur Folge hätte. ({9}) Wenn wir heute eine positive Tendenz zu Ihrem Gesetzentwurf zeigen würden - ich sage das jetzt etwas polemisch -, dann würde die EU sofort zuschlagen. Denn wenn dieses Gesetz am 1. Januar 2007 in Kraft treten würde, hätten wir keine Chance, die EU-Kriterien zu erfüllen und dem Grundgesetz gerecht zu werden. Schon aus diesen Gründen ist es nicht vertretbar, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. Ich sage sehr deutlich: Wir als große Koalition kämpfen um das Vertrauen der Bevölkerung. Wir sind dabei schon ein erhebliches Stück weitergekommen. Dieser Gesetzentwurf und das, was morgen in den Zeitungen stehen wird, werden dazu führen, dass wieder viele Hoffnungen entstehen. Niemand kann diese Hoffnungen erfüllen; denn niemand kann sie bezahlen. Dies ist ein entscheidender Punkt. ({10}) Herr Kollege Solms, mein zweiter Kritikpunkt betrifft das System als solches. Auch wir wollen, dass in Zukunft - so steht es im Koalitionsvertrag - Unternehmensgewinne einheitlich besteuert werden, egal ob sie bei Kapitalgesellschaften oder Personengesellschaften entstehen. Schon die dazu vorgelegten Modelle der Stiftung Marktwirtschaft und des Sachverständigenrates zeigen, wie schwierig es ist, dieses Problem zu lösen. Ich sage vorweg und begründe es gleich in ein paar Sätzen: Ihr Vorschlag ist keine vertretbare Lösung. Sie wollen im Einkommensteuerrecht drei Stufen - 15, 25 und 35 Prozent - schaffen. Das ist prima, aber nicht bezahlbar. Jetzt haben Sie erkannt, dass 35 Prozent für Unternehmergewinne im internationalen Vergleich natürlich zu hoch sind. Wir liegen, wie Sie wissen, heute bei 39 Prozent und müssen uns in Richtung von 30 Prozent bewegen. Deshalb sagen Sie: In den Firmen soll das anders sein. Dort soll die dritte Stufe nicht greifen und 25 Prozent sollen das Maximum sein. 25 Prozent sind im internationalen Wettbewerb sicher hervorragend. Aber wir werden uns 25 Prozent nicht leisten können. Jetzt schauen Sie sich einmal die Praxis an: Ihr Vorschlag würde dazu führen - Sie wissen, wie gut Steuerberater Umgehungswege finden -, dass für den selbstständigen Rechtsanwalt, der 250 000 Euro pro Jahr verdient, ein Steuersatz von 25 Prozent gilt, während sein angestellter Mitarbeiter, der 200 000 Euro verdient, deutlich mehr Steuern zahlt. Dies ist nicht praktizierbar. ({11}) Ich vermute, dass das Verfassungsgericht hier eingreifen würde. Sie können sicher sein, dass eine solche Besteuerung schrecklich oft zu Unternehmensgewinnen führen würde, die mit maximal 25 Prozent besteuert werden, und nur ganz selten Gewinne über die Einkommensteuer höher besteuert würden. Diese von Ihnen vorgeschlagene Lösung ist nicht sachgerecht. Ich befinde mich mit meiner Kritik in der guten Gesellschaft fast aller Fachleute. Wir hatten gerade gestern ein Gespräch mit den Vertretern des Sachverständigenrats und der Stiftung Marktwirtschaft. Beide Seiten haben deutlich gesagt: Dieser Ansatz der FDP ist nicht realistisch und nicht vernünftig. Das sollte man der deutschen Öffentlichkeit in aller Deutlichkeit sagen. ({12}) Nun stimme ich Ihnen wieder einmal zu, Herr Kollege Solms: Sie sagen, im Grundsatz müsse man nicht nur, wie wir das im Koalitionsvertrag geschrieben haben, die Unternehmensbesteuerung grundlegend verändern, sondern im gleichen Atemzug auch die Einkommensteuer. Aber ich sage: Wir als große Koalition wollen um Vertrauen werben. Dabei sind wir bereits ein Stück vorangekommen. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag nur das versprochen, was wir uns für die nächsten vier Jahre auch zutrauen. Wir wollen uns nicht übernehmen. ({13}) - Herr Kollege, wenn wir uns die Unternehmensbesteuerung und die Einkommensbesteuerung ansehen, dann werden Sie mir Recht geben, wenn ich sage: Der Reformbedarf ist bei der Unternehmensbesteuerung deutlich dringender; das hat mit dem internationalen Wettbewerb zu tun. ({14}) Nicht umsonst müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass auch unter steuerlichen Gesichtspunkten laufend Arbeitsplätze ins Ausland verlagert und immer mehr Gewinne nicht in Deutschland versteuert werden. Ich erinnere daran, dass dieses Thema schon im Rahmen des Jobgipfels im März vergangenen Jahres isoliert unter dem Aspekt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit angegangen werden sollte. Damals wollte man die Körperschaftsteuer von 25 Prozent auf 19 Prozent senken. Aufgrund der vorgezogenen Neuwahl konnte dieses Vorhaben nicht mehr umgesetzt werden. Umso dringender ist jetzt der Handlungsbedarf in diesem Bereich. An den beiden Modellen, die nun vorgelegt worden sind, wird deutlich: Dies ist eine komplizierte Materie. Wir wollen nicht denselben Fehler machen, den wir bereits in den letzten Jahren zum Teil gemeinsam begangen haben, indem wir zunächst einen Schnellschuss vorgelegt und dann ein erstes und später ein zweites Veränderungsgesetz auf den Weg gebracht haben. Wir haben, was unser Vorgehen beim Thema Unternehmensbesteuerung betrifft, einen klaren Zeitplan: Noch vor der diesjährigen Sommerpause werden Regierung und Koalition die Eckpunkte miteinander abstimmen. Wir erwarten, dass im vierten Quartal dieses Jahres ein Referentenentwurf vorgelegt wird, mit dem sich dann alle Interessierten ausführlich auseinander setzen können. In knapp einem Jahr - ich vermute: im Februar kommenden Jahres - werden wir hier im Bundestag die erste Lesung des von uns vorgelegten Gesetzentwurfes durchführen. Dann haben wir Zeit, mit den Experten zu sprechen. Dazu werden wir umfangreiche Anhörungsverfahren durchführen. Unser Ziel ist, dieses Gesetz unmittelbar vor der Sommerpause des Parlaments im kommenden Jahr zu verabschieden, damit sich sowohl die Wirtschaft als auch - das möchte ich betonen - die Finanzverwaltungen ein halbes Jahr lang auf dieses neue Gesetz, das am 1. Januar 2008 in Kraft treten wird, vorbereiten können. Ich komme noch einmal auf das Stichwort Vertrauen zu sprechen. Wir wollen keine Schnellschüsse, sondern eine solide Gesetzesarbeit. ({15}) Vielleicht gelingt es uns ja, gemeinsam Gesetze zu machen, die viele Jahre lang Bestand haben. Denn Sie haben völlig Recht: Zwei Drittel der Bevölkerung empfinden unser jetziges Steuerrecht insbesondere deshalb als ungerecht, weil es so schwer zu verstehen ist. Ich denke, die Koalition ist auf dem richtigen Weg. Wir werden zunächst eine neue, solide Unternehmensteuerreform vorlegen und uns zu einem späteren Zeitpunkt auch dem Thema Einkommensteuer widmen. Aber ich sage sehr deutlich: Es ist besser, kleine und mittelfristige Schritte anzukündigen und durchzuführen, als große Schritte anzukündigen, die niemand verwirklichen kann. Danke schön. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll, Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute geht es um den Entwurf eines Gesetzes zur Reform der direkten Steuern, der von der FDP vorgelegt wurde. Dabei handelt es sich um eines der Modelle, die sich gegenwärtig auf dem Markt befinden. Alle Modelle haben eines gemeinsam: Durch sie werden Großunternehmen und gut verdienende, vermögende Bürger entlastet. Herr Solms und Herr Westerwelle, die FDP zeichnet sich dadurch aus - das muss man Ihnen zugute halten -, dass sie relativ offen ist. Sie sagen: Ja, wir wollen auf Einnahmen in Höhe von 17 bis 19 Milliarden Euro verzichten. Nebenbei bemerkt füge ich hinzu: Ihr Gesetzentwurf enthält kein Finanztableau; bei dem von mir genannten Betrag handelt es sich also nur um eine grobe Schätzung, die locker nach oben überboten werden kann. Auf Seite 22 Ihres Gesetzentwurfes kann man nachlesen, wie sich der Rahmen für ein neues Steuerrecht aus Ihrer Sicht darstellt: Fünftens: Eine moderne und wachstumsorientierte Steuerpolitik ist zwingend mit einer soliden und nachhaltig auf Stabilität ausgerichteten Haushaltspolitik zu verbinden. Dabei muss gelten: Die Ausgaben richten sich nach den Einnahmen - nicht umgekehrt. Das ist Klartext: Erst wollen Sie auf 17 bis 19 Milliarden Euro verzichten und dann wird es wieder heißen, wir müssen sparen: an den Sozialleistungen, bei der Rente. Das ist locker-flockig die Fortsetzung des neoliberalen Kurses, den wir in den letzten Jahren erleben mussten, und befindet sich voll in Übereinstimmung mit dem, was die Regierungskoalition uns anbietet: Wie im Jahreswirtschaftsbericht nachzulesen ist, erwarten Sie für dieses Jahr eine Stagnation der Einkommen und Renten, der Zuwächse von etwa 7,5 Prozent für Selbstständige und Bezieher von Vermögenseinkünften entgegenstehen. Das ist die Realität, in der wir leben. Diese neoliberale Politik werden wir nicht mitmachen. ({0}) - Es ist keine Überraschung, aber es ist gut, dass wir die Möglichkeit haben, es Ihnen von diesem Pult aus zu sagen, und Sie werden es sich weiter anhören müssen. ({1}) Im Gesetzentwurf der FDP heißt es, Sie wollen einen Stufentarif mit Steuersätzen von 15, 25 und 35 Prozent. Das bedeutete eine weitere Senkung des Spitzensteuersatzes, eine Fortsetzung der Politik der letzten Jahre von Rot-Grün. Dieser Spitzensteuersatz soll ferner bereits bei einem Einkommen von 40 000 Euro einsetzen. Schon die Bezieher mittlerer Einkommen müssten also zur Finanzierung des Gemeinwesens anteilig so viel beitragen wie die Millionäre, die sich aus der Finanzierung desselben damit ein Stück weiter zurückziehen könnten. Der vorgesehene Wegfall der Steuerfreiheit der Feiertags- und Nachtzuschläge würde insbesondere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem geringen Einkommen treffen. Die Entfernungspauschale soll gestrichen werden, die Werbungskostenpauschale auch. Bezieher niedriger Einkommen würden dadurch massiv schlechter gestellt. Ich sagte es schon: Sie sind ganz offen. Es gibt den berühmten Solms-Rechner, an dem jeder nachprüfen kann, was die Vorschläge für ihn konkret heißen. Bei einem Einkommen von 25 000 Euro - Einzelveranlagung, sprich kein Kind, kein Soli-Zuschlag; ausschließlich die Werbungskosten angesetzt - ergäbe sich gegenüber der heutigen Steuerbelastung von knapp 4 000 Euro eine von nur noch 2 500 Euro, somit eine Entlastung von gerundet 1 300 Euro; das wären 5 Prozent. Bei einem Einkommen von 150 000 Euro sieht die Entlastung schon besser aus: 14 400 Euro; das wären ganze 9 Prozent. ({2}) Das sind die Zahlen, das ist die Politik der FDP: Sie wollen fortfahren, niedrige Einkommen prozentual höher zu belasten. Das wird zu einer weiteren Schwächung der Binnennachfrage und des Gemeinwesens führen - eine Politik, die wir nicht mitmachen. ({3}) Ich sage hier nochmals: Haben Sie endlich den Mut, etwas gegen die Massenarbeitslosigkeit zu tun, gegen Kinderarmut, gegen die soziale Auslese, die heute von Geburt an geschieht. Das wird auch von außen bestätigt: Alle internationalen Bildungsuntersuchungen zeigen, dass in fast keinem anderen Land in Europa so wie in Deutschland die soziale Herkunft über die Zukunftsaussichten der Kinder entscheidet - und dann wundern Sie sich, dass die Leute keine Kinder bekommen! Ja, warum denn wohl?! Stärkung des Gemeinwesens, das heißt für uns insbesondere, dass Gesundheit und Bildung nicht weiter zu einer Ware werden dürfen. Über die Besteuerung kann die Politik dagegenhalten: Wir brauchen eine Reform der Einkommensteuer zur Stärkung der Menschen mit kleineren und mittleren Einkommen. Menschen mit großen Einkommen und großen Vermögen müssen zur Finanzierung des Gemeinwesens stärker herangezogen werden. Im Gegensatz zu Ihnen, die Sie sich für eine Streichung der Vermögensteuer aussprechen, fordern wir die Wiedererhebung einer reformierten Vermögensteuer. Dadurch könnten wir 15 Milliarden Euro zusätzlich einnehmen. ({4}) - Doch, das glauben wir und es ist nachgerechnet; darüber können wir uns einmal unterhalten. ({5}) Auch wir fordern eine Unternehmensteuerreform. Aber für diese muss ebenfalls gelten: Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit - und nicht, wie bei Ihnen, dass es letztendlich davon abhängt, wie viele Möglichkeiten jemand hat, ganz legal Steuern zu sparen. Sie von der FDP wollen die Verlustverrechnung für internationale Konzerne sogar noch ausweiten, indem Sie die Organschaft abschaffen und die Gruppenbesteuerung ausweiten wollen. Das hieße ein Fortschreiten der neoliberalen Politik, wenn Ihr Gesetzentwurf umgesetzt würde. Das ist mit uns nicht zu machen. Unser Konzept ist ein anderes. Wir sagen: Sozial gerechte Steuerpolitik ist notwendig. Ein solches Konzept ist auch auf dem Markt. Damit werden Sie sich in Zukunft noch stärker auseinander setzen können und müssen. Ich danke Ihnen. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Gabriele Frechen, SPDFraktion.

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir beraten heute einen Gesetzentwurf der FDP. Diesen kennen wir noch aus dem vergangenen Jahr. Er war schon Gegenstand der Beratungen. ({0}) - Teilweise. Mit dem Teil zur Einkommensteuer haben sich, bis auf wenige Ausnahmen, schon die Sachverständigen beschäftigt. ({1}) Der Gesetzentwurf wurde aber zurückgenommen, weil der Teil zur Unternehmensteuer fehlte. Um ihn ist der Entwurf nun ergänzt worden. Ich finde, es verdient Respekt, dass Sie uns einen ausformulierten Gesetzentwurf vorgelegt haben. Der Urheber hat sich viel Mühe gemacht. ({2}) Ich glaube, ich sehe den Urheber direkt an. Er sitzt in der ersten Reihe. Das sind doch Sie, Herr Solms. Ein ausformulierter Gesetzentwurf zwingt Sie - auch das ehrt Sie -, Farbe zu bekennen; denn wenn ein Gesetzentwurf ausformuliert vorliegt, kann man sich näher mit den Details befassen. Die Auseinandersetzung mit diesem Gesetzentwurf muss unter der Prämisse stehen: Was bringt ein solches Gesetz und was kostet es? Sie sprechen davon, dass dadurch Investitionstätigkeiten angeregt und Arbeitsplätze neu geschaffen werden sollen. Aber ist das wirklich so? ({3}) Wir haben in den letzten sieben Jahren die Steuern so deutlich gesenkt wie nie zuvor. ({4}) Wir haben historisch niedrige Steuersätze. ({5}) Ist das durch Investitionen belohnt worden? Ich glaube, hier sind ganz erhebliche Zweifel zulässig. Man kann natürlich sagen, dass die Senkungen nicht ausreichen. Aber wann reichen sie aus? Wenn wir in Europa bei einem Steuersatz von 0 Prozent angekommen sind? Ich bin überzeugt, dass davon weder Europa noch die einzelnen Staaten etwas hätten, sondern nur die Aktionäre. Wir dürfen, wenn wir die Steuersätze senken wollen, nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen. Das heißt, die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage muss möglichst auf europäischer Ebene vorgenommen werden, damit die Steuersätze wirklich vergleichbar sind. 25 Prozent von X sind nicht unbedingt mehr als 10 Prozent von Y. Aber gut, bei Rechnungen mit Unbekannten sollte sich der Staat besser heraushalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir streiten in unregelmäßigen Abständen über das Defizitkriterium des Wachstums- und Stabilitätspakts von 3 Prozent. Sie tragen dieses Kriterium oftmals wie eine Monstranz vor sich her. Wie passt da eine Belastung der öffentlichen Haushalte von 20 Milliarden Euro - ich bin noch recht vorsichtig - in die Diskussion? Die Finanzminister der Länder haben übereinstimmend diesen Teil des Gesetzes, der in der Anhörung behandelt wurde, als nicht finanzierbar bezeichnet. Dabei sind wir noch davon ausgegangen, dass der Höchststeuersatz bei 35 Prozent liegt. Diesen wollen Sie für unternehmerische Tätigkeit nun auch noch auf 25 Prozent senken. Das ist doch dann gar nicht mehr finanzierbar. Ich bin davon überzeugt, dass wir alle hier der Meinung sind, dass das Steuerrecht vereinfacht werden muss, dass wir also Ausnahmetatbestände streichen, Gesetzeslücken und Steuerschlupflöcher schließen müssen. Ich finde, die große Koalition ist hier auf einem guten Weg; ({6}) Herr Bernhardt hat das schon gesagt. Ich möchte nicht an das erinnern, was wir alles schon hätten tun können, wenn alle mitgespielt hätten; denn Nachkarten bringt nichts. Ich erinnere an die Plenarsitzung vom 15. Dezember letzten Jahres, in der wir - zum Teil mit den Stimmen des ganzen Hauses - die Eigenheimzulage abgeschafft, Steuerschlupflöcher geschlossen und einige nicht unerhebliche Ausnahmeregelungen gestrichen haben. Diesen Weg werden wir konsequent fortsetzen. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, sind natürlich herzlich eingeladen, uns bei der Reform der Einkommensteuer und der Unternehmensteuer zu begleiten. ({7}) Die Menschen sind, auch weil sie von allen Seiten eingetrichtert bekommen, unser Steuerrecht sei sehr kompliziert, davon überzeugt, dass es kompliziert ist. ({8}) - Wenn Sie sich zu Wort melden, dann kann ich Sie verstehen und Ihnen antworten. Wenn Sie allerdings keine Antwort wollen, dann sprechen Sie bitte etwas leiser. ({9}) Die Menschen wollen aber auch im Einzelnen gerecht behandelt werden; das halte ich für einen sehr vertretbaren Anspruch. Wir alle wissen: Durch Pauschalierungen werden Lebenssachverhalte Einzelner ausgegrenzt und sie führen zum Verlust von Gerechtigkeit. Deshalb sollten wir uns immer fragen: Wie viel Vereinfachung können wir mit unserem Anspruch an Gerechtigkeit vertreten? Ich sage „sollten“; denn im Gesetzentwurf der FDP kommt das Wort „Steuergerechtigkeit“ nicht gerade oft vor. In den fünf Kriterien, die dort als Rahmen vorgegeben werden, heißt es nur einmal: „Einfachheit hat Vorrang vor Einzelgerechtigkeit in jedem Detail“. ({10}) Das merkt man, und zwar nicht nur im Detail. Der Bund Deutscher Finanzrichterinnen und Finanzrichter schreibt dazu in seiner Stellungnahme: Dem an sich zu unterstreichenden Postulat des vorliegenden Gesetzentwurfs, dem Gebot der Einfachheit Vorrang gegenüber dem Streben nach Einzelfallgerechtigkeit einzuräumen, kann daher in dieser Allgemeinheit nicht zugestimmt werden. Wir stimmen darin überein, dass es im Steuerrecht keine Einzelfallgerechtigkeit geben kann, aber der Vereinfachung auf Gedeih und Verderb alles unterzuordnen, bringt die soziale Balance doch ganz erheblich in Schieflage. ({11}) Im Gutachten des DIW steht dazu: Beim Konzept der FDP konzentrieren sich die Entlastungen auf den mittleren und oberen Bereich. Mündlich wurde in der Anhörung dann ergänzt: Die Einkommensungleichheit nimmt beim FDP-Konzept deutlich zu. Nochmals zur Verdeutlichung: Arbeitnehmer, Rentner und Empfänger von Lohnersatzleistungen hätten nach dem Willen der FDP einen Spitzensteuersatz von 35 Prozent, während Einkünfte aus unternehmerischer Tätigkeit einem Spitzensteuersatz von nur noch 25 Prozent unterlägen. ({12}) - Das steht in Ihrem Gesetzentwurf. Vielleicht sollten Sie ihn einmal lesen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich näher auf das Thema Vereinfachung eingehen. Selbstverständlich ist es eine Vereinfachung, wenn man ganze Vorschriften streicht oder weglässt, wenn man das Gesetz neu fasst. Bei der Streichung der Steuerfreiheit von Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägen oder der Übungsleiterpauschale handelt es sich aber nicht um eine Vereinfachung auf Kosten der Einzelfallgerechtigkeit. Diese Ausnahmen brauchen Sie, damit der Spitzensteuersatz abgesenkt werden kann. ({13}) Ein weiterer Punkt der angeblichen Vereinfachungen ist die Einführung eines einkommensabhängigen Werbungskostenabzugs. Für die Kolleginnen und Kollegen von der FDP scheint es aus Vereinfachungsgründen gerechtfertigt, dass ein Arbeitnehmer mit einem Einkommen von 250 000 Euro per se - also ohne Nachweis mit 5 000 Euro entlastet werden muss, ein Arbeitnehmer mit einem Einkommen von 40 000 Euro aber nur mit 800 Euro. Das Motto „Wer mehr hat, bekommt auch mehr“ führt den Gedanken der Vereinfachung ad absurdum. ({14}) Manchmal frage ich mich wirklich, wo die Kolleginnen und Kollegen, die einen solchen Gesetzentwurf einbringen, leben. Die doppelte Haushaltsführung, der Heimarbeitsplatz, die Fahrten zwischen der Wohnung und der Arbeitsstätte all das sind nach Meinung der FDP Kosten der allgemeinen und privaten Lebensführung. Glauben Sie wirklich, dass die Fahrtkosten eines Chemikers privat veranlasst sind, wenn ein Labor von A nach B verlegt wird? Glauben Sie, dass man jederzeit die Kinder aus der Schule nehmen und in eine andere Schule schicken und das Haus verkaufen könnte und dass die Ehefrau ihren Job aufgeben könnte, wenn ein Unternehmen von Y nach Z zieht und seinen Sitz verlagert? ({15}) Das alles halten Sie für machbar und zumutbar für die Arbeitnehmer. ({16}) - Herr Westerwelle, viele von uns, die hier sitzen - ich glaube, es sind sogar die meisten -, haben eine doppelte Haushaltsführung. Wenn Sie von der FDP das aufgrund Ihres persönlichen Lebenswunsches als Dinge der persönlichen Lebensführung ansehen, dann ist das eine Sache. Für die meisten von uns ist die doppelte Haushaltsführung aber sicherlich beruflich begründet. ({17}) Zu diesem Bereich ist in Ihrem Gesetzentwurf zu lesen: Der weit gehende Verzicht auf Steuerbefreiungen und subventionsähnliche Tatbestände ermöglicht hohe Freibeträge und eine radikale allgemeine Tarifsenkung ... ({18}) - Auch wir sind Teil der Bevölkerung, Herr Dr. Westerwelle, aber vielleicht in Ihren Augen nicht. ({19}) - Das sollten wir aber sein.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Solms zulassen?

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, natürlich.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass die Abgeordneten keinen Anspruch auf die steuerliche Geltendmachung der doppelten Haushaltsführung haben, weil sie eine Kostenpauschale bekommen?

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da ich ein höflicher Mensch bin, nehme ich natürlich alles zur Kenntnis, was Sie sagen, Herr Dr. Solms. Sie haben selbstverständlich Recht: Die doppelte Haushaltsführung wird bei uns Abgeordneten mit der Kostenpauschale extra abgegolten. Wenn wir zum nordrhein-westfälischen Modell übergehen sollten, was mitunter in der Diskussion ist, dann wird für uns die doppelte Haushaltsführung wie für jeden Arbeitnehmer selbstverständlich unter die Werbungskosten fallen. Gestern gab es dazu im WDR in der Sendung „Hart, aber fair“ mit Frau Kollegin Nina Hauer und Herrn Siegfried Kauder eine Diskussion. Ist Ihre Frage damit beantwortet? - Gut. ({0}) Man fragt sich schon: Wem dienen die Steuersenkungen? Wer trägt die Belastungen? Professor Dr. Hickel schreibt in seiner Stellungnahme: Wird dieser auf Arbeitseinkommen konzentrierte Abbau von Steuervorteilen mit der Senkung des Einkommensteuertarifs verglichen, dann ist die sozial ungerechte Verschiebung der Steuerlast nicht mehr zu übersehen. Zum Schluss möchte ich noch einmal aus Ihrem Gesetzentwurf zitieren: Es ist nicht die Aufgabe des Steuerrechts, erst Einkommen übermäßig „wegzusteuern“ und dann den nach Abzug der Verwaltungskosten verbleibenden Betrag wieder an die Gruppen zu verteilen... Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, genau das ist Sinn und Ziel des Steuerrechts. Was Sie lapidar als „Verwaltungskosten“ ansehen, sind die vielfältigen Aufgaben des Staates: soziale Sicherung, Bildung und Infrastruktur. All diese Aufgaben werden zu 75 Prozent aus Steuermitteln finanziert, insbesondere die soziale Sicherung. Der Staat hat die Aufgabe, einen Ausgleich an Chancen, Verteilungsgerechtigkeit und Teilhabe zu gewährleisten. Er ist für die Steuergelder verantwortlich. Damit muss er verantwortlich umgehen und nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit besteuern.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Er hat mit dem Einsatz der Steuergelder sowohl dem Gemeinwohl als auch jedem Einzelnen zu dienen. Das hat etwas mit Gerechtigkeit und Solidarität zu tun. Man kann es auch „Sozialstaat“ nennen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut gemeint ist das Gegenteil von gut. Ich freue mich auf die Ausschussberatungen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Christine Scheel. ({0})

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich fand es interessant, Herr Dr. Solms, dass Sie heute zum ersten Mal im Zusammenhang mit Ihren Steuervorschlägen gesagt haben, es gehe Ihnen nicht unbedingt um die Senkung der Steuersätze, sondern es gehe Ihnen um die Struktur. Das heißt, dass das, was Sie in den letzten Jahren mit Ihrem Dreistufentarif und den Steuersätzen von 15, 25 und 35 Prozent politisch im Land verkündet haben, überhaupt keinen Bestand mehr hätte, wenn man sich die Struktur anschaut und die Finanzierung, die damit verbunden ist, in den Vordergrund stellen würde. Ihr Modell bricht also zusammen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Scheel, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Solms zu?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Scheel, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass ich in meiner Rede ausgeführt habe, dass wir an unserem Stufenmodell selbstverständlich festhalten und wir eine Steuerentlastung für die Bürger für notwendig erachten, damit sie mehr finanziellen Freiraum für Eigenvorsorge und eigene Initiativen gewinnen können? Aber für diejenigen, die der Meinung sind, man sollte nicht so verfahren und keine Steuerentlastung herbeiführen, sollte die Möglichkeit bestehen, den Tarif anders zu gestalten. Dies ist ein Thema für sich, aber die Strukturreform als solche ist der Kern, weil sich erst aus der Struktur eines einfachen Steuerrechts das Vertrauen der Bürger in einen fairen Steuerstaat zurückgewinnen lässt.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, Herr Dr. Solms, Sie bestätigen meine Auffassung, dass Sie langsam dahin kommen, zugeben zu müssen, dass Ihr Gesetzentwurf nicht finanzierbar ist und dass die öffentlichen Haushalte die Steuerausfälle nicht verkraften. Deswegen gehen Sie jetzt einen Schritt zurück und schlagen vor, sich zuerst auf die Struktur zu konzentrieren und erst dann die Steuersätze in den Blick zu nehmen. Die Konsequenz wäre, dass die von Ihnen vorgeschlagene Senkung der Steuersätze nicht haltbar wäre. Das ist die Wahrheit und das muss man den Bürgerinnen und Bürgern auch sagen. ({0}) Viele Ziele, die Sie in Ihrem Steuermodell formuliert haben, teilen wir. Wir teilen die Auffassung, dass das Steuerrecht zu kompliziert ist und vereinfacht werden muss. Wir teilen auch die Auffassung, dass in die Steuervorlagen eine verständlichere Sprache Eingang finden muss, damit die Bürger und Bürgerinnen verstehen, was in den Formularen gefordert wird. ({1}) Wir teilen auch die Auffassung, dass wir ein international wettbewerbsfähiges Steuerrecht brauchen. So weit, so gut. Aber um auf Ihren Einwand zurückzukommen: Bei der Fraktion der FDP passen Anspruch und Wirklichkeit nicht zusammen, ({2}) weil Ihr Steuerrecht bei genauerer Betrachtung in den einzelnen Facetten nicht unbedingt einfacher wird. Es wird vielmehr in verschiedenen Punkten komplizierter und schafft ein Eldorado für Steuergestalter. Wir alle bemühen uns doch, Steuerschlupflöcher zu schließen. Wir alle in diesem Haus bemühen uns doch in den Fraktionen mehr oder weniger intensiv darum, dass die von teuren und guten Beratern eröffneten Steuergestaltungsmöglichkeiten im Sinne der Allgemeinheit der Steuerzahler, die das zu finanzieren hätten, nicht mehr so stark genutzt werden können. Wir wollen die Steuerschlupflöcher schließen, aber Sie schaffen mit der von Ihnen beabsichtigen Struktur neue Schlupflöcher. Das halte ich für ein Riesenproblem; denn wir sind in der Diskussion schon viel weiter. ({3}) Vorhin wurde festgestellt, dass Ihr Modell mit einem Einnahmeausfall in Höhe von 17 Milliarden bis 19 Milliarden Euro verbunden wäre. Ich sage klipp und klar: Das geht nicht. Eine machbare Steuerreform - eine Einkommen- und Unternehmensteuerreform - in Deutschland muss ohne Einnahmeausfälle für die öffentlichen Haushalte auskommen. Sie nehmen mit Ihren Vorstellungen - das finde ich an der FDP so absurd keinerlei Rücksicht auf die finanziellen Handlungsspielräume des Staates. Sie tragen nichts zur Konsolidierung des Haushaltes bei. Sie haben, wenn es um die Stabilisierung des Steueraufkommens ging, immer wieder die Abschaffung der Eigenheimzulage und der Steuersparfonds abgelehnt, weil Sie das als Steuererhöhung interpretiert haben. Davon sind Sie jetzt etwas abgerückt - darüber bin ich froh -, aber es schwebt immer noch im Raum. Auf der anderen Seite geben Sie aber das Geld des Staates mit vollen Händen aus. Sie haben einen Antrag zum Unterhaltsrechtes im Bundestag eingebracht - er wird heute Nachmittag beraten -, der voller nicht ausgereifter und ausfinanzierter Versprechen ist. 200 Euro Kindergeld - das klingt klasse. Wenn man den Bürgerinnen und Bürgern, die Kinder haben, 200 Euro Kindergeld zusagt, dann wird sicherlich jeder sagen: Super, darüber freue ich mich. Aber das kostet den Staat 9 Milliarden Euro und Sie sagen nicht, woher Sie das Geld nehmen wollen. Ich frage mich, wie das alles zusammenpasst: Sie fordern Steuer- und Abgabensenkungen und Mehrausgaben für Bildung, Forschung, Verteidigung und Familien, ({4}) aber die Maastrichtkriterien sollen eingehalten werden. Im Bundestag steht aber keine Gelddruckmaschine. Das Manna fällt auch nicht vom Himmel. ({5}) Dieser Lebensrealität sollten Sie sich endlich stellen. ({6}) Bei Ihnen werden in einzelnen Bereichen Konzepte mit einem gewissen Tunnelblick - ohne Rücksicht auf die finanziellen Folgen - erarbeitet. Herr Kollege Koppelin, der für die FDP dem Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages angehört, betreibt immer ein bisschen Konsolidierungsrethorik, mit der er auch seine Forderung nach Einhaltung des Wachstums- und Stabilitätspakts garniert. Das passt aber nicht zusammen. Sie müssen sich langsam entscheiden, ob Sie in der Bundesrepublik Deutschland eine verantwortungsvolle Oppositionspolitik mit gesamtstaatlicher Verantwortung machen wollen oder nicht.Bislang sieht es aber so aus, dass Sie das nicht machen wollen. ({7}) Es bleibt Ihr Geheimnis, wie Sie die Finanz- und Haushaltspolitik gestalten wollen. Insgesamt ist Ihre Politik jedenfalls inkonsistent. Aber ab und zu gibt es bei Ihnen einen Lichtblick. Sie, meine Damen und Herren von der FDP-Fraktion, haben die Vorlage zur Familienpolitik, die Sie in der letzten Sitzungswoche eingebracht haben, konsequenterweise zurückgezogen, weil Ihre Haushälter festgestellt haben, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen nicht finanzierbar sind. ({8}) Herr Westerwelle, Sie haben einerseits der Regierung vorgeschlagen, auf die geplante Mehrwertsteuererhöhung zu verzichten - dem kann ich nur zustimmen; aus konjunkturellen Gründen haben Sie Recht -, und andererseits den Gewerkschaften nahe gelegt, auf Lohnerhöhungen zu verzichten. Ich kann Ihnen von der FDPFraktion nur raten: Schließen Sie sich dem Pakt der Vernunft, wie Sie ihn nennen, an! Ziehen Sie Ihren Gesetzentwurf zurück! Überarbeiten Sie ihn und schauen Sie sich die realen finanziellen Rahmenbedingungen für Bund, Länder und Kommunen an! Dann können wir weiter diskutieren. ({9}) Nicht nur wir sind der Auffassung, dass Ihre Vorschläge nicht finanzierbar sind. Sie regieren in fünf Bundesländern mit. ({10}) Davon stehen nun in drei Ländern, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, Wahlen an. In all diesen Ländern werben Sie für Ihr Modell und sagen: Der Steuervorschlag der FDP ist Superklasse. ({11}) Aber nennen Sie mir einen einzigen Ministerpräsidenten aus den drei Bundesländern, in denen Sie mitregieren, der bereit wäre, Ihren Gesetzentwurf in den Bundesrat einzubringen und zu sagen: Hier, Jungs und Mädels, ({12}) lege ich euch einen Gesetzentwurf vor; den wollen wir. Keiner der Ministerpräsidenten ist tatsächlich der Meinung, dass Ihr Gesetzentwurf Superklasse ist, weil alle wissen, dass das nicht finanzierbar ist, dass es sich um eine Luftnummer handelt. ({13}) Wer Haushaltsverantwortung trägt, muss das sehen. Wer weiß, wie ein Haushalt funktioniert und welche Wirkungen bestimmte Maßnahmen haben, und sich im Steuerrecht auskennt, der weiß auch, dass Steuerausfälle in den Anfangsjahren noch viel höher sind als in den folgenden Jahren. Bezogen auf Ihren Vorschlag, bedeutet das: Die Tarifänderung wirkt zwar sofort. Aber die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage greift erst später. Wenn man Ihren Vorschlag umsetzte, dann hätte man Steuerausfälle nicht, wie von Ihnen behauptet, in Höhe von 17 bis 19 Milliarden Euro pro Jahr, sondern in Höhe von rund 32 Milliarden Euro im ersten Jahr. Ich möchte sehen, wie dann die Verhandlungen in Brüssel liefen. Sie riskieren, dass Deutschland an die EU Strafgeldzahlungen in Höhe von 10 Milliarden Euro leisten muss. Dieses Risiko gingen Sie ein. 10 Milliarden Euro just for fun! Das geht nicht; das ist unverantwortlich. ({14}) Wer sagt, dass die Gesamtsteuerbelastung in Deutschland viel zu hoch sei, hat Recht, was die Strukturen in einzelnen Bereichen anbelangt. Aber die Steuerquote in Deutschland liegt - das sollten Sie bitte einmal zur Kenntnis nehmen - bei knapp über 20 Prozent. Das ist fast der niedrigste Wert in Europa. Nur die Slowakei liegt mit 18,4 Prozent noch etwas darunter. Wir müssen sicherlich die Struktur vereinfachen. ({15}) Aber wir dürfen nicht auf breiter Ebene Steuerentlastungen vornehmen, weil das, wie gesagt, nicht verantwortbar wäre. ({16}) Konzentrieren wir uns daruf, dass Deutschland im internationalen Vergleich konkurrenzfähig bleibt. Die hohe Abgabenbelastung bei den Löhnen muss im Fokus stehen. Lassen Sie uns auf das Wesentliche schauen! Die Grünen haben eine Vorlage für ein steuerfinanziertes Progressivmodell in den Bundestag eingebracht, durch das kleine Einkommen von Sozialabgaben entlastet werden. Das ist für den Arbeitsmarkt, die Bezieher kleiner Einkommen und die Arbeitgeber gut. Gehen Sie diesen Weg mit, anstatt mit irgendwelchen Luftnummern zu agieren! Noch zu Ihrem Vorschlag, die Gewerbesteuer abzuschaffen. Man kann darüber reden, wie man die Kommunalfinanzen für die Zukunft regeln will. Das aber, was ich bei allen, die die Gewerbesteuer abschaffen und durch etwas anderes ersetzen wollen, anprangere, ist, dass die Bürger und die Bürgerinnen nicht die Information bekommen, was das denn bedeutet. Diese kaufen die Katze im Sack. Die Einfachsteuer ist in Wirklichkeit ein hoch kompliziertes Zuschlagsmodell und die Bürger erfahren nicht, wie hoch sie in letzter Konsequenz belastet werden, wenn sie Einkommensteuer plus kommunale Zuschlagsteuern bezahlen. Die einzelnen Bürger und Bürgerinnen erfahren nicht, wie hoch die Steuersätze für sie wirklich sind. Das enthalten Sie den Bürgern vor. Frau Präsidentin, ich bin sofort mit meiner Rede am Ende. Die Rhetorik klingt gut, aber Sie ignorieren die Zusammenhänge. Auch eine Oppositionspartei muss ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung nachkommen, aber da ist bei Ihnen Fehlanzeige. Danke schön. ({17})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Hans Michelbach, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Niemand hier sollte bezweifeln, dass wir eine Reform der Einkommensteuer und der Unternehmensbesteuerung benötigen, um wieder mehr Wachstum und Beschäftigung zu erzielen. ({0}) Der ausformulierte Gesetzentwurf der FDP nötigt mir Respekt ab. Er bedarf sicher einer vertiefenden und umfassenden Diskussion. Er ist eine gute Grundlage. Darüber darf man nicht einfach locker hinweggehen. Er ist eine Grundlage für die weiteren Schritte in der Steuerpolitik. Der Gesetzentwurf der FDP wirft aber zum heutigen Zeitpunkt - das müssen Sie, geschätzter Herr Kollege Dr. Solms, zugeben - zahlreiche Fragen und Zweifel auf. Insbesondere ist es mehr als fraglich, ob das angegebene Haushaltsvolumen von 17 bis 19 Milliarden Euro einer näheren Überprüfung standhält. Nach ersten Berechnungen unsererseits belaufen sich die Kosten auf über 21 Milliarden Euro. Das ist bei einem strukturellen Defizit des Bundeshaushaltes von heute 60 Milliarden Euro eine große Zahl. Es wird ein steiniger Weg, bis diesem Gesetzentwurf zugestimmt werden kann. Wir sollten uns angesichts der angespannten Haushaltslage weder eine Verfassungswidrigkeit der Haushalte noch eine des Steuerrechts auf Dauer leisten. Wir müssen jetzt schrittweise mit Vernunft vorgehen. Meine Damen und Herren von der FDP, auch für Sie gilt: Schalmeienklänge sind von kurzer Dauer, wenn das Instrument gepfändet wird. Das ist die Situation. ({1}) Die Einhaltung der Verfassung und des europäischen Stabilitätspaktes ab 2007 muss zunächst oberste Priorität genießen. Ohne dass wir konsolidiert haben, werden wir keine Wachstumsziele erreichen und werden wir keine Kraft für die Steuerpolitik haben. ({2}) Das ist die Grundlage. Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen. Ein Wolkenkuckucksheim nützt unseren Steuerzahlern nichts; denn die Schulden von heute sind die Steuern von morgen. Das würde letzten Endes auch nicht der Generationengerechtigkeit und der Planungssicherheit unserer Unternehmen entsprechen. ({3}) Haushaltskonsolidierung und Generationengerechtigkeit ist die Gemeinschaftsaufgabe dieses Deutschen Bundestages. Deshalb steht die große Koalition für Realität und Praktikabilität in der Steuerpolitik. Wir haben im Koalitionsvertrag nur das festgelegt, was wir in dieser Legislaturperiode einhalten können. Der Bau von steuerpolitischen Luftschlössern, meine Damen und Herren, kostet Sie zwar nichts, aber die zerstörten Erwartungen sind teuer. Nur Glaubwürdigkeit schafft das notwendige Vertrauen für Wachstum und Beschäftigung. ({4}) 83 Prozent der Bürger sind heute zuversichtlich, dass es zu einem Wirtschaftsaufschwung kommt. Die verbesserte Stimmung ist auf diese Glaubwürdigkeit, auf diese neue Vertrauensbasis, zurückzuführen. In der Steuerpolitik müssen wir dies nutzen, um einzelne Maßnahmen umzusetzen. Alles zu seiner Zeit: Wir werden in dieser Woche das Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung in zweiter und dritter Lesung verabschieden. Das ist von wesentlicher Bedeutung für den beginnenden Aufschwung, für mehr Wachstum und für neue Jobs. Die Verabschiedung dieses Gesetzes ist der erste machbare Schritt. Vernünftige Steuerpolitik bedeutet, Schritte zu vollziehen, die wirklich nutzen und auch finanzierbar sind. ({5}) Die Regelung zur Förderung der privaten Haushalte als Arbeitgeber, die gezielte Belebung der Investitionstätigkeit, insbesondere der kleinen und mittleren Unternehmen, das ist der richtige Ansatz. Hinzu kommen: Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen bei privat genutzten Häusern und Wohnungen, die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen durch eine Änderung der Umsatzbesteuerung - die Umsatzgrenze wird in den alten Bundesländern von 125 000 Euro auf 250 000 Euro angehoben -; die Abschreibungsbedingungen für bewegliche Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens werden durch eine bis zum 31. Dezember 2007 befristete Anhebung der degressiven Abschreibung auf 30 Prozent verbessert. Das sind zählbare Hilfen für den Mittelstand: Er kann möglichst schnell mehr investieren, weil er über mehr Liquidität verfügt. Wir vollziehen einen wichtigen Schritt, um mehr Investitionen durch unseren Mittelstand zu ermöglichen. ({6}) Dieser steuerlichen Förderung von Wachstum und Beschäftigung müssen natürlich größere Schritte in der Steuerpolitik folgen. Da sind wir beieinander. ({7}) Es wird neue Anläufe zur Steuervereinfachung und zur Förderung der steuerlichen Wettbewerbsfähigkeit geben. Tatsache ist: Die Steuerbelastung der Unternehmen liegt im EU-Durchschnitt bei 24,8 Prozent und in Deutschland bei 39 Prozent. Diese Differenz ist natürlich nicht tragbar. Wir brauchen einen wettbewerbsfähigen Standort. Wir müssen etwas tun; sonst wandern unsere Betriebe in die mittel- und osteuropäischen Länder ab. Deswegen hat für uns nach der Haushaltskonsolidierung eine Reform der Unternehmensbesteuerung zum Zwecke der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit auf dem europäischen Markt oberste Priorität. Das ist unser Ziel; das ist unser Weg. ({8}) Die Ausgangslage ist ein wichtiger Punkt. Wir müssen unser Gesamtkonzept weiterentwickeln. Dieses Gesamtkonzept muss für den Bürger verständlich, ausgewogen und akzeptabel sein. Es muss die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen deutlich verbessern, es muss die kommunale Autonomie stärken und es darf Bund und Ländern allenfalls in der Startphase eine maßvolle Anschubfinanzierung abverlangen. Schließlich muss es für alle Beteiligten nachvollziehbar und berechenbar sein. Es lohnt sich, für diese Aufgabenstellung in den nächsten Wochen und Monaten zu arbeiten. Im Koalitionsvertrag mit der SPD hat die CDU/CSU eine grundlegende Reform der Unternehmensbesteuerung zum 1. Januar 2008 fest vereinbart. ({9}) Die Modellvorschläge, der Vorschlag der Stiftung Marktwirtschaft und jener des Sachverständigenrates, liegen jetzt vor. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit können diese Vorschläge zu einem gemeinsamen Ergebnis führen. Ich erinnere an den Vorschlag der FDP, an andere Vorschläge und an unsere Vorschläge: Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit durch eine Reform der Unternehmensbesteuerung oberste Priorität haben muss. Wenn wir diesen Gesetzentwurf in diesem Jahr zustande bringen, dann haben die Unternehmen Planungssicherheit. Das In-Kraft-Treten dieses Gesetzes zum 1. Januar 2008 wäre ein wichtiges Zukunftssignal. Qualität ist immer besser als Schnelligkeit. Das ist der Weg, den wir jetzt beschreiten müssen. ({10}) Wir müssen die vorliegenden Vorschläge und Modelle mit Blick auf das Ziel einer international wettbewerbsfähigen Steuerpolitik in den nächsten Wochen und Monaten unvoreingenommen prüfen. Ich kann Ihnen versichern: Bei der Reform der Unternehmensbesteuerung werden uns insbesondere die folgenden Zielsetzungen leiten: die weitgehende Rechtsform- und Finanzierungsneutralität, die Einschränkung von unsauberen Gestaltungsmöglichkeiten, die Verbesserung der Planungssicherheit für Unternehmen und die öffentlichen Haushalte, die nachhaltige Sicherung der deutschen Steuerbasis sowie natürlich als Hauptziel die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und Europatauglichkeit des Unternehmensteuerrechts. Wir werden diese Reform Schritt für Schritt anpacken, solide finanziert, mit einem vernünftigen Weg in die Zukunft. Unsere Steuerzahler, Wirtschaft und Bürger, brauchen standortfreundlichere und steuersystematisch bessere Bedingungen. Damit werden wir mehr Wachstum und Beschäftigung erreichen. Diesen Weg sollten wir gemeinsam beschreiten. Dafür sollte es in diesem Haus einen breiten Konsens geben. Lassen Sie uns deswegen gemeinsam in der großen Koalition, aber auch mit allen anderen Fraktionen an diesem Weg ganz vernünftig arbeiten. Herzlichen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Nächster spricht Dr. Volker Wissing für die FDPFraktion. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst ein paar Sätze zu Frau Kollegin Scheel sagen. Von den Grünen bin ich ganz schön überrascht. Sie von den Grünen passen ganz gut zur großen Koalition; Sie trippeln da ganz wunderbar mit. ({0}) Diese Debatte hat eines deutlich gemacht: Wir haben Konzepte; Sie haben sie nicht. Wir kämpfen für die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger; Sie sorgen für die Belastung. ({1}) Wir wollen ein einfaches und gerechtes Steuersystem mit niedrigen Sätzen, das die Menschen wieder verstehen; Sie wollen den finanzpolitischen Stillstand. ({2}) Ihre kleinmütigen Einwände machen deutlich, woran es Ihnen fehlt: Ihnen fehlt es an Mut. Ihnen fehlt es an der Kraft, Reformen durchzusetzen. Ihnen fehlt es an Konzepten. Ihnen fehlt es an dem Willen, für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes das zu erreichen, was sie dringend brauchen, nämlich steuerliche Entlastung. ({3}) Wir wollen für die Bürgerinnen und Bürger eine Entlastung um 20 Milliarden Euro erreichen und haben dazu einen konkreten Gesetzentwurf vorgelegt. Sie - um Ihnen das deutlich vor Augen zu führen - planen eine Mehrwertsteuererhöhung und wollen die Bürger mit 20 Milliarden Euro zusätzlich belasten. ({4}) Das ist das krasse Gegenteil von dem, was Deutschland braucht. Das ist das krasse Gegenteil von dem, was die FDP will. Das ist das krasse Gegenteil von dem, was wir Ihnen in einem konkreten Entwurf heute vorgelegt haben. ({5}) Unser Konzept würde die Binnennachfrage stärken. Ihre Mehrwertsteuererhöhung, lieber Kollege, bremst sie. Unser Konzept würde die Wirtschaft ankurbeln und Arbeitsplätze schaffen. Ihre Stillstandspolitik belastet die Wirtschaft und bedroht Arbeitsplätze. Die FDP hat Farbe bekannt. Wir haben ein durchdachtes Konzept vorgelegt. Nur, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der großen Koalition, wo bleiben denn Ihre Vorschläge? Von der SPD - Sie haben so kräftig dazwischengerufen - ist sowieso nicht mehr viel zu erwarten. ({6}) Herr Scheelen, Sie haben Ihr finanzpolitisches Profil nach dem letzten Bundestagswahlkampf im Grunde genommen über Bord geworfen. Wenn man eine Mehrwertsteuererhöhung um 2 Prozentpunkte kategorisch ablehnt und dann eine Erhöhung um 3 Punkte mitmacht, spricht das für sich; dazu braucht man nicht mehr viel zu sagen. ({7}) Sie von der CDU/CSU, Herr Michelbach - Herr Bernhardt ist auch noch da -, sagen, alles, was die FDP vorschlage, gehe nicht, sei falsch und völlig abwegig. ({8}) Ich möchte Ihnen einmal vorhalten, dass Sie auf Ihrem Parteitag ganz ähnliche Tarife beschlossen haben. ({9}) Herr Merz ist nicht mehr im Raum. Mit Herrn Kirchhof wollen Sie nichts mehr zu tun haben. Was zurückbleibt, ist eine finanzpolitische Wüste bei der CDU/CSU. ({10}) Da war eine Bierdeckelsteuer-Kanzlerkandidatin. Da war eine Kopfpauschalen-Kanzlerkandidatin. Daraus ist eine Trippeltippelkanzlerin geworden. Schneller, als Sie das gemacht haben, hat kaum eine Partei in diesem Land ihre politischen Inhalte über Bord geworfen. Von dem, mit dem Sie bei der Bundestagswahl angetreten sind, ist wirklich nicht mehr viel übrig geblieben. ({11}) Sie kritisieren unser Konzept, Frau Frechen, aber Sie übersehen dabei: Wir haben wenigstens eines; Sie nicht. ({12}) Sie können sich gern an uns abarbeiten, aber Sie werden die Verantwortung nicht los. Eine Regierung, die es nicht schafft, eigene Reformkonzepte auf den Tisch zu legen, kann die Probleme dieses Landes nicht lösen. Sie sollten regieren, nicht opponieren. ({13}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hätten uns gefreut, wenn wir heute einen Regierungsentwurf hätten mitberaten können. Dann hätten wir wenigstens einen Wettbewerb der Ideen. Aber so steht die FDP alleine da mit einem Gesetzentwurf. Es liegt klar auf der Hand, dass Deutschland ein Problem hat: Deutschland hat eine Opposition mit Konzepten und eine konzeptionslose Regierung. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das war schon fast der Auftrittsbeifall. ({0}) Der Kollege Reinhard Schultz spricht für die SPDFraktion.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich nehme den Beifall für mich nicht in Anspruch. - Herr Solms hatte eigentlich ganz nett angefangen und damit eine Debatte eingeleitet, die für die Kernzeit verhältnismäßig sachlich war. Aber was der Herr Wissing dann nachgeschoben hat, hat diesen Stil gesprengt. Insofern eröffnen sich neue Freiräume für nachfolgende Redner. ({0}) - Nein, eigentlich neige ich nicht dazu. Es ist ja so, dass neue Mehrheiten, neue Koalitionen sich neue Adhäsionsflächen suchen. Das ist für einige - für die FDP, aber auch für andere in diesem Hohen Hause - sicher in hohem Maße gewöhnungsbedürftig. Diejenigen, die über lange Zeit sozusagen in der Opposition Koalitionen gebildet haben und mit anderen gewisse Berührungspunkte hatten, insbesondere im Schnittfeld „Neoliberalala“, wundern sich natürlich, dass der andere, der sozusagen untreu geworden ist, seine Adhäsionsflächen nun bei der SPD sucht und dass die beiden Volksparteien andere Schnittmengen finden als CDU/ CSU und FDP, ebenso als SPD und Grüne. So ist das halt. Möglicherweise gibt es in der Politik manchmal mehrere vertretbare richtige Antworten zur Lösung eines Problems. Die große Koalition geht, weil sie gemeinsam handeln muss, einen gemeinsamen Weg, der sowohl die Frage der Konsolidierung der Staatsfinanzen als auch die Frage des Wachstums und die Frage eines modernen, wettbewerbsfähigen Steuerrechts für Unternehmen unter einen Hut bringen wird. Das ist ein anderer Ansatz, als andere ihn haben. Einige von uns waren gestern Abend Zeugen einer merkwürdigen Veranstaltung des Bundesverbands mittelständischer Wirtschaft, ({1}) bei der Herr Solms viel Beifall bekommen hat, was ich verstehen kann; denn was er gesagt hat, passte hervorragend zusammen: am besten Nullsteuerstaat und 100 Prozent Subventionen; das ist das, was bei einer bestimmten Klientel immer Begeisterungsstürme weckt. ({2}) Ich will aber bei dieser Gelegenheit folgenden Eindruck beschreiben; ich finde, auch das muss einmal gesagt werden. Ich rede als Mittelstandsbeauftragter meiner Fraktion sehr viel mit Verbänden. Die meisten sind sachliche Ratgeber und das ist auch hilfreich. Aber wenn so ein Zirkusdirektor wie der Mario Ohoven den stellvertretenden Bundeskanzler, den Herrn Solms und den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU als Punchingball benutzt, nach ihnen redet und sie dann zur Minna macht, nur um selber zu glänzen, dann ist das keine Gesprächsgrundlage mehr. Mit dieser Verbandsspitze werde ich kein Gespräch mehr führen. Da gibt es viele andere, sachliche Ratgeber, die uns in mittelstandspolitischen Fragen weiterhelfen werden. ({3}) - Das ist ein halbseidener Zirkusdirektor. Ich setze mich auch nicht zu ihm an den Tisch, weil man Angst haben muss, auf ein Pressebild zu kommen, auf dem Handschellen zu sehen sind. ({4}) Das hat mit Seriosität überhaupt nichts zu tun. Das darf man doch wohl einmal sagen. Ich verstecke mich auch Reinhard Schultz ({5}) nicht hinter meinem Mandat, sondern sage meine Meinung sehr offen. Zurück zu dem Gesetzentwurf. Herr Solms, Sie haben, finde ich, einen strukturellen Fehler gemacht: Sie haben den 25-Prozent-Ansatz bei den Unternehmensteuern auf die privaten Einkommen übertragen. Es gibt aber keine Schnittstelle, wo Sie private Einkommen nach Leistungsfähigkeit besteuern und den thesaurierten Gewinn der Unternehmen unter Wettbewerbsgesichtspunkten niedriger besteuern, sondern Sie setzen das auf einer bestimmten Ebene gleich. Das begründet im Wesentlichen den riesigen Steuerausfall. Das passt nicht zusammen. Wer thesaurierte Gewinne der Unternehmen niedrig besteuern will, der muss erst recht die Besteuerung nach Leistungsfähigkeit bei den Privaten beachten. Ansonsten führt er alle in den Staatsbankrott. Unabhängig davon möchte ich erwähnen, dass Sie in Ihrem Finanztableau, das nur aus einer Zeile besteht, viele Punkte, die in Ihrem Gesetzentwurf vorhanden sind, überhaupt nicht benennen. Das Kindergeld wurde schon angesprochen. Entsprechende Änderungen werden im Gesetzentwurf und in der Begründung behandelt. Diese Änderungen würden zu einem zusätzlichen Betrag in Höhe von 9 Milliarden Euro führen. Ich weiß auch nicht, was die Vererbbarkeit von Ansprüchen aus der Riesterrente - ein interessanter Gedanke - kosten würde. Aber umsonst ist dies bestimmt nicht zu haben. All das sind Bestandteile, die die Wüste, die Sie gerade beschrieben haben, nicht gerade beleben. 46 Jahre Ihrer Regierungsverantwortung bedeuten auch 46 Jahre der Verwüstung des deutschen Steuerrechts. Da darf man sich überhaupt nichts vormachen. Wir alle wissen, dass Steuerrecht zu einem großen Teil Richterrecht ist. Zu versuchen, im Rahmen einer Vereinfachungsorgie die kritischen Punkte erst einzusammeln, um dann von Finanzrichtern sozusagen wieder zurückgepfiffen zu werden, ist nicht ehrlich und nicht seriös. ({6}) Deswegen würde Ihr Gesetz, würde es jemals im Gesetzblatt stehen, durch Tausende Seiten von Verordnungen unterfüttert werden müssen. Das kennen wir seit Kirchhof. ({7}) Kirchhof, der große Vereinfacher, hatte erklärt: Nur drei Seiten Gesetz und der Rest wird in Verordnungen geregelt. Diese Regelungen liegen aber außerhalb des Parlaments und tragen nicht zur Transparenz für den Steuerbürger bei. Das finde ich nicht in Ordnung. ({8}) Wenn wir ein gerechtes Steuerrecht wollen, dann müssen die entsprechenden Eckpunkte, in denen die Lebenswirklichkeiten berücksichtigt werden, im Gesetz stehen. Das gilt für die Privaten genauso wie für die Unternehmen. Man muss sich schon deswegen aus politisch-didaktischen Gründen mit Ihrem Gesetzentwurf auseinander setzen, weil Sie ein Lehrbeispiel dafür sind, dass Einfachheit manchmal mit Schlichtheit gleichzusetzen ist, in keinem Falle ist sie aber, siehe Steuerrecht, mit Gerechtigkeit gleichzusetzen. Ich glaube auch, dass die Wettbewerbsfähigkeit beim Unternehmensteuerrecht nicht allein durch den Steuersatz bestimmt wird. In Gesprächen mit der Stiftung Marktwirtschaft und mit dem Sachverständigenrat haben wir eine Menge gelernt. Bis zum Sommer wird es noch eine Reihe zusätzlicher Modelle geben. Aus diesen Modellen, die gegeneinander konkurrieren, können wir lernen. Trotzdem gilt, dass sich ein Unternehmen, das am Standort Deutschland investieren will, mehr anschauen wird als nur einen plakativen Steuersatz. Es wird sich auch die übrigen Rahmenbedingungen - beispielsweise Steuerrecht, Infrastruktur, Qualität der Mitarbeiter, Anzahl der Streiktage - anschauen. Steuerrecht ist ein Standortfaktor unter mehreren. Der Steuersatz wiederum ist nur ein Teil davon. Ich bin Unternehmer und weiß einen niedrigen Steuersatz zu schätzen. Ich schätze aber auch beispielsweise vernünftige Abschreibungsbedingungen und die Möglichkeit von Drohverlustrückstellungen. Das heißt, Bemessungsgrundlage und Steuersatz gehören zusammen. Das Schicksal eines Unternehmens ist manchmal genauso wechselvoll wie das einer Privatperson. Daher muss man alle möglichen Situationen, die sich für ein Unternehmen ergeben können, im Hinterkopf haben, wenn man eine Unternehmensteuerreform will, wie man das auch bei Privaten im Hinblick auf die Besteuerung ihrer Einkünfte tut. Dieser Gesetzentwurf wird die Debatte bereichern. Er wird die Stoßrichtung aber nicht verändern. Ich warne dringend davor, als könnten Sie nach dem Hase-undIgel-Prinzip einfach nur große Vereinfachungsfahnen schwenken und den Eindruck erwecken, die Koalition würde ihre Unternehmensteuerreform nicht über die Rampe bringen. Nach den Gesprächen in unseren Reihen - die Taktzahl der Begegnungen nimmt ja Gott sei Dank zu - bin ich sehr sicher, dass wir diese Reform hinbekommen werden, weil wir den Willen dazu haben. Aber wir wollen auch eine Unternehmensteuerreform haben, die länger gültig ist als eine Wahlperiode und die nicht durch veränderte Mehrheitsverhältnisse in dreieinhalb Jahren wieder infrage gestellt werden kann. Die große Koalition hat die Chance, etwas zustande zu bringen, das von längerer Dauer ist. Das ist die Planungssicherheit, die die Unternehmen brauchen. Vielen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Linksfraktion spricht Oskar Lafontaine. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt ({0})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Abgeordnete Solms hat für die Freien Demokraten in aller Klarheit die Position dieser Partei dargelegt. Er hat das Steuergesetz mit dem Freiheitsprinzip in der Verfassung begründet. Darauf will ich eingehen. Es ist richtig, wenn Sie ein einfaches und gerechtes Steuersystem verlangen. Wer wollte dem widersprechen? Es ist ebenfalls richtig, wenn Sie sagen, die Menschen müssen das Steuerrecht verstehen, damit sie ihre Steuererklärung abgeben können. Unser Widerspruch zu Ihrem Gesetzentwurf kristallisiert sich an Art. 14 des Grundgesetzes, den Sie ebenfalls bemüht haben, den Sie aber interessanterweise sehr verkürzt zitiert haben. Worauf Sie immer wieder verweisen, ist die Eigentumsgarantie. Ich lese Ihnen einmal den ersten Absatz vor: Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. Was Sie aber in Ihren Reden immer vergessen, sind die weiteren Absätze dieses wichtigen Artikels des Grundgesetzes. Deshalb möchte ich Ihnen einen Auszug daraus vorlesen: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Eine Enteignung ist … zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. ({0}) Zum Verständnis: Damit ist nicht die Enteignung älterer Arbeitnehmer über die Sozialgesetzgebung gemeint. Die Väter des Grundgesetzes ({1}) haben vielmehr etwas ganz anderes gemeint. Weil Sie Art. 14 Abs. 2 des Grundgesetzes übersehen, ist Ihr Steuervorschlag völlig falsch und inakzeptabel. Denn er greift die derzeitige Entwicklung unserer Gesellschaft überhaupt nicht auf und spiegelt sie nicht wider. Im Jahreswirtschaftsbericht steht die schlichte Feststellung der Bundesregierung - ich wiederhole sie an dieser Stelle -: Die Löhne wachsen nicht, die Renten wachsen nicht, die sozialen Leistungen gehen zurück, nur die Einkommen aus Vermögen und selbstständiger Tätigkeit wachsen um 7,25 Prozent. Wie man bei dieser Situation einen Gesetzentwurf einbringen kann, mit dem die Tendenz einer solchen Entwicklung verschärft würde, ist niemandem verständlich. Daher wird er von der großen Mehrheit der Bevölkerung strikt abgelehnt. ({2}) Es wird keine gerechte Steuergesetzgebung in Deutschland geben, wenn wir bei der jetzigen Entwicklung der Vermögen und Einkommen keine ordentliche Vermögensbesteuerung einführen, wie es sie in anderen modernen Industriestaaten gibt. Für die Fraktion Die Linke möchte ich für diejenigen, die heute Zeit haben, uns zuzuhören, einen einfachen Hinweis geben: Das reine Geldvermögen der Deutschen beträgt 4 000 Milliarden Euro. Die Hälfte davon, 2 000 Milliarden Euro, gehören den oberen Zehntausend bzw. 1 Prozent der Bevölkerung. Würde man also nur diese Hälfte mit 5 Prozent besteuern, gäbe es in den öffentlichen Kassen Mehreinnahmen von 100 Milliarden Euro. Dies zeigt, dass die ganzen sozialen Kürzungen der letzten Jahre und die ganze Reformpolitik völlig überflüssig und - wenn man es hart formuliert - ein einziger Schwindel waren. ({3}) Nun weiß ich, dass sich niemand von der Mehrheit dieses Hauses an diese einfache Gesetzgebung wagen möchte. Der Verweis auf andere mit uns konkurrierende Staaten wirft aber die Frage auf, warum eine ordentliche Vermögensbesteuerung in Schweden, Großbritannien und den Vereinigten Staaten möglich ist ({4}) und warum sie hier in Deutschland nicht möglich sein soll. Solange diese extreme Schieflage nicht beseitigt ist, gibt es kein gerechtes Steuersystem in Deutschland. ({5}) Ein weiterer Punkt. Wir möchten nicht nur, dass die Verfassung wieder ernst genommen wird. Wir möchten auch, dass die Einkommens- und Lohnentwicklung in Deutschland der lebendigen Arbeit folgt und nicht dem toten Kapital. ({6}) Ich wiederhole diesen Satz: Die Einkommens- und Lohnentwicklung in Deutschland soll der lebendigen Arbeit folgen und nicht dem toten Kapital. Das krasse Gegenteil geschieht seit vielen Jahren. Ich wiederhole die Aussage aus dem Jahreswirtschaftsbericht: Für leistungslose Einkommensbezieher, wenn man so will, ergibt sich ein Zuwachs von 7,25 Prozent, während die große Mehrheit des arbeitenden Volkes in diesem Jahr überhaupt keinen Zuwachs ihrer Löhne bzw. Renten erwarten kann. Auf diese Art und Weise kann es einfach nicht weitergehen. Dem Ganzen wird mit einer solchen Vereinfachung, wie Sie sie hier vielleicht gut gemeint vortragen, die Krone aufgesetzt, wenn die Zuschläge für die Nachtund Schichtarbeit besteuert werden sollen und die Pendlerpauschale abgeschafft werden soll. Gleichzeitig sagt man aber: Werdet flexibler, werdet beweglicher auf dem Arbeitsmarkt. Das alles passt nicht mehr zusammen. Aus diesem Grund lehnen wir den Gesetzentwurf ab. ({7}) Im Grunde genommen geht es in der entwickelten Volkswirtschaft - wie ein Ökonom, an dem sich heute viele die Schuhe abputzen, die bei weitem nicht an ihn heranreichen, nämlich John Maynard Keynes, schon vor vielen Jahren geschrieben hat - darum, dass es in einem solchen Entwicklungsstadium, in dem wir uns heute befinden, darauf ankommt, die Ersparnisse wieder in Investitionen umzulenken. Das ist das Kernerfordernis einer Volkswirtschaft, wie wir sie heute vorfinden. Gegen das Kernerfordernis, Ersparnisse in Investitionen umzulenken, verstoßen Sie massiv mit Ihren Vorschlägen. Es geht darum, durch eine moderne Gesetzgebung in Deutschland wieder eine ordentliche öffentliche Investitionsquote zu erreichen wie in unseren europäischen Nachbarstaaten. Wir werden in Deutschland niemals bei Wachstum und Beschäftigung zulegen, wenn wir nicht zumindest eine ähnlich hohe öffentliche Investitionsquote haben wie die europäischen Nachbarstaaten. ({8}) Ein weiterer Punkt. Solange wir die Ersparnisse nicht in Bildungsinvestitionen und in Investitionen in die Forschung umlenken, werden wir unsere Volkswirtschaft nicht modernisieren können. Unsere Volkswirtschaft wird nicht durch immer neue Steuersenkungsrunden wachsen und modernisiert. Das wurde in den letzten Jahren erfolglos versucht. Wir sollten uns ein Beispiel an Volkswirtschaften nehmen, die wachsen. Das sind etwa die skandinavischen Länder. Ein solches Gesetz, wie Sie es hier vorlegen, hätte in diesen Volkswirtschaften nicht die geringste Chance. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Peter Rzepka. ({0})

