Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich. Bevor wir in unsere Tagesordnung
eintreten, die nach Vereinbarung zwischen den Fraktionen erweitert werden soll, möchte ich zunächst dem Kollegen Kauder zu seinem 60. Geburtstag gratulieren, den
er vor wenigen Tagen gefeiert hat, und im Namen des
Hauses dazu meine und unser aller herzlichen Glückwünsche übermitteln.
({0})
Heute auf den Tag genau hat der Kollege Detlef Parr
seinen 67. Geburtstag. Das alleine wäre kein Grund für
eine Sondersitzung des Bundestages, aber ich weiß, dass
es ihm gut gefällt, dass seine voraussichtlich letzte Teilnahme an einer Sitzung des Deutschen Bundestages just
an seinem Geburtstag stattfindet. Deswegen nutze ich
die Gelegenheit gerne, meine guten Wünsche mit dem
herzlichen Dank für die gute Arbeit hier im Hause zu
verbinden.
({1})
Wir müssen zwei Wahlen zu Gremien vornehmen, bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten. Für den
Beirat der Schlichtungsstelle für den öffentlichen
Personenverkehr schlägt die Fraktion der CDU/CSU
die Kollegin Julia Klöckner und die Fraktion der SPD
die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß vor. Sind Sie mit
diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die beiden Kolleginnen in den Beirat der
Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr
gewählt.
Die Fraktion der SPD hat außerdem mitgeteilt, dass
der Kollege Dr. Dieter Wiefelspütz als stellvertretendes
Mitglied aus dem Vermittlungsausschuss ausscheidet.
Als Nachfolger wird der Kollege Klaus Uwe Benneter
vorgeschlagen. Sind Sie auch mit diesem Vorschlag einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist der
Kollege Benneter zum stellvertretenden Mitglied des
Vermittlungsausschusses gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, dass die heutige
Tagesordnung ergänzt werden soll. Bevor ich darüber sicherlich Einvernehmen herstelle, darf ich Ihnen mitteilen, dass auch der Kollege Gehrcke heute seinen
Geburtstag feiert, der natürlich genauso herzlich beglückwünscht sei.
({2})
Es gibt eine Vereinbarung zwischen den Fraktionen,
die heutige Tagesordnung um die Regierungserklärung
der Bundeskanzlerin zu den aktuellen Ereignissen in
Afghanistan zu erweitern. Als weiterer Zusatzpunkt soll
darüber hinaus über eine Reihe von Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses ohne Debatte abgestimmt werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 1 auf:
Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzlerin
zu den aktuellen Ereignissen in Afghanistan
Das Wort hat die Frau Bundeskanzlerin.
({3})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Letzte
Woche Freitag hat eine der schwersten militärischen
Auseinandersetzungen der Bundeswehr mit den Taliban
im Rahmen des ISAF-Einsatzes in Afghanistan stattgefunden. Zahlreiche Menschen haben ihr Leben verloren.
Über die Folgen, insbesondere über zivile Opfer, gibt es
widersprüchliche Meldungen. Das genau zu klären, wird
uns heute Morgen nicht möglich sein.
Umso mehr sage ich eines vorweg - und zwar ohne
jede Umschweife -: Jeder in Afghanistan unschuldig zu
Tode gekommene Mensch ist einer zu viel.
({0})
Redetext
Wir trauern um jeden Einzelnen. Jeder unschuldig Verletzte ist einer zu viel. Wir fühlen mit ihnen und ihren
Angehörigen. Unschuldig verletzte und zu Tode
gekommene Menschen, auch und gerade infolge deutschen Handelns, bedauere ich zutiefst. Es ist mir wichtig, dies heute als deutsche Bundeskanzlerin vor diesem
Hohen Haus und genauso dem afghanischen Volk gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Ich denke, ich sage das
in Ihrer aller Namen.
({1})
Afghanistan, dieses leidgeprüfte Land, hat eine bessere, eine friedlichere Zukunft verdient. Das ist unser aller Hoffnung. Wie in einem Brennglas werden in dem
Vorfall vom Freitag alle grundsätzlichen Fragen sichtbar, die wir uns seit Beginn des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan immer wieder stellen müssen. Deshalb ist es richtig, und ich sage, es ist notwendig, dass
wir darüber heute im Bundestag debattieren. Als deutsche Bundeskanzlerin möchte ich in diesem Hause festhalten:
Erstens. Die lückenlose Aufklärung des Vorfalls
vom letzten Freitag und seiner Folgen ist für mich und
die ganze Bundesregierung ein Gebot der Selbstverständlichkeit. Die Bundeswehr wird mit allen zur Verfügung stehenden Kräften genau dazu beitragen. Den Ergebnissen kann und will ich heute nicht vorgreifen. Ich
stehe dafür ein, dass wir nichts beschönigen werden,
aber ich stehe genauso dafür ein, dass wir Vorverurteilungen nicht akzeptieren werden.
({2})
Ich sage nach dem, was ich in den letzten Tagen erlebt
habe, ganz deutlich: Ich verbitte mir das, und zwar von
wem auch immer, im Inland genauso wie im Ausland.
({3})
Genau darüber habe ich auch mit dem NATO-Generalsekretär Rasmussen gesprochen, und zwar sehr unmissverständlich. Eine umfassende Bewertung des Angriffs und
seiner Folgen ist mir, ist dem Bundesminister der Verteidigung, ist der Bundesregierung insgesamt absolut wichtig. Auf der Grundlage aller Fakten wird sie erfolgen: offen und nachvollziehbar.
Zweitens. Der Kampfeinsatz der Bundeswehr zusammen mit unseren Partnern im Nordatlantischen
Bündnis in Afghanistan ist notwendig. Er trägt dazu bei,
die internationale Sicherheit, den weltweiten Frieden
und Leib und Leben der Menschen hier in Deutschland
vor dem Übel des internationalen Terrorismus zu schützen. Das stand am Anfang dieses Einsatzes, und das gilt
bis heute. Das ist unsere Überzeugung. Das fand und findet die Zustimmung der afghanischen Regierung, und
wir wissen, wie viele einfache Afghanen uns immer wieder bitten, sie im Kampf gegen die Taliban nicht allein
zu lassen.
({4})
Drittens. Die zweite Präsidentschaftswahl in
Afghanistan markiert den Beginn einer neuen Qualitätsstufe in den Beziehungen zwischen der internationalen
Staatengemeinschaft und dem Staat Afghanistan. Es stehen Entscheidungen über neue Schritte an, Entscheidungen, die getroffen werden müssen, und zwar auch, wenn
es den Vorfall vom Freitag nicht gegeben hätte. Mit der
zweiten Präsidentschaftswahl muss für die Autoritäten in
Afghanistan der Beginn der Übernahme eigener Verantwortung in einer neuen Qualität verbunden sein.
({5})
Ich bin mit Staatspräsident Sarkozy und Premierminister Brown der Auffassung, dass jetzt, nach der zweiten Präsidentschaftswahl, der richtige Moment ist, um
gemeinsam mit der neuen afghanischen Führung am
Ende dieses Jahres festzulegen, wie diese Verantwortungsübernahme messbar geschehen kann. Wir schlagen
deshalb dem Generalsekretär der Vereinten Nationen
vor, noch in diesem Jahr eine Konferenz einzuberufen,
bei der über Stand und Perspektiven der zukünftigen
Afghanistan-Politik zu befinden sein wird. Ich erwarte
auf dieser Konferenz Zielvorgaben zum politischen und
wirtschaftlichen Aufbau des Landes. Dabei wird die
Konferenz klarzustellen haben, dass und wie die afghanischen Verantwortlichen alles in ihrer Macht Stehende
tun müssen, um Kriminalität, Korruption und Drogenhandel zu unterbinden.
({6})
Die Konferenz wird außerdem weitere klar umrissene
Zielgrößen festzulegen haben, die die nächste afghanische Regierung auf gute Regierungsführung, auf Rechtsstaatlichkeit und auf die Einhaltung der Menschenrechte
verpflichten. Vor allem aber muss die Konferenz Zielvorgaben zur Zahl und Qualität der auszubildenden
afghanischen Sicherheitskräfte machen einschließlich
klarer Zeitvorgaben, in denen dies zu geschehen hat. Die
Konferenz wird festzuhalten haben, welches der beste
Weg ist, um unser Engagement gerade auch den lokalen
und regionalen Gegebenheiten des Landes anzupassen
und die jeweiligen Machthaber vor Ort auf die gemeinsamen Ziele verlässlich zu verpflichten.
Mit anderen Worten: Mit dieser Konferenz geht es
Frankreich, Großbritannien und Deutschland darum, die
Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir entschlossen eine international abgestimmte Übergabestrategie in
Verantwortung entwickeln können. Denn unser übergeordnetes politisches Ziel ist und bleibt ein Afghanistan,
das selbst für seine Sicherheit sorgen kann, ein Afghanistan, das wirksam verhindert, dass seine Regionen erneut Heimstatt des internationalen Terrorismus werden
können.
({7})
Innerhalb der nächsten fünf Jahre - das ist die Laufzeit des nächsten Afghan Compact - müssen hier substanzielle, qualitative Fortschritte erzielt werden, die es
den internationalen Truppen Schritt für Schritt ermöglichen, sich mehr und mehr zurückzuziehen. Das meine
ich, wenn ich von einer „Übergabestrategie in Verantwortung“ spreche. Diese Worte sind miteinander verbunden: Übergabestrategie in Verantwortung. Damit erreichen wir unser Ziel.
Viertens. Unser Engagement in Afghanistan war von
Anfang an auf das Miteinander von wirtschaftlicher
Entwicklung und Sicherheit ausgerichtet. Das eine
- so unsere Überzeugung - funktioniert ohne das andere
nicht. Beides muss ineinandergreifen. Deshalb beteiligt
sich die Bundesregierung mit erheblichen Mitteln an
Aufbau- und Entwicklungsprojekten: von der Infrastruktur über Bildungsprogramme bis hin zu Ausbildungsmaßnahmen für die Polizei. Es ist weitgehend auf das
beharrliche Engagement der Bundesregierung und auch
des Deutschen Bundestages zurückzuführen, dass nunmehr alle unsere Partner, auch alle in der NATO, von
diesem Ansatz überzeugt sind. Wurde die Bundeswehr
in der Vergangenheit oft als Brunnenbauer verspottet, so
ist die Politik der vernetzten Sicherheit heute Konsens
unter den Verbündeten. Das ist ein nachhaltiger Erfolg
deutscher Afghanistan-Politik.
({8})
Dafür danke ich allen, die daran mitgewirkt haben.
Ich danke allen in der Bundesregierung: dem Außenminister, der Entwicklungsministerin, natürlich dem
Verteidigungsminister und dem Innenminister. Nur auf
dieser Basis konnte die internationale Gemeinschaft in
diesem Sommer wirksam Unterstützung leisten, damit
die zweiten Präsidentschaftswahlen abgehalten werden
konnten. Die Menschen in Afghanistan haben unter teils
schwierigen Bedingungen ihre Stimme abgegeben. Sie
haben damit großen Mut bewiesen, und sie haben ein
Bekenntnis für Frieden, Einheit und Demokratie abgelegt. Ihnen gehört unser Respekt.
({9})
Wir verschließen dabei vor den Unzulänglichkeiten im
Umfeld der Wahlen nicht die Augen. Die Überprüfung
durch die Wahlbeschwerdekommission ist außerordentlich wichtig. Aber dass es - im Unterschied zu vielen anderen Staaten - eine solche Instanz gibt, zeigt den demokratischen Fortschritt, den wir in Afghanistan schon
sehen können.
({10})
Fünftens. Von Beginn an haben wir uns mit unseren
Partnern dafür eingesetzt, dass die Region über Afghanistan hinaus in Lösungsansätze einbezogen wird. So
hat der Bundesaußenminister einen solchen Prozess mit
Begegnungen der afghanischen und der pakistanischen
Regierung bereits frühzeitig eingeleitet. Er ist nunmehr
auch Teil der internationalen Strategie geworden.
Sechstens. Unser Weg zur Erreichung unserer Ziele
ist und bleibt vor allem anderen der Weg des gegenseitigen Vertrauens: des Vertrauens zwischen den Afghanen
und den Bündnistruppen, des Vertrauens zwischen der
afghanischen Regierung und den befreundeten Ländern
der internationalen Staatengemeinschaft und eines immer stärker werdenden Vertrauens der Afghanen in ihre
eigene Fähigkeit, ihre Zukunft wieder vollständig in die
eigene Hand zu nehmen. Ebenso zentral gehört dazu für
mich das Vertrauen der Menschen hier in Deutschland
darin, dass die Regierung und das Parlament alles unternehmen, was für die Sicherheit des Landes notwendig
ist, und zwar mit größtmöglicher Sorgfalt, unter strikter
Wahrung der Verhältnismäßigkeit und beständiger Überprüfung, ob der gewählte Weg der richtige ist.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich sagte
es zu Beginn: Wie in einem Brennglas werden in den
Folgen des Luftangriffs vom letzten Freitag alle grundsätzlichen Fragen sichtbar, die wir im Zusammenhang
mit unserem Einsatz in Afghanistan zu beantworten haben. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Wie in einem
Brennglas werden uns die drei Grundprinzipien vor
Augen geführt, die die deutsche Außenpolitik seit der
Gründung der Bundesrepublik Deutschland leiten:
Deutschland ist dem Dienst für den Frieden in der
Welt verpflichtet; so steht es in der Präambel unseres
Grundgesetzes.
({11})
Deutschland ist eine wehrhafte Demokratie; wir
schützen unsere Bürger, ihr Leben und ihre Unversehrtheit mit den zu Gebote stehenden rechtsstaatlichen Mitteln.
({12})
Deutschland steht in dieser Welt in festen Bündnissen
und Partnerschaften; deutsche Sonderwege sind grundsätzlich keine Alternative deutscher Außenpolitik.
({13})
Es ist Aufgabe jeder politischen Führung, diese drei
Prinzipien in der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit
immer wieder neu zur Geltung zu bringen. Das gehört
mit zu den schwersten Aufgaben. Denn letztlich geht es
um den Schutz von Leben
({14})
und bei den Aufträgen der Bundeswehr auch um den
Einsatz von Leben. Niemand täusche sich: Die Folgen
von Nichthandeln werden uns genauso zugerechnet wie
die Folgen von Handeln.