Peter Rzepka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir hatten ja gerade das Vergnügen, den größten Finanzpolitiker aller Zeiten hier im Plenum des Deutschen Bundestages zu hören. ({0}) Sie eröffnen wieder das Gruselkabinett, Herr Kollege Lafontaine, wenn Sie in einer steuerpolitischen Debatte mit Stichworten wie Enteignung und Vermögensteuer arbeiten. Sie treiben mit dieser Argumentation Kapital und Investitionen aus Deutschland heraus und anschließend beklagen Sie sich über Arbeitslosigkeit und die Notwendigkeit, die Not leidenden Sozialsysteme zu reparieren. ({1}) Wir diskutieren heute über den Gesetzentwurf der FDP-Fraktion. Ich denke, wir müssen bei dieser Gelegenheit einige Bemerkungen zum Ausgangspunkt machen, und zwar über die andauernden Bemühungen des Steuergesetzgebers, Einzelfallgerechtigkeit herzustellen. Das hat das deutsche Steuerrecht letztlich widersprüchlich, unübersichtlich und ineffizient werden lassen. Schließlich ist auch die Steuergerechtigkeit auf der Strecke geblieben, weil nur diejenigen die Möglichkeiten zur Steuerminderung nutzen können, die eine teure Steuerberatung bezahlen können. Wir streben daher neben der für das Jahr 2008 geplanten strukturellen Reform der Unternehmensbesteuerung eine Neuformulierung auch des deutschen Einkommensteuerrechts an. Letztere hat das Ziel, die Einkommensteuer einfacher, verständlicher, effizienter und damit auch gerechter zu gestalten. Hierzu halten wir allerdings am linear-progressiven Steuertarif fest. Wir wollen die Zahl der Ausnahmetatbestände reduzieren sowie durch Typisierungen und Pauschalierungen das Besteuerungsverfahren modernisieren und Bürokratie abbauen. Die Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit bleibt allerdings für uns eine wichtige, auch verfassungsrechtlich gebotene Leitlinie steuerpolitischen Handelns. ({2}) Schließlich müssen die Steueränderungen auch sozial ausgewogen realisiert werden. Angesichts des internationalen Steuerwettbewerbs hat für uns allerdings die Reform der Unternehmensbesteuerung Priorität. Das neue Unternehmensteuerrecht soll die Steuerbasis in Deutschland nachhaltig sichern, Investitionsanreize setzen, das Wirtschaftswachstum beleben und Arbeitsplätze schaffen. Dabei streben auch wir, wie die FDP, Rechtsform- und Finanzierungsneutralität an. Wir sind allerdings realistisch genug, zu erkennen, dass angesichts des bestehenden Konsolidierungsdrucks in allen öffentlichen Haushalten Nettoentlastungen nur insoweit zu realisieren sein werden, als die ausgelösten Wachstumsimpulse zusätzliche Steuereinnahmen bewirken. Die Notwendigkeit einer Reform der direkten Steuern, die die FDP-Fraktion mit ihrem vorliegenden Gesetzentwurf auf den Weg bringen will, ist also unbestritten. Lassen Sie mich zu einigen Details des vorliegenden Gesetzentwurfs sprechen. Sie von der FDP-Fraktion schlagen vor, dass Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteile zur gesetzlichen Rentenversicherung sofort und in voller Höhe steuerlich abzugsfähig sein sollen. Arbeitnehmer, deren Einkommen unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung liegt, sollen weitere Beträge - und zwar bis zum Höchstbeitrag in der gesetzlichen Rentenversicherung - in eine private kapitalgedeckte Altersvorsorge mit steuerlicher Wirkung investieren können. Außerdem sollen auch Selbstständige Altersvorsorgebeiträge bis zu den Höchstbeiträgen in der gesetzlichen Rentenversicherung geltend machen können. Und Sie versprechen noch mehr: Sonstige Aufwendungen zur Alters- und Risikovorsorge sollen über die gesetzlichen Höchstbeiträge hinaus bis zur Höhe von 2 500 Euro zusätzlich abziehbar sein. Demgegenüber sollen die Renten aus diesen steuerfrei gestellten Beiträgen erst zum Zeitpunkt des Zuflusses versteuert werden. Diese Vorschläge verwirklichen zwar konsequent die Zielsetzung der nachgelagerten Besteuerung von Alterseinkünften. Da aber die steuerfreien Einzahlungen in die Rentenversicherung und die dann steuerpflichtigen Auszahlungen viele Jahre auseinander fallen können, ergeben sich für die Zwischenzeit Steuerausfälle in Milliardenhöhe, die kein Finanzminister in dieser Republik vertreten kann. ({3}) Allein die steuerliche Abziehbarkeit der Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung würde in den ersten Jahren zu jährlichen Steuerausfällen in Höhe von über 20 Milliarden Euro führen. ({4}) Wir alle kennen diese Berechnungen. Die über die Pflichtbeiträge hinausgehende Absetzbarkeit von Aufwendungen für die Altersvorsorge würde weitere Steuerausfälle in Milliardenhöhe zur Folge haben. Nach Ihrem Modell sollen Kapitalerträge, die nicht Ausschüttungen von Kapitalgesellschaften sind, mit einer Abgeltungsteuer von 25 Prozent belastet werden. Dieser Abgeltungsteuersatz soll dem Höchststeuersatz für unternehmerische Einkünfte bei Personenunternehmen und Kapitalgesellschaften von ebenfalls 25 Prozent entsprechen. Die Probleme, die sich bei der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ergeben, sowie die verfassungsrechtlichen Bedenken sind bereits angesprochen worden. Meine Damen und Herren von der FDP-Fraktion, Sie werden die Diskussion in der Öffentlichkeit darüber bestehen müssen, dass dann der Seniorpartner einer Anwalts- oder Steuerberatersozietät sein hohes Einkommen mit 25 Prozent versteuern muss, während der angestellte junge Anwalt oder Steuerberater sein Gehalt mit bis zu 35 Prozent versteuern muss. Es handelt sich damit bei der dualen Einkommensteuer in Ihrem Konzept um einen Systembruch. Wie Sie wissen, haben auch wir trotz der verfassungsrechtlichen Problematik vorgesehen, diese Frage vor dem Hintergrund des internationalen Wettbewerbsdrucks zu prüfen. Wir wissen, dass viele andere Staaten Unternehmensgewinne und Kapitalerträge niedriger versteuern. ({5}) Deswegen müssen wir uns über dieses Thema Gedanken machen. ({6}) Wir nehmen Ihre Vorschläge deshalb auf und werden in den Beratungen die vorgezeichnete Frage eines Übergangs zu einem dualen Steuersystem, zu einer dualen Einkommensteuer noch im Detail prüfen. Des Weiteren möchte ich auf die im Entwurf vorgesehene Besteuerung aller Gewinne aus der Veräußerung von Wirtschaftsgütern, die einer wirtschaftlichen Betätigung gedient haben, eingehen, zum Beispiel auch vermietete Immobilien und Wertpapiere. Mit der in der Begründung Ihres Entwurfs aufgenommenen Formulierung - ich zitiere Zur Ermittlung eines eventuellen Gewinns wird als Stichtag der Tag des Inkrafttretens des neuen Einkommensteuergesetzes eingeführt würden Sie zwar das Problem der Rückwirkung inflationärer Scheingewinne entschärfen, aber erhebliche Bewertungsprobleme neu schaffen. Alle Wirtschaftsgüter, die einer wirtschaftlichen Betätigung dienen, müssen zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Gesetzes bewertet werden. Wer weiß, dass Bewertungsfragen die am schwierigsten zu bewältigenden Aufgaben im Steuerrecht sind, wird erhebliche Bedenken gegen diesen Gesetzesvorschlag haben müssen. Lassen Sie mich noch eine Anmerkung zu der Gewinnermittlung im Unternehmensbereich machen. Für alle bilanzierenden Unternehmen soll nach Ihren Vorschlägen der Gewinn als steuerliche Bemessungsgrundlage maßgebend sein, der von dem Unternehmen auf der Grundlage des Handelsrechts ermittelt wird. Dabei sollen auch die International Accounting Standards anwendbar sein. Die steuerliche Bemessungsgrundlage würde dann von Rechnungslegungsvorschriften bestimmt, die dem Einfluss des deutschen Steuergesetzgebers entzogen sind. Ich denke, dass wir das im Deutschen Bundestag nicht beschließen werden. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Solms möchte eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie das zu? - Bitte schön, Herr Solms.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Rzepka, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass wir uns vor dem Hintergrund dessen, dass in Europa verhandelt wird, die Rechnungslegungsvorschriften in Europa zu vereinheitlichen, keine neuen Vorschriften dafür ausgedacht haben. Wir haben gesagt, wir bleiben beim geltenden Recht und warten ab, was auf europäischer Ebene vereinbart wird. Wenn wir zu einheitlichen europäischen Bilanzierungsvorschriften kommen, dann werden diese selbstverständlich übernommen. Bis dahin neue Vorschriften zu erarbeiten, ist eigentlich müßig. ({0})

Peter Rzepka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Solms, ich stimme Ihnen völlig zu, dass wir alles versuchen sollten, um in Europa zu einheitlichen Bemessungsgrundlagen zu kommen. Ich denke aber, wir brauchen auch weiterhin eine Trennung von handelsrechtlichen und steuerrechtlichen Vorschriften, die unterschiedlichen Zwecken dienen. ({0}) Insofern werden wir uns über die steuerlichen Bemessungsgrundlagen noch detailliert Gedanken machen müssen. So einfach, wie Sie es sich in Ihrem Gesetzentwurf gemacht haben, wird es sicher nicht gehen. Abschließend sage ich - das ist hier in der Diskussion schon angesprochen worden -: Die Vorschläge der FDP reißen große Löcher in die Kassen der Finanzminister, die durch etwaige Einnahmeerhöhungen aufgrund der grundsätzlichen Anreizwirkung von Steuersenkungen nicht annähernd aufgehoben werden können. Die Steuerausfälle gehen nach meiner Einschätzung weit über die von Ihnen genannten Beträge von 17 bis 19 Milliarden Euro hinaus. Ich gehe von weit über 30 Milliarden Euro aus. Ich habe auf die Auswirkungen der von Ihnen vorgeschlagenen Besteuerung der Alterseinkünfte hingewiesen. Fazit: Der Entwurf ist notwendig, weil er die Vereinfachung unseres Steuerrechts und die Reform der Unternehmensbesteuerung auf die Tagesordnung dieses Hauses setzt. Auch wir wollen ein einfacheres Einkommensteuerrecht, eine international wettbewerbsfähige Unternehmensbesteuerung und eine Senkung der deutlich zu hohen Staatsquote. Wir wollen aber auch einen Staat, der über die Einnahmen verfügt, die erforderlich sind, um die Daseinsvorsorge für unsere Bürgerinnen und Bürger sozial ausgewogen zu gestalten.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Kollege.

Peter Rzepka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Ende. Ihre steuerpolitischen Konzepte mit dem Ziel der Einführung einer Flat Tax bewirken Einnahmeausfälle auf der Seite von Bund, Ländern und Kommunen, die die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Hand auf allen Ebenen beeinträchtigen. Ich danke Ihnen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Bernd Scheelen für die SPD-Fraktion.

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kollege Lafontaine hat gerade - wie er es gerne macht - ein flammendes Plädoyer für die Einführung einer Vermögensteuer gehalten. ({0}) Dafür gibt es in der Bürgerschaft viel Sympathie. Auch in diesem Haus gibt es für eine Vermögensteuer sicherlich viel Sympathie. ({1}) Er hat allerdings den Eindruck erweckt, als wenn es nur eines Beschlusses dieses Hohen Hauses bedürfe, um eine solche einzuführen. Das ist unredlich. Das zeichnet den Populisten aus. ({2}) Er hätte darauf hinweisen müssen, dass es sich bei der Vermögensteuer um eine Ländersteuer handelt. Das heißt, das Aufkommen einer Vermögensteuer steht den Ländern - es sind bekanntermaßen 16 - zu. Dort herrschen andere Mehrheiten. Man muss sich Niederlagen nicht selbst organisieren. Man muss Realitäten, auch bei den Mehrheitsverhältnissen, zur Kenntnis nehmen. Zwischen dem Herbst 1998 und dem Frühjahr 1999 hat es einen Zeitkorridor gegeben, in dem Sie das als Bundesfinanzminister hätten machen können. In dieser Zeit waren die Mehrheitsverhältnisse passend. Das haben Sie aber nicht hingekriegt. Deswegen sollten Sie mit solchen Argumenten relativ vorsichtig sein. ({3}) Wir sprechen im Moment über einen Gesetzentwurf der FDP-Fraktion. Der Titel des Gesetzentwurfs lautet: „Entwurf eines Gesetzes zur Reform der direkten Steuern“. ({4}) Vor zwei Jahren haben Sie unter dem Titel „Entwurf eines Gesetz zur Einführung einer neuen Einkommensteuer und zur Abschaffung der Gewerbesteuer“ ein Vorläufermodell in den Bundestag eingebracht. Damals waren Sie zumindest im Titel noch ehrlich. Insofern haben Sie hinzugelernt. Die Wörter „Abschaffung der Gewerbesteuer“ stehen nicht mehr im Titel, aber im Text. Am Inhalt hat sich also nicht viel geändert. Insofern sage ich: Alter Wein in neuen Schläuchen; denn auch mit diesem neuen Vorschlag wollen Sie die Gewerbesteuer abschaffen. Unter dem Stichwort „Lösung“ fordern Sie ein „neues, einfaches und verständliches Einkommensteuergesetz“. Zum Thema Verständlichkeit lese ich einen Passus aus Ihrem Entwurf vor, damit die Menschen feststellen können, ob das alles tatsächlich so verständlich ist, wie Sie glauben. § 34 lautet: Bei unbeschränkt Steuerpflichtigen, die mit ausländischen Einkünften in dem Staat, aus dem die Einkünfte stammen, zu einer der deutschen Einkommensteuer entsprechenden Steuer herangezogen werden, ist die festgesetzte und gezahlte und keinem Ermäßigungsanspruch mehr unterliegende ausländische Steuer auf die deutsche Einkommensteuer anzurechnen, die auf die Einkünfte aus diesem Staat entfällt. Die auf diese ausländischen Einkünfte entfallende deutsche Einkommensteuer ist in der Weise zu ermitteln, dass die sich bei der Veranlagung des zu versteuernden Einkommens - einschließlich der ausländischen Einkünfte - nach den §§ 30 und 31 ergebende deutsche Einkommensteuer im Verhältnis dieser ausländischen Einkünfte zur Summe der Einkünfte aufgeteilt wird. Bei der Ermittlung der ausländischen Einkünfte sind die ausländischen Einkünfte nicht zu berücksichtigen, die in dem Staat, aus dem sie stammen, nach dessen Recht nicht besteuert werden. Ich hoffe, Sie alle haben das verstanden. ({5}) Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Ich glaube, hinsichtlich der Verständlichkeit sollten Sie noch etwas nacharbeiten. Neben der Forderung nach einem einfachen und verständlichen Steuerrecht fordern Sie unter dem Punkt „Lösung“, dass der normale Steuerzahler seine Steuererklärung demnächst auf einem DIN-A4-Blatt ausfüllen kann; dazu soll er nicht mehr als eine Stunde brauchen. ({6}) Einmal unabhängig von der Frage, wieso man eigentlich für das Ausfüllen einer einzigen DIN-A4-Seite eine Stunde benötigt ({7}) das haben Sie so formuliert -, darf ich Sie darauf hinweisen, dass es sinnvoll wäre, sich einmal die Internetseite www.bundesfinanzministerium.de anzuschauen. Sie werden feststellen, dass es so ein Formular schon gibt. Es ist ein auf beiden Seiten bedrucktes Blatt. Das ist die vereinfachte Steuererklärung für den normalen Arbeitnehmer. Das Finanzministerium geht davon aus, dass das Ausfüllen dieser Steuererklärung etwa 15 Minuten dauert. Das heißt, das, was Sie vorschlagen, ist eine deutliche Verschlechterung gegenüber geltendem Recht. Schon deswegen können wir das nicht mitmachen. ({8}) - Oh doch! Es ist einfach ein Märchen, dass die Masse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Hause stundenlang über ihrer Steuererklärung brüte. ({9}) Das ist nicht der Fall. Mit dieser vereinfachten Form wird die Mehrzahl der Fälle erfasst. Insofern ist in den letzten Jahren schon eine Menge mit Blick auf Vereinfachung geschehen. Jetzt komme ich zum Punkt Abschaffung der Gewerbesteuer, den Sie aus dem Titel des Gesetzentwurfs gestrichen haben. Sie begründen die von Ihnen vorgeschlagene Abschaffung der Gewerbesteuer damit, dass die Gewerbesteuer in Deutschland international gesehen einmalig sei, dass es sie nirgendwo anders gebe, dass sie eine Zusatzbelastung der deutschen Wirtschaft sei und den Export belaste, den Import aber nicht. Einmal abgesehen davon, dass wir Exportweltmeister sind, kann es so ganz dramatisch mit der Gewerbesteuer nicht sein. Es stimmt aber auch nicht, dass es in anderen Ländern keine vergleichbaren Steuern gibt. Die heißen teilweise sogar Gewerbesteuer. ({10}) Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele: In Luxemburg heißt sie Gewerbesteuer. In Österreich gibt es eine Gewerbesteuer, die sich an der Lohnsumme orientiert. ({11}) Die haben wir in Deutschland bereits vor 30 Jahren abgeschafft. ({12}) - Doch, das war 1971. - In Frankreich gibt es die taxe professionelle; das ist eine Wertschöpfungsteuer. In Japan gibt es die Enterprise Tax, in den USA die Franchise Tax und in Kanada gibt es - hören Sie einmal gut zu die Gewerbekapitalsteuer. Die haben wir, glaube ich, 1998 oder 1999 abgeschafft. ({13}) Die Lohnsummensteuer haben wir, wie ich bereits sagte, vor 30 Jahren abgeschafft. Wenn Sie sich die Namen dieser Länder ansehen, dann stellen Sie fest, dass das viele sind - gerade die USA, Kanada und Japan -, die mit uns auf den Weltmärkten im Export konkurrieren. So dramatisch ist die Situation offensichtlich nicht. Dieses Argument würde ich an Ihrer Stelle in Zukunft nicht mehr verwenden. Das eigentliche Problem im internationalen Vergleich ist - dazu haben Sie eine Menge beigetragen -, dass Sie zu unseren, wie ich finde, relativ moderaten Unternehmensteuersätzen - mit einer Körperschaftsteuer von 25 Prozent sind wir international durchaus konkurrenzfähig - immer die Gewerbesteuer mit 13 Prozent dazurechnen. ({14}) - Das ist ja auch in Ordnung. Es wäre aber noch mehr in Ordnung, wenn man bei den anderen Ländern die kommunalen Steuern dazurechnen und dann den Vergleich machen würde. Das machen Sie nicht. Das ist unredlich und unverantwortlich. Damit schädigen Sie den Standort Deutschland. ({15}) Die Abschaffung der Gewerbesteuer - das muss man einmal in Zahlen ausdrücken - betrifft ein Aufkommensvolumen für die Gemeinden von netto etwa 25 Milliarden Euro. Die Zahlen für 2005 liegen vor. Die Gewerbesteuer beträgt brutto etwa 31 Milliarden Euro. 6 Milliarden Euro gehen an Bund und Länder in Form von Umlagen. Es verbleiben etwa 25 Milliarden Euro. Die wollen Sie den Gemeinden erst einmal wegnehmen. Dann sagen Sie: Natürlich brauchen sie einen Ersatz. Das ist logisch; das kann man den Kommunen nicht ersatzlos wegnehmen. Aber die Frage ist: Wie sieht der Ersatz, den Sie vorschlagen, aus? Sie wollen ein ZweiSäulen-Modell: Zuschlagsrechte auf Einkommensteuer und auf Körperschaftsteuer sowie Eigenbeteiligung an der Umsatzsteuer. Bei der Einkommensteuer gibt es ein Problem; denn von den Einnahmen aus dieser Steuer erhalten die Gemeinden bereits einen Anteil von 15 Prozent. Das entspricht zurzeit einem Betrag von 22 Milliarden Euro. Nach Ihrem Konzept wäre es schon außergewöhnlich schwierig, diese Einnahmen der Gemeinden in Höhe von 22 Milliarden Euro überhaupt zu erhalten; denn Sie wollen die Einkommensteuersätze senken. Dennoch gehe ich davon aus, dass das eventuell gelingen könnte, wenn nämlich die Kommunen sehr hohe Zuschläge erheben würden. Aber selbst dann bliebe bei Abschaffung der Gewerbesteuer immer noch ein Loch von 25 Milliarden Euro. ({16}) Es bleibt also nur noch die Umsatzsteuer übrig. Den Anteil, der den Gemeinden aus den Einnahmen aus dieser Steuer zufließt, wollen Sie um 9,8 Prozent erhöhen. Das würde 14 Milliarden Euro einbringen. Es bliebe also immer noch eine Differenz von 11 Milliarden Euro übrig, die Sie mithilfe der Körperschaftsteuer ausgleichen müssten. Sie müssen mir einmal erklären, wie das gehen soll. Ihren Vorstellungen zufolge sollen sich die Zuschläge für die Gemeinden in einer Größenordnung von 2 bis 4 Prozentpunkten bewegen. Damit die Belastung aus dieser Steuer in Deutschland nicht, wie es mittlerweile der Fall ist, bei 38 Prozent, sondern unter 30 Prozent liegt, wollen Sie einen Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent einführen, ergänzt durch Zuschläge für die Kommunen in Höhe von 2 bis 4 Prozentpunkten. Dann würde die Belastung aus dieser Steuer 27 bis 29 Prozent betragen. Das führt allerdings gerade einmal zu Einnahmen von 2 bis 4 Milliarden Euro, sodass nach wie vor ein Loch von 7 und 9 Milliarden Euro vorhanden wäre. Sie sagen nicht, wie Sie dieses Loch schließen wollen; das können Sie auch gar nicht. Berücksichtigt man, dass Sie die Steuersätze insgesamt senken wollen, ist diese Rechnung - ein Minus von 7 bis 9 Milliarden Euro - sogar sehr konservativ und zu Ihren Gunsten ausgelegt. Vermutlich müssten die Kommunen nach Ihrem Gesetzentwurf sogar auf 15 bis 20 Milliarden Euro verzichten. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Das machen wir nicht mit. ({17}) Die Frage, wie man optisch niedrigere Steuersätze erreichen kann, haben wir Ihnen vor drei Jahren beantwortet. Damals hat die zuständige Kommission das Modell vorgeschlagen, die Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer zu verbreitern und die Steuersätze um 40 Prozent zu senken; darüber könnte man erneut nachdenken. Auf diese Weise sind optisch deutlich niedrigere Steuersätze zu erzielen. Sie geben ja selbst zu, dass Deutschland, was die Steuerbelastung angeht, im internationalen Vergleich gar nicht schlecht dasteht. Das Problem sind die optisch hohen Steuersätze. Dieses Problem lässt sich allerdings auch anders lösen, als Sie es in Ihrem Gesetzentwurf vorschlagen. Wenn es um die Abschaffung der Gewerbesteuer geht, bin ich ganz an der Seite meines Finanzministers, der im Januar dieses Jahres im Finanzausschuss gesagt hat: Wir sind offen für alle Modelle, die die Gewerbesteuer ersetzen können; allerdings müssen sie mindestens genauso gut wie die Gewerbesteuer sein. Er fügte hinzu, dass ihm derzeit kein Modell bekannt sei, das diese Voraussetzung erfülle: weder das der Stiftung Marktwirtschaft noch das des Sachverständigenrates noch der Gesetzentwurf der FDP. Aber es ist ja noch nicht aller Tage Abend. Vielleicht arbeiten Sie noch an Ihrem Modell und verbessern es. Dann können wir wieder darüber reden. Herzlichen Dank. ({18})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Zwischen den Fraktionen ist die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/679 an die Aus- schüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung aufge- führt sind. Abweichend von der Tagesordnung soll die Vorlage an den Haushaltsausschuss ausschließlich ge- mäß § 96 unserer Geschäftsordnung überwiesen wer- den. - Dazu gibt es offensichtlich keine anderweitigen Vorschläge und Sie sind einverstanden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 c sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 g auf: 24 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 8. Dezember 2004 über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zu dem Übereinkommen über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen - Drucksache 16/914 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. März 2005 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Jemen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von Luftfahrtunternehmen auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 16/915 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung und Bereinigung des Lastenausgleichs- rechts - Drucksachen 16/916, 16/955 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ZP 2 a)Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes und des Telekommunikationsgesetzes - Drucksache 16/521 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Luftaufsicht und die Luftfahrtdateien - Drucksache 16/958 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Tourismus c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Jugendstrafvollzug verfassungsfest gestalten - Drucksache 16/851 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({4}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({5}), Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Zwischenbilanz für Integrationskurse des Jahres 2005 vorlegen - Drucksache 16/940 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({6}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute Koczy, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Mit der strategischen Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika Ernst machen und deutsches Engagement ausbauen - Drucksache 16/941 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({7}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Innovationspakt 2020 für Forschung und Lehre in Deutschland - Kooperationen zwischen Bund und Ländern weiter ermöglichen - Drucksache 16/954 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({8}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lutz Heilmann, Eva Bulling-Schröter, Hans-Kurt Hill, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Ein einheitliches Umweltrecht schaffen Kompetenzwirrwarr vermeiden - Drucksache 16/927 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Rechtsausschuss Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Ich komme zunächst zu den Tagesordnungspunkten 24 a bis 24 c sowie zu den Zusatzpunkten 2 a bis 2 f. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Zusatzpunkt 2 g. Die Vorlage auf Drucksache 16/927 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden, jedoch ist die Federführung strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD wünschen die Federführung des Rechtsausschusses, die Fraktion Die Linke wünscht die Federführung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke abstimmen, die Federführung dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu übertragen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Damit ist dieser Überweisungsvorschlag mit den Stimmen der großen Koalition gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP-Fraktion abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD abstimmen, die Federführung dem Rechtsausschuss zu übertragen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist mit den Stimmen der großen Koalition gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen und bei Enthaltung der FDP-Fraktion beschlossen, die Federführung dem Rechtsausschuss zu übertragen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 j auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen hier keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 25 a: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 21. Mai 2003 über die strategische Umweltprüfung zum Übereinkommen über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen ({9}) - Drucksache 16/341 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10}) - Drucksache 16/899 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Jung ({11}) Lutz Heilmann Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 25 b: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes - Drucksache 16/645 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({12}) - Drucksache 16/897 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Peter Jahr Dr. Christel Happach-Kasan Cornelia Behm Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf so zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf bei den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen. Tagesordnungspunkt 25 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({13}) zu der Verordnung der Bundesregierung Zweiundsiebzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 16/361, 16/480 Nr. 2.1, 16/746 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Ditmar Staffelt Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 16/361 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 25 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({14}) zu der Verordnung der Bundesregierung Einhundertzweiundfünfzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 16/362, 16/480 Nr. 2.2, 16/747 Berichterstattung: Abgeordnete Gudrun Kopp Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 16/362 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 25 e: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({15}) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung zur Umsetzung der Ratsentscheidung vom 19. Dezember 2002 zur Festlegung von Kriterien und Verfahren für die Annahme von Abfällen auf Abfalldeponien - Drucksachen 16/573, 16/612 Nr. 2.1, 16/921 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Brand Michael Kauch Sylvia Kotting-Uhl Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 16/573 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 25 f: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({16}) zu der Verordnung der Bundesregierung Erste Verordnung zur Änderung der Zweiundzwanzigsten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ({17}) - Drucksachen 16/574, 16/612 Nr. 2.2, 16/959 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Jung ({18}) Detlef Müller ({19}) Michael Kauch Lutz Heilmann Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 16/574 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion der Linken angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 25 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 21 zu Petitionen - Drucksache 16/828 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 25 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 22 zu Petitionen - Drucksache 16/829 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 22 ist bei Enthaltung der Fraktion der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 25 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 23 zu Petitionen - Drucksache 16/830 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 25 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 24 zu Petitionen - Drucksache 16/831 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht bei Gegenstimmen aus der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Linken angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN Tarifliche Auseinandersetzungen im öffentlichen Dienst Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi. ({24})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben im öffentlichen Dienst gegenwärtig relativ harte und schon lang andauernde Auseinandersetzungen. Die Gewerkschaften haben wegen der Haltung der Kommunen, aber vor allem wegen der Haltung einiger Länder zum Streik aufgerufen. Die Länder sind davon entweder gar nicht oder sehr stark betroffen, je nach Grad der Auseinandersetzung. Was verlangen die Arbeitgeber, die sich, wenn ich das richtig mitbekommen habe - ich denke an die verschiedenen Positionen der Landesminister -, inzwischen nicht mehr einig sind? Sie fordern eine Verlängerung der Arbeitszeit im öffentlichen Dienst ohne jede zusätzliche Lohnleistung. Im Kern ist das nichts anderes als eine Stundenlohnsenkung. Das ist nicht hinnehmbar. ({0}) Dagegen wehren sich die Gewerkschaften. Ich freue mich, dass sie das mit deutlich mehr Selbstbewusstsein als früher tun. ({1}) Es gibt Gerüchte - sie sind häufig in den Zeitungen zu lesen -, denen man Glauben schenkt; das möchte ich auch mir zubilligen. So konnte ich mehrfach lesen, dass wir im Vergleich mit anderen Ländern einen der größten öffentlichen Dienste hätten. Wenn man das ständig liest, glaubt man das irgendwann auch. ({2}) - Sie finden das komisch. Sie arbeiten aber auch nicht im öffentlichen Dienst. Sie bekommen Ihr Geld jeden Monat und keiner verlangt von Ihnen eine Verlängerung der Arbeitszeit. Das ist der Unterschied. ({3}) Wir haben Statistiken über den Anteil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst an der Gesamtheit der Beschäftigten. Je nach Statistik - die Statistiken unterscheiden sich etwas - beträgt ihr Anteil zwischen 12 und 16 Prozent. Der Anteil der Beschäftigten in den öffentlichen Diensten in Großbritannien und in den USA ist höher, in den skandinavischen Ländern ist ihr Anteil sogar doppelt so hoch wie in Deutschland. Nun werden Sie wieder die These aufstellen, dass man in diesen Ländern nichts davon verstehe, nur in Deutschland verstehe man etwas davon. ({4}) Ich glaube, diese These ist falsch. ({5}) Das will ich Ihnen an einem Beispiel deutlich machen. Es wird immer gesagt, wir bräuchten weniger Staat, dort gebe es viel zu viele Beschäftigte. Das ist auch in den Boulevardzeitungen zu finden, die ich mit Interesse lese. Wenn dann aber zum Beispiel in Bad Reichenhall ein Dach zusammenbricht, schreiben die gleichen Zeitungen, dass wahrscheinlich der Bürgermeister dafür verantwortlich ist. Man muss sich entscheiden: Wollen wir Verantwortlichkeit des Staates? Dann muss er aber auch Beschäftigte haben. Wenn wir Sicherheit wollen - ich denke nur an die Feuerwehr -, dann brauchen wir Beschäftigte, und wenn wir Kontrollen wollen, auch. ({6}) Zu sagen, wir bräuchten weniger Beschäftigte, aber dann den Staat für alles verantwortlich zu machen, geht nicht auf. Das ist die falsche Logik, und es ist auch die falsche Philosophie. ({7}) Die nächste Frage, die sich stellt, lautet, ob wir in Deutschland andere Arbeitszeiten haben als in anderen Ländern. Mit seiner Arbeitszeit im öffentlichen Dienst liegt Deutschland im Vergleich zu den Arbeitszeiten der anderen öffentlichen Dienste in Europa über dem EUDurchschnitt, und zwar mit einer halben Stunde pro Woche. Das ist interessant. Im Vergleich zu Ländern wie Italien oder Frankreich haben wir deutlich längere Arbeitszeiten. Die These, dass wir im Vergleich zu anderen Ländern eine kürzere Arbeitszeit hätten, ist falsch. Ich glaube nicht, dass die anderen Länder auch in diesem Punkt falsche Wege gehen. ({8}) Wenn man das alles zusammennimmt, dann ist doch klar, dass eine Gewerkschaft nicht Ja zu einer unbezahlten Verlängerung der Arbeitszeit sagen kann, sondern einen anderen Weg gehen muss. ({9}) Sie muss deutlich machen: Wenn man mehr Beschäftigung will, dann muss man mehr Leute einstellen. Damit würde man, auch im öffentlichen Dienst, ein Problem der Arbeitslosigkeit lösen. ({10}) Ich habe eben gesagt, wie hoch die Anteile der Beschäftigten in den öffentlichen Diensten in Großbritannien, den USA und in Skandinavien sind. Wäre der Anteil in Deutschland genauso hoch, dann hätten wir deutlich weniger Arbeitslose. Sie sind dazu nicht bereit und stellen nicht mehr Leute ein. Darüber hinaus aber noch zu fordern, die Beschäftigten müssten kostenlos länger arbeiten, das ist wirklich der Gipfel. ({11}) Sie müssten wenigstens eine Bezahlung anbieten. Davon ist bisher aber keine Rede. ({12}) Ich habe gesagt, die Gewerkschaften wehren sich. Sie tun das mit einem größeren Selbstbewusstsein, sie haben Nerven und halten das auch länger durch. Die Länder halten das auch länger durch. ({13}) Es gibt immer wieder ein paar Punkte, über die man sich verständigen muss. Hier muss man auch zu einer Auseinandersetzung bereit sein. Ich sage ganz klar: Notdienste dürfen nie eingestellt werden. Man darf sie nicht bestreiken. Allerdings sage ich auch: Der Arbeitgeber darf dann aber auch keine Methoden anwenden, mit denen er den Streik unterläuft, zum Beispiel, indem er Privatfirmen anstellt, um bestimmte Probleme zu lösen. ({14}) Beide müssen also einen bestimmten Grad an Fairness an den Tag legen, damit man es klären kann. Nun sind wir hier nicht die Tarifparteien; das weiß ich. Andere werden die Auseinandersetzung führen; das ist auch richtig. Sie sollen es tun. Es ist aber nicht so absurd, wie Sie denken, dass wir uns damit beschäftigen, wenn es um unsere Angestellten geht. Wir haben eine Menge damit zu tun und wir sollten einen Beitrag dazu leisten, dass es schnell zu einer Lösung kommt und dass nicht der eine Minister das eine und der andere Minister das andere erzählt, sodass für die Bürgerinnen und Bürger dabei nur herauskommt, dass die Dienstleistungen, auf die sie dringend warten, nicht erledigt werden. ({15}) Die Gewerkschaften haben in diesen Punkten Recht, und Ihre Angebote sind indiskutabel. Es tut mir Leid. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht Peter Weiß. ({0}) - Ich bitte Sie, sich wieder hinzusetzen und diese Demonstration nicht im Deutschen Bundestag durchzuführen. ({1}) Demonstrationen kann man draußen abhalten. ({2}) Ich bitte Sie noch einmal herzlich, die Westen auszuziehen. Hier im Deutschen Bundestag führen wir die Auseinandersetzung mit dem gesprochenen Wort und nicht mit Transparenten oder Westen. Das wissen Sie auch. Deswegen bitte ich Sie herzlich, die Westen auszuziehen oder den Raum zu verlassen und vielleicht vor der Tür zu demonstrieren. ({3}) Jetzt hat der Abgeordnete Peter Weiß, CDU/CSUFraktion, das Wort. ({4})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, man muss allen Bürgerinnen und Bürgern, die jetzt zuschauen, sagen: Hier hat soeben ein Politiker gesprochen, der Mitglied einer Landesregierung war, ({0}) die für den öffentlichen Dienst Verantwortung trägt, der sich in Berlin aus dem Staub gemacht hat und der vor der Verantwortung geflohen ist. Dann kann man keine solche Rede halten. ({1}) Hier hat gerade jemand von allem Möglichen geredet, aber nicht von den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes. ({2}) Die konkreten Auswirkungen von sechs Wochen Streik im öffentlichen Dienst sehen doch so aus, dass sich viele Bürgerinnen und Bürger zum Beispiel Sorgen darüber machen, wann endlich der Müll vor der Haustür wegkommt. Die Realität sieht doch so aus, dass manche Eltern ihren Jahresurlaub einsetzen, um die Kinder zu Hause zu betreuen, weil die Kindertagesstätte geschlossen ist. Deswegen erfüllen die praktischen Auswirkungen dieses Streiks die Bürgerinnen und Bürger zu Recht mit großer Sorge. ({3}) Gemäß dem Politbarometer des ZDF fordern mittlerweile 61 Prozent der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes das Ende der Ausstände bzw. des Streiks im öffentlichen Dienst. ({4}) Peter Weiß ({5}) Von diesen Bürgerinnen und Bürgern hat Herr Gysi nicht gesprochen. Er kennt sie offensichtlich nicht. ({6}) In unserer Verfassung, dem Grundgesetz, spielt die Tarifautonomie zu Recht eine große Rolle. Für den Tarifstreit und für den Abschluss von Tarifverträgen tragen die Tarifpartner, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer, Verantwortung. In den konkreten Diskussionen, die derzeit geführt werden, sind es die Länder und die Kommunen als öffentliche Arbeitgeber und die Gewerkschaften, mit denen sie verhandeln. Alle Erfahrungen lehren: Wenn sich in die Tarifverhandlungen zwischen den verantwortlichen Arbeitgebern und Arbeitnehmern diejenigen einmischen, die gar nicht zuständig sind - wir als Bund haben unseren eigenen Tarifvertrag und sind für das Thema überhaupt nicht zuständig -, wird es in der Regel nicht besser, sondern schlechter. ({7}) Deswegen gilt: Auch wenn man in der Opposition sitzt und vor allen Dingen in Talkshows gerne viel schwätzt, ({8}) so ist es doch manchmal besser, in einer Sache, für die man nicht zuständig ist und für die man keine Verantwortung trägt, den Mund zu halten. ({9}) Der Linken in diesem Parlament kommt es mit der Aktuellen Stunde nur darauf an, aus dem Streik und der derzeitigen Tarifauseinandersetzung parteipolitisches Kapital zu schlagen. ({10}) Um eine Lösung in der Sache geht es der Linken nicht. Wir alle - die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger - haben ein Interesse daran, dass der Tarifkonflikt möglichst bald zu einem Ende kommt und dass ein Abschluss zwischen öffentlichen Arbeitgebern und Gewerkschaften erfolgt. Nur eine Seite in diesem Parlament hat daran kein Interesse: die Linke. Sie ist die Einzige, die diesen Streik aus parteipolitischen Gründen verlängern will. ({11}) Der Kollege Gysi mit seinem wirtschaftspolitischen Sachverstand, den er gerade eben bewiesen hat ({12}) - dieser angebliche Sachverstand -, ({13}) hat schon einmal in einem Teil Deutschlands zeigen können, zu welch großartigen Erfolgen dies führt. ({14}) Der wirtschaftspolitische Sachverstand eines Herrn Gysi und seiner Genossen einschließlich der Überbürokratisierung und der Riesenverwaltung ({15}) haben doch die alte DDR in den Ruin und in den Bankrott getrieben. ({16}) Diese Art von Sachverstand hinsichtlich des öffentlichen Dienstes, wie ihn ein Herr Gysi und seine Genossinnen und Genossen vertreten, brauchen wir in Deutschland wahrhaft nicht, wenn wir den öffentlichen Dienst der Zukunft gestalten wollen. ({17}) Wenn eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema überhaupt Sinn macht - ich frage mich noch immer, ob der Bundestag über eine Sache diskutieren soll, für die er keine Verantwortung trägt -, dann den, an die Tarifpartner, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, zu appellieren, die Tarifautonomie ernst zu nehmen, Einigungswillen zu zeigen und möglichst bald zu einem positiven Ergebnis zu kommen, mit dem der öffentliche Dienst in Deutschland in Zukunft eine Chance hat, seine Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, und mit dem auch die öffentlichen Arbeitgeber finanziell nicht überfordert werden, sondern ihrer Verantwortung gerecht werden können. Vielen Dank. ({18})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Liebe Kolleginnen und Kollegen, einige haben in der Auseinandersetzung von vorhin das Wort „Schweinebande“ gehört. Wir werden mit dem Stenografischen Dienst prüfen, ob dem so gewesen ist. ({0}) Wenn dem so gewesen ist, dann wird natürlich festgestellt, dass das ein unparlamentarischer Ausdruck ist. ({1}) Da ich dies selber nicht gehört habe, können wir das nur mithilfe des Stenografischen Dienstes prüfen. Ich gebe jetzt das Wort dem Kollegen Dirk Niebel.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem sich die Linke bundesweit wie die Kesselflicker streitet, war das, was wir gerade eben im Bundestag erlebt haben, wahrscheinlich ein gruppendynamisches Experiment. Ein uncharmanter Kollege meinte, Sie hätten mit den Müllsäcken besser ausgesehen. ({0}) Nichtsdestotrotz bin ich nach sechs Wochen Streik in Baden-Württemberg quasi ein Experte für Müllsäcke. Wenn Ihr Gesamtkunstwerk realistisch hätte sein sollen, dann hätten Sie auch einige von diesen kleinen possierlichen Tierchen mit den langen nackten Schwänzen mitbringen sollen, damit diese über Ihre Müllsäcke hätten laufen können; denn das ist die Situation in Deutschland, nicht das Kasperletheater, das Sie hier im Parlament veranstalten. ({1}) Der Redner der PDS gehörte einer Landesregierung an, die sich mit einem sehr „soliden“ Haushalt aus der Tarifgemeinschaft der Länder verabschiedet hat. Deswegen ist sein Vortrag hier besonders glaubwürdig gewesen. ({2}) Tatsächlich geht es aber darum, dass wir im letzten Monat 5 047 668 registrierte Arbeitslose hatten. Sie hingegen reden über einen Streik, bei dem es um 18 Minuten Mehrarbeit geht, ({3}) und zwar in einem Arbeitsmarktsegment, in dem die Arbeitsplätze nicht nur als sicher gelten können, sondern sicher sind. ({4}) Ich könnte für diesen Streik vielleicht noch ein gewisses Verständnis aufbringen, wenn es die erste Auseinandersetzung um Mehrarbeit in Deutschland wäre. Es ist aber eine Auseinandersetzung aus dem vergangenen Jahrhundert, ein Rückzugsgefecht. In ganz Deutschland arbeiten die Beamten weitaus länger als 38,5 Stunden. ({5}) In Ostdeutschland - übrigens auch in den Ländern, in denen Sie mitregieren, meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen von der Linken - arbeiten Angestellte und Arbeiter länger als 38,5 Stunden. Alle, die neu eingestellt oder befördert werden, arbeiten länger als 38,5 Stunden. ({6}) Hier geht es um ein Rückzugsgefecht in einer Auseinandersetzung des vergangenen Jahrhunderts, weil ein durchgeknallter grüner Gewerkschaftsfunktionär versucht, ({7}) die Verbändemacht zu stärken und den Bedeutungsverlust der Gewerkschaften aufzuhalten. ({8}) Dieser Gewerkschaftsfunktionär der Grünen hat es als Aufsichtsrat bei der Lufthansa als Einziger geschafft, sich mit Verdi selbst zu bestreiken. Das versteht beim besten Willen kein Bürger mehr in diesem Land. ({9}) Wenn aber, wie am vorletzten Wochenende in Bayern und Baden-Württemberg, wetterbedingt 2 100 Verkehrsunfälle mit 220 Verletzten und acht Todesfällen passieren, dann endet jedes Streikrecht. ({10}) Die Bürgerinnen und Bürger sind verzweifelt. Sie führen einen Streik gegen die Menschen in diesem Land. Der „Tagesspiegel“ schreibt heute über die Situation von berufstätigen Eltern - ich zitiere eine Dame, die über ihre Situation berichtet -: „Im Prinzip geht der ganze Jahresurlaub drauf“, rechnet die arbeitende Mutter vor, weil die regulären 21 Schließtage der Tageseinrichtung hinzukämen. „Unverschämtheit“, findet das Petra Hummel. Recht hat sie! ({11}) Sie machen einen Arbeitskampf zulasten der Bürgerinnen und Bürger. Sie tun so, als wollten Sie sich für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf einsetzen. Stattdessen nehmen Sie aber den Menschen die Möglichkeit, Kinder und Beruf miteinander zu vereinbaren. ({12}) Sie sind die wahren Unsozialen! Sie sind die Klassenkämpfer in diesem Land. Sie vernichten Existenzen. ({13}) Zufälligerweise wird in zehn Tagen in drei Bundesländern gewählt. Die Bürgerinnen und Bürger in Sachsen-Anhalt erinnern sich sehr genau, wie es damals unter der von Ihnen tolerierten SPD-Regierung war. Die Ministerpräsidenten der Wahlkampf führenden Länder, Herr Beck und Herr Oettinger, rollen in mannhaftem Mutbeweis die Fahne langsam ein. Das erinnert ein wenig an Selbstmord aus Angst vor dem Tod. So werden Sie keine absolute Mehrheit bekommen, Herr Oettinger. Hier ist keine Hasenfüßigkeit, sondern Standhaftigkeit gefordert. ({14}) Deswegen werden wir - wie die Menschen in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie, die sich nicht von der IG Metall haben vergewaltigen lassen und erfolgreich gegen die Einführung der 35-Stunden-Woche gekämpft haben - standhaft bleiben. ({15}) Wir unterstützen die Bürgerinnen und Bürger darin, dass durchgesetzt wird, dass man in diesem Land öffentliche Dienstleistungen in Anspruch nehmen kann. Wir sind der festen Überzeugung, dass all diejenigen, die den Streik vorangetrieben haben, ihren Mitgliedern einen Bärendienst erweisen. Denn spätestens bei den nächsten Haushaltsberatungen in den Kommunen ({16}) wird jeder einzelne Bürgermeister und jeder einzelne Landrat darüber nachdenken müssen, wo die Dienstleistungen funktioniert haben, und feststellen, dass die Durchführung in privater Trägerschaft teilweise besser und günstiger funktioniert hat als in öffentlicher Hand auf Kosten des Steuerzahlers. Sie erweisen Ihren Mitgliedern und auch der Bevölkerung einen Bärendienst. Vielen herzlichen Dank. ({17})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD-Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Sigmund Ehrmann.

Siegmund Ehrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003521, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war das volle Programm „Niebel live“. Wenn man etwas mehr Ruhe in die Diskussion bringen würde, dann würde man möglicherweise den wahren Kern des Konfliktes erkennen, Herr Gysi. Es ist zwar interessant, sich über die volkswirtschaftlichen Auswirkungen auseinander zu setzen, aber dass es bei der speziellen Art der Auseinandersetzung der Tarifgemeinschaft deutscher Länder mit der anderen Seite möglicherweise um etwas ganz anderes als um den konkreten Verhandlungsgegenstand geht, ({0}) sollte meines Erachtens deutlicher herausgearbeitet werden. Ich möchte mich jedenfalls nicht - hier schließe ich mich Herrn Peter Weiß ausdrücklich an - in fremde Geschäfte einmischen. Gleichwohl sollte uns dieses Thema nicht entgleiten. Herr Weiß, Sie haben auf ein wichtiges Element unserer Verfassung hingewiesen, nämlich die Tarifautonomie. ({1}) Die Garantie der Koalitionsfreiheit schließt auch das Instrument der Tarifautonomie ein. Das setzt allerdings voraus, dass diejenigen, die in diesem Sektor eigenverantwortlich agieren, sehr verantwortungsbewusst mit diesem Instrument umgehen. Wenn ich mir die aktuelle Tariftopographie genau anschaue, dann stelle ich fest, dass der jetzige Tarifkonflikt auf der Länderebene deutlich hervortritt. Mir bleibt daher nicht erspart, den Verhandlungsführer der Tarifgemeinschaft deutscher Länder ins Auge zu fassen. Die Art und Weise, wie Herr Möllring ({2}) mit diesem Konflikt umgeht, zeigt, dass er die Rolle, die ein Verhandlungsführer unter Partnern hat, nicht angenommen hat. ({3}) Die Rolle beinhaltet, dass man den Beteiligten die Chance gibt, sich in ihren Positionen anzunähern. Das ist bei seiner Art und Weise der Verhandlungsführung noch nicht einmal ansatzweise zu erkennen. Ich habe gelesen, dass Herr Möllring Judoka ist. ({4}) In dieser Sportart gibt es spezielle Regeln und der Stärkere gewinnt. Das ist allerdings nicht die Rolle, die einem Verhandlungsführer in einem Tarifkonflikt des öffentlichen Dienstes gemäß ist. ({5}) Ich glaube, dass hier ganz gewaltig nachgearbeitet werden muss. Die Verhandlungsstrategie der Tarifgemeinschaft deutscher Länder ist für mich nichts anderes als die Wiederholung einer grundlegenden politischen Auseinandersetzung, die wir im Bundestagswahlkampf hatten. Große Koalition hin, große Koalition her, der Konflikt besteht zwischen dem aus sozialdemokratischer Sicht hohen Gut der Tarifautonomie und des Flächentarifvertrags auf der einen Seite und dem Instrument „Betriebliche Bündnisse“ auf der anderen Seite. Wir bekennen uns in der Koalitionsvereinbarung eindeutig zur Tarifautonomie und zum Flächentarifvertrag. Daran werden wir uns als öffentlicher Arbeitgeber auf Bundesebene halten. Es stellt sich die Frage nach den Beweggründen der Bundesländer. Für mich ist eindeutig erkennbar, dass der Flächentarifvertrag zerschlagen werden soll. Die Tarifgemeinschaft deutscher Länder, ein wichtiger Akteur, droht dabei zu zerbrechen. Das ist auch im Hinblick auf einen anderen Leitgedanken sehr problematisch. Es geht um öffentliche Dienstleistungen, die für Menschen erbracht werden. Dabei bestimmen die Tarif- und die Arbeitsbedingungen die Standards der öffentlichen Aufgabenerfüllung. Daher appelliere ich eindringlich an die Tarifvertragspartner, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, zur Vernunft zu kommen, sich anzunähern und schließlich zu einigen, damit dieser Tarifkonflikt möglichst bald beendet wird und damit weiterhin die Qualität bei der Erledigung der öffentlichen Aufgaben verantwortungsbewusst sichergestellt werden kann. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich erteile das Wort der Kollegin Silke Stokar, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe befürchtet, dass wir uns mit der heutigen, von der Linksfraktion beantragten Aktuellen Stunde keinen Gefallen tun. ({0}) Das Stichwort „Tarifautonomie“ ist bereits genannt worden. Tarifautonomie bedeutet laut Verfassung, dass sich die Politik zurückhält, dass die Tarifpartner ohne Einmischung von Staat und Politik ihre Auseinandersetzungen regeln. Tarifautonomie bedeutet aber auch - das sage ich an die Adresse von Herrn Niebel von der FDP -, dass wir in Deutschland ein Grundrecht auf Streik haben. Es gibt ja zwei FDPen: zum einen die Bürgerrechts-FDP und zum anderen Herrn Niebel, der hier eine gewerkschaftsfeindliche Rede gehalten hat. ({1}) Ich denke, es steht dem Parlament nicht zu, in einer solchen Auseinandersetzung den Vorsitzenden einer Gewerkschaft so anzugreifen und zu diskreditieren. ({2}) Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst leisten einen unverzichtbaren Beitrag zu Stabilität und Lebensqualität in unserem Land. Das merken wir alle, wenn die Dienstleistungen vorübergehend nicht zur Verfügung stehen. Ich komme aus Niedersachsen und kenne Herrn Möllring, den die Länder zu ihrem Verhandlungsführer gemacht haben, sehr gut und kann nur sagen: Es ist nicht der berechtigte Streik der Gewerkschaften, sondern das Machogehabe des Herrn Möllring, ({3}) das dazu führt, dass über einen so langen Zeitraum die Kindergärten geschlossen sind und es zur Benachteiligung von Müttern und Vätern kommt, die auf die Kinderbetreuung angewiesen sind. ({4}) Herr Möllring hat klar und deutlich gesagt, dass er keinen Tarifvertrag und keine Einigung will. Tarifautonomie setzt aber Vernunft voraus. ({5}) Ich möchte aber auch einige Fragen an die Linkspartei stellen, da noch ein Redner von ihr sprechen wird. Ich lasse Ihnen Ihre Unglaubwürdigkeit nicht so einfach durchgehen. Erste Frage: Wie lange arbeiten denn die Beamten in Berlin, wo Sie an der Regierung beteiligt sind? ({6}) Zweite Bemerkung: Seit die PDS Koalitionspartner in Berlin ist, sind 14 000 Stellen im öffentlichen Dienst in Berlin abgebaut worden. ({7}) Im Grünflächenamt wurden 1 000 Stellen durch 1-EuroJobs ersetzt. Berlin war das erste Land, das den Flächentarifvertrag verlassen hat und aus der Tarifgemeinschaft der Länder ausgeschert ist. Sie haben sich darauf eingelassen - ich kann das angesichts der Finanzlage von Berlin nachvollziehen -, Personalkosten in Höhe von 1,75 Milliarden Euro bis 2006 einzusparen. ({8}) Mir geht es nicht darum, diese Maßnahmen im Einzelnen zu kritisieren. Mir geht es darum, dass die PDS und die WASG im Bundestag so tun, als wären sie die Rächer der Enterbten. Zu Recht sagt die WASG in Berlin in Richtung PDS, dass diese, wenn sie in Regierungsverantwortung ist, eine neoliberale Politik macht. Etwas mehr Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit, Genossen, wäre schon angebracht. ({9}) Dann können wir uns gemeinsam sachlich mit diesen Themen auseinander setzen. Ich danke Ihnen. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Werner Kammer von der CDU/CSU. ({0})

Hans Werner Kammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Dass diese Aktuelle Stunde gerade auf Antrag der Fraktion Die Linke stattfindet, wundert mich sehr. ({0}) - Lassen Sie mich doch ausreden. - Denn deren ideologische Vorgänger haben in ihrem System das Instrument Streik nicht gekannt. ({1}) Umso mehr erstaunt mich die Wende, die Sie heute vollzogen haben. Mit Ihrem Theater ging es Ihnen nicht darum, den Menschen in Deutschland und den Streikenden zu helfen, sondern um billige Stimmungsmache in diesem Parlament. ({2}) Zum Thema: Der seit sechs Wochen andauernde Streik im öffentlichen Dienst richtet sich nicht direkt gegen Unternehmen; er schadet aber der Wirtschaft und wird auf dem Rücken der Bürgerinnen und Bürger, die für die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst aufkommen müssen, ausgetragen. ({3}) Es ist nicht nachvollziehbar, dass sich die Gewerkschaft Verdi der 18-minütigen täglichen Mehrarbeit verweigert, ({4}) die in der freien Wirtschaft längst Realität ist. - Durch Zwischenrufe werden Ihre Argumente nicht besser. ({5}) Sie müssen zur Kenntnis nehmen: Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt diesen Streik ab und will die 40-Stunden-Woche im öffentlichen Dienst, die im Übrigen bei großen Teilen der Gewerkschaften selbst schon praktiziert wird. Auch das müssen wir bei dieser Gelegenheit zur Kenntnis nehmen. ({6}) Verdi erzeugt mit der realitätsfernen Haltung eine negative Stimmung in der Bevölkerung gegen den öffentlichen Dienst, obwohl die Beschäftigten dort zweifellos gute Arbeit leisten. Verdi leistet auch dem Vorschub, dass wir in Zukunft verstärkt über Privatisierungen werden nachdenken müssen. ({7}) Die 40-Stunden-Woche ist von der Tarifgemeinschaft der Länder mit großer Mehrheit beschlossen worden und mit diesem Votum ist der niedersächsische Finanzminister Hartmut Möllring konsequent in die Verhandlungen gegangen. Deshalb darf ihm seine Verhandlungsführung hier heute nicht vorgeworfen werden. ({8}) 40 Stunden Dienst in der Woche ergeben 18 zusätzliche Minuten Arbeit pro Tag und nicht 14 Minuten, wie von Verdi vorgeschlagen. Auch die Staffelung der Mehrarbeit nach Verdienstgruppen löst das finanzielle Problem der Länder nicht. Daher werden auch die in den Kommunen getroffenen Abschlüsse mit dieser Regelung auf Dauer nicht haltbar sein. Auch das sei hier angemerkt. Tatsache ist, dass die öffentlichen Haushalte entlastet werden müssen. Daran haben alle Länder ein Interesse, auch jene, die damit drohen, aus der Tarifgemeinschaft auszutreten. Die bevorstehenden Landtagswahlen ändern daran ebenfalls nichts. Vielmehr sind jetzt Weitsicht und Vernunft das Gebot der Stunde. Dies bedeutet konkret, dass Tarifabschlüsse nicht von politischen Stimmungen abhängig gemacht werden dürfen - wie hier auf der linken Seite -, sondern von der Realität abhängig gemacht werden müssen. ({9}) Die Realität zeigt, dass es Unterschiede gibt zwischen den Angestellten des öffentlichen Dienstes und den Arbeitern und Angestellten in der Wirtschaft, die oft mehr als 40 Stunden in der Woche arbeiten müssen. In diesem Zusammenhang verweise ich auf ein sehr interessantes Zitat Ihrer Kollegin Pau. Auf der Internetseite der Gewerkschaft Verdi ist zu lesen: Ich finde es richtig, dass die Beschäftigten im öffentlichen Dienst sich gegen längere Arbeitszeiten wehren ({10}) - lassen Sie mich doch erst ausreden! -, weil es nicht um 18 Minuten pro Tag geht, sondern darum, ob die Differenz zwischen Arm und Reich noch größer wird. Es geht also um nicht mehr und nicht weniger als um gesellschaftliche Gerechtigkeit. ({11}) Wenn Kollegin Pau wirklich gesellschaftliche Gerechtigkeit will, dann müsste es doch in ihrem Interesse sein, dass die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes die gleiche Arbeitszeit haben wie die Beamten und die meisten Arbeitnehmer in den Betrieben der freien Wirtschaft. Das wäre gerecht. ({12}) Ich fordere die Mitglieder der Tarifgemeinschaft zur Geschlossenheit auf. Hartmut Möllring hat einen klaren Auftrag. Der Auftrag heißt: 40-Stunden-Woche für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. ({13}) Hinter diesem Auftrag steht die Unionsfraktion geschlossen. Wer jetzt aus der Reihe der Länder ausschert, gefährdet den Erfolg und die Handlungsfähigkeit der Tarifgemeinschaft. Ich bin der festen Überzeugung, dass es den Tarifparteien gelingen wird, diesen Konflikt ohne Schlichtung im Interesse aller kurzfristig zu lösen. Es geht nämlich nicht um 18 Minuten Mehrarbeit; es geht vielmehr darum, dass auch die Angestellten im öffentlichen Dienst einen Beitrag zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte leisten. Gesellschaftliche Gerechtigkeit heißt auch, mit dem Geld der Steuerzahler sorgfältig umzugehen. Dazu gehört besonders, sich auf verantwortbare Tarifabschlüsse zu einigen. ({14}) Deshalb steht die Union fest an der Seite von Hartmut Möllring. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Kammer, ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Ich habe jetzt die unangenehme Aufgabe, zwei Kollegen zu rügen. Der Kollege Reinhard Grindel hat dazwischengerufen: „Lafontaine, das ist die Schweinebande, die hinter dir sitzt!“ und der Kollege Ernst Burgbacher hat folgenden Zwischenruf gemacht: „Schämt ihr euch eigentlich nicht? Diese Proleten!“ Diese Ausdrucksweisen entsprechen nicht dem parlamentarischen Sprachgebrauch. Ich rüge das. Der nächste Redner ist der Kollege Klaus Ernst von der Fraktion Die Linke. ({1})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wollt ihr eure Unflätigkeiten vor oder nach meiner Rede austauschen? Ihr könnt es auch gleich machen. ({0}) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte als Erstes auf Sie eingehen, Herr Weiß. Ich habe mit Freude zur Kenntnis nehmen können, dass Sie den Rücktritt von Herrn Gysi bedauern. Schön! Sie hätten allerdings auch zur Kenntnis nehmen müssen, dass er sein Amt verlassen hat, nachdem er es angetreten hatte. (Lachen des Abg. Peter Weiß ({1}) ({2}) Der Ministerpräsident aus Bayern ist einer, der das schon vorher schafft. Das ist eine große Leistung. ({3}) Zweitens. Ich würde gern mit Ihnen über das reden, was denn in diesem Streik eigentlich los ist und welche Rolle der öffentliche Dienst hat. Ich habe das bisher so verstanden, dass wir uns auch ein wenig darum kümmern, dass in diesem Bereich, im öffentlichen Sektor, vorbildliche soziale Standards gelten und dass dort die Dinge auch einigermaßen in Ordnung sind. Jetzt stelle ich fest: In dieser Auseinandersetzung geht es darum, dass sich gerade der öffentliche Dienst, voran die Länder, zum Vorreiter bei der Umsetzung der Beschlusslage des Bundesverbandes der Deutschen Industrie macht. Das alles, auch die Verlängerung der Arbeitszeit, können Sie in dessen Programmen nachlesen. ({4}) Wenn inzwischen die öffentliche Hand und vor allem die Länder die Tür für weitere Arbeitszeitverlängerungen aufstoßen, dann stößt die Industrie nach - das ist doch klar - und will dasselbe, was Sie den Beschäftigten im öffentlichen Dienst zumuten. ({5}) Da sagt man immer, es gehe um 18 Minuten; ({6}) weil jeder 18 Minuten länger arbeiten könne, sei das kein Thema. Natürlich kann man 18 Minuten länger arbeiten. Wir können auch eine Stunde länger arbeiten. Wir können auch wieder 42 Stunden arbeiten, so wie das in Bayern im öffentlichen Dienst der Fall ist. ({7}) Wir können in Krankenhäusern auch wieder Beißkeile einführen, statt Anästhesie zu betreiben. ({8}) Sie würden auch dazu sagen, das sei ein Fortschritt, Herr Niebel. Das ist das Problem, das wir hierzulande haben. Es ist aber ein Rückschritt. ({9}) - Ja, ja, ich habe mir gedacht, dass Sie das ärgert. Aber manchmal muss man die Wahrheit sagen. Sie tun immer so, als wäre das, was Sie hier im Parlament vertreten, ein großer Fortschritt. Was Sie hier vertreten, Herr Niebel, ist der Weg zurück, ({10}) über die Industrialisierung zurück bis ins Mittelalter. Da gehört ihr eigentlich hin. ({11}) Weil wir gerade dabei sind, möchte ich etwas zu Ihrem Antrag zum Streikrecht sagen, Herr Niebel. Man darf nicht mehr streiken, wenn es schneit, weil die Straßen dann nicht geräumt werden. Man darf nicht mehr streiken, weil dann der Müllberg liegen bleibt und darüber die Ratten laufen. ({12}) Ich sage Ihnen: Wenn es nach Ihnen geht, darf man in diesem Land nur noch streiken, wenn die Sonne scheint. Was ist das für ein Streikrecht? ({13}) - Ach, mein Gott! Da werden die Beschäftigten im öffentlichen Dienst als Mörder bezeichnet. Ist Ihnen eigentlich klar, dass es bei dieser Auseinandersetzung auch noch andere gibt, unter anderem Ministerpräsidenten und Minister der Länder, die gut verdienen und den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes dauernd an die Geldbörse gehen? Das halte ich für eine Sauerei hierzulande. ({14}) Natürlich wird immer sehr gern darauf verwiesen, dass aus Gründen der Konkurrenz mit anderen Ländern länger gearbeitet werden muss. Dazu hat der Herr Gysi schon einiges gesagt. Es ist so, dass wir in Deutschland den öffentlichen Dienst inzwischen zum Vorreiter beim Abbau von sozialen Leistungen machen. Das kann aber nicht Aufgabe von staatlichen Instanzen sein, auch nicht von Länderregierungen. ({15}) Wenn in Italien und in anderen Ländern Europas kürzer gearbeitet wird, dann ist es nicht notwendig, aus irgendwelchen internationalen Gründen bei uns länger zu arbeiten. Ich sage Ihnen, um was es wirklich geht. Sie erklären, 18 Minuten, das sei gar nicht so lange. Vielleicht ist Ihnen Folgendes aufgefallen: Wenn eine um 18 Minuten verlängerte Arbeitszeit gelten würde, würde das unmittelbar zum Abbau von Arbeitsplätzen führen. ({16}) Sie machen sich darüber lustig, dass 250 000 Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst verteidigt werden. Die würden Sie offensichtlich gern abbauen. Ich halte das für einen Skandal. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss; das wird Sie sehr freuen. ({17}) Ich möchte in dieser Frage auch die SPD nicht ganz aus der Verantwortung nehmen. Ihr habt jetzt auf den Möllring eingeschlagen. Da habt ihr Recht; denn er will eigentlich gar keinen Tarifvertrag mehr. Freiheit heißt für ihn, Freiheit von Tarifverträgen; er will keinen Tarifabschluss mehr. Das ist der eigentliche Punkt. ({18}) Aber dass ihr jetzt so besonders freundlich zu den Gewerkschaften seid, insbesondere indem ihr Möllring kritisiert und damit eine Nähe zu den Gewerkschaften herstellt, kann ich euch nicht mehr so ganz glauben. ({19}) Ich habe den Eindruck, dass der eine oder andere auch von euch den Dolch im Gewande hat. Der kommunale Arbeitgeberverband in BadenWürttemberg wird durch den Bürgermeister von Pforzheim vertreten, der in der SPD organisiert ist, ({20}) aber selber die ganzen Schweinereien mitmacht. Tut doch nicht so, als wärt ihr nicht selber für die Arbeitszeitverlängerung im öffentlichen Dienst! Das ist doch das eigentliche Problem: Die Sozialdemokraten machen bei der Arbeitszeitverlängerung mit. ({21}) Das müsst ihr ändern. Dann wird die Situation in diesem Land wieder einigermaßen vernünftig.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege Ernst.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, komme ich gleich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nein, sofort.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir können zwar noch nicht -

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Ernst, Ihre Redezeit ist längst vorbei. Es ist jetzt Schluss!