({15})
Das sollte jeder bedenken, der ein Zurseitetreten
Deutschlands bei der Bekämpfung des internationalen
Terrorismus auch und gerade in Afghanistan fordert.
Wir dürfen nie die Umstände vergessen, die die Bundesregierung unter der Führung meines Amtsvorgängers
und unter meiner Führung bis heute zum AfghanistanEinsatz bewogen haben: das von den Taliban und alQaida beherrschte Afghanistan,
({16})
das die Brutstätte des Terrors vom 11. September 2001
war. Am Freitag jähren sich die Anschläge zum achten
Mal. Dem 11. September 2001 folgten weitere verheerende Anschläge auch in Europa, in Madrid und London.
Auch Deutschland - das wissen wir - ist im Visier.
Die Vorhaben der Sauerland-Gruppe wurden glücklicherweise vereitelt; sie hätten verheerende Folgen haben
können. Die Ausbildung dieser Attentäter erfolgte in
Afganistan. Deshalb sollte niemand die Ursachen verwechseln: Der Afghanistan-Einsatz ist unsere Reaktion
auf den Terror - er ist von dort gekommen - und nicht
umgekehrt.
({17})
Der Einsatz der Bundeswehr war und ist im dringenden Interesse der Sicherheit unseres Landes. Er beruht
auf Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen. Die Entsendung unserer Soldaten ist seit
Anfang 2002 von jeder Bundesregierung verantwortet
worden. Die jährlichen Anpassungen und Verlängerungen haben jeweils eine breite Unterstützung im Parlament erhalten. Das ist nicht zuletzt im Interesse unserer
Soldatinnen und Soldaten ausgesprochen wichtig. Ich
danke ausdrücklich allen, die - auch aus der Opposition
heraus - bei diesen Entscheidungen Verantwortung übernommen haben. Unsere Soldatinnen und Soldaten
riskieren bei diesem Einsatz ihr Leben. Dafür haben wir
ihnen zu danken, genauso wie wir unseren Polizisten
und zivilen Aufbauhelfern für ihren Einsatz zu großem
Dank verpflichtet sind.
({18})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, das Handeln Deutschlands auf der Basis der drei Grundprinzipien deutscher Außenpolitik eröffnet die Möglichkeit,
dass Afghanistan ein stabiler, selbstständiger Partner im
Kampf gegen den internationalen Terrorismus wird und
keine Verbündeten mehr im eigenen Land braucht. Das
ist eine der schwierigsten internationalen Herausforderungen unserer Zeit. Sie zu meistern, ist mein Ziel und
das Ziel der Bundesregierung. Dafür arbeitet die Bundesregierung, und dafür bitte ich Sie um Ihre Unterstützung, auch in der Zukunft.
Herzlichen Dank.
({19})
Die nachfolgende Aussprache soll nach einer Vereinbarung unter den Fraktionen eine Stunde dauern. Ich will
der guten Ordnung halber auch hierzu förmlich Einvernehmen feststellen. - Das ist offenkundig der Fall.
Erster Redner in der Aussprache ist der Kollege
Dr. Guido Westerwelle für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, die Tatsache, dass Sie eine
Regierungserklärung angesetzt haben, aber auch der
überzeugende Inhalt dieser Regierungserklärung wird
von den Freien Demokraten nachdrücklich unterstützt.
({0})
Wir gehen davon aus, dass diese Regierungserklärung
eine Regierungserklärung der gesamten Regierung gewesen ist. Wir gehen davon aus, dass sich diejenigen
- 80 Prozent, 90 Prozent in diesem Hohen Hause -, die
den Afghanistan-Einsatz mit der Abgabe ihrer persönlichen Stimme beschlossen haben, hier jetzt keinen
schlanken Fuß machen. Ich glaube, dass diejenigen, die
den Afghanistan-Einsatz überparteilich mit beschlossen
haben, sich hinter dieser Regierungserklärung versammeln können. Hier haben Sie für Deutschland gesprochen.
({1})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, weil Sie dazwischenrufen, will ich Ihnen Folgendes sagen: Ich akzeptiere und respektiere, dass Sie eine andere Haltung haben. Ich hoffe aber eines: dass die Debatte im Anschluss
an diese Regierungserklärung keine Fortsetzung des
Wahlkampfes in diesem Hause wird.
({2})
Hier geht es nicht um Parteien, hier geht es um unser
Land; das ist es, worüber wir in dieser Stunde debattieren sollten.
({3})
Deswegen, Frau Bundeskanzlerin, möchte ich mit
Nachdruck begrüßen, dass Sie Worte des Mitgefühls
und der Trauer gesprochen haben. Sie haben diese
Worte für Deutschland gewählt. Das ist aus unserer
Sicht, aus Sicht der Freien Demokraten, richtig, angemessen, notwendig und überfällig gewesen, damit nicht
der Eindruck erweckt wird, die Fakten zu allem seien
schon bekannt und wir könnten abschließend urteilen.
Es ist richtig: Wenn Fehler gemacht worden sind,
müssen wir als ganzes Land die Verantwortung dafür
übernehmen. Richtig ist aber auch: Wenn man die Fakten noch nicht kennt, wäre es falsch, eine Vorverurteilung vorzunehmen. Deswegen - dieses kritische Wort
gehört dazu - ist es nicht in Ordnung, dass vor dieser
Debatte, vor dieser Regierungserklärung eine Informationspolitik stattgefunden hat, die mehr zur Verwirrung
als zur Aufklärung beigetragen hat. Die Regierungserklärung, die Sie abgegeben haben, war auch deswegen
überzeugend, weil Sie gar nicht den Versuch unternommen haben, zu behaupten, alles sei schon aufgeklärt. Es
wäre gut, wenn alle Kabinettsmitglieder vorher so gehandelt hätten.
({4})
Meine Damen und Herren, ich denke, es ist richtig
und wichtig, dass wir alle, die wir diesem Einsatz zugestimmt haben, die Verantwortung nicht abgegeben
haben.
({5})
- Das ist wahr. Mit „wir“ meine ich uns, die wir diesem
Einsatz zugestimmt haben. Es ist hinreichend bekannt,
dass Sie eine andere Haltung einnehmen. Das ist ja auch
Ihr gutes Recht. - Wir alle, die wir diesem Einsatz ja
auch aus der Opposition heraus zugestimmt haben, haben von Anfang an die Überzeugung gehabt, dass dieser
Einsatz so schnell wie möglich beendet werden soll.
Niemand schickt doch leichtfertig Soldaten in ein anderes Land, niemand schickt leichtfertig Soldaten nach
Afghanistan. Jeder, der diesen Beschluss gefasst hat,
möchte, dass unsere Frauen und Männer so schnell wie
möglich gesund zurückkehren.
Niemand tut das leichten Herzens. Wir tun das, um
die Sicherheit unseres eigenen Landes, der Bürgerinnen
und Bürger in Deutschland, in Mitteleuropa, zu gewährleisten und zu verbessern. Zuallererst deswegen sind wir
in Afghanistan. Es geht um die Freiheit und die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger.
({6})
Deswegen ist es auch richtig, dass wir gemeinsam
dem Ziel verpflichtet bleiben, so schnell wie möglich
aus Afghanistan rauszugehen. Das Ganze kann aber
weder kopflos noch überstürzt stattfinden; denn wenn
wir jetzt überstürzt und kopflos abziehen würden, dann
wäre Afghanistan am nächsten Tag wieder das Rückzugsgebiet der Terroristen in der ganzen Welt. Das kann
niemand ernsthaft verantworten.
Denjenigen, die es sich heute leicht machen, weil sie
an den Wahltag denken, möchte ich zurufen: Bedenken
Sie bitte auch, welche Diskussion es in diesem Lande
gäbe, wenn wir als Vertreter des Volkes, wissend, welche
Gefahr es für unser Volk gibt, so tun würden, als gäbe es
diese Gefahr nicht. Wenn etwas passiert, dann findet
plötzlich eine ganz andere Diskussion statt. Unsere Aufgabe ist es, zu verhindern, dass etwas passiert.
({7})
Deswegen möchte ich auch nachdrücklich darauf aufmerksam machen, dass die Idee, man könne den zivilen
Aufbau von dem militärischen Schutz trennen, nicht umgesetzt werden kann. Es würde kein einziges Krankenhaus in Afghanistan gebaut, es würde kein Brunnen gebohrt, es gäbe keine einzige Ärztin, die zum Beispiel
Kinder impft, und es gäbe keine Lehrerin, die unterrichtet, wenn keine Frauen und Männer der Bundeswehr dort
wären, die mit ihrem Leib und Leben dafür geradestehen, dass diese großartige zivile Aufbauleistung überhaupt stattfinden kann.
({8})
Frau Bundeskanzlerin, es ist gleichwohl notwendig,
dass wir feststellen: Wenn wir das Konzept der selbsttragenden Sicherheit im Bündnis durchsetzen wollen,
dann müssen wir auch unseren Verpflichtungen, die wir
international übernommen haben, nachkommen. Wir
kritisieren seit längerer Zeit, dass der Aufbau der Polizeischulung nicht in dem Umfang von uns wahrgenommen wird, wie wir uns international dazu verpflichtet haben.
({9})
Wenn wir raus aus Afghanistan wollen, ohne dass der
Terrorismus dort sofort wieder die Überhand gewinnt,
dann müssen wir dafür sorgen, dass es dort eigene staatliche Hoheits- und Sicherheitsstrukturen gibt. Deswegen
ist der Polizeiaufbau, die Schulung der Polizei, in Afghanistan von ganz besonderer Bedeutung. Dass derzeit lediglich 43 Polizeivollzugsbeamte dort wirken - das ist
weniger als die Hälfte der Anzahl, die wir im Rahmen
einer internationalen Verpflichtung bereitstellen wollten -, ist und bleibt ein Defizit, das wir uns hier gemeinsam ansehen müssen.
({10})
Ich denke, wir, die wir Verantwortung tragen, und zwar
alle, ob Regierung oder Opposition, müssen diesem
Thema, dem Aufbau der eigenen Staats- und Sicherheitsstrukturen in Afghanistan, mehr Nachdruck verleihen.
({11})
Das ist ein tragischer, furchtbarer Freitag gewesen,
bei dem wir alle noch nicht wissen, wie viele Opfer tatsächlich ums Leben gekommen sind. Wir wissen auch
noch nicht, wer wirklich welche Verantwortung trägt.
Aber eines möchte ich hier doch feststellen. Man kann es
sich nicht so einfach machen, zu sagen: „Das war die
Bundeswehr“, und das ist es dann auch gewesen. Ich
bitte, zu berücksichtigen, was in Deutschland losgewesen wäre, wenn diese beiden Tanklaster für einen
Anschlag gegen uns, unsere Verbündeten und unsere
Bundeswehr tatsächlich zum Einsatz gebracht worden
wären. Auch das muss, denke ich, in der Abwägung im
Rahmen einer wirklich sachlichen Bewertung angesprochen werden, und auch darauf möchte ich nachdrücklich
aufmerksam machen.
({12})
Deswegen hoffe ich von ganzem Herzen, dass eines
nicht passiert: dass unsere politische Auseinandersetzung, die naturgemäß drei Wochen vor einer Bundestagswahl verschärft ist, dazu führt, dass man sich mit
kleiner Münze einen Wahlkampf auf dem Rücken der
Frauen und Männer der Bundeswehr leistet. Sie leisten
einen großartigen Einsatz, und dafür möchte ich mich an
dieser Stelle bedanken.
({13})
Ich möchte jedenfalls für die stärkste Oppositionsfraktion in diesem Hause nachdrücklich unterstreichen,
dass wir uns mit dieser Linie einverstanden erklären und
dass wir sie unterstützen und kritisch begleiten werden.
Aber ich bleibe dabei: Das ist eine Angelegenheit, die
nicht zwischen Parteien im Wahlkampf besprochen werden sollte. Das ist kein Wahlkampfmanöver. Hier geht es
um unser Land; hier geht es darum, wie wir mit unserem
Land in der Welt dastehen. Es geht in Wahrheit um unsere Sicherheit, unsere Freiheit und unseren Frieden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat nun der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Noch wissen wir nicht genau, wie viele Menschen bei dem Luftangriff am vergangenen Freitag in
Afghanistan ums Leben gekommen sind. Noch wissen
wir nicht, wie viele Zivilisten unter den Opfern waren.
Aber eines wissen wir: Dieser Luftangriff war nicht irgendein bedauerlicher Zwischenfall, und wir können
nach diesem Ereignis natürlich nicht ohne weiteres zur
Tagesordnung übergehen. Dieser Freitagmorgen hat - ob
wir das wollen oder nicht - ein Schlaglicht auf unseren
Afghanistan-Einsatz geworfen und ihn neu ins Rampenlicht gerückt. Natürlich gibt es - das verstehe ich - darüber eine öffentliche Diskussion. Ich verstehe auch,
dass Diskussionen nicht nur bei uns, sondern auch im
europäischen und außereuropäischen Ausland geführt
werden.
Eines allerdings verstehe ich nicht - das können wir
auch nicht so lassen -, nämlich dass, bevor die Untersuchungen abgeschlossen sind, Vorverurteilungen, auch im
Ausland, stattfinden. Deshalb habe ich seit dem vergangenen Wochenende mit vielen europäischen Außenministern telefoniert und ihnen gesagt: Ihr müsst bitte
genauso abwarten wie wir, bis öffentlich beurteilt werden kann, ob der Einsatz gerechtfertigt war oder nicht.
({0})
Ich habe aber nicht nur mit den europäischen Kollegen telefoniert, sondern vor allen Dingen vorgestern
auch mit meinem afghanischen Kollegen, Herrn Spanta.
Ich habe ihm im Namen der Bundesregierung das Mitgefühl für die möglicherweise unschuldigen Opfer zum
Ausdruck gebracht, die es gegeben hat. Vor allen Dingen
habe ich ihm versichert, dass es bei unserer Philosophie
und unserem Verständnis des Einsatzes bleibt.