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Gut. - Dann bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit. Wir können noch nicht verhindern, was Sie da treiKlaus Ernst ben; aber wir können es wenigstens ordentlich sagen und das tun wir auch. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Gunkel von der SPD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Gunkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003762, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem hier die Wellen hochgeschlagen und Demonstrationen im Parlament abgehalten worden sind, ({0}) will ich versuchen, das Thema nun sachlich anzugehen und die Sache durch die Betrachtung des historischen Ablaufs auf einen Punkt zu bringen. Zunächst einmal, Herr Niebel, ist die Argumentation mit den 18 Minuten wirklich lächerlich. Das hat sich in verschiedenen Ländern gezeigt. Da Sie aber von der Sicherheit der Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst gesprochen haben, möchte ich einmal darauf verweisen, dass in den letzten zehn Jahren 1,5 Millionen Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst abgebaut worden sind. ({1}) Davon sind insbesondere diejenigen betroffen, die befristete Beschäftigungsverhältnisse haben, ({2}) also vor allem an Hochschulen und Unikliniken. ({3}) - Richtig. - Auch betriebsbedingte Kündigungen sind durchgeführt worden, die natürlich mit Sozialplänen unterlegt waren. Aber festzustellen bleibt, dass 1,5 Millionen Arbeitsplätze weniger zur Verfügung stehen als vor zehn Jahren. Hier von sicheren Arbeitsplätzen zu sprechen, dürfte wohl der Vergangenheit angehören. ({4}) - Nein, machen wir nicht. Ich sage Ihnen gleich, was wir machen. Angesichts des historischen Ablaufes muss man - darum muss ich auch unseren Koalitionspartner bitten - ein klein wenig Verständnis für die Gewerkschaften aufbringen. Denn sie mussten zur Kenntnis nehmen, dass es - das war besonders im Jahre 2003 der absolute Hit mit dem Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetz für die Beamten erstmalig möglich war, durch die Öffnungsklauseln für die Länder entsprechende Veränderungen beim Weihnachtsgeld und beim Urlaubsgeld vorzunehmen. Das war der Ausgangspunkt. Diese Möglichkeit ist übrigens von den Ländern reichlich genutzt worden. Die Weihnachtsgelder sind radikal zusammengestrichen worden, teilweise auf Taschengeldhöhe. Das Urlaubsgeld ist ganz weggefallen. Gleichzeitig wurde die Arbeitszeit von 40 auf 41 Stunden, in Bayern sogar auf 42 Stunden, angehoben. Das bedeutet eine Verkürzung des Einkommens bei gleichzeitiger Verlängerung der Arbeitszeit, was per Gesetz für die Beamten beschlossen worden ist. Man kann das auch ein Diktat nennen. ({5}) - Das räume ich gerne ein. Ich bin darüber nicht begeistert, Herr Wieland; aber ich nehme das einfach mal zur Kenntnis. ({6}) Tatsache bleibt aber, dass man damit etwas sehr Populäres - auf die Beamten kann man ja einschlagen durchgesetzt hat, was vorher nicht möglich war; es ist erst durch die Öffnungsklauseln möglich geworden. Nun müssen wir wissen, dass die Gewerkschaft Verdi, die die öffentlich Beschäftigten vertritt, das erkannt hat und sich von den Nebelkerzen nicht hat beeindrucken lassen. Sie hat zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Tarifgemeinschaft der deutschen Länder 2003 die Tarifverträge für Weihnachts- und Urlaubsgeld und 2004 die Tarifverträge für die Arbeitszeitvereinbarungen gekündigt hat. Nach fast zwei Jahren Verhandlungen mit dem Bund und den kommunalen Arbeitgeberverbänden hatte man den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, TVöD, zustande gebracht, mit dem der frühere Bundes-Angestelltentarifvertrag abgelöst wurde. Man ist also zu einer modernen und zukunftsweisenden Vereinbarung gekommen. Bund und Kommunen haben sich im Wesentlichen daran gehalten. Ich denke, damit können alle leben. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass drei Länder aus den Reihen der kommunalen Arbeitgeberverbände ausgeschert sind, nämlich Hamburg, Niedersachsen und Baden-Württemberg. Wenn man einmal in die Zeitungslandschaft schaut, dann kann man allerdings feststellen, dass auch hier Dinge in Bewegung geraten sind. Es ist ja nicht so, dass Verdi keine konkreten Vorschläge gemacht hätte. ({7}) Die Gewerkschaft hat zum einen vorgeschlagen, die Arbeitszeit - nach Einkommensgruppen gestaffelt - auf 40 Stunden anzuheben. Zum anderen hat sie vorgeschlagen, das Weihnachtsgeld, wiederum nach Einkommensgruppen gestaffelt, von 90 auf 40 Prozent zu senken. Es sind also durchaus Vorschläge gemacht worden. Diese gefallen einigen natürlich nicht. Deswegen war der Vorsitzende der Tarifkommission der Länder der Meinung, sie ablehnen zu müssen. Er ist von seiner Haltung bisher nicht abgerückt. Man muss einmal hinterfragen, ob es nicht möglich ist, die gemachten Vorschläge zu modifizieren. In Hamburg werden das Alter des Beschäftigten, die Anzahl seiner Kinder und seine Einkommensgruppe berücksichtigt. In Niedersachsen wurden eine Wochenarbeitszeit von 39 Stunden und zwei zusätzliche Arbeitstage vereinbart. Diese Lösungen kann man durchaus akzeptieren. Ich frage mich wirklich, ob man unbedingt an den 40 Stunden festhalten und sie zum Dogma erheben muss, wenn andere Lösungen auf der Hand liegen. ({8}) Wenn da nichts in Bewegung kommt, was kann man dann sonst noch bewegen? ({9}) Ich möchte darauf hinweisen, dass der Innenminister von Schleswig-Holstein, Herr Stegner, mit seiner Bemerkung sicherlich Recht hatte, dass der Verdacht auftaucht, man wolle keine Einigung. ({10}) Mein Vorschlag ist - da berufe ich mich auf diejenigen, die die Beachtung der Tarifautonomie reklamiert haben -: Wenn es nicht alsbald zu einer Lösung kommt, dann sollte man einen Schlichter bestellen und den Tarifkonflikt auf diese Weise lösen. Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Clemens Binninger von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir führen heute Nachmittag eine Debatte, die eigentlich nicht in den Deutschen Bundestag gehört. ({0}) Die Tarifautonomie ist aus guten Gründen eine Angelegenheit der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Wir sollten uns da heraushalten. ({1}) An die Adresse der Linken möchte ich sagen: Öffentlichkeitswirksame Auftritte wie vorhin, als sich die Hälfte der anwesenden Fraktionsmitglieder in VerdiPlastiktüten gehüllt hat, mögen Ihnen zwar gefallen. Aber ich glaube, Verdi hat daran keinen Gefallen gefunden, weil diese Gewerkschaft auch viele anders denkende und vernünftige Mitglieder hat. ({2}) Insofern haben Sie heute Mittag mit dieser Aktion niemandem einen Dienst erwiesen. ({3}) Wenn diese Debatte für etwas gut sein soll, dann muss man auf ein paar Eckpunkte hinweisen, entlang derer wir diese Diskussion führen. Es geht um den öffentlichen Dienst. In diesem Zusammenhang wird aber immer unterschlagen - auch von Verdi und den Linken -, dass von den 6 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst ein Großteil Beamte sind, die schon jetzt länger als 40 Stunden arbeiten. Auch die Angestellten in den neuen Bundesländern arbeiten 40 Stunden. Alle neu eingestellten Arbeitnehmer - egal ob im Bund, in den Ländern oder in den Kommunen - arbeiten 40 Stunden oder je nach Arbeitsvertrag vielleicht sogar etwas länger. Da die Mehrheit der Beschäftigten im öffentlichen Dienst schon mindestens 40 Stunden arbeitet, sollte man also nicht so tun, als ob jetzt der Sozialstaat zusammenbrechen würde, wenn die Arbeitszeit Ihrer Klientel von 38,5 auf 40 Stunden heraufgesetzt wird. ({4}) Das klingt an dieser Stelle unglaubwürdig. ({5}) Wenn wir die Diskussion ernsthaft führen wollen, müssen wir auch eine Bemerkung zu der finanziellen Situation der Arbeitgeber machen. Wir sollten nicht nur die Zahlen aus der Statistik vergleichen, Herr Kollege Gysi, sondern wir sollten auch erwähnen, dass der Personalkostenanteil der Länder 42 Prozent, inklusive der Pensionen fast 50 Prozent, beträgt. Der Anteil liegt bei den Kommunen nicht ganz so hoch. Aber die Kommunen, die durch eine Fülle von Aufgaben belastet werden, müssen ebenfalls viel Geld für das Personal ausgeben. ({6}) Vor diesem Hintergrund muss man Arbeitgeber verstehen, die sagen: Wir müssen die Arbeitszeit an unsere Möglichkeiten anpassen. - Das hat aber nichts damit zu tun, dass es im Arbeitskampf bzw. in den Tarifverhandlungen berechtigte Forderungen gibt. ({7}) Wogegen ich mich aber wehre, ist, wenn in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht - ich glaube, da tut sich niemand einen Gefallen -: Das einzige Gut, das es zu verteidigen gilt und das alles überlagert, ist die 38,5-Stunden-Woche. Das wäre der größte Fehler. Genau dieser Eindruck entsteht im Moment. Die Menschen in diesem Land haben den Eindruck: Es geht nur um die Erhöhung der Arbeitszeit um 18 Minuten am Tag. Sie fühlen sich zu Recht nicht ernst genommen, wenn Verdi ernsthaft sagt: 18 Minuten pro Tag sind uns zu viel; aber vier Minuten mehr am Tag wären akzeptabel. - Das ist doch keine seriöse Tarifpolitik. Deshalb glaube ich, dass Verdi - aber sicher auch die Arbeitgeber - gut beraten wäre, die Diskussion im Interesse des gesamten öffentlichen Dienstes anders und offensiver zu führen und zu sagen: Wenn denn die Notwendigkeit besteht - daran besteht für mich persönlich kein Zweifel -, dann akzeptieren wir eine solche Arbeitszeiterhöhung. Herr Kollege Gysi, Sie haben zu mir gesagt, ich sei nicht im öffentlichen Dienst beschäftigt. Das ist richtig. Ich bin Mitglied des Deutschen Bundestages. Aber ich war 23 Jahre lang als Polizeibeamter im öffentlichen Dienst beschäftigt. Ich habe sieben Jahre lang im Schichtdienst gearbeitet. Sie können mir abnehmen, dass ich die Strukturen, die Bedürfnisse und viele weitere Punkte, die zu Recht kritisiert werden, kenne. Aber in einem Punkt müssen wir den Mut zur Wahrheit haben - das sehen viele meiner ehemaligen Kolleginnen und Kollegen genauso -: Die 40-Stunden-Woche ist kein sozialer Einschnitt, sondern eine Chance für alle Beteiligten, Bewährtes zu erhalten und zu sichern. ({8}) Deshalb wäre es besser gewesen, zu sagen: Wir stellen die 40-Stunden-Woche nicht außerhalb jeglicher Diskussion. Wir haben eine ganze Reihe berechtigter Forderungen und machen nicht von vornherein den Fehler, zu sagen: Egal was ihr wollt, über die 40-Stunden-Woche ist mit uns nicht zu reden. Zunächst wurde argumentiert, es gehe um die Verhinderung eines Stellenabbaus. Jetzt geht es um die Frage der Belastung. ({9}) Die Mehrheit der Menschen in diesem Land lehnt daher - die Stimmung hat sich gedreht - diesen Streik ab und hat kein Verständnis dafür, dass man über eine Erhöhung der Arbeitszeit um 18 Minuten pro Tag diskutiert; denn sie arbeitet bereits 40 Stunden pro Woche. Dieser Streik ist diesen Menschen nicht zu vermitteln. ({10}) Am Ende dieser Debatte sollten wir an die Verhandlungspartner, an die Arbeitgeber wie an die Arbeitnehmer, das Signal senden: Alle Menschen in diesem Land haben ein Interesse daran, dass dieser Streik bald beendet wird. Die Beschäftigten haben ein Interesse daran, dass ihre Rechte gewahrt werden. Die Arbeitgeber haben ein Interesse daran, dass man ihre finanziellen Möglichkeiten zumindest ernst nimmt und in die Verhandlungen mit einbezieht. Wir sollten am Ende nicht den Fehler machen, sagen zu müssen: All das ist nur deswegen gescheitert, weil man nicht bereit war, sich von der ominösen Zahl der 40- bzw. 38,5-Stunden-Woche wegzubewegen. Dieser Fehler darf nicht passieren. Deshalb sollten wir solche Debatten hier nicht weiterführen, sondern mehr Vertrauen in die Tarifpartner haben. Damit wäre der Sache eher geholfen als mit einer Schaufensterdebatte heute Nachmittag. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Andreas Steppuhn von der SPD-Fraktion. ({0})

Andreas Steppuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003850, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Niebel, Sie haben in Ihrer Rede wieder einmal das bestätigt, was wir von Ihnen und der FDP schon wissen, nämlich dass Sie nicht allzu viel von Gewerkschaften und Tarifverträgen halten. Sie haben deutlich gemacht - das ist mir jetzt klar geworden -: Die FDP in diesem Land ist eine arbeitnehmer- und gewerkschaftsfeindliche Partei. ({0}) Herr Niebel ({1}) - lassen Sie mich einmal ausreden -, ich bin froh darüber, dass die FDP nicht in die Regierungsverantwortung gekommen ist; denn die Menschen in diesem Land haben eine andere Politik verdient. ({2}) Meine Damen und Herren, der Arbeitskampf im öffentlichen Dienst läuft nunmehr in der sechsten Woche. Viele haben bereits in der vergangenen Woche geglaubt, dass es möglich sein würde, zu einem Kompromiss zu kommen, der sowohl den Interessen der im öffentlichen Dienst beschäftigten Menschen als auch den der öffentlichen Arbeitgeber gerecht wird. In der Tarifauseinandersetzung ist aber auch deutlich geworden, dass die Gewerkschaft Verdi offenbar stärker den Kompromiss gesucht hat, als dies die Verhandlungsführung der öffentlichen Arbeitgeber der Länder, an der Spitze der Finanzminister des Landes Niedersachsen, Hartmut Möllring, getan hat. ({3}) Von daher ist eine öffentliche Debatte über den richtigen Kurs und auch die Zielsetzung der Verhandlungsführung durch die öffentlichen Arbeitgeber zu Recht entbrannt. Tarifverträge, insbesondere in der Folge von Arbeitskämpfen, stellen, da sie sich in freien Verhandlungen ergeben, Kompromisse dar, die die Tarifvertragsparteien eingehen. Warum bis zum heutigen Tage noch kein Tarifergebnis erzielt worden ist, gilt es auch in dieser öffentlichen Debatte zu hinterfragen. Diese kritische Frage muss sich auch Herr Möllring gefallen lassen, zumal hochrangige Ministerpräsidenten seine Verhandlungsführung - aus meiner Sicht zu Recht - infrage gestellt haben. ({4}) In diesen Zusammenhang gehört auch mein Eindruck, dass sich Herr Möllring gar nicht mehr bemüht, einen tarifpolitischen Kompromiss zu suchen, ({5}) sondern darauf spekuliert, dass die Tariflandschaft im öffentlichen Dienst weiter auseinander bricht. Man bekommt den Eindruck, dass es gegebenenfalls Ziel ist, die Flächentarifverträge im öffentlichen Dienst gänzlich zur Disposition zu stellen. Was die Verhandlungsführung der Arbeitgeberseite tut, kann nicht im öffentlichen Interesse sein, schon gar nicht im Interesse der Menschen im Land. ({6}) Die hoch motivierten - das muss man auch einmal sagen - und engagierten Menschen, die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die tagtäglich vorbildlich ihre Arbeit in Krankenhäusern, Kindergärten und anderswo verrichten, haben es verdient, dass ihre Arbeitsbedingungen eine vernünftige und angemessene Regelung erfahren. ({7}) Die SPD-Bundestagsfraktion ruft die Tarifvertragsparteien im öffentlichen Dienst dazu auf, schnellstmöglich an den Verhandlungstisch zurückzukehren und vor allen Dingen ergebnisorientiert zu verhandeln. ({8}) Ich wundere mich sehr, dass der Vorschlag, in der jetzigen Situation einen Schlichter einzubeziehen, von einigen als zu früh und nicht gewollt bezeichnet wird. ({9}) Nach fast sechs Wochen Streik sollte es doch das Normalste von der Welt sein, einen Schlichter zu bestellen, der gegebenenfalls das schaffen kann, was die Tarifvertragsparteien bislang nicht vermocht haben, ({10}) nämlich einen Kompromiss zu erarbeiten, der Grundlage für ein zu erzielendes Tarifergebnis sein kann. Ich appelliere von daher sowohl an Verdi, aber ganz besonders eindringlich auch an die öffentlichen Arbeitgeber: Bewegen Sie sich, damit der soziale Frieden im öffentlichen Dienst in der Bundesrepublik Deutschland wiederhergestellt wird! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Gitta Connemann von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir pflegen heute wieder einmal ein Ritual, nämlich das der Aktuellen Stunde auf Verlangen der Linken. Ich bin eine Verfechterin von Minderheitenrechten und das Verlangen nach Durchführung einer Aktuellen Stunde ist ein solches. Dieser Schutz sollte aber nicht missbraucht werden. Genau diesen Eindruck aber erwecken Sie, meine Damen und Herren von der Linken, ({0}) nicht weil Ihre Schlagzahl sich mit Heranrücken der Landtagswahlen hektisch erhöhen würde. Dies ließe sich ja noch mit einer klassischen Konditionierung im Sinne von Pawlow erklären: Was seinem Hund das Futter, ist Ihnen die Aktuelle Stunde. Vielmehr beweisen Sie heute mit der Wahl des Themas, dass dieses parlamentarische Instrument für Sie nicht mehr ist als ein Mittel zum Zweck, nämlich Unruhe zu stiften ({1}) und hier im wahrsten Sinne des Wortes eine Klamotte aufzuführen, ({2}) eine Klamotte, mit der Sie dieses Haus verhöhnen, mit der Sie die Zuschauer im Saal und auch an den Bildschirmen verhöhnen, mit der Sie die Streikenden und mit der Sie die Bürger verhöhnen. ({3}) Mich würde in diesem Zusammenhang interessieren, ob wir in der nächsten Woche auch eine Aktuelle Stunde zu dem Thema der angekündigten Nullrunde des DGB erwarten dürfen, ob Sie sich dann auch entsprechend Müllsäcke überziehen werden. ({4}) Wenn sich ein Thema nicht für eine Debatte im Deutschen Bundestag eignet, dann ist es der Tarifstreit im öffentlichen Dienst der Länder und Kommunen, nicht nur, weil der Bund nicht betroffen ist, sondern auch, weil hier ein Recht berührt wird, das wir vor jeder staatlichen Einflussnahme schützen sollten, nämlich die Tarifautonomie. ({5}) Selbst wenn manchen von Ihnen die Erkenntnis schwer fällt: Auch bei der Auseinandersetzung zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften im öffentlichen Dienst gilt diese Tarifautonomie. ({6}) Wem es in der Politik mit der Wahrung dieses Grundrechtes ernst ist, der muss sich zurückhalten, wie übrigens unsere Bundesregierung. Die Bundeskanzlerin hat erklären lassen, dass sie sich zum Tarifstreit nicht äußern wird, da die Tarifautonomie ein hohes Gut sei. ({7}) Ich bin unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel für diesen klaren Kurs dankbar. Sie zeigt, dass das Bekenntnis zur Verfassung für sie mehr ist als hohle Worte. Leider ist nicht jeder so zurückhaltend. Was war in den letzten Tagen alles zu lesen: von ungebetenen Ratschlägen an die Tarifvertragsparteien bis hin zu Forderungen nach Einschaltung von Schlichtern - ein vielstimmiger Chor, der nur noch überboten wurde von wirklich niveaulosen Beiträgen in dieser Debatte, die ich nur mit dem Begriff „Zumutung“ benennen kann. ({8}) Ich empfehle allen, die glauben, sich zu Wort melden zu müssen, einmal die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 1993 zu lesen - ich zitiere -: Mit der grundrechtlichen Garantie der Tarifautonomie wird ein Freiraum gewährleistet, in dem Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre Interessen gegenseitig in eigener Verantwortung austragen können. Diese Freiheit findet ihren Grund in der historischen Erfahrung, dass auf diese Weise eher Ergebnisse erzielt werden, die den Interessen der widerstreitenden Gruppen und dem Gemeinwohl gerecht werden, als bei einer staatlichen Schlichtung. ({9}) Anders gesagt: Die Tarifhoheit ist kein Tummelfeld für die Politik. Sie eignet sich insbesondere nicht für parteipolitische Instrumentalisierung, ({10}) auch wenn die Versuchung groß ist; denn es stellen sich viele Fragen, zu denen sich alle von uns gerne äußern würden: ({11}) Ist es fair, die Menschen in diesem Land wegen 18 Minuten Mehrarbeit pro Tag zu bestreiken? ({12}) Ist es fair, den Ländern in ihrer tiefsten Finanzkrise den längsten Streik im öffentlichen Dienst aufzuzwingen? Ist es fair, die Bürger finanziell noch stärker zu belasten? ({13}) Die Personalkosten in meinem Heimatland Niedersachsen belaufen sich mittlerweile auf fast 50 Prozent des gesamten Haushaltsvolumens. Ist es fair, dass viele dieser Bürger, die diesen Streik durch ihre Steuergelder finanzieren, in der Privatwirtschaft länger als jene 40 Stunden in der Woche arbeiten, die den Streikenden nach wie vor unzumutbar erscheinen, und das trotz sicherer Arbeitsplätze? Ist es fair, zukünftige Generationen mit noch mehr Kosten zu belasten? ({14}) Die Staatsverschuldung in Bund und Ländern ist auf Rekordhöhe angewachsen. Dies hat übrigens auch mit Versprechen vor Wahlen zu tun. Allein das Land Niedersachsen zahlt 7 Millionen Euro Zinsen pro Tag, ohne Tilgung. Ich frage Sie: Was ließe sich mit diesem Geld machen? ({15}) Ist es fair, die öffentlichen Angestellten besser zu behandeln als die Beamten derselben Länder? Ist es fair, wenn einige Länder jetzt die Verhandlungslinie verlassen und den Verhandlungsführer angreifen, der auftragsgemäß einen gemeinsamen Beschluss umsetzt? ({16}) Schließlich waren sich die Länder einig: Wir brauchen mehr Arbeitszeit ohne Lohnausgleich und die Kürzung von Sonderzuwendungen. Ist es fair, die Sicherheit von Menschen als Druckmittel einzusetzen? Darf es zum Ausfall von Operationssälen kommen? Die überwiegende Zahl der Menschen in diesem Lande sagt: Nein, das ist nicht fair. Laut einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen halten 61 Prozent der Deutschen den Streik für falsch. Selbst die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes lehnen diesen inzwischen mehrheitlich ab. ({17}) Als Bürgerin habe ich eine private Meinung zu all diesen Fragen. Als Mitglied dieses Hauses und damit als Teil dieses Staates werde ich sie hier jedoch nicht äußern; denn ich achte die Tarifautonomie. ({18}) Ich fordere Sie auf, dies auch zu tun; denn Wahlkampfgetöse hat im Tarifstreit nichts zu suchen. Lassen Sie uns darauf vertrauen, dass die Tarifvertragsparteien über kurz oder lang einen Interessenausgleich finden werden, der für alle tragbar sein wird. Ich glaube, dass diese Parteien klüger sind, als wir es ihnen zutrauen. Vielen Dank. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren in dieser Aktuellen Stunde über ein importiertes Thema; diesen Import hat uns die Fraktion der Linken beschert. Man muss einmal deutlich machen, worum es geht. Nicht alle haben so feinsinnig argumentiert wie meine Vorrednerin, die meinte, uns glauben machen zu können, sie habe ihre Meinung zu diesem Thema nicht geäußert. Frau Connemann, da müssen Sie ein bisschen früher aufstehen. Ich glaube, durch Ihre subtilen Fragestellungen haben wir alle begriffen, wo Sie stehen. ({0}) Wir haben in dieser Aktuellen Stunde von Herrn Gysi einen Grundkurs in Populismus bekommen. Ich glaube allerdings, dass Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, mit Ihrer Modenschau der Sache, die Verdi zu Recht vertritt, keinen Gefallen getan haben. ({1}) Reden wir aber nicht mehr über diesen Bärendienst, den Sie einem berechtigten Anliegen erwiesen haben! Reden wir darüber, worum es bei diesem Streit eigentlich geht! Viele haben behauptet, es ginge um diese wenigen Minuten. Ich habe schon erwartet, die zusätzliche Arbeitszeit in Sekunden vorgerechnet zu bekommen. Ich glaube, darum geht es nur zum Teil. Hier geht es - das wurde zutreffend dargestellt - um zwei andere Dinge. Es geht um die Frage, wie viel Wochenarbeitszeit zumutbar ist. Im Gegensatz zu vielen in diesem Haus habe ich im Einzelhandel mit einer Wochenarbeitszeit von 42 Wochenstunden angefangen. Ich kann mich gut an die Kampagne der Gewerkschaften „Samstags gehört Vati uns“ erinnern; einige mögen sie noch in Erinnerung haben. Die Frage der Arbeitszeit war immer eine, über die Gewerkschaften zu Recht gestritten haben. Ich denke, dass sie das in dieser Tarifauseinandersetzung tun, ist ihr gutes Recht. ({2}) Warum kommt man aber nicht von der Stelle? Man kommt nicht von der Stelle, weil offenkundig nicht auf Augenhöhe verhandelt wird. Zu all den Lobgesängen, die wir auf den niedersächsischen Finanzminister gehört haben, muss ich sagen: Er wäre gut beraten gewesen, wenn er sich einmal, zum Beispiel von unserer Kanzlerin, darin hätte unterrichten lassen, wie man Verhandlungen so führt, dass man zu Ergebnissen kommt, und wie man sie auf Augenhöhe führt. Möglich ist das. ({3}) Ich denke, an der Stelle kann der Herr Minister noch etwas lernen. Das würde dem gesamten öffentlichen Dienst gut tun. Worum geht es? Wir alle wünschen uns, dass es möglichst bald ein Ergebnis gibt. Ich glaube, ich spreche hier für viele leistungsstarke und hoch motivierte Beschäftigte im öffentlichen Dienst. ({4}) Allerdings wünschen sie sich eine Auseinandersetzung, aus der sich die Politik heraushält. Dass das geht, zeigt im Übrigen Niedersachsen - wir stellen nicht nur Schwierigkeiten heraus, sondern zeigen auch Lösungen auf -, wo sich die kommunalen Arbeitgeber gestern verständigt haben. Schon sagt Herr Möllring: Das hat aber keinen Pilotcharakter. - Das mag in der Sache richtig sein. ({5}) - Herr Niebel, ich hatte ein bisschen Sorge um Ihren hohen Blutdruck. Das hat sich aber, glaube ich, wieder gelegt. ({6}) Sie haben heute bewiesen, dass Sie nicht nur in der Sache unbelehrbar sind, sondern dass Sie auch keinerlei Bereitschaft zeigen, ein Argument wahrzunehmen. Deshalb lohnt es sich gar nicht, darauf weiter einzugehen. ({7}) Ich halte in der Minute, die mir noch zur Verfügung steht, Folgendes fest: Wenn Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst streiken, haben sie das Recht dazu und einen guten Grund. Wer Sorge hat, dass in dieser Republik an vielen Stellen daran gearbeitet wird, Tarifverbünde zu knacken und Flächentarifverträge infrage zu stellen, nimmt die Verhältnisse richtig wahr. Wer meint, der Zeitpunkt für eine Schlichtung sei gekommen - das erlaube ich mir anzufügen -, der hat ganz sicher ein zutreffendes Timing. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst; wir alle profitieren tagtäglich davon. Dazu gehört, dass die Beschäftigten ein gewisses Maß an Sicherheit, ordentliche Bezahlung und eine angemessene Arbeitszeit haben, damit sie alles gut erledigen können. Ich wünsche beiden Tarifvertragsparteien gute Verhandlungen im Endspurt. Dabei müssen sich beide Seiten bewegen. Ich bin nach wie vor zuversichtlich, dass sie das können. Sollte Herr Möllring noch Fragebedarf haben, steht ihm die Kanzlerin sicherlich zur Verfügung. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf: a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN Die Bedeutung von Wahrheits- und Versöh- nungskommissionen für eine friedliche Zu- kunft - Drucksache 16/932 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({0}), Marieluise Beck ({1}), Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für eine baldige Zeichnung und Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen - Drucksache 16/360 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für eine zügige Zeichnung, Ratifizierung und Umsetzung des Zusatzprotokolls zur Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen - Drucksache 16/455 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dazu? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Herta Däubler-Gmelin von der SPDFraktion das Wort. ({4})

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute wichtige Anträge, die zeigen, wie unverzichtbar menschenrechtliche Fragen für nahezu alle Bereiche der deutschen Politik geworden sind. Heute geht es um den Bereich der auswärtigen Politik, aber auch um den Bereich der Rechtspolitik und des Strafvollzuges. Schwerpunkt ist die Bedeutung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen für eine friedliche Zukunft. Das ist ein Antrag, den CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam eingebracht haben. Ich finde das gut - lassen Sie mich das ausdrücklich sagen -, weil es zeigt, dass wir in sehr vielen menschenrechtlichen Fragen einen breiten Konsens haben. Außerdem stehen Anträge der Oppositionsfraktionen zur Diskussion, die eine zügige Zeichnung, Ratifizierung und Umsetzung des Fakultativprotokolls vom 18. Dezember 2002 zur UN-Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung vom 10. Dezember 1984 fordern. Lassen Sie mich ausdrücklich sagen: Wir teilen diese Forderung und unterstützen den im Fakultativprotokoll vorgesehenen Kontrollmechanismus zum Strafvollzug auf der Ebene der Vereinten Nationen. Wir haben uns wie die Antragsteller über die Bremserhaltung einiger Landesjustizverwaltungen geärgert, die mit dafür verantwortlich waren - die Zuständigkeit ist hier sehr klar -, dass das Zeichnungsverfahren noch nicht eingeleitet werden konnte. Deshalb ist es besonders gut, dass heute - merke: heute - die Freigabe vonseiten der Vertragskommission der Länder erfolgt ist und der Zeichnungsprozess eingeleitet werden kann. Wir werden uns sicherlich noch über die Art der Umsetzung, die als Kompromiss möglich geworden ist, unterhalten müssen. Ich will aber feststellen, dass es gut ist, dass die Zeichnung eingeleitet werden kann. ({0}) Jetzt aber zu unserem gemeinsamen Antrag zur Bedeutung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen. Mit ihm soll die Diskussion darüber eingeleitet werden - wir werden sie sehr vertieft führen müssen -, was die deutsche Politik tun kann, um Staaten und Gesellschaften, sei es am Ende einer Diktatur, eines Krieges, eines Bürgerkrieges oder anderer Konflikte mit schwersten Menschenrechtsverletzungen, noch mehr zu helfen, sich zu stabilisieren und einen neuen Anfang zu machen. Diese Diskussion ist außerordentlich wichtig. Wir wissen, dass sie viele Staaten und Gesellschaften in ganz verschiedenen Regionen unserer Welt betrifft. Unser Antrag zählt einige Länder auf, aber keineswegs alle. Die Aufzählung reicht von Südafrika über Guatemala bis hin zu Osttimor. Die Diskussion ist auch deshalb wichtig, weil sie in die klare Schwerpunktsetzung der Vereinten Nationen, das Peace-Building, eingebettet ist, also in die Stabilisierung von Gesellschaften und Staaten sowie von Menschenrechten. Beides gehört, wie wir wissen, untrennbar zusammen. ({1}) Lassen Sie mich nur zwei Punkte nennen: Im Dezember 2005 ist es im Zuge der UN-Reform möglich geworden, die Einsetzung einer Peace-Building-Commission zu beschließen. Jetzt muss dies umgesetzt werden. Wir danken der Bundesregierung, dass sie sich hierfür aktiv einsetzt. Gestern ist es gelungen, den immerhin beachtlichen Kompromiss zur Verbesserung der Arbeit der Menschenrechtskommission durch die Einrichtung eines effizienteren Menschenrechtsrates zu beschließen. ({2}) Das ermutigt trotz aller Schwierigkeiten; das will ich gerne hinzufügen. An beiden ermutigenden Schritten - lassen Sie mich das wiederholen; ich tue das mit großem Dank - hat die Arbeit der Bundesregierung einen erheblichen Anteil. Das ermutigt uns und bestärkt uns auch darin, unsere Forderung zu stellen, die wir im Zuge der Beratungen über unseren Antrag mit Sicherheit noch deutlich präzisieren können und müssen. ({3}) Die Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, um die es heute geht, sind auch Schritte der Ermutigung, jedenfalls einige von ihnen. Wie die Erfahrung zeigt, können die unterschiedlichsten Kommissionen in den verschiedensten Ländern ein wichtiges Instrument sein, um nach schrecklichen Zeiten der Unterdrückung der Bevölkerung, bestimmter Bevölkerungsgruppen oder von Minderheiten, nach Verbrechen, Menschenrechtsverletzungen und schrecklichem Unrecht anderer Art einen neuen Anfang zu machen und durch die Feststellung der Wahrheit, die Ermittlung des Sachverhalts, die Sicherung der Überwindung von Straflosigkeit und damit auch die Sicherung von Recht eine Grundlage für eine friedliche Zukunft zu schaffen. Wir können das an den Ergebnissen der unterschiedlichen Wahrheits- und Versöhnungskommissionen ablesen. An ihnen können wir aber auch feststellen, was eine solche Kommission ist, was man für ihre Arbeit braucht und was sie nicht leisten kann. In Südafrika zum Beispiel hat das grässliche, die Menschenrechte verletzende, grausame Apartheidregime die schwarze Bevölkerung unterdrückt und gedemütigt, sie ihrer Rechte beraubt, ermordet und sie der völligen Willkür ausgeliefert. Das ist, auch rückwirkend betrachtet, eine Schande. ({4}) Typisch für die Situation Ende der 80er-Jahre war, dass die Machthaber des Apartheidregimes einerseits noch stark waren, andererseits aber intern, in ökonomischer Hinsicht und auf internationaler Ebene immer stärker unter Druck gerieten. Gleichzeitig gab es aufseiten der schwarzen Bevölkerung unglaublich eindrucksvolle Persönlichkeiten wie Präsident Mandela oder Bischof Tutu, die gegen Rache, Vergeltung und Gewalt und für einen friedlichen Neubeginn votierten. Sie trugen dazu bei, dass eine Wahrheits- und Versöhnungskommission eingerichtet wurde, die fünf wichtige Aufträge hatte: Erstens sollte sie in einem regelhaften Verfahren, das allerdings kein Strafverfahren sein sollte, die Wahrheit feststellen. Zweitens - das war ganz wichtig - sollte sie den Opfern und ihren Angehörigen ein Forum bieten, in dem sie berichten konnten, was ihnen angetan worden war. Drittens sollte sie die Verantwortlichkeit der Täter feststellen. Viertens sollte sie die Öffentlichkeit einbeziehen. Fünftens sollte sie die mögliche Entschädigung von Opfern einleiten ({5}) und eine begrenzte Amnestie für Täter in Erwägung ziehen. ({6}) Es ist erstaunlich - das konnten wir auch in anderen Ländern feststellen -, was diesen Kommissionen damals gelungen ist. Aber wir wissen ganz genau, was solche Kommissionen nicht leisten können. Sie können kein Ersatz für ein Strafverfahren sein und sie dürfen kein Mittel sein, mit dem die Herrschenden den früher Unterdrückten sagen: Jetzt versöhnt euch mal schön. Der Bundestag hat abgesehen von seinen Feststellungen zum Wert von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen eine ganze Reihe von Empfehlungen abgegeben, die auch an die Bundesregierung gerichtet waren. Ich denke, es ist jetzt unsere Aufgabe, diese Empfehlungen noch stärker zu präzisieren und sie vielleicht zu ergänzen. Gleichzeitig müssen wir - die Regierung, der Bundestag und unsere starke Zivilgesellschaft - alle Möglichkeiten nutzen, um zu helfen, wenn unsere Hilfe nachgefragt wird. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Toncar von der FDP-Fraktion.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Menschenrechtspolitik ist gekennzeichnet durch die wechselseitige Abhängigkeit des engagierten Eintretens für Menschenrechte im Ausland und im Rahmen von internationalen Organisationen einerseits und der strikten Beachtung und Förderung der grundlegenden Rechte unserer Bürgerinnen und Bürger in Deutschland andererseits. ({0}) Wenn wir nur eine dieser beiden Seiten vernachlässigen, wird dadurch automatisch die andere Seite geschwächt. Wenn also Regierungsvertreter bei Auslandsreisen im Hinblick auf lukrative Aufträge für unsere Unternehmen, gegen die niemand etwas hat, ins große Horn blasen, sich in Menschenrechtsfragen aber eher beiläufig in den eigenen Bart nuscheln, dann erweckt das den Eindruck, Menschenrechte seien Verhandlungsmasse. Das können sie für uns nicht sein, meine Damen und Herren! ({1}) Wenn wir umgekehrt selbst nicht höchsten menschenrechtlichen Standards genügen, wird man uns zu Recht Inkonsequenz und Doppelmoral vorwerfen, wenn wir die Menschenrechte anderswo einfordern. Wir müssen uns also immer bewusst machen, wie sehr der Einsatz für Menschenrechte im Ausland und der Einsatz für Menschenrechte im Inland voneinander abhängen. Dieser Gedanke verbindet die beiden Themen, die wir heute behandeln. In dem vorliegenden interfraktionellen Antrag geht es um die Aufarbeitung von Unrecht nach Überwindung einer Diktatur oder eines Bürgerkrieges durch Wahrheitskommissionen. Das ist angemessen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass dieses Instrument seit den 90erJahren beträchtlich an Bedeutung gewonnen hat. Meist geht es in den betroffenen Ländern darum, den Opfern und deren Angehörigen Genugtuung, oft genug aber auch nur die traurige Gewissheit über das Schicksal eines vermissten oder verlorenen Familienangehörigen zu verschaffen. Voraussetzung für einen neuen Anfang ist es oft, Klarheit darüber zu schaffen, was vorgefallen ist, Unrecht als solches zu benennen und - im Idealfall, auch wenn es in der Praxis oft nur schwer möglich sein wird Wiedergutmachung geschehenen Unrechts anzustoßen. In dem Antrag heißt es zu Recht, dass Wahrheitskommissionen die Strafverfolgung der Täter - auch und gerade der Täter am Schreibtisch - nicht ersetzen können. Amnestie für gravierende Menschenrechtsverletzungen kann und darf es auch durch Wahrheitskommissionen nicht geben. ({2}) Die Verfolgung der Täter ist zunächst Sache der nationalen Gerichte. Die UN-Tribunale für Ruanda und für das frühere Jugoslawien sowie der Internationale Strafgerichtshof stellen aber unschätzbar wertvolle Fortschritte dar, insbesondere wenn nationale Gerichte diese Aufarbeitung nicht leisten können, nicht leisten wollen oder nicht leisten sollen. ({3}) - Ja. Es ist bedauerlich, dass der Prozess gegen Slobodan Milošević nicht zu Ende geführt werden kann. Um jeglicher Legendenbildung vorzubeugen, ist es nötig, dass sein Tod gründlich untersucht und hierüber transparent aufgeklärt wird. Es ist aber auch an der Zeit, in Erinnerung zu rufen, dass über zehn Jahre nach dem Friedensabschluss von Dayton Kriegsverbrecher wie Radovan Karadžić und Ratko Mladić noch immer auf freiem Fuß sind. Diese Entwicklung ist höchst unbefriedigend und kann nicht Bestand haben. ({4}) Gerade für das Unrecht, das im Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien angerichtet wurde, wo es vielfältige Täter gibt und wo die Verbrechen auf vielerlei Seiten begangen worden sind, wo es nicht einfach ist, in Gut und Böse einzuteilen, ist die Einsetzung einer Wahrheitskommission vielleicht ein geeignetes Instrument, um zur Aufarbeitung beizutragen. Wie im Antrag zu Recht betont wird, kann es nicht darum gehen, eine solche Kommission einem Land von außen überzustülpen. Jedes Land muss selbst einen Weg finden, mit seiner Vergangenheit fertig zu werden. Wir sollten im Rahmen der heutigen Debatte nicht vergessen, dass auch wir Deutschen vor der Aufgabe standen und weiterhin stehen, Unrechtsvergangenheit aufzuarbeiten. Ich glaube, auch ohne dass wir eine Wahrheitskommission hatten, können wir mit unseren Erfahrungen den einen oder anderen Beitrag dazu leisten, solche Aufgaben in anderen Ländern zu vereinfachen. Nach dem Krieg hat in Deutschland lange Zeit das Klima geherrscht, die NS-Vergangenheit nicht angemessen aufgearbeitet zu haben. Mittlerweile sind wir glücklicherweise weit fortgeschritten; es gibt dazu eine Menge an Bemühungen. Wir haben auch Instrumente, um das Unrecht, das während der SED-Diktatur in der DDR begangen worden ist, aufzuarbeiten. Wir brauchen diese Instrumente weiterhin. Wir brauchen die Birthler-Behörde und wir brauchen geeignete Gedenkstätten, beispielsweise das Gefängnis Hohenschönhausen. Doch in diesem Bereich ist noch nicht alles getan; auch das soll heute in Erinnerung gerufen werden. Es gibt die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter, deren Material bis heute nicht aufgearbeitet ist. Da schlummert noch einiges in den Archiven, was insbesondere für die Betroffenen wertvoll wäre; ich glaube, dass sie ein Recht auf Aufarbeitung haben. Das ist eine Aufgabe, die uns Deutschen verbleibt, um mit unserer eigenen Vergangenheit fertig zu werden. ({5}) Es liegen auch zwei Anträge zum Zusatzprotokoll zur Anti-Folter-Konvention vor. Darin geht es um die Einrichtungen, in die Menschen zwangsweise eingewiesen werden: Gefängnisse, aber auch Arrestanstalten - auch bei der Bundeswehr - oder psychiatrische Kliniken. Für solche Einrichtungen sollen Personen bestellt werden, die als unabhängige Beobachter notfalls auch unangekündigt Besichtigungen vornehmen und nachsehen, ob in diesen Anstalten menschenwürdige Zustände herrschen. Uns Liberalen geht es mit unserem Antrag darum, nochmals ein Zeichen zu setzen, um möglichst zügig die Zeichnung und Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur Anti-Folter-Konvention zu erreichen. Dass wir uns in Deutschland so schwer damit tun, die Voraussetzungen für die Umsetzung des Protokolls zu schaffen, empfinde ich persönlich als ausgesprochen peinlich. Das sollte so nicht weitergehen. ({6}) Ich mache keinen Hehl daraus, dass der sich abzeichnende Kompromiss eine große Enttäuschung ist. Wie man glauben kann, mit vier ehrenamtlichen Kräften, einem Bediensteten des höheren Dienstes und zwei Bürokräften das gesamte Bundesgebiet adäquat abdecken zu können, ist mir schleierhaft. Die Schweiz etwa setzt das Protokoll wesentlich konsequenter um und hat die nötigen Personalressourcen bereitgestellt. Dass der BundLänder-Kompromiss so weit dahinter zurückbleibt, ist enttäuschend. Dieser Kompromiss zur Umsetzung des Protokolls ist nicht mehr als ein Feigenblatt. ({7}) Die Alternative allerdings wäre, die Ratifizierung platzen zu lassen. Das halte ich bei aller Kritik dann doch für falsch. Wenn sich nach der Ratifizierung zeigen sollte, dass die Bundesrepublik das nur unzureichend umsetzt, hat man eine sehr viel günstigere Position, um weitere Verbesserungen und eine Aufstockung der Mittel zu fordern. Sorgen wir also dafür, dass sich Deutschland völkerrechtlich möglichst bald bindet. Dann können wir Nachforderungen stellen, wenn uns die Umsetzung nicht ausreicht. Das halte ich taktisch für wesentlich sinnvoller. Danke schön. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Holger Haibach von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben kein Interesse daran, die Liegestühle auf dem Sonnendeck der Titanic einfach nur zurechtzurücken. - Diese Worte stammen von Kevin Moley, dem US-Botschafter bei der Menschenrechtskommission in Genf, und signalisieren die Haltung der USA zum Kompromiss hinsichtlich des Menschenrechtsrats, der jetzt gefunden wurde. Was dahintersteht, ist, glaube ich, relativ klar: Wenn es eine Reform geben soll, dann eine richtige Reform, bei der das Ziel sein muss, ein effektives und glaubwürdiges Gremium zur Durchsetzung der Menschenrechte zu schaffen. Wir haben eine Lösung. Es gibt einen Kompromiss. Bedeutet das, dass wir in Jubel ausbrechen sollen, nach dem Motto: Wir sind Menschenrechtsrat? Nein. Aber ich glaube, der Kompromiss ist das Beste, was unter den gegebenen Umständen zu erreichen war. Weitere Verhandlungen hätten wahrscheinlich nicht zu einem größeren Erfolg geführt. Haben wir das Ziel erreicht, ein effektives, ein glaubwürdiges Gremium zu schaffen? Schauen wir uns zunächst die Kriterien in der Resolution an, die uns jetzt vorliegt. Mitglieder werden durch einfache Mehrheit in der Generalversammlung gewählt. Es ist möglich, Mitglieder durch eine Zweidrittelmehrheit wieder abzuwählen. Die Instrumente, über die die Kommission früher verfügte, sind dem Menschenrechtsrat erhalten geblieben. Das war während der Verhandlungen nicht immer sichergestellt. Es gibt zumindest ein informelles Übereinkommen darüber, dass Länder, gegen die der UNSicherheitsrat eine Resolution ausgesprochen hat, nicht Mitglieder des Rates sein können. Es wurde auch darüber eine Verständigung herbeigeführt - das war für die Europäer besonders wichtig -, dass es mehr Sitzungsperioden gibt. Das ist wichtig, um intensiv und zeitnah Menschenrechtsverletzungen verfolgen zu können. Das Ergebnis ist sicherlich weniger als ursprünglich gewollt, aber mehr als befürchtet. Deshalb hat es zum Schluss eine breite Unterstützung gegeben. 170 Länder haben der Resolution zugestimmt. An dieser Stelle möchte ich der Bundesregierung und der Europäischen Union für ihre klare Haltung, aber auch für ihr diplomatisches Geschick danken. Denn das war keine einfache Arbeit. ({0}) Die Nichtregierungsorganisationen haben sich damit einverstanden erklärt. Die USA, die nicht zugestimmt haben, haben zugesagt, die Zusammenarbeit zu pflegen, die entsprechenden finanziellen Mittel bereitzustellen und einen eigenen Sitz in diesem Gremium anzustreben. Mit ihrer Haltung zu der Frage, ob der Konsens nun gut ist oder nicht, stehen die USA übrigens nicht alleine da. Ich würde gerne mit Erlaubnis des Präsidenten aus der Genfer „Le Temps“ vom letzten Freitag einen Kommentar vorlesen, überschrieben mit „Konsenssuche ist Gift für die Menschenrechte“. Der Kommentator schreibt: Bei der Suche nach einem Konsens und angesichts eines feindlichen amerikanischen Stimmverhaltens haben … Verhandlungen die Debatte getötet … Weiter heißt es: Die USA unter der Administration Bush mögen nicht eben die Richtigen sein, um sich als Verteidiger der Freiheiten aufzuspielen, ihre frontale Gegnerschaft hat dennoch etwas Gutes. Sie erinnert uns daran, dass die europäische und helvetische Konzeption der Menschenrechte keine universelle ist. Sie erinnern uns daran, dass Freiheiten erkämpft werden müssen. Man muss dieser Interpretation nicht zustimmen. Aber sie zeigt ganz deutlich, dass es nicht um die Frage der Glaubwürdigkeit der Kriterien geht, sondern dass es darum gehen muss, dass die Menschenrechtskommission bzw. der Menschenrechtsrat, wie er jetzt heißt, glaubwürdig arbeitet. Das ist das Entscheidende. Daran wird sich der Erfolg dieses Gremiums messen lassen müssen. ({1}) Die entscheidenden Fragen werden sein: Können wir es schaffen, die Kluft zwischen Nord und Süd zu schließen? Können wir es schaffen, dass die Menschen in den anderen Teilen der Welt sehen, dass der Westen keine doppelten Standards anlegt, wie das hier gerade angeklungen ist? - Vor wenigen Stunden bin ich aus Amman zurückgekommen. Dort habe ich wie überall auf der Welt viele Menschen getroffen, die wirklich begeistert waren und im Bereich der Menschenrechte zusammenarbeiten wollen. Dafür ist Glaubwürdigkeit sehr wichtig. Ich glaube, auch hier hat die neue Bundesregierung durch die Äußerungen von Frau Merkel in den USA und in Russland und durch die Äußerungen von Herrn Steinmeier in China einen guten Start hingelegt. ({2}) Meine Damen und Herren, Glaubwürdigkeit entsteht natürlich auch und ganz besonders durch eigenes Handeln. Wir haben hier noch eine Lücke; das ist richtig und wird durch zwei Anträge dokumentiert. Es geht um das schon öfter erwähnte Zusatzprotokoll zur Anti-FolterKonvention und um die Schaffung von Präventiv- und Kontrollmechanismen zur Verhinderung von Folter in staatlichen Stellen. Es ist wahr, dass es einige Zeit gedauert hat. Es ist aber auch richtig - das ist schon angeklungen -, dass es jetzt einen Kompromiss gibt. Wir sind auf einem Weg. In Wiesbaden wird es eine zentrale Stelle geben. Der Bund hat sich bereit erklärt, die Kosten zu übernehmen. Natürlich sagen manche, dass das zu wenig ist. Ich stimme aber dem Kollegen Toncar zu, der gesagt hat: Wenn die Ratifizierung erst einmal vollzogen ist, dann ist es einfacher, an der Stelle noch Verbesserungen herbeizuführen. Ich glaube auch, dass es ein ganz wichtiges Zeichen ist, wenn sich Deutschland an vorderer Stelle an der Ratifikation beteiligt. ({3}) 20 Staaten sind notwendig, um das Abkommen durch die Ratifikation in Kraft treten zu lassen. Es wäre ein fatales Zeichen, wenn Deutschland nicht unter den ersten 20 Unterzeichnern wäre. ({4}) Die beiden Anträge verdienen einen näheren Blick. Auf sie will ich in der verbleibenden Zeit noch eingehen: Erstens. Die FDP bringt einen fast wortgleichen Antrag aus der letzten Wahlperiode wieder ein; das scheint eine neue Methode zu sein. Vielleicht denken Sie einmal daran, dass Sie in einem der Länder, die sich bis jetzt ein bisschen geziert haben, in der Regierungsverantwortung stehen. Ich hoffe, dass Sie dort genauso stark mit dabei sind, das Ganze voranzubringen und zu implementieren, wie Sie hier im Bundestag auftreten. ({5}) Ich will das nur zwischendurch sagen: Wir sind uns in der Intention einig, aber ich möchte das trotzdem noch kurz politisch bewerten. Zweitens. Die Grünen machen langwierige Ausführungen darüber - von ihnen ist der andere Antrag zu diesem Thema -, welche Länder das blockiert haben. Es ist natürlich reiner Zufall, dass in einem dieser Länder bald Landtagswahlen stattfinden. Es ist auch reiner Zufall, dass über die Rolle der unionsgeführten Länder gesprochen wird, aber leider nicht darüber, dass das unionsgeführte Land Hessen einen großen Beitrag dazu geleistet hat, dass wir jetzt diesen Durchbruch erzielt haben. ({6}) Insofern glaube ich, dass das hier durchaus auch einmal erwähnt werden darf. Wie auch immer: Jedenfalls in der Zielsetzung sind wir uns einig. Ich hoffe, dass der gefundene Kompromiss möglichst schnell in die Tat umgesetzt werden kann; denn wenn dies geschieht, wäre das ein gutes Zeichen für unsere Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit nach innen und nach außen. Es war auch ein gutes Zeichen für die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit nach außen, wie sich Deutschland bei der Reform der Menschenrechtsgremien der UN verhalten hat. Arbeiten wir gemeinsam daran, dass beides zum Erfolg werden kann. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Leutert von der Fraktion Die Linke. ({0})

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wahrheits- und Versöhnungskommissionen dienen bekanntlich dem Zweck, einer Gesellschaft, in der schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit stattgefunden haben, einen zivilisierten Neuanfang zu ermöglichen. Es geht darum, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinander zu setzen und den Frieden nicht aufs Neue zu gefährden. Opfer sollen so die Möglichkeit erhalten, über ihnen angetanes Unrecht sprechen zu können und die Täter zu benennen; Täter sollen dagegen die Möglichkeit haben, ihre Opfer um Vergebung zu bitten. Es geht also um Wahrheit und Aussöhnung. Jedoch darf dies nicht - ich glaube, darin sind wir uns einig - die juristische Aufarbeitung schwerster Menschenrechtsverletzungen ersetzen. In diesem Zusammenhang möchte ich einige Kritikpunkte anführen: Erstens. Ich glaube, hier auf breite Zustimmung zu stoßen, wenn ich sage: Am besten wäre es, wir bräuchten gar keine Wahrheits- und Versöhnungskommissionen. Dies wäre dann der Fall, wenn die Konflikte schon im Vorfeld verhindert werden könnten. ({0}) In diesem Zusammenhang möchte ich allerdings die Frage stellen, warum in dem Antrag der präventiven Seite kein Raum eingeräumt wurde. Wir alle wissen, dass unter anderem mangelnde Bildung sowie Armut und soziale Ungleichheit primäre Gründe für Kriege und Bürgerkriege sind. Zur Beseitigung dieser Ursachen bedarf es finanzieller Mittel, die die meisten betroffenen Länder selbst nicht aufbringen können. Es wäre also mehr als angebracht, wenn Deutschland seine auf internationaler Ebene zugesagten Mittel für Entwicklungshilfe endlich auf die versprochene Höhe anhöbe. ({1}) Zweitens. Es ist generell nachzufragen, inwieweit Entwicklungshilfe mit militärischer Invasion im Zusammenhang steht. Diese Gelder sollen eben hauptsächlich präventiv wirken und nicht erst dann eingesetzt werden, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. An diesem Punkt möchte ich an Afghanistan erinnern. Drittens. Es sollte kritisch hinterfragt werden, mit welchen Regimes wir derzeit in Beziehung stehen. Sind es Länder, in denen eventuell in naher Zukunft ebenfalls Wahrheitskommissionen notwendig werden? ({2}) Ich darf in diesem Zusammenhang an Usbekistan erinnern. Dort starben während eines Massakers von regierungsnahen Truppen und der Polizei letztes Jahr bis zu 800 Menschen. Wir unterhalten aber in Usbekistan aus strategischen Gründen einen Militärflugplatz und gewähren Finanzhilfen in Millionenhöhe. Auch das gehört zur Wahrheit. ({3}) Viertens und letztens möchte ich Folgendes in den Raum stellen: Wir hätten diese Punkte gerne während der Erarbeitung dieses interfraktionellen Antrags mit Ihnen gemeinsam diskutiert. Aber es scheint derzeit Mode zu werden, dass solche fraktionsübergreifenden Initiativen ohne uns stattfinden. Warum? Legen Sie auf unsere Meinung keinen Wert oder ist das noch die Routine aus der alten Legislaturperiode? Mich würde es freuen, wenn Sie sich daran gewöhnten, dass im Bundestag seit kurzem eine neue Fraktion Platz genommen hat. ({4}) - Natürlich bin ich neu, aber auch die Fraktion ist neu. ({5}) Daran sollten Sie sich gewöhnen. ({6}) Meine Fraktion wird diesem Antrag trotz aller Kritik zustimmen, da wir im Kern mit der Zielrichtung des Anliegens übereinstimmen. Weiterhin liegen zwei Anträge zur Zeichnung und Ratifizierung des Zusatzprotokolls zur Anti-Folter-Konvention vor. Es ist klar, dass auch die Linke dieses Anliegen unterstützt und für eine zügige Bearbeitung eintritt. Immerhin befinden wir uns schon im vierten Jahr, seit das Protokoll zur Unterzeichnung vorliegt. Wir wissen, dass das Problem eher auf Länderebene liegt. Insofern ist die Bundesregierung nicht der eigentliche Adressat. Aber wenigstens können wir so unsere moralische Unterstützung für die Bundesregierung in dieser Frage deutlich machen. Wenn wir schon einmal die Gelegenheit haben, die Bundesregierung moralisch zu unterstützen, dann wollen wir das gerne tun, ({7}) zumal es genau in diesem Punkt anders als bei dem anderen Antrag um ein präventives Mittel zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen geht. Danke. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Volker Beck vom Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über mehrere Anträge, unter anderem über den interfraktionellen Antrag zur Bedeutung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen. Dazu hat die Ausschussvorsitzende schon die richtigen Worte gefunden und deutlich gemacht, welche Bedeutung sie haben. Ich bin froh, dass wir als Parlamentarier bei einer solch wichtigen menschenrechtspolitischen Initiative interfraktionell an einem Strang ziehen. Herr Kollege Leutert, selbstverständlich muss man über Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe diskutieren. Aber man sollte nicht alles in einen Antrag packen. Dieser Antrag setzt sich mit einem spezifischen Instrument auseinander. Dabei geht es um die Menschenrechtspolitik, die Aufarbeitung von Vergangenheit und die Konfliktlösung nach dem Auftreten entsprechender Probleme. Selbstverständlich muss die Prävention eine Rolle spielen. Das werden wir im Zusammenhang mit der Haushaltsdebatte, die wir gestern im Ausschuss begonnen haben, hier nachholen und dafür sorgen, dass sich die Bundesregierung an das Ziel von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Entwicklungshilfe hält, was sie öffentlich und international zugesagt hat. Die aktuellen Informationen deuten leider nicht in diese Richtung. Lassen Sie mich auf den gestrigen Tag zu sprechen kommen; denn ich halte es für bedeutend, dass gestern - am 15. März 2006 - die UN-Vollversammlung gegen Volker Beck ({0}) den Willen der USA und drei weiterer Staaten die Einrichtung eines Menschenrechtsrates beschlossen hat. Dieses neue Gremium soll die viel kritisierte Menschenrechtskommission ablösen. Kofi Annan hat vor einem Jahr einen Vorschlag zur Neustrukturierung der Arbeit der Menschenrechtspolitik in diesem Bereich vorgelegt. Es ist dem Präsidenten der UN-Vollversammlung, Herrn Jan Eliasson, dafür zu danken, dass er ein Konzept für einen neuen Menschenrechtsrat vorgestellt hat, das zwar nicht alle Wünsche erfüllt, aber einen erheblichen Schritt nach vorne bedeutet und einen Fortschritt in der Arbeit des Gremiums ermöglicht hat. Führende Menschenrechtsorganisationen weltweit wie Amnesty International und Human Rights Watch haben ganz realpolitisch festgestellt, dass das ein Schritt nach vorne ist, der unterstützt werden muss. Insofern bin ich froh über den gestern gefassten Beschluss. ({1}) Das Konzept der USA war nicht überzeugender; denn bei der Idee, dass die ständigen Mitglieder des UNSicherheitsrats einen geborenen Sitz erhalten - das heißt, bei denen schauen wir nicht hin, wie sie es mit den Menschenrechten halten; ({2}) sie, auch Russland und China, sind von vornherein Mitglied in diesem Gremium, während wir bei anderen, kleineren Staaten in Zukunft noch strenger sind -, müssen wir aufpassen, dass es nicht so aussieht, als ob wir die Menschenrechtspolitik des Westens dadurch diskreditieren, dass wir sie kulturalistisch gegen andere Staaten einsetzen. Wir müssen vielmehr immer genau darauf achten, dass wir bei Freund und Feind das gleiche Maß anlegen und dort Kritik üben, wo Kritik angebracht ist. Wir dürfen nicht so tun, als dürften wir bei manchen Ländern aus politischen oder pragmatischen Gründen bewusst wegschauen. Das gilt für Russland, China, die USA wie auch für Länder wie Kuba, auf das wir heute Nachmittag noch zurückkommen werden. Ich bin froh, dass wir uns darüber einig sind, dass die Bundesregierung richtig gehandelt hat, sich konstruktiv auf den Prozess einzulassen und ihn zu unterstützen. Heute steht noch ein weiterer Antrag unserer Fraktion auf der Tagesordnung. Wir haben Anfang Januar als erste Fraktion einen Antrag zur Unterzeichnung eines Fakultativprotokolls zur UN-Anti-Folter-Konvention vorgelegt. Ich finde es wichtig, dass Deutschland das Protokoll endlich unterzeichnet. Die alte Bundesregierung hat es in der Vergangenheit vergeblich versucht, weil der Widerstand der Länder Sachsen-Anhalt, Sachsen und Niedersachsen dem entgegensteht. Ich bin froh, dass die heutige Debatte über unseren Antrag zu der Feststellung geführt hat - sicherlich im Zusammenhang mit der Diskussion der letzten Wochen und Monate über Folter in anderen Staaten und die Beteiligung deutscher Beamter an Vernehmungen von womöglich gefolterten Gefangenen -, dass das nicht mehr haltbar ist. Die Kritik der Länder entzündete sich daran, dass wir einen nationalen Mechanismus implementieren müssen, um bei allen Menschen, denen die Freiheit entzogen wurde, eine unabhängige Kontrolle durch ein eigenes Gremium einzuführen, das überprüft, ob die Menschenrechtsstandards der Anti-Folter-Konvention eingehalten werden. Ich finde, nach dem Fall Daschner, der Diskussion über Gefangene in anderen Ländern und der Vernehmung durch deutsche Beamte können wir nicht sagen: Wir sind ein Land, das über alle Zweifel erhaben ist; wir brauchen eine solche Kontrolle nicht. Ich glaube, wir können als Signatarstaat des Zusatzprotokolls andere Länder mit größerem Nachdruck auffordern, dieses Protokoll zu unterzeichnen und ihre Menschenrechtspraxis überprüfbar zu machen. Wir sollten auch dafür sorgen, dass es ein Gremium wird, das seinen Aufgaben auch nachkommen kann. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Im Vergleich mit anderen Ländern haben wir uns hinsichtlich der Signatur des Protokolls nicht mit Ruhm bekleckert. Bis zum heutigen Tag haben bereits 54 Staaten das Protokoll unterzeichnet bzw. paraphiert, 16 Staaten haben es ratifiziert. Wir hinken also schon ziemlich hinterher und sollten uns sputen. Es freut mich, dass die FDP ihren Antrag vorgelegt hat. Hätte sie ihn in den Ländern, in denen sie mitregiert - nämlich Sachsen-Anhalt und Niedersachsen -, gleich durchgesetzt, dann wären wir schon weiter. Aber Sie wissen - frei nach Lukas -: Im Himmel ist mehr Freude über einen reuigen Sünder als über 99 Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Karin Kortmann.