Niemand hier im Saal war so naiv, zu glauben, dass
der Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan nur
mit militärischen Mitteln zu gewinnen sei. Weit vor anderen haben wir gesagt, dass wir in Afghanistan nur
dann miteinander Erfolg haben werden, wenn wir diesem in 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg geschundenen
Volk helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Wir haben immer gesagt - dabei bleibt es -: Wenn es notwendig ist, gegen terroristische Kräfte vorzugehen, dann
müssen dabei zivile Opfer vermieden werden. Das war
unsere Politik in allen Gremien der NATO. Ich freue
mich, dass wir uns damit durchgesetzt haben. Aber ich
weiß auch: Wie immer die Untersuchung ausgeht, die im
Augenblick stattfindet, einfacher wird es insgesamt natürlich nicht. Ich sehe das ja im Augenblick auf den Straßen. Es gibt viele, die unterwegs sind und nach den ganz
einfachen Antworten suchen. Es werden Schilder mit der
Aufschrift „Sofort raus aus Afghanistan“ hochgehalten.
Menschlich kann man das noch nachvollziehen. Das ist
unangenehm. Das ist quälend. Es geht nicht schnell genug; es ist gefährlich. Aber ich sage auch: So menschlich
verständlich es ist, dass man sich von Aufgaben, die unangenehm sind, trennen möchte, möglichst nichts damit
zu tun haben will, so ist das gleichzeitig unpolitisch und
unhistorisch und deshalb nicht zu verantworten.
({1})
Viele, die so tun, als gäbe es eine einfache Antwort,
haben aus meiner Sicht ein paar Dinge vergessen, nämlich dass das Nein zum Irakkrieg und das Ja zu unserem
Afghanistan-Engagement zusammengehören
({2})
und dass am Anfang etwas war - das dürfen wir in einer
solchen Debatte nicht einfach zynisch übergehen -:
3 000 Opfer bei den Anschlägen in New York am 11. September. Ich habe in guter Erinnerung - weil ich damals
Verantwortung getragen habe ({3})
- hören Sie einen Augenblick zu, bevor Sie zynisch darauf antworten! -,
({4})
in welchem Zustand dieses Land war, als sich nach den
Anschlägen in New York in schneller Reihenfolge die
Anschläge auf Djerba und Bali sowie in Casablanca wiederholten, darunter immer deutsche Opfer. Ich habe in
guter Erinnerung, als die Anschläge näher kamen, nach
Madrid und London. Ich weiß, dass die Angst in diesem
Land davor ehrlich war, dass die terroristische Gefahr
nicht nur besteht, sondern dass Terroristen auch hier in
Deutschland zuschlagen könnten. Deshalb haben wir uns
engagiert. Vielleicht haben wir nicht zu jeder Zeit in
Afghanistan alles richtig gemacht. Das will ich auch gar
nicht behaupten. Aber niemand war so naiv, zu glauben,
dass wir dort nur mit militärischen Mitteln agieren könnten. Immer haben wir uns auf den Wiederaufbau konzentriert, weit vor anderen. Immer haben wir gesagt: Wir
müssen diesem geschundenen Volk auf die Beine helfen.
Und immer haben wir gesagt: Wir werden am Ende gemeinsam mit der afghanischen Regierung nur gewinnen,
wenn wir die Herzen der Afghanen gewinnen. Insofern
ziehe ich für mich noch immer die Zwischenbilanz: Wir
sind in unser Engagement in Afghanistan nicht kopflos
hineingestolpert. Weil das so ist, dürfen wir dort auch
nicht einfach kopflos hinaus. Das geht nicht. Das ist
nicht zu verantworten.
({5})
Wenn ich sage: „Wir können da nicht einfach kopflos
raus“, dann heißt das natürlich nicht - Herr Westerwelle,
hier haben Sie völlig recht -, dass die Aufgabe der Bundeswehr in Afghanistan eine Daueraufgabe ist oder sogar zu einer Daueraufgabe werden soll. Die Bundeswehr
ist zusammen mit den anderen europäischen Truppenverbänden, die dort sind, keine Besatzungsarmee. Deshalb sind wir nicht für die Ewigkeit da. Ich sage Ihnen
hier das, was ich schon vor diesen Ereignissen von Donnerstagnacht auf Freitagnacht und zur Wahl in Afghanistan gesagt habe, nämlich dass die Wahl eines neuen Präsidenten in Afghanistan ein Einschnitt sein muss. Ein
schlichtes „Weiter so“ kann es danach nicht geben. Was
wir dann von dem gewählten und im Amt befindlichen
afghanischen Präsidenten brauchen, ist eine klare Ansage, wie wir in welchen Schritten und in welchen Zeitabständen zu mehr afghanischer Eigenverantwortung
kommen. Im Kern geht es doch immer darum, dass die
Afghanen selbst Sicherheit im Land garantieren. Dazu
gehört ganz zuvörderst aus meiner Sicht, Herr Schäuble,
die Festlegung der endgültigen Stärke der afghanischen
Polizei ebenso wie die Festlegung der endgültigen
Stärke der afghanischen Armee. Darüber haben wir noch
keine Vereinbarung mit der afghanischen Regierung.
Das muss vereinbart werden, und das steht jetzt an.
({6})
Dazu gehören auch die Festlegung von Ausbildungsstandards für die afghanische Armee und die afghanische Polizei, die Festlegung von Ausrüstungsstandards
und natürlich auch - Herr Westerwelle, Sie haben das in
Bezug auf die Polizei angesprochen; die Polizisten, die
Sie genannt haben, sind nur die, die im europäischen
Rahmen im Einsatz sind; dazu kommen die, die wir im
bilateralen Polizeiausbildungsprojekt haben, aber im
Kern haben Sie recht - klare Verantwortlichkeiten innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft, damit klar
ist, wer für was zuständig ist und Verantwortung trägt.
({7})
Der geeignete Ort, das alles zu verabreden und dafür
klare Vereinbarungen mit dem neuen afghanischen Präsidenten zu machen, ist der Afghan Compact. Der steht
jetzt zur Neuverhandlung an. Wir müssen in diesem
Afghan Compact - das ist mein Ziel - klare Perspektiven
für die schrittweise Übergabe unserer Aufgaben in afghanische Hände festlegen. Für dieses Vorgehen werbe
ich seit Wochen. Ich darf Ihnen sagen: Es gibt wachsende Unterstützung, jedenfalls der europäischen Kollegen, für dieses Vorgehen. Das ist aus meiner Sicht der
einzige, aber, wie ich finde, ehrliche und verantwortliche
Weg, um eine Perspektive in Hinsicht auf Dauer und
Qualität unseres Einsatzes in Afghanistan zu gewinnen
und damit eben auch eine Perspektive für die Reduzierung deutscher Truppen in Afghanistan zu gewinnen,
eine Perspektive, von der ich sage, dass sie mit klaren
Zeitangaben unterlegt werden muss. Meine Bitte an alle,
außerhalb und innerhalb dieses Parlamentes, ist: Lassen
Sie uns bitte der Öffentlichkeit nicht vormachen, es gäbe
einen anderen Weg.
({8})
Ich erinnere mich - damit komme ich zum Schluss noch an meinen letzten Besuch in Afghanistan. 24 Stunden nach einem Angriff auf eine Patrouille, bei dem
zwei seiner Kameraden ums Leben gekommen sind,
habe ich mit einem jungen Soldaten gesprochen. Ich
habe länger mit ihm gesprochen, und er hat mir am Ende
des Gesprächs gesagt: Herr Außenminister, seien Sie sicher, wir wissen, warum wir hier sind; wir werden dieses
Land nicht in der Steinzeit zurücklassen.
({9})
Wir hier zu Hause, finde ich, dürfen nicht weniger verantwortlich reden als dieser deutsche Soldat in Afghanistan.
Herzlichen Dank.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Oskar Lafontaine,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundeskanzlerin hat noch einmal den Einsatz
der Bundeswehr in Afghanistan mit dem Argument gerechtfertigt, dieser Einsatz diene der internationalen
Sicherheit, er diene dem Frieden und er diene der Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Für meine
Fraktion möchte ich die gegenteilige Schlussfolgerung
ziehen: Wir fordern den Rückzug der Bundeswehr aus
Afghanistan, weil wir der festen Überzeugung sind, dass
der Einsatz der Bundeswehr nicht der internationalen Sicherheit dient, nicht dem Frieden und er auch nicht geeignet ist, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen.
({0})
In der Kürze der Zeit kann ich nur wenige Argumente
aufgreifen. Ein klassisches Argument, das immer wieder
ins Feld geführt wird, ist das Argument, ein deutscher
Sonderweg sei zu vermeiden; die Bundeskanzlerin hat es
ebenfalls wieder ins Feld geführt. Wäre dieses Argument
zutreffend, meine Damen und Herren, dann hätten wir
uns auch am Irakkrieg beteiligen müssen, dann wäre hier
der deutsche Sonderweg im Hinblick auf unsere internationalen Interessen nicht gerechtfertigt gewesen.
({1})
Sie haben dies als CDU-Vorsitzende damals auch so gesehen. Wäre das Argument des unzulässigen deutschen
Sonderweges richtig, dann hätten die Kanadier völlig
falsch entschieden, als sie jetzt schon ein Abzugsdatum
festgesetzt haben. Warum haben wir nicht zumindest den
Mut, uns so zu entscheiden wie die Kanadier?
({2})
Es ist interessant, dass Sie die zivile Komponente
heute wieder betont haben. Das ist im Moment leider
völlig unglaubwürdig; denn in den letzten Monaten ist
das krasse Gegenteil geschehen: Es ist nicht die zivile
Komponente gestärkt worden - das sollte man in einer
solch tragischen Situation nicht beschwören -, sondern
die militärische Komponente. Alles, was man hört, läuft
darauf hinaus, dass die militärische Komponente weiter
gestärkt werden soll. Man darf auch in einer solch
schwierigen Situation über diesen Sachverhalt nicht hinwegtäuschen.
({3})
Nun komme ich zum entscheidenden Punkt. Die Behauptung, Sie bekämpften den internationalen Terrorismus, wird von denen widerlegt, die, wenn man so
will, von der fachlichen Seite damit befasst sind. Es ist
doch gut, dass dies der Kommandeur McChrystal zum
ersten Mal in aller Klarheit festgestellt und Ihre Ausführungen hier krass widerlegt hat, ja, als - so möchte ich
einmal sagen - nicht rational, als nicht vernünftig, als
nicht nachvollziehbar dargestellt hat. Ich trage hier einmal vor, was dieser Kommandeur zu den Kampfeinsätzen, die Sie gerechtfertigt haben, vorgetragen hat. Er
sagt, dass der Krieg in Afghanistan nicht mit konventionellem militärischem Denken gewonnen werden könne,
das darauf abzielt, den Gegner zu bekämpfen. Aus konventioneller Sicht stelle sich die Tötung von zwei Aufständischen in einer Gruppe von zehn so dar, als seien
nur noch acht Gegner übrig. In einem von Clans und
Stämmen geprägten Umfeld wie Afghanistan sei es aber
so, dass die zwei Getöteten viele Verwandte hätten, die
nach solchen Vorfällen Rache schwörten. Im Fall von zivilen Opfern seien das sogar noch mehr als im Fall von
getöteten Kämpfern. So laute die Rechnung: „10 minus 2
ergibt 20“.
Das heißt, der verantwortliche Mann in Afghanistan
sagt Ihnen hier, dass die Kampfeinsätze zu nichts anderem führen als dazu, dass mehr Kämpfer rekrutiert werden. Wie wollen Sie angesichts dieses Sachverhalts hier
darstellen, Sie bekämpften den Terrorismus in Afghanistan?
({4})
Wie soll dabei überhaupt logisch argumentiert werden?
Nichts anderes ist in den letzten Jahren passiert. Deshalb hat sich die Anzahl der Anschläge erhöht, deshalb
ist das Land immer unsicherer geworden, deshalb haben
wir dort - vielleicht in guter Absicht - mehr Unheil angerichtet, Jahr für Jahr: Immer mehr Menschen sind ums
Leben gekommen, Soldaten und Zivilisten, Zivilisten
und Soldaten. Sosehr ich anerkenne, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie hier vorgetragen haben, dass Sie bedauern,
dass Zivilisten, also Unschuldige, ums Leben gekommen
sind: Ich bedauere - auch aufgrund meiner persönlichen
Erfahrung -, dass Soldaten dort ums Leben kommen. Ich
würde mir wünschen, dass dort, in Afghanistan, keine
Soldaten ums Leben kommen.
({5})
Was wir erkennen müssen, ist, dass wir dort gegen
eine Kultur kämpfen,
({6})
und dieser Kampf gegen eine Kultur ist nicht zu gewinnen. Die Kultur, um die es geht, hat der Oberbefehlshaber der ISAF ganz klar angesprochen. Wir haben es dort
mit einer Stammeskultur zu tun. Diese Stammeskultur
verpflichtet all diejenigen, die im Verwandtenkreis Tote
zu beklagen haben, auf Blutrache.
({7})
- An die Adresse der Grünen. Ich weiß, dass Sie jetzt
Schwierigkeiten haben: Sie haben diesen Krieg mitzuverantworten und wollen sich jetzt aus dieser Verantwortung herauswinden.
({8})
Das ist keine noble Haltung.
({9})
Sie müssen auch zu dieser Verantwortung stehen.
Wir sind der Auffassung, dass der Ansatz, der hier
vorgetragen worden ist - dass die zivile Komponente zu
verstärken sei -, natürlich letztendlich das Eingeständnis
ist, dass die militärische Komponente gescheitert ist,
weil sie die Folgen hat, die ich vorhin hier zitiert habe.
Man kann sich vor dieser Logik nicht wegdrücken. Wir
bewirken das Gegenteil von dem, was wir eigentlich bewirken wollen.
Dies wird durch die Erklärung der Dienste hier in der
Bundesrepublik auch noch bestärkt. Es ist gerade in den
letzten Tagen erneut gemeldet worden - wir haben immer wieder darauf hingewiesen -, dass die Dienste in der
Bundesrepublik sagen: Der Kampfeinsatz in Afghanistan, den die Bundeskanzlerin gerechtfertigt hat, erhöht
die Terroranschlagsgefahr in Deutschland. Ich frage
hier für meine Fraktion: Ist es Aufgabe der Bundesregierung, durch ihr Handeln dafür Sorge zu tragen, dass sich
die Terroranschlagsgefahr in Deutschland erhöht?
({10})
- Ja, es ist unglaublich, welche Politik Sie machen; da
haben Sie völlig recht. Sie haben kein rationales Argument, um diese Politik überhaupt noch zu rechtfertigen.