Karin Kortmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003161

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So bibelfest und theologisch gut wie Herr Beck kann ich das nicht formulieren. ({0}) - Ich kann das sicherlich gut, aber ich will das jetzt nicht tun. Ich will die besondere Bedeutung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen hervorheben. Das ist nicht irgendein Instrument, das wir unter „ferner liefen“ unterstützen und wertschätzen. Vielmehr handelt es sich um ein wichtiges Instrument, um für Frieden und Gerechtigkeit auf dieser Welt Sorge zu tragen. ({1}) Kriege und Konflikte haben zumeist eine doppelte Last zur Folge. Unmittelbar bedeuten sie Gewalt, Zerstörung und Rückschritte in der Entwicklung. Aber auf lange Sicht wirken Konflikte nach. Wenn versäumt wird, begangenes Unrecht aufzuarbeiten und Verletzungen aus der Vergangenheit zu bewältigen, dann steht die Zukunft eines Landes auf tönernen Füßen und es bleiben wie in den erwähnten Fällen nicht nur Narben zurück. Letztes Wochenende hat die neu gewählte chilenische Präsidentin ihr Amt angetreten. Sie wurde vor einiger Zeit in einem Zeitungsinterview gefragt, was für sie die Pinochet-Vergangenheit bedeutet. Sie hat darauf geantwortet: Nur gesäuberte Wunden können ausheilen. Sonst werden sie sich immer entzünden und Eiter bilden. - Die Wahrheit muss also an den Tag kommen. Um wie viel mehr gilt das für Gesellschaften, die aus einem Konflikt erst noch herauswachsen und die sich in einer politischen Übergangsphase befinden. Gerade dann, wenn staatliche Strukturen fragil sind, ist allein eine juristische Aufarbeitung vor Strafgerichten wenig realistisch. Menschenrechtsverletzungen müssen sicherlich gerichtlich geahndet werden; daran führt kein Weg vorbei. ({2}) Aber gerade die Wahrheits- und Versöhnungskommissionen tragen zu einer gesellschaftlichen Aufarbeitung des begangenen Unrechts bei. Sie können und dürfen allerdings eine strafrechtliche Verfolgung der Täter nicht ersetzen, wenn es sich um schwere Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt. Darüber sind wir uns alle in diesem Haus einig. Lassen Sie mich von Guatemala berichten, einem Land, das vor beinahe zehn Jahren einen Bürgerkrieg beenden konnte, der über drei Jahrzehnte währte und unvorstellbares Leid vor allem für die indigene Bevölkerung brachte. 1997, ein halbes Jahr nach dem Friedensschluss, wurde die Kommission zur historischen Aufklärung eingesetzt. Die internationale Staatengemeinschaft, aber vor allem auch die deutsche Bundesregierung haben diesen Prozess von Anfang an nicht nur personell, sondern auch finanziell und ideell unterstützt. Es ist gut, wenn wir an dieser Stelle an den Kommissionsvorsitz erinnern und Professor Tomuschat, den deutschen Völkerrechtsexperten, der ihn innehatte und im Auftrag der UNO tätig war, für seine wichtige Arbeit danken. ({3}) In dem 1999 veröffentlichten Bericht „Erinnerungen an das Schweigen“ werden schwere Menschenrechtsverletzungen mit genozidalen Zügen gegenüber der indigenen Bevölkerung festgestellt. Folter und Verschwindenlassen waren vielerorts bekannt geworden. Für die Mehrzahl der Fälle wurde das guatemaltekische Militär verantwortlich gemacht. Die Wahrheitskommission legte in ihrem umfangreichen Empfehlungskatalog die Priorität auf die Würdigung und die Entschädigung von Opfern, die Reformierung des Justizsystems, die Bildung einer multikulturellen Nation und die Ausschöpfung der prozessualen Möglichkeiten des Amnestiegesetzes, das ausdrücklich die Straftatbestände Folter, Genozid und Verschwindenlassen von der Amnestie ausnahm. Am Beispiel Guatemalas zeigt sich, dass die größte Herausforderung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen darin liegt, die Empfehlungen in eine aktive Regierungspolitik umzusetzen sowie im Bewusstsein von Gesellschaften und in Machtstrukturen zu verankern. Insgesamt lassen sich nach sieben Jahren erste Ansätze einer Umsetzung feststellen. Wir stellen aber auch fest, dass in Guatemala entschiedene Mehrheiten und Überzeugungen sowohl in der Exekutive als auch in der Legislative für eine energische Vergangenheitspolitik und eine nationale Aussöhnung bislang noch nicht vorhanden sind. Daran hat sich auch durch die Regierungspolitik von Herrn Berger nichts geändert. Mit guten und erprobten Instrumenten können die internationale und die deutsche Entwicklungspolitik zur Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen beitragen. Ich erinnere im Zusammenhang mit Guatemala daran, dass die GTZ die dortige Regierung unterstützt und bei der Umsetzung des Friedensabkommens und der Empfehlung der Wahrheitskommission tätig ist. Wir haben ein Programm mit dem Titel „Programm zur Unterstützung des Friedensprozesses“ aufgelegt. Viele Bereiche, die dort angesprochen und aufgearbeitet worden sind, können wir heute in der Regierungspolitik von Óscar Berger feststellen. Das zeigt, wie wichtig es ist, dass wir deutsche Entwicklungsinstitutionen haben, Herr Leutert, die nicht militärisch tätig sind, sondern auf zivile Krisenprävention setzen und die in ausreichendem Maße finanzielle Mittel zur Entwicklung zur Verfügung stellen, um diesem Auftrag wirkungsvoll Rechnung tragen zu können. ({4}) Weil Sie, Herr Leutert, neu in diesem Parlament sind, darf ich Sie darauf hinweisen, dass wir vor sieben Jahren damit begonnen haben, die Einrichtung des zivilen Friedensdienstes zu fördern und zu unterstützen. Bisher waren mehr als 200 dieser Friedensfachkräfte weltweit tätig. Wenn Sie sich einmal anschauen, was sie in Guatemala an wirkungsvoller und wichtiger Arbeit leisten, indem sie zu Versöhnungsprozessen in den dörflichen Gemeinschaften beitragen und bei solch wichtigen Arbeiten wie Exhumierungen den Auftrag übernehmen, den eigentlich die dortige Regierung hätte, dann erkennen Sie, wie wichtig das ist, was wir im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit dort tun und mit 75 Millionen Euro weiterhin fördern werden. ({5}) Der innere Frieden einer Gesellschaft kommt nicht von selbst. Er ist die Frucht eines schwierigen und sicherlich auch schmerzlichen Prozesses, an dem Zivilgesellschaft, Parlament und auch Regierungen teilhaben. Wir wissen, dass rückwärtsgewandtes Agieren, AmnesParl. Staatssekretärin Karin Kortmann tien oder finanzielle Entschädigungen allein nicht zu einem nachhaltigen Frieden führen. Deswegen ist es wichtig, dass wir in den bilateralen Regierungsverhandlungen mit unseren Partnerländern darauf drängen, die Empfehlungen von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen zu berücksichtigen. Wir unterstützen sie im Gegenzug beim Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturen und Institutionen, beim Schutz und bei der Wahrung von Menschenrechten und vor allem bei der Umsetzung dessen, was wir unter Good Governance verstehen. Wir wollen sie ermutigen, die Vergangenheit aufzuarbeiten, zum Wohle und für die Zukunft ihrer Gesellschaften und nicht zuletzt auch zum Gedenken an die vielen Opfer, für die wir diese Arbeit machen. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn von der CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte unsere heutige Debatte zur Menschenrechtspolitik mit einigen grundlegenden Anmerkungen zur Bedeutung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen beschließen. Diese Kommissionen sind insbesondere in Lateinamerika, aber auch in vielen Staaten Afrikas zu einem sehr wichtigen Instrument der Aufarbeitung von schweren Menschenrechtsverletzungen geworden, wobei im Vordergrund die breit angelegte Untersuchung und Dokumentation von geschehenem Unrecht durch die Einbeziehung von Opfern und Tätern gleichermaßen steht. Erfolgreich sind diese Kommissionen dann, wenn ihre Erkenntnisse und Empfehlungen Konsequenzen zeitigen, Eingang in die Regierungspolitik finden und aktiv genutzt werden, um das friedliche Zusammenleben in diesen Gesellschaften, die Opfer und Täter zugleich kennen, zu fördern. Der Weg der internationalen Gemeinschaft war zunächst ein anderer. Sie hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Bestrafung von Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Aufgabe gemacht und damit entscheidend zur Durchsetzung des Völkerrechts - von den Internationalen Militärgerichtshöfen von Nürnberg und Tokio bis hin zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag - beigetragen. Die Aufklärung des Sachverhalts ist dabei allerdings immer Gegenstand rechtsstaatlicher Verfahren vor Gerichten gewesen. Wir müssen heute einräumen, dass diese Verrechtlichung bei der Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen - so wichtig und richtig sie gewesen ist und bis heute ist - an Grenzen stößt. Das hat damit zu tun, dass die Ursachen für Menschenrechtsverletzungen heute immer häufiger nicht in zwischenstaatlichen, sondern in innerstaatlichen Konflikten zu suchen sind und dass die Behörden und die Justiz von Staaten, die nach internen Auseinandersetzungen oft noch instabil sind, nicht immer in der Lage sind, die Strafverfolgung zufrieden stellend zu bewältigen, nämlich so, dass damit Rechtsfrieden hergestellt werden kann. Gestatten Sie mir dazu eine Nebenbemerkung. Ein aktuelles Beispiel für die Begrenztheit einer nur gerichtlichen Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen ist die Diskussion nach dem Tod von Slobodan Milošević vor wenigen Tagen. Die Reaktionen darauf zeigen nämlich, wie wichtig es ist, dass auch jenseits von strafrechtlichen Konsequenzen Fakten und Wahrheit über begangenes Unrecht ermittelt und festgestellt werden können. ({0}) Die größte Sorge von Angehörigen der Opfer ist jetzt, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im ehemaligen Jugoslawien nie ans Tageslicht kommen könnten. Genau das ist aber für die Bewältigung auch des persönlich Erlebten von größter Bedeutung; denn die Überlebenden müssen damit weiterleben. Es gehört zu den äußerst erfreulichen Entwicklungen der Menschenrechtspolitik, dass Wahrheits- und Versöhnungskommissionen erfolgreicher sein können als Gerichte. Ich persönlich finde es besonders erfreulich, dass dieses Instrument von den betroffenen Staaten selbst entwickelt worden ist, dass es gewissermaßen von unten gewachsen ist und damit ein besonders hohes Akzeptanzpotenzial hat. ({1}) Wenn diese Kommissionen ein entsprechendes Mandat erhalten und auch die Unterstützung der jeweiligen Regierung genießen, dann können sie eine wesentlich breiter angelegte Untersuchung und Aufklärung von geschehenem Unrecht erreichen, als das in einem formalisierten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren möglich ist. Damit haben diese Kommissionen die Gelegenheit, eine Grundlage zu schaffen für einen gerechten Ausgleich zwischen Tätern und Opfern, für eine dauerhafte Befriedung und Versöhnung und damit auch für die Verhütung künftiger Konflikte. Opfer und Täter müssen nach solchen Auseinandersetzungen mit schwersten Menschenrechtsverletzungen nämlich nicht selten weiter miteinander leben. Die Erfahrungen zeigen allerdings auch, dass Wahrheitskommissionen kein Allheilmittel sind. Insbesondere reicht es nicht aus, wenn erfolgreiche Untersuchungsund Aufklärungsarbeiten ohne nennenswerte Konsequenzen bleiben oder gar als Anlass für großzügige Amnestien herhalten müssen. Wer individuelle Schuld für Menschenrechtsverletzungen auf sich geladen hat, muss auch künftig strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Insoweit sind Wahrheits- und Versöhnungskommissionen kein Ersatz, aber wohl eine sinnvolle Ergänzung zur Strafverfolgung. Die Aufklärung und Aufarbeitung schwerster Menschenrechtsverletzungen geht uns als Deutsche in besonderem Maße an, nicht nur weil es in unserem Interesse an Sicherheit und Frieden liegt, sondern weil wir auch eine historische Verantwortung tragen: Wir haben nach dem Zweiten Weltkrieg selbst lernen müssen, was die Aufarbeitung unserer Vergangenheit und was Versöhnungsarbeit bedeuten. Das fand in Deutschland zwar nicht in einer Wahrheitskommission statt, sondern vor allem vor Gerichten. Aber wäre nicht bei vielen Menschen - auch bei den Opfern - der Wille zu Neuanfang und Versöhnung vorhanden gewesen und wäre nicht die Mehrheit unserer Gesellschaft überzeugt gewesen, dass das ganze Ausmaß der unvorstellbaren Verbrechen des Naziregimes ans Tageslicht gebracht werden muss, dann würde uns heute schlicht die Grundlage fehlen, auf der wir unsere Vergangenheit als eine Verantwortung begreifen, die uns dauerhaft verpflichtet. Wir sehen im Übrigen an bis heute existierenden Kommissionen, etwa dem Deutsch-Tschechischen Gesprächsforum, dass wir bis heute in anderer Form durchaus Einrichtungen haben, die einen Dialog zu diesen Themen fortsetzen. Wir können dankbar sein für die Unterstützung, die wir von Dritten bei der Aufarbeitung unserer eigenen Vergangenheit erhalten haben. Ich meine, das verpflichtet uns auch heute, unsere Erfahrungen weiterzugeben und diejenigen zu unterstützen, die selbst nun ihre jüngere Vergangenheit aufarbeiten wollen und zu einer tragfähigen Aussöhnung finden müssen. Die Bundesregierung hat im Rahmen ihrer Entwicklungszusammenarbeit die Chance, die Regierungen, die sich dieser Aufgabe stellen, zu unterstützen und auch die beteiligten Akteure einzubinden. Wir wollen mit unserem Antrag die Bundesregierung ermutigen, diese Arbeit fortzuführen und sich ihrer Verantwortung zu stellen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/932 mit dem Titel „Die Bedeutung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen für eine friedliche Zukunft“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/360 und 16/455 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Straßenbaubericht 2005 - Drucksache 16/335 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. ({1}) - Bevor ich das Wort erteile, bitte ich diejenigen, die an der Debatte nicht teilnehmen wollen, den Plenarsaal zu verlassen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann. ({2})

Achim Großmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000735

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung berichtet dem Deutschen Bundestag jährlich über den Fortgang des Bundesfernstraßenbaus. So sieht es das Fernstraßenausbaugesetz vor. Der vorliegende Bericht 2005 gibt Auskunft über die Straßenbauleistungen, die aktuellen Entwicklungen sowie wichtige Neuerungen bei den rechtlichen, finanziellen und administrativen Rahmenbedingungen für den Fernstraßenbau im Jahr 2004; teilweise gibt der Bericht auch über das erste Halbjahr 2005 Auskunft. Im Juli 2003 hat das Bundeskabinett den Bundesverkehrswegeplan beschlossen, der Grundlage dafür war, dass der Deutsche Bundestag das Fünfte Fernstraßenausbauänderungsgesetz mit dem Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen beschließen konnte. Dieses ist am 16. Oktober 2004 in Kraft getreten. Der Bedarfsplan wiederum ist die gesetzliche Grundlage für die erfolgreiche Fortsetzung eines leistungsgerechten Ausbaus des Bundesfernstraßennetzes. ({0}) Da die Straße auch in Zukunft die Hauptlast des Verkehrs tragen wird, werden Lücken im Straßennetz geschlossen. Die vorhandene Infrastruktur soll erhalten und Verknüpfungspunkte mit den anderen Verkehrsträgern sollen optimiert werden. Dauerhaft soll Mobilität am Wirtschaftsstandort Deutschland gesichert werden. Der Bedarfsplan umfasst unter Einschluss einer Planungsreserve in Höhe von etwa 12 Milliarden Euro ein Gesamtinvestitionsvolumen von 80 Milliarden Euro, davon 51,5 Milliarden Euro für Projekte des vordringlichen Bedarfs sowie 28,8 Milliarden Euro für Projekte des weiteren Bedarfs. ({1}) Eine wesentliche Grundlage für die Straßenplanung ist die Verkehrsentwicklung auf den Bundesfernstraßen. So ist es immer wieder interessant, zurückzuverfolgen, wie sich diese Entwicklung in Zahlen darstellen lässt. Zunächst ist festzuhalten, dass zum Ende des Berichtsjahres im gesamten Bundesgebiet 54,5 Millionen Kfz zugelassen waren. Das sind rund 0,4 Millionen Kfz mehr als 2003. Die durchschnittlichen täglichen Verkehrsstärken - das ist das, was auf den Straßen los ist, um es einmal flapsig zu sagen - erhöhten sich im Bundesgebiet auf den Bundesautobahnen im Jahr 2004 gegenüber dem Vorjahr um 1 Prozent, auf den außerörtlichen Bundesstraßen nur um 0,1 Prozent. Der Anteil des Schwerlastverkehrs auf den Bundesautobahnen lag bei 15,3 Prozent und auf den Bundesstraßen außerorts bei 8,3 Prozent. Die seit langem beobachtete Konzentration des Straßenverkehrs auf den Autobahnen hat sich weiter fortgesetzt. Die Gesamtfahrleistung im Straßennetz der Bundesrepublik Deutschland betrug im Jahr 2004 rund 697 Milliarden Kfz-Kilometer. Das sind 2,1 Prozent mehr als im Vorjahr. Es gibt aus den Jahren 2004/05 aber noch Interessanteres zu berichten. Das ist, finde ich, spannender als diese Zahlen, die wichtig und miteinander vergleichbar sind. Auch das können Sie im Bericht nachlesen. Beispielsweise haben wir die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft gegründet, die Teile der Mauteinnahmen in Zukunft verbauen soll. Außerdem haben wir 2004 mit den Ausschreibungsvorbereitungen für die A-Modelle als PPP-Projekte, also den Bau des fünften und sechsten Streifens auf Autobahnen unter Zuhilfenahme von privaten Investoren, begonnen. Inzwischen sind wir einen deutlichen Schritt weiter. Sie wissen, vier von fünf Projekten sind bereits ausgeschrieben. ({2}) Wir haben Ortsumgehungen fertig gestellt, die Beseitigung von Bahnübergängen vorangetrieben, 123 Kilometer Bundesautobahnstrecken neu gebaut und 72 Kilometer Autobahn auf sechs und mehr Fahrstreifen erweitert sowie rund 152 Kilometer Bundesstraßen zweistreifig und 47 Kilometer vierstreifig neu oder ausgebaut. Rund 400 Kilometer Radwege an Bundesstraßen sind im Jahr 2004 fertig geworden. Im Rahmen des Umweltschutzes wurden für Lärmvorsorge und Lärmsanierung im Jahre 2004 rund 184 Millionen Euro investiert. ({3}) Der Bericht kann sich also sehen lassen. Insgesamt sind fast 5,8 Milliarden Euro investiert worden; im Jahr 2005 waren es fast 6 Milliarden Euro. Das ist eine beachtliche Leistung. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring von der FDP-Fraktion. ({0})

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Herr Staatssekretär! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man den Straßenbaubericht für ein Jahr bekommt, das von einer Bundestagswahl überschattet war ({0}) - aus Ihrer Sicht war es doch so, oder? -, ({1}) denkt man: Schauen wir mal hinein und haken die verfehlte Politik von Rot-Grün ab, die dort dokumentiert wird. ({2}) Dann liest man sich die Studie von Progtrans, die dort zitiert wird, durch und dabei fällt einem die Aussage ins Auge: Die stärkste erwartete Dynamik aller Landverkehre hat der Straßengüterverkehr. - Man denkt sich: Eine CDU/CSU-geführte Bundesregierung wird sicher angemessen darauf reagieren. Wenn man aber den vorgelegten Finanzrahmen für die Jahre 2006 ff. sieht, stellt man fest, dass auch eine CDU/CSU-geführte Bundesregierung nicht auf diese Prognose reagiert. ({3}) In Wahrheit ist nämlich das, was in Genshagen verkündet wurde, nur eine wunderbare PR-Show; die Zahlen in diesem Bericht und im Haushaltsplan sprechen eine andere Sprache. ({4}) In Wahrheit investiert die CDU/CSU-geführte Bundesregierung in diesem Jahr 600 Millionen Euro weniger in Straßenbauinvestitionen. Das wissen Sie natürlich alle. Deshalb verkünden Sie die Abweichung von der rot-grünen Planung als Erfolg, vernachlässigen dabei aber, dass mehr Investitionen nötig sind. Der sehr geschätzte Kollege Fischer hat bei der Debatte über den Straßenbaubericht 2004 gesagt, es sei ein Jammer, dass für die Verkehrsinfrastrukturfinanzierung im Jahr 2005 500 Millionen Euro weniger zur Verfügung stünden als in den Jahren 2003 und 2004. Da kann ich nur sagen: Er hat Recht. Aber mit seiner Mitwirkung sind es noch 100 Millionen Euro weniger geworden als in den Jahren unter Rot-Grün. ({5}) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, letztendlich spielte in der Debatte vor einem Jahr und auch in der jetzigen Debatte das Thema Lkw-Maut eine große Rolle. Sie alle wissen, dass wir dem Güterverkehrsgewerbe 2,2 Milliarden Euro Maut abnehmen. Das ist hier breit getragen worden, unter anderem weil in § 11 Mautgesetz steht, dass diese Mittel voll und ganz der Verkehrsinfrastruktur zufließen sollen, ({6}) und zwar zusätzlich. Das war das Vermittlungsergebnis. Die Wahrheit ist, wie diese Zahlen beweisen, eine andere. Damit begeht diese CDU/CSU-geführte Bundesregierung entgegen der Forderung vor der Bundestagswahl weiter den Mautbetrug, den wir unter Rot-Grün gemeinsam angeprangert haben. Ich kann für die FDPFraktion nur sagen: Wir bedauern sehr, dass Sie sich da nicht durchgesetzt haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union. ({7}) Man muss sich einmal folgende Zahlen vor Augen führen. Insgesamt werden dem Straßenverkehr Belastungen in Höhe von 53 Milliarden Euro aufgebürdet - KfzSteuer, Mineralölsteuer, LKW-Maut -, obwohl hier schließlich in diesem Jahr nur 4,3 Milliarden Euro an Investitionen fließen. ({8}) - Herr Tauss, über die Alkoholsteuer möchte ich mit Ihnen um diese Uhrzeit nicht debattieren. ({9}) So erreicht man in diesem Land sicher keine Akzeptanz für Nutzerfinanzierungen. Der Herr Staatssekretär hat eben auf PPP-Modelle hingewiesen und zu Recht gesagt, es müsse in diesem Bereich Verbesserungen geben. Aber es wird keine Akzeptanz für Nutzerfinanzierungen geben, wenn auf der einen Seite den Menschen Geld abgenommen wird, aber auf der anderen Seite die Versprechungen, was mit diesen Einnahmen gemacht werden soll, nicht eingehalten werden. Das ist die Realität. ({10}) Darum unterstützen wir diejenigen, die sich in der aktuellen Diskussion für die Erstattung der Maut oder für andere Möglichkeiten, das LKW-Gewerbe zu entlasten, einsetzen. Wir unterstützen die Bundesregierung bei jeder sinnvollen Investition in die Verkehrsinfrastruktur. Aber wir gehen nicht den Weg mit, den Sie im Moment gehen. Es ist schon bemerkenswert, dass diese schwarzrote Bundesregierung am Ende weniger in die Verkehrsinfrastruktur Straße investiert, als es Rot-Grün je gemacht hat. So können Sie mit unserer Unterstützung nicht rechnen. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Döring, ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Blank von der CDU/CSU-Fraktion.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Diskussion des Straßenbauberichts ist wohl die einzige Debatte in diesem Hause, in der man Zustimmung bekommt, wenn man davon spricht, dass Investitionen geplant unter die Räder gekommen oder in den Sand gesetzt worden sind. ({0}) Unbestritten spielt die Mobilität von Menschen und Gütern mit ihren unterschiedlichen Facetten eine zentrale Rolle im Leben jedes Einzelnen und bildet eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren unserer Wirtschaft. Eine Einschränkung von Mobilität beeinträchtigt nicht nur unsere Lebensqualität, sondern gefährdet auch die Möglichkeiten unserer wirtschaftlichen Entwicklung und Arbeitsplätze. Der tägliche Stau in Deutschland ist eine nicht hinnehmbare Geld- und Zeitvernichtungsmaschinerie. Studien zeigen auf, dass durch Stau jährlich 13 Millionen Stunden Zeitverlust entstehen und 33 Millionen Liter Kraftstoff zusätzlich verbraucht werden. Nachhaltige Mobilität zu schaffen und zu erhalten ist also eine komplexe Herausforderung. Daran muss sich jeder Straßenbaubericht messen lassen. Für die Straßenplanung ist die Verkehrsentwicklung wesentlich. Kfz-Bestand und der Transitverkehr sind wichtige Faktoren. Der Staatssekretär hat schon ausgeführt, dass zum Ende des Berichtszeitraums rund 54,5 Millionen Kfz in Deutschland zugelassen waren. Der Verkehr auf den Autobahnen hat weiter zugenommen. Die Verkehrsstärke auf den Bundesstraßen stagniert. Dies wird schon seit längerem beobachtet. Deshalb ist der Ausbau von Autobahnen wichtig und dringend geboten. Aber auch der Bau von Ortsumgehungen ist im Interesse und zum Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger notwendig. Für den Bau von Ortsumgehungen wurden im Berichtsjahr rund 712 Millionen Euro ausgegeben. Insgesamt beliefen sich die Istausgaben für Verkehrsinvestitionen auf insgesamt 4,9 Milliarden Euro. ({1}) Das ist leider immer noch zu wenig - auch wenn es ein stolzer Betrag ist -, um Instandhaltungsmaßnahmen sowie Neu- und Ausbau im gewünschten, aber auch im Interesse unserer Mobilität notwendigen Umfang durchzuführen; denn die Straße ist mit rund 90 Prozent der Verkehrsleistungen im Personenverkehr und mit rund 70 Prozent der Verkehrsleistung im Güterverkehr der Verkehrsträger Nummer eins in Deutschland und auch in Europa. Wenn die Straße schwächelt, schwächelt aber auch der Verbund mit anderen Verkehrsträgern. Denn die Straße ist der einzige flächendeckende Verkehrsträger, der von Haus zu Haus die notwendige intermodale Vernetzung wirklich gewährleistet. Auch der ÖPNV ist auf den Verkehrsträger Straße angewiesen, da mehr als die Hälfte der ÖPNV-Leistungen im Straßenraum erbracht werden. Dass Mobilität außerordentlich notwendig ist, zeigen die Prognosen. Im Zeitraum bis 2015 wächst die VerRenate Blank kehrsleistung im Personenverkehr und im Güterverkehr. Die Straße bleibt dabei unangefochten der wichtigste Verkehrsträger im Personen- und im Güterverkehr. Das bedeutet: Bis 2015 wird es beim Verkehrswachstum keine Trendwende geben. Das ist auch gut so. Denn Verkehrswachstum bedeutet Wirtschaftswachstum. Eine Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Verkehrsleistung - der Traum der Grünen - ist nicht machbar. Denn wirklich ernsthafte wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass dies nicht möglich ist, allerhöchstens zu 1 Prozent. Spätestens seit der EU-Osterweiterung liegt kein Land so sehr im Mittelpunkt der europäischen Verkehrsströme wie Deutschland. Die Automobilbranche stellt jeden siebten Arbeitsplatz in unserem Land. Umso nachteiliger wirken sich die seit Jahren zunehmenden Defizite der deutschen Straßeninfrastruktur auf die Verwirklichung der Wachstums- und Beschäftigungsziele aus. Ziel jeder Bundesregierung war und ist die zügige Realisierung der sieben Straßenverkehrsprojekte „Deutsche Einheit“. Nach derzeitigen Dispositionen soll das VDE-Straßennetz - mit Ausnahme der A 44 noch in diesem Jahrzehnt vollständig fertig gestellt werden. In diese sieben Projekte wurden bis Ende 2004 rund 12 Milliarden Euro investiert. Das sind rund 75 Prozent der aktuellen Investitionskosten von etwa 16 Milliarden Euro. Hinzu kommen die Finanzmittel aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung. Auch dafür wurde aus deutschen Mitteln noch einmal ein ansehnlicher Betrag von rund 900 Millionen Euro bereitgestellt. In die Anbindung der neuen Länder wurde also sehr viel investiert. Zu Klagen besteht deshalb keinerlei Anlass. Nun zum Thema Ingenieurbauwerke. Rund 15 Prozent der Brücken sind in einem kritischen Bauwerkszustand. Hier ist eine Instandsetzung umgehend erforderlich. Aber in Panik zu verfallen, ist falsch. Denn die Länder erheben Daten über den Bestand und den Erhaltungszustand. Für die Zustandsbeurteilung werden Programmsysteme nach DIN 1076 genutzt, die extra für die Bauwerksprüfung entwickelt wurden. Diese Bauwerksprüfung gilt für Brücken, Tunnel, Verkehrszeichenbrücken, Lärmschutzwände und Stützbauwerke und wird alle drei Jahre als einfache Prüfung und alle sechs Jahre als Hauptprüfung durchgeführt. Diese Prüfungen müssen vorgenommen werden. Denn Brücken und Tunnel sind hinsichtlich der Investitions- und Folgekosten die teuersten Anlagenteile der Straßen, die insbesondere durch den stetig anwachsenden Schwerverkehr extremen Belastungen ausgesetzt sind. Das Thema Tunnelsicherheit hat nicht erst mit den verheerenden Brandunfällen bei allen Verantwortlichen eine besonders hohe Priorität. ({2}) Es sind hier Regelgrundsätze geschaffen worden, die weit über die bestehende EU-Richtlinie hinausgehen. Dies ist auch richtig. Aufgrund der hohen Verkehrsbelastungen auf unseren Straßen ist dies gerechtfertigt und vertretbar, damit für die Tunnelbenutzer eine optimale Sicherheit gewährleistet ist. Zum Thema Sicherheit gehören natürlich auch die Radwege. Im Berichtszeitraum sind an Bundesstraßen Radwege in einer Größenordnung von 400 Kilometern fertig gestellt worden. Im Zeitraum von 1991 bis 2004 wurden damit Radwege in einer Größenordnung von immerhin rund 5 100 Kilometern errichtet. ({3}) Kurz vor der Fußball-WM kann man auch anhand des Straßenbauberichts feststellen: Sind die Leistungen der Klinsmann-Truppe auf dem Rasen momentan auch durchwachsen, unsere Infrastruktur im Einzugsbereich der WM-Stadien ist weltmeisterlich. Auch wenn die sportlichen Leistungen unserer Kicker möglicherweise rasch vergessen sein werden, die Bürgerinnen und Bürger haben einen klaren, dauerhaften Nutzen von den Investitionen. Ich bin auch sicher: Die Besucher aus aller Welt werden getreu dem WM-Motto „zu Gast bei Freunden“ sein und nicht im Stau stehen. Das wird mit dem Verkehrsleitkonzept zur Fußballweltmeisterschaft gelingen, das gemäß Verabredung mit den Ländern und Kommunen einheitlich und „ohne Bruch in der Wegweisungskette“ bis hin zum Stadion umgesetzt werden wird. Alle Infrastrukturentscheidungen sollten zügig getroffen werden. Planungs- und Investitionssicherheit für den Verkehrsträger Straße ist eine wichtige Voraussetzung für Klarheit und Verlässlichkeit in der Politik. Wir brauchen deshalb eine deutliche Beschleunigung von Planungszeiten und Planungsverfahren. Aus unserer Sicht lassen sich Planungsprozesse ohne Qualitätsverlust beschleunigen. Wir sind ja mitten in den Beratungen zu einem Infrastrukturbeschleunigungsgesetz. Nun zum Geld. Eine verlässliche Verstetigung der Finanzierung ist für die Planungssicherheit von großer Bedeutung. So haben die vielen Programme der letzten Jahre aufgezeigt, dass in Wahrheit keine längerfristige Finanzierungssicherheit besteht. Wir müssen deshalb zurück zu Klarheit, Transparenz und Berechenbarkeit im Planungs- und Finanzierungsbereich. Wegen der knappen Haushaltslage - auch wenn der Verkehrsbereich in den nächsten Jahren rund 4 Milliarden Euro zusätzlich erhalten soll - bleiben noch viele wünschenswerte Projekte auf der Strecke. Deshalb müssen wir PPP-Projekte vorantreiben. Dazu gehört dann natürlich auch, dass die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft von einem Inkassobüro der LKWMaut zu einer Gesellschaft umgewandelt wird, die verkehrsträgerübergreifend tätig ist, Kredite aufnehmen und PPP-Ansätze in der Verkehrswegefinanzierung weiterentwickeln kann. Vielleicht ein kleiner humorvoller Hinweis. In Nürnberg reden wir derzeit über die Umbenennung unseres Fußballstadions, des Franken-Stadions. Es hat sich eine Firma finanziell beteiligt und das Stadion hat jetzt den Namen „Easy-Credit-Stadion“. Vielleicht könnten wir auch Autobahnabschnitte nach irgendwelchen Sponsoren nennen; so bekämen wir vielleicht etwas mehr Geld in die Kassen. Zur Umsetzung des langfristig angelegten Bedarfsplans muss in den nächsten Wochen ein neuer Fünfjahresplan aufgestellt werden. Dieser Fünfjahresplan sollte in Absprache mit den Ländern, aber auch mit dem Parlament rasch zustande kommen; denn er ist die Grundlage für die Schwerpunkte der Investitionen. Wir können uns keinen Stillstand leisten; denn die heutigen Wirtschaftsstrukturen werden von Arbeitsteilung und Globalisierung beherrscht. Ohne Mobilität ist das nicht zu schaffen und deswegen brauchen wir weiter Straßenausbau und Straßenneubau. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Menzner von der Fraktion die Linke. ({0})

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, Sie haben eben schon die Zahlen über die Neubauten genannt, die im Jahr 2004 hinzugekommen sind. Was Sie verschwiegen haben, ist allerdings - dies macht der Bericht ebenfalls deutlich -, dass wir über weniger Bundesstraßenkilometer als zuvor verfügen, weil nämlich meist eher nicht so gut instand gehaltene Bundesstraßen an Kommunen und Länder überschrieben wurden. Insgesamt sind in dem Berichtszeitraum etwa 330 Kilometer Fernstraßen fertig gestellt worden, zu einem Preis pro Kilometer von etwa 5 Millionen Euro, woraus sich insgesamt die stolze Summe von 1,6 Milliarden Euro ergibt. Aber - Frau Kollegin Blank hat das eben angesprochen - sage und schreibe 3,7 Milliarden Euro sind laut diesem Bericht in den letzten Jahren in solche Autobahnen und Fernstraßen geflossen, die im Einzugsbereich von Fußballarenen liegen. Schwarz auf weiß in einem Extrakapitel wird ausgeführt: 56 Neubauund Erweiterungsmaßnahmen standen im Zusammenhang mit der Fußballweltmeisterschaft. Der Bericht benennt auch, was zu tun war, damit die Fußballfans, zumindest solche, die mit dem Auto anreisen, nicht umherirren: Willkommenstafeln an Grenzübergängen, Fernzielwegweisung; sogar an farbliche Fantrennung wurde gedacht. Alles chic, alles neu, alles perfekt. Aber was passiert jetzt, sollte die Nationalmannschaft vielleicht in der Vorrunde ausscheiden? ({0}) Nicht auszudenken! Deutsche Fußballfans sitzen als Couch-Potatoes zu Hause vor dem Fernseher und die Gäste dürften von diesen Hinweisschildern eher wenig Gebrauch machen, weil sie in der großen Mehrzahl mit der Eisenbahn oder dem Flugzeug anreisen werden. Ist dies wirklich ein Szenario, für das es sich lohnt, Milliarden von Euro in Beton zu rühren? Wir meinen, in Bezug auf die Zukunftsinvestitionen stellen sich andere Fragen. ({1}) Bei einer steigenden Verarmung der Bevölkerung, steigenden Spritpreisen und bei dem Anwachsen der Bevölkerungskreise, die sich inzwischen sehr genau überlegen, ob sie sich Autofahrten, die nicht unbedingt nötig sind, auch leisten können, sind andere Schlussfolgerungen zu ziehen. Statt Autobahnknoten im Umfeld von Fußballarenen zu optimieren, hätten wir gemeinsam das Geld viel besser in Busse und Bahnen stecken sollen, um diese zu optimieren. ({2}) Das wäre ein Zukunftsprogramm gewesen, und zwar ein Zukunftsprogramm für weniger CO2, weniger Energieverbrauch, weniger Lärmbelästigung und für mehr soziale Gerechtigkeit. ({3}) Stattdessen werfen Sie Geld aus dem Fenster für ein überzogenes Straßenbauprogramm, das, wie eben angedeutet, als unterfinanziert bezeichnet wird. Wir nennen es eher überprojektiert; denn das Geld wird immer als knapp bezeichnet. Das, was der Bund an Fernstraßen neu baut, entspricht 1 588 Baulosen für 50,7 Milliarden Euro. Das ist aber nur das, was als „vordringlicher Bedarf“ bezeichnet wird. Manche bezeichnen es auch als Märchenbuch. Wir meinen, es ist wichtiger, in die Erhaltung der Straßen zu investieren, statt in weitere Neubauten. ({4}) Es ist wichtiger, das Geld zu konzentrieren und die vorhandenen Strukturen zu erhalten. Dem Bericht kann man auch entnehmen, dass das schwer fällt und dass hier viel zu tun ist. ({5}) Die Linke sagt klipp und klar: Angesichts der vielen schadhaften Straßen und Brücken ist es viel wichtiger und vorrangiger, in vorhandene Verkehrswege zu investieren und diese instand zu halten. Das halten wir für nachhaltig, und zwar sowohl für ökonomisch und ökologisch als auch für sozial nachhaltig. Danke. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Anton Hofreiter, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Herren Staatssekretäre! Alle Jahre wieder wird der Straßenbaubericht veröffentlicht. Alle Jahre wieder steht im Bericht, dass mehr für die Unterhaltung der bereits bestehenden Infrastruktur ausgegeben werden muss, und alle Jahre wieder passiert das nicht. Im Straßenbaubericht 2000 heißt es wörtlich: Ein wesentliches Ziel der künftigen Erhaltungsplanung ist es, den Bauwerksanteil mit Zustandsnoten zwischen 3,0 bis 3,4 weiter zu senken und Zustandsnoten über 3,5 völlig zu vermeiden. Diesen Satz finden Sie fast wörtlich in vielen Berichten, so auch im aktuellen. ({0}) Was hat sich in der Wirklichkeit getan? ({1}) Der Anteil der Bauwerke, bei denen kurzfristig bis sofort eine Instandsetzung nötig ist, ist von rund 30 Prozent auf 45 Prozent gestiegen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat berechnet, dass allein für den Unterhalt der jetzt bestehenden Infrastruktur 75 bis 85 Prozent aller bis 2020 zur Verfügung stehenden Mittel benötigt werden. Nicht mitgerechnet ist, dass die Infrastruktur wächst. Es ist auch nicht zu erwarten, dass die Mittel mehr werden. Es stellt sich daher die Frage: Woher wollen Sie das Geld nehmen, sehr geehrter Vertreter von der FDP, der Sie sich bereit erklärt haben, jede Infrastrukturmaßnahme der Bundesregierung zu unterstützen? Wir Grünen unterstützen nur sinnvolle Infrastrukturmaßnahmen. ({2}) Sehr geehrte Damen und Herren von der großen Koalition, woher wollen Sie denn das Geld nehmen? Wir Grünen kämpfen seit Jahren dafür, den Anteil der Mittel für den Unterhalt im Haushalt zu erhöhen. Das Bundesfernstraßennetz hat ein geschätztes Bruttoanlagevermögen von rund 175 Milliarden Euro. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass dies die Schätzung des Ministeriums ist. Wahrscheinlich ist es höher. Es wird geringer geschätzt, um die Mittel für den Unterhalt geringer anzusetzen. Was gedenkt das Ministerium zum Unterhalt dieser wertvollen Infrastruktur ernsthaft zu tun? Wollen wir es so machen wie bei den Schienen und Straßen in Zukunft stilllegen, weil wir mit dem Unterhalt nicht mehr hinterherkommen? Was treibt das Ministerium stattdessen? Es plant vor allem Neubaustrecken, die wenig bis keinen verkehrlichen oder volkswirtschaftlichen Nutzen haben. Warum haben sie diesen Nutzen nicht? Weil sie leider in Gebieten geplant und gebaut werden, die dünn besiedelt sind oder die Abwanderungsregionen sind. Natürlich kann man sagen: Das ist Wirtschaftsförderung, das ist Regionalförderung. Das lässt sich immer behaupten. Nur leider entspricht es nicht der Wahrheit. Sie können in strukturschwachen Regionen und in unserem vorhandenen dichten Infrastrukturnetz mit zusätzlichen Straßen keine Arbeitsplätze schaffen. Das müsste Ihnen nach den vielen Beispielen in der Praxis langsam klar geworden sein. ({3}) Wir Grünen fordern deshalb, die Aussage des Berichts, dass mehr Geld in den Unterhalt zu stecken sei, endlich ernst zu nehmen und in reale Zahlen umzusetzen, intelligente Konzepte zur Regionalförderung zu entwickeln, statt zu glauben, mit vierspurigen Autobahnen in dünn besiedelten Regionen etwas erreichen zu können, mehr Geld für eine sinnvolle Gestaltung des ÖPNV auszugeben oder mehr Geld in Bildung und Forschung zu investieren - Geld kann man auch umwidmen -; denn es ist immer noch sinnvoller, in Köpfe statt in Beton zu investieren. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Jörg Vogelsänger, SPDFraktion. ({0})

Jörg Vogelsänger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Beim Ausbau der Infrastruktur wurde in Deutschland vieles erreicht. Das sollte hier nicht schlechtgeredet werden; denn sehr viele waren daran beteiligt. ({0}) Das betrifft die schwarz-gelbe Regierung genauso wie die rot-grüne Regierung. Ich bin sogar ein Stück weit stolz darauf, dass unter Rot-Grün ein bisschen mehr erreicht wurde. Vielleicht ist das ein Ansporn für uns, noch etwas besser zu werden. ({1}) Wir brauchen uns nicht zu streiten: Seit 1992 lagen die Ausgaben für die Bundesfernstraßen immer über 5 Milliarden Euro. Mein Dank dafür richtet sich nicht nur an die Regierung, sondern an alle Parlamentarier; denn wir sind der Souverän, wir haben das beschlossen und das ist auch richtig so. ({2}) Obwohl vieles erreicht wurde, stehen wir gemeinsam vor großen Herausforderungen. Der noch nicht zu Ende gegangene Winter hat uns deutlich gemacht, wie sehr wir alle auf eine funktionierende Verkehrsinfrastruktur angewiesen sind. Das Wetter lässt sich nur sehr bedingt beeinflussen. Bei Investitionsentscheidungen stehen wir alle in der Pflicht. Herr Döring, dieser Pflicht kommt die neue Bundesregierung nach. Die 4,3 Milliarden Euro für das zusätzliche Programm sind gut angelegt. Mit dem Geld werden in der Bauphase Arbeitsplätze geschaffen und die Standortbedingungen verbessert. ({3}) Das Thema Standortbedingungen ist ganz aktuell. Heute haben wir das Urteil des Bundesverwaltungsge1948 richts erhalten. Die Koalition hat Weitsicht bewiesen; denn die Verkehrsanbindung an den Flughafen BBI wird vom Bund unterstützt. Das werden wir Parlamentarier natürlich einfordern. ({4}) Eine strategisch wichtige Entscheidung waren und sind die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“. Es gibt immer wieder Stimmen, die besagen, dass diese Projekte ausschließlich den neuen Ländern zugute kommen. Das ist grundsätzlich falsch. Herr Döring, hier seien die A 2 nach Niedersachsen und die A 9 nach Bayern genannt. Ich denke, auch Bayern und Niedersachsen profitieren außerordentlich von den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“. ({5}) - Richtig. Wir haben die wirklich spannende Aufgabe, gemeinsam mit den Ländern den Fünfjahresplan für Bundesfernstraßen zu erstellen. Die Leute aus dem Osten kennen Fünfjahrespläne noch. Wir sollten uns allerdings kein Beispiel an ihnen nehmen. Das Soll wurde immer übererfüllt und die Volkswirtschaft ist trotzdem kaputtgegangen. ({6}) Der Fünfjahresplan wird ein Schwerpunkt unserer Arbeit sein. Dabei wird es nicht nur Jubel geben; denn nicht jedes gewünschte Projekt kann bis 2010 realisiert werden. Deshalb brauchen wir eine umfassende Diskussion mit den Ländern, aber auch im parlamentarischen Bereich. Ich denke, es ist ganz wichtig, dass wir das Ganze gemeinsam mit den Ländern umsetzen; denn sie sind für die Planung zuständig. Daran sieht man, dass es nur in Gemeinsamkeit geht. Da nicht alles umsetzbar ist, sollten wir weitere Finanzierungsmöglichkeiten prüfen. Ich denke, von einem EFRE-Bundesprogramm in der neuen Förderperiode 2007 bis 2013 profitieren Bund und Länder gemeinsam. ({7}) Zudem gilt es, weitere Möglichkeiten - von der privaten Vorfinanzierung bis hin zu Betreibermodellen für den Fernstraßenbau - zu erschließen. Die Maut - sie hat hier schon eine Rolle gespielt - ist außerordentlich erfolgreich. Der eine oder andere hat daran gar nicht mehr geglaubt. Der Schritt weg von einer Steuerfinanzierung hin zu einer Nutzerfinanzierung der Verkehrsinfrastruktur ist richtig. ({8}) Ein Thema, das hier nicht zu kurz kommen sollte, ist der Ausbau des Radwegenetzes. Frau Kollegin Blank hat die Zahlen schon genannt. ({9}) Ich bin der festen Überzeugung, dass die 5 100 Kilometer neu gebauter Radwege an Bundesfernstraßen Leben gerettet haben. Ich möchte mich bei der Berichterstatterin meiner Fraktion, Heidi Wright, und den Berichterstattern aller anderen Fraktionen dafür bedanken. Im Übrigen sollten wir die Mittel für den Radwegebau weiterhin vor die Klammer ziehen. Denn 100 Millionen Euro verbaut man schneller an einer Autobahn als an Radwegen. Deshalb sollten wir hier ein besonderes Zeichen setzen und uns weiterhin für den Radwegebau einsetzen. ({10}) Sie sehen, die Verkehrspolitik bleibt vielseitig und interessant. Jeder Wahlkreis - das wird sicherlich auch beim Fünfjahresplan so sein - ist davon unmittelbar betroffen. Ich wünsche uns eine spannende Diskussion zum Haushalt und faire Diskussionen zum Fünfjahresplan und zu den vielen weiteren Themen der Verkehrspolitik. Der Bericht der Bundesregierung ist dafür eine gute Grundlage. Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/335 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 sowie Zusatzpunkt 4 auf: 7 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch - Drucksache 16/856 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Innenausschuss ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid Wolff ({1}), Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Innere Sicherheit durch Regelungen zum Arbeitskampfrecht gewährleisten - Drucksache 16/953 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2}) Innenausschuss Vizepräsident Wolfgang Thierse Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Alexander Ulrich, Fraktion Die Linke. ({3})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heutigen Antrag der Linken kommt ein weiterer Grund hinzu, warum es gut ist, dass es die Fraktion Die Linke in diesem Hause gibt. ({0}) Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften haben durch uns wieder eine Stimme im Bundestag. Das ist ein großer Fortschritt für dieses Haus. ({1}) Insbesondere die SPD hat in ihrer Regierungszeit seit 1998 trotz entsprechender Wahlaussagen und Parteibeschlüsse die Chance verpasst, den Antistreikparagrafen abzuschaffen. Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass die SPD in Wahlkampfzeiten die Arbeitnehmer entdeckt und dann in ihrer Regierungsverantwortung das Gegenteil ihrer Wahlversprechen macht. ({2}) Gerade im Zeitalter der Globalisierung ist es wichtig, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich in Gewerkschaften organisieren und für ihre Rechte streiken können. Dies stärkt den Sozialstaat und die Demokratie. ({3}) Mit dem § 146 SGB III ist die gleiche Augenhöhe zwischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Arbeitgebern nicht mehr gewährleistet. ({4}) Die Regierung Kohl war es, die 1986 trotz massiver Widerstände der Gewerkschaften diese gesetzliche Änderung bewirkt hat mit dem Ziel, die Gewerkschaften zu schwächen. Die Regierung Schröder hat diesen Paragrafen trotz mehrfacher Ankündigungen in der ersten Amtszeit nicht verändert. ({5}) Man ist wie so oft vor den Wünschen der Arbeitgeberund der Wirtschaftsverbände eingeknickt, obwohl - wir erinnern uns - 202 SPD-Abgeordnete und vier SPD-geführte Länder vor das Verfassungsgericht zogen. Für die SPD-Fraktion steht heute einmal mehr die Glaubwürdigkeit ihrer Politik auf dem Spiel. ({6}) Ohne ein wirksames Streikrecht kann die Tarifautonomie auf Dauer nicht funktionieren. ({7}) Die Chancengleichheit in Arbeitskämpfen muss wieder hergestellt werden. Wir brauchen die Wiedereinführung des alten § 116 Arbeitsförderungsgesetz in das Sozialgesetzbuch. ({8}) Durch die Möglichkeit der kalten Aussperrung ist die Chancengleichheit in Tarifauseinandersetzungen nicht mehr gegeben. Insoweit stützen wir unseren Antrag auch auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juli 1995. Das Gericht hatte ausdrücklich festgestellt, dass die Verwehrung von Kurzarbeitergeld die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften einschränkt. Eine verfassungswidrige Störung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie wurde noch nicht festgestellt. Sollte diese aber eintreten, wäre der Gesetzgeber aufgefordert, entsprechende Maßnahmen zur Wahrung der Tarifautonomie zu treffen. ({9}) Jeden Tag können wir in der Zeitung lesen, dass Unternehmen trotz Rekordgewinnen Massenentlassungen ankündigen und dass trotz der guten Ertragssituation die Einkommen in vielen Branchen dieser Entwicklung hinterherhinken, und zwar zum Leidwesen der Binnenwirtschaft und der Sozialversicherung. Angesichts dieser Tatsache muss der Gesetzgeber in diesem Jahr handeln. ({10}) Niemand muss Angst davor haben, dass unsere Gesetzgebung zu einem ständigen Arbeitskampf führen wird. Internationale Vergleiche zeigen - das wird auch derzeit am Beispiel Verdi deutlich -, dass die deutschen Gewerkschaften den Streik immer als letztes Mittel eingesetzt haben. Das ist gut und war auch schon vor Einführung des Antistreikparagrafen so. ({11}) Nun zum Antrag der FDP. ({12}) Wer wie Sie Gewerkschaften als „Plage für dieses Land“ bezeichnet, muss ein gestörtes Verhältnis zur Demokratie haben. ({13}) In diesem Kontext werten wir auch Ihren populistischen Antrag. Wer die Angst der Menschen vor der Vogelgrippe gegen die Gewerkschaften instrumentalisieren will, der will einen anderen Staat: ein Land ohne Gewerkschaften und Arbeitnehmerrechte. Nicht mit uns! ({14}) Dass Sie einen solchen Zustand wollen, dazu passt auch die Aussage Ihres Wirtschaftsministers in RheinlandPfalz, der tatsächlich beabsichtigt, mit disziplinarischen Maßnahmen gegen die Streikenden im öffentlichen Dienst vorzugehen. ({15}) - Nein, das ist nicht die gleiche Augenhöhe. Wie sollen sich die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer denn sonst gegen die Angriffe auf den öffentlichen Dienst wehren? Demnächst kommt es möglicherweise auch in der Metall- und Elektroindustrie zu einem Streik. Wir wollen in diesem Land starke Gewerkschaften und umfangreiche Arbeitnehmerrechte. ({16}) Deshalb fordere ich Sie auf: Unterstützen Sie unseren Gesetzentwurf! Die SPD müsste das eigentlich folgenlos tun können. Vielen Dank. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Paul Lehrieder, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Linkspartei hat es sich nicht nehmen lassen, ihre Anbiederung an die Gewerkschaften heute bei gleich zwei Gelegenheiten zu zelebrieren. ({0}) Die eine Gelegenheit, die Aktuelle Stunde, haben wir gerade hinter uns. Mit dem zweiten Streich soll das Rad der Gesetzgebung nun ohne Not und fast auf den Tag genau um 20 Jahre zurückgedreht werden. ({1}) - Sehr geehrte Kollegen von der Linkspartei, hören Sie mir doch einmal zu. Sie versuchen, Probleme von heute mit Mitteln aus dem Jahre 1969 zu lösen. Sie stellen die Gewerkschaften in Ihrem Gesetzentwurf als bemitleidenswerte Opfer des § 146 SGB III bzw. des früheren § 116 AFG dar. ({2}) Dabei ignorieren Sie aber völlig, dass es nie darum ging, das Gleichgewicht zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften im Arbeitskampf zu verändern. ({3}) Durch die 1986 beschlossene Neuregelung des früheren § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes sollte die neutrale Rolle des Staates und der damaligen Bundesanstalt für Arbeit gesichert werden - nicht mehr und nicht weniger. ({4}) Welches Verständnis Sie von der neutralen Rolle des Staates haben, konnten wir heute Morgen sehr leidvoll durch das von der Linkspartei dargebotene Trauerspiel vernehmen, ({5}) als Sie sich plötzlich gelbe Säcke übergestülpt haben. Ich dachte, es geht um das Thema Recycling: dass die SED in die PDS und diese dann wiederum in die Linkspartei recycelt wird ({6}) bzw. dass alte Gewerkschaftler in die WASG recycelt werden und diese ebenfalls in die Linkspartei recycelt wird. Aber es ging Ihnen nicht um Recycling. Das war die Demonstration einer politischen Meinung. Daher sollten Sie sich einmal die Mühe machen, in dem Schubfach unter Ihrem Tisch nachzuschauen. Dort finden Sie ein graues Büchlein: die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. In § 4 Abs. 2 von Anhang 1, der Hausordnung des Deutschen Bundestages, heißt es: „Es ist nicht gestattet, Spruchbänder oder Transparente zu entfalten.“ Es wäre wirklich an der Zeit - das ist längst überfällig -, dass sich auch die Linkspartei an die Würde dieses Hohen Hauses hält, statt es nicht nur durch verbale Entgleisungen, sondern auch durch derartige Trauerspiele herabzuwürdigen. ({7}) - Darauf komme ich noch zu sprechen. Niemand, weder Gewerkschaften noch Arbeitgeber, können einseitige Vorteile für sich in Anspruch nehmen und ihre Durchsetzung anschließend vom Staat finanzieren lassen. Zu dieser Neutralität ist der Staat verpflichPaul Lehrieder tet; sonst wäre die Tarifautonomie bedroht. Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, der Teil von Ihnen, der aus dem Westen stammt, müsste das eigentlich verinnerlicht haben. Von denjenigen von Ihnen, die aus der ehemaligen DDR stammen, sollte es nicht zu viel verlangt sein, den Ballast der ehemaligen Staatspartei, der Reglementierungen der Wirtschaft und der FDGB-Nostalgie endlich über Bord zu werfen. ({8}) Vielleicht sollte ich in diesem Zusammenhang Grundsätzliches klarstellen: Im Allgemeinen erhalten Arbeitnehmer bei arbeitskampfbedingtem Arbeitsausfall Leistungen von der Bundesagentur für Arbeit. Außerhalb des Fachbereichs, in dem gestreikt wird - das wird in Ihrem Gesetzentwurf mit keinem Wort erwähnt -, wird Arbeitslosen- oder Kurzarbeiterunterstützung immer gezahlt, im Kampfgebiet dagegen nicht. Die Arbeitnehmer, die außerhalb des räumlichen Bereichs, aber im gleichen fachlichen Tarifbereich beschäftigt sind, erhalten im allgemeinen Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld, wenn infolge eines Arbeitskampfes Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit eintritt. ({9}) - Ich komme gleich zur kalten Aussperrung; warten Sie es doch bitte ab. Keine Leistungen erhält, wer am Arbeitskampf beteiligt ist, also die Streikenden. Das gilt ferner für diejenigen, welche die gleichen Forderungen erheben und vom Ergebnis des Arbeitskampfes profitieren, aber nicht selbst streiken. Diese Intention sollten Sie mittlerweile kennen! Wenn im mittelbar betroffenen Gebiet dieselben Ziele verfolgt werden, dann ruhen nach der Neutralitätsordnung die Ansprüche. Es kann nicht sein und es kann auch niemand verlangen, dass eine Gewerkschaft mit zwei Gruppen ein gleiches Ziel verfolgt: mit einer Gruppe, die sie streiken lässt, und mit einer anderen, die sie sich von der Bundesagentur bezahlen lässt. Wir wollen und dürfen Stellvertreterstreiks nicht finanzieren! ({10}) Die Gewährung von Kurzarbeitergeld an so genannte kalt Ausgesperrte - ich komme zu Ihrem Begriff; moderieren Sie sich doch ein bisschen! - verstößt grundsätzlich gegen die Neutralität der Bundesagentur, deren Mittel von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gemeinsam aufgebracht werden müssen. Die Solidarität der mittelbar betroffenen Arbeitnehmer mit den aktiv Streikenden würde gestärkt, der Arbeitskampf dadurch einseitig beeinflusst. Würden wir den Tarifpartnern ermöglichen, jedes Arbeitskampfrisiko auf die Bundesagentur abzuladen, dann würden sie auch bestimmen, wann wir die Beiträge erhöhen müssen. Die Linke behauptet in ihrem Gesetzentwurf, die Streikkassen wären innerhalb weniger Tagen leer, wenn die Gewerkschaften an kalt ausgesperrte Mitglieder zahlen müssten. Dabei sollte sie auch das Folgende bedenken: Die Arbeitslosenversicherung kann, wie jede Schadensversicherung, das entsprechende Arbeitskampfrisiko schon deshalb nicht tragen, weil ihre Mittel bei einem Schwerpunktstreik innerhalb weniger Monate erschöpft wären. Der Schwarze Peter der Beitragserhöhung bliebe dann am Parlament hängen. Ich kann mir gut vorstellen, wer in einem solchen Fall sofort auf die Barrikaden gehen würde: meine - in Anführungszeichen Freunde von der Linkspartei. ({11}) Eine allgemeine Subventionierung von Arbeitskämpfen und ihren Folgen würde die Gewerkschaften quasi zu Staatsapparaten machen. Das kann niemand wollen, der es mit freien Gewerkschaften ernst meint. Der Staat würde zum Mitbestimmer: Denn wer für die Folgen eintreten müsste, würde auch über die Ursachen mitreden wollen. Die Garantie von Neutralität und Tarifautonomie ist nicht der einzige Vorteil, den § 146 Abs. 3 SGB III den Arbeitnehmern bietet: So muss der Arbeitgeber nachweisen - auch das verschweigen Sie in Ihrem Gesetzentwurf -, dass der Arbeitsausfall Folge eines Arbeitskampfes ist. Zu diesem Nachweis ist eine Stellungnahme der Betriebsvertretung erforderlich. Arbeitgeber können einen Streik in einem anderen Tarifgebiet daher nicht zum Vorwand dafür nehmen, dass sie die Arbeit einstellen lassen. Die Regelung von 1986 wurde getroffen, um beiden Seiten die Umgehung der Neutralität zu versperren. Die Tarifautonomie braucht darüber hinaus die Neutralität der Bundesagentur, damit die Beschäftigten sich nicht in der Lage wiederfinden, dass ihre Arbeitskämpfe fortdauernd von Gerichtsverfahren begleitet werden. Sonst wären sie in der Gefahr, dass Leistungen unter Vorbehalt ausgezahlt werden - mit dem Risiko einer Rückzahlung. Genau dieses Risiko wird mit § 146 SGB III eingedämmt. Im Gesetzentwurf der Linkspartei heißt es weiter: § 146 SGB III verhindert … die Chancengleichheit der Tarifvertragspartner und behindert so die Gewerkschaften, an einer sinnvollen Organisation des Arbeitslebens mitzuwirken. Dabei wird das Druckpotenzial der Gewerkschaften völlig unterschlagen. Ein Rückfall in die Regelung von 1969 trägt den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen der heutigen Zeit in keiner Weise Rechnung. Sie geben auch keine Antwort auf die Frage, wie der Arbeitskampf unter den aktuellen Bedingungen am Leben erhalten werden kann, ohne dass er zum Vernichtungskampf wird. Die Frage, ob Ihnen Arbeitnehmerinteressen und Tarifautonomie wirklich am Herzen liegen, beantworten Sie mit Ihrem Gesetzentwurf und Ihrem Verhalten in der heutigen Aktuellen Stunde also mit einem klaren und deutlichen Nein - es geht Ihnen einzig und allein um neue Bündnispartner im Gewerkschaftslager. ({12}) - Das habe ich schon gemerkt. Aus fachlicher Sicht besteht derzeit keine Notwendigkeit, die Regelungen zur Neutralitätspflicht der Bundesagentur für Arbeit im Arbeitskampf zu ändern. Das Bundesverfassungsgericht hat 1995 gefordert, dass der Gesetzgeber Maßnahmen zur Wahrung der Tarifautonomie trifft, wenn sich zeigen sollte, dass in der Folge dieser Regelung strukturelle Ungleichheiten der Tarifvertragsparteien auftreten, die ein ausgewogenes Aushandeln der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nicht mehr zulassen und durch die Rechtsprechung nicht ausgeglichen werden können. Hierfür gibt es zurzeit aber keinerlei Hinweise. Die immer wiederkehrende Diskussion um den so genannten Streikparagrafen hat zwischenzeitlich Züge einer ideologischen Debatte angenommen, während die tatsächlichen Ergebnisse der Arbeitskämpfe seit 1986 zeigen, dass die Schlagkraft der Gewerkschaften von der gesetzlichen Regelung nicht beeinträchtigt wird. Die Arbeitgeber der in erster Linie betroffenen Metall- und Elektroindustrie beklagen regelmäßig, dass die Tarifergebnisse tendenziell stärker zu ihren Lasten gehen. Konkret ist der Vorschlag der Fraktion Die Linke zur Lösung ungeeignet. Die Frage, wann Leistungen der Bundesagentur für Arbeit an mittelbar betroffene Arbeitnehmer die Pflicht zur Neutralität im Arbeitskampf verletzen, ist durch den Gesetzgeber festgelegt worden. Der Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke macht deutlich, dass sie die Entscheidung in dieser Frage im Gesetz offen lassen und wieder an die Selbstverwaltung der Bundesagentur für Arbeit delegieren will. Dies dürfte rechtlich nicht mehr möglich sein, weil es um grundrechtsrelevante Entscheidungen geht, die in den Kernbereich der betroffenen Grundrechte aus Art. 9 Grundgesetz - hierunter fällt die Tarifautonomie - und aus Art. 14 Grundgesetz - zum Grundrecht auf Eigentum zählt der Anspruch auf Arbeitslosengeld - fallen. Zudem dürfte es illusorisch sein, zu erwarten, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Rahmen der Selbstverwaltung in der Praxis auf eine neue Neutralitätsanordnung einigen. Der Vorschlag der Fraktion Die Linke läuft im Ergebnis darauf hinaus, dass die öffentliche Bank in der Selbstverwaltung der Bundesagentur für Arbeit den Ersatzgesetzgeber spielt und den Inhalt der Neutralitätsanordnung durch Zustimmung zur Auffassung der einen oder anderen Seite bestimmen müsste. Eine Rechtsänderung ist in diesem Umfang insofern überhaupt nicht angezeigt. Danke schön. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Heinrich Kolb, FDPFraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte hatte ihren Vorlauf in der heutigen Aktuellen Stunde, in der es teilweise sehr hitzig zugegangen ist. In der Einführung des Kollegen Ulrich ist angeklungen, die FDP stehe nicht auf dem Boden des Grundgesetzes. Für die FDP-Fraktion möchte ich sehr deutlich sagen: Die FDP bekennt sich zur Tarifautonomie, die wesentlicher Bestandteil unseres Grundgesetzes ist. Natürlich gehört das Recht auf Streik zwingend zur Tarifautonomie. Das steht für die FDP-Bundestagsfraktion außer Frage. Das will ich hier sehr deutlich sagen. ({0}) Auf Kosten der Sicherheit darf nach unserer Auffassung aber nicht gestreikt werden. ({1}) - Hören Sie mir zu. - Die Streiks im öffentlichen Dienst in den vergangenen Wochen haben zum Teil zu unverhältnismäßigen Beeinträchtigungen der Sicherheit geführt. Die vorsätzlich nicht geräumten Straßen beispielsweise stellten ein hohes Sicherheitsrisiko dar. Die meisten, die mit ihrem Fahrzeug unterwegs waren, konnten es sich nicht aussuchen, zu fahren oder nicht. Sie mussten mit ihrem Wagen unterwegs sein. ({2}) In solchen Situationen dürfen Menschenleben nicht gefährdet werden, um tarifpolitische Forderungen durchzusetzen. ({3}) Das ist unverantwortlich und aus unserer Sicht nicht hinnehmbar. Deswegen legen wir hier heute einen Antrag vor, mit dem wir deutlich machen wollen, dass eine Notfallversorgung und die innere Sicherheit jederzeit, also auch im Streikfall, sichergestellt sein müssen. Herr Kollege Ulrich, Sie würden das sicher auch etwas differenzierter betrachten, wenn Sie in Baden-Württemberg wohnten und sich vor Ihrer Haustür nach sechs Wochen Müllberge türmen würden, auf denen Ratten munter herumturnen. Damit sind erhebliche Seuchengefahren verbunden. Es ist für die Menschen nicht nachvollziehbar, dass es in einem solchen Fall nicht möglich sein kann, im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. ({4}) Weil wir wollen, dass in einem solchen Fall etwas geschehen kann, wollen wir eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage zum Ausschluss einzelner Streikmaßnahmen bei einer konkreten erheblichen Gefahr für verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit und Freiheit. Das ist der Tenor des Antrags, den die FDP hier eingeDr. Heinrich L. Kolb bracht hat, um für solche Fälle Vorsorge zu treffen. Wir meinen, dass eine zusammenhängende Kodierung des Arbeitskampfrechts verfassungsrechtlich geboten ist. Die zuständigen Stellen müssen bei Arbeitskämpfen Maßnahmen ergreifen können, um die Notfallversorgung, den Katastrophenschutz und die Einsatzfähigkeit der Rettungsdienste und der Polizei sicherstellen zu können und erheblichen Gefahren, zum Beispiel bei Beeinträchtigungen im Straßenverkehr, effektiv und schnell begegnen zu können. Vor diesem Hintergrund hoffe ich auf Ihre Zustimmung zu unserem Antrag. Den Gesetzentwurf der Linkspartei sollte dieses Hohe Haus allerdings ablehnen, weil er in die völlig falsche Richtung geht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ich muss Ihnen sagen: Wenn die Linkspartei schon mit Riesenschritten zurück in die Vergangenheit möchte, dann muss man an dieser Stelle auch erwähnen, dass bis 1969 mittelbar vom Arbeitskampf Betroffene grundsätzlich kein Arbeitslosengeld erhielten. Gestreikt wurde damals trotzdem. Das von Ihnen angeführte Argument der Chancengleichheit der Tarifparteien zieht nach unserer Auffassung nicht. Vielmehr ist es so, dass die Gewährung von Arbeitslosengeld auch an mittelbar Betroffene, also an kalt Ausgesperrte, zur Stärkung der Solidarität und damit unter Umständen auch erst zu einer Beeinflussung des Arbeitskampfes führen kann und wird. Dann wäre allerdings die Frage der Neutralität der Bundesagentur für Arbeit gestellt. Nach unserer festen Überzeugung muss sie sich zwingend neutral verhalten. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass in der derzeitigen Regelung auch eine Härtefallklausel vorgesehen ist. Mit dem Gesetzentwurf aus dem Jahre 1986 wurde gerade das Ziel verfolgt, die Neutralität der Bundesanstalt zu sichern. Die Vorschriften des damals noch geltenden Arbeitsförderungsgesetzes zu der Frage, ob und gegebenenfalls wann Leistungsansprüche gegen die ehemalige Bundesanstalt für Arbeit derjenigen Arbeitnehmer ruhen, die mittelbar vom Arbeitskampf außerhalb eines Arbeitskampfbezirkes betroffen sind, wurden damals konkretisiert. Das Streikrecht an sich wurde aber nicht geändert. Außer Ihnen hat das in diesem Hause in den letzten Jahren auch niemand infrage gestellt. ({5}) Ich glaube, hier muss auch gesehen werden, dass gerade die Gewerkschaften Fernwirkungen in Drittbetrieben, also bei mittelbar Betroffenen, durchaus als Mittel des Arbeitskampfes einsetzen. Die von der Linken gewünschte Gesetzesänderung würde dazu führen, dass die beitragsfinanzierte Bundesagentur für Arbeit zahlen muss, um die Streikkassen der Gewerkschaften zu schonen. Ich sage Ihnen: Bei allem Verständnis für das Prinzip der Kostenminimierung kann dies nicht die Aufgabe der Bundesagentur für Arbeit sein. Eine weitergehende Inanspruchnahme der Bundesagentur für Arbeit, als wir sie derzeit haben, würde im Übrigen auch zu Beitragserhöhungen führen. Das ist das Gegenteil von dem, was wir brauchen. Für die Schaffung neuer Arbeitsplätze ist vielmehr neben anderem eine Senkung der Lohnnebenkosten dringend erforderlich. ({6}) Deswegen gibt es für uns keinen überzeugenden Grund, dem Gesetzentwurf der Linkspartei zuzustimmen. Wir werden diesen Entwurf ablehnen und ich hoffe, dass die Mehrheit des Hauses dies ebenso sehen wird. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Anette Kramme, SPD-Fraktion, das Wort.