({11})
Am Schluss sage ich noch etwas zu dem häufig vorgebrachten Argument, es handele sich hier um einen
Hilfseinsatz, um eine humanitäre Intervention. Alle internationalen Organisationen, die sich in der Hilfe
engagieren, weisen immer auf folgenden Sachverhalt
hin: Mit viel weniger Geld könnte man ungleich mehr
Menschen vor dem Tod durch Hunger und vor dem Tod
durch Krankheit bewahren, ohne dass man einen einzigen anderen Menschen töten müsste. - Das ist das moralische Dilemma, in dem Sie stecken. Deshalb bleiben wir
bei der These: Krieg ist kein Mittel der Politik. Ziehen
Sie die Bundeswehr aus Afghanistan ab!
({12})
Das Wort erhält nun der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Lafontaine, lassen Sie mich eine Bemerkung zu Ihren Ausführungen machen. Wenn wir Ihrer
Aufforderung folgen würden, dann - der felsenfesten
Überzeugung bin ich - würde dies eine Gefährdung der
Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, eine Gefährdung ihrer Sicherheit bedeuten, weil Afghanistan wieder
zurückfallen würde: in den Status eines Ausbildungscamps für den Terrorismus und in die Herrschaft der Taliban. Dies wäre eine Bedrohung von Frieden, Freiheit
und Sicherheit in unserem Land. Deshalb können wir im
Interesse der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger
Ihrer Aufforderung nicht Folge leisten.
({0})
Die Ereignisse vom Freitag haben auch deutlich gemacht, in welch schwieriger Situation unsere Soldatinnen und Soldaten diesen Einsatz für unsere Sicherheit
leisten. Durch die bevorstehende Wahl und durch Debatten, die hier immer wieder geführt werden - dies registrieren die Taliban -, sind wir weiter in den Blickpunkt
der Taliban gerückt. Wir sind in Gefechtssituationen herausgefordert. Wir mussten uns in Kampfhandlungen bewähren, um Sicherheit dort zu gewährleisten. Die Situation vom Freitag hat aus meiner Sicht auch gezeigt,
welch konkrete Bedrohungslage dort für unsere Soldatinnen und Soldaten vorhanden war. Deshalb haben unsere Soldatinnen und Soldaten, die im Interesse unserer
Sicherheit ihr Leben riskieren und einen derartigen Einsatz auf sich nehmen, unseren Dank und unsere Unterstützung verdient.
({1})
Deshalb halte ich es auch für richtig, dass wir in einer
solch schwierigen Situation unseren Oberst, der die Entscheidung getroffen hat, nicht alleinstehen lassen, wenn
voreilig von schweren Fehlern gesprochen wird. Wir haben gleichzeitig andere Informationen - Sie kennen sie
wahrscheinlich - von dem Polizeichef von Kunduz, von
dem Gouverneur von Kunduz, von dem Geheimdienstchef von Kunduz, von dem Chef der ANA, sprich: der
Streitkräfte, von Kunduz und von dem Vorsitzenden des
Provinzrats. Sie haben in ihrer Erklärung gegenüber dem
Präsidenten festgestellt, dass bei dieser Situation Taliban
und deren Verbündete getötet worden sind.
Weil es jetzt auch andere Informationen gibt, ist es
notwendig und richtig, dass wir alles daransetzen, unseren Beitrag zur sachgerechten Aufklärung zu leisten. Ich
sage noch einmal: Wenn es zivile Opfer gegeben hat,
fordert dies unsere Anteilnahme und unser Mitgefühl.
({2})
Wir werden uns auch darum kümmern, dass die Situation vor Ort geregelt wird. Das halte ich für einen wichtigen Punkt. Aber um Entscheidungen in dieser Richtung
treffen zu können, muss erst das abschließende Untersuchungsergebnis vorliegen.
({3})
Wir hatten eine sehr konkrete Bedrohungslage im
Hinblick auf unser Lager in Kunduz. Als unser Oberst
erfahren hat, dass zwei Tanklastzüge durch Gewaltmaßnahmen in die Hände der Taliban gelangt sind - sie haben einen der Fahrer ermordet -, war ihm klar, dass dies
auch eine sehr konkrete Gefahrenlage für unsere Soldatinnen und Soldaten bedeutete. Meine Damen und Herren, versetzen Sie sich einmal in diesen Abwägungsprozess und in diese Situation: Er hatte durch klare
Aufklärungsmittel den eindeutigen Hinweis, dass es sich
ausschließlich um regierungsfeindliche Kräfte handelt
und dass vier Talibanführer dabei waren. Deshalb hat er
eine Gefahr für unsere Soldatinnen und Soldaten gesehen. Stellen Sie sich einmal vor, welcher Schaden durch
eine Detonation zweier solcher Tanklastwagen hätte angerichtet werden können. Wir haben das sehr konkret in
Kabul gesehen. Mit der Entscheidung, die unser Oberst
in dieser schwierigen Situation getroffen hat,
({4})
darf man ihn nicht alleinlassen. Ich finde, es ist richtig,
wenn man unsere Soldatinnen und Soldaten in dieser
schwierigen Situation unterstützt, statt sie mit Vorverurteilungen alleinzulassen.
({5})
Ich denke, dass es richtig und notwendig ist - ich habe
auch mit General McChrystal darüber gesprochen -, dass
wir in dieser Situation einerseits alles tun, um ordnungsgemäß aufzuklären, dass wir andererseits aber auch weiterhin gemeinsam im Rahmen von ISAF und NATO unseren Auftrag zur Gewährleistung von Stabilität und
Sicherheit in Afghanistan erfüllen. Denn man muss
auch sehen, welche Erfolge wir dort bereits erzielt haben. Wir dürfen nicht verkennen, was sich alles erheblich verbessert hat: die Bildungschancen junger Menschen, die Situation der Universitäten, die medizinische
Versorgung, die Infrastruktur bis hin zu einer Informationsgesellschaft. Es geht schrittweise voran. Das gilt
auch für die Unterstützung und Ausbildung der afghanischen Kräfte. Die vergangene Wahl ist nach 30 Jahren
Bürgerkrieg die erste Wahl, die in Verantwortung der
afghanischen Regierung und im Wesentlichen abgesichert durch afghanische Kräfte durchgeführt worden ist.
Inzwischen führen die ANA-Streitkräfte 50 Prozent der
Einsätze selbst durch.
({6})
Wir konnten bereits die Stadt Kabul in die Sicherheitsverantwortung Afghanistans übergeben. Die Tatsache,
dass im Norden, in unserem Verantwortungsbereich, bis
zu 60 Prozent der Bürgerinnen und Bürger zur Wahl gegangen sind, trotz der Drohung der Taliban, ihnen die
Finger abzuhacken, wenn sie daran die blaue Tinte als
Zeichen für die Teilnahme an der Wahl finden, ist ein
Ausdruck von Mut der Bevölkerung und auch ein Beweis für Stabilität und zukünftige positive Entwicklung.
({7})
Ich kann nur unterstreichen, dass wir weiterhin unseren Beitrag zur Umsetzung der vernetzten Sicherheit
leisten, um das Vertrauen der Menschen dort zu gewinnen. Als ich in diesem Jahr in Kunduz war, haben mir
die Bürgerinnen und Bürger versichert, dass 90 Prozent
der Bevölkerung an unserer Seite stehen. Wir werden auf
der Afghanistan-Konferenz alles daransetzen, um eine
klare Zielorientierung zu entwickeln - Ausbildung von
Streitkräften und Ausbildung von Polizei -, damit Afghanistan selber in der Lage ist, für seine Sicherheit zu
sorgen.
Die Bundeswehr wird im Interesse der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger weiterhin ihren Beitrag
leisten; denn dies ist für die Gewährleistung von Frieden
und Freiheit gerade auch in unserem Land von entscheidender Bedeutung.
Recht schönen Dank.
({8})
Der nächste Redner ist Jürgen Trittin für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Jung, Sie haben mit Ihrem, wie ich finde,
recht hilflosen Auftritt hier eines belegt:
({0})
Die Informationspolitik dieser Bundesregierung zu Afghanistan ist ein Desaster. - Das sagt einer Ihrer Amtsvorgänger, Volker Rühe.
({1})
Überhaupt, liebe Frau Merkel, ist Ihr Umgehen mit
Afghanistan eigentlich nur mit dem Wörtchen „verdruckst“ zu beschreiben.
({2})
Trotz dieses schwersten Zwischenfalls, den es gegeben
hat, mussten Sie von der Opposition zu dieser Regierungserklärung getrieben werden. Sie mussten vor Jahren
von uns dazu getrieben werden, endlich einmal unsere
Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan zu besuchen.
Ehrlich gesagt: Das ist beschämend. Eine offene Haltung
hierzu wäre angemessen gewesen.
({3})
Das haben Sie heute nur mühsam versucht nachzuholen.
({4})
In Afghanistan führen die Taliban einen Bürgerkrieg.
Für den Tod unschuldiger Zivilisten, für hinterhältige
Morde sind in erster Linie sie verantwortlich.
({5})
Sie sind es, die das Völkerrecht nicht einhalten. Sie bringen den schmutzigen Krieg in die Dörfer.
({6})
Mit Blick auf Sie, Herr Lafontaine, sage ich: Dass es in
Afghanistan Krieg gibt, heißt nicht, dass die Bundeswehr dort einen Krieg führt.
({7})
Ich will das mit einem Zitat belegen:
Die Bundeswehr ist in Afghanistan nicht im Krieg
… Sie arbeitet auf der Grundlage des völkerrechtlichen ISAF-Mandats zur Stabilisierung des Landes.
({8})
Das stammt von Wolfgang Nešković, dem Rechtspolitiker Ihrer Fraktion. Ich sage Ihnen: Wolfgang Nešković
hat vollständig recht. Aber dann dürfen Sie hier nicht
solche Reden halten, wie Sie sie gehalten haben.
({9})
Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr haben einen schwierigen Auftrag. Sie riskieren ihr Leben,
und sie sollen das Leben Unschuldiger nicht gefährden.
Das verdient Respekt und Anerkennung. Deswegen
kann es in dieser Debatte nicht darum gehen, irgendwelche Schuldigen zu finden. Aber es geht in der Tat darum,
die Fakten auf den Tisch zu legen.
({10})
Es kann nicht akzeptiert werden, dass diese Operation
verniedlicht wird. Frau Merkel, es handelt sich hier nicht
um irgendeinen Vorfall. Es handelt sich um einen Einschnitt, der deutlich machen kann und der in der Öffentlichkeit den Eindruck hat entstehen lassen, dass
Deutschland in Afghanistan zu einer anderen - ich sage
an dieser Stelle: zu einer falschen - Strategie übergegangen ist. Darum geht es.
Wenn es zivile Opfer gegeben hat, dann muss man zu
dieser Verantwortung auch stehen. Wie man damit anders als Herr Jung umgeht, hat der Oberkommandierende
von ISAF, Stanley McChrystal, bewiesen. Er hat sich so
verhalten, wie wir es uns lange gewünscht haben: Nach
dem Vorfall hat er sich an den Ort des Geschehens begeben. Er hat mit den Opfern gesprochen. Er hat sich entschuldigt. Er hat sich also gemäß den neuen Einsatzrichtlinien für solche Zwischenfälle verhalten, die lauten:
„apologize“, „compensate“, „investigate“ - entschuldigen, entschädigen und dann untersuchen. Das ist die richtige Reihenfolge, und die hätte ich mir auch von unserem
Bundesverteidigungsminister gewünscht.
({11})
Wie sind Sie vorgegangen? Sie haben als Erstes die
Unwahrheit gesagt. Sie haben behauptet, das Ganze habe
sich in 40 Minuten abgespielt. Die Wahrheit ist: Es hat
sechs Stunden gedauert. Es hat übrigens zwölf weitere
Stunden gedauert, bis nach dem Bombardement Aufklärer vor Ort gewesen sind. Das ist das Ergebnis der Unterrichtung, die Sie uns heute in den Ausschüssen gegeben
haben. Schließlich haben Sie gesagt, Sie seien sicher, es
habe keine zivilen Opfer gegeben. Im Ergebnis geben
Sie heute zu, dass eine solche Möglichkeit nicht auszuschließen ist. Ihr Grundsatz ist ein anderer als der, den
die Amerikaner an dieser Stelle beherzigt haben. Ihr
Grundsatz lautet offensichtlich: Vertuschen, leugnen
und, wenn es gar nicht anders geht, sich für das entschuldigen, was man vorher bestritten hat. Diese Haltung
macht die Akzeptanz dieses Einsatzes in der Bevölkerung, in diesem Deutschen Bundestag so unerträglich
schwer.
({12})
Sie sind heute zu einer Belastung für die deutsche Afghanistan-Politik geworden. Sie haben mit Ihrer Haltung
inzwischen dafür gesorgt, dass Deutschland in einen
scharfen Gegensatz zu seinem engsten Verbündeten, den
USA, geraten ist und dass im Rat der Außenminister
diese Isolierung kollektiv kritisiert worden ist. Dass es
durch den Bundesverteidigungsminister dazu gekommen
ist, dafür tragen Sie, Frau Merkel, die Verantwortung.
Über diesen Punkt muss man diskutieren.
({13})
Ich will an dieser Stelle etwas hinzufügen. Wir führen
seit drei Jahren eine Debatte um den Begriff der vernetzten Sicherheit. Wir haben in diesem Haus einen
ziemlich breiten Konsens, dass dies der richtige Ansatz
ist, um Afghanistan zu stabilisieren. Nur müssen Sie sich
nach drei Jahren der Diskussion und nach vier Jahren
Regierungszeit die Frage gefallen lassen: Was ist mit
dem Ansatz der vernetzten Sicherheit geschehen? Da
stellen wir fest: Es ist zwar möglich, in Wochenfrist beispielsweise den Einsatz von AWACS-Flugzeugen, die
dort noch gar nicht angekommen sind, freizugeben. Aber
Sie sind nicht in der Lage gewesen, die Zahl der Polizistinnen und Polizisten auf das Maß zu bringen, das diese
Regierung international zugesagt hat.
({14})
Das heißt, Sie reden von vernetzter Sicherheit; aber Sie
setzen sie nicht um.
Was sollen wir denn davon halten, wenn Sie heute in
Ihrer Regierungserklärung sagen: „Ich habe mit Gordon
Brown die Abhaltung einer internationalen Konferenz
verabredet“? Wir hätten von Ihnen erwartet, dass Sie
dem Parlament, der deutschen Öffentlichkeit im Rahmen
einer Regierungserklärung in aller Deutlichkeit sagen,
mit welchen Vorstellungen, mit welchen Maßnahmen
und mit welchen Zeitplänen Sie, die Bundesregierung,
zu dieser Konferenz gehen. Wir sind sehr wohl der Auffassung, dass es einer zeitlichen Abzugsperspektive genauso bedarf, wie es einer zeitlichen Aufbauperspektive
bedarf. Aber von vernetzter Sicherheit und vom Afghan
Compact zu reden und nicht eine einzige konkrete Maßnahme vorzuschlagen, ist die Ankündigung, mit dem
fortzufahren, was Ihre Afghanistan-Politik der letzten
Jahre gekennzeichnet hat, nämlich durchwursteln, um
bloß nicht aufzufallen, weil Sie wissen, wie unpopulär
das Thema ist. Das ist mit dem Geschehen am letzten
Freitag geplatzt.
({15})
Ich sage Ihnen eines: Alle Argumente gegen die
Linkspartei, die sagt, wir würden die Truppen sofort abziehen, dahin gehend, ein solches Vorgehen würde die26308
ses Land in einen Bürgerkrieg ganz anderen Ausmaßes
stürzen, sind richtig. Es ist falsch, diese Forderung zu erheben. Aber ich sage Ihnen auch: Wenn Sie mit dieser
Politik des Durchwurstelns so weitermachen, werden Sie
am Ende genau da landen, wo die Linkspartei schon
heute ist, nämlich in einem kopflosen Abzug, weil Sie
die notwendigen Anforderungen für den zivilen Aufbau
und für den Polizeiaufbau nicht auf die Reihe bekommen
haben. Deswegen muss Schluss sein mit diesem Durchwursteln; denn das führt ins Chaos, auch in Afghanistan.
({16})
Das Wort hat nun der Kollege Eckart von Klaeden,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Herr Kollege Trittin, ich finde es außerordentlich bedauerlich, dass Sie wenige Tage vor der Bundestagswahl der
Versuchung nicht widerstanden haben, die AfghanistanDebatte zu einer Wahlkampfdebatte zu machen.
({0})
Ich habe nichts dagegen, im Wahlkampf über Afghanistan zu sprechen. Aber die Art und Weise, wie Sie den
Vorfall und seine Folgen vom letzten Freitag, die noch
aufgeklärt werden müssen, als Tatsachen dargestellt haben, und wie Sie dies versucht haben in einen Vorwurf
gegen die Bundesregierung umzuwandeln, ist in hohem
Maße unseriös.
({1})
Sie hätten durchaus sagen können, dass nach all dem,
was uns bisher an Erkenntnissen vorliegt, festzustellen
ist, dass den beteiligten Soldaten, insbesondere dem
Oberst, der den Befehl gegeben hat, keine Pflichtverletzung vorzuwerfen ist, dass die Informationen, aufgrund
derer die Entscheidung getroffen wurde, ganz wesentlich
auch aus amerikanischen Quellen stammen und dass die
Wirkung der eingesetzten Waffe - ihm wurde eine andere vorgeschlagen - aufgrund der Entscheidung des
deutschen Offiziers geringer ausgefallen ist. Diese Aspekte gehören zur Wahrheit dazu. Sie hätten sie erwähnen müssen, wenn es Ihnen tatsächlich um eine sachgerechte Beurteilung und nicht um Wahlkampf gegangen
wäre.
({2})
Herr Lafontaine hat wieder einmal vorgeführt, wie
man in der Debatte um den Afghanistan-Einsatz Ursache
und Wirkung verwechseln kann. Es ist richtig: Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus ist gefährlich. Sie ist mit Gefahren verbunden, nicht nur in Afghanistan, sondern auch hier. Aber noch viel gefährlicher
wäre es, den Forderungen der Terroristen nachzugeben
und Afghanistan im Stich zu lassen.
Lassen Sie uns einmal einen Blick auf die Ideologie
derer werfen, die nicht nur die Bundeswehr und ihre Verbündeten in diesem internationalen Einsatz bekämpfen,
sondern vor allem den Aufbau der islamischen Republik
Afghanistan verhindern und untergraben wollen. Ihr Ziel
ist es, alle sogenannten Ungläubigen vom muslimischen
Boden zu vertreiben oder zu töten. Dabei befinden sich
vor allem auch die moderaten Kräfte in der islamischen
Welt in ihrem Fadenkreuz, weil sie aus Sicht dieser islamistischen Ideologen als Verräter gelten. Diese Terroristen hassen uns nicht für das, was wir tun, sondern für
das, was wir sind. Deswegen dürfen wir hier nicht nachgeben.
({3})
Wenn wir uns jetzt unverrichteter Dinge aus Afghanistan zurückzögen, wäre das ein enormer Propagandaerfolg für al-Qaida. Es wäre auch eine enorme Schwächung der moderaten Kräfte in der islamischen Welt, mit
denen wir gemeinsam Strukturen von Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit aufbauen wollen. Bin Laden behauptet, dass er in den Jahren von 1979 bis 1989 den ersten
großen Satan, die UdSSR, niedergerungen habe. Er
würde im Falle eines Rückzugs behaupten, er habe auch
den zweiten großen Satan, nämlich die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten im Westen, niedergerungen.
Dabei spielt es keine Rolle, von wem die Vereinigten
Staaten regiert werden.
Wir dürfen den Fehler, den die internationale Gemeinschaft in den 90er-Jahren gemacht hat, nämlich sich
nicht weiter um Afghanistan zu kümmern, nicht wiederholen. In den 90er-Jahren hat in Afghanistan ein Bürgerkrieg getobt. In dieser Zeit ist in den Medressen, in den
Koranschulen, im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet die Taliban-Bewegung - „talib“ heißt Schüler - entstanden. Den Taliban ist es mithilfe des pakistanischen
Geheimdienstes in einem langjährigen Bürgerkrieg gegen die Nordallianz, die vom Iran und von Russland unterstützt wurde, gelungen, die Macht in Afghanistan zu
ergreifen.
Gerade diese Verhältnisse haben Afghanistan zu einem Rückzugsraum für internationalen Terrorismus werden lassen. Würden wir uns jetzt zurückziehen, bestünde
die Gefahr, dass sich die Geschichte der 90er-Jahre wiederholt, dass es wieder zu einem solchen Bürgerkrieg
kommt und dass wir dasselbe Chaos, dieselben Gefahren
zu gewärtigen hätten, allerdings unter wesentlich
schlimmeren Voraussetzungen; denn damit wäre ein propagandistischer Erfolg für al-Qaida verbunden. Die Auswirkungen auf extremistische Kräfte in der muslimischen Welt wären unvorstellbar.
Wir würden aber auch noch mehr Schwierigkeiten mit
der Stabilisierung Pakistans bekommen. Pakistan zu
stabilisieren, ist schon heute eine sehr schwierige Aufgabe; wenn Afghanistan verloren ginge, wäre sie nahezu
unmöglich. Pakistan ist eine Nuklearmacht. Erinnern wir
uns an die Ereignisse der letzten Monate und Jahre, die
wir in Pakistan haben zur Kenntnis nehmen müssen: die
Kämpfe um die Rote Moschee, die Ermordung von
Benazir Bhutto, den Anschlag auf das Marriott-Hotel,
die Anschläge in Bombay auf das Taj-Mahal-Hotel und
andere Hotels sowie den Anschlag auf die sri-lankische
Kricketnationalmannschaft in Lahore. All diese Terroranschläge haben in Pakistan und im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet ihren Ursprung.
Wer sich in den letzten Tagen und Wochen die Zeit
genommen hat, den Prozess um die Sauerlandgruppe zu
verfolgen, der hätte zur Kenntnis nehmen können, dass
einerseits die Erfolge in Afghanistan so groß sind, dass
für die Terroristen heute das Wirken in diesem Grenzgebiet wesentlich schwieriger ist als vor einigen Jahren,
dass die Netzwerke aber nach wie vor vorhanden sind.
Deutsche Muslime sind in dieses Grenzgebiet gereist,
um sich dort ausbilden zu lassen, um in Tschetschenien,
im Irak oder bei uns Anschläge zu verüben. Es ist richtig: Wir sind in Afghanistan noch lange nicht am Ziel.
Aber zu unserer Strategie der Stabilisierung gibt es keine
Alternative. Unser Einsatz ist nicht auf Dauer, sondern
auf Verlässlichkeit und Erfolg ausgerichtet.
({4})
Die Wahlen, die vor wenigen Wochen in Afghanistan
stattgefunden haben, sind bei allen Defiziten ein beeindruckendes Beispiel für den Fortschritt im Land. Die
afghanischen Präsidentschaftswahlen haben bei allen
Gefahren, denen die Wählerinnen und Wähler ausgesetzt
waren, mit einer höheren Beteiligung stattgefunden als
die Europawahlen in Deutschland. Sie sind weniger blutig gewesen als die Parlamentswahlen 2004 in Spanien.
Sie sind freier gewesen als die Präsidentschaftswahlen
im Iran oder in Russland.
({5})
Das ist ein enormer Fortschritt für Afghanistan, den wir
nicht aufgeben dürfen. Deswegen ist es falsch, vordergründig über Abzugspläne oder gar über Daten zu sprechen; das würde den Taliban nur deutlich machen, wie
lange sie durchhalten bzw. stillhalten müssten.
Wir dürfen an unserer Verpflichtung, zu dem Erfolg
des Einsatzes in Afghanistan beizutragen, keinen Zweifel lassen, und zwar weil es sich nicht in erster Linie um
eine humanitäre Intervention handelt, sondern weil es
vor allem um unsere eigene Sicherheit geht. Für diese
Verlässlichkeit steht diese Bundesregierung und, so
hoffe ich, auch die Bundesregierung nach dem 27. September.
({6})
Das Wort erhält nun der Kollege Gert Winkelmeier.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die
Aussage des Bundesministers der Verteidigung heißt seit
2005: Die Bundeswehr befindet sich in Afghanistan in
einem Stabilisierungseinsatz, nicht aber in einem Krieg.
Weder das ungläubige Kopfschütteln seiner Soldaten vor
Ort noch die seit 2005 steigende Zahl der Gefallenen,
Traumatisierten und körperlich Verwundeten, ganz zu
schweigen von der ständig zunehmenden Zahl der Opfer
in der afghanischen Zivilbevölkerung, haben an dieser
Aussage etwas geändert. Es ist armselig, Herr Jung, dass
Sie immer noch nicht zur Kenntnis nehmen, dass sich
unser Land in Afghanistan in einem Krieg befindet.
({0})
Vor Wochen diskutierten wir im Verteidigungsausschuss, dass nach Möglichkeit keine Luftunterstützung
angefordert werden soll, weil dann sogenannte Kollateralschäden unvermeidlich sind. Nun gab es die Bombardierung der Tanklastzüge. Die Folge ist, dass viele zivile
Opfer zu beklagen sind. Die Washington Post war
scheinbar besser informiert als der deutsche Verteidigungsminister. Gemessen am ursprünglichen Auftrag
der Bundeswehr, die Köpfe und Herzen der Afghanen zu
gewinnen, ist der jetzige Zustand eine blanke Katastrophe.
({1})
Mit der Weigerung, die Kritik unserer Partner anzunehmen, blamieren Sie sich. Herr Minister, Sie betreiben
reine Selbstverteidigung, weil Sie Angst haben, dass nun
das eintritt, was Sie unter allen Umständen vermeiden
wollten, nämlich dass der von zwei Dritteln der Deutschen abgelehnte Afghanistan-Einsatz zum Wahlkampfthema wird. Anstatt sich dem Thema offen zu stellen,
vermitteln Sie der Öffentlichkeit ein Bild des Jammers,
das Bild eines Realitätsverweigerers.
({2})
Es ist doch eine Schande, dass es eines derartig hohen
Blutzolls bedarf, um in unserem Land über Krieg und
Frieden und die Rolle der Bundeswehr zu debattieren.
Lassen sie mich etwas zu der Entscheidung des örtlichen deutschen Kommandeurs sagen: Tankwagen sind
nicht geländefähig. Sie können nur auf befestigten Straßen gefahren werden. Das Lager Kunduz hätte also auf
den befestigten Zugangsstraßen mit ganz einfachen Mitteln gegen die vermeintliche Gefahr geschützt werden
können. 2 000 Meter vor dem Lager postiert, hätten ein
Schützenpanzer oder ein paar Maschinengewehre gereicht, um die Umwidmung dieser Lastwagen in Angriffswaffen zu unterbinden.
({3})
Zudem standen diese Lastwagen ständig unter Luftbeobachtung.
Ich sage aber auch: Für diese schlechte Leistung ist
als letztes Glied in der Kette nicht allein dieser Kommandeur haftbar. Nein, und das muss in aller Klarheit
gesagt werden: Die Hauptverantwortung tragen diejenigen, die im Deutschen Bundestag immer der Verlängerung des ISAF-Mandats zugestimmt haben. Das ist die
Wahrheit.
({4})
Jeder in unserem Land kann auf der Webseite des Bundestages die namentlichen Abstimmungen aufrufen und
nachlesen, wer zugestimmt hat.
Auch das sage ich Ihnen: Dieser Vorfall ist nicht die
letzte Stufe der Eskalation der Gewalt. Das ist eine neue
Qualität. Ich bin sicher, dass sich der nächste Bundestag
mit diesen Gewalttaten noch öfter auseinandersetzen
muss. Wenn nicht endlich umgedacht wird, gerät
Deutschland immer tiefer in den Sumpf eines nicht gewinnbaren Krieges. Ziehen Sie die Bundeswehr so
schnell wie möglich aus Afghanistan ab! Das wäre die
Lösung.
Vielen Dank.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Merten für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Nur mit einem konstitutiven Beschluss des
Deutschen Bundestages kann die Bundeswehr auf Antrag der Bundesregierung in bewaffnete Auslandseinsätze entsendet werden.