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren von der Linken, an sich müsste Ihnen unsere Antwort auf den Gesetzentwurf bekannt sein. Ihre Vorgängerfraktion PDS brachte denselben Antrag wortidentisch bereits in der 14. Legislaturperiode ein. ({0}) Damals hat die SPD diesen Gesetzentwurf abgelehnt und ich kann es gleich vorwegnehmen: Er wird auch aktuell keine Zustimmung erfahren. Ihre vorgeschlagene Neuregelung stellt keine Lösung dar, sondern ist, wie so oft bei Ihnen, blanker Populismus. ({1}) Einer rechtlichen Überprüfung hält Ihr Vorschlag nämlich nicht stand. Die Rückkehr zum ursprünglichen § 116 AFG funktioniert nicht. Sie wollen, dass die Bundesagentur für Arbeit wieder die Entscheidung über die Neutralität von Lohnersatzleistungen treffen soll. Es handelt sich hierbei aber um eine grundrechtsrelevante Entscheidung nach Art. 9 und Art. 14 des Grundgesetzes. Diese darf der Verwaltung vom Gesetzgeber nicht überlassen werden. ({2}) In der Praxis dürfte es überdies illusorisch sein, zu erwarten, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Selbstverwaltung auf eine neue Neutralitätsanordnung einigen. Deshalb dürfte Ihr Vorschlag keine tatsächliche Hilfestellung für die Gewerkschaften bedeuten. ({3}) Was bedeutet § 146 SGB III in der aktuellen Fassung für die Arbeitnehmer, die infolge eines Streiks kurzarbeiten oder arbeitslos werden? Erste Konstellation. Alle Arbeitnehmer außerhalb der umkämpften Tarifbranche erhalten von der BA alle Leistungen ohne Einschränkung. Um zu verdeutlichen, was das heißt, will ich ein Beispiel bilden: Es gibt einen Streik in der Metallindustrie. Dieser löst einen Arbeitsausfall bei einem zuliefernden Textilbetrieb aus. Die Kurzarbeiter im betroffenen Textilunternehmen erhalten Leistungen, da sie zu einer anderen Tarifbranche gehören. Zweite Konstellation: Alle Arbeitnehmer der umkämpften Tarifbranche innerhalb der umkämpften Tarifgebiete erhalten keine Leistungen der BA, unabhängig davon, ob sie selbst streiken oder vom Arbeitskampf nur mittelbar betroffen sind. Auch hier will ich ein Beispiel nennen. In der Metallindustrie Tarifbezirk Nordbaden findet ein Streik statt. Bestreikt wird ein mittelständisches Unternehmen in Nordbaden, das beispielsweise Kolben für Kraftfahrzeuge herstellt. Infolge des Streiks kann bei Daimler-Chrysler in Stuttgart, ebenfalls in Nordbaden, nicht produziert werden. Die betroffenen Kurzarbeiter erhalten keine Leistungen. Dritte Konstellation: Arbeitnehmer der umkämpften Tarifbranche außerhalb der umkämpften Tarifgebiete erhalten dann keine Leistungen der BA, wenn der Arbeitskampf stellvertretend für ihre Arbeitsbedingungen mitgeführt wird. Konkret bedeutet das Folgendes: Infolge des Arbeitskampfes, beispielsweise in der Metallindustrie Nordbaden, kommt es in Metallbetrieben in Südbaden zu Arbeitsausfällen. Die mittelbar betroffenen Kurzarbeiter in Südbaden erhalten keine Leistungen, wenn der Arbeitskampf stellvertretend für ihre Arbeitsbedingungen mitgeführt wird.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ulrich?

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber selbstverständlich.

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin, Sie haben vorhin etwas über den Antrag der damaligen PDS-Fraktion im Bundestag gesagt und darauf hingewiesen, dass die SPD diesen Antrag auch heute ablehnen wird. Ihr damaliger Arbeitsminister Walter Riester, vorher Zweiter Vorsitzender der IG Metall, hatte angekündigt, dass dieses Gesetz in der 15. Legislaturperiode auf den Weg gebracht wird. ({0}) Ist Ihnen das bekannt oder sagen Sie, dass Sie damit nichts mehr zu tun haben wollen?

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das kann ich Ihnen ganz einfach beantworten: Walter Riester hat damals zugesagt, eine Überprüfung dieser Regelung vorzunehmen. Dies entspricht vollumfänglich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Diese Position teilen wir auch heute. ({0}) 1986 änderte die Regierung Kohl den § 116 AFG. Viele von Ihnen werden sich noch an den heftigen Widerstand der Gewerkschaften und der SPD, die Massendemonstrationen und die Unterschriftenlisten erinnern. Gegen die Aushöhlung des Streikrechtes sind die Gewerkschaften vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. Die angefochtene Rechtsnorm hat ein Stirnrunzeln des höchsten deutschen Gerichtes bewirkt und wurde mit dem Etikett „Gerade noch verfassungsgemäß“ versehen. Das Bundesverfassungsgericht hat gefordert, dass der Gesetzgeber Maßnahmen zur Wahrung der Tarifautonomie treffen muss, wenn sich zeigen sollte, dass in der Folge dieser Regelung strukturelle Ungleichheiten der Tarifvertragsparteien auftreten, die ein ausgewogenes Aushandeln der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nicht mehr zulassen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist kein Freibrief dafür, alles so zu lassen, wie es ist. Es impliziert den Auftrag an den Gesetzgeber, sehr genau zu überprüfen, ob das Kräftegleichgewicht der Tarifvertragsparteien noch gewahrt ist. Wenn die Streikfähigkeit der Gewerkschaften infolge des Streikparagrafen nicht mehr gegeben ist, muss der Gesetzgeber eingreifen. Wir werden deshalb jederzeit genau überprüfen, ob eine Beeinträchtigung der Gewerkschaften durch § 146 SGB III stattfindet. Wir stehen für die Tarifautonomie und wollen die Gewerkschaften als starke Verhandlungspartner. Die aktuelle Schwäche der Gewerkschaften steht aber in keinem ersichtlichen Zusammenhang zur Regelung des § 146 SGB III. Wir haben in diesem Hause schon oft über das Für und Wider von Streiks debattiert. Wenn man Außenstehende nach ihrer Meinung fragt, dann heißt es immer wieder: Streik ist schlecht; denn Streik verhindert Produktion, kostet Geld, schadet oft Unbeteiligten und schädigt die Volkswirtschaft. Das mag richtig sein. Richtig ist aber auch, dass Streik das allerletzte Mittel von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist, um ihren berechtigten Forderungen Ausdruck zu verleihen. ({1}) Tarifvertragsverhandlungen führen die Gewerkschaften dann wirkungsvoll, wenn sie mit einem Streik drohen können. Deshalb ist das Streikrecht im Grundgesetz verankert. Im übrigen Europa und in allen anderen zivilisierten Ländern dieser Welt ist die Rechtslage nicht anders. Die Bundesrepublik Deutschland ist kein rechtlicher Sonderfall, auch wenn viele das so sehen wollen. Ein Streikrecht zu haben, macht nur Sinn, wenn auch die Fähigkeit zum Streik besteht. Vor diesem Hintergrund sind Ihre Äußerungen, meine Damen und Herren von der FDP, unerträglich. ({2}) Die Besteuerung von Streikgeldern zu fordern, ist schlicht eine Unverschämtheit. ({3}) Diese Forderung zielt einzig und allein darauf ab, der Arbeitnehmerseite und den Gewerkschaften einen Stock zwischen die Beine zu werfen und sie zu schwächen. Die FDP ist es auch, die die Gewerkschaften als Plage bezeichnet. Meine Damen und Herren von der FDP, Sie benutzen regelmäßig schwierige tarifpolitische Auseinandersetzungen dazu, die Tarifautonomie infrage zu stellen und den politischen Einfluss der Gewerkschaften in dieser Republik auf null zurückzufahren. In diese Richtung zielt auch Ihr vorliegender Antrag, der so überflüssig wie ein Kropf ist. ({4}) Die Rechtslage ist eindeutig. In lebenswichtigen Bereichen sind die Gewerkschaften verpflichtet, einen Notdienst einzurichten, um Schäden von der Allgemeinheit und besonders schützenswerten Dritten abzuwenden. ({5}) Geschieht das nicht, dann haftet die Gewerkschaft. Wird kein Notdienst eingerichtet und ergeben sich daraus konkrete Gefährdungen für die Allgemeinheit, so steht ein Einschreiten der Polizei in jedem Fall in deren Ermessen. ({6}) - Sie, meine Damen und Herren von der FDP, gaukeln den Bürgern und Bürgerinnen nur vor, dass die Streiks im öffentlichen Dienst eine Gefahr für Leib und Leben darstellen. Das ist schlichtweg falsch. ({7}) Arbeitgeber und Verdi haben bekanntlich Notdienstvereinbarungen abgeschlossen. Dadurch ist die Gesundheitsversorgung der Patienten und Patientinnen gesichert. ({8}) Bei winterlichen Straßenverhältnissen rücken auch die Autobahnmeistereien aus. ({9}) Die Tarifautonomie hat einen großen Beitrag dazu geleistet, den sozialen Frieden in unserem Land dauerhaft herzustellen und soziale Konflikte auf eine geregelte Art und Weise auszutragen. Davon profitieren auch die Unternehmen. ({10}) Im Hinblick auf das Arbeitskampfrecht ist Deutschland die „weiße Krähe“ unter den europäischen Ländern. Man muss intensiv suchen, um in Europa ein Land zu finden, in dem das Streikrecht so stark einschränkenden Regelungen unterworfen ist und zugleich die Aussperrung zugelassen ist oder zumindest praktiziert wird. ({11}) Ich fände es nur angemessen, wenn führende Verbandsvertreter der Arbeitgeberseite einmal auf diesen Vorteil des Wirtschaftsstandorts Deutschland hinweisen würden. Stattdessen kommt es immer wieder zu unerträglichen Äußerungen. ({12}) Der frühere BDI-Präsident Rogowski verkündete öffentlich, dass er aus den Tarifverträgen und dem Betriebsverfassungsgesetz am liebsten ein Lagerfeuer machen würde. Die Mitbestimmung sieht er als einen Irrtum der Geschichte an. ({13}) Der Streik im öffentlichen Dienst ist jetzt in der sechsten Woche. Es ist an der Zeit, die verfahrene Situation aufzulösen. Auf kommunaler Ebene deuten sich Lösungen an. Die Länder sollten dem Beispiel der Kommunen folgen und einen Schlichter einsetzen. Daran ist weiß Gott nichts Ehrenrühriges. Deshalb fordere ich Sie auf, Herr Möllring: Lenken Sie ein und stellen Sie sich dem Schlichter! Vielen Dank. ({14}) - Nein.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Markus Kurth, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem alle rechtlichen Aspekte, die gegen eine erneute Änderung des § 146 SGB III sprechen, lang und sehr ausführlich behandelt worden sind, will ich mich kurz Ihrer politischen Argumentation zuwenden, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke. Sie unterstellen, dass durch diese Regelung das Streikrecht seit 1986 praktisch in seinen Grundfesten erschüttert worden ist und dass keine Streiks mehr stattgefunden haben. Wenn dem so gewesen wäre, dann müssten wir die Regelung in der Tat noch einmal ändern. Aber ein Blick auf die Streikwirklichkeit und die Kampffähigkeit der Gewerkschaften seit 1986 zeigt doch, dass die Veränderungen damals nicht zu dem geführt haben, was Sie hier an die Wand malen. ({0}) - Sie lachen, aber Sie können es nicht bestreiten. Es ist klar, dass die Gewerkschaften durchsetzungsstark sind und mobilisieren können. Das zeigen schon die großen Streiks in der Metallindustrie in den Jahren 1994 und 1995 und auch der Bochumer Streik bei Opel im Jahr 2004. ({1}) Sie behaupten in Ihrem Antrag überdies: Die absehbaren Fernwirkungen eines Arbeitskampfes in einem Unternehmen, dessen Produktion eng mit Zulieferfirmen verflochten ist, können einen Arbeitskampf von vornherein aussichtslos machen. Ich sehe es so - gerade angesichts der Ereignisse bei AEG in Nürnberg -, dass die Verflechtung mit der Zulieferindustrie einen Arbeitskampf überaus wirksam macht und dass die Gewerkschaften insbesondere im Metallund Elektrobereich nach wie vor eine relativ starke Hebelwirkung entfalten können. Das funktioniert auch. Die Verflechtung in der Metallindustrie stärkt sogar den Flächentarifvertrag. Ich möchte gerne den Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Werner Busch, zitieren - das habe ich schon einmal getan, um der FDP zu zeigen, dass die Arbeitgeber den Flächentarif durchaus schätzen -: In einem weit verzweigten Netz von Lieferbeziehungen, wie es die deutsche Industrie darstellt, ist die ökonomische Friedenssicherung besonders wertvoll. Ein Mehrfaches an Kapitalbindung und Zinskosten wäre nämlich fällig, wenn beispielsweise die Automobilhersteller zu einer Lagerhaltung gezwungen würden, die das Risiko eines zweiwöchigen Arbeitskampfes ihrer Zulieferer ausschalten sollte. Das zeigt, wie wichtig ökonomische Friedenssicherung ist und in welchem Maße der Flächentarifvertrag dazu beiträgt. Das zeigt aber auch, welche ökonomischen Risiken es zur Folge hätte, wenn wir die Regelungen von vor 1986 wieder einführten. ({2}) Durch gesteigerte Lagerhaltungskosten erhöhten sich dann die Kosten auf der Unternehmensseite. Das heißt, wir müssen in der politischen und der ökonomischen Argumentation die Dinge gegeneinander abwägen. Nicht alle kennen mich aus der letzten Legislaturperiode, ({3}) aber ich bin wirklich der Letzte, der den Gewerkschaften feindlich gesonnen ist oder das Streikrecht einschränken will. ({4}) Sehr wohl bin ich für eine nüchterne und ausgewogene Betrachtung. ({5}) - Herr Kolb, da Sie mir applaudieren, möchte ich auf den Antrag Ihrer Fraktion eingehen. ({6}) Es ist schon ein starkes Stück, dass Sie die Vogelgrippe in Verbindung mit Müllbergen bringen, eine Gefahr für die innere Sicherheit konstruieren und auf diese Weise die verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie angreifen. Das ist ein Bubenstück, das zumindest an Populismus und Kurzfristigkeit dem Gesetzentwurf von der Linken in keiner Weise nachsteht. Sie können den Gewerkschaften doch nicht unterstellen, die innere Sicherheit mutwillig zu gefährden. Das ist mitnichten der Fall. Es gibt schließlich Notdienste. ({7}) Ich plädiere für Ausgewogenheit sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Die Fraktion Die Linke hat fristgerecht beantragt, gemäß § 80 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung unmittelbar in die zweite Beratung einzutreten. Zu diesem Geschäftsordnungsantrag erteile ich das Wort dem Kollegen Ulrich Maurer.

Ulrich Maurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003805, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Verehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den Vorgesprächen der Parlamentarischen Geschäftsführer gehört, dass Sie eine ausführliche Beratung unseres Gesetzentwurfs in den Ausschüssen wünschen. ({0}) Wir möchten Ihnen stattdessen eine sofortige Abstimmung vorschlagen, weil die Frage nach der kalten Aussperrung - es geht darum, dass sich die Tarifpartner auf gleicher Augenhöhe begegnen - bereits im Vorfeld der unmittelbar bevorstehenden massiven Tarifauseinandersetzung in der Metallindustrie eine große Rolle spielen wird. ({1}) Im Übrigen habe ich der heutigen Debatte entnommen, dass sich die SPD-Fraktion dem Standpunkt der CDU/CSU-Fraktion bereits vollständig angeschlossen hat. Zudem habe ich den diversen SPD-Parteitagsbeschlüssen - diese lauten allerdings anders - entnommen, dass die Vorbereitung in dieser Frage bereits 20 Jahre andauert. Deswegen steht, glaube ich, einer sofortigen Abstimmung nichts im Weg. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Hartmut Koschyk, CDU/ CSU-Fraktion, das Wort.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, die gerade beendete Debatte hat gezeigt, dass Sie mit Ihrem Gesetzentwurf in diesem Haus inhaltlich völlig isoliert sind. Nun wollen Sie die Geschäftsordnung bemühen und nach einem entsprechenden Beschluss mit Zweidrittelmehrheit sofort in die zweite Beratung eintreten. Das zeigt, dass es Ihnen nicht um die ernsthafte Beratung Ihres Antrags geht, sondern dass Sie den Bundestag für Ihr Polittheater missbrauchen wollen. ({0}) Das weise ich namens der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen entschieden zurück. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der Fraktion Die Linke, unmittelbar in die zweite Beratung einzutreten? - Wer stimmt dagegen? ({0}) Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Damit hat der Antrag die erforderliche Mehrheit nicht erreicht. Wir kommen damit zur Überweisung. Es wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/856 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Der Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/953 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes - Drucksachen 16/858, 16/912 - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes - Drucksache 16/644 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) - Drucksache 16/964 Berichterstattung: Abgeordnete Marlene Mortler Dr. Christel Happach-Kasan Cornelia Behm Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Hans-Heinrich Jordan, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({2})

Dr. Hans Heinrich Jordan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003778, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ende November 2005 hat sich der EU-Agrarrat auf eine Festlegung zur Reform des EU-Zuckermarktes geeinigt. Diese Einigung steht in Übereinstimmung mit den Vorgaben des Panelspruches der Welthandelsorganisation. Die Zuckermarktreform berücksichtigt insbesondere die EBA-Initiative zur Förderung der Interessen der ärmsten Entwicklungsländer. Für die Bundesrepublik Deutschland ist der vorliegende Kompromiss des Agrarrates ein erheblicher Einschnitt in den traditionellen Zuckerrübenanbau und in die deutsche Zuckerproduktion. In Deutschland sind über 46 000 Rübenbauern, 6 500 Arbeitnehmer in der Zuckerindustrie sowie rund 20 000 Beschäftigte in den vor- und nachgelagerten Bereichen betroffen. Die Zuckerproduktion in Deutschland hat einen Umfang von circa 4 Millionen Tonnen. Zu keinem Zeitpunkt in den zurückliegenden Jahren wurde so tief wie jetzt durch die bevorstehende neue Marktordnung in das Produktionsgeschehen und in die Einkommenssituation der Zuckerrübenbauern eingegriffen. ({0}) Das beherzte Eingreifen der neuen Bundesregierung konnte noch größere wirtschaftliche Folgen für die deutsche Zuckerproduktion verhindern. ({1}) Die Zuckerproduktion aus Zuckerrüben hat in Deutschland eine lange, eine zweihundertjährige Tradition. Mit den Arbeiten von Andreas Sigismund Marggraf um das Jahr 1750 und seinem Schüler Franz Carl Achard um 1800 stellen wir die ersten Pioniere der Zuckergewinnung. Hier in Berlin-Kaulsdorf wurden erste Zucht- und Anbauversuche mit ertragreicheren Rübensorten gemacht. In Kunern, Niederschlesien, entstand die erste Zuckerfabrik. In der Region Halberstadt, Sachsen-Anhalt, wurde die erste weiße Zuckerrübe gezüchtet, die quasi die Stammmutter der heutigen Zuckerrübe bildet. Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich auch in Deutschland die Zuckerproduktion aus der Zuckerrübe entscheidend durch. Die Bördeböden Sachsen-Anhalts wurden Spitzenstandorte für den Zuckerrübenanbau. Der Zuckerrübenanbau mit den notwendigen Massentransporten führte Ende des 19. Jahrhunderts zur erheblichen Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in vielen Gebieten Deutschlands. Somit wurde die Zuckerrübe nicht nur zur sicheren Einkommensquelle für die Landwirtschaft, sondern sie war auch Motor für das allgemeine Erschließen und Stärken des ländlichen Raumes. ({2}) In der Altmark, in meinem Wahlkreis, führte beispielsweise der Ausbau des Eisenbahnnetzes um 1900 dazu, dass kein Ort weiter als 10 Kilometer von der nächsten Eisenbahnstation entfernt lag. Mit Stolz konnten die altmärkischen Bauern auf die größte Zuckerfabrik Europas jener Zeit verweisen. ({3}) - Ja, aber es ist so. Ich hoffe, wir stimmen überein, dass der kurze historische Rückblick bei diesen historischen Veränderungen zum Thema gehört. Die Zuckerrübenproduktion hatte also eine über ökonomische Aspekte hinausgehende sozial-kulturelle Bedeutung. Wir haben den politischen Auftrag, Voraussetzungen zu schaffen, dass die Zuckerproduktion in Deutschland an geeigneten Standorten fortgeführt werden kann. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland hat dazu im Agrarrat und in Hongkong entscheidende Voraussetzungen durchsetzen können. Die Ergebnisse liegen uns mit diesem Gesetzentwurf vor. Wir können die Zuckerproduktion in die Betriebsprämienregelung integrieren. Dies bedeutet auch den Einbau der Zuckerproduktion in das deutsche Entkopplungsmodell. ({4}) Die Gesetzesvorlagen der Bundesregierung und der Fraktionen der CDU/CSU und SPD verfolgen das Ziel, die Ausgleichszahlungen an die Zuckererzeuger zu 100 Prozent betriebsindividuell zu binden. Es gibt keine Umverteilung des Prämienvolumens zwischen den Regionen. Ziel dieses Vorschlages ist, Härtefälle und Fälle in besonderer Situation zu vermeiden. Als Referenz für den einzelbetrieblichen Ausgleich sollen die vertraglich vereinbarten Liefermengen für das kommende Wirtschaftsjahr 2006/07 herangezogen werden. Das vermindert den Verwaltungsaufwand erheblich und damit natürlich auch Bürokratie. Der teilweise in die Diskussion gebrachte differenzierte Ausgleich nach A- und B-Rübenquote bringt keine Vorteile; denn ab diesem Wirtschaftsjahr gibt es im Rahmen des gemeinsamen Marktes für Zucker keine Unterscheidung zwischen A- und B-Quote mehr. Deshalb halte ich es für richtig, eine einheitliche Liefermenge entsprechend der Vereinbarung mit der Zuckerfabrik oder mit Vermarktern als Grundlage für den Zuckerausgleich zu wählen. Die Zuckermarktordnung bietet bis 2014/2015 gute Voraussetzungen zur weiteren Entwicklung. Damit wird den Wirtschaftsbeteiligten und der EU-Zuckerwirtschaft eine langfristige Planungsgrundlage gegeben. Entscheidend ist, dass schon auf die Zuckerpreissenkung ab dem Jahr 2006/2007 in vier Jahresscheiben bis 2010 reagiert wird, sodass sich aus der Zuckerpreissenkung von 36 Prozent eine Rübenpreissenkung von 39 Prozent ergibt. Für die Rübenbauern wird die Preissenkung durch die entkoppelte Direktzahlung teilweise ausgeglichen. Dieser Ausgleich umfasst für das Jahr 2008/20009 zum Beispiel 64,2 Prozent. ({5}) - Genau. - Die Betriebsprämienregelung beinhaltet, dass die ab dem Jahr 2010 unterschiedlichen Zahlungsansprüche für die Rübenbauern im Rahmen des so genannten Gleitflugs bis 2013 zu regional einheitlichen Zahlungsansprüchen angepasst werden. Diese Entscheidung scheint vor dem Hintergrund der übrigen Betriebstypen auch sachgerecht. ({6}) Im Komplex der Gesamtmaßnahmen zur Neuordnung der Zuckerrübenmarktordnung darf dennoch nicht vergessen werden, dass schmerzvolle Einkommenseinbußen in traditionellen bäuerlichen Zuckerrübenproduktionsbetrieben künftig zu verzeichnen sind und dass Produktionsumstellungen in vielen aufgebenden Betrieben mit neuen Einkommensmöglichkeiten gesucht werden müssen. Entscheidend für die Situation in den Zuckerrübenproduktionsbetrieben ist, dass für den Zuckerrübenanbau mittelfristig die Voraussetzung für eine planbare Entwicklung geschaffen wird und die Branche zukunftsorientiert dasteht. ({7}) Die Zuckerrübenproduktion darf unter keinen Umständen aus Deutschland verschwinden. Ich möchte abschließend feststellen, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes und mit den Beschlüssen des EU-Agrarrats sicherlich nicht alle Erwartungen erfüllt werden können. Dessen ungeachtet ist äußerst positiv zu werten, dass zum 30. April 2006 eine Gesetzesanpassung für Deutschland vorliegen kann und die Preissenkungen geringer sind bzw. der Preisausgleich höher ist, als noch Mitte 2005 angekündigt worden ist. ({8}) Wir haben es mit einem insgesamt sachgerechten Gesetzentwurf zu tun. Aus den genannten Gründen möchte ich dem Deutschen Bundestag empfehlen, dem vorliegenden Gesetzentwurf zuzustimmen. Danke schön. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Jordan, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation und alle guten Wünsche für Ihre weitere politische Arbeit. ({0}) Ich erteile nun das Wort Kollegen Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion. ({1})

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Bundestagsfraktion wird der Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes gern zustimmen, weil sie im Grunde genommen das Ergebnis einer politischen Überlegung ist, die wir schon vor Jahren auf den Weg gebracht haben. ({0}) Sehr geschätzter Kollege Dr. Jordan und Peter Bleser, Sie beide wissen das auch genau. Nur, die politische Großwetterlage hat sich ein bisschen geändert. Heute jubelt Rot-Schwarz über etwas, was damals von Blau-Gelb auf den Weg gebracht worden ist. Ich musste mich seinerzeit im wahrsten Sinne des Wortes schützen, damit mir dafür nicht Rübenschnitzel um die Ohren flogen. Ich kann mich noch sehr gut an eine Veranstaltung hier im Maritim-Hotel erinnern, auf der ich gesagt habe - das ist vielleicht auch einmal für die jüngeren Zuhörer auf der Tribüne interessant -: Der europäische Zuckerpreis, den der Verbraucher zahlt, ist dreimal so hoch wie der Weltmarktpreis. ({1}) - Das ist Fakt, auch wenn sich das in letzter Zeit ein bisschen angepasst hat, weil der Weltmarktpreis etwas gestiegen ist. Es ist niemandem auch nur andeutungsweise klar zu machen, warum bei uns die Zuckerverwender viel mehr Geld für Zucker zahlen müssen als andere und wir uns gleichzeitig darüber beklagen, dass die Zuckerproduzenten Marktanteile verlieren und Arbeitsplätze verloren gehen. Man muss die Dinge schon ein bisschen im Zusammenhang sehen. Deswegen stimmen wir dieser Änderung zu. Ihre Ausführungen, Herr Dr. Jordan, finde ich sehr liebenswert - ich schätze Sie auch wirklich sehr -, aber sie sind mit dem Blick zurück nicht zukunftsfähig. Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir mit allen Agrarprodukten - wir haben gute Agrarprodukte - im internationalen Wettbewerb bestehen können. Wir können uns nicht auf den nationalen Markt zurückziehen, weil dieser nationale Markt nicht so ergiebig ist. Im Wechselspiel zwischen nationalem Markt und internationalem Markt können wir auch nicht so gegensätzliche Ansprüche stellen. Wir wollen mit unseren Produkten nach Indonesien, nach China, nach Indien und nach Brasilien und gleichzeitig sagen wir: Ihr „bösen“ Brasilianer dürft mit eurem Rohrzucker nicht auf unseren Markt. Dieses Spielchen ist ausgespielt. Dafür steht die WTO. Die WTO will im Grunde genommen, dass die Produktion dort stattfindet, wo die Rahmenbedingungen am besten sind. Wir werden davon profitieren, wenn wir uns innovativ aufstellen. Das müssen wir in allen Bereichen tun, so auch im Agrarbereich. Das können wir mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesen Branchen auch prima hinbekommen. ({2}) - Das werden auch unsere Zuckerrübenbauern können, weil das zum Tragen kommt, was schon damals in einem FDP-Antrag stand, nämlich ein 60-prozentiger Ausgleich für Einbußen. Ich gebe zu, dass ich damals bei 2011/2012 war; jetzt haben wir eine Regelung bis 2015. Es wird sehr spannend werden. Sie können ganz sicher sein, dass wir da an der Seite unserer Landwirte sind, dass wir diese Regelung auch über 2008 hinaus befürworten, wenn wieder darüber nachgedacht wird, wie viele europäische Mittel der Landwirtschaft, dem ländlichen Raum zur Verfügung gestellt werden. Aber wir stehen noch vor einer ganz anderen dramatischen Herausforderung, und zwar in Bezug auf die Situation bei der Milch. Lassen Sie uns innerhalb der Agrarpolitik auch hier gemeinsam den Weg zu mehr Markt und mehr Wettbewerb gehen. Es hat sich gezeigt, dass eine Quotenregelung bei der Milch keine Lösung im Hinblick auf mehr Markt ist. Wir haben bei der Milch eine Überproduktion - 118 oder 120 Prozent -, die dazu führt, dass der Liter Milch heute viel billiger ist als 1 Liter Wasser. Ich denke, unter diesem ganz simplen Gesichtspunkt müssen wir uns auf den Weg machen, auch in diesem Bereich Veränderungen herbeizuführen. Lassen Sie mich einen letzten Gedanken aufgreifen. Sie werden vielleicht nicht nachvollziehen können, warum ich immer wieder auf die Eins-zu-eins-Umsetzung zurückkomme. Ich will nicht verstehen, dass wir uns über Bürokratie auf europäischer Ebene beschweren und dann nicht eine europäische Vorgabe ganz simpel eins zu eins in nationales Recht umsetzen. Das ist unsere Zielsetzung: Was Europa vorgibt, setzen wir eins zu eins national um. Wenn wir mehr machen wollen, dann soll man uns doch lassen. Selbstverständlich kann ein Landwirt, der die Bedingungen für seine Tiere, für seine Produktion im Wettbewerb etwas anders sieht als andere Europäer, beispielsweise der Spanier oder der Grieche, mehr machen. Aber wir sollten grundsätzlich an der Eins-zu-eins-Umsetzung festhalten. Wenn wir das machen und uns damit am Weltmarkt orientieren, werden wir unsere Landwirtschaft zukunftsfähig aufstellen, und zwar ohne große staatliche Zuwendungen. Damit werden wir den wohl entscheidendsten Beitrag zum Bürokratieabbau leisten, der die Landwirtschaft in besonderer Weise belastet. In diesem Sinne stimmen wir der heute zu beschließenden gesetzlichen Vorlage sehr gerne zu. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Gustav Herzog, SPDFraktion.

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es kommt ja nicht allzu häufig vor, dass ich dem Kollegen Goldmann zustimme; aber in dem Fall muss ich sagen, dass das durchaus die Richtung der FDP war. Aber nach Ihrer Formulierung, Herr Kollege Goldmann, warte ich auf eine Aussage von Ihnen, dass auf Antrag der FDP die Zuckerrübe erst erfunden worden ist. ({0}) Machen Sie sich nicht zum Vater aller Dinge, die wir gemeinsam auf den Weg bringen! ({1}) Eine zweite kurze Bemerkung, und zwar zu der Einszu-eins-Umsetzung. Wissen Sie, Herr Kollege Goldmann, das würde auch ein Stück Gleichschritt bedeuten. Aber ich bin der Auffassung, dass die deutsche Politik und die deutschen Landwirte immer einen Schritt voraus sein sollten. Von daher lassen Sie uns immer gemeinsam überlegen: Was macht die EU gut und was können wir besser machen? Eine einfache Eins-zu-eins-Umsetzung wird auch der versammelten Intelligenz dieses Hauses nicht gerecht. ({2}) Ich weiß nicht, wer von Ihnen in den letzten Tagen einmal versucht hat, jemandem außerhalb der Branche zu erklären, was sich hinter dem Betriebsprämiendurchführungsgesetz oder überhaupt der reformierten Zuckermarktordnung verbirgt. Das ist ein äußerst schwieriges Unterfangen. ({3}) Ich habe es trotzdem versucht und gesagt, das ist im Grunde genommen der große Weg, den wir mit den Agrarbeschlüssen von 2003 eingeschlagen haben, nämlich weg von der Produktförderung, von den Milchseen und den Zuckerbergen, hin zu mehr unternehmerischer Freiheit, indem wir die Landwirte direkt unterstützen. Dass dieser Weg richtig ist, zeigt sich an dem aktuellen Beschluss der Europäischen Union, eine Zuckerquotenkürzung um 2,5 Millionen Tonnen vorzunehmen. ({4}) Die Zuckermarktordnung gibt in der neuen Fassung Planungssicherheit. Über einen auch von uns geforderten Restrukturierungsfonds ermöglicht sie es, auf die Veränderungen einzugehen. Aber ich glaube, hier ist durchaus zu sagen: Das wird eine sehr große Herausforderung für die Landwirte, für die Zuckerrübenbetriebe sein, auch wenn die Diskussion in der Europäischen Union dazu geführt hat, dass die Direktbeihilfe von 60 auf 64 Prozent erhöht worden ist. Eine Studie der FAL hat gezeigt, dass die Einkommensverluste wesentlich geringer sein werden, als die ersten Vorschläge der Kommission uns haben befürchten lassen. Aus der Studie ergibt sich weiterhin, dass der Zuckerrübenanbau in Deutschland bleiben wird, dass es wohl zu keinen weiteren Quotenverlusten kommen wird und dass die deutsche Zuckerrübenwirtschaft wettbewerbsfähig ist. Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass die Branche in den letzten Jahren die Herausforderungen angenommen und darauf reagiert hat und dass entsprechende Veränderungen vorgenommen wurden. Vor den konkreten Entscheidungen - es ist sozusagen kurz vor zwölf -, die für die Anbauplanung wichtig sind, schaffen wir mit diesem Gesetz Planungssicherheit für die Landwirte. Ich denke, wir haben einen guten Kompromiss gefunden, auch wenn ich als Rheinland-Pfälzer, Herr Kollege Jordan, natürlich gerne gesehen hätte, wenn wir auf die A- und B-Quotenproblematik eingegangen wären. Aber im Bundesrat gab es ein Votum gegen die Forderung aus Rheinland-Pfalz. Ich denke trotzdem, dass diese Forderung gerechtfertigt gewesen ist und ihre Erfüllung dem deutschen Zuckerrübenanbau geholfen hätte. Insgesamt gesehen haben wir eine Integration bezüglich des Ausgleichs geschafft. Unsere Ablehnung bezieht sich auf den Zeitrahmen. Entsprechende Regelungen hätten einen deutlich höheren Verwaltungsaufwand bedeutet, Herr Kollege Goldmann. ({5}) Ich denke, es ist der richtige Weg, dass es die gleichen Regeln für alle landwirtschaftlichen Produkte gibt. Dass der Ausgleich zu 100 Prozent erfolgt und erst im Jahre 2010 in die Flächenprämie eingeht, bedeutet für die Landwirte durchaus Planungssicherheit. Sie wissen jetzt, worauf sie sich einzustellen haben. Ob wir 2008 nach der Neubewertung reagieren müssen, wird sich zeigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, das vorliegende Gesetz ist ein gutes Gesetz. Die gute Nachricht für die Branche ist, dass die Rübenbauer Planungssicherheit haben. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Nach dem Diskurs über die Bettgewohnheiten von Schweinen in der vergangenen Woche sprechen wir heute über den Zuckerberg. Die Bundesrepublik hat laut dem jüngsten Agrarbericht beim Zucker einen Selbstversorgungsgrad von 141 Prozent erreicht, und das bei Rübenzucker, der auf dem Weltmarkt überhaupt nicht konkurrenzfähig ist. Das gelingt nur, weil der Zuckermarkt einer der am stärksten regulierten Märkte überhaupt ist. Es ist schon gesagt worden, dass in der EU der kostendeckende A-Quotenpreis dreimal höher ist als auf dem Weltmarkt. Dafür liegt der Preis für den C-Quotenexportzucker bei einem Zehntel des A-Quotenpreises, damit er international überhaupt konkurrenzfähig ist. Damit gefährden die reichen EU-Länder die regionalen Märkte in den Entwicklungsländern. Andererseits wird - auch das hat Herr Goldmann schon gesagt - billiger Rohrzucker aus Lateinamerika vom EU-Markt fern gehalten. Dieser Markt ist nicht einmal wirtschaftlich sinnvoll, von Aspekten wie sozial, ökologisch oder fair einmal ganz abgesehen. Es muss sich also etwas ändern. ({0}) Die spannende Frage ist: Wer sind die Gewinner und wer sind die Verlierer? Für meine Fraktion ist klar, dass die Folgen der verfehlten Agrarstrukturpolitik nicht auf den Schultern der 43 000 einheimischen Zuckerrübenanbaubetriebe abgeladen werden dürfen. Nur deshalb stimmen wir dem vorliegenden Gesetz zu, mit dem ein Teilausgleich für die Verluste der einheimischen Erzeuger infolge der Garantiepreissenkung geregelt wird. ({1}) Diese Zustimmung ändert aber nichts an unserer deutlichen und grundsätzlichen Kritik am Umgang mit dem Problem. Die Regelungen setzen an der falschen Stelle an; sie sind halbherzig und zementieren altbekannte Ungerechtigkeiten wie zum Beispiel die Benachteiligung Ostdeutschlands bei der Quotenverteilung. Im Wesentlichen ist das Gesetz die Fortsetzung einer falschen Politik mit anderen Mitteln. Denn wir kaufen uns aus den staatlichen Preisgarantien quasi teilweise heraus und zahlen sie bis zum Jahr 2014 stattdessen als Betriebsprämie. Da die Anbauverpflichtung durch die Entkoppelung der Betriebsprämien entfällt, kann man wenigstens hoffen, dass der eine oder andere den Rübenanbau doch - wie politisch gewollt - aufgibt. Bei den Zuckerrübenstandorten gibt es ja Anbaualternativen. Aber ob das wirklich so kommt, ist fraglich, weil die Kompensation bei allen für dieses Jahr abgeschlossenen Zuckerrübenverträgen erfolgt und der zusätzlich realisierbare Preis vermutlich immer noch attraktiv genug ist. Eines steht aber auch für uns Linke fest: Wir wollen, dass die Rübe bleibt. ({2}) Denn die Verarmung an Kulturpflanzen ist ohnehin ein Problem. Auch ein weniger intensiver Anbau würde den Zuckerberg abbauen. In der Bioenergieerzeugung bekommt die Rübe vielleicht eine ganz neue Perspektive. ({3}) Die Profiteure der Neuordnung des EU-Zuckermarkts sind vermutlich nur die großen Zuckerverarbeiter. Von ihnen erwarten wir, dass sie diesen Vorteil zum Erhalt der 250 000 Arbeitsplätze in der Branche nutzen. ({4}) Für die Verbraucherinnen und Verbraucher fordern wir eine Weitergabe dieses Vorteils über eine Lebensmittelpreissenkung. Denn sie finanzieren diese Reform mit ihren Steuern. Sicher, auch der Zuckermarkt ist ein Spannungsfeld höchst unterschiedlicher Interessen. Gerade deshalb brauchen wir eine zukunftsfähige politische Strategie. Regionale Märkte müssen geschützt und der internationale Handel mit kostendeckenden Preisen sowie sozialen und ökologischen Produktionsstandards fair gestaltet werden. ({5}) Quoten können dann durchaus ein sinnvolles politisches Instrument auch auf der Ebene der WTO sein. Vor allem aber muss sich die Grundphilosophie der Förderung der Landwirtschaft von einem Nachteilsausgleich hin zu einer Bezahlung gesellschaftlich gewollter Leistungen ändern. Wir brauchen politische Rahmenbedingungen für eine flächendeckende, die natürlichen Ressourcen schonende und die Kulturlandschaft pflegende Landwirtschaft, in der auch die Zuckerrübe ihren Platz hat. Mit diesem Plädoyer danke ich für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Ulrike Höfken, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Reform der Zuckermarktordnung schlägt sich jetzt also in dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes nieder. Das ist wahrscheinlich der Weg in die unternehmerische Freiheit und die Entbürokratisierung. Eine Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Vorgabe erfolgt damit wieder nicht. Wir unterstützen dieses Gesetz nur insofern, ({0}) als wir gesagt haben: Wir wollen mithelfen, den zeitlichen Ablauf zu beschleunigen. ({1}) Ansonsten ist klar: Eine Veränderung der bestehenden Zuckermarktordnung war dringend erforderlich. Wir haben uns immer hinter die Ziele der Doharunde gestellt und ganz klar für einen fairen Welthandel eingesetzt. ({2}) Man muss prüfen, was jetzt vorliegt: Dient es diesen Zielen? An diesem Punkt - so muss man sagen - sind Lobhudeleien reichlich überflüssig. Frau Künast wäre bei dem gleichen Verhandlungsergebnis vermutlich von denjenigen, die jetzt in Jubelchöre ausbrechen, geteert und gefedert worden. ({3}) Man muss sich also fragen: Werden Millionen an EUMitteln, Millionen an Steuergeldern für die Ziele eingesetzt, die wir unterstützen wollen? Ich muss dazu sagen: Das Verhandlungsergebnis geht ganz klar zum einen an den entwicklungspolitischen Zielen und zum anderen an der Unterstützung der ländlichen Räume, der kleinen und mittleren bäuerlichen Betriebe vorbei. Denn die Profiteure werden neben den Zuckerverarbeitern vor allem die Großbetriebe der Zuckerindustrie zulasten der kleinen und mittleren Betriebe sein, die mittelfristig keine Perspektive mehr haben. ({4}) Stattdessen hätte man - das haben wir im Europäischen Parlament gefordert - eine radikale Mengenbegrenzung beschließen können. ({5}) Dann wäre dieser hohe Preisausgleich - durch die Beschränkung auf den EU-Selbstverbrauch inklusive der Menge, die von den AKP-Staaten und den Geberländern kommt - nicht notwendig gewesen. Einen Teil dieses Aufwandes hätte man sich dann gespart. ({6}) Man muss klar hinzufügen: Die 13 AKP-Länder sind die Leidtragenden. Sie werden in ihren Konversionsmaßnahmen nicht ausreichend unterstützt. Ich persönlich stehe sehr kritisch der Frage gegenüber, ob das, was man mit der Zuckermarktreform bewirken will, in Ländern wie Brasilien wirklich der Armutsbekämpfung dient. Denn Liberalisierungsschritte, bei denen gleichzeitig die notwendigen Rahmenbedingungen fehlen - das sagen auch die entwicklungspolitischen Gruppen; das ist nach den bisherigen Entwicklungen auch sehr deutlich geworden -, tragen weder zur Bekämpfung der Armut noch zu einer positiven Wirtschaftsentwicklung bei. Man muss schon sehen: Auch der Umwelt wird eine solche Konzentration auf die Zuckererzeugung in Schwellenländern möglicherweise überhaupt nicht gut tun. Ganz klar ist auch: Die Ausgleichszahlungen in Höhe von etwa 6 Milliarden Euro werden fast ausschließlich aus der Tasche der Verbraucher geleistet. Was die Zukunftsperspektiven, die Sie mit den Mitteln, die aufgebracht werden, für die ländlichen Regionen in Deutschland schaffen wollen, angeht, muss man ganz klar sagen - diesen Beitrag werde ich Ihnen nicht ersparen -: Was Sie mit der einen Hand geben, reißen Sie mit dem „Arsch“ wieder ein. ({7}) - Ja. Mit der Streichung von Mitteln bei der Verordnung „Ländlicher Raum“ haben Sie eine unglaubliche Rasur von Geldern für die Diversifizierung und Konversion vorgenommen. Gleichzeitig soll eine Perspektive in der Äthanolerzeugung liegen. Mit der Besteuerung der Biokraftstoffe, die Sie gleichzeitig vornehmen, machen Sie diese Perspektive für die Zuckerrübenerzeugung wieder zunichte. Sogar Betriebe wie Opel oder Ford beschweren sich, dass Sie die gefällten Entscheidungen für Investitionen in erfolgreiche Kraftfahrzeuge, nämlich in die neuen Entwicklungen in diesem Bereich, völlig konterkarieren. Das heißt, Sie betreiben eine Politik, bei der Sie einerseits sagen, Sie möchten neue Perspektiven schaffen, die Sie jedoch andererseits durch eine völlig kontraproduktive Politik im Bereich der Besteuerung und im Bereich der Finanzen wieder zunichte machen. Das kann nicht sinnvoll sein. Deshalb lehnen wir dieses Gesetz ab. Danke. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Höfken, ich unterstelle, dass Sie jenes Wort ohne Zweifel als ein Zitat unseres größten Klassikers verwendet haben. ({0}) Insofern geht es unbeanstandet durch. Ich erteile das Wort dem Kollegen Wilhelm Priesmeier, SPD-Fraktion. ({1})

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uli Höfken, du bist vermutlich nicht so mutig, zumindest das, was die Kritik an dem Gesetz angeht, auf einer Versammlung von Zuckerrübenbauern in Rheinland-Pfalz vorzutragen. Es gehört ein bisschen mehr dazu, als hier nur banale Kritik zu üben. Es geht doch wirklich um die Substanz. Zumindest nach Kenntnisnahme und ausreichendem Studium dieses Gesetzes kann man sagen, dass wir in der Substanz ein vernünftiges Gesetzeswerk auf den Weg gebracht haben. Es passt in den Rahmen dessen, was wir mit der Umgestaltung der Gemeinsamen Agrarpolitik, mit der Entkoppelung begonnen haben. Es hat genau die gleiche Zielrichtung. Ich glaube, wer sich von diesen Grundsätzen verabschieden möchte, der täuscht sich im Hinblick auf die Möglichkeiten, die wir haben. Bei aller Kritik an den Folgewirkungen der Zuckermarktordnung kann man zumindest eines sagen: Der bisherige Zustand hätte nicht aufrechterhalten werden können. Spätestens 2009 wäre der Zuckermarkt zusammengebrochen. Das erkennt man im Augenblick an den auflaufenden Interventionsmengen, die sich in einer Größenordnung von zirka 1,5 Millionen Tonnen bewegen. Das hätte in der Fortschreibung spätestens 2009 in einer Situation geendet, die für den gesamten Markt nicht mehr tragbar gewesen wäre. ({0}) Aus diesem Grund war es zwingend geboten, zu handeln. Das ist von allen Beteiligten anerkannt worden. Es hat eine von allen Betroffenen formulierte gemeinsame Position gegeben. Es gab eine große Abstimmungsrunde, in die sowohl der Deutsche Bauernverband als auch die beteiligte Zuckerwirtschaft und die politische Ebene vor den Verhandlungen in Brüssel eingebunden waren. Im Wesentlichen wurde das, was dort als Verhandlungslinie vereinbart worden ist, in Brüssel umgesetzt. Das ist für uns ein großer Erfolg; denn es ist das zum Tragen gekommen, was in besonderer Weise unsere Strukturen, die durchaus wettbewerbsfähig sind, sichert, das heißt, wir können in Deutschland auch künftig noch Zuckerrüben anbauen und wir werden eine hervorragend aufgestellte Zuckerwirtschaft behalten. ({1}) Das sage ich als jemand, der aus einer Region kommt, die an diesem Kompromiss schwer zu knabbern hat, als jemand, der aus Südniedersachsen kommt und weiß, wie hoch die Wertschöpfung beim Zucker in der gesamten Region ist. Sie beträgt nämlich fast 55 Millionen Euro. Ich weiß auch, was es bedeutet, wenn die Betriebserträge in der Fortschreibung bis 2013 um bis zu 40 Prozent sinken werden. In dieser Situation sollte man die Hände jedoch nicht in den Schoß legen. Die Optionen sind vielmehr aufgezeigt. Dazu gehören vor allen Dingen Investitionen in Biomasse. Die Betriebe, die bislang überwiegend vom Zucker gelebt haben, sind durchaus bereit, sich umzuorientieren, diese Einkommensalternativen zu nutzen und damit den Erhalt ihres Betriebes zu sichern. An dem erforderlichen Strukturwandel führt das natürlich nicht vorbei. Das sehen wir in unserer Region in ganz besonderer Weise. Die Betriebe mit einer Größe von mehr als 100 Hektar wachsen, die kleineren Betriebe werden langsam aufgegeben. Dieser Entwicklung kann man sich unter marktwirtschaftlichen und ökonomischen Gesichtspunkten nicht entgegenstellen. Man sollte aber die Betriebe, die aufgeben wollen oder müssen, begleiten. Vor dem Hintergrund dieses Gesetzes gibt es die Möglichkeit, dies durchaus kompatibel zu gestalten, indem die auf den jeweiligen Betrieb bezogene Prämienregelung zunächst einmal bis 2010 aufrechterhalten bleibt und danach dann die flächenbezogenen Prämien sukzessive abgeschmolzen werden. Jede andere Lösung wäre undenkbar gewesen. Alle diesbezüglichen Vorschläge sind im Bundesrat abgelehnt worden. Auch die Bayern haben dem Gesetzentwurf zwar nur mit Widerwillen, aber letztendlich doch zugestimmt. Ich glaube, dass wir als Konsequenz in Deutschland eine Zuckermarktwirtschaft zumindest für den Zeitraum bis 2015 und darüber hinaus behalten werden. Der technologische Fortschritt und der Fortschritt in der Entwicklung gerade im Bereich der Züchtung lassen hoffen. Wir sind nicht mehr allzu weit weg von der 15-TonnenRübe. Hier gilt es, diese Wettbewerbs- und Standortvorteile zu nutzen, auch mit Blick auf die Konkurrenz zum Zucker aus Zuckerrohr. Aber eines ist klar: Eine vollständige Liberalisierung kann es nicht geben, weil die Rübe mit dem Rohrzucker dauerhaft nicht konkurrenzfähig ist, selbst wenn der Weltmarktpreis im Augenblick wieder auf 350 Dollar pro Tonne gestiegen ist. Das ist eine kurzfristige Entwicklung. Der Markt ist sehr volatil und bewegt sich einmal rauf und einmal runter. Aus dem Grunde fordere ich, dass wir bei der Ausgestaltung der Modalitäten im Rahmen der WTO Zucker zum sensiblen Produkt machen und die spezielle Schutzklausel auch für uns nutzen. Danke schön. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- rung des Betriebsprämiendurchführungsgesetzes. Das sind die Drucksachen 16/858 und 16/912. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/964, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP Vizepräsident Wolfgang Thierse und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist mit dem gleichen Stimmergebnis wie in der zweiten Lesung angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- cherschutz zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zur Änderung des Betriebsprämien- durchführungsgesetzes, Drucksache 16/964. Der Aus- schuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfeh- lung, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/644 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenom- men. Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({0}), Irmingard Schewe-Gerigk, Marieluise Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Presse- und Meinungsfreiheit in Kuba einfordern - Drucksache 16/934 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2}) Auswärtiger Ausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marina Schuster, Florian Toncar, Burkhardt MüllerSönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Menschenrechte in Kuba einfordern und die kubanische Zivilgesellschaft fördern - Drucksache 16/945 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Volker Beck, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute auf Grundlage eines Antrages unserer Fraktion mit der Menschenrechtssituation in Kuba. In diesem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, bilateral und auf europäischer Ebene dazu beizutragen, dass alle politischen Gefangenen in Kuba unverzüglich freigelassen werden, ({0}) gemeinsam mit den EU-Partnern gegenüber der kubanischen Regierung die Aufhebung des Reiseverbots für die „Damen in Weiß“ und Oswaldo Payá Sardiñas zu fordern und dafür einzutreten, dass die im Jahr 2005 verschärften Repressionen gegen die Opposition von der kubanischen Regierung zurückgenommen werden. ({1}) Damit haben wir die Forderung des Europäischen Parlamentes, die mit Stimmen aus allen hier im Haus vertretenen Parteien beschlossen wurde, aufgegriffen. Wir machen kein Copyright geltend, sondern sagen: Das verdient die Unterstützung des Deutschen Bundestages. Ich bin ein bisschen traurig, dass unser Angebot, den Antrag gemeinsam einzubringen, bislang nicht aufgegriffen wurde. In dieser Woche waren wir fast so weit, mit CDU/CSU und SPD einen gemeinsamen Text zu beschließen. Wir haben das auch der Linksfraktion angeboten. - Wir sind ja nicht so. ({2}) Leider wurde unser Angebot von keiner Seite aufgegriffen. Ich meine, wir sollten jetzt im Ausschuss gemeinsam dafür sorgen, dass der Deutsche Bundestag in dieser wichtigen Menschenrechtsdebatte zu einer gemeinsamen Position findet. Die Menschenrechtssituation in Kuba ist weiterhin besorgniserregend. Insbesondere Presse- und Meinungsfreiheit werden massiv eingeschränkt. Nach wie vor sitzen Dutzende Menschenrechtsverteidiger und gewaltlose Dissidenten unter menschenunwürdigen Bedingungen in Haft. Die Zahl der politischen Gefangenen wird derzeit auf über 300 geschätzt. Viele der Inhaftierten sind nach Berichten schwer krank und erhalten keinen oder nur mangelhaften Zugang zu einer Gesundheitsversorgung. Darüber hinaus mehren sich die Berichte über Misshandlungen dieser Häftlinge. Das Europäische Parlament hat den kubanischen „Damen in Weiß“ im Dezember 2005 den SacharowPreis für Menschenrechte verliehen. Die „Damen in Weiß“ sind Familienangehörige der im Jahr 2003 verhafteten und verurteilten Regimekritiker, die seitdem couragiert für die Freilassung ihrer Angehörigen sowie für das Recht auf freie Meinungsäußerung in Kuba demonstrieren. Die kubanische Regierung verweigert dieser Gruppe trotz vieler Bemühungen die Ausreise, um den Preis entgegenzunehmen. Auch Oswaldo Payá Sardiñas, Sacharow-Preisträger des Europäischen Parlamentes von 2002, wird immer noch die Freiheit zur Aus- und Wiedereinreise nach Kuba verweigert. Das sind skandalöse Zustände, die ein klares Wort des Deutschen Bundestages erfordern. Volker Beck ({3}) ({4}) Im Zusammenhang mit der kubanischen Politik muss man sich aber selbstverständlich überlegen - das tun wir in unserem Antrag -, mit welchen Maßnahmen, mit welchem Regime man Maßnahmen gegenüber der kubanischen Regierung durchsetzen kann. In unserem Antrag verweisen wir darauf, dass wir die Blockadepolitik der amerikanischen Regierung - so, wie sie gegenwärtig angelegt ist - nicht für hilfreich halten. Vorsichtig ausgedrückt, muss man sagen, sie hat eine positive Veränderung für die kubanische Bevölkerung eher behindert. Vielmehr diente und dient das US-Embargo mit seiner Verschärfung im Jahr 2004 systemstabilisierend, weil es der kubanischen Führung einen Vorwand für seine Politik liefert. Leid tragend ist die Bevölkerung. ({5}) Dies zu sehen und zu kritisieren, bedeutet aber nicht, dass man zu den Menschenrechtsverletzungen schweigen und im Engagement nachlassen darf, auch wenn man hier im Haus über die Instrumente, mit denen das Ziel erreicht werden kann, vielleicht durchaus streitet. Dass wir aber kritisiert werden, weil wir die Menschenrechtspolitik eines Landes hier im Deutschen Bundestag zur Sprache bringen, finde ich eine Ungeheuerlichkeit. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion sagt, auf Kuba gelte die Todesstrafe und die Behandlung von Homosexuellen sei auch inakzeptabel, aber das Gleiche gelte für etliche amerikanische Bundesstaaten. ({6}) Es sei doch seltsam, wie unterschiedlich Menschenrechte wahrgenommen würden, je nachdem, ob der jeweilige Staatschef mit den USA befreundet sei oder nicht. ({7}) Ich finde, es ist ein Skandal, dass Sie hier klatschen. ({8}) Denn die rot-grüne Koalition hat in der letzten Wahlperiode Anträge zu den USA verabschiedet: Im Folterantrag, der vom Bundestag beschlossen wurde, werden die Zustände in Guantanamo kritisiert. Wir haben eigens einen Antrag zum Umgang der Amerikaner mit der Todesstrafe eingebracht. Wir schauen bei Freund und Feind, bei Gegnern und bei engen Verbündeten gleichermaßen auf die Einhaltung der Menschenrechte. ({9}) Wer bei Menschenrechten seinen Freunden einen Rabatt gibt, ist ein schlechter Freund. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Beck, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Menschenrechtspolitik unseres Landes ist nur dann glaubwürdig, wenn wir nirgendwo wegschauen, überall hinschauen und an der Seite der Menschenrechtsverteidiger in allen Ländern stehen, die tapfer für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit streiten. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Peter Weiß, CDU/CSUFraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich - was den üblichen Usancen im Parlament nicht ganz entspricht - den beiden Oppositionsfraktionen, die Anträge zu Kuba eingebracht haben, dafür herzlich danken, ({0}) weil ich es gut finde, dass das Thema Kuba auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages kommt. ({1}) Viele Mitbürgerinnen und Mitbürger machen, weil es relativ günstig ist, auf Kuba Urlaub und bekommen dort ein Scheinbild vorgeführt. Die bittere Wahrheit für die Bürgerinnen und Bürger in Kuba ist: In Kuba lebt und überlebt immer noch eines der letzten stalinistischen Regime in der Welt. ({2}) Die Menschenrechtsverletzungen auf Kuba verschlimmern sich weiter. Verhaftungen von Dissidenten gehören nach wie vor zum gängigen Instrumentarium des kubanischen Regimes unter Fidel Castro. Fidel Castro wird im Alter nicht weiser oder gnädiger; ({3}) vielmehr nimmt die Repression zu. In den vergangenen Monaten sind die Haftbedingungen für die in kubanischen Gefängnissen einsitzenden Dissidenten nochmals drastisch verschärft worden. Angehörige von Dissidenten werden ebenso wie deren Umfeld zunehmend von regierungstreuen Gruppen unter Peter Weiß ({4}) Druck gesetzt. Inhaftierte Dissidenten, deren Angehörige im In- und Ausland auf die Verstöße der kubanischen Regierung gegen die Menschenrechte aufmerksam machen, werden erpresst. Falls sich die Angehörigen weiterhin für ihre Freilassung einsetzen, drohen Konsequenzen. Dies ist auch mit Blick auf die medizinische Versorgung der Inhaftierten höchst alarmierend, die in vielen Fällen durch die Familie getragen werden muss. Die Meinungs- und die Pressefreiheit, die Versammlungs- und die Reisefreiheit werden unterdrückt. Deswegen ist es gut, dass das Europäische Parlament mit einer überwältigenden Mehrheit dazu klar Stellung genommen hat und für Europa dafür eingetreten ist, dass wir gemeinsam auf die Einhaltung der Menschenrechte Wert legen. Ich finde es gut, wenn wir als Deutscher Bundestag uns dieser Resolution des Europäischen Parlaments möglichst geschlossen anschließen. ({5}) Befremdlich stimmen muss allerdings, dass im Deutschen Bundestag nun eine politische Gruppierung sitzt, ({6}) die ihre eigenen Europaabgeordneten, die der richtigen und guten Entschließung des Europäischen Parlaments zu Kuba zugestimmt haben, nicht nur im Regen stehen lässt, sondern auch politisch ausgrenzt. Das ist der eigentliche Skandal in der deutschen Politik, was Kuba anbelangt. ({7}) Wenn die PDS in ihrem Parteivorstandsbeschluss ({8}) von notwendiger Solidarität mit dem sozialistischen Kuba spricht und ihre eigenen Europaabgeordneten maßregelt, weil sie der menschenrechtsorientierten Entschließung des Europaparlaments zugestimmt haben, dann zeigt sich eines: Hier sitzt keine neue Linke, hier sitzen die alten stalinistischen Betonköpfe im Parlament. ({9}) Die internationale Menschenrechtspolitik hat in den vielen Jahrzehnten des so genannten Kalten Krieges darunter gelitten, dass die einen auf dem rechten und die anderen auf dem linken Auge blind waren. Menschenrechtsverletzungen derjenigen, die mit den USA bzw. dem Westen verbündet waren, wurden etwas milder beurteilt als Menschenrechtsverletzungen auf der anderen Seite. Gott sei Dank - das ist ein großer Fortschritt - ist der Kalte Krieg zu Ende. Endlich wird allen klar, dass die Menschenrechte unteilbar sind. ({10}) Es ist für die internationale Menschenrechtspolitik nicht nur gefährlich, sondern sogar katastrophal, dass sich auch politische Gruppierungen zu Wort melden, die offensichtlich nicht wissen, dass der Kalte Krieg zu Ende ist. Deswegen glaube ich, dass es unsere Aufgabe als Deutscher Bundestag ist, für die Unteilbarkeit der Menschenrechte überall auf der Welt, auch und gerade in Kuba, einzutreten. Worum es geht, ist, dass der Wahrung der Menschenrechte, der Demokratie, der Freiheit und dem Rechtsstaat, nicht aber der Unterstützung antidemokratischer Regime unter dem Deckmantel der sozialistischen Verbrüderung zum Durchbruch verholfen werden muss. Auch als Bundestag stehen wir in der Verantwortung, für die Einhaltung der Menschenrechte und für die Stärkung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft einzutreten. ({11}) Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, die auf Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Stärkung der Zivilgesellschaft ausgerichteten Kräfte in Kuba zu stärken und ihnen nicht in den Rücken zu fallen. Das so genannte Varela-Projekt, in dessen Rahmen Unterschriften für die Abhaltung eines durch die geltende kubanische Verfassung vorgesehenen Referendums gesammelt werden, um unter anderem die Redeund Pressefreiheit durchzusetzen, ist eine bedeutsame zivilgesellschaftliche Initiative, die auf die friedliche Gewährleistung der Grund- und Menschenrechte abzielt. Bisher konnten in Kuba im Rahmen des Varela-Projekts etwa 30 000 Unterschriften gesammelt werden, womit die in der Verfassung vorgesehene Mindestzahl von 10 000 Unterschriften bereits weit überschritten ist. Aber Herrn Castro interessieren diese Unterschriften nicht und ihn interessiert erst recht seine eigene Verfassung nicht. Das ist leider eine Tatsache. Das Castro-Regime weigert sich, diese Unterschriftensammlung anzuerkennen und ein entsprechendes Referendum in die Wege zu leiten. Im Gegenteil: Einem der Initiatoren des Varela-Projekts, Oswaldo Payá, wird es sogar verweigert, Kuba für Auslandsreisen zu verlassen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Europäische Union hat im vergangenen Jahr, indem sie die so genannten politischen Maßnahmen gegenüber Kuba gelockert hat, den Versuch gestartet, in einen kritischen Dialog mit Kuba einzutreten. Heute, ein Jahr später, müssen wir feststellen, dass auch dieses Entgegenkommen der Europäischen Union auf der kubanischen Seite leider keine Antwort gefunden hat. Castro bleibt der Betonkopf, der er ist. Er bewegt sich in keine Richtung. Deswegen muss auf dem bevorstehenden Lateinamerikagipfel der Europäischen Union in Wien ein schonungsloses und offenes Resümee gezogen werden. Peter Weiß ({12}) ({13}) Dazu gehört, dass wir uns auf eine, wie ich glaube, gute Zukunftsstrategie einstellen müssen. Es ist offenkundig: Das aktuelle kubanische Regime unter Fidel Castro ist weder reformwillig noch reformfähig. Dennoch gibt es in Kuba, vor allen Dingen in den dortigen Nichtregierungsorganisationen, viele Menschen, die bereit sind, den demokratischen Wandel ihres Landes selbst in die Hand zu nehmen. Durch unsere Außenpolitik, unsere Entwicklungszusammenarbeit und unsere Menschenrechtspolitik sollten wir diejenigen stärken und unterstützen, die den demokratischen Wechsel und die Veränderung in Kuba selbst in die Hand nehmen wollen. Ihnen sollten wir unsere Solidarität beweisen: nicht nur durch Resolutionen des Bundestages, sondern auch durch das konkrete Handeln in der deutschen Außenpolitik und in der Entwicklungszusammenarbeit. ({14}) Bedauerlich ist, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in den vergangenen Monaten, was ihre Beziehungen zu Kuba und vor allem ihren Umgang mit den Dissidenten angeht, eine zum Teil sehr unterschiedliche Praxis gewählt haben. Jetzt können wir im Bundestag so viele Resolutionen beschließen, wie wir wollen, wir wissen: Handlungsfähig sind wir und ernst genommen werden wir international vor allem dann, wenn Europa mit einer Stimme spricht. ({15}) Deswegen habe ich an die Bundesregierung die herzliche Bitte, alles zu unternehmen, damit wir in der Europäischen Union wieder zu einer einheitlichen, klaren, an den Menschenrechten orientierten Kubapolitik finden und diese gemeinsam vertreten. Im Interesse der Menschen in Kuba hoffe ich, dass wir damit Erfolg haben. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Weiß, wollen Sie Ihre Redezeit verlängern? Der Kollege Dehm möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, Sie haben Fidel Castro als Stalinisten bezeichnet und auch die Fraktion der Linken in die Nähe des Stalinismus gerückt; wahrscheinlich würden Sie es mit Che Guevara auch tun. Meine Frage an Sie: Wissen Sie, dass der Stalinismus mit Millionen Toten, mit dem Gulag verbunden ist? Ist dies nicht eine Verharmlosung des Stalinismus und eine Verhöhnung der Opfer? ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dehm, die Verfolgung und Inhaftierung politischer Dissidenten in Kuba und die Behandlung der Angehörigen dieser Dissidenten durch das kubanische Regime ist genau das, was Stalin und andere Machthaber ähnlicher Couleur uns vorexerziert haben. ({0}) Nun muss ich noch etwas zur Behandlung von Mitgliedern der eigenen Partei oder Fraktion sagen; das ist etwas, das jede unserer Fraktionen betreffen kann. In allen Fraktionen des Deutschen Bundestages gibt es zu verschiedenen Fragen unterschiedliche Meinungen. Dass aber Abgeordnete einer Partei, die auch im Deutschen Bundestag vertreten ist, die im Europäischen Parlament zu Recht zu dem stehen, was Europa ausmacht - das Bekenntnis zur Würde des Menschen und zu den Menschenrechten -, dafür gemaßregelt werden, wie sie gemaßregelt worden sind, das erinnert mich mehr an Stalin als an Demokratie. ({1}) Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Marina Schuster, FDPFraktion. ({0})

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Europäische Parlament hat Anfang Februar die nach wie vor verheerende Menschenrechtslage in Kuba kritisiert. Es hat die Mitgliedsländer und die EU-Institutionen aufgefordert, von Havanna unmissverständlich eine Verbesserung der Situation einzufordern. Das war eine wichtige Resolution unserer europäischen Kollegen, der sich die FDP-Bundestagsfraktion uneingeschränkt anschließt. ({0}) Die Entschließung des Europäischen Parlaments hat einige Medienaufmerksamkeit erlangt: Denn ausnahms1968 weise sind einzelne Mitglieder der deutschen Linken quasi über ihren eigenen Schatten gesprungen und haben sich erlaubt, an ihrer Ikone Fidel Castro zu kratzen. Erschreckenderweise sind offensichtlich noch nicht alle Vertreter der Linken so weit, Wahrheiten beim Namen zu nennen. Wie ist denn die Lage in Kuba? Die meisten der mutigen Dissidenten des Varela-Projektes sitzen jetzt schon drei Jahre unter katastrophalen Bedingungen in kubanischen Gefängnissen. Die Angehörigen dieser Inhaftierten, die so genannten Damen in Weiß, werden in ihrem Einsatz für ihre Angehörigen und für die Menschenrechte unterdrückt; mein Vorredner hat es zur Sprache gebracht. Immer wieder werden Dissidenten willkürlich zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die Presse- und Meinungsfreiheit wird vom Castro-Regime genauso unterdrückt wie die Versammlungsfreiheit. Die freie Nutzung des Internets wird den Kubanern verwehrt, weil das Regime befürchtet, dass die Opposition sonst weiteren Zulauf erhalten würde. Von einem sozialistischen Musterland - in Anführungszeichen - ist Kuba trotz Verbesserungen bei der Alphabetisierung oder bei der Gesundheitsversorgung meilenweit entfernt. ({1}) Umso bedenklicher ist es, dass sich einige der linkspopulistischen Führer, die kürzlich in Lateinamerika gewählt wurden, ausgerechnet Havanna zum Vorbild zu nehmen scheinen. Das zeigt: Wir dürfen Kuba, wo Menschenrechtsverletzungen begangen werden, nicht weiter im doppelten Wortsinn links liegen lassen. Wir dürfen uns nicht mit der Haltung zufrieden geben, das Problem werde sich aufgrund des hohen Alters des kubanischen Revolutionsführers irgendwann von ganz alleine lösen. Das kann nicht die Antwort auf die Verletzung von Freiheitsrechten sein. ({2}) Deshalb ist die heutige Debatte im Deutschen Bundestag so wichtig. Wir dürfen hierzu nicht schweigen. Die FDP legt Ihnen aus diesem Grund einen eigenen Antrag vor. Wir begrüßen zwar ausdrücklich den Antrag der Grünen, in dem sie sich den Forderungen des Europaparlaments anschließen, meinen aber, mit unserem Antrag über die Forderungen der Grünen hinauszugehen und konkretere Vorschläge zu machen. Ich nenne Ihnen einige Punkte unseres Antrags: Die Auslandsvertretungen der EU-Staaten in Havanna müssen weiterhin ganz gezielt den Kontakt zu den Oppositionellen und Dissidenten pflegen, auch wenn das dem Castro-Regime nicht passt. Europäische und deutsche Entwicklungshilfe für staatliche Stellen in Kuba lehnen wir ab. Aber diese Frage stellt sich, zumindest vorerst, nicht, weil Castro selbst den Europäern die Entwicklungszusammenarbeit verweigert. Wir halten die Eröffnung eines Goethe-Instituts für die wesentlich sinnvollere und wirkungsvollere Maßnahme, weil so nicht staatliche Strukturen unterstützt würden, sondern die Zivilgesellschaft unterstützt werden könnte. In dieselbe Richtung zielt unsere Forderung, die Austauschmöglichkeiten im Schul- und Bildungsbereich noch weiter zu intensivieren. Wir glauben, dass das Internet eine wichtige Basis zur Stärkung der Informations- und Meinungsfreiheit in Kuba bieten könnte. Wir wollen gemeinsam nach Möglichkeiten suchen, dieses Medium für die Kubaner besser zugänglich zu machen. Wir meinen, dass die Europäische Union zu einer kritischen Kubapolitik kommen muss, bei deren Formulierung sich auch die deutsche Bundesregierung stärker und aktiver einbringen muss. Wir sind gerne bereit, nach Überweisung der Anträge an die Ausschüsse an einem interfraktionellen Entschließungsantrag mitzuarbeiten; denn das wäre ein wichtiges, ein überparteiliches Signal an das Regime in Havanna. Vielleicht geschehen ja noch Zeichen und Wunder und einige Kollegen der Linken im Deutschen Bundestag sind bereit, sich mit der Realität in Kuba kritisch auseinander zu setzen, ({3}) so, wie das die drei linken Einzelkämpfer im Europaparlament schon getan haben. Denn ich meine: Das Eintreten für die Freiheits- und Menschenrechte verdient und erfordert die breite Unterstützung in diesem Hohen Haus und kein Wegschauen zugunsten eines fälschlicherweise romantisierten Bildes von Kuba als „Sozialismus unter Palmen“. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Christoph Strässer, SPD-Fraktion.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt, wie schon gesagt worden ist, zu der heutigen Debatte keinen eigenen Antrag der Koalitionsfraktionen. Wir in der SPD-Fraktion sind der Auffassung, dass der richtige Termin, intensiv über diese Problematik zu diskutieren, im Mai oder Juni sein wird, wenn es in Wien zum EU-Gipfel zu Lateinamerika und der Karibik - er ist schon genannt worden - kommen wird. Dann werden wir uns mit dem Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Kuba sehr vehement in diese Diskussion einmischen und werden sie begleiten. Sie können davon ausgehen, dass wir uns in dieser Diskussion neben den anderen Themen, um die es gehen wird, zu den Menschenrechtsverletzungen in Kuba äußern werden. ({0}) Es besteht Anlass, dann über dieses Thema zu sprechen. In der aktuellen Diskussion über die Entschließung des EU-Parlaments ist über den Anlass zum Teil schon gesprochen worden. Ich will das nicht alles wiederholen. Ich möchte aber Folgendes deutlich machen: Wenn es um Menschenrechte geht, höre ich von der linken Seite den einen oder anderen Zwischenruf, wie zum Beispiel das Stichwort „Folterverbot“. ({1}) Ich darf daran erinnern, dass wir in der Diskussion zum Folterverbot vor circa einem Jahr in diesem Hause gegen populistischen Widerstand und gegen populistische Medienschelte klargestellt haben, dass das Folterverbot in diesem unserem Land absolute Geltung hat, während Ihr jetziger Fraktionsvorsitzender durchs Land gereist ist und gesagt hat, man müsse in bestimmten Situationen über Relativierungen nachdenken. Sie sollten erst vor Ihrer eigenen Haustür kehren, bevor Sie die Unantastbarkeit der Menschenrechte ansprechen. Das will ich Ihnen ganz deutlich sagen. ({2}) Es geht weiter: Ich bin mir sehr sicher, dass wir die Diskussion über die Geltung der Menschenrechte in Kuba auch in eine politische Diskussion mit einbetten müssen. Auch kubanische Oppositionelle, die im Land geblieben sind, sind wie ich der Auffassung, dass das Helms-Burton-Gesetz und die Blockade der USA eben nicht dazu beitragen, Kuba die Gelegenheit zu geben, an bestimmten Stellen Fortschritte zu machen. Ich finde, das sollte man auch politisch deutlich benennen, und das tue ich an dieser Stelle. ({3}) Auch das will ich klar sagen: Damit ist aber nicht verbunden, über das, was im Lande vorgeht und von dem wir durch internationale Menschenrechtsorganisationen wissen, zu schweigen. Dazu werden und dürfen wir nicht schweigen. ({4}) Deshalb zitiere ich aus einem, wie ich hoffe, auch aus Ihrer Sicht unverfänglichen Bericht, nämlich dem Jahresbericht 2005 von Amnesty International: Das US-Embargo und damit verbundene Sanktionen wirken sich nach wie vor nachteilig auf die wirtschaftlichen Rechte der Bürger aus. Ich zitiere noch einmal und wiederhole: … wirken sich nach wie vor nachteilig auf die wirtschaftlichen Rechte der Bürger aus. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Das ist so. Wer das aber zum Anlass nimmt, über die Verletzung der bürgerlichen und der Freiheitsrechte auf dieser Insel zu schweigen und die Verantwortlichen falsch zu benennen, der betrügt die Menschen in Kuba, die im Knast sitzen, die ausreisen und nichts anderes wollen, als ihre Meinung zu sagen, und die in Europa zu Recht einen Menschenrechtspreis bekommen haben, den sie nicht annehmen dürfen. Dazu schweigen wir nicht. ({5}) Ich finde, das ist eine klare Aussage: Sie können die Blockadepolitik der USA doch nicht dafür verantwortlich machen, dass in Kuba Menschen im Knast sitzen, weil sie ihre Meinung sagen wollen. Das geht doch wohl nicht. Das ist doch eine völlige Verkennung der allgemeinen Rechte, die wir uns lange erstritten haben. ({6}) Weil wir das ja unter menschenrechtlichen Aspekten diskutieren, möchte ich an dieser Stelle auch noch einmal daran erinnern, dass das, was dort eingeklagt wird, nichts Neues ist und auch nichts mit Imperialismus zu tun hat. Das ist das Einklagen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahre 1948, in der steht, dass jeder Mensch in der Lage sein muss und das Recht hat, sein Land zu verlassen und wieder dorthin zurückzukehren, wann er es will. ({7}) Das ist in der Geschichte nicht immer praktiziert worden, aber jetzt sollten wir es damit wirklich einmal ernst meinen. Unter diesem Aspekt glaube ich, dass es gut und richtig ist, die Menschenrechtslage in Kuba - eingebettet in die politische Diskussion - zu thematisieren und darüber zu reden. Ganz zum Schluss sei auch mir ein wenig Polemik gestattet. Ich habe einer Presseerklärung Ihrer Partei entnommen - es war der letzte Satz -: Die PDS.Linkspartei steht fest an der Seite des kubanischen Volkes. ({8}) Wer solche Freunde wie Sie hat, der braucht keine Sorge zu haben, dass er keine Gegner mehr hat. Solche Freunde brauchen wir nicht. Wir werden im Deutschen Bundestag dafür sorgen, dass das kubanische Volk aus Deutschland die Unterstützung für die Umsetzung seiner wirtschaftlichen, sozialen und Menschenrechte erhält, die es braucht. Danke schön. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Michael Leutert, Fraktion Die Linke, das Wort. ({0})

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst: Ich freue mich sehr, dass die Linke im Bundestag Platz genommen hat und ich die Möglichkeit habe, hier einen alternativen Standpunkt darzulegen. Lassen Sie mich, damit keine Missverständnisse aufkommen, gleich am Anfang sagen: Auch die Linke weiß sehr wohl, dass es in Kuba zu Verletzungen von Menschenrechten kommt. ({0}) Im Unterschied zu Ihnen haben wir mit den Kubanerinnen und Kubanern aber sehr oft darüber gesprochen. Das Problem bei dieser Debatte ist doch, dass es Ihnen - das haben Ihre Debattenbeiträge gezeigt - überhaupt nicht um die Menschenrechte und die Menschen in Kuba geht. Sie haben lediglich das Abstimmungsverhalten im Europäischen Parlament und die Debatte in unserer Partei dazu beobachtet. ({1}) Jetzt glauben Sie, unsere Fraktion mit solchen Anträgen hier vorführen zu können. ({2}) - Herr Beck, es gab Zeiten, als Ihre Partei die Menschenrechte ernst genommen hat. Ich denke aber, dass diese Zeiten, seit Sie ernsthaft meinten, die Menschenrechte im Kosovo mit Bomben auf Belgrad verteidigen zu müssen, vorbei sind. ({3}) Sie haben unter dem Deckmantel der Menschenrechte einen Krieg mit angezettelt, der Tausende von unschuldigen Opfern gefordert hat. Das ist ein rein instrumentelles Verhältnis zu Menschenrechten. Ein solches Verhältnis lehnen wir ab - das ist bezeichnend -; denn das ist unerträglich. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Leutert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Na klar.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Finden Sie, dass der Besuch von Herrn Gysi bei Herrn Milošević die angemessene Antwort auf die Menschenrechtssituation im ehemaligen Jugoslawien war? ({0})

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, Herr Beck, weil wir auf Dialog setzen, um die Menschenrechtssituation zu verbessern. Hören Sie einfach weiter zu. Dazu komme ich noch. ({0}) Punkt eins: Die erste Forderung bei Menschenrechten ist, dass sie überall gleich gelten sollen. Punkt zwei: Menschenrechtsverletzungen sollen überall da, wo sie stattfinden, gleichermaßen gerügt werden. In Bezug auf Saudi-Arabien oder die Volksrepublik China stelle ich einen völlig anderen Umgang als bei Kuba fest. ({1}) Dort wird über ökonomische Beziehungen und über Gespräche versucht, schrittweise eine Verbesserung der Menschenrechte zu erreichen, was ich begrüße. Aber warum gehen Sie diesen Weg bei Kuba nicht? Das ist meine Frage. ({2}) Es gibt zum Beispiel einen Dialog über die Menschenrechte mit China. Kuba ist auch mit den ehemals sozialistischen Staaten in Osteuropa nicht vergleichbar. ({3}) In Kuba hat es eine Revolution gegen den absolut korrupten Diktator Batista gegeben. ({4}) Das haben die USA bis heute nicht verkraftet. In Havanna gibt es keine offizielle Botschaft der USA. Aber es gab sehr wohl immer eine Botschaft der USA während des Pinochet-Regimes in Chile und unter dem Faschisten Franco in Spanien. ({5}) Dort gab es offensichtlich nie Probleme. ({6}) Von Anfang an haben die USA ein Embargo über Kuba verhängt. Firmen werden Sanktionen angedroht, wenn sie Wirtschaftsbeziehungen zu Kuba unterhalten. Bekannt ist ebenso, dass die USA nicht bloß bereit dazu waren, sondern die Invasion in der Schweinebucht tatsächlich durchgeführt haben. Bekannt dürfte auch Ihnen sein, dass der demokratisch gewählte Präsident von Chile, Salvador Allende, in einem reaktionären Militärputsch gestürzt wurde, der von den USA und ihrem Geheimdienst CIA unterstützt wurde. ({7}) Ich möchte, dass zur Kenntnis genommen wird, dass sich die Politik unter genau diesen Umständen in Kuba entwickelt hat. Diese Politik in Kuba hat verschiedene Seiten und ist differenziert zu bewerten.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Toncar von der FDP-Fraktion?

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wenn das nicht von meiner Redezeit abgeht, ja.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nein, das geht es nicht.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Frage ist kurz. Wie ist die Haltung der Linkspartei zu den beiden vorgelegten Anträgen? ({0})

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Hören Sie zu, ich komme gleich darauf zu sprechen. Ich komme jetzt zu der Differenzierung. In Kuba gibt es im Bildungs- und Gesundheitswesen Standards, wie man sie in keinem anderen südamerikanischen Land findet. Kuba hat Standards erreicht, die sich mit europäischen Standards messen lassen können. Ich darf auch an Folgendes erinnern: In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird in Art. 22 die soziale Sicherheit garantiert. Das sollte man auch in Deutschland immer wieder erwähnen. ({0}) Ferner wird in Art. 26 das Recht auf Bildung festgeschrieben. ({1}) - Es geht um etwas anderes. Von solchen Leistungen und Zusammenhängen ist in Ihren Anträgen niemals die Rede gewesen. Solange so etwas nicht differenziert betrachtet wird, kann meine Fraktion einem solchen Antrag niemals zustimmen. ({2}) Auch wir sind nicht einseitig. Wir sagen sehr wohl, dass Kuba bei der Einschätzung seiner Sicherheitslage einige falsche Schlussfolgerungen gezogen hat.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit. Sie geht zu Ende.

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bin gleich fertig. Ich habe sie so oft unterbrochen. Daher bitte ich jetzt um Nachsicht.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das wird nicht angerechnet. Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Trittin, die Sie dann allerdings beantworten müssen?

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum Ende. ({0}) Wir haben von Anfang an die Todesstrafe nicht nur in Kuba kritisiert, sondern auch in den USA, in China und anderen Ländern. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit überschritten.

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir aber führen diesen Dialog gemeinsam mit den Kubanerinnen und Kubanern. Ich muss jetzt leider meine Rede beenden. Ich hätte für Sie noch einige Argumente parat. Aber Sie können meine Rede gerne ausgehändigt bekommen. Danke. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun für die SPD-Fraktion der Kollege Sascha Raabe. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man Sie so reden hört, dann glaubt man fast, die ganze Welt zwingt den armen Fidel Castro, Menschen einzusperren und die Meinungsfreiheit zu missachten. Das ist doch lächerlich. Das können Sie keinem ernsthaft begreiflich machen. ({0}) In Kuba sagt man: „Jeder Kopf ist eine Welt“, doch was nutzt es einem Menschen, die Welt im Kopf zu haben, wenn er sich weder frei äußern noch reisen kann? Eine Gesellschaft kann sich nur entwickeln, wenn sie frei ist - sowohl gedanklich als auch physisch. Entwicklungszusammenarbeit kann entscheidend dazu beitragen, dass Menschenrechte und Grundfreiheiten in einer Gesellschaft implementiert werden. Formal ist Kuba ein Partnerland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit; doch 2003 hat die kubanische Regierung diese staatliche Entwicklungszusammenarbeit einseitig aufgekündigt. Das zeigt, dass diese Regierung ein falsches Verständnis von Entwicklungspartnerschaften besitzt. ({1}) Denn bei der deutschen Entwicklungszusammenarbeit geht es um Menschen und nicht um das politische Kalkül einer Regierung. Wir lassen uns nicht davon beeindrucken, sondern setzen unsere Entwicklungszusammenarbeit über Nichtregierungsorganisationen wie die kirchlichen Hilfswerke und politischen Stiftungen fort. Wir wollen auch weiterhin Wandel durch Entwicklung und Zusammenarbeit erreichen und wir werden die kubanische Bevölkerung nicht ausgrenzen, sondern stärken. ({2}) Gleichwohl ist unsere Position zu den Menschenrechtsverletzungen durch die kubanische Regierung glasklar. Wir erkennen durchaus an, dass für lateinamerikanische Verhältnisse die Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik in Kuba nicht schlecht ist. ({3}) Wir kritisieren auch die US-Blockadepolitik, die in gewisser Weise das System stabilisiert und der Bevölkerung schadet. Wir haben in diesem Hause schon genug Beschlüsse zu den Menschenrechtsverletzungen in Guantanamo Bay gefasst. Aber - jetzt müssen Sie genau zuhören - dass die Zahl der politischen Gefangenen im Jahr 2005 auf über 333 gestiegen ist, ist nicht hinnehmbar. Das verurteilen wir. Deshalb stehen wir ohne Abstriche zu der Resolution des Europäischen Parlaments und wir unterstützen die Parlamentarier, die sich dafür ausgesprochen haben. ({4}) Wir verurteilen auch das Vorgehen des Parteivorstandes der Linkspartei. ({5}) Durch Ihre Haltung beweisen Sie, dass Ihre Führungskräfte die Rede- und Meinungsfreiheit nicht ernst meinen, sondern Ihren eigenen Kollegen einen Maulkorb erteilen wollen. Durch ihre unkritische Unterstützung der kubanischen Regierung entlarvt sich Ihre Linkspartei. Es ist eben keine Linkspartei, sondern es ist die PDS/ML, die alte SED mit Oskar Lafontaine an der Spitze, ({6}) einem Oskar Lafontaine, der unser demokratisch gewähltes Parlament als „Schweinebande“ und „Plapperfritzen“ diffamiert, während er mit Castros Genossen ungeniert Rotwein trinkt und mit Castro Zigarren qualmt. ({7}) Es gab schon einmal einen rechten Populisten - nämlich Roland Schill -, der aus Hamburg nach Kuba auswandern wollte. Dort könnte er sich gut mit Ihrem Oskar Lafontaine treffen. Rechts- und Linkspopulisten gehören vielleicht dorthin, aber nicht in den Deutschen Bundestag. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gehrcke von der Fraktion Die Linke?

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, wollen Sie zur Kenntnis nehmen, dass ich die Zigarren aus Kuba immer Gerhard Schröder und nicht Oskar Lafontaine mitgebracht habe, der nach meiner Kenntnis gar nicht raucht? ({0}) Was die Erklärung des Parteivorstandes der Linkspartei angeht, haben wir zwar unseren Kollegen im Europaparlament gesagt, dass wir anders abgestimmt hätten; wir haben aber ihr Recht, so abzustimmen, wie sie abgestimmt haben, stets unterstrichen und nur darauf hingewiesen, dass Folgendes unsere Zustimmung nicht gefunden hätte: eine einseitige Schuldzuweisung an Kuba, die Normalisierung der Beziehungen zur Europäischen Union vereitelt zu haben, und die Aufforderung an den Rat, Maßnahmen zu ergreifen. Wir stellen keine Blankoschecks aus. Ich finde, eine solche Kritik ist in einer Partei angemessen. Ich frage Sie, ob Sie den Text der Entscheidung des Parteivorstands überhaupt gelesen haben. ({1})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich habe den Text gelesen, auch wenn es ein größeres Vergnügen gibt, als so einen unmöglichen Text zu lesen. ({0}) Darin steht, dass die Linkspartei der Auffassung ist, dass das kubanische Modell bis heute positiv auf Lateinamerika ausstrahle. ({1}) Wer einen solchen Unsinn erzählt, dass nämlich Unterdrückung, Repression und Missachtung der Meinungsfreiheit auf ganz Lateinamerika ausstrahlen sollen, der ist noch dem alten Denken verhaftet, dem sich die Mehrheit Ihrer Mitglieder verpflichtet gefühlt hat. Der wünscht sich die DDR zurück und ist vielleicht in Kuba besser aufgehoben als hier. ({2}) Ich möchte in meiner Rede ein weiteres kubanisches Sprichwort zitieren: Ein Licht, das von innen her leuchtet, kann niemand löschen. - Wir, der Deutsche Bundestag, fordern Herrn Castro auf, die Millionen Lichter zu sehen, die in den Herzen der Kubaner auf der ganzen Welt leuchten. Es ist nicht das Staatsmodell, das strahlt. Es ist eine Verhöhnung der unterdrückten kubanischen Menschen, wenn Sie von der Linkspartei sagen, dass das kubanische Modell bis heute positiv auf Lateinamerika ausstrahle. Sie von der Linksfraktion sollten höchstens vor Schamesröte strahlen. Wer auf dem linken Auge so blind ist wie Sie, der sollte in Zukunft Worte wie „Solidarität“ und „Gerechtigkeit“ nicht mehr in den Mund nehmen. Vom Freiheitsbegriff haben Sie sowieso keine Ahnung. ({3}) Wir Sozialdemokraten werden den Dialog mit der kubanischen Bevölkerung fortsetzen. Wir wollen des Weiteren Wandel und Entwicklung auf Kuba durch Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen ermöglichen. Wir werden uns aber weiterhin ganz klar zu den dortigen Menschenrechtsverletzungen äußern. Es stünde Ihnen gut an, meine Damen und Herren von der Linksfraktion, wenn Sie sich daran beteiligten, anstatt in alte Zeiten zurückzufallen und uns, das demokratisch gewählte Parlament, durch Ihren Fraktionsvorsitzenden beschimpfen zu lassen, während Sie sich gemeinsam mit den demokratisch nicht legitimierten Machthabern Kubas irgendwo an den Strand in die Sonne legen. Vielen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 16/934 und 16/945 zu überweisen, und zwar zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss sowie den Ausschuss für Kultur und Medien. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, will ich auf den Debattenverlauf in der gestrigen Aktuellen Stunde Bezug nehmen. In diesem Debattenverlauf hat die Kollegin Claudia Roth gegenüber dem Kollegen Dirk Niebel die Bemerkung „Herr Kollege, sind Sie bescheuert?“ geäußert. Weder meine Schriftführer noch ich haben dies akustisch zur Kenntnis nehmen können; es war hier oben nicht zu hören. Ich habe deshalb gestern nicht darauf reagiert. Nun ist diese Bemerkung aus dem Protokoll ersichtlich. Ich möchte deshalb darauf hinweisen, dass ich die Bemerkung „Herr Kollege, sind Sie bescheuert?“ als unserem parlamentarischen Sprachgebrauch nicht angemessen erachte, und erteile deshalb eine Rüge. ({0}) Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 10 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung - Drucksache 16/400 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) - Drucksache 16/970 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Brand Horst Meierhofer Lutz Heilmann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Gerd Bollmann von der SPD-Fraktion. ({2})

Gerd Bollmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003508, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erfolgreiche Abfallpolitik muss einfach und effizient sein. Abfallpolitik heißt für uns Sozialdemokraten in erster Linie Abfallvermeidung. Entstehender Abfall muss nach Möglichkeit sinnvoll recycelt, das heißt stofflich oder rohstofflich wieder verwendet werden. Ganz besonders wichtig ist jedoch, dass Entstehung, Zwischenlagerung, Transport und die Verwertung bzw. die Beseitigung von Abfällen Mensch und Umwelt nicht gefährden. Zur Erreichung dieser Ziele gibt es zahlreiche Gesetze, Verordnungen und auch entsprechende Überwachungsvorschriften. Diese Vorschriften sind jedoch teilweise zu bürokratisch und behindern eine wirksame Überwachung im Abfallrecht mehr, als dass sie zur Erreichung unserer Ziele beitragen. Die Praxis hat gezeigt, dass einzelne Bestimmungen in der abfallrechtlichen Überwachung nur eine Papierflut auslösen, ohne dass es zu einem erkennbaren Nutzen für den Umweltschutz kommt. Es ist daher notwendig und sinnvoll, die abfallrechtliche Überwachung zu vereinfachen. Der heute vorgelegte Gesetzentwurf leistet dies und stellt vor allen Dingen sicher, dass eine Gefährdung von Mensch und Umwelt nicht stattfindet. Mit dem Gesetz zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung reagieren wir auf Forderungen von Umweltverbänden, Verwaltung und Unternehmen. Mit der Vereinfachung des Vollzugs helfen wir den Umweltbehörden bei der Kontrolle. Wir senken den Vollzugsaufwand und entlasten Unternehmen. Einfach ausgedrückt: Wir bauen Bürokratie ab, verringern Personalkosten und sparen Zeit. Das Wichtigste aber ist: Die Vereinfachung sorgt für eine effizientere Überwachung und damit für eine Stärkung des Umweltschutzes. Der vorliegende Gesetzentwurf ist damit ein Teil des von der Koalition geplanten Bürokratieabbaus. Er ist ein gutes Beispiel dafür, wie Bürokratieabbau funktionieren muss. Bürokratieabbau heißt unserer Ansicht nach Abbau unnötiger Vorschriften und effizienter Vollzug. Keinesfalls darf Bürokratieabbau zu der Senkung von Umweltstandards, Sozialstandards und Verbraucherrechten führen. ({0}) Wir müssen verhindern, dass unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus Arbeitnehmerrechte sowie Beteiligungsrechte von Bürgern und Verbänden abgebaut werden. Insbesondere im Umweltbereich darf Bürokratieabbau nicht zu einem geringeren Schutz von Mensch, Natur und Umwelt führen. Wir müssen die Mitsprache-, Beteiligungs- und Einspruchsrechte von Bürgern und Verbänden erhalten. Andererseits gibt es im Umweltschutz vielfältige Beispiele für sinnlose Bürokratie wie Mehrfachprüfungen, doppelte Zuständigkeiten, überflüssige Formulare, veraltete Verfahren und vieles mehr. Hier gilt es zu vereinfachen. Unser Ziel muss es sein, den Aufwand zu verringern und damit gleichzeitig einen effizienteren Umweltschutz zu erreichen. Diesen Weg wollen wir weitergehen. Die Voraussetzung erfüllt der Entwurf zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung. Im Kern geht es bei dem heute vorgelegten Gesetzentwurf darum, das deutsche Abfallrecht mit dem EURecht zu harmonisieren und moderne Kommunikationstechniken in der abfallrechtlichen Überwachung einzuführen. Mit der Anpassung an das europäische Gemeinschaftsrecht erleichtern wir die Tätigkeit grenzüberschreitender Unternehmen. Dies ist in Zeiten zunehmender Globalisierung für die Wirtschaft von großer Bedeutung. Darüber hinaus wird die reibungslose Umsetzung künftiger Änderungen verbessert. Gleichzeitig wird sowohl im abfallrechtlichen Nachweisverfahren als auch in den Einzelverordnungen über die Verwertung und Beseitigung bestimmter Abfälle die elektronische Form eingeführt. Damit werden die heutigen technischen Möglichkeiten genutzt, um die Nachweisführungen zu vereinfachen. Nach dem derzeit gültigen Recht werden den zuständigen Überwachungsbehörden rund 125 000 Entsorgungsnachweise und 2,5 Millionen Begleitscheine pro Jahr zur Prüfung vorgelegt. Mit der Umstellung auf elektronische Nachweisverfahren verringern wir diesen unglaublichen Papierwust und helfen allen Beteiligten. Die Nutzung moderner Kommunikationswege entlastet Behörden und Unternehmen und vereinfacht den Datenaustausch. Vor allem aber ermöglicht das neue Verfahren eine schnellere und effizientere Überwachung. Wir passen das Verfahren den in vielen Unternehmen und öffentlichen Dienststellen bereits üblichen elektronischen Kommunikationsformen an. Uns ist bewusst, dass die Umstellung für einige Beteiligte anfangs auch Probleme bereiten wird. Darum sind beim Vollzug Übergangsfristen und Abweichmöglichkeiten eingeräumt worden. Letztendlich werden aber alle Beteiligten bei entsprechender Bereitschaft von dem neuen System profitieren. Weiterhin werden in einzelnen Überwachungsbereichen wichtige Vereinfachungen vorgenommen. Diese Vereinfachungen betreffen insbesondere Vorschriften, die in der Vergangenheit keinen Beitrag zur Verbesserung der Abfallwirtschaft leisteten. Beispielsweise hat die Pflicht zur Führung betrieblicher Abfallkonzepte und -bilanzen keine positiven Auswirkungen gehabt. Zukünftig entfällt daher diese Pflicht. Dieses Gesetz ist im intensiven Dialog mit den Bundesländern und der Wirtschaft entstanden. Noch in den letzten Wochen wurden auf Initiative Bayerns Änderungswünsche der Bundesländer eingearbeitet. Es wurde zum Beispiel eine Bußgeldbewehrung für Verstöße gegen das elektronische Nachweisverfahren aufgenommen. Dies wird von der SPD-Fraktion ausdrücklich begrüßt. Dabei wird jedoch auch sichergestellt, dass die Bußgeldbewehrung nur gewichtige Verstöße betrifft. Diese Änderung ist, wie die weiteren Verbesserungen, mit den beteiligten Ministerien und Ländern abgesprochen. Die intensiven Gespräche und Beratungen sichern diesem Gesetz eine breite Akzeptanz. Der vorgelegte Entwurf ist ein gutes Beispiel für die Verbesserung von Effizienz und Umweltschutz durch Bürokratieabbau. Wir halten ihn für sinnvoll und notwendig und bitten um Ihre Unterstützung. Vielen Dank. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Horst Meierhofer für die FDP-Fraktion. ({0})

Horst Meierhofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003806, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit diesem Gesetzentwurf zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung soll einerseits das deutsche Recht an die europäischen Vorgaben sowohl in technologischer als auch in struktureller Hinsicht angepasst werden. Zugleich sollen durch den hier vorliegenden Entwurf die Unternehmen der Wirtschaft und auch die Vollzugsbehörden von nicht notwendigen bürokratischen und arbeitsaufwendigen Pflichten entlastet werden. Die FDP begrüßt ausdrücklich das Ziel dieses Gesetzentwurfs. Durch ihn verbessert sich die Effizienz der abfallrechtlichen Überwachung. Bürokratie wird abgebaut und zugleich wird der abfallrechtliche Überwachungsapparat dereguliert. Das Beste ist: Das alles geschieht ohne jegliche Qualitätseinbußen. ({0}) Um ein kleines bisschen Wasser in den Wein zu gießen: Der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen war bereits Mitte Januar dieses Jahres bekannt, dass es zu Doppelungen in diesem Gesetz und im Bürokratieabbaugesetz kommt. Aber erst in dieser Woche - ich glaube, es war vorgestern - wurden Änderungs- und Streichungsanträge an uns weitergegeben. Wäre man boshaft, könnte man sagen: Das ist eine Schlamperei. Aber gutmütig, wie wir nun einmal sind, sagen wir: Besser spät als nie. Jetzt haben wir ja ein gutes Resultat. ({1}) Eine europaweit einheitlich geregelte Überwachung erleichtert natürlich den Vollzug, insbesondere bei grenzüberschreitenden Abfalltransporten in andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Wir als Liberale wollen, dass die abfallrechtlichen Vorgaben in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein einheitlich hohes Niveau erreichen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, sich in allen Gesprächen auf europäischer Ebene auch weiterhin dafür einzusetzen, dass dieser hohe Standard überall in Europa erreicht wird und dass die Überwachungsbestimmungen zudem überall unbürokratisch ausgestaltet werden. Sie alle wissen, dass die bisherige abfallrechtliche Überwachung einen enormen bürokratischen Aufwand darstellte - Herr Bollmann hat mehrfach darauf hingewiesen -, nicht nur für die Überwachungsbehörden, sondern auch und vor allem - das ist wahrscheinlich das Entscheidende - für die betroffenen Unternehmen. Mit der Einführung eines bundesweiten EDV-Verbunds zwischen Wirtschaft und Überwachungsbehörden durch ein elektronisches Nachweisverfahren - so wird es genannt - soll die abfallrechtliche Überwachung erheblich erleichtert werden. Auch wir glauben, dass dies geschieht. Gerade für die kleinen und mittelständischen Unternehmen ist es ein großer Vorteil. Deshalb begrüßen wir es außerordentlich. Dass die bisherige abfallrechtliche Überwachung einen immensen bürokratischen Aufwand bedeutete, sieht man, wenn man sich vergegenwärtigt, dass für die - wie es bisher hieß - „besonders überwachungsbedürftigen Abfälle“ - zukünftig nur „gefährliche Abfälle“ genannt bislang bundesweit jährlich etwa 60 000 Entsorgungsnachweise, 20 000 Sammelentsorgungsnachweise und 1,5 Millionen bis 2 Millionen Abfallbegleitscheine - Herr Bollmann hat sie bereits angesprochen - ausgestellt und natürlich auch kontrolliert werden mussten. Solche Papierberge soll es künftig nicht mehr geben. Das ist ein Fortschritt, den die FDP-Fraktion natürlich sehr begrüßt. ({2}) Man muss bedenken - auch da haben mich die Ausführungen von Herrn Kollegen Bollmann sehr positiv gestimmt -, dass die kleinen Unternehmen nicht überfordert werden dürfen. Es ist nämlich nicht so, dass auch die kleinen Abfallentsorger bereits jetzt über sämtliche Möglichkeiten hinsichtlich Hardware und Software verfügen, um diese Systeme sofort umzustellen. Deswegen braucht man zum einen die genannten Fristen und zum anderen sollte der Aufwand bei den Hardwareanforderungen so gering wie möglich gehalten werden und sollten auch die Softwareprogramme so ausgestaltet werden, dass sie einfach und ohne großen Aufwand genutzt werden können. Eines der Ziele der Abfallwirtschaftskonzepte bzw. der Abfallbilanzen war es, den Betrieben, die große Mengen an Abfällen produzieren, Planungsinstrumente zu reichen, damit sie ihr Abfallaufkommen verringern können. Es hat sich aber leider gezeigt, dass die Vorgaben der Abfallwirtschaftskonzept- und -bilanzverordnung in ihrer praktischen Umsetzung für die Unternehmen zu starr und zu unflexibel waren und aus diesem Grund leider nicht gefruchtet haben. Deswegen ist es vollkommen richtig, sowohl die Pflicht zur Aufstellung von Konzepten und Bilanzen als auch die entsprechende Verordnung zu streichen. Wir als FDP werden dem Gesetzentwurf zustimmen, weil wir für Entbürokratisierung und Deregulierung eintreten, in allen Bereichen und gerade in diesem. Wir fordern die Bundesregierung zugleich auf, von den in das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz neu aufgenommenen Rechtsverordnungsermächtigungen mit Augenmaß Gebrauch zu machen, damit dieser wichtige und richtige Schritt, den wir hier heute tun, in vollem Umfang Wirkung zeigt. Herzlichen Dank. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Michael Brand, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Michael Brand (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir als CDU/CSU begrüßen natürlich sehr, dass der Bund und die Länder mit der Einführung der elektronischen Nachweisführung für gefährliche Abfälle allen Beteiligten die Tür öffnen zu effizienter, moderner und kostengünstiger Handhabung ihrer jeweiligen Pflichten. Diese Pflichten, die sich aus der notwendigen Überwachung von gefährlichen Abfällen ergeben, bestehen zum Schutz der Umwelt und sie sollten den Informationsaustausch zwischen den Beteiligten im kompletten Verlauf der so genannten Entsorgungskette ebenso effizient und lückenlos ermöglichen wie die Überwachung durch die Vollzugsbehörden der Länder. Wir stimmen als CDU/ CSU diesem Weg, im Übrigen nicht nur im Umweltbereich, ausdrücklich zu und wir verfolgen dabei die vor allem für die mittelständische Wirtschaft so wichtigen Ziele: Effizienz und weniger Bürokratie. ({0}) Dies ist der Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den Ländern und unter tatkräftiger Mithilfe des Parlaments auch zum größten Teil gelungen. Eine Beratung im Parlament wäre aber keine Beratung, wenn wir als Vertreter des Souveräns unsere Aufgabe nicht ernst nehmen würden, der Exekutive auch noch ein paar gute Ratschläge oder, anders gesagt, ein paar gut gemeinte Vorgaben zu machen. Über einige wenige Vorgaben für die weitere Handhabung der Nachweispflichten möchte ich hier deshalb kurz sprechen. Vor einigen Wochen habe ich hier im Deutschen Bundestag für die Union vorgetragen, dass wir eine Einigung zwischen der Bundesregierung und den Ländern im laufenden Verfahren empfehlen. Mittlerweile hat es zwischen den beteiligten Ministerien auf Bundes- und Länderebene insbesondere einen Austausch darüber gegeben, ob und, wenn ja, in welcher Höhe es Bußgelder für diejenigen geben müsse, die sich zukünftig gegebenenfalls nicht oder nicht wie gefordert an diesem zukünftigen elektronischen Verfahren beteiligen. Nun gibt es zwischen den Beteiligten durchaus unterschiedliche Ansichten darüber, wie weit der Staat gehen soll, um die so genannten Nachweispflichtigen dazu zu veranlassen, ihren Pflichten nachzukommen. Die Länder redeten von Beginn an davon, dass ein Bußgeld erforderlich ist. Der Bund dagegen hielt dies für nicht erforderlich. Die Länder haben nun mit dem Bund einen Kompromiss gefunden, der sozusagen ein „Bußgeld light“ vorsieht, zum Teil aber den Anwendungsbereich für das Bußgeld ausweitet. Wir als CDU/CSU sehen dies mit einer gewissen Sorge. Wir regen insbesondere an, im weiteren Verfahren, vor allem bei der Nachweisverordnung - Herr Meierhofer hat das angesprochen -, klare Grenzen einzuziehen, um eine Überbürokratisierung und Verunsicherung der verantwortlich arbeitenden Mittelständler zu verhindern. Wenn diese Mittelständler gefährliche Abfälle ordnungsgemäß und verantwortlich behandeln und mit ihnen sorgsam umgehen, dann dürfen sie nicht mit der Bußgeldkeule erschlagen werden. Ich will es einmal deutlich formulieren: Vor allem kann es nicht sein, dass in der Phase der Einführung der elektronischen Nachweisführung die Behörden qualifizierte Betriebe deshalb „unter Beschuss“ nehmen können, wenn zwar die Hauptsache ordentlich erledigt wurde, aber der dazugehörende „Papierkram“ nicht erledigt wurde oder - ich muss es präziser sagen - der „elektronische Kram“ nicht oder noch nicht perfekt funktioniert. Es darf im Übrigen auch nicht so sein, dass der kleine und mittelständische Betrieb durch eine Praxis der Umweltministerien benachteiligt wird, die auf zu viel elektronische Wege setzt und damit die Kleinen gegenüber den Großen mit ihren Spezialisten benachteiligt. Das ist das, was der Kollege Bollmann eben ausgeführt hat. So habe ich gestern auch die Ausführungen vom Kollegen Meierhofer im Ausschuss verstanden und es hat tatsächlich Hinweise auf eine solche Praxis aus vergangener Zeit, zum Beispiel in Grün-geführten Umweltministerien, gegeben, die nicht im Einzelnen geprüft, wohl aber für die kommende Praxis beachtet werden müssen. Insofern unterliegen natürlich auch die Länder als Ebene des praktischen Vollzugs unserer Beschlüsse einer Beobachtung durch den Verordnungsgeber Bundestag. Ich bitte auch vor diesem Hintergrund den Bundesumweltminister und ehemaligen Ministerpräsidenten Gabriel, den ausdrücklichen Hinweis der CDU/CSU im Deutschen Bundestag auf einen fairen Umgang mit den Recyclingunternehmen in den in den nächsten Tagen anstehenden Beratungen im Bundesumweltministerium ebenso wie in der anstehenden Sitzung des Umweltausschusses des Bundesrates - er tagt in der nächsten Woche, am 23. März - zu berücksichtigen. Wenn das elektronische Verfahren vor allem auf Druck der Länder schon vor der Einführung mit Bußgeldandrohungen gekoppelt werden soll und eben nicht die weniger scharfe Möglichkeit eines Zwangsgeldes gewählt wurde, dann muss umso mehr auf sorgfältig formulierte und unmissverständliche Ausführungsbestimmungen Wert gelegt werden. Nachdem uns dies auch vom BMU signalisiert worden ist, fiel uns als CDU/CSU wie dem Ausschuss insgesamt die Zustimmung zu dem grundsätzlich sehr sinnvollen vorliegenden Gesetz noch einmal leichter. Wir gehen bei diesem wie bei anderen Gesetzesvorhaben als CDU/CSU davon aus, dass der Bundesumweltminister und das ihm unterstehende Ministerium den gegebenen Respekt vor dem Parlament auch dadurch umsetzen, dass die Abgeordneten nicht mit Fristen für kurzfristige Änderungen konfrontiert werden, die eine ernsthafte Prüfung schwer bis unmöglich machen. Nachdem wir auch in dieser Hinsicht klare Signale aus dem BMU erhalten haben, freuen wir uns auf die weitere Arbeit an diesem Umweltbereich ebenso wie bei anderen zwischen BMU und Parlament besprochenen Themen. In diesem Zusammenhang muss sicherlich auch die Verpackungsverordnung genannt werden, die von der Leitung des BMU im Ausschuss schon länger zur Beratung angekündigt wurde. Sie hat vor allem deshalb Bedeutung, weil aktuell das Thema „Gelbe Tonne“ bzw. „Grüner Punkt“ auf allen Ebenen, von Umweltministerkonferenz über die LAGA bis hin zu Kommunen und natürlich im Handel, Industrie und Entsorgungswirtschaft, massiv diskutiert wird und es einen echten Handlungsbedarf gibt. Man kann es in den Publikationen, in den Fachbeiträgen lesen: Wenn die bevorstehende Einführung der „trittinschen Pfandregelung“ - schade, dass Herr Trittin heute nicht hier ist; beim letzten Mal hat er ja ordentlich getobt, aber heute hat er sich etwas weggeduckt - dazu führt, dass sozusagen als Nebenwirkung die erfolgreiche haushaltsnahe Sammlung von Verpackungen zusammenbricht, dann werden wir alle hier im Hohen Haus politisch zur Verantwortung gezogen durch den Vorwurf, wir hätten uns um dieses Thema nicht ausreichend gekümmert. In die laufende Debatte um die Kommunalisierung, einen nochmaligen Verkauf des DSD und die reale Gefahr, dass letztlich die Finanzierung der kommunalen Entsorgungsstrukturen bedroht sein könnte, muss sich der Bund aktiv einschalten. Nachdem der Bundesumweltminister mit gutem Grund die letzte Beratung des hier vorliegenden Gesetzentwurfes für Ausführungen zu einem aktuellen Thema genutzt hat, muss auch ein Vertreter aus dem Umweltausschuss die Verantwortung wahrnehmen, auf dieses drängende und Millionen von Menschen betreffende Thema deutlich hinzuweisen, was ich hiermit bereits getan habe. Für den uns vorliegenden Gesetzentwurf zur elektronischen Nachweisführung bei gefährlichen Abfällen kann ich jedenfalls die Zustimmung der CDU/CSU erklären und die anderen Fraktionen ebenfalls zur Zustimmung einladen. Vielen Dank. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Eva Bulling-Schröter, Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister! Im Ausschuss haben die Grünen gestern vertreten, dass sie, was den Bürokratieabbau beträfe, zwischen FDP und Linken säßen. Erstere würden ständig undifferenziert den Abbau aller Regularien fordern und Letztere, also wir, ein Mehr an Kontrolle, so auch bei der abfallrechtlichen Überwachung. Ich möchte hier noch einmal einiges richtig stellen. Die Linke hat ausdrücklich die Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung begrüßt. Wir sind dafür, dass die elektronischen Begleitscheine eingeführt werden und die überholte Zettelwirtschaft endlich aufhört. ({0}) Wir haben uns lediglich erlaubt, zu kritisieren, dass bereits im letzten Sommer die Pflicht zur Erstellung betrieblicher Abfallbilanzen und Abfallwirtschaftspläne weggefallen ist. Wir halten diese Instrumente nämlich für sinnvoll. Schließlich dienten sie der betriebsinternen Planung genauso wie den Überwachungsbehörden. Gleichzeitig möchte ich erneut darauf hinweisen, dass neben dem wunderschönen Gesetzeswerk eine nicht mehr ganz so wunderbare Praxis existiert, in der die illegale Abfallentsorgung momentan neue Blüten treibt. Wenn Tausende Tonnen deutschen Mülls in Tschechien landen, dann hat das offensichtlich auch mit Problemen beim Vollzug der abfallrechtlichen Überwachung zu tun. ({1}) Die Sache ist doch die: Einige Firmen verlagern ihre Scheinverwertung in Deutschland, die sie bis zur Schließung der Deponien im Juni 2005 betreiben konnten, nun ins Ausland. Nach Prognosen verschiedener Institutionen müssten jährlich bundesweit etwa 4 bis 5 Millionen Tonnen behandlungsbedürftiger Abfälle, die bis letztes Frühjahr hierzulande entgegen gesetzlichen Vorschriften auf Billigdeponien landeten, nunmehr Vorbehandlungsanlagen zugeführt werden. Das kostet Geld; das ist klar. Deshalb ist es wenig verwunderlich, dass skrupellose Unternehmen Vollzugsdefizite ausnutzen, um den Müll im Ausland loszuwerden. Osteuropa bietet sich da momentan besonders an - das wissen wir alle -, weil hier EU-konforme Verwaltungen noch im Aufbau sind. In diesem Zusammenhang wurde im Ausschuss darauf hingewiesen, dass dieses Vorgehen kriminell sei und nicht eine Folge von Gesetzeslücken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Punkt haben Sie formal Recht. Wenn aber der Vollzug faktisch nicht möglich ist, dann scheint doch etwas an der Gesetzeslage nicht zu stimmen. Oder? Vielleicht sollten wir uns einmal vor Augen führen, was momentan an den Ostgrenzen der Bundesrepublik passiert. Herr Meierhofer, ich empfehle Ihnen, in Ihrer regionalen Zeitung nachzulesen, was zu diesem Thema geschrieben wird. Der Umfang der deutschen Exporte von gefährlichen und deshalb notifizierungsbedürftigen Abfällen nach Tschechien und Polen ist förmlich explodiert. Die Masse der Abfälle, die zur Verwertung nach Tschechien bzw. nach Polen transportiert wurden, stieg von 19 Tonnen bzw. 233 Tonnen im Jahr 2004 auf 31 000 bzw. 34 000 Tonnen im letzten Jahr. Das ist eine Zunahme um das 250fache. Diese Tatsache kann man nicht wegdiskutieren. Nun sind aber nur gefährliche Abfälle zur Verwertung notifizierungspflichtig, ungefährliche jedoch nicht. Sie können frei gehandelt werden. Man kann wohl mit einigem Realismus davon ausgehen, dass über diesen Weg zig Tausende Tonnen Müll nach Osteuropa wandern, ohne dass irgendeine Kontrolle möglich wäre. Man müsste schon reichlich naiv sein, um zu glauben, die Mehrheit davon werde tatsächlich verwertet. Nicht umsonst klagen tschechische Bürgermeister über die rasante Zunahme illegaler Abfalldeponien, auf denen Müll aus Deutschland abgekippt wurde. Gerade hat mir mein Kollege Lutz Heilmann erzählt, dass gestern bei einem Treffen mit einer Delegation tschechischer Studentinnen und Studenten genau diese Problematik angesprochen wurde; sie ist also weitgehend bekannt. Wir denken, eine solche Praxis müssen Ökologinnen und Ökologen, egal welcher Partei, kritisieren dürfen, ohne als Bürokraten, wie wir bezeichnet wurden, abgestempelt zu werden. Es ist unsere Sorge, dass es hier Fehlentwicklungen gibt. Wir fordern Sie auf, dem entgegenzuwirken. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Minister! Sie werden mir zugestehen, dass ich mich dem Vorwurf hinsichtlich des Dosenpfandes - das ist ja eine unendliche Lieblingsgeschichte -, das aber nicht auf den vormaligen Minister Trittin, sondern auf die vorvormalige Ministerin Merkel zurückgeht, jetzt nicht anschließe. ({0}) Ich möchte mich vielmehr mit dem vorliegenden Gesetzentwurf befassen. Der vorliegende Gesetzentwurf wurde im Umweltausschuss diskutiert und sinnvoll ergänzt. Wir Grünen stimmen ihm auch in der zweiten Lesung zu. Ich will aber zu den Argumenten in dieser Debatte Stellung nehmen. Eines der Lieblingsschlagwörter in der politischen Auseinandersetzung ist der Bürokratieabbau. Da gibt es in der Tat diejenigen, die beim Stichwort Bürokratieabbau glänzende Augen kriegen und sofort Positives wittern. Es gibt aber auch die anderen, die eher große Ohren kriegen und grundsätzlich Negatives wittern. Die Wahrheit liegt wie meistens ungefähr in der Mitte. ({1}) Bürokratie ist im Allgemeinen das Ergebnis von Bemühungen, Verhältnisse gerechter zu machen und Schutz für Menschen und Medien zu organisieren, die diesen Schutz brauchen, ihn im freien Spiel der Kräfte aber nicht bekommen. Aber zum einen verselbstständigt sich Bürokratie manchmal und erschlägt das ursprüngliche Ziel geradezu, zum anderen erreicht sie das Ziel manchmal einfach nicht. Wie man Bürokratie sinnvoll abbaut, zeigt die vorliegende Vereinfachung abfallrechtlicher Überwachung. Was Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union und von der SPD, jetzt aber im Zuge der Föderalismusreform vorhaben - diesen Punkt will ich betonen -, ist das Gegenteil von Vereinfachung, nämlich die absolute Verkomplizierung des Umweltrechts und damit auch des Abfallrechts. ({2}) Womöglich wird die heutige Gesetzesvorlage als die letzte Vereinfachung des Abfallrechts in die Historie eingehen. Die Kolleginnen und Kollegen von der Linken haben den Verzicht auf die früheren Regelungen mit den illegalen Transporten von Abfall ins Ausland in Zusammenhang gebracht. Die illegalen Mülltransporte nehmen leider zu; als tatkräftige Antwort wurde solcher Müll in Tschechien der deutschen Botschaft vor die Haustür gekippt. Diese Transporte erfüllen nicht nur die Abgeordneten der Linken mit Sorge. Von tschechischer Seite wird uns vorgeworfen - auch Frau Bulling-Schröter hat dies angesprochen -, unsere Pflicht zur Vorbehandlung vor der Deponierung - dies kann natürlich auch eine Kostensteigerung bedeuten - mache den illegalen Export sehr attraktiv. Also, was sollen wir tun? Sollen wir zu den aufwendigeren, früheren betrieblichen Abfallbilanzen zurückkehren, wie es die Kolleginnen und Kollegen von der Linken bei der ersten Lesung vorgeschlagen haben, oder unsere Standards absenken, wie es die Tschechen von uns fordern? Wir empfehlen weder das eine noch das andere. Mit der Vereinfachung der abfallrechtlichen Vorschriften haben diese Vorgänge nichts zu tun. Der Gesetzentwurf zielt nicht auf eine Abschaffung, sondern auf die Vereinfachung der Überwachung. Nach der neuen Verordnung gilt auch für die Entsorger nicht gefährlicher Abfälle Registerpflicht. Das bedeutet im Vergleich zu den bisherigen Nachweisbüchern eine Hebung und keine Senkung des Nachweisniveaus. Der Gesetzentwurf zielt auf eine EU-weite Vereinheitlichung. Diese ist im Kampf gegen grenzüberschreitende Kriminalität ein nicht zu unterschätzendes Mittel. Ein noch wirkmächtigeres Mittel wären allerdings gleichmäßig hohe Standards überall in Europa. Dafür muss sich Deutschland in der Tradition von Rot-Grün weiter einsetzen. ({3}) Ansonsten ist zu tun, was bei Kriminalität immer zu tun ist: Die Verursacher sind zu ermitteln. Die Abfälle sind auf deren Kosten zurückzubringen und einer sachgerechten Entsorgung zuzuführen. Das auf den Weg zu bringen, fordern wir hiermit die Bundesregierung auf. Zum Schluss bleibt die Hoffnung, dass uns der Fokus auf die Regulierung in der Abfalldebatte nicht den Blick auf das verstellt, was in der heutigen Lage eigentlich zu tun ist. 370 Millionen Tonnen Abfälle pro Jahr, die nur zum Teil verwertet werden, sind aus Umwelt- und Ressourcensicht einfach zu viel. Was heute Abfall genannt wird, besteht zum größten Teil aus Wertstoffen. In Zeiten sich anbahnender Ressourcenknappheiten und -konflikte - längst nicht mehr nur bei der Energie - ist es die erste Aufgabe, zu echten Stoffkreisläufen zu kommen. Die Aufgabe dieser Stunde, die Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung auf den Weg zu bringen, war dagegen zugegebenermaßen vermutlich relativ einfach. Ich danke Ihnen. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung der abfallrechtlichen Überwachung auf Drucksache 16/400. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/970, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ein Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit der Zustimmung aller übrigen Fraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf mit der gleichen Mehrheit wie in der zweiten Lesung angenommen. ({0}) Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Sibylle Laurischk, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Unterhaltsrecht ohne weiteres Zögern sozial und verantwortungsbewusst den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anpassen - Drucksache 16/891 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Sibylle Laurischk, FDP-Fraktion.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Unterhaltsrecht ist für viele Kinder, Frauen und Männer von zentraler Bedeutung für ihre Existenz und ihre Lebensplanung. Es ist durch eine ausufernde Rechtsprechung und unabgestimmte Tatbestände des Steuer- und Sozialrechts sehr unübersichtlich geworden. Im internationalen Vergleich dauern Scheidungsverfahren in Deutschland überproportional lange, was durch die Kompliziertheit materiellen Rechts bedingt ist. Dies belastet nicht nur die Justizhaushalte der Länder, sondern insbesondere auch die Menschen, über deren Zukunft entschieden wird. Gewandelte gesellschaftliche Vorstellungen über das Zusammenleben von Männern und Frauen, wechselnde Familienkonstellationen und Patchworkfamilien werden von dem derzeitigen Unterhaltsrecht nur ungenügend erfasst. Der Bundestag hat bereits im Jahr 2000 - Sie hören richtig! - den Reformbedarf erkannt und die Bundesregierung aufgefordert, „zügig und mit allem Nachdruck das geltende Unterhaltsrecht insbesondere hinsichtlich der Abstimmung seiner Inhalte mit sozial- und steuerrechtlichen Parallelregelungen … gründlich zu überprüfen und Vorschläge zu seiner Neuregelung einzubringen“. Ein abgestimmter Gesetzentwurf liegt bis heute, sechs Jahre nach Erkennen des Reformbedarfs, immer noch nicht vor. Die FDP-Fraktion hat im Mai 2004 eine Große Anfrage zum Unterhaltsrecht gestellt. Die Beantwortung wurde ständig verzögert. Kurz vor der Neuwahl im vergangenen Jahr haben wir auch noch einen Reformantrag gestellt. Die FDP-Fraktion lässt nicht locker. ({0}) Wir fordern auch in dieser Legislaturperiode eine Unterhaltsrechtsreform ein, und zwar mit folgenden Schwerpunkten: Der Kindesunterhalt muss einen unbedingten Vorrang sowohl bei der Unterhaltsberechnung im Mangelfall als auch bei der Stärkung der Zahlungsmoral gegenüber Kindern haben. Der nacheheliche Unterhaltsanspruch von Ehegatten soll begrenzt und die Eigenverantwortung nach einer gescheiterten Ehe gestärkt werden. Angesichts des Referentenentwurfs befürchten wir, dass zu viel Wert auf die Einzelfallgerechtigkeit gelegt wird, sodass lange Verfahren und die Notwendigkeit entsprechender richterlicher Rechtsfortbildungen die Folge sind. Gerade in diesem Bereich ist es oft gerechter, also dem Rechtsfrieden dienlicher, in einem zügigen Verfahren aufgrund pauschalierter Vorschriften eine Entscheidung zu treffen; denn das Leben der Betroffenen geht weiter. Sachverhaltsermittlungen über viele Monate hinweg und Abwägungen, gegebenenfalls über mehrere Instanzen, bedeuten Mehrkosten für die Länder, ohne dass sie dem Bürger dienen. Auch würden freiwillige, kompetent moderierte Vereinbarungen Verfahren verkürzen und die Akzeptanz von Unterhaltszahlungen erhöhen. Im Übrigen würde eine straffe Pauschalierung die Unterhaltszahlungen auch transparenter und vorhersehbarer machen. Ein besonderes Augenmerk muss auf der Annäherung des Unterhalts für nicht eheliche Mütter an den Unterhalt für geschiedene Mütter liegen, die minderjährige Kinder betreuen. Hier besteht nach meiner Meinung eine nicht nachvollziehbare Benachteiligung, die wir auf jeden Fall aufheben sollten. Entscheidend für das Gelingen einer Unterhaltsreform, die die Eigenverantwortung stärkt, sind aber flankierende Maßnahmen. Für den eigenen Lebensunterhalt kann nur die- bzw. derjenige sorgen, die bzw. der auch die Zeit und die Möglichkeit dazu hat. Wenn Kinderbetreuungsmöglichkeiten und familienverträgliche Arbeitsplätze fehlen, ist es mit einer gesteigerten Erwerbsobliegenheit nicht weit her. Hier ist ein flexibilisierter Arbeitsmarkt in einer entlasteten Wirtschaftsordnung vonnöten. Ein ungelöstes Problem wird bleiben, dass in den meisten Fällen nur der Mangel verteilt wird und in den seltensten Fällen von einem auskömmlichen Unterhalt gesprochen werden kann. Hier dürfte auch einer der Gründe liegen, warum sich immer weniger Deutsche für eine Familiengründung und für Kinder entscheiden. Kinder sind unterhaltstechnisch betrachtet eine Belastung, die eher akzeptiert wird, wenn nicht noch erhebliche Leistungen für das betreuende Elternteil zu erbringen sind. Hier will ich darauf hinweisen, dass wir eine Reform des Unterhaltsvorschussrechts fordern, und zwar dahin gehend, dass die Bezugsdauer zwar auf 36 Monate begrenzt werden sollte, der Bezug jedoch erst mit dem Erreichen der Volljährigkeit enden sollte. Die Benachteiligung von Kindern über zwölf Jahren gegenüber jüngeren Kindern, die derzeit Gesetz ist, ist eigentlich nicht nachvollziehbar. ({1}) Wir brauchen eine Reform des Unterhaltsrechts, die Kindern den Vorrang gewährt, weil sie nicht für sich selbst sorgen können. Wir brauchen eine Reform des Unterhaltsrechts, um die Eigenverantwortung der Menschen zu fördern. Wir brauchen auch deshalb eine Reform des Unterhaltsrechts, weil in diesem sensiblen Feld endlich Rechtssicherheit geschaffen werden muss. Frau Justizministerin, Sie sind gefordert. Ich denke, es wäre wichtig, sich jetzt nicht mit der „Scheidung light“ zu befassen, sondern endlich einmal mit dem Unterhaltsrecht. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin Ute Granold das Wort.