Das Parlamentsbeteiligungsgesetz ist hierfür die
rechtliche Grundlage. Das ist aber lediglich die formale
Ebene. Sie ist wichtig, aber hinter dem Parlamentsbeteiligungsgesetz und dem Umstand, dass das Parlament zustimmen oder ablehnen kann, steht für jede Bundesregierung natürlich auch die Notwendigkeit, das Parlament
vor einer Antragstellung soweit wie möglich einzubeziehen und zu hören, inwieweit das Parlament bereit und in
der Lage ist, mitzugehen. Wenn das gelingt, hat das im
besten Fall zur Folge, dass es einen lange andauernden
und über alle Parteigrenzen hinwegreichenden Konsens
gibt. Deshalb ist die im Parlamentsbeteiligungsgesetz
verankerte Pflicht der Bundesregierung, das Parlament
über alle Vorfälle im Verlauf eines Einsatzes zu informieren, eine weitere wichtige Grundlage dafür, dass einem im Laufe eines Einsatzes sozusagen nicht das Parlament verloren geht und der Rückhalt, den die Soldaten
brauchen, nicht schwindet.
Herr Minister, ich will hier deutlich sagen - ich habe
das auch an anderer Stelle getan -: Es wäre gut gewesen,
wenn Sie dies berücksichtigt und das Parlament frühzeitig eingebunden hätten.
Natürlich sind wir durch eine schriftliche Information
einbezogen gewesen; das ist auch in Ordnung. Aber darüber hinaus mussten wir in der Zeitung lesen, dass Sie,
Herr Minister, und auch der Parlamentarische Staatssekretär Kossendey sich sehr ausführlich über Details
geäußert haben. Das ist immer schlecht; das Parlament
sollte sich das - ich finde: zu Recht - nicht gefallen lassen. Wie sollen wir den Bundeswehreinsatz in Afghanistan, den ich hier nur stellvertretend für unser Engagement im Ausland nenne, den Bürgerinnen und Bürgern
erklären, ja, sie davon überzeugen, wenn nicht in jedem
Fall versucht wird, uns als Partner zu gewinnen? Ich
meine damit keine Komplizenschaft, sondern den Rückhalt, den, glaube ich, jede Bundesregierung in einer solchen Frage braucht. Wie soll eine breite öffentliche Debatte über unsere Sicherheits- und Verteidigungspolitik
entstehen, wenn der Informationsstrom und die Überzeugungsarbeit bereits an der Quelle versiegen?
({0})
Herr Minister, indem ich - das will ich betonen - den
Diskurs verhindere, ernte ich nur kurzfristig eine trügerische Ruhe und keine Ruhe oder Gelassenheit der Akzeptanz für unser Tun. Die Bundeskanzlerin, Sie, Herr Minister, der Bundesaußenminister und andere haben in der
Debatte zu Recht darauf hingewiesen, dass wir in Afghanistan sind, nicht weil wir verhindern wollen, dass die
Frauen dort Burka tragen müssen, sondern weil Afghanistan nicht wieder zum Rückzugsort für Terroristen
werden soll. Gleichzeitig dient unser Engagement dort
der Sicherheit der Menschen unseres Landes. Ich sage
auch ganz klar: Diese Wahrheit mit Leben zu füllen, bedarf nicht nur einer jährlichen Bundestagsdebatte über
die Verlängerung des Mandats; dies muss immer und immer wieder erklärt werden. Ich glaube, es wäre gut,
wenn wir uns ehrlich vor Augen hielten: Hier sind wir
weniger vorangekommen, als wir es uns wünschen und
es notwendig ist, um die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes davon zu überzeugen, dass das, was wir in
Afghanistan tun, keine Verschwendung ist, sondern dass
wir es auch für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind heute Morgen im Verteidigungsausschuss und im Auswärtigen
Ausschuss über die Aspekte, die zu berücksichtigen
sind, informiert worden. Ich sage ganz deutlich: Das
Bild, das sich uns daraus ergeben hat, lässt aus meiner
Sicht immer noch keine voreiligen Schlüsse zu. Vielmehr sollten wir abwarten, bis die Untersuchungen abgeschlossen sind. Ich wundere mich schon sehr - auch nach
der Information heute Morgen in den Ausschüssen -, über
welche Erkenntnisse einige verfügen, die mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass das Gebot der Verhältnismäßigkeit verletzt worden ist, und die schon ausmachen
können, dass hier gravierende Fehler begangen worden
sind.
Unsere Soldaten, die im Raum Kunduz eingesetzt
sind, haben einen gefährlichen und schweren Auftrag zu
erfüllen. Sie sind tagtäglich mit konkreten Gefährdungen
für Leib und Leben der Afghanen, aber auch für sich
selbst konfrontiert. Sie müssen zum Teil sehr weitreichende Entscheidungen treffen. Sie haben alles Recht
darauf, dass dies bei der Kommentierung und Bewertung
berücksichtigt wird. Ich sage ganz deutlich: Wir müssen
berücksichtigen, dass da, wo Menschen handeln, Fehler
gemacht werden können. Dies liegt letzen Endes in der
Natur der Sache. Jeder hat das Recht, vor voreiligen Verurteilungen geschützt zu werden.
Inzwischen ist es wahrscheinlich, dass auch zivile
Opfer zu beklagen sind. Die Bilder, die uns am Wochenende aus dem Krankenhaus von Kunduz erreichten, können niemanden gleichmütig lassen. Ich bin überzeugt,
dass die Bundesregierung zusammen mit unseren PartUlrike Merten
nern auf die Betroffenen und die Familien der Opfer zugehen wird.
Ich will abschließend sagen: Die Bundeswehr hat mit
der Art und Weise ihres Auftretens und Vorgehens stets
das Ziel verfolgt, für die Menschen in Afghanistan zu
wirken. Sie will nicht als Besatzer auftreten, sondern als
Unterstützer für den Wiederaufbau. Vor diesem Hintergrund kommt dem Vorfall am letzten Freitag eine große
Bedeutung zu, nicht weil wir von unserer bisherigen
Strategie abgewichen wären, sondern weil wir befürchten müssen, dass die vorschnellen Kommentierungen
und Einreden letzten Endes auf fruchtbaren Boden fallen
und wir dadurch zunehmend unter Druck geraten. Deswegen ist es so wichtig, dass wir das, was am letzten
Freitag passiert ist, mit großer Transparenz aufklären.
Wir müssen Afghanistan auf dem Wege zu Stabilität und
Sicherheit weiterhin helfen und an unserer nach wie vor
richtigen Strategie festhalten.
({1})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Thomas Silberhorn, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Hoffnung dieses Sommers war, dass mit der Präsidentschaftswahl und der Ernennung einer neuen afghanischen Regierung zumindest ein kleiner Fortschritt in
Richtung einer weiteren Stabilisierung des Landes gelingen könnte. Stattdessen diskutieren wir heute über Bomben auf zwei Tanklastzüge, durch die möglicherweise
auch Zivilisten ums Leben gekommen sind. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen aller Opfer. Ich begrüße,
dass vonseiten der Regierung schon angekündigt worden
ist, den Gesprächsfaden mit ihnen aufzunehmen.
Es gab in den letzten Wochen und Tagen immer wieder Warnungen vor gezielten Anschlägen gegen die
Bundeswehr in Afghanistan im Vorfeld der Bundestagswahl. Deswegen möchte ich darauf hinweisen: Die erschreckend hohe Zahl von Toten zeigt auch die Dimension der Gefährdung, der unsere Soldaten vor Ort in
Afghanistan ausgesetzt sind, wenn solche Tanklastzüge
als Waffen missbraucht werden. Vor diesem Hintergrund
muss man diese Situation betrachten. Deswegen sind wir
gut beraten, die genauen Ergebnisse der noch laufenden
Untersuchungen abzuwarten, bevor wir eine Bewertung
des Vorfalls vornehmen. Das gilt auch für unsere NATOPartner. Denn wer jetzt versucht, in der NATO Politik
auf dem Rücken der Bundeswehr zu machen, der schadet nicht nur dem gemeinsamen Bündnis, sondern
gefährdet auch alle, die in Afghanistan nach wie vor im
Einsatz sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das
Engagement in Afghanistan bietet keinen Platz für vorschnelle Verurteilungen und wahltaktisch motivierte
Polemiken. Denn eines hat die heutige Debatte gezeigt:
Alle, die Kritik geübt haben, haben nicht einen Deut etwas dazu sagen können, wie wir es besser machen und
unsere Strategie modifizieren könnten, um schneller zu
Ergebnissen zu kommen. Wer meint, er müsse an dieser
Debatte sein Mütchen kühlen, der wird nicht nur den
deutschen Soldaten in Afghanistan, sondern auch der
afghanischen Bevölkerung, die auf die internationale
Gemeinschaft vertraut, nicht gerecht. Vor allem wird er
der deutschen Öffentlichkeit nicht gerecht, die von uns
wissen möchte, wie wir in Afghanistan vorgehen.
({0})
Ich begrüße, dass die Bundeskanzlerin heute angekündigt hat, sich für eine weitere internationale Afghanistan-Konferenz einzusetzen. Wir müssen allerdings
darauf hinwirken, dass eine solche Konferenz tatsächlich
zu Ergebnissen kommt und eine internationale Strategie
verabredet wird, die den Einstieg in den Ausstieg aus
diesem Einsatz ermöglicht. Die Frage ist nicht, ob wir
unsere Truppen aus Afghanistan abziehen - sie werden
dort nicht ewig bleiben -, sondern die Frage ist, wie und
wann wir das tun. Wir müssen die Rahmenbedingungen
vor Ort so setzen, dass die Bundeswehr keinen Tag länger als unbedingt notwendig in Afghanistan bleibt.
Wir haben in diesem Zusammenhang eine Reihe von
Dingen bereits verwirklichen können. Wir haben von
dem hehren Ziel, in Afghanistan eine Demokratie nach
westlichem Vorbild einzuführen, Abstand genommen
und gesagt: Wir müssen unser Engagement darauf konzentrieren, die Lage in Afghanistan so zu stabilisieren
und die Sicherheitskräfte so auszubilden und auszustatten, dass wir die Verantwortung in Afghanistan in die
Hände der Verantwortlichen vor Ort legen können. Dazu
ist es notwendig, dass auch die staatlichen Strukturen,
Verwaltung und Justiz in Afghanistan auf die Beine
kommen; denn von außen allein wird dieser Einsatz
nicht gelingen.
An diesem Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen,
halte ich es für notwendig, dass wir in unserer Strategie
einen Wechsel vollziehen. Es reicht nicht aus, dass wir in
deutschen Legislaturperioden und in den Vorgaben, die
wir international vereinbaren, denken. Wir müssen auch
den Zeitplan der Afghanen im Blick haben. Wir müssen die Ziele, die wir uns setzen, mit den Beteiligten in
Afghanistan, und zwar mit allen Beteiligten, vereinbaren. Ich halte es für notwendig, dass wir der neuen
afghanischen Regierung klare und nachprüfbare Vorgaben machen, was sie bis wann erreicht haben muss, um
Verwaltung und Justiz zu reformieren sowie um organisierte Kriminalität und den Drogenanbau zu bekämpfen.
Das muss eine gemeinsame Aufgabe sein. Wir müssen
unseren Partnern in der afghanischen Regierung klar sagen, was wir von ihnen erwarten.
({1})
Diese Zielvorgaben müssen wir noch in der laufenden
Periode des afghanischen Parlaments bereden, das im
Sommer nächsten Jahres neu gewählt werden soll. In der
dann beginnenden Legislaturperiode muss das afghanische Parlament die Voraussetzungen schaffen, die wir
brauchen, um unsere Ziele in Afghanistan zu erreichen.
Ich sage ein Letztes: Wir müssen die Ziele auch mit
Vertretern der Taliban, mit den paschtunischen Stämmen, mit den Gouverneuren vor Ort vereinbaren. Denn
wie immer wieder richtig kommentiert worden ist: Jeder
Konflikt endet mit Verhandlungen, jeder Konflikt endet
dann, wenn es gelingt, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. Auch in diese Richtung müssen wir denken.
Wir dürfen nicht nur selber Ziele setzen, sondern wir
müssen mit den Verantwortlichen auf allen Seiten vereinbaren, welche Ziele in der nächsten Legislaturperiode
erreicht werden müssen, damit die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass wir uns mit unserem militärischen Engagement schrittweise zurückziehen und auf
den zivilen Aufbau des Landes setzen können.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt und rufe nun den Tagesordnungspunkt 1
auf:
Vereinbarte Debatte
Zur Situation in Deutschland
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. Auch hierzu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundeskanzlerin, Frau Dr. Merkel.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die zentrale Frage, vor der wir in den nächsten Monaten und Jahren stehen, heißt: Wird Deutschland es
schaffen, nachhaltig gestärkt aus der Krise zu kommen,
oder werden andere auf der Welt unseren Platz einnehmen, weil wir es versäumen, die Quellen unseres Wohlstands von Morgen zu finden und zu nutzen? Denn eines
ist klar: In dieser internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise werden die Karten auf der Welt neu
gemischt. Alle Länder versuchen, ihre Position zu verbessern. Das haben wir bei der Struktur der Konjunkturprogramme erlebt. Deshalb ist es wichtig, dass wir unsere Aufstellung, die Aufstellung der Bundesrepublik
Deutschland für die Zukunft, finden.
({0})
Es sei mir ein kurzer Rückblick gestattet. Gestern haben wir in Bonn des Ereignisses gedacht, dass dort vor
60 Jahren der Deutsche Bundestag zum ersten Mal zusammengetreten ist. Das geschah damals in einem völlig
zerstörten Land. Es war nicht sicher, ob die Aufbauarbeit
gelingen wird. Sie gelang, Schritt für Schritt, und im
Rückblick bezeichnen wir diese Zeit als die Zeit des
Wirtschaftswunders.
Ich erinnere auch an den September vor 20 Jahren. In
jenem September begannen die Montagsdemonstrationen, und die Flüchtlingsströme in Richtung Westen wurden immer größer. Niemand wusste damals, ob sich die
Zukunft zum Besseren wenden würde. Die Freiheit hat
gesiegt, und wir sind heute ein einiges Vaterland. Auch
der Aufbau der neuen Bundesländer gelang, Schritt für
Schritt und manchmal langsamer, als wir dachten; aber
es ist geschafft.
({1})
Im September vor einem Jahr, vor fast genau zwölf
Monaten, führte der Fall der US-Bank Lehman
Brothers beinahe zu einem Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems. Diesen Tag und die darauffolgenden Tage hat manch einer mit den Worten „Wir haben in den Abgrund geblickt“ beschrieben. Das ist
bildhaft beschrieben, aber es ist richtig.