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin! Wir befassen uns heute mit der Reform des Unterhaltsrechts. Insofern ist das Thema sehr erfreulich. Die FDP rennt allerdings offene Türen ein, weil die Reform bereits im Gange ist. ({0}) Das Thema ist richtig, der Zeitpunkt allerdings ist falsch. Der heute vorliegende FDP-Antrag wurde mit geringfügigen Abweichungen bereits im Juni 2005 in diesem Hause debattiert. Die Behandlung wurde dann aufgrund der Bundestagswahl zurückgestellt. Frau Laurischk, Sie und auch die FDP wissen sehr wohl, dass in der Zwischenzeit daran gearbeitet wurde. Es gibt einen Referentenentwurf, der bereits im Rahmen einer Anhörung an die Fachverbände geschickt wurde. Die Stellungnahmen wurden geprüft und in die Formulierung eines Gesetzentwurfes eingearbeitet. Dieser wird im nächsten Monat dem Kabinett vorgestellt werden, sodass wir noch vor der Sommerpause über den Gesetzentwurf diskutieren können. ({1}) - Frau Laurischk, Sie wissen, dass wir all das, was die FDP in ihrem Antrag fordert, bereits in das Eckpunktepapier, das im Jahr 2004 vorgelegt wurde, aufgenommen hatten und dieses zu einem Reformpaket fortentwickelt haben, welches das Prädikat „sehr gut“ verdient. Es findet auch die Zustimmung der Union. ({2}) Wir wollen in der heutigen Debatte nicht wiederholen, was wir im Juni letzten Jahres debattiert haben - das kann man im Protokoll nachlesen -, sondern wir wollen sie nutzen, um darüber zu informieren, was in Kürze hier beraten werden wird und dann hoffentlich im nächsten Jahr in der Praxis Anwendung findet. Ich selbst habe damals als Oppositionspolitikerin Handlungsbedarf angemahnt und angekündigt, dass wir dies von der neuen Bundesregierung einfordern würden. Wir haben Wort gehalten. Wir haben mittlerweile eine neue Bundesregierung und wir haben eine Reform des Unterhaltsrechts in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen. Diese ist - wie gesagt - jetzt da. 1998 haben wir die Reform des Kindschaftsrechts auf den Weg gebracht. Zügig folgend hätte auch die Unterhaltsrechtsreform kommen müssen. Es hat zwar länger gedauert, aber nun ist sie da. Wir wollen nicht beklagen, was in der Vergangenheit war, sondern möglichst schnell ein gutes Gesetz für den Bürger auf den Weg bringen. ({3}) In der Praxis wurde von den Anwälten, den Bürgern und Richtern sowie zuletzt auch vom Bundesverfassungsgericht oft ein Handeln des Gesetzgebers eingefordert. Die Rechtsprechung hat uns in der Zwischenzeit eingeholt. Es gab eine Reihe von wegweisenden Urteilen, die in die Richtung der jetzigen Reform gingen. Frau Laurischk, Sie haben das Unterhaltsvorschussgesetz angesprochen, das im Wege der jetzigen Reform natürlich mit angepasst wird, allerdings in einem separaten Regelungswerk. Es wurde also nicht vergessen. Wir haben auch die Alleinerziehenden und die Zweitehen nicht vergessen. Wir wissen, dass in Deutschland viele Ehen geschieden werden, dass wir einen Wandel in der Gesellschaft haben, dass es viele Patchworkfamilien gibt und dass wir den vielen Kindern, die von Sozialleistungen leben, helfen müssen. Das ist Konsens in diesem Hause und auch in der Gesellschaft. Dieser Tage haben wir wieder die Zahlen gehört: Es gibt einen alarmierenden Rückgang der Geburtenzahl. Wir haben die geringste Geburtenzahl seit Ende des Zweiten Weltkrieges; dem müssen wir dringend entgegenwirken. Die Ursache dafür liegt nicht in den finanziellen Leistungen. 100 Milliarden Euro pro Jahr sind bei weitem nicht unangemessen. Umfragen belegen vielmehr, dass die Frauenerwerbsquote stetig steigt. Das gilt auch für die Erwerbsquote der Mütter. Frauen sind gebildeter als früher. Sie sind mehr im Beruf und wollen auch im Beruf bleiben. In Deutschland haben wir verglichen mit unseren europäischen Nachbarländern ein etwas verstaubtes Bild von berufstätigen Frauen. Hier gibt es noch ein Stück weit eine Stigmatisierung. Das müssen wir ändern. Auch eine berufstätige Mutter ist eine gute Mutter. Was in Deutschland fehlt, ist sicherlich eine bessere Betreuungslandschaft. Hier besteht noch großer Nachholbedarf. Die Abdeckungsquote beträgt in Deutschland 40 Prozent; in Frankreich liegt sie bei 99 Prozent. Hieran muss noch gearbeitet werden. Neben dem Unterhaltsrecht muss auch das Scheidungsrecht dringend reformiert werden; Sie haben das bereits angesprochen. Die Menschen brauchen eine gewisse Sicherheit, dass sie im Falle einer Trennung, insbesondere wenn Kinder da sind, finanziell abgesichert sind. Das Unterhaltsrecht muss transparent, klar und gerecht sein. Dann wird es auch von den Bürgern angenommen und in der Praxis zeitnah umgesetzt werden. Dieses Werk ist nun da. Ich möchte einige zentrale Punkte aufgreifen, die die Ministerin sicherlich noch im Detail ausführen wird. Das Wichtigste ist die Privilegierung der Kinder im Unterhaltsrecht. Kinder haben absolute Priorität; sie stehen bei den Rangverhältnissen auf Rang eins. Zuerst werden die Ansprüche der Kinder auf Unterhalt befriedigt. Wenn dann noch Geld zur Verfügung steht, werden nachrangig die anderen Ansprüche befriedigt. Das ist auch Konsens in der Bevölkerung. ({4}) Auf Rang zwei stehen alle Elternteile, die Betreuungsleistungen erbringen. Ob das die verheirateten, die getrennt lebenden, die allein erziehenden oder die nicht ehelichen Eltern sind, ist vollkommen egal. Alle betreuenden Eltern befinden sich im zweiten Rang. Danach kommen die Ehegatten, die keine Betreuungsleistung erbringen, und danach die volljährigen Kinder, wobei die volljährigen Kinder, die sich noch in der Ausbildung befinden, den minderjährigen Kindern gleichgestellt sind. Insofern gibt es keine Benachteiligung der studierenden oder kranken volljährigen Kinder, weil ihr Status - der bisherigen Gesetzeslage entsprechend - erhalten bleibt. Eine zweite ganz wesentliche Neuerung ist die Festsetzung des Mindestkindesunterhalts. Als Mindestkindesunterhalt wurde der doppelte Freibetrag des sächlichen Existenzminimums des Kindes angesetzt. Infolge der Anhörung, die ich vorhin erwähnt habe, wurde er noch einmal erhöht, und zwar in der ersten Altersstufe auf 87 Prozent, in der zweiten auf 100 Prozent und in der dritten auf 117 Prozent. Außerdem soll die Anrechnung des Kindergeldes auf den Unterhaltsbedarf vereinfacht werden - die bisherigen Vorschriften waren sehr verwirrend und kaum zu verstehen -: Wenn eine Betreuungsleistung erbracht wird, wird auf das Einkommen beider Elternteile jeweils die Hälfte des Kindergeldes angerechnet. Ansonsten wird das Kindergeld auf den Bedarf des Volljährigen angerechnet. Die im Gesetzentwurf festgelegte Regelung ist sehr transparent und klar. Sie ist akzeptabel und entspricht insbesondere den Forderungen unseres höchsten Gerichtes. Wir haben ein Stück weit eine Harmonisierung des Steuerrechts und des Sozialrechts vorgenommen. Die Kinderfreibeträge ändern sich durch das neue Gesetz nicht. Auch das Realsplitting ist ein Stück weit gesichert. Der Unterhaltsschuldner kann 13 805 Euro absetzen, wenn Unterhalt für einen Ehegatten geleistet wird. Auch insofern wurde keine Änderung vorgenommen. Eine komplette Anpassung ist nicht möglich, weil wir das Abstandsgebot im Hinblick auf die Ehe einhalten müssen. Was die weitere Harmonisierung angeht, die auch vom Bundesverfassungsgericht gefordert wurde, so muss dies in den nächsten Schritten erfolgen. Wir wollen die jetzige Reform nicht überfrachten. Wir wollen zunächst das Wichtigste auf den Weg bringen. Das ist mit diesem Gesetzentwurf gewährleistet. ({5}) Eine weitere Neuerung ist die Eigenverantwortung für den Lebensunterhalt nach der Scheidung. Hier ist eine ganz wichtige Neuerung vorgesehen, die übrigens - das muss ich hier sagen - Akzeptanz in der Bevölkerung findet: Jeder sorgt für sein Einkommen selbst. Nur wenn das nicht der Fall ist, ist in engen Grenzen Unterhalt zu leisten. - Im Gesetz wird aber klar geregelt, dass der Unterhalt der Höhe nach und auch zeitlich beschränkt werden kann und dass er auch ausgeschlossen werden kann. In das Gesetz wurde neu aufgenommen, dass der Unterhaltsanspruch abgesenkt oder gänzlich versagt werden kann, wenn jemand eine gefestigte Partnerschaft eingeht. Das ist übrigens - gemäß Rechtsprechung - auch heute schon der Fall. Auch hier haben wir ein Stück weit Klarheit geschaffen. Der Unterhaltsanspruch der nicht ehelichen Mutter, der derzeit auf einen Zeitraum bis zum dritten Lebensjahr des Kindes beschränkt ist und nur bei grober Unbilligkeit fortgeführt werden kann, muss nun - das wurde in den Entwurf des neuen Gesetzes aufgenommen - bei Unbilligkeit fortgesetzt werden. Hierzu warten wir noch auf eine Entscheidung des BGH bzw. des Bundesverfassungsgerichts. Die Entscheidung scheint in die Richtung zu gehen - das vermuten wir -, dass der Unterhaltsanspruch bei Unbilligkeit fortbestehen kann. Das bedarf aber der Einzelfallprüfung. Bei der Betreuung durch einen Elternteil müssen wir natürlich berücksichtigen - das war uns ganz wichtig -, dass der Unterhaltsanspruch nicht versagt werden kann, wenn eine Betreuungsmöglichkeit nicht gegeben ist. Wir wissen, dass auf diesem Gebiet noch Nachholbedarf besteht. Auch dieser Konstellation wurde Rechnung getragen. Für die jetzt vorliegenden Titel haben wir eine Übergangsregelung geschaffen. Sie werden geändert, wenn das neue Gesetz kommt: für den Kindesunterhalt klar geregelt, für den Ehegattenunterhalt bei einer wesentlichen Änderung und wenn es für den Berechtigten zumutbar ist, dass abgeändert wird. Weil meine Redezeit vorbei ist, möchte ich es dabei belassen. Wir werden uns nicht nur mit dem Unterhalt befassen, sondern auch mit der Strukturreform des Versorgungsausgleichs. Wir werden das Scheidungsrecht novellieren. Frau Ministerin, darüber müssen wir noch einmal reden, weil das ein bisschen zu schnell ging. Wir müssen uns noch ein bisschen besser abstimmen und darüber intensiv beraten. ({6}) Auf europäischer Ebene ist über das Grünbuch zum Unterhaltsrecht und eine Verordnung, die dem Rat vorliegt, zu reden. Die deutsche Präsidentschaft wird im nächsten Jahr dafür sorgen, dass hierzu auf europäischer Ebene eine Harmonisierung und Angleichung erfolgt, weil es auch viele binationale Ehen gibt. Wir haben viel zu tun. Wir haben viel gemacht. Wir machen im Sinne unserer Bürger weiter. Ich denke, zusammen mit der FDP - wenn Sie bei uns im Boot sind kriegen wir das gut hin. Vielen Dank. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Jörn Wunderlich, Fraktion Die Linke. ({0})

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin fernab, das Leben mit Kindern grau in grau zu schildern. Diese Realität wird jedoch im Zwölften Kinder- und Jugendbericht beschrieben. Anstatt Rahmenbedingungen für eine grundlegende Veränderung der Situation zu schaffen, sorgt die Politik durch die Verschärfung der Sozialgesetze schamlos dafür, dass sich die Armut von Kindern und Jugendlichen verschärft. An dieser Stelle frage ich: Haben Sie wirklich den politischen Willen, an der Situation grundlegend etwas zu ändern, oder wollen Sie diese Situation manifestieren? Nun zum Unterhaltsrecht bzw. zum vorliegenden Antrag: Der Antrag hat aus meiner Sicht eine interessante parlamentarische Entwicklung genommen. Meiner Überzeugung nach springt hier die FDP-Fraktion auf einen Zug auf, der schon lange abgefahren und im Grunde sogar schon angekommen ist. Rechtspolitisch wird über das Ganze seit 2000 diskutiert - das ist schon angesprochen worden -, siehe die Beschlussempfehlungen des Rechtsausschusses und des Familienausschusses aus den Jahren 2000 und 2002. Den Referentenentwurf kennen wir. Ich habe ihn in meiner Eigenschaft als Familienrichter bekommen. Den werden wir hier im Plenum noch besprechen. Ich unterstelle Ihnen nicht, dass Sie nicht bereit sind, sich um Veränderungen zu bemühen. Aber die Frage ist: Wie weit reichend und umfänglich im Interesse aller Betroffenen sind die Veränderungen? Das ist die Messlatte für mich und für meine Fraktion. ({0}) Werden wir einmal konkret. Aufgrund der Kürze meiner Redezeit - ich habe nur vier Minuten - kann ich nicht alle Punkte ansprechen, sondern nur einige wenige. Das Existenzminimum - ich beziehe mich jetzt nur auf den Antrag der FDP - in Höhe von 7 700 Euro ist zu gering. Derzeit müsste zumindest ein Existenzminimum in Höhe von 8 500 Euro für Erwachsene festgesetzt werden. Die Forderung nach einer Erhöhung des Kindergeldes auf 200 Euro ist ein anerkennenswerter Schritt. Aber Eltern mit hohen Einkommen würden wieder privilegiert. Durch die Beibehaltung der Günstigerprüfung erhielten Eltern, die einen Spitzensteuersatz zahlen, rund 70 Euro im Monat mehr steuerliche Entlastung. Zur Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten: Im Antrag ist vorgesehen, Kinderbetreuungskosten in Höhe von 12 000 Euro absetzen zu können. Das privilegierte Menschen mit hohen Einkommen, die die entsprechende steuerliche Entlastung für sich in Anspruch nehmen können. Die dürfte immens sein. Hier sollte wirklich - ich habe es schon im Ausschuss angesprochen - einmal darüber nachgedacht werden, ob es nicht doch sinnvoller wäre, die Hälfte der Kinderbetreuungskosten unmittelbar von der Steuerschuld abzuziehen mit einer Kappungsgrenze von 2 100 Euro. Denn so erhielten alle Eltern - ich betone: alle Eltern - die Hälfte der entsprechenden Kinderbetreuungskosten zurück. Ein Wort zum nachehelichen Unterhalt - auch das wurde schon angesprochen -: Wegen der schlechten Kinderbetreuungsinfrastruktur ziehen sich besonders viele Mütter - gegenwärtig herrscht noch das Ernährermodell vor - stark aus dem Erwerbsleben zurück. Die Lösung kann aber nicht, wie im FDP-Antrag nahe gelegt wird, ihr Schutz im nachehelichen Unterhaltsrecht sein. Wir fordern mit Nachdruck den konsequenten Ausbau einer elternbeitragsfreien, flächendeckenden Kinderbetreuung, um lückenlose Erwerbsbiografien beider Elternteile zu gewährleisten. Im Antrag taucht diese Forderung nicht auf, aber sie wurde in den Redebeiträgen der Kolleginnen Laurischk und Granold dankenswerterweise angesprochen. Begrüßenswert - das müssen wir sagen - ist, dass dem Kindesunterhalt der absolute Vorrang eingeräumt werden soll, also auch im Mangelfall. Dass die bisherigen Regelungen des Unterhaltsvorschussgesetzes nicht ausreichen, war bisher fraktionsübergreifend und bei den damit befassten Juristen wohl unstreitig. Dass die Altersgrenze auf 18 Jahre angehoben werden soll, ist eine vernünftige Erwägung. Die Beschränkung der Bezugsdauer von 72 auf 36 Monate ist allerdings der falsche Weg. Denn auch nach dem Sinn des UVG als Hilfe in einer vorübergehenden Situation, in der kein Unterhalt erhalten werden kann, muss doch die gegenwärtige gesellschaftliche Situation berücksichtigt werden. Zwar sind die Armutsphasen - das wird im Antrag richtig festgestellt - kurz und in der Regel nicht länger als drei Jahre, aber sie wiederholen sich. Das verschweigt der Antrag, ist aber im Zwölften Kinder- und Jugendbericht nachzulesen. Letztlich sind Kinder und Jugendliche die Leidtragenden, wenn die Eltern aufgrund einer verfehlten Arbeitsmarktpolitik und der damit einhergehenden Arbeitslosigkeit keinen Unterhalt zahlen können. Hier soll sich der Staat wieder aus der Verantwortung ziehen können? Geben Sie sich einen Ruck und fordern Sie endlich eine Grundsicherung für Kinder, damit Kinder in Deutschland wirklich wieder willkommen sind. Danke schön. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Bundesregierung hat nun das Wort die Bundesministerin der Justiz Brigitte Zypries.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Es gibt eben doch einen entscheidenden Unterschied zwischen Gesetzentwürfen, die die Fraktionen im Deutschen Bundestag vorlegen, und denen, die die Regierung vorlegt. Wenn wir Gesetzentwürfe vorlegen, dann sind sie in aller Regel gut durchdacht. Sie können natürlich noch Fehler enthalten; das will ich nicht bestreiten. Über sie wurde diskutiert: mit allen Bundesländern, den Verbänden, den Sachverständigen und den betroffenen Kreisen. Sie wurden also schon von der Fachöffentlichkeit begutachtet, was eine gewisse Zeit gedauert hat. Deswegen bitte ich um Nachsicht, dass der Regierungsentwurf erst am 5. April und nicht schon eher vom Kabinett verabschiedet wird, was natürBundesministerin Brigitte Zypries lich auch daran liegt, dass es zu vorgezogenen Neuwahlen kam. Ich fände es fair, wenn auch die FDP, die den vorliegenden Antrag gestellt hat, zur Kenntnis nehmen würde, dass sie es relativ leicht hat, weil sie erstens all diese Diskussionen nicht führen muss, und weil sie zweitens noch nicht einmal die Antwort der Bundesregierung auf ihre erste Große Anfrage berücksichtigt. ({0}) Auch auf Ihre erste Große Anfrage, die Sie fast wortgleich schon einmal gestellt haben, ({1}) haben Sie eine Antwort bekommen. Seitdem haben wir eine Menge getan. Aber Sie haben die Antwort der Bundesregierung erstens nicht rezipiert und in Ihre erneute Anfrage zweitens nicht einbezogen, was wir darüber hinaus unternommen haben. Denn es ist nicht so - Frau Granold hat dankenswerterweise schon darauf hingewiesen -, dass wir nur das Unterhaltsrecht novellieren, sondern wir tun noch mehr. Dass wir beispielsweise eine FGG-Reform durchführen und ein großes Familiengericht schaffen, scheint an Ihnen vorbeigegangen zu sein. Zumindest kann ich das Ihrer Anfrage nicht entnehmen. ({2}) Ebenfalls kann ich Ihrer Anfrage nicht entnehmen, dass wir all das, was mit den Themen Trennung und großes Familiengericht zu tun hat - also die Rezeption des Cochemer Modells, die Sie unter Ziffer 7 Ihres Antrags fordern -, im Rahmen unserer FGG-Reform umsetzen. Es ist ja nicht so, dass wir all das nicht merken. ({3}) Wir haben diesen Bereich lediglich in einem anderen Gesetz geregelt, weil wir ihn zusammenhängend dort regeln wollen, wo er hingehört. Nun zu Ihren einzelnen Forderungen. Ich denke, dass Sie es sich mit Ihrer pauschalierten Forderung nach einer Vereinfachung und einer Harmonisierung von Steuerund Sozialrecht in dieser Form ein bisschen einfach machen. Wir haben das geprüft und haben gemeinsam mit den Experten die Entscheidung getroffen, dass eine vollständige Harmonisierung des Unterhaltsrechts mit dem Sozialrecht weder juristisch möglich noch praktisch sinnvoll ist. Hier geben uns alle Unterhaltsrechtsexperten Recht. ({4}) Hinsichtlich Ihrer Forderung nach der Einführung einer unterschiedlichen Rangfolge müssen wir uns noch in der Sache auseinander setzen; denn im Zusammenhang mit der Rangfolge geht es in der Tat um die Frage, wen wir privilegieren. Frau Granold hat ausgeführt, dass die Koalition im ersten Rang die Kinder privilegieren wird. Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir in den zweiten Rang neben den Kinder betreuenden Eltern aber nicht die Ehegatten in noch bestehender Ehe aufnehmen. Während Sie Ehegatten in noch bestehender Ehe aufnehmen wollen, meinen wir, dass sich dieser Vorschlag nicht ausreichend und konsequent genug am Kindeswohl orientiert. Folgendes Beispiel: Ein Mann zahlt seiner geschiedenen Frau, die die beiden kleinen Kinder erzieht, Unterhalt und heiratet seine erwerbslose Freundin. Nach Ihren Vorstellungen könnte der Unterhaltsanspruch seiner Exehefrau gekürzt werden. Nach unserem Entwurf allerdings geht die Kinder betreuende Mutter vor. Denn wir meinen, dass derjenige, der Kinder betreut, auch derjenige sein sollte, der als Erster berechtigt ist, an dem ohnehin nur wenigen vorhandenen Geld zu partizipieren. ({5}) Deshalb meine ich, dass unser Entwurf besser ist. Ich lade Sie herzlich ein, mit uns über diese konkreten Vorschläge zu diskutieren. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es keinen großen Sinn macht, Anfragen, die man schon einmal gestellt hat, einfach aufzubereiten und sie noch einmal zu stellen. Wenn Sie das tun, können Sie zwar Diskussionen provozieren. Aber wie Sie wissen, rennen Sie damit bei diesem Thema offene Türen ein. Denn die Eckpunkte unseres Entwurfs liegen schon seit Ende 2004 vor. Sie sind im letzten Jahr in sämtlichen Fachkreisen breit diskutiert worden. Ich denke, dass unser Entwurf ein guter Entwurf ist. Ich bin froh, dass wir seine kleinen Schwächen - zum Beispiel bei der steuerlichen Abzugsfähigkeit - im Rahmen der Koalitionsverhandlungen bereinigen konnten. Ich bin sicher, dass die Änderung des Unterhaltsrechts, die das Kabinett am 5. April verabschieden wird, uns und insbesondere die Kinder in Deutschland voranbringen wird. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Als nächste Rednerin hat nun die Kollegin Ekin Deligöz, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einem Dreivierteljahr haben wir hier über einen ganz ähnlichen Antrag debattiert. Damals waren wir alle uns darüber einig, dass wir das Kindeswohl in den Mittelpunkt stellen und daran alle Regelungen und Gesetze ausrichten müssen. Das ist auch deshalb notwendig, weil sich in unserer Gesellschaft eines kontinuierlich verändert: Das sind die Familienverhältnisse. Man kann zu Recht die Frage stellen, ob die bestehenden Gesetze und Regelungen des Familienrechts diesen Veränderungen noch gerecht werden. Vor diesem Hintergrund hat es eine gewisse Berechtigung, über eine Neugestaltung des Unterhaltsrechts zu sprechen. Das bisherige Unterhaltsrecht geht davon aus, dass allen Familienmitgliedern Unterhaltsansprüche gesichert werden. In den meisten heutigen Unterhaltsprozessen geht es aber um den Mangelfall. In der Realität wird die Unterhaltszahlung in vielen Fällen nur unregelmäßig oder gar nicht getätigt. Die Leidtragenden davon sind die Kinder: Sie erfahren, während sie aufwachsen, finanzielle Zwänge. Deshalb ist es richtig, die Kinder bei der Rangfolge der Unterhaltsberechtigten in den Vordergrund zu stellen, dann gehen sie nicht leer aus. ({0}) Diese Änderung hat auch das Ziel, dass die Väter das Gefühl bekommen, hauptsächlich für ihre Kinder zu zahlen, und sich dadurch ihre Zahlungsmoral verbessert. Für eine völlig falsche Weichenstellung - das habe ich schon in meiner letzten Rede gesagt und ich will es hier wiederholen - halte ich den Vorschlag der FDP, den Unterhaltsvorschuss von sechs auf drei Jahre zu begrenzen. Auch wenn das Alter der Kinder, bis zu dem das gilt, gleichzeitig auf 18 heraufgesetzt wird, bedeutet dies eine dramatische Verschlechterung, insbesondere dort, wo man es gar nicht rechtfertigen kann: bei Müttern mit kleinen Kindern. Denn leider sind wir noch nicht so weit, dass die Betreuung für unter Dreijährige flächendeckend ausgebaut wäre, dass wir Ganztagskindergärten für kleine Kinder hätten, was es den Müttern ermöglichen würde, zu arbeiten. Wir sind noch nicht so weit, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in diesem Land gewährleistet wäre. ({1}) Weil wir das nicht sind, darf eine solche Regelung nicht zulasten von Müttern mit Kleinstkindern gemacht werden. Für diese macht es nämlich durchaus einen Unterschied, ob sie drei Jahre oder sechs Jahre lang Unterhaltsvorschuss beziehen können. ({2}) Der Vorschlag der FDP entpuppt sich als Umverteilung zulasten der Schwächsten. Sie wollen die steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten auf 12 000 Euro im Jahr und nebenbei das Kindergeld auf 200 Euro monatlich anheben - ein 9-Milliarden-EuroProgramm -, um das Problem der Unterhaltszahlungen zu lösen. Da würde ich sagen: Thema verfehlt! So kann man dieses Problem nicht lösen. Sie werden das Problem säumiger Elternteile nicht durch eine Erhöhung des Kindergeldes lösen. Da müssen Sie schon das Gesetz selbst ändern. Letzte Woche haben Sie hier noch den Ausbau der Infrastruktur gefordert, heute fordern Sie hier ein 9-Milliarden-Euro-Programm zur Steigerung der Transferleistungen. Sie tun so, als ob man all das gleichzeitig finanzieren könnte und als ob es überhaupt keiner politischen Anstrengungen bedürfte, das durchzusetzen. ({3}) Das ist Augenwischerei; da machen Sie den Menschen etwas vor! ({4}) Ich glaube sogar, dass Sie selber gar nicht dahinterstehen. Wenn Sie dahinterstehen würden, hätten Sie nämlich Ihren Antrag letzte Woche nicht wieder zurückgezogen. Sie wollten ihn aber nicht zur Diskussion gestellt haben lassen und hoffen, dass das keiner merkt. Wir merken das aber! Stehen Sie also hinter dem, was Sie fordern! Dann können wir ernsthaft darüber reden. Für uns Grüne sind die Prioritäten klar: Das Kindeswohl hat Vorrang, auch in der Familiengesetzgebung. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat nun das Wort die Kollegin Christine Lambrecht, SPD-Fraktion.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich freue mich über die Einbringung Ihres Antrages zu diesem Thema - damit setze ich mich von der Meinung einiger Vorrednerinnen und Vorredner ab -, weil wir uns so schon vor der Einbringung ins Kabinett am 5. April mit diesem wichtigen Thema beschäftigen können. In einigen Punkten gibt es natürlich unterschiedliche Auffassungen. Dazu komme ich gleich noch. Ausführlich werden wir in den parlamentarischen Beratungen darüber sprechen. Zumindest ist aber erkennbar - das ist an einem Tag wie heute viel wert -, dass wir von der Grundausrichtung her in die gleiche, in die richtige Richtung gehen. Das ist positiv zu vermerken und macht mir Mut für die anstehenden Beratungen. ({0}) Damit ist es jetzt aber auch gut. Ich möchte nun auf einige Unterschiede eingehen, was Sie von mir, wie ich glaube, auch erwarten, und zwar zu Recht. Frau Laurischk, ich will einen Satz aufgreifen, den Sie zu Beginn Ihrer Rede gewählt haben, nämlich dass Ihnen bei dem, was die Bundesregierung auf den Weg bringen möchte, zu viel Einzelfallgerechtigkeit gegeben sei. Das hat mich sehr verwundert. Wir sprechen über Familienrecht und somit über Kinder, Ehegatten und Familienverhältnisse insgesamt. Wenn es einen Bereich gibt, in dem man auf den Einzelfall, auf die Umstände des Einzelnen achten muss, dann doch im Familienrecht. ({1}) Es besteht wirklich kein Anlass, unter dem Stichwort Bürokratieabbau pauschale Beträge, starre Ansätze und feste Fristen vorzugeben. Lassen Sie uns doch lieber Regeln finden, die dem Einzelfall gerecht werden. ({2}) Die Kollegin Deligöz hat schon auf einen Punkt hingewiesen. Die Regelung, den Unterhaltsvorschuss nur noch 36 Monate zu zahlen, wie Sie das vorschlagen, ist sehr starr und nimmt keine Rücksicht auf die jeweiligen Lebensumstände. Es gibt sicherlich Gegenden in Deutschland, in denen eine gute Kinderbetreuung gewährleistet ist und die Mutter oder der Vater nach 36 Monaten wieder arbeiten gehen kann. Es gibt in Bayern oder Baden-Württemberg ({3}) - Passau wirft der Kollege Benneter sachkundig ein aber sicherlich auch Gegenden, in denen es schwierig sein wird, für Kinder entsprechende Betreuungsmöglichkeiten zu finden, die es erlauben, nach 36 Monaten auf den Unterhaltsvorschuss zu verzichten. Diese Einzelfälle sollten wir uns vornehmen und nicht mit dem großen Besen kommen und alle gleich behandeln. Das ist, wie ich denke, unangebracht. ({4}) Das Ziel ist klar: Die Kinder haben in Zukunft Vorrang, egal ob sie aus einer ehelichen oder einer nichtehelichen Beziehung stammen. In dieser Frage sind alle mittlerweile in der Realität angekommen. Darüber hinaus haben die Eltern Vorrang, die ihre Kinder betreuen lassen bzw. betreuen lassen müssen. Denn von ihnen wird mehr Eigenverantwortung erwartet. Das ist der richtige Schritt in die richtige Richtung. Man darf sich nicht mehr darauf zurückziehen, zu sagen: einmal verheiratet, immer versorgt. Ich will niemandem unterstellen, dass er so denkt, aber eigentlich kennen alle, die hier sitzen - das sind fast ausschließlich Familienrechtler -, solche Fälle, in denen so gedacht wird. Eigenverantwortung ist erforderlich. Es muss aber auch Rücksicht darauf genommen werden, dass solche Möglichkeiten nicht immer gegeben sind. Eine weitere starre Grenze in Ihrem Antrag ist, dass Sie eine „längere Ehe“ ab 15 Jahren Dauer definieren. Ohne die jeweiligen Lebensumstände zu kennen und auf sie einzugehen, ist mir das zu statisch. Die Tücke liegt im Detail. Wir sollten uns in den parlamentarischen Beratungen die Zeit nehmen, genau darauf einzugehen. Das Kabinett wird einen Gesetzentwurf einbringen. Wir werden ihn beraten. Ich bin mir sicher, wir werden daraus etwas Gutes im Interesse der Betroffenen machen. Vielen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/891 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich sehe, sind Sie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Otto Bernhardt, Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Nina Hauer, Ingrid Arndt-Brauer, Lothar Binding ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Christine Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Besser regulieren, dynamisch konsolidieren Leitlinien für die künftige EU-Finanzmarktintegration - Drucksache 16/933 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Georg Fahrenschon für die CDU/CSU-Fraktion.

Georg Fahrenschon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, die Debatte am heutigen Abend ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Erstens setzen die Fraktionen auch im neuen Deutschen Bundestag in der 16. Legislaturperiode die überfraktionelle Arbeit in Fragen des Finanzmarktes fort. Deshalb möchte ich mich am Anfang bei allen Berichterstattern und auch beim BMF herzlich für die Zusammenarbeit bedanken. ({0}) Zweitens beschreiben wir mit diesem Beschluss die Grundlage einer nicht zu unterschätzenden Trendwende der deutschen Politik im Zusammenhang mit der europäischen Rahmengesetzgebung. Ein zentrales, übergeordnetes Ziel der CDU/CSU ist es - darauf haben wir bereits in den vergangenen Legislaturperioden hingewiesen -, frühzeitig auf die Bedingungen eines immer intensiver werdenden gemeinsamen europäischen Binnenmarktes zu reagieren. Im Interesse des Standortes Deutschland ist es wichtig, dass wir gemeinsam mit den betroffenen Marktteilnehmern, unseren Experten, den Vertretern der Regierung und dem nationalen Parlament vorab eine deutsche Position finden, diese gemeinsame Position dann auf europäischer Ebene einbringen und sie so weit wie möglich durchsetzen. In diesem Sinne markiert der Beschluss von heute Abend eine grundsätzliche Wende im Verständnis der Europapolitik unseres nationalen Parlaments weit über die Rahmenbedingungen des europäischen Finanzmarktes hinaus. Unser Ziel ist es, vorab klar zu definieren, was wir als Deutschland im europäischen Markt wollen. Diese Interessen wollen wir in die europäische Gesetzgebung einfließen lassen, um dadurch die Chancen des gemeinsamen Marktes besser nutzen zu können. Wir wollen nicht so weitermachen wie bisher, nämlich verschiedenen Gesetzen, umgesetzten Richtlinien und den verschiedenen Initiativen hinterherzuweinen und uns im Nachhinein über die EU-Entscheidungen und die Rahmen zu bekla1986 gen, vielmehr wollen wir sie vorher positiv beeinflussen, um unsere Größe im europäischen Markt optimal durchsetzen und einsetzen zu können. ({1}) Im deutschen Finanzsektor, im Bereich von Banken und Versicherungen, sind in etwa 1,26 Millionen Menschen beschäftigt. Im Vergleich dazu sind in der Automobilindustrie, über die so oft gesprochen wird, nur - in Anführungsstrichen - knapp 1 Million Menschen beschäftigt. Ich glaube, vor diesem Hintergrund wird klar, wie wichtig die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Banken und Versicherungen im Gemeinsamen Markt sind. Aus unserer Sicht ist es für den Finanzplatz Deutschland daher von enormer Bedeutung - das ist in dem zur Beschlussfassung anstehenden Antrag des heutigen Abends als einer der zentralen Punkte wiederzufinden -, dass dem Maßnahmenbündel des Aktionsplans Finanzdienstleistungen aus dem Jahre 1999 keine weiteren finanzpolitischen Gesetzgebungspakete mehr beigestellt werden. Wir haben in den letzten sechs Jahren bereits 42 Einzelmaßnahmen zur Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes für die Finanzdienstleistungen verabschiedet. Die wichtigsten Dinge sind auf den Weg gebracht: die Eigenkapitalrichtlinie Basel II, die Prospektrichtlinie, die Wertpapierdienstleistungsrichtlinie, die Transparenzrichtlinie, die Verbraucherkreditrichtlinie und sehr vieles mehr. Alleine durch europäische Regulierung entsteht aber noch lange kein integrierter Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen. Vielmehr muss es jetzt die Aufgabe der Europäischen Kommission sein - das ist die gemeinsame Meinung des Hauses -, darauf zu achten, dass die Maßnahmen des alten Finanzdienstleistungspakets auch in allen Mitgliedstaaten konsequent, fristgerecht und zügig umgesetzt werden. Nur diese gemeinsame konsequente, fristgerechte und zügige Umsetzung ist für die Wirkung eines gemeinsamen europäischen Binnenmarktes entscheidend. ({2}) Weder den Anlegerinnen und Anlegern noch den Finanzdienstleistern und Emittenten sowie den anderen Marktteilnehmern ist mit einer neuen Welle europäischer Finanzmarktgesetzgebung geholfen. Wir sind sogar der Meinung, dass das in der jetzigen Zeit kontraproduktiv wäre. ({3}) Die Kommission operiert jetzt mit dem Begriff Better Regulation - auf Deutsch: bessere Rechtssetzung - und der Deutsche Bundestag wird die Kommission beim Wort nehmen. Es ist unsere Absicht, der Kommission sehr genau auf die Finger zu sehen, ob diesen Worten dann auch Taten folgen. Vor diesem Hintergrund ist es von zentraler Bedeutung, dass erstens neue Dossiers nur vorsichtig und allein auf Basis einer umfassenden Folgenabschätzung angegangen werden, dass zweitens Eingriffe in funktionierende Markstrukturen nur mit angemessener Begründung und dem Gebot der Verhältnismäßigkeit gestaltet werden und dass drittens bei jedem neuen Projekt in Zukunft vorab eine umfangreiche Kosten-Nutzen-Analyse vorgenommen wird, um eine weitere Überregulierung und Bürokratie zu vermeiden. ({4}) Der heutige Beschluss ist auf diesem Weg das richtige Signal. Einen Schwerpunkt ihrer Arbeit sieht die EU-Kommission in der Gestaltung europäischer Strukturen für die Finanzmarktaufsicht. Gemeinsam mit der Kommission ist die Mehrheit des Deutschen Bundestages der Auffassung, dass eine effiziente Zusammenarbeit der nationalen Aufsichten mit dem Ziel einer einheitlichen Finanzmarktregulierung von zentraler Bedeutung ist. Bisher gibt es in den europäischen Mitgliedstaaten etwa 70 einzelne Aufsichtsinstitutionen mit den unterschiedlichsten Vorschriften und Verfahren. Unser Ansatz im Sinne unseres Interesses lautet deshalb, dass die Aufsicht über national tätige Unternehmen bei den nationalen Aufsichtsbehörden innerhalb eines europäischen Systems der Aufsichtsbehörden verbleiben muss. Grenzüberschreitende Unternehmen mit entsprechender Relevanz sollen hingegen von einem europäischen Aufsichtssystem kontrolliert werden, allerdings nicht in Form einer neuen zentralistischen europäischen Aufsichtsbehörde. Dagegen sprechen wir uns in dem heutigen Antrag und dem damit verbundenen Beschluss aus. Entscheidend sind vielmehr das Bestreben und die Gewähr, einheitliche Regeln auch einheitlich auszulegen und anzuwenden. Diese Linie gibt Deutschland vor. ({5}) Viel wichtiger ist nach unserer Auffassung allerdings neben der Fragestellung, die europäischen Aufsichtsstrukturen zu regeln, die Begleitung des europäischen Regelwerks durch die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament. Wir brauchen für die Regelfestsetzung eine legitimierte und demokratische Kontrolle. In diesem Zusammenhang möchte ich in dieser Debatte auf eine Besonderheit hinweisen, das so genannte Lamfalussy-Verfahren. Wir haben es hier mit einem verhängnisvollen Regelkreis zu tun, indem sich erstens die Aufseher im Verfahren selber die Regeln geben, die sie dann zweitens auf sich selbst anwenden und durchsetzen. Es ist offensichtlich: In diesem Verfahren fehlt jegliche demokratische Kontrolle und manchmal - das muss man feststellen - an der einen oder anderen Stelle auch die fachliche Kontrolle. ({6}) Das demokratisch legitimierte Parlament, das Europäische Parlament, gibt im Lamfalussy-Verfahren nur den Rahmen für die Gesetzgebung vor. Um die Details kümmern sich eigens dafür eingesetzte Expertengruppen fern jeglicher demokratischer Legitimation. Mit anderen Worten: Erstmalig in der Geschichte der Europäischen Union entscheiden nicht die demokratisch eingesetzten Gremien über die vollständigen Rechtstexte, sondern Fachkommissionen hinter verschlossenen Türen. Am Ende meines Beitrags zu dieser Debatte muss ich schon deutlich machen, dass der Ansatz, Experten hinter verschlossenen Türen arbeiten zu lassen, um so Bürokratie zu vermeiden, auf breiter Front gescheitert ist. Ohne die Möglichkeit, durch demokratisch legitimierte Parlamente - national wie europäisch - an der einen oder anderen Stelle Kompromisse oder Vereinfachungen durchzuführen, werden wir den hochkomplexen Bereich des europäischen Marktes und des europäischen Finanzmarktes nicht auf einen guten Weg bringen. Das aber ist unser zentrales Interesse. ({7}) Diesem Ziel kommen wir mit dem heutigen Beschluss ein Stück näher. Wir können uns dann in Zukunft noch stärker einmischen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun für die FDP-Fraktion der Kollege Frank Schäffler. ({0})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute über das Weißbuch zur Finanzdienstleistungspolitik sprechen, dann ist dies nicht nur für den Finanzmarkt, sondern auch für die Wirtschaft insgesamt eine wichtige Diskussion. Deshalb ist es gut, dass wir uns fraktionsübergreifend auf einen gemeinsamen Antrag geeinigt haben. Dabei will ich deutlich machen, dass die FDP-Fraktion ein großes Interesse an einem funktionierenden Finanzbinnenmarkt in Europa hat. ({0}) Wenn wir über Europa sprechen, dann fällt immer wieder das Stichwort „Bürokratie“. Eine Regulierung bedeutet zwangsläufig einen erhöhten Abstimmungsbedarf und daher auch mehr Bürokratie. Die niederländische Regierung hat die Bürokratiekosten in Europa im Jahr 2002 auf über 340 Milliarden Euro geschätzt. Die Niederlande selbst wollen ihre Bürokratiekosten zwischen 2003 und 2007 um 25 Prozent senken. Könnte das Vorhaben auf die gesamte EU ausgeweitet werden, dann wäre nach Schätzung der niederländischen Regierung das reale Bruttoinlandsprodukt in der EU um 1,7 Prozent zu steigern. Daher kommt der Initiative der EU-Kommission unter dem Stichwort „Better Regulation“ auch bei der Finanzmarktintegration eine hohe Bedeutung zu. Dabei sind wir skeptisch, ob wirklich eine europäische Finanzaufsicht institutionalisiert werden muss. Wir sind eher der Auffassung, dass wir in Europa eine materiell einheitliche Aufsicht brauchen. Zumindest für die Marktteilnehmer, die grenzüberschreitend tätig sind, ist dies notwendig. ({1}) Ein wesentlicher Schwerpunkt des Weißbuchs ist die Integration der Retail-Märkte. Wenn wir die Bevölkerung in diesem Prozess mitnehmen wollen, dann ist gerade der Privatkundenmarkt besonders geeignet, eine höhere Akzeptanz für Europa zu schaffen. Es ist wichtig, nicht ständig ein neues Nutztier durchs Dorf zu treiben. ({2}) - Stimmt. - Vielmehr sollte man sich auf die notwendige Regulierung beschränken. Dabei muss es möglich sein, künftig grenzüberschreitend ein Bankkonto zu führen oder einen Hypothekenkredit aufzunehmen. Wir müssen aber in Deutschland auch selbst unsere Hausaufgaben machen. ({3}) Wenn wir so gerne von gleichen Wettbewerbsbedingungen - den so genannten Level Playing Fields - sprechen, dann müssen wir auch bei uns mehr Wettbewerb zulassen. Wachstum entsteht durch Wettbewerb, nicht durch Abschottung. ({4}) Deshalb gehört zu einem funktionierenden Markt auch, dass ein ausländischer Investor die Bankgesellschaft Berlin kaufen und - unabhängig von seiner Eigentümerstruktur - den Namen „Sparkasse“ weiterführen darf. Ich begrüße daher ausdrücklich, dass die EU ihr Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wieder aufgreifen will. ({5}) Wettbewerb, Kapital- und Niederlassungsfreiheit sind keine Einbahnstraße, sondern schaffen Wachstum und damit Arbeitsplätze. Das ist gerade in Berlin sehr wichtig. ({6}) - Deshalb mache ich auch die Unterschiede deutlich, die in diesen Fragen zwischen uns bestehen. Ich meine auch, dass wir bei der Umsetzung von Basel II gleiche Wettbewerbsbedingungen schaffen müssen. So geht es nicht an, dass wir bei Haftungsverbünden von Sparkassen und Landesbank weichere Haftungskriterien - zum Beispiel bei Intergruppenforderungen - als bei konsolidierten Instituten zulassen. Hier findet indirekt eine Wettbewerbsverzerrung statt, die wir nicht akzeptieren können. Man kann nicht auf der einen Seite eine gleiche und fristgerechte Richtlinienumsetzung fordern und im selben Atemzug den Wettbewerb beschränken. Daher müssen wir auch vor unserer eigenen Haustür kehren. Es ist deshalb an der Zeit, dass Deutschland seine starren Bankensysteme überdenkt und die Energie, die die Teilnehmer in die jeweiligen Abwehrschlachten investieren, für eine Fortentwicklung des Finanzmarktes in Deutschland und Europa genutzt wird. Vielen Dank. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich erteile nun das Wort der Kollegin Nina Hauer, SPD-Fraktion. ({0})

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der europäische Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen ist in den letzten Jahren erfolgreich zusammengeführt worden. Über 40 Regulierungsmaßnahmen wurden im Rahmen des Aktionsplans beschlossen. Die Umsetzung dieser Maßnahmen ist nicht nur für die Unternehmen, sondern auch - das sollte man ruhig einmal erwähnen - für die Aufsichtsbehörden und für uns Abgeordnete des Deutschen Bundestages eine große Herausforderung. Mit ihrem im Dezember 2005 vorgelegten neuesten Weißbuch gibt die Europäische Kommission die Zielstellung für die Gestaltung der Finanzdienstleistungspolitik bis 2010 vor. Wir unterstützen den im Weißbuch skizzierten Weg, gerade weil man sich auf die Privatkundenmärkte konzentriert. Diese spielen für die Altersvorsorge, aber auch die Kapitalbildung der Unternehmen eine große Rolle. Wir wissen, dass wir eine große Verantwortung für unsere Privatkunden haben. Außerdem haben wir den größten Markt innerhalb der Europäischen Union. Wir wollen daher dafür sorgen, dass bei den Regelungen, die die Bürgerinnen und Bürger als Kunden betreffen, nicht ausschließlich der Weg der Maximalharmonisierung gegangen wird, sondern Mindeststandards vereinbart werden, damit es Spielraum gibt, um auf nationale Besonderheiten einzugehen. Gerade im Hinblick auf die Situation der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland tun wir gut daran, uns diesen Spielraum zu erhalten. ({0}) Wir unterstützen, wie gesagt, den im Weißbuch skizzierten Weg. Wir wollen aber nicht, dass aus diesem Wegeplan ein Irrgarten wird. Unter der Überschrift „dynamische Konsolidierung“ sagen wir, was wir wollen, nämlich nicht nur eine konsequente, sondern auch eine gleichzeitige Umsetzung aller Richtlinien in nationale Gesetze. Wir können es uns nicht erlauben, dass die deutschen Marktteilnehmer aufgrund unterschiedlicher Geschwindigkeiten bei der Umsetzung von Richtlinien in Europa benachteiligt sind. Das betrifft nicht nur Großbritannien, das auf dem Finanzmarkt in unmittelbarer Konkurrenz zu uns steht, sondern auch andere Länder. Wir unterstützen den Weg zu besserer Regulierung und weniger Bürokratie. Wir wollen, dass alles, was wir auf den Weg bringen, darauf untersucht wird, welche Kosten-Nutzen-Effekte es für den Markt, aber auch für die Kundinnen und Kunden hat, und dass wir in die Lage versetzt werden, zu überprüfen, welche Auswirkungen das Beschlossene über die Jahre hat; denn gerade bei einem so empfindlichen Markt wie dem Finanzmarkt ist es notwendig, nachzujustieren, nicht nur um Ungerechtigkeiten und Fehlentwicklungen zu stoppen, sondern auch um Chancen zu ergreifen. Sonst sind andere schneller als wir. Wir teilen die Auffassung der Kommission, dass für eine gemeinsame Umsetzung der Finanzmarktregulierung eine bessere Zusammenarbeit der nationalen Aufsichten vonnöten ist. Mit den diversen Aufsichtsbehörden, die momentan in Europa bestehen, ist eine einheitliche Umsetzung - gerade angesichts der verschiedenen Kulturen der Verwaltungen - nicht zu leisten. Wir wollen außerdem den Finanzmarkt unter eine demokratisch legitimierte Aufsicht stellen. Wir als Parlamentarier wollen darüber berichten; denn wir sind Teil unserer deutschen Finanzdienstleistungsaufsicht. Aber wir wollen auch, dass das Europäische Parlament mehr Möglichkeiten hat, zu überprüfen und zu entscheiden, was im Rahmen der Aufsicht unternommen wird, damit wir gegebenenfalls eingreifen und Fehlentwicklungen verhindern können. ({1}) Die zukünftige Aufsichtsstruktur stellen wir uns so vor: Für das, was auf nationaler Ebene geschieht, sollten die jeweiligen nationalen Aufsichtsbehörden zuständig sein; denn sie haben bislang die besseren Ressourcen. Das bleibt auf absehbare Zeit auch so. Wichtig ist aber, dass grenzüberschreitend tätige Unternehmen im Rahmen eines europäischen Finanzaufsichtssystems beaufsichtigt werden. Dabei ist es uns weniger wichtig, eine neue zentrale Behörde zu errichten. Das kann vielleicht irgendwann einmal sinnvoll sein. Wichtig ist für uns aber jetzt, dass die verschiedenen nationalen Aufsichten besser zusammenarbeiten, keine Synergien verlieren, Informationen austauschen sowie die Regeln einheitlich interpretieren und anwenden, damit Wettbewerbsverzerrungen verhindert werden. Wir wollen, dass die grenzüberschreitenden Aktivitäten nicht zu unnötigen Kosten führen. Sonst hätte die Finanzmarktintegration, überhaupt der europäische Binnenmarkt, keinen Sinn. Wir werden im Rahmen der Verbesserung des europäischen Zahlungsverkehrs auch darüber reden, was das eigentlich für die Bürgerinnen und Bürger am Schalter bedeutet: Wie gestalten sich Geldgeschäfte in Europa, insbesondere Überweisungen, werden sie günstiger und sicherer? Wir begrüßen, dass im Rahmen des Lamfalussy-Verfahrens bei der Zusammenarbeit der Aufsichten schon gute Ergebnisse erzielt worden sind. Natürlich werden wir ein wachsames Auge darauf haben, damit sich das, was da gemacht wird, nicht der politischen Kontrolle entzieht. Mit dem uns jetzt vorliegenden Plan - den wir begleiten wollen, aber den wir dann stoppen werden, wenn wir den Eindruck haben, dass eine neue Welle von umzusetzenden Gesetzen auf uns zukommt - werden wir dafür sorgen, dass unser Part im europäischen Finanzmarkt klar strukturiert ist, dass er transparent ist für alle, die daran teilnehmen, und dass er wirtschaftlich erfolgreich ist. Wir setzen auf den Finanzmarkt. Er ist unabdingbar für mehr Wachstum. Unternehmen - insbesondere junge Unternehmen - brauchen ihn, um an Kapital zu kommen. Eben wurde Basel II angesprochen. Ich glaube, dass es jetzt noch zu früh ist, darüber zu reden, welche Rolle die einzelnen Institute einnehmen sollen. Ich will aber schon darauf hinweisen, dass Basel II auch eine Chance bietet. Gerade kleinere und mittelständische Unternehmen bei uns klagen darüber, wie schwierig es ist, an Kapital zu kommen. Basel II eröffnet dem Mittelstand einen neuen Weg, mehr Geld zur Verfügung gestellt zu bekommen. Oft wird der Eindruck erweckt, Basel II führe dazu, dass kleine Handwerksbetriebe keine Kredite mehr bekämen. Das Gegenteil dieser Horrorvision soll der Fall sein. Wir werden allerdings darauf achten, dass die nationale Struktur unseres Finanzmarkts berücksichtigt wird, insbesondere - das kann man offen sagen - die Kreditabhängigkeit der mittelständischen Unternehmen. Wir werden unsere Interessen bei der Umsetzung der Richtlinie nicht aus den Augen verlieren. Dieser Punkt ist auch von öffentlichem Interesse. Wir Abgeordnete bekommen dazu nicht nur Zuschriften, sondern haben auch in den Wahlkreisen viel damit zu tun. Ich glaube, dass wir an diesem Beispiel deutlich machen können, was wir meinen, wenn wir eine bessere Regulierung verlangen, eine Konsolidierung der Gesetze, die wir auf den Weg gebracht haben, fordern und eine Weiterentwicklung des europäischen Finanzmarktes und unserer Rolle als Marktteilnehmer aus deutscher Sicht wollen. Vielen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Dr. Axel Troost, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag weist zu Recht darauf hin, dass bisher vor allem Unternehmen von der europäischen Finanzmarktintegration profitiert haben und dass hier nun neue Prioritäten gesetzt werden müssen. Die Stoßrichtung der EU-Kommission, das künftige Hauptaugenmerk auch auf eine verstärkte Integration der Privatkundenmärkte zu richten, ist zu unterstützen. Auch die Bürgerinnen und Bürger müssen in den Genuss der für sie vorteilhaftesten Finanzdienstleistungen kommen, die europaweit angeboten werden. Dabei ist davon auszugehen, dass die günstigsten grenzüberschreitenden Angebote oft aufgrund fehlenden Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger in den Verbraucherschutz nicht genutzt werden. Zur Stärkung der Privatkunden ist es aber vor allen Dingen notwendig, neben Transparenz und Vergleichbarkeit der Finanzprodukte einen umfassenden Verbraucherschutz zu erreichen. Wir brauchen auf EU-Ebene ein höheres Verbraucherschutzniveau für Finanzdienstleistungsprodukte. ({0}) Der Antrag spricht sich aus unserer Sicht zu Recht gegen eine Maximalharmonisierung aus und fordert stattdessen die Koppelung von Mindeststandards und Respektierung nationaler Besonderheiten. In dem Punkt ist auch aus unserer Sicht Überregulierung völlig fehl am Platze. In vielen Punkten hätte ich mir allerdings konkretere Orientierungen im Einzelnen gewünscht. Europäisches Finanzaufsichtssystem - das ist wichtig und unterstützenswert. Dennoch müssen wir aus meiner Sicht weit über den Antrag hinausgehen. Ich sehe ganz erheblichen Regulierungsbedarf in den nationalen und transnationalen Finanzsystemen. Nur ein paar Stichworte zu den Punkten, die aus meiner Sicht eine besondere Brisanz haben. Ich zitiere noch einmal den Chef der Commerzbank, Klaus-Peter Müller, zum Thema Hedge-Fonds: Er geht davon aus, dass man von vielen Fonds außer Telefonnummer und Adresse überhaupt nichts wisse. Auch der BaFin-Präsident Sanio spricht bezüglich der Hedge-Fonds von großen schwarzen Löchern der internationalen Finanzwelt, von denen keiner genau wisse, was dort laufe. Was passiert eigentlich auf diesem Sektor? Was gedenkt die Bundesregierung hier zu tun? Ich las in der „Financial Times“ vom 10. März dieses Jahres, die Bundesregierung beabsichtige, die Meldepflicht für alle Investmentfonds zu lockern, und zwar als Reaktion darauf, dass die Hedge-Fonds-Branche hierzulande nicht richtig in die Gänge komme. Da stellt sich natürlich schon die Frage, ob wir nicht doch ganz andere, neue Regulierungsbedarfe in diesem Bereich haben. Nur zur Illustration ein zweites Stichwort. Ich zitiere wieder Herrn Sanio: Er spricht von den Ratingagenturen als der „größten unkontrollierten Macht der internationalen Finanzmärkte“. Auch hier müssen wir gemeinsam überlegen, wie wir damit umgehen. Zusammengefasst: Diese Initiative geht aus unserer Ansicht in die richtige Richtung. Wir werden sie daher unterstützen. Wir sehen aber auf dem Gebiet der Regulierung der europäischen Finanzmärkte ganz andere, sehr viel brisantere Aufgaben und Fragestellungen, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Angesichts der explodierenden Renditeansprüche der Vermögensbesitzer haben wir es heute mit neuen Formen des Finanzmarktkapitalismus zu tun, was ganz neue Formen der Regulierung erfordert. Aus unserer Sicht kommt hier ein Riesenschwall von Problemen auf uns zu. Diese sollten wir in der künftigen Arbeit im Finanzausschuss wie auch im Plenum diskutieren. Danke schön. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Dr. Gerhard Schick, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Grünen unterstützen ausdrücklich das in dem gemeinsam eingebrachten Antrag formulierte Ziel, einen Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen zu schaffen, das heißt, die bisher eingeleiteten Schritte fortzuführen. Nachdem ich die bisherige Debatte verfolgt habe, komme ich zu dem Ergebnis: Wir unterschätzen, was der Begriff „dynamische Konsolidierung“ meint. Die Konsolidierung ist ziemlich dynamisch. Hinter den wenigen Legislativmaßnahmen steht doch allerhand. Allein das Projekt Solvency II ist ein Mammutprojekt, das für die deutsche Versicherungswirtschaft enorme Konsequenzen haben wird. Daher ist es richtig, zu sagen: Wir ziehen die Konsequenzen aus einer teilweise etwas überladenen Liste von Legislativmaßnahmen der letzten Jahre und schauen stärker auf die Umsetzung. Wir vertreten hier zu Recht die Auffassung: Das Vorhaben muss in der Europäischen Union gleichmäßig und konsequent umgesetzt werden. Wir sollten dabei aber nicht unterschätzen, was in den nächsten Jahren noch auf uns zukommt, um den gemeinsamen Finanzdienstleistungsmarkt wirklich zu vollenden. ({0}) Spätestens dann, wenn es um die Zahlungsverkehrsrichtlinie und die Verbraucherkreditrichtlinie geht, wird es mit der Gemeinsamkeit an der einen oder anderen Stelle wohl ein Ende haben. Trotzdem ist es richtig, dass wir die Ziellinie jetzt erst einmal gemeinsam in den Blick nehmen. Ich möchte noch einige Anmerkungen aus grüner Perspektive machen. Sie zeigen vielleicht, wo aus unserer Sicht Schwerpunkte sind. Zunächst möchte ich an das anknüpfen, was Herr Kollege Fahrenschon bereits gesagt hat - bei ihm möchte ich mich für die Koordination noch einmal recht herzlich bedanken -: Hinter diesem Antrag steht ein anderes Verständnis von Europapolitik; wir wollen die Europapolitik stärker antizipativ begleiten. Sie haben das Lamfalussy-Verfahren kritisiert. Ich stimme Ihnen da ausdrücklich zu. Die Tatsache, dass Rechtsetzung ohne demokratische Kontrolle in Parlamenten stattfindet, ist - das gilt insbesondere für das Lamfalussy-Verfahren ein wichtiger Bestandteil dessen, was wir klagend als das Demokratiedefizit bezeichnen. ({1}) Dieses Demokratiedefizit drückt sich natürlich nicht nur in dem Lamfalussy-Verfahren - es ist ein Teil der Komitologieverfahren - aus, sondern auch in anderen Bereichen. Dort ist man von parlamentarischer Kontrolle ebenfalls sehr weit entfernt. Wir als Parlamentarier sollten unsere Aufgabe, diese europäischen Gesetzgebungsprozesse zu begleiten, noch ernster nehmen. Wenn ich mir das Programm der nächsten Jahre anschaue, dann komme ich zu dem Schluss, dass das ein hoher Anspruch ist, den wir hier für uns formulieren, nämlich die Rechtsetzung parlamentarisch, im Finanzausschuss und hier im Plenum, zu begleiten und zu kontrollieren und nicht nur das sozusagen zu übernehmen, was von der europäischen Ebene kommt. Ich hoffe, dass wir es schaffen, diesem Anspruch auch wirklich gerecht zu werden. Es wäre ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der Demokratie in Europa. ({2}) Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der auch schon erwähnt worden ist. Es geht jetzt in einem zweiten Schritt darum, auch den Verbraucher stärker in den Blick zu nehmen. Wir haben Europa häufig als bürgerfern bezeichnet. Das ist auch an verschiedenen Stellen sichtbar. Eine Stelle, wo das sichtbar ist, ist die folgende: Der Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen ist bisher stärker für Firmenkunden als für Verbraucher Realität geworden. Es ist deswegen richtig, dass wir dem Kapitel Privatkunden besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben. Wir Grünen werden besonders darauf achten, dass der Verbraucherschutz bei diesen Sachen nicht zu kurz kommt. Beim Stichwort „Better Regulation“ ist für uns besonders wichtig, dass wir auch die Chancen nutzen, die in einer Harmonisierung liegen, zum Beispiel für weniger Bürokratie. Es ist einfach so, dass es für viele Unternehmen und Verbraucher eine deutliche Entlastung von Bürokratie bedeutet, wenn wir gemeinsame Regelungen schaffen, gerade im Grenzbereich. Ich möchte also darum bitten, dass wir unter diesem Stichwort „Better Regulation“ nicht Ziele aufgeben, sondern versuchen, diese - nämlich eine bessere Finanzierung für Unternehmen, aber auch eine stabile Finanzmarktentwicklung, die das Verbrauchervertrauen mit in den Blick nimmt - auch durch eine gute europäische Rechtsetzung zu erreichen. Vielen Dank. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/933 mit dem Titel „Besser regulieren, dynamisch konsolidieren - Leitlinien für die künftige EU-Finanzmarktintegration“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gibt es Gegenstim- men? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist der Antrag einstimmig angenommen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Hans-Christian Ströbele, Wolfgang Wieland, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz von Journalisten und der Pressefreiheit in Straf- und Strafprozessrecht - Drucksache 16/576 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Kultur und Medien b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Jörg van Essen, Mechthild Dyckmans, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Pressefreiheit - Drucksache 16/956 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Jerzy Montag von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern hat die Staatsanwaltschaft Potsdam Anklage gegen zwei Journalisten wegen Beihilfe zum Geheimnisverrat erhoben. Über diesen Fall hat der Deutsche Bundestag schon diskutiert; auch der Innenausschuss war damit befasst. Dieser Fall ist nicht singulär. Allein in diesem Jahr gab es Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden gegen Journalisten der „Wolfsburger Allgemeinen“ und der „Dresdner Morgenpost“. In den zurückliegenden Jahren gab es Ermittlungsverfahren gegen die Zeitschrift „Max“ in Hamburg, den „Stern“, das ZDF und Radio Bremen; ich nenne nur einige wenige Fälle. Die Vielzahl der Fälle ergibt sich aus dem Bericht des Deutschen Journalisten-Verbandes, der für einen Zeitraum bis 2001 einige Dutzend einschlägige Fälle dokumentiert hat. Die Pressefreiheit in unserem Land ist nicht erst in Gefahr, wenn die Polizei flächendeckend gegen alle Journalisten und gegen alle Presseorgane ermittelt. Die Pressefreiheit ist bei uns bei jedem einzelnen Fall in Gefahr. Wir müssen Vorsicht walten lassen und bei jedem Fall solcher Ermittlungen aufpassen, worum es geht und warum die Polizei, die Ermittlungsbehörden gegen Journalisten ermitteln. ({0}) Deswegen ist es wichtig, dass man sich dieses Phänomens annimmt. Wir haben es mit der Offenbarung staatlicher Geheimnisse zu tun. Das ist eine Straftat. Gleichzeitig ist die Offenlegung Aufgabe einer kritischen und freien Presse. Wenn die Beamten, die solche Dienstgeheimnisse offenbaren, auch Straftäter sind, sind sie doch gleichzeitig die grundrechtlich geschützten Informanten der freien Presse. Daraus hat der Deutsche Bundestag schon 1979 den Schluss gezogen, den damaligen § 353 c StGB zu ändern, indem er festgelegt hat: Strafbar machen sich nicht die Journalisten, die Geheimnisse veröffentlichen, sondern nur Beamte, die ihre Dienstverpflichtung zur Geheimhaltung verletzen. Aber diese Trennung - Freiheit der Presse auf der einen Seite und Schutz von Dienstgeheimnissen auf der anderen Seite ist in der Folgezeit nicht gelungen. Die neuesten Fälle zeigen das auch ganz illuster; denn über das Konstrukt der Beihilfe und der Anstiftung werden immer wieder, bis zum heutigen Tage, Journalisten verfolgt und Hausdurchsuchungen durchgeführt. Das soll und muss sich ändern. Deswegen haben wir unseren Gesetzentwurf vorgelegt, der im Wesentlichen in sechs Punkten Abhilfe schaffen soll: Es gibt zwei Wege, um Journalisten in diesen Fällen zu schützen: den prozessualen, den wir nicht für den richtigen halten, und den materiellen, den wir für richtig halten. Wir sagen: Beihilfe und Anstiftung zum Geheimnisverrat sollen in Zukunft für Journalisten und Mitarbeiter der Presse nicht mehr strafbar sein. ({1}) Wir wollen die Justizkontrolle insofern verbessern, als wir den Gerichten auferlegen, bei Ermittlungen gegen Journalisten das Grundrecht der Presse, das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit immer im Blick zu haben. Wir wollen die Zufallsfunde beschränken, soweit das Zeugnisverweigerungsrecht das ermöglicht. Wir wollen die Telefonverbindungsdaten von Journalisten schützen. Wir wollen ihre Wohnungen schützen, die bisher nicht so geschützt sind wie die Redaktionsräume. Last, not least wollen wir das Strafrecht entrümpeln, indem wir § 353 d Nr. 3 StGB streichen. ({2}) Alles in allem ein Vorschlag, den wir gemacht haben, nachdem die große Koalition zwar einiges angekündigt, aber bisher nichts vorgelegt hat. Jetzt hat die FDP mit einem Vorschlag nachgelegt, der sich in einigen Punkten von unserem unterscheidet. Wir werden in der weiteren parlamentarischen Beratung darauf achten, wer den besseren Vorschlag gemacht hat. Ich würde mich aber auch freuen, wenn die Koalition endlich in die Puschen käme und uns einen Vorschlag vorlegen würde. Angekündigt haben Sie das bereits; aber Sie haben bisher nichts gemacht. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Siegfried Kauder für die CDU/CSU-Fraktion.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht bei allen, aber bei den meisten Dingen schadet blinder Eifer nur. Es geht hier um ein sehr wichtiges und schwieriges Thema: die Abgrenzung der Ermittlungsmöglichkeiten in Bezug auf Straftäter und Straftaten gegenüber der Pressefreiheit. Bündnis 90/Die Grünen und die FDP haben mit bemerkenswert großer Schnittmenge zwei unterschiedliche Gesetzentwürfe vorgelegt. Bündnis 90/Die Grünen nennt den Entwurf „Gesetz zum Schutz von Journalisten und der Pressefreiheit in Straf- und Strafprozessrecht“. Die FDP ist da schon neutraler und spricht von einem Gesetz zur Sicherung der Pressefreiheit. Aber, meine Damen und Herren, wenn man den Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen genau ansieht, merkt man sehr schnell die Intention. ({0}) In einem laufenden Ermittlungsverfahren leistet man zwei Journalisten, gegen die gestern Anklage erhoben worden ist, entweder bewusst oder bedingt vorsätzlich Schützenhilfe. ({1}) In der Problemstellung des Gesetzentwurfes heißt es bei Bündnis 90/Die Grünen - lassen Sie mich zitieren -: Bei der Anordnung von Durchsuchungs- und Beschlagnahmemaßnahmen gegen Medienangehörige fehlt in einer auffälligen Häufung die notwendige Prüfung der Verhältnismäßigkeit unter Berücksichtigung der Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes ({2}). Systematisch werden bei solchen Gelegenheiten „Zufallsfunde“ in erheblichem Ausmaß beschlagnahmt … ({3}) Das ist nichts anderes als eine Kritik an den Ermittlungsbehörden. ({4}) Eine solche Kritik mag einem einzelnen Abgeordneten zustehen, aber nicht diesem Hohen Haus in seiner Funktion als Gesetzgebungsorgan. ({5}) Wenn Kritik geäußert wird, dann muss sie sachlich sein. Wer Geheimnisverrat begeht, soll und muss bestraft werden. Man kann es nicht besser ausdrücken, als man es im so genannten „Spiegel“-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. August 1966 niedergelegt findet. Dort heißt es: Die Presse genießt im Strafverfahren keine Privilegien … Namentlich steht im freiheitlich-demokratischen Staat der Pressefreiheit die Mitverantwortung der Presse für die Staatssicherheit gegenüber. (Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele ({6}) Geheimnisverrat erschüttert die Grundfeste des inneren und äußeren Bestandes des Staates. ({7}) Deswegen ist Geheimnisverrat zu Recht strafbar. ({8}) Geheimnisverrat muss nicht nur für einen Amtsträger, sondern auch für denjenigen strafbar sein, der Beihilfe leistet oder den Amtsträger anstiftet. ({9}) Geheimnisverrat ist zwar ein Sonderdelikt, aber es entspricht den allgemeinen Regeln des Strafrechtes, dass nicht nur der, der die Straftat als Haupttäter begeht, sondern auch der, der dazu anstiftet oder Beihilfe leistet, bestraft werden muss, auch wenn er die Amtseigenschaft nicht erfüllt. Da wird der Grundsatz der strengen Akzessorietät in § 28 des Strafgesetzbuches - Juristen wissen das - aus gutem Grund durchbrochen. ({10}) Ich hoffe, die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen merken selbst, wenn sie ihren Gesetzentwurf noch einmal sorgfältig überarbeiten, was für ein Unsinn da produziert wurde. ({11}) Sie kommen zu dem Ergebnis, die Beihilfe solle für einen Journalisten nicht strafbar sein, und zwar deshalb, weil erst die Veröffentlichung eine Beihilfehandlung darstellt. Es ist übrigens auch juristischer Standard, dass die Möglichkeit der Teilnahme eben nicht mit der Vollendung, sondern erst mit der Beendigung des Deliktes endet; auch das weiß jeder Jurist. Man kann allenfalls über die Frage diskutieren, ob Beihilfe nicht strafbar sein soll. Warum wollen Sie eigentlich das Rechtsinstitut der Anstiftung auch noch kippen? Ihr Argument, dass die Abgrenzung zwischen Beihilfe und Anstiftung schwierig sei, ist doch wohl nicht der Lösungsansatz für dieses Problem. Nein, so wird es sicherlich nicht gehen. ({12}) Bündnis 90/Die Grünen bleibt auch eine Begründung für ihre Richterschelte schuldig. Man wirft den Richtern und der Staatsanwaltschaft vor, diese würden das Recht aushebeln, aber nicht um gegen den Teilnehmer einer Siegfried Kauder ({13}) Straftat zu ermitteln, sondern um über den Umweg einer Beschlagnahme an den Informanten heranzukommen. ({14}) Ich finde, das ist eine Unverschämtheit gegenüber den Ermittlungsbehörden, die nichts anderes tun, als das Recht in Deutschland zu wahren. ({15}) Um diese Meinung stützen zu können, beruft sich Bündnis 90/Die Grünen auf eine Untersuchung des Deutschen Journalisten-Verbandes. Diese Untersuchung ist doch sicherlich nicht objektiv; denn sie ist von den Betroffenen selbst durchgeführt worden. ({16}) Schauen Sie sich doch einmal an, wie viele Fälle in welchem Zeitraum untersucht wurden. Es wurden 164 Fälle von 1987 bis zum Jahr 2000 untersucht. Wurden Fälle selektiert oder wurden alle Fälle untersucht? ({17}) Ich habe die Vermutung, dass man genau die Fälle herausgegriffen hat, bei denen die Beihilfe- bzw. Anstiftungshandlung nicht zu einer Verurteilung geführt hat. Aber es soll hin und wieder vorkommen, dass es nicht zu einer Verurteilung kommt, wenn Ermittlungsbehörden eine Hausdurchsuchung vornehmen. Ich habe in meiner letzten Rede im Deutschen Bundestag gesagt, dass wir es nicht immer mit Straftätern, sondern auch mit Tatverdächtigen zu tun haben. Aber auch da darf es keine Privilegien für die Presse geben, sofern sich diese nicht unmittelbar aus Art. 5 des Grundgesetzes ergeben. Sie wissen doch genau, dass sich die Grenzen des Art. 5 aus den allgemeinen Gesetzen ergeben. ({18}) Sie sehen, dieser Gesetzentwurf ist schon im Grundansatz parteiisch, mit heißer Nadel gestrickt und nicht durchdacht. Dabei wollen wir nicht mitmachen. ({19}) Das ist die Philosophie von Bündnis 90/Die Grünen: Wenn wir schon reformieren, dann gehen wir mit dem Rasenmäher über das Strafgesetzbuch hinweg und streichen auch gleich den § 353 d Nr. 3. ({20}) - Herr Montag, hören Sie einfach einmal zu! - Ich will Ihnen sagen, was Sie bewirken, wenn Sie den § 353 d Nr. 3 streichen. ({21}) Diese Strafvorschrift bewirkt, dass während eines laufenden Ermittlungsverfahrens, das nicht öffentlich ist, Aktenteile nicht in der Presse veröffentlicht und nicht publiziert werden dürfen. ({22}) Originalakten dürfen nicht publiziert werden. Das ist gut so. Denn Ermittlungsverfahren sind nicht öffentlich, sondern noch geheim. Wenn Sie § 353 d Nr. 3 streichen, hat das zur Folge, dass ein Nebenkläger, der aufgrund des Mandatsverhältnisses vom Anwalt Aktenkopien verlangen kann, die Anklageschrift, bevor sie in der Hauptverhandlung verlesen worden ist, im Internet veröffentlichen darf. ({23}) Überlegen Sie, ob Sie so etwas wollen! Der Haftbefehl eines verhafteten Tatverdächtigen, der nicht verurteilt ist, erscheint im Internet. Das können Sie allen Ernstes nicht gewollt haben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Kauder, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hans-Christian Ströbele zu?

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön, Herr Ströbele. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Kauder, geben Sie mir Recht darin, dass § 353 d, den Sie gerade angeführt haben, lediglich die wörtliche Veröffentlichung verbietet? Das heißt, im Falle der von Ihnen genannten Anklageschrift könnten Sie die gesamte Anklageschrift mit all dem, was darin steht, inhaltlich wiedergeben. Sie dürfen nur nicht wörtlich zitieren. Geben Sie mir Recht, dass zahlreiche Rechtsgelehrte diese Vorschrift schon aus diesem Grunde immer wieder kritisiert und die Abschaffung gefordert haben?

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich brauche Ihnen nicht Recht zu geben, weil ich dies so vorgetragen habe. Es ergibt sich schlicht und ergreifend aus dem Gesetz, dass nur die wortgetreue Weitergabe von Aktenteilen strafbar ist. Aber, Kollege Ströbele, auch Sie kennen die Welt und Prozessgeschichten. Ein Dokument zu veröffentlichen hat einen höheren Aussagewert, als wenn ich den Inhalt Siegfried Kauder ({0}) aus meiner Sicht wiedergebe. Deswegen ist diese Strafvorschrift zu Recht so gefasst worden. ({1}) Ich hätte von Ihnen eigentlich eine andere Kritik erwartet, nämlich die, dass der Anwendungsbereich relativ gering ist und Straftaten in diesem Bereich relativ wenig verfolgbar sind. Dazu kann ich nur sagen: Das ist der präventive Charakter dieses Gesetzes. Deswegen hält sich die Presse daran. Ich könnte Ihnen auch entgegenhalten, dass wir erst in der letzten Legislaturperiode § 201 a des Strafgesetzbuches, den Schutz des höchstpersönlichen Lebensbereiches, eingeführt haben, dessen Anwendungsbereich nicht wesentlich breiter ist als der des § 353 d Nr. 3 des Strafgesetzbuches. ({2}) Meine Damen und Herren, ich möchte nicht alles schlecht machen. Einige gute Ansatzpunkte hat diese Diskussion sicher. Ich wende mich da insbesondere an die FDP. Wir werden die Fragen des Zufallfundes überdenken müssen ({3}) und wir werden die Frage des Sammelns von Telekommunikationsdaten überdenken müssen. Aber das muss man mit aller Sorgfalt tun. Festhalten kann man, dass § 97 der Strafprozessordnung, also der Paragraf, der die Beschlagnahme zulässt, letztmals im Jahr 1975 inhaltlich geändert worden ist. Genau in diesem Jahr hat man eingeführt, dass dort, wo ein Journalist sich der Teilnahme an einer Straftat schuldig gemacht hat, beschlagnahmt werden darf. Das funktioniert seither durch die Auslegung der Gerichte ganz ordentlich. Herr Kollege Montag, auch das werden Sie einräumen müssen: Das Sammeln von Post- und Telekommunikationsdaten wurde im Fall der zwei vor kurzem betroffenen Journalisten in der Beschwerde gekippt. Das zeigt: Wenn man Beschwerdemöglichkeiten ausnützt, kommt man zum Erfolg. Deswegen wird man prüfen müssen, ob die Rechtsprechung nicht schon auf dem richtigen Weg ist, ob dort schon genügend Schutz besteht und wir einer Gesetzesänderung gar nicht bedürfen, und zwar nicht um der Gesetze willen und auch nicht deswegen, um den Lobbyismus gewisser Bevölkerungsgruppen zu befriedigen. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger, FDP-Fraktion.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die FDP hat diesen Gesetzentwurf nicht in blindem Eifer erstellt. Wir haben uns damit vielmehr sehr viel Zeit gelassen, weil wir natürlich auch die Meinung der Vertreter der Länder eingeholt haben sowie Justizminister der Länder und Mitarbeiter in den entsprechenden Strafrechtsabteilungen befragt haben. Sie stehen nun nicht in dem Verdacht, einem mitzuteilen: Hier kann man einmal eine Strafbestimmung überarbeiten oder vielleicht aus einer Strafbestimmung eine Nummer streichen. Unser Gesetzentwurf ist in den Ländern, die wir befragt haben, auf keinerlei Bedenken gestoßen. Herr Kauder, Sie haben hier sehr differenziert, aber auch sehr engagiert Stellung bezogen. Ich möchte zu § 353 d Nr. 3 klar sagen: Es hat auf dessen Grundlage, wie Sie richtig bemerkt haben, kaum Verurteilungen gegeben. Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich mit dieser Bestimmung befasst. Es hat schon im Jahre 1986 ausgeführt, dass der Wirkungskreis dieser Bestimmung extrem klein und ihre Auswirkung sehr gering sei. Wir sind nach langer Überlegung zu der Überzeugung gekommen, dass es wirklich nicht zu begründen ist, warum die Veröffentlichung eines konkreten Zitats, zum Beispiel aus einer Anklageschrift, unter Strafe gestellt und dieses Verhalten kriminalisiert wird, die sinngemäße Wiedergabe aber, die möglicherweise mit einer verfälschenden Darstellung des Sachverhalts einhergeht, keinerlei strafrechtlicher Verantwortung unterliegt und auch nicht entsprechend erfasst werden kann. Deshalb halten wir es nicht für richtig, die korrekt zitierende Berichterstattung zu kriminalisieren. ({0}) Herr Kauder, Kernpunkt ist die materielle Strafbarkeit, an der sich alle anderen Vorschriften festmachen; denn wenn wir ein gewisses Verhalten nicht unter Strafe stellen, dann brauchen wir uns auch in der Strafprozessordnung nicht mehr damit auseinander zu setzen. Deswegen haben wir sehr lange und sehr sorgfältig überlegt, wie wir mit § 353 b StGB umgehen sollen. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass wir das Anstiften anderer, eine Verletzung des Dienstgeheimnisses zu begehen, sehr wohl weiterhin unter Strafbarkeit stellen wollen. Das gehört nach unserer Meinung nicht zu dem, was unter den Schutz der Pressefreiheit von Journalisten fällt. ({1}) Wir haben uns den Sachverhalt, der immer wieder zu Verfahren führt, die in der Vergangenheit so gut wie nie eine Verurteilung der Journalisten zur Folge hatten, aufgrund dessen es aber wegen einer möglichen Strafbarkeit in erheblichem Umfang zu Durchsuchungen, zu Beschlagnahmen und dann natürlich auch zu Zufallsfunden gekommen ist, genau angesehen. Deshalb sagen wir: Der Schutz von Dienstgeheimnissen reicht so weit, bis derjenige, der zur Geheimhaltung verpflichtet ist, das Dienstgeheimnis verletzt und Unterlagen herausgegeben hat. Wenn das passiert ist, dann ist dieser Tatbestand vollendet. Wenn anschließend ein Journalist mit diesem Material umgeht, dann handelt es sich nicht mehr um ein strafbares Verhalten, das rechtfertigt, die Strafbestimmung in dieser Form, nämlich gemäß § 353 b StGB, aufSabine Leutheusser-Schnarrenberger rechtzuerhalten. Deshalb haben wir ihn in unserem Gesetzentwurf anders angelegt, als es Bündnis 90/ Die Grünen in ihrem Gesetzentwurf tun. Ich rede jetzt nicht über die Klugheit von Journalisten bei ihrer Berichterstattung. - Ich denke, bei manchem ist es klug, davon zu berichten; bei manchem ist man besser beraten, es nicht in der Berichterstattung zu verwenden. - Ich hoffe, dass auf dieser Grundlage sehr wohl eine konstruktive Beratung und vielleicht auch eine Mehrheitsfindung im Ausschuss möglich sein werden. Unsere strafprozessualen Vorschläge sind zum Teil eine Konsequenz daraus, aber auch eine Konsequenz aus dem, was wir in der Praxis erleben. Wir wollen anders als Bündnis 90/Die Grünen auch eine Änderung in der Strafprozessordnung. Wir wollen, dass ein dringender Tatverdacht, nicht nur ein einfacher Tatverdacht, vorliegen muss, damit es zu Beschlagnahmen kommen kann. Darüber können wir diskutieren. Ich denke aber, das dürfte nicht auf gravierende Bedenken stoßen. Das, was mit § 100 h StPO passiert ist, nachdem man damit die Vorschrift aus dem FAG abgelöst hat, bedarf noch, wie Sie, Herr Kauder, zu Recht gesagt haben, einer Überprüfung und wohl auch einer Korrektur; denn die Journalisten sind dort einfach nicht erwähnt worden. Warum soll man sie herausnehmen, wenn man andere mit Zeugnisverweigerungsrecht und Berufsgeheimnis erfasst? Ich denke, gerade angesichts der Bedeutung der Pressefreiheit, die nicht nur ein Grundrecht neben vielen anderen, sondern ein konstitutives Element unserer Demokratie ist, sind wir gut beraten, uns diese Bestimmungen vorzunehmen. Ich habe den Eindruck, dass sich Vertreterinnen und Vertreter der großen Koalition unserem Gesetzentwurf vielleicht stärker nähern können als manchen Bestimmungen von Bündnis 90/Die Grünen. Wenn dabei mehr Pressefreiheit herauskäme, dann hätte sich dieses Engagement wirklich gelohnt. Vielen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat Joachim Stünker, SPD-Fraktion. ({0})

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir sind mittlerweile - wenn auch zu später Stunde - bei diesem wichtigen Thema ganz gut in die Diskussion eingestiegen, die wir im Rechtsausschuss des Bundestages weiterführen werden. Ich denke, wir alle hier sind uns darin einig, dass die Pressefreiheit für uns ein hohes Gut ist, dass sie konstitutiv für die Demokratie ist und die Demokratie mit Leben erfüllt. Schon heute haben wir durch die Zeugnisverweigerungsrechte und durch die Beschlagnahmeverbote einen umfassenden Schutz der Pressefreiheit in der Strafprozessordnung. Das müssen wir einmal feststellen. Dieser Schutz ist von uns 2002 zum letzten Mal novelliert und noch ein Stück weiter ausgedehnt worden. Wir haben bei der Novellierung der Vorschriften zur Wohnraumüberwachung Überwachungsverbote zugunsten von Journalisten eingeführt. Ich denke, da brauchen wir alle uns gegenseitig nichts vorzumachen und nichts in Abrede zu stellen. Es ist nicht so, dass der eine die Pressefreiheit mehr schützen möchte als der andere. Auf der anderen Seite ist uns allen auch klar, dass der Schutz von Berufsgeheimnisträgern immer nur so weit reichen kann, wie sich diese in Ermittlungsverfahren und auch in Strafverfahren als nicht schuldig erweisen. Ich glaube, auch da sollten wir uns einig sein. Das eigentliche Problem, um das es hier geht, finden wir im 30. Abschnitt des Strafgesetzbuches bei den so genannten Straftaten im Amt. Das ist ein bisschen kompliziert; denn bei diesen Straftaten werden letzten Endes diejenigen, die Presseerzeugnisse veröffentlichen - das sind nun einmal meistens Journalisten -, allein durch die Veröffentlichung nach allgemeiner Teilnahmelehre zum Teilnehmer, auf jeden Fall aber zum Gehilfen, da sie Beihilfe leisten können, bevor das Delikt beendet ist. Das ist hier nun einmal das Problem. In dem Augenblick, in dem sie zum Teilnehmer werden, greifen die Schutzvorschriften - Zeugnisverweigerungsrechte, Beschlagnahmeverbote usw. - nicht mehr. Dann ist das ganze Instrumentarium der Strafprozessordnung und der Ermittlungsmaßnahmen natürlich eröffnet. Das hat Durchsuchungen und Beschlagnahmen - mit Zufallsfunden und allem, was dazukommt - zum Ergebnis. Ich glaube, das finden wir alle - das habe ich aus der Diskussion heute hier ein bisschen herausgehört - im Ergebnis nicht richtig. Ich zumindest kann für meine Fraktion sagen, dass wir angesichts des hohen Verfassungsrangs der Pressefreiheit der Meinung sind - ich verweise auf die Fälle, die gerade durch die Medien gehen -, dass hier ein Änderungsbedarf besteht. Wir wissen auf der anderen Seite natürlich, dass jede Privilegierung von Journalisten im Rahmen staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen einer ganz besonderen Legitimation und sorgfältiger Abwägung bedarf; dies sagt auch das Bundesverfassungsgericht. Wir wissen auch, dass ein genereller Vorrang der schutzwürdigen Interessen von Journalisten gegenüber den Strafverfolgungsinteressen des Staates nicht zu begründen ist; auch das ist vollkommen klar. Von daher wird die Diskussion für uns insgesamt ein bisschen schwierig werden; man muss schon genau hinschauen. Ich bin der Meinung - wie auch meine Fraktion -, dass hier Handlungsbedarf besteht; allerdings nicht in dem Sinne, wie es in den beiden Gesetzentwürfen unterschiedlicher Art, die das Problem lösen wollen, hier dargestellt worden ist. ({0}) Ich bin explizit nicht der Meinung, dass man das Ganze im materiellen Strafrecht lösen kann. Wir können nicht für eine bestimmte Berufsgruppe Ausnahmen im materiellen Strafrecht vorsehen, nur weil es diese bestimmte Berufsgruppe betrifft. Wir werden es rechtssystematisch und verfassungsrechtlich nicht begründen können, sozusagen eine „Lex specialis“ im materiellen Recht zu schaffen. Wir werden das Ganze letztendlich nur über das Prozessrecht lösen können, und zwar indem wir uns einmal die Tathandlungen, um die es hier geht, genau anschauen. Für den Teilnehmer, für den Journalisten, um den es hier geht, ist mit der Veröffentlichung der Tatbestand der Teilnahme erfüllt, auch wenn der Haupttäter noch gar nicht bekannt sein sollte und ein Verfahren gegen unbekannt läuft. Deshalb ist in dem Augenblick, in dem eine Teilnahme völlig klar ist, eine Beschlagnahme und Durchsuchung eigentlich nicht mehr erforderlich; denn für Ermittlungen im Zusammenhang mit seinem Delikt - das behaupte ich einmal - brauchen wir sie nicht mehr. Darum wird in der Tat - Herr Kollege Kauder, das muss ich doch sagen - diese Schneise genutzt, um die Suche nach dem eigentlichen Haupttäter vornehmen zu können. Dabei kommt es zu den Dingen, über die wir hier gesprochen haben. Ich meine, wir müssen das Ganze im Wege des Strafprozessrechts lösen. Sie wissen: Wir alle haben aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Strafprozessordnung und zu weiteren Vorschriften die Aufgabe, eine Novellierung vorzunehmen. Wir haben hier schon im Dezember darüber diskutiert. Herr Kollege Montag, wir sind durchaus tätig, aber es dauert ein bisschen. Man muss sehr sorgfältig vorgehen, weil das sehr schwierig und kompliziert ist. Man kann das nicht einfach punktuell lösen. Ich denke, dass wir Ihnen noch in diesem Sommer einen Entwurf für eine Novellierung vorlegen können - dann können wir uns über diese Fragen unterhalten -, damit wir in dem kleinen Teilbereich, den ich versucht habe herauszuarbeiten, den Schutz von Journalisten sicherstellen können. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Petra Pau spricht für die Fraktion Die Linke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat einen Gesetzentwurf zur Stärkung der Pressefreiheit vorgelegt. Das begrüße ich namens der Fraktion Die Linke ausdrücklich. Der Gesetzentwurf hat einen Anlass: die Durchsuchung von Redaktionsräumen des Magazins „Cicero“ im September 2005. Das war kein Einzelfall. Razzien bei Medien gibt es häufiger, vornehmlich bei vermeintlich linken. ({0}) Die „taz“ könnte darüber Geschichte erzählen oder auch die „Junge Welt“. Die politische Farbenlehre ist aber ein ganz anderes Thema. Heute geht es prinzipiell um die Frage, ob das Grundgesetz überall gilt und wie es zu schützen ist. Das Grundgesetz schützt die Pressefreiheit. Es schützt sie, weil die Pressefreiheit für eine lebendige Demokratie unverzichtbar ist. Zu diesem Schutz gehört, dass Journalisten das Recht haben, ihre Quellen und Informanten zu schützen. Sie gehen den Staat nichts an. Nun sagt ein Sprichwort, Ausnahmen bestätigen die Regel. Diese Ausnahmen müssen aber gut begründet sein. Darauf zielt der Gesetzentwurf der Grünen. Deshalb unterstütze ich ihn politisch. Die vermeintlichen Ausnahmen nehmen Überhand. Überhand nehmen auch die Kollateralschäden; denn allzu gerne wird bei Razzien in Redaktionsstuben alles mitgenommen, was mitnehmbar ist: CDs, Festplatten, Adressenlisten und Archive, also alles, was im journalistischen Alltag so anfällt und vielleicht auch tiefer blicken lässt, als der Polizei aus dem konkreten Anlass heraus erlaubt ist. In dem konkreten Fall geht es um eine besondere Konstruktion. Der damalige Bundesinnenminister, Otto Schily, witterte Geheimnisverrat. Er vermutete in seinen Diensten ein Plappermaul. Er versuchte, sein Rätsel in den Redaktionsstuben des Magazins „Cicero“ lösen zu lassen. Genau das darf so nicht sein. Ein Leck im Dienst ist kein Grund, die Pressefreiheit und damit das Grundgesetz außer Kraft zu setzen. ({1}) Nun streiten sich die Rechtsgelehrten, ob der Innenminister nicht doch Recht hat. Weil das strittig ist, muss das Recht präzisiert werden. Genau darauf zielt der Gesetzentwurf der FDP. Mit ihm sollen Bürger- und Freiheitsrechte gestärkt werden. Auch dafür werbe ich ausdrücklich. In dieser Auseinandersetzung haben wir es übrigens mit demselben Konflikt zu tun wie in der Debatte um den so genannten BND-Ausschuss. Wer Bürgerrechte verteidigt, steht im Verdacht, Sicherheitsinteressen zu verraten. Das ist genau das Deutschland, das ich - trotz aller Werbung - nicht bin und auch nicht will. Ich will weiterhin einen sozialen Bürgerrechtsstaat. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, am kommenden Samstag werden wir übrigens hier in Berlin unmittelbar neben dem Reichstag, auf dem Platz des 18. März, an die Märzrevolution anno 1848 erinnern, und zwar - wie seit vielen Jahren - parteiübergreifend. Die Pressefreiheit war eines der Ziele dieser Revolution. Abschließend: Beide Anträge gehen in die Ausschüsse. Dort können wir über die Paragrafenfeinheiten verhandeln und auch darüber, ob ein Paragraf aus dem Jahre 1936, der vermeintlichen Geheimnisverrat unter Strafe stellt, so wie er im Moment gefasst ist, noch zeitgemäß ist. Man kann nicht einerseits Informationsfreiheit per Gesetz befördern und zugleich die Pressefreiheit per Gesetz beschneiden. Das ist widersinnig. Deshalb wird sich die Linke in den Beratungen über diese Entwürfe für eine Lösung zugunsten der Pressefreiheit und der Bürgerrechte sowie von mehr Demokratie einsetzen. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zum Abschluss der Debatte hat das Wort der Kollege Peter Danckert, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegin Pau, als ich Ihren Beitrag eben hörte, habe ich gedacht: Vielleicht sollten Sie einmal über die Zeit von 1945 bis 1989 reflektieren. Dann reden wir noch einmal gemeinsam über Pressefreiheit. ({0}) Das hier ist doch zum Teil wirkliche Heuchelei. Es tut mir Leid, dass ich das an dieser Stelle einmal sagen muss. ({1}) - Ja. Man muss ein bisschen in die eigene Vergangenheit zurückschauen, ehe man sich hier so aufspielt. ({2}) Aber jetzt komme ich zu dem Hinweis darauf, dass wir ganz am Anfang einer parlamentarischen Debatte stehen, die aus meiner Sicht notwendig ist. Die Verfahren der letzten Monate, vielleicht auch etwas länger zurückliegend, belegen aus meiner Sicht, dass es erforderlich ist, dass wir uns in aller Ruhe und ohne Eifer und Zorn über diese Fragen unterhalten. Ich denke, der Fall „Cicero“ ist kein schlechter Fall, um einmal exemplarisch darüber zu diskutieren, was dabei schief gelaufen ist, und um gemeinsam darüber zu beraten, was wir im Verfahren verbessern müssen. Im Zentrum, Kollege Kauder, steht doch die Pressefreiheit. Sie ist ein ganz hohes Gut. Das würden Sie gar nicht bestreiten; das weiß ich. Aber es gibt immer wieder Eingriffe in die Pressefreiheit. Ich als Abgeordneter muss ganz ehrlich sagen: Ich spreche gerne mit den Journalisten und ich fühle mich ihnen sehr verbunden, weil wir oft gar nicht die Möglichkeit haben, an Dinge zu kommen, die mit einem Mantel des Geheimnisses bedeckt sind. An wesentliche Informationen kommen wir gar nicht ohne die Hilfe der Journalisten. Nun sehe ich durchaus das Spannungsfeld zwischen dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit - nicht nur unseres - und dem Interesse der staatlichen Organe, bestimmte Dinge unter Geheimschutz zu stellen. Es besteht eine Differenzierung zwischen Staatsgeheimnissen im Sinne von § 93 StGB und den Geheimnissen im Sinne des § 353 d. Das ist ein erheblicher Unterschied. In diesem Bereich unserer strafgesetzlichen Regelungen wird sehr wohl unterschieden. Ich finde, diese Differenzierung müssen wir im Verhältnis zur Pressefreiheit nachvollziehen. Eines kann ich mir an dieser Stelle nicht verkneifen: Niemand in unserer Republik befindet sich in einer Situation, in der er nicht kritisiert werden darf. Wir werden permanent kritisiert. Ich halte Kritik auch für vertretbar - sie sollte nur nicht diskriminierend sein -, wenn wir mit staatsanwaltschaftlichem Vorgehen oder richterlichen Entscheidungen nicht einverstanden sind. Es ist nur immer die Frage, wie wir kritisieren. Aber dass sie außerhalb der Kritik stehen, das kann ich nicht erkennen. ({3}) - Auch in einem laufenden Ermittlungsverfahren! Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Auch in einem laufenden Ermittlungsverfahren muss es möglich sein, Dinge kritisch anzusprechen. ({4}) Aber immer in der richtigen Form; das will ich Ihnen gern konzedieren. Auf diesen Punkt muss man aufmerksam machen. Jetzt komme ich zu dem Verfahren, das im Zentrum unserer Überlegungen steht. Ich greife gern auf das Urteil zurück, das Sie eben ansatzweise zitiert haben, nämlich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. August 1966, die so genannte „Spiegel“-Entscheidung. Darin ist ganz klar ausgeführt worden - ich weiß nicht, ob das vor dem Hintergrund der Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse Bestand hat -, dass eine Durchsuchung und Beschlagnahme, die ausschließlich dem Zweck dient, den Informanten zu ermitteln, unzulässig ist. Das hat das Bundesverfassungsgericht klar gesagt und das kann man durchaus auf diesen Fall anwenden. Sie wissen wahrscheinlich wie ich, dass diese Beschlagnahme- und Beschwerdeentscheidung der Gerichte in Potsdam jetzt auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts steht. Eine Verfassungsbeschwerde wurde eingereicht. Wir werden sehen, was daraus wird. Der „Gehilfe“, der Journalist, war bekannt. Man wusste auch, dass das Dokument, aus dem er zitiert hat, unter Geheimschutz stand. Hier war also überhaupt keine Aufklärung mehr erforderlich. Dennoch hat man nach Wochen bzw. Monaten ganz gezielt versucht, den Haupttäter zu ermitteln. Das ist - wenn ich mir an dieser Stelle die Freiheit nehmen darf, das so zu bezeichnen ein Missbrauch unserer strafprozessualen Regeln. Das tangiert sehr wohl die Pressefreiheit, die ich an dieser Stelle ganz hoch hängen würde.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wie ich eingangs gesagt habe, befinden wir uns erst am Beginn dieser Diskussion. Lassen Sie uns gemeinsam alle relevanten Aspekte sehr sorgfältig analysieren. Wir sollten auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abwarten, um eine noch bessere Grundlage für unsere Beratungen zu haben. Vielen Dank und einen schönen Abend. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, die beiden Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/576 und 16/956 an die in der Tagesordnung vorgesehenen Ausschüsse zu überweisen. - Dazu gibt es, wie ich sehe, keine anderen Vorschläge. Dann ist so beschlossen. Damit rufe ich den Tagesordnungspunkt 14 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Branntweinmonopol und von Verbrauchsteuergesetzen - Drucksache 16/913 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Nach einer Verabredung zwischen den Fraktionen ist eine Aussprache von einer halben Stunde vorgesehen. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Als Erster erhält der Kollege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion, das Wort. ({1})

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich danke Ihnen ausdrücklich, Herr Oswald. - Wenn es um das Branntweinmonopol geht, kommt eigentlich Gemütlichkeit auf. Das sieht man auch an der Teilnahme hier im Saal. Von verschiedenen Seiten wurden sowohl Norbert Schindler als auch ich dringend gebeten, unsere Reden zu Protokoll zu geben. Da wir beide aber so gut „im Stoff“ sind - das hat allerdings nichts mit Branntwein zu tun ({0}) und wir nicht groß etwas aufgeschrieben haben, konnten wir nichts zu Protokoll geben. Wir müssen unsere Reden daher schlicht und einfach halten. Ertragt es mit Fassung. Für die betroffenen Landwirte, die neben ihrem landwirtschaftlichen Betrieb eine landwirtschaftliche Brennerei betreiben, ist dieses Thema allerdings von existenzieller Bedeutung; ({1}) daher nehmen wir es ernst. Die Betroffenen sitzen jetzt vor dem Fernseher; denn für sie ist dieses Thema von größter Bedeutung. ({2}) - Genau. Ich möchte auf die Vorgeschichte des vorliegenden Gesetzentwurfs hinweisen: Im Jahr 1999 haben wir das Branntweinmonopol grundlegend reformiert, indem wir die gewerblichen Brenner davon ausgenommen und das Monopol auf die landwirtschaftlichen Brennereien, die quasi eine Kreislaufwirtschaft repräsentieren, reduziert haben. Dadurch haben wir den Zuschussbedarf aus dem Bundeshaushalt deutlich verringert und die ökonomische Zukunft des verbleibenden Monopols verlängert. Das war die Überlegung, die damals dahinter stand. Später wurden auf EU-Ebene zwei kritische Diskussionsansätze zum Branntweinmonopol verfolgt. Die erste Frage, um die es ging, war, ob Korn ein landwirtschaftliches Produkt oder ein Industrieprodukt ist. Da man auf dieser Ebene von diesen Dingen keine Ahnung hat, hat man sich leider entschieden, es als Industrieprodukt einzustufen. ({3}) Daraus mussten Konsequenzen gezogen werden. In einer gemeinsamen Anstrengung haben wir es den Kornbrennern ermöglicht, dass sie nach wie vor ihren Getreidebrand herstellen und ihn zur Herstellung von Neutralalkohol abliefern können, wodurch wir insbesondere die ökonomische Basis für die vielen Westfalen, die davon betroffen sind, erhalten konnten. Die zweite Herausforderung war noch größer: Die Kommission hat generell hinterfragt, ob das Branntweinmonopol nicht insgesamt eine unzulässige Beihilfe darstellt. Hier hat sich die Bundesregierung wacker geschlagen. Dafür mein großes Lob! Wir haben es hinbekommen, dass dieses Monopol zumindest bis zum Jahr 2010 europafest erhalten bleibt und rechtzeitig, im Jahr 2009, über eine mögliche und vielleicht nötige Nachfolgeregelung diskutiert werden soll. Dieser gesamte Prozess mündete in dem heute erstmals zu beratenden Gesetzentwurf. Nun müssen bestimmte Maßnahmen, die im Zusammenhang damit stehen, dass dieses Monopol früher auch gewerbliche Brennereien beinhaltete, gesetzestechnisch bereinigt werden. Die Zuführung an die DKV, eine Einrichtung in Lüdinghausen - kennt kein Mensch außer den Westfalen -, wo Korn gereinigt worden ist, um ihn als Neutralalkohol weiterzureichen, braucht nicht mehr bedient zu werden, weil Korn als solcher aus dem Monopol herausgefallen ist. Die DKV hat ihren Auftrag rechtzeitig an die Monopolverwaltung zurückgegeben. Der entsprechende BeReinhard Schultz ({4}) trag steht dem Monopol jetzt für andere Zwecke zur Verfügung. Für die betroffenen Brennereien ist all das ein großer struktureller Umbau. Hier im Parlament sind kritische Diskussionen geführt worden - von uns und von anderen -, dass der Aufwand für die eigentliche Monopolverwaltung immer zulasten dessen geht, was an Brennrechten für die Brenner finanziert werden kann, und dass die sich gefälligst auf Sparflamme zu setzen hätten. Ich will bei dieser Gelegenheit loben, dass diese Appelle gehört worden sind: In der Monopolverwaltung wird außerordentlich wirtschaftlich gearbeitet, im wahrsten Sinne des Wortes auf Sparflamme. Die Monopolverwaltung hat kaufmännisches Talent an den Tag gelegt und nennenswerte Alkoholmengen in Bereiche verkaufen können, die nicht unter das Monopol fallen. Dies ging zugunsten der betroffenen Landwirte, ohne dass dadurch der Bundeshaushalt zusätzlich belastet wurde. Dass sich eine Verwaltung, die über 80 Jahre auf dem Buckel hat, so hervortut, sieht man nicht jeden Tag. Unsere Aufgabe wird es sein, diesen Prozess zu begleiten. Das ist zwar kein volkswirtschaftlich relevanter Bereich, aber er ist deswegen interessant - das sage ich aus Überzeugung -, weil die Landwirte, die in ihm wirtschaften, nur selbst erzeugtes Getreide brennen, die Rückstände dieses Brennprozesses an ihre Tiere verfüttern, wobei die Gülle und der Dung der Tiere erneut auf den Feldern ausgebracht wird, auf denen das Getreide wächst - Kreislaufwirtschaft im engsten Sinne. Das ist auch der Grund, weswegen die EU diese Beihilfe akzeptiert hat: Dafür sprechen ökologische Gesichtspunkte auch ein interessanter Punkt. Der größte Teil des Produkts landet in der kosmetischen Industrie und in der pharmazeutischen Industrie. Nur ein kleiner Teil landet in den beiden Leberlappen von Abgeordneten und anderen Feinschmeckern; das muss man auch einmal sagen. Es geht also weniger um die Subventionierung von Hartsäufern, sondern in erster Linie um die Förderung eines landwirtschaftlichen Prozesses, dessen Produkte in sehr viele unterschiedliche industrielle Verfahren einmünden. Zur Verkürzung der Frist für die Fälligkeit der Steuer: Das ist ein Gebot des Bundesrechnungshofs gewesen. Wir haben für die Fälligkeit bestimmter Verbrauchsteuern - Schaumwein oder Kaffee zum Beispiel relativ lange Fristen, viel länger, als jeder Kaufmann sie gewöhnlich hat; die Umsatzsteuervorauszahlung etwa muss pünktlich zum fünften des Monats eingehen. Fristen von 75 Tagen dagegen waren absolut großzügig und sind angesichts der Situation, die wir jetzt haben, nicht mehr hinnehmbar. Der Bundesrechnungshof wollte die Frist drastisch verkürzen: auf 35 Tage. Wir sind - so sind wir halt - gnädig und sagen: 50 geht auch in Ordnung. Das ist immer noch deutlich darunter und es erleichtert die Umstellung. Es kann aber durchaus passieren, dass wir diese Schraube irgendwann einmal noch ein wenig anziehen müssen; denn auch 50 Tage sind ein langer Zeitraum für die Fälligkeit einer Steuerzahlung. Unter dem Strich gesehen sind die betroffenen Branchen - im Wesentlichen die Schaumweinindustrie und die Kaffeeindustrie - aber damit einverstanden und es gibt keine größeren Schwierigkeiten, geschweige denn ökonomische Verwerfungen. Zum Schluss ein Appell - auch wenn das nicht sämtliche Abgeordneten massiv interessiert, allenfalls die aus den ländlichen Räumen -: ({5}) Wir sollten versuchen, diesen relativ positiven Ansatz des inzwischen über 80 Jahre alten Branntweinmonopols in einer modernen Form auch über 2010 hinaus zu retten. Ich gehe davon aus, dass Norbert Schindler - er hat den nächsten Redebeitrag - mir dabei helfen wird. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zwischendurch erlaube ich mir, dem Kollegen Dr. Volker Wissing von der FDP-Fraktion das Wort zu geben. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Auch mir war aufgefallen, dass gewissermaßen Herr Schindler schon angekündigt worden ist. Aber ich war ganz sicher, dass Sie auf eine ordnungsgemäße Debattenführung hinwirken werden. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es hat unter RotGrün begonnen und Schwarz-Rot macht so weiter: Sie entziehen den mittelständischen Unternehmen Liquidität, um Haushaltslöcher zu stopfen. ({1}) Zuerst war es die Vorziehung der Fälligkeit der Sozialbeiträge um einen Monat, durch die dem Mittelstand 20 Milliarden Euro entzogen worden sind. ({2}) Jetzt wollen Sie den Unternehmen weiter Liquidität entziehen, indem Sie durch eine Verkürzung der Fälligkeitsfristen von Verbrauchsteuern weiter Millionenbeträge abschöpfen wollen. ({3}) - Nach Ihrer Vorstellung, Herr Schultz, bereitet das den Unternehmen keine Probleme. Die Realität in Deutschland sieht aber anders aus: Die deutschen Unternehmen, die ohnehin nur eine sehr geringe Eigenkapitalquote haben, benötigen liquide Mittel. Sie müssen investieren. Wer die Liquidität mittelständischer Unternehmen einschränkt, schränkt ihre Flexibilität und damit ihre Wettbewerbsfähigkeit ein. Das gefährdet in den betroffenen Branchen Arbeitsplätze. ({4}) Sie machen einseitig Politik aus der Perspektive des Staates heraus, ganz nach dem Motto: Hauptsache, wir bekommen möglichst viel Geld in die Kassen. Das Schlimme ist nur, dass das zulasten der Menschen geht, die in diesem Land Verantwortung übernehmen, die anpacken und Arbeitsplätze schaffen wollen. Denjenigen machen Sie mit diesem Gesetz wieder das Leben schwer. ({5}) Die Frage ist: Wann bringen Sie endlich etwas auf den Weg, das unserer Wirtschaft hilft? Machen Sie endlich Ernst mit Ihren angekündigten Entlastungen! Stattdessen legen Sie uns eine Belastung nach der anderen vor und wundern sich, dass die Wirtschaft nicht in Schwung kommt und dass wir immer mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in unserem Land verlieren. Das kann doch nicht richtig sein. ({6}) Wenn Sie jetzt den Mittelstand erneut zur Kasse bitten, dann sollten Sie den Bürgerinnen und Bürgern auch offen sagen, was das für Folgen hat. Sie kassieren wieder mehr Steuern ab, machen sich dabei aber offenbar nicht klar, wozu das führt. Sie sollten den Beschäftigten der Sektkellereien und den Kaffeeproduzenten offen ins Gesicht sagen, dass Sie damit ganz konkret Arbeitsplätze in unserem Land gefährden. ({7}) Ich möchte Ihnen die Zahlen vorhalten: Die Zahl der Beschäftigten bei Spirituosenherstellern ist seit 1998 um fast 30 Prozent gesunken. ({8}) Die Zahl der Beschäftigten bei Sektkellereien ist im gleichen Zeitraum um 15 Prozent zurückgegangen. 10 Prozent der Spirituosenhersteller haben gleich ganz dichtgemacht, sie haben aufgeben müssen. Bei den Schaumweinherstellern ist der Umsatz seit 1998 um 23 Prozent zurückgegangen ({9}) Das betrifft besonders den ländlichen Raum. Ich freue mich, dass mein Kollege Norbert Schindler zu diesem sehr ernsten Thema gleich noch sprechen wird; denn die Belastungen treffen auch den Fassweinmarkt, weil sie an die Winzerinnen und Winzer vor Ort weitergegeben werden müssen. Trotzdem stellen Sie sich hier hin, Herr Schultz, und sagen, das sei alles nicht schlimm, man könne ruhig noch ein bisschen Liquidität abziehen. Die Sozialversicherungsbeiträge werden 13-mal kassiert, die Fristen werden vorverlagert, aber über Entlastungen für den deutschen Mittelstand redet man mal im Jahr 2008 oder am Sankt-Nimmerleins-Tag. Was ist das für eine Politik? Die Kuh, die Sie, meine Damen und Herren von der großen Koalition, mit Ihrem Gesetzentwurf erneut melken wollen, gibt langsam keine Milch mehr. Mit Ihrem Gesetzentwurf riskieren Sie weitere Arbeitsplätze in unserem Land. Das ist unverantwortlich. Bei 5 Millionen Arbeitslosen sollten Sie eine andere Politik machen. Alles, was Arbeitsplätze gefährdet, muss unterbleiben. ({10}) Egal, ob in den Bereichen der Spirituosen-, Schaumwein- oder Kaffeeherstellung: Unser Land hat keinen einzigen Arbeitsplatz zu verschenken. Die Haushaltssituation ist desolat und zweifellos dramatisch. Sie von Rot-Grün haben der großen Koalition einen Scherbenhaufen hinterlassen; das will keiner in Abrede stellen. Nur kommen Sie aus der Misere nicht heraus, wenn Sie unentwegt den Mittelstand belasten, der in Deutschland noch Arbeitsplätze schafft, der anpacken und dieses Land wieder nach vorne bringen will. ({11}) Das ist offenbar die Gruppe, die Sie sich für Ihre Belastungen besonders vorgenommen haben. Dabei sind Sie von der CDU/CSU nicht angetreten, um dem, was Rot-Grün hinterlassen hat, noch eins draufzusetzen. Ich erinnere mich in Sachen Mittelstandsförderung von Ihrer Seite noch an ganz andere Sätze. Der Gesetzentwurf, den Sie uns jetzt vorlegen, schwächt den deutschen Mittelstand und den ländlichen Raum. Eine höhere Schaumweinsteuer bedeutet eine Belastung für den deutschen Weinbau. Ich halte das für höchst bedenklich. Das ist unverantwortlich. Sie sollten sich endlich daran machen und Entlastungen für den Mittelstand in angemessenem Maße auf den Tisch legen. Sie sollten aufhören, eine Belastung nach der anderen vorzulegen. Dem kann man so nur eine Absage erteilen. ({12}) Was unser Land braucht, ist ein klares Bekenntnis zur mittelständischen Wirtschaft und nicht eine kleinkrämerische Finanzpolitik, mit der versucht wird, jeden Euro abzuschöpfen, weil Sie sich nicht auf echte Strukturreformen einigen können. Das haben wir heute Morgen schon in der Steuerdebatte gemerkt. So kommen Sie in Deutschland nicht weiter. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich gebe das Wort dem Kollegen Norbert Schindler, der bereits anmoderiert wurde. ({0})

Norbert Schindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Danke schön für die Anmoderation der doppelten Art. - Lieber Herr Volker Wissing, natürlich muss ich auf Ihre Feststellungen eingehen. ({0}) Seit den 80er-Jahren sind die Zeiten, in denen es in dieser Republik noch Wohlstandszuwächse gab, vorbei. Trotzdem haben wir alle, die im Parlament Verantwortung trugen - egal auf welcher Ebene -, bis weit in die 90er-Jahre hinein Wohlstand verteilt. Ich nehme die CDU hier ausdrücklich nicht aus. Seit dem letzten September haben wir den Wählerauftrag und wir leben mit einem strukturellen Defizit von 40 Milliarden Euro. Das weiß jeder. Wir, die Union, haben vor der Wahl angekündigt: Wenn wir drankommen, gibt es Mehrbelastungen für die Bürgerinnen und Bürger. Herr Dr. Wissing, unsere Glaubwürdigkeit muss ich hier nicht verteidigen. Wir haben diesbezüglich auch nichts zurückzunehmen. Natürlich haben Sie Recht, dass man in dem einen oder anderen Fall - wie jetzt bei diesem Gesetz - wieder Zahlungsfristen verkürzt. Herr Kollege Wissing, in dem gesamten Bereich geht es in der Summe um 7 Millionen Euro. ({1}) - Sie waren gestern auf Ihrem Landesparteitag und wir hatten eine Sitzung des Finanzausschusses. Das ist kein Vorwurf; ich verstehe das. Die Zahlen liefere ich Ihnen gerne nach. Insgesamt geht es um 7 Millionen Euro. ({2}) Sie haben von der Sektindustrie geredet. Ich könnte Ihnen jetzt die Sektkellereien nennen, nämlich zum Beispiel die Sektkellerei Schloss Wachenheim. Natürlich sind sie verärgert darüber, dass ihre Zahlungsfristen jetzt verkürzt wurden. Trotzdem: Im Etat von Herrn Müntefering haben wir Kürzungen des Staates bei der Wohlstandsverteilung in Höhe von 5,x Milliarden Euro beschlossen. Wir sind angetreten, die 40 Milliarden Euro durch Steuererhöhungen in Höhe von 20 Milliarden Euro und durch die Streichung von Steuervergünstigungen in Höhe von 20 Milliarden Euro gegenzufinanzieren, damit sich die Verschuldungssituation der nächsten Generation in diesem Staat nicht weiter verschärft. Wenn dieses Konzept falsch wäre, dann müssten wir in den Umfragen draußen mit dem Fahrrad unter den Teppich fahren. Das ist nicht so. Die Zustimmung breitester Schichten in diesem Volk sagt uns: Wir sind eigentlich gut unterwegs. Wir sind auch ehrlich und offen unterwegs und sagen: Alle müssen bei der Bewältigung der Zukunftsaufgaben Belastungen auf sich nehmen. ({3}) Solange es diese Solidarität draußen gibt, werden wir immer wieder eine Bestätigung erhalten. Den ehrlichen Schritt, den die Bundeskanzlerin dabei vorgibt, brauche ich nicht noch einmal besonders zu betonen. Herr Wissing, Sie haben auch die Rückgänge im Sektbereich angesprochen. Da ist was dran. Sie wissen, dass ich in der Weinwirtschaft zufällig gute Erfahrungen habe. In den letzten Wochen war ich wieder auf verschiedenen Jahresveranstaltungen. Auch in den künftigen Wochen werde ich wieder unterwegs sein, um zu den Korn- und Destillatherstellern zu gehen, und ich kenne auch die Gefühlslage der Destillathersteller. Das ist nicht das große Thema. Die Rückgänge beim Sektverkauf hängen damit zusammen, dass alternative Produkte auf den Markt gekommen sind. Das akzeptiert ja auch die gesamte deutsche Sektwirtschaft. Bezüglich der Destillation und des Branntweinmonopols habe ich mit den Beteiligten draußen diskutiert. Das muss man hier auch einmal mit Dankbarkeit sagen. Der Kollege Reinhard Schultz hat zu Recht darauf hingewiesen - ich darf das hier auch so offen sagen -: In all den sieben Jahren, in denen die SPD führend tätig war, ({4}) war auch unser guter zwischenmenschlicher Kontakt mit maßgeblich dafür, dass wir bei den Brennern nicht das erlebt haben, was die Europäische Kommission bereits seit sechs bis sieben Jahren will. Wenn wir über die Globalisierung reden, die manche Partei draußen gerne massiv vertritt, dann müssen wir auch über die Konsequenzen bei den Brennern nachdenken. Viele von uns waren unterwegs - ich will jetzt gar keine Protokolle dafür heranziehen - und haben gesagt: Eigentlich ist das, was die Europäische Kommission da vorhat, vernünftig. Nein, wir haben es gerettet, und zwar natürlich auch mit der Unterstützung dieses Parlaments. Dabei wurden Aspekte bezüglich der Destillate genannt: Streuobstwiesen und Offenhaltung der Landschaft. Für das, was die Destillathersteller in dieser Republik in Sonderdarstellungen auf den Weg gebracht haben, weil sie eigene Produkte verkaufen, hat der Staat 243 Euro pro Hektoliter Unterstützung gewährt. Es war der deutsche Einfluss, der trotz eines Beschlusses des österreichischen Parlamentes - weil Österreich in der gleichen Situation ist, gab es da Druck - das deutsche Sonderrecht bis zum Jahr 2010 gesichert hat. Dass wir wieder antreten werden, um darüber hinaus die Zukunft der gesetzlichen Regelungen zu sichern, hast du, Reinhard, schon deutlich gemacht. Dem kann ich nur beipflichten. Egal, ob es um 120 Millionen oder um 85 Millionen Euro geht: Der Berufsstand hat dies bis jetzt dankbar zur Kenntnis genommen. ({5}) Ich weiß, wovon ich rede. Es gibt auch Verständnis dafür, dass die Mittel in dem einen oder anderen Fall zusammengestrichen wurden. Auch wird zur Kenntnis genommen, dass der Abzug des Übernahmepreises, der in der Vergangenheit 10 Prozent betragen hat, auf 5 Prozent reduziert wird. Das bedeutet: Ab dem Jahr 2007 gibt es eine höhere Beihilfe. Auch das ist entsprechend gewürdigt worden. Im Zusammenhang mit der 50-Prozent-Regelung wurden in der Vergangenheit schon einige Opfer gebracht. Soweit zu der aktuellen Situation. Die Änderung dieses Gesetzes erfolgt nicht freiwillig, sondern auf Druck der Europäischen Gemeinschaft. Es geht in der Definition darum - das hat schon Herr Schultz gesagt -, bei dem Kornrecht eine Entschärfung in der Debatte mit der Kommission in Brüssel herbeizuführen. ({6}) Ich möchte noch ein Bedenken vortragen, das wir auch bei der Anhörung in den nächsten Wochen mit den Fachverbänden diskutieren werden. Was passiert bei den mehlhaltigen Getreidesorten? Eine Definition von „Korn“ gibt es so nicht mehr. Gibt es ein Umswitchen bei den Destillatherstellern, sodass diese dann in Italien oder anderswo Ersatz kaufen? Denn die deutsche Bundesmonopolverwaltung für Alkohol hat derzeit einen hohen Bedarf. Sie könnte mehr Alkohol am Markt verkaufen, als sie von uns zugestanden bekommt. Wegen der Gefahr von Swing-Geschäften der besonderen Art bin ich sehr gespannt darauf, die Meinung der Fachverbände zu hören. Schließlich sprechen wir heute in erster Lesung über dieses Gesetz. Es gibt bei den Destillaten noch große Chancen, egal ob das Alkohol- oder Kornbrenner sind; denn eine ganze Palette von einigen Hundert oder auch Tausend Betrieben in dieser Republik betreiben die Herstellung von Alkohol als Haupterwerb. Viele betrachten die Herstellung aber nur als Ergänzung oder Zuerwerb. In der Frage der Besteuerung von Biotreibstoffen befinden wir uns in der politischen Gestaltung. Natürlich muss für den Begriff Ethanol als Beimischung zu Benzin eine Lösung gefunden werden. Ich werbe ganz offen dafür, dass bei Diesel, aber auch bei Benzin mit Ethanol auf die Umwelt Rücksicht genommen wird. Die Kornbrenner und Alkoholhersteller dieser Republik sind bereit, dabei mitzuhelfen, um die zweite Generation sowohl bei Dieselersatz wie bei Benzinersatz - das ist technisch vorbereitet - in den nächsten fünf bis zehn Jahren auf den Markt zu bringen. Im Sinne der Wertschätzung der ländlichen Räume in unserer neuen Verantwortung zur Erfüllung des Protokolls von Kioto und auch in der Umsetzung der deutschen Gesetzgebung gibt es für uns eine Chance, weil wir in diesem Bereich als Zentralstaat in der Mitte Europas wie bei der Einführung des Katalysators wieder federführend sein werden. Dazu könnte man alle Bedenkenträger aus der Lobbywirtschaft der Vergangenheit, was wir auch jetzt wieder erleben, anführen. Wir werden deutliche Zeichen setzen, dass die Wertschöpfung in Verbindung mit der Ethanolproduktion für unsere Landstriche und die Erhaltung der ländlichen Räume - der neue Bauer nimmt auch energiepolitische Aufgaben wahr; das ist auch für sein Einkommen wichtig - in dieser Europäischen Gemeinschaft eine besondere Bedeutung hat. Das muss die andere Zielrichtung sein. Lassen Sie uns nicht kleinkariert über 7 Millionen Euro streiten; denn das wurde bereits akzeptiert. Danke schön. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll, Die Linke.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Branntweinmonopol ist - das konnte man eben verfolgen - sehr interessant. Einige von uns wissen sehr detailliert darüber Bescheid. Ich glaube, den meisten von uns geht das Wissen aber ab. Man kann höchstens im Gebrauch beurteilen, ob es sich um einen guten oder schlechten Wein bzw. um ein gutes oder schlechtes Destillat handelt. Ich finde aber den Verlauf der Debatte unter einem anderen Aspekt interessant. Herr Schindler hat eben auf die Ehrlichkeit abgehoben. Dabei kann ich mir den Hinweis nicht verkneifen, dass Sie im Sinne einer ehrlichen Politik sagen müssten, dass es nicht notwendig ist, 20 Milliarden Ausgaben einzusparen und Einsparungen im sozialen Bereich vorzunehmen. Nehmen Sie lieber mehr Geld ein! Besteuern Sie anderes, zum Beispiel bei der Vermögensbesteuerung! ({0}) Das müssen Sie sich auch um diese Tageszeit noch anhören. Die SPD hat das erreichte Ergebnis gelobt. Ich finde es aber auch interessant, dass die FDP krampfhaft versucht hat, etwas zu finden, was kritisiert werden kann. Wenn Sie ehrlich gewesen wären - insofern muss ich Ihnen zustimmen, Herr Schindler -, dann hätten Sie wenigstens sagen müssen, dass Sie der Subventionierung zustimmen. Das brachten Sie aber nicht über die Lippen. Ich denke, zum gegenwärtigen Stand wird das Expertengespräch sicherlich auch im Finanzausschuss zu einer Übereinstimmung führen. Sie haben aber zu Recht darauf hingewiesen, Herr Schindler, dass es noch andere Probleme gibt, die nicht mit der vorgesehenen Regelung abgegolten sind. Ich denke, dass noch weiter diskutiert werden muss, und zwar nicht nur über die Frage des Benzins, sondern auch - unter ökologischen Aspekten - über die Vermarktung des Obstes. ({1}) Damit kommen wir zu den Abfindungsbrennereien. Ich kann nicht verstehen, dass man dieses Thema nicht einbezieht, wenn man über Strukturveränderungen sprechen will. Ich verstehe nicht, warum es nur in sehr begrenzten Gebieten in Deutschland möglich sein soll, dass Bauern Streuobstwiesen betreiben und zum Beispiel alte Obstsorten wiederbeleben, aber auch die Möglichkeit haben, für die unmittelbare Abgabe an Gaststätten bzw. für einen Eigenbedarf von bis zu 300 Litern pro Jahr selber brennen zu können. In dieser Hinsicht besteht in Deutschland aufgrund des derzeitigen Monopols eine sehr veraltete Regelung. In anderen europäischen Staaten - zum Beispiel in Italien und Österreich - gibt es andere Regelungen. In Deutschland ist es so, dass man eine Verschlussbrennerei braucht und sehr viel investieren muss, wenn man mehr als drei Liter destillieren will. ({2}) - Drei Hektoliter. Danke. ({3}) Insofern ist die Frage berechtigt, warum das, was in anderen europäischen Ländern möglich ist, in Deutschland nicht geht. ({4}) In den vergangenen Jahren wurde das insbesondere von ökologisch orientierten Bauern immer wieder beklagt. Die Finanzgerichte mussten deren Vorhaben bisher aufgrund des Branntweinmonopols immer ablehnen. Wenn wir über Strukturanpassungen reden, so gehört auch dieses Thema dazu. Wenn andere europäische Staaten klug genug waren, Lösungen für entsprechende Kontrollen bei der Branntweinherstellung zu finden, dann sollte das auch hier möglich sein. Ich hoffe, dass wir in der Anhörung auch zu diesem Aspekt etwas erfahren können. In diesem Sinne freue ich mich auf das Gespräch und den heutigen Abend. Danke schön. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Kerstin Andreae gibt ihre Rede zu Pro- tokoll.1) ({0}) Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 16/913 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu 1) Anlage 2 gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Heinz-Peter Haustein, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Vorverlegung des Fälligkeitstermins für Sozi- alabgaben rückgängig machen und struktu- relle Reformen in der Rentenversicherung ein- leiten - Drucksachen 16/396, 16/627 - Berichterstattung: Abgeordnete Katja Kipping Für die Aussprache war eine halbe Stunde vorgese- hen. Allerdings werden die Reden zu Protokoll gegeben. Damit schließe ich die Aussprache.2) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/627 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Vorverlegung des Fälligkeitstermins für Sozialabgaben rückgängig machen und strukturelle Reformen in der Rentenversicherung einleiten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/396 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP und der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska Hinz ({2}), Kai Boris Gehring, Krista Sager, Rainder Steenblock und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Mehr Mobilität und Austausch durch ein integriertes EU-Bildungsrahmenprogramm - Drucksache 16/837 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Hier war ebenfalls eine halbe Stunde Debatte vorge- sehen gewesen. Die Reden werden aber zu Protokoll ge- geben.3) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/837 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- 2) Anlage 3 3) Anlage 4 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, Hellmut Königshaus, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Den Südsudan beim Wiederaufbau unterstützen und vor Aids bewahren - Drucksache 16/586 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4}) Auswärtiger Ausschuss Hier war ebenfalls eine halbe Stunde Aussprache vor- gesehen gewesen. Die Reden werden jedoch zu Proto- koll gegeben.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/586 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({5}), Britta 1) Anlage 5 Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Kettenduldungen abschaffen - Drucksache 16/687 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({6}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Hier werden ebenfalls alle Reden zu Protokoll gege- ben.2) Interfraktionell ist vereinbart, die Vorlage auf Drucksache 16/687 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 17. März 2006, 9 Uhr, ein. Nehmen Sie die gewonnenen Einsichten mit und haben Sie einen schönen Abend. Die Sitzung ist geschlossen.