Seitdem sind wir in der schwersten Wirtschaftskrise,
die die Bundesrepublik Deutschland in ihrer 60-jährigen
Geschichte erlebt hat. Wir hatten während der Erdölkrise
in den 70er-Jahren einmal einen Einbruch des Wirtschaftswachstums auf minus 0,9 Prozent - und sonst immer positive Wachstumsraten. In diesem Jahr werden es
minus 5,5 Prozent bis minus 6 Prozent sein.
Aber - das ist die gute Botschaft - wir können immer
klarer sehen: Offensichtlich ist die Talsohle erreicht.
Das Bankensystem ist vor dem Zusammenbruch bewahrt
worden, die sozialen Sicherungssysteme in unserem
Lande haben gehalten, die Betriebe leisten Großartiges,
und die Politik hat Handlungsfähigkeit bewiesen. Dennoch sage ich angesichts dieser Debatte auch mit Blick
auf die Zukunft: Es wird noch ein langer Weg sein, bei
der Wirtschaftskraft wieder das zu erreichen, was wir
vor der Krise bereits erreicht hatten; denn auch
0,3 Prozent Wachstum im letzten Quartal können angesichts eines Einbruchs auf minus 6 Prozent natürlich
längst nicht das Ende der Krise bezeichnen.
Wir haben aber auch erlebt: Deutschland ist stark,
Deutschland ist stabil. Das ist das Deutschland des
Jahres 2009, und das Deutschland des Jahres 2009 ist
stärker als das Deutschland des Jahres 2005.
({2})
Wir können erst einmal festhalten, dass wir bei der
Meisterung dieser Krise viele Antworten auf Fragen
gefunden haben, die uns sicherlich zu allen Zeiten beschäftigen, zum Beispiel, ob der Staat in solchen Krisensituationen überhaupt eingreifen und eine aktive Wirtschaftspolitik machen darf oder nicht. Das ist ja viel
diskutiert worden. Ich finde, es ist klar: Er darf es nicht
nur, er muss es in bestimmten Situationen tun.
({3})
Die zweite Frage, die sich immer wieder gestellt hat
und die wir immer wieder diskutiert haben, ist die Frage,
ob der Staat nicht eigentlich der bessere Unternehmer
wäre. Ich sage klar: Er ist es nicht, und er wird es niemals werden. Unternehmen haben ihren eigenständigen
Wert.
({4})
Ich glaube auch, der Streit, welche Partei sich nun am
meisten für den Erhalt von Arbeitsplätzen einsetzt, ist
ein Streit, den wir nicht zu führen brauchen; denn alle,
die wir hier sitzen, haben ihre Vorstellungen davon, wie
man Arbeitsplätze schaffen kann. Der Streit geht um die
Frage, wie wir das schaffen und welche Konzepte wir
dafür für richtig halten.
Ich finde, es haben sich drei Stärken als Fundament
für die Zukunft unseres Landes erwiesen:
Das sind zuallererst die Menschen, die Bürgerinnen
und Bürger dieses Landes. Sie haben in dieser Krise zusammengehalten, ob in den Betrieben, bei den Belegschaften, in den Unternehmen, bei den Managern oder
auch in den Eigentumsunternehmen und Familienunternehmen. Viele sind jeden Abend mit Sorgen ins Bett
gegangen und haben nachts vielleicht nicht schlafen
können. Sie haben sich aber immer wieder dafür entschieden, die Beschäftigten zu halten und nicht leichtfertig aufzugeben. Dafür ein herzliches Dankeschön.
({5})
Die Betriebsräte haben genauso verantwortlich gehandelt. Man hätte protestieren können. Die unternehmerische Vernunft hat sich durchgesetzt, auch bei den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Man hat in vielen Fällen zusammengehalten.
Die zweite Stärke unserer Wirtschaft ist, dass sich der
Mittelstand als besonders stabil erwiesen hat. Er hat es
nicht einfach, aber er hat sich als das Rückgrat unseres
Landes erwiesen. Das, was seit der Schaffung der sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard immer unser
Credo war, dass nämlich die Wettbewerbsbeschränkung
dazu da ist, dass kleine und große Unternehmen des Mittelstandes in einem fairen Wettbewerb miteinander agieren können, hat sich in dieser schwierigen Situation als
die Stärke unseres Landes herausgestellt.
Ohne überheblich zu sein, dürfen wir drittens sagen:
Auch die politischen Institutionen unseres Landes haben
sich als handlungsfähig erwiesen. Bundesregierung, Verwaltung, Bundestag, Bundesrat: Sie alle - ich schließe
die Kommunen mit ein - haben ihre Handlungsfähigkeit
bei der Umsetzung des Infrastrukturprogramms gezeigt.
Wir können stolz auf das sein, was unser Land in den
letzten zwölf Monaten geleistet hat.
({6})
Am Anfang sind wir viel dafür kritisiert worden - gerade auch international -, wie wir unsere Konjunkturprogramme anlegen. Inzwischen gibt es ein breites
Nachahmungsprogramm, ob es die Kurzarbeit, die Umweltprämie für Autos oder alle Versuche der Stabilisierung des Binnenmarktes sind. Die Maßnahmen werden
in vielen europäischen Ländern und auch in den Vereinigten Staaten von Amerika angewandt.
Unser Programm war also richtig, inklusive des Infrastrukturprogramms für die Kommunen - was die Bauwirtschaft in diesen Tagen auch bestätigt -, und wir sagen: Wir arbeiten für die Zukunft. Wir machen aus dieser
Krise eine Chance. Wir machen etwas Positives aus dieser Krise.
Ein Thema, das uns auch in den nächsten Monaten
beschäftigen wird, ist die Kreditklemme. Viele Unternehmen haben Angst. Unternehmen, die lange Jahre eine
stabile Basis hatten, bekommen heute nur unter sehr
schwierigen Bedingungen von den Banken Kredite. Hier
kommen viele Effekte zusammen, aber ich möchte an
dieser Stelle auch noch einmal die Banken und Finanzinstitutionen unseres Landes auffordern, ihrer Aufgabe
endlich wieder ein Stück mutig und verantwortungsvoll
zu entsprechen.
({7})
Es war auch richtig, in unserem Konjunkturprogramm
ein großes Kredit- und Bürgschaftsprogramm aufzulegen. Wir haben jetzt erste Erfahrungen mit diesem Programm. Ich kann nur sagen: Es hat sich herausgestellt,
dass wir selbstverständlich jedes Unternehmen gleich
behandeln. Wir behandeln die kleineren und die mittelständischen Unternehmen genauso wie die großen, und
wir können von den etwa 4 Milliarden Euro, die im August ausgereicht worden sind, sagen, dass zwei Drittel
der Gelder - gemessen an der Zahl der Unternehmen ist
es ein viel größerer Anteil; dort sind es über 99 Prozent von mittelständischen Unternehmen in Anspruch genommen werden und sie die Genehmigung bekommen
werden. Jedes Unternehmen hat in unserem Land die
gleiche Chance. Alle Unternehmen werden von uns
gleich behandelt.
({8})
Ich will aber hier keinen Rückblick machen, sondern
nur an einem Faktum aufzeigen, dass wir in den letzten
vier Jahren vorangekommen sind. Trotz der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise haben wir derzeit immerhin noch 1,25 Millionen mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse als Ende 2005.
Das ist ein Erfolg der Großen Koalition. Das stabilisiert
unsere sozialen Sicherungssysteme.
({9})
Allen Unkenrufen zum Trotz haben sich unsere sozialen Sicherungssysteme als stabil erwiesen. Am Anfang
unserer Regierungsarbeit sah es so aus, als hätten wir im
Rentensystem eine Lücke von 2 bis 3 Milliarden Euro.
Durch die verbesserte Beschäftigungslage haben wir im
Rentensystem heute Rücklagen von 15 Milliarden Euro.
Der Gesundheitsfonds, der so vielfältig kritisiert wird,
hat sich als ein ausgesprochener Stabilisator in dieser
schwierigen Situation erwiesen. Das wird auch in Zukunft der Fall sein.
({10})
- Klatschen Sie lieber, Herr Stiegler, als dass Sie sich
aufregen!
({11})
Sie sind doch der Meinung, dass der Gesundheitsfonds
eine tolle Sache ist. Klatschen Sie! Das wäre doch viel
besser.
({12})
Meine Damen und Herren, worum geht es in der Zukunft? Ich glaube, wir haben in den letzten Monaten erfahren, dass die soziale Marktwirtschaft als unsere gesellschaftliche Ordnung das richtige Wertefundament für
eine zukunftsfähige Wirtschaft ist.
({13})
Sie gibt uns die Maßstäbe und Möglichkeiten, auch im
Rahmen dieser sozialen Marktwirtschaft Weiterentwicklungen vorzunehmen und auf die Herausforderungen des
21. Jahrhunderts zu reagieren.
Ich will an dieser Stelle deutlich machen: Es war richtig, dass wir uns mit der Vergütung von Managern befasst haben.
({14})
- Ich weiß ja, dass Sie weitergehende Vorstellungen hatten, Herr Poß. Ich kann Ihnen Folgendes sagen - darüber
werden wir uns wahrscheinlich jetzt nicht mehr einig
werden -:
({15})
Wenn Sie zum Beispiel die Versteuerung ab einem Verdienst von 1 Million Euro fordern und glauben, damit
würden Sie dem Problem gerecht werden,
({16})
dann kann ich Ihnen nur sagen, dass man das in Amerika
gemacht hat. Das hat zu einer extensiven Verwendung
von Boni geführt, über die wir jetzt wieder sprechen, und
wir versuchen, sie zu unterbinden.
({17})
Das ist doch der Punkt. Das alleine hilft doch nicht. Darin sind wir halt unterschiedlicher Meinung, aber einiges
haben wir zustande gebracht.
({18})
Wir haben seitens der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen Mindestanforderungen für Boni definiert,
die ihresgleichen suchen. Natürlich spüren wir alle,
selbst wenn wir in einigen Fragen unterschiedlicher Meinung sind - das ist auch gut so; wenn wir jetzt im Wahlkampf sind, können wir uns unterscheiden -, dass die
Frage nach Managervergütungen und Bonuszahlungen
etwas mit dem tiefen Empfinden der Menschen für Gerechtigkeit in der sozialen Marktwirtschaft zu tun hat.
({19})
Deshalb sind wir wahrscheinlich gemeinschaftlich der
Meinung - hier helfen Ihre Forderungen nicht weiter -,
dass zum Bespiel eine Bezahlung von Herrn Eick für
sechs Monate Arbeit mit einem Fünfjahresvertrag nicht
das ist, was dem Gerechtigkeitsgefühl der Menschen
entspricht. Ich bin dabei, zu überlegen, wie zum Beispiel
verhindert werden kann, dass man Gehälter für fünf
Jahre bekommt, wenn man keine sechs Monate gearbeitet hat. Das halte ich für sinnvoller als eine schärfere Besteuerung von Managergehältern.
({20})
Die zweite Lehre ist, dass wir in Zukunft unsere Wirtschaftsweise stärker auf Nachhaltigkeit ausrichten müssen.
({21})
Deshalb halte ich es für außerordentlich wichtig - ich
will ein Lob für uns alle äußern;
({22})
das hat bislang keiner in der Welt nachgemacht -, dass
wir, Bund und Länder, die Kraft aufgebracht haben, eine
Schuldenbremse für die Zukunft im Grundgesetz zu
verankern und uns zu einer nachhaltigen Haushaltsführung zu verpflichten. Ich danke allen, die dabei mitgewirkt haben.
({23})
Ich sehe einen dritten Punkt, wenn es um die Zukunft
unserer Wirtschaft geht. Wir können stolz darauf sein
und uns darüber freuen, dass wir breit aufgestellt sind,
dass wir eine breite Industriestruktur haben. In der jetzigen Krise hat sich gezeigt, dass die Länder, die sich
einseitig orientieren und keine Vielfalt haben, sehr viel
schwerer betroffen sind. Ich sage für die Zukunft: Sollte
es einen ernsthaften Streit über Industriegesellschaft und
Dienstleistungsgesellschaft gegeben haben, müssen wir
ihn aufgeben. Wir brauchen beide. Beide müssen Säulen
unseres zukünftigen wirtschaftlichen Erfolgs sein.
({24})
Deshalb ist die Debatte, ob wir weg von der Position müssen, vorne beim Export und sogar Exportweltmeister zu
sein, natürlich falsch. Wir müssen alles daran setzen, innovative Produkte zu haben, um den Export als eine der
wirklich wichtigen Säulen unserer Wirtschaft zu stärken.
Aber richtig ist auch, dass wir gleichzeitig darauf achten
müssen, dass sich der Dienstleistungsbereich entwickeln
kann. So ist es richtig, darauf zu setzen, dass wir im Maschinenbau und der Feinmechanik stark sind sowie den
modernen Fahrzeugbau nach vorne bringen. Deshalb haben wir in unserem Konjunkturprogramm zum Beispiel
die Elektromobilität gefördert. Deshalb haben wir, die
Bundesregierung, einen Plan bzw. ein Konzept, das weit
über diese Legislaturperiode hinausreicht, aufgestellt, aus
dem hervorgeht, wie wir die Elektromobilität nach vorne
bringen. Wir werden mit den betreffenden Unternehmen
sprechen müssen und sie darauf aufmerksam machen,
dass sie in einer so wichtigen Frage zusammenarbeiten
müssen; denn es nutzt uns nichts, wenn jeder deutsche
Automobilproduzent mit einem anderen Anbieter zusammenarbeitet, um die Batterieentwicklung voranzubringen.
Wir wollen vielmehr - genauso wie unsere Vorfahren am
Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Benzinautos gebaut haben - diejenigen sein, die bei der Elektromobilität
vorne dabei sind.
({25})
Natürlich ist es richtig, dass wir auf Energieeffizienz
und erneuerbare Energien setzen und die Medizintechnik
voranbringen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir
vernünftige Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche
Entwicklung und die Industrie schaffen. Dazu sage ich,
wenn ich in die Zukunft schaue: Wir müssen alles verhindern, was zu prozyklischen Effekten bei der Unternehmensbesteuerung führt. Wir haben eine erste Korrektur vorgenommen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir nicht
in einigen Monaten noch einmal nachsteuern müssen.
({26})
Ich würde das jedenfalls für wichtig halten, weil es die
Zukunft unserer Wirtschaft beeinflusst.
Wir haben in dieser Legislaturperiode - das muss
weiterentwickelt werden - den Dienstleistungsbereich
gestärkt. Wir haben ihn gestärkt, indem wir angefangen
haben, den privaten Haushalt zu einem Arbeitgeber zu
machen. Das ist eine ganz wichtige Initiative gewesen;
denn in einer alternden Gesellschaft, in der wir mehr
Dienstleistungen von Menschen für Menschen brauchen,
muss der Haushalt als Arbeitgeber gestärkt werden. Dieser Weg ist eingeleitet - wir sind Gott sei Dank darüber
hinweg, dass wir über das Dienstmädchenprivileg streiten -, und wir alle wissen: Von der Kinderbetreuung bis
hin zu handwerklichen und anderen Dienstleistungen
sollten wir den Haushalt stärken, weil er auch Menschen,
die keine ganz gute Ausbildung haben, eine Beschäftigungschance bietet und die Arbeit im Haushalt gleichzeitig anderen Menschen dient und diesen Freude macht.
({27})
Alles in allem müssen wir vor allen Dingen wieder
unsere mittelständische Basis stärken. Hier geht es darum, dass wir eine kluge Steuerpolitik betreiben. Ich
glaube, dass es in der jetzigen Zeit nicht richtig ist, ein
Signal für Steuererhöhungen zu setzen, weil diese auch
mittelständische Unternehmen und selbstständige Personengesellschaften treffen. Die aber brauchen wir, denen
dürfen wir keine Knüppel zwischen die Beine schmeißen, sondern wir müssen ihnen sagen: Ihr habt ein Zuhause bei uns, ihr dürft nicht abwandern; denn die Arbeitsplätze sollen bei uns in Deutschland entstehen.
({28})
Ich sage ganz eindeutig: Diese Bundesregierung hat
mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz für wichtige
Weiterentwicklungen gesorgt. Damit werden gerade die
Umwelttechnologien und die neuen Energien gefördert.
Das ist ein wichtiger Exportbereich. Für uns in Deutschland ist es jetzt von entscheidender Bedeutung, dass es
uns gelingt, in Kopenhagen international verbindliche
Verpflichtungen für die Zukunft zu vereinbaren, damit
wir einen stabilen Exportmarkt haben und gleichzeitig
zu einer globalen Verbesserung unserer Klimasituation
beitragen. Das ist Wirtschaft und Umwelt zusammen.
({29})
- Natürlich will die das. ({30})
- Herr Kelber, Sie können doch erfreut sagen, was wir
alles erfolgreich miteinander verabschiedet haben. Es
sind tolle Nummern gewesen.
({31})
Das wäre doch ohne die CDU/CSU-Fraktion weiß Gott
nicht gegangen. - Allerdings sind wir diejenigen, die immer wieder darauf geachtet haben, dass Wirtschaft und
Umwelt zusammengehen, weil es nichts nützt, wenn
Umweltpolitik Jobs kostet. Umweltpolitik muss Jobs
bringen.
({32})
Das zentrale Thema, das uns im nächsten Jahrzehnt
wesentlich begleiten wird, ist die Bildungspolitik. Ich
habe mich außerdem dafür eingesetzt, dass wir die Integrationsaufgabe im Bundeskanzleramt ansiedeln. Das
hat sich bewährt. Es ist zu einem Nationalen Integrationsplan von Bund, Ländern und Kommunen gekommen. Da ist noch vieles umzusetzen, und das wird die
nächste Legislaturperiode bestimmen. Aber der Ansatz
ist richtig. Integration ist eine Schwerpunktaufgabe und
muss weiterentwickelt werden.
({33})
Bildung ist das zentrale Thema für die Frage des Wohlstands in der Zukunft. Darüber sind wir uns parteiübergreifend einig, wenngleich wir über die Ausgestaltung,
wie häufig, unterschiedliche Meinungen haben. Ich bin
dafür, dass wir uns für ein gegliedertes Schulsystem entscheiden und dass wir natürlich die Durchlässigkeit fordern, aber gleichzeitig Leistung belohnen und Leistungsanreize setzen, auch schon bei Kindern. Ich halte, mit
Verlaub gesagt, nichts davon, dass man wie in Berlin
Gymnasialplätze in Zukunft verlosen will. Das scheint
mir die falsche Antwort auf die Frage, wie wir vorgehen,
zu sein.
({34})
Wir kennen die unterschiedlichen Zuständigkeiten,
aber wir wissen, dass wir in der Bildungspolitik natürlich
zusammenarbeiten müssen. Deshalb habe ich - nicht zur
Freude aller Ministerpräsidenten, um es vorsichtig auszudrücken - zu einem Bildungsgipfel zusammen mit der
Bundesbildungsministerin und dem Bundesarbeitsminister eingeladen. Wir haben konkrete Vereinbarungen
getroffen, die wichtig sind: Halbierung der Zahl der
Schulabbrecher, Investition von 10 Prozent des Bruttoinlandprodukts in Forschung und Bildung bis zum Jahr
2015. Wir haben Pakte zur Förderung der Hochschulabsolventen abgeschlossen. Für die Förderung der Forschungseinrichtungen wird es jedes Jahr einen Zuwachs
der Mittel von 5 Prozent geben. Da gibt es jetzt ein hohes
Maß von Berechenbarkeit für die Zukunft. Wir haben gesagt, die Exzellenzinitiative muss weitergeführt werden,
weil wir nur mit exzellenten Forschungs- und Hochschulinstitutionen die Zukunft wirklich gestalten können.
({35})
Meine Damen und Herren, ich bin dafür - ich will das
ganz klar sagen -, dass wir die Schulpolitik bei den Ländern belassen. Aber ich bin dagegen, dass die Schulpolitik in den Ländern so ausgestaltet wird, dass man in
Deutschland nicht umziehen kann. Deshalb war es wichtig, dass die Kultusminister sich auf gleiche Standards
geeinigt haben. Außerdem bin ich dagegen, dass wir zulassen, dass Schulabsolventen von den Industrie- und
Handelskammern das Zeugnis ausgestellt wird, dass sie
nicht ausbildungsfähig sind. So etwas kann sich unser
Land nicht leisten. Deshalb war der Bildungsgipfel ein
Erfolg und muss gleich in der nächsten Legislaturperiode umgesetzt werden.
({36})
Auch daran zeigt sich, dass wir unsere Arbeitswelt gerade an der Anerkennung für diejenigen ausrichten müssen, die Bildung - vom Kleinkind bis hin zur Weiterbildung in den Betrieben - vermitteln.
Wenn ich einen kritischen Punkt zu unserem Konjunkturprogramm sagen darf: Die Weiterbildungsmöglichkeiten, die wir in diesem Konjunkturprogramm angeboten haben, wurden von den Unternehmen leider
sehr zögerlich angenommen.
({37})
Lebenslanges Lernen wird eine Aufgabe sein, die uns
in den nächsten Jahren begleitet. Hier müssen wir sehr
viel mehr Druck machen. Mit dem Erreichten kann man
noch nicht zufrieden sein.
({38})
Meine Damen und Herren, wir haben nach innen einiges auf den Weg gebracht. Es zeichnet sich ab, wo die
Aufgaben der nächsten Legislaturperiode liegen. Ich bin
dafür, dass wir alles tun, um den Zusammenhalt unserer
Gesellschaft zu fördern. Das bedeutet Motivation für jeden. Ich sage: Die Krise ist erst vorbei, wenn wir aus der
Talsohle wirklich heraus sind und wieder da sind, wo wir
vorher waren. Deshalb brauchen wir auch Motivation für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Deshalb
gibt es innerhalb der Großen Koalition eine unterschiedliche Auffassung darüber, ob wir gerade bei der kalten
Progression, bei der Steuererhöhung durch die Hintertür,
für diejenigen, die den Tag über arbeiten, die Überstunden machen, die ein bisschen mehr Gehalt haben, auch
dafür Sorge tragen müssen, dass sie zum Schluss wirklich mehr im Portemonnaie und auf dem Konto haben.
({39})
Uns ist in dieser Krise bewusst geworden, dass wir als
Bundesrepublik Deutschland allein nicht agieren können.
({40})
Uns ist bewusst geworden, dass die Europäische Union
in dieser Zeit eine ganz wesentliche Bedeutung hat. Wir
sollten uns nur einmal vorstellen, was in der Finanzkrise
auf uns zugekommen wäre, wenn wir keine gemeinsame
Währung wie den Euro gehabt hätten - nicht auszudenken! Aber ich sage auch: Erfolgreich konnte das nur
funktionieren, weil wir an bestimmten Grundprinzipien
nicht gerüttelt haben. Klar ist: Mit der Union ist nicht zu
machen, die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank aufzugeben, wie das in einigen Papieren aus Teilen
dieses Hauses gefordert wurde.
({41})
- Das hat nichts mit Parteitagsrede zu tun, Herr Heil, Sie
kennen vielleicht nichts anderes mehr, sondern es hat mit
meinen europapolitischen Aktivitäten zu tun.
({42})
Ich habe Herrn Trichet versprochen, dass die Europäische Zentralbank unabhängig bleibt, und ich werde mich
auch dafür einsetzen, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht angetastet wird, sondern die Leitlinie für
die Zukunft unseres Landes bleiben wird.
({43})
Eine abschließende Bemerkung. Wir werden heute
noch über den Lissabon-Vertrag beraten. Dieser Lissabon-Vertrag ist eine Bekräftigung unseres europäischen
Engagements.
({44})
Er bringt Europa näher zu den Bürgerinnen und Bürgern.
Wir hatten dazu ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das besagt, dass das Parlament mehr Mitwirkungsrechte braucht. Dieses Urteil wird heute umgesetzt, und die Bundesregierung hat dabei, sofern sie
gefragt war, konstruktiv mitgearbeitet.
Dieses Bundesverfassungsgerichtsurteil ist in der
Europäischen Union mit großem Interesse aufgenommen worden, weil es natürlich die Frage stellt: Wie wird
sich Deutschland in der Europäischen Union in Zukunft
positionieren? Ich habe zugesagt - ich werde das auch
einhalten -, am 17. September, wenn wir uns zur Vorbereitung des G-20-Gipfels treffen, meinen europäischen
Kollegen zwei Dinge noch einmal deutlich zu machen:
Erstens. Urteile des Bundesverfassungsgerichts sind
in Deutschland bindend bezüglich der Anwendung von
Gesetzen, also auch des Lissabonner Vertrags.
({45})
Zweitens. Deutschland wird sein proeuropäisches
Engagement beibehalten, und es wird weiter Motor der
Europäischen Union sein.
({46})
Das sind die beiden Botschaften für den Gipfel.
Eine letzte Bemerkung. Es ist so, dass wir uns in wenigen Tagen zum nächsten G-20-Gipfel treffen werden.
Die Finanzminister sind bereits am Wochenende in London zusammengekommen. Es geht darum, dass kein
Finanzplatz, keine Institution und kein Produkt in der
Krise ungeregelt bleiben. Was wir uns in der Krise vorgenommen haben, muss auch umgesetzt werden. Wir
sind hier auf einem guten Weg, aber es gibt noch einiges
zu tun.
Ein Punkt, der mir neben der Frage der Zahlung von
Boni besonders am Herzen liegt, ist, dass wir nie wieder
in eine Situation geraten dürfen, in der Banken Staaten
erpressen können, weil sie so groß sind, dass sie glauben, den Staaten sozusagen die Pistole auf die Brust setzen zu können.
({47})
Es wird an internationalen Regeln gearbeitet, was die Eigenkapitalhinterlegung anbelangt, damit Banken das von
ihnen eingegangene Risiko selber tragen müssen.
({48})
Ich spüre schon wieder, dass die Ersten die verschiedenartigsten Ausreden finden, warum dies nun gerade
nicht sein muss und warum Wachstum doch viel schneller zustande kommen könnte, wenn man solche Sicherungen nicht hätte.
({49})
Für mich ist die Lehre - die werde ich zusammen mit
dem Finanzminister beim G-20-Treffen in Pittsburgh
auch ganz deutlich machen -: nicht auf diese Stimmen
hören, sondern auf nachhaltiges Wachstum setzen - im
Sinne der sozialen Marktwirtschaft, im Sinne der Prinzipien, die Deutschland stark gemacht haben.
({50})
Das wird uns in unserer weiteren Arbeit prägen.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
({51})
Das Wort hat der Vorsitzende der FDP-Fraktion,
Dr. Guido Westerwelle.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! An dem
Beifall nach der Rede der Bundeskanzlerin hat man in
diesem Hohen Hause wirklich lehrbuchartig sehen können, wo und in welcher Zerrüttung Zwangsehen enden.
Diese Große Koalition hat nie den Anspruch auf
geistige Führung erhoben. Mal hat sich diese Große
Koalition zusammengerauft; meistens hat sie sich nur
gerauft. Sie wollte politischen Schlaglöchern aus dem
Weg gehen. Das Ziel von Ihnen war immer nur, die
nächste Kurve zu kriegen. In Wahrheit war diese Große
Koalition im besten Fall ein Reparaturbetrieb für tagespolitische Probleme; mehr war sie nicht für unser Land.
({0})
Es waren in Wahrheit vier verlorene Jahre. Sie haben
Deutschland der Zukunft nicht näher gebracht. Sie haben
Krisen verwaltet und vollständig darauf verzichtet, die
Zukunft zu gestalten.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben hier gesagt,
Deutschland sei 2009 stärker als 2005. Das ist eine interessante Sichtweise. Sie sind stärker verschuldet als
2005, so stark wie nie zuvor.
({1})
Sie haben die Steuern so stark erhöht wie nie zuvor. Wir
sind in der Gesundheitspolitik in der Planwirtschaft so
stark wie noch nie zuvor. Sie haben mit dieser Regierung
Deutschland nicht gestärkt. Es waren vier verlorene
Jahre. Sie haben unser Land geschwächt. Sie haben es
nicht in Ihrer eigenen Richtung vorangebracht.
({2})
Aber auch bei dem Bereich, den Sie hier für sich reklamiert haben, gilt: Sie haben gar nicht mehr den Anspruch erhoben, wirklich perspektivisch Politik für unser
Volk anzugehen.
({3})
Sie haben als Regierungskoalition gar nicht mehr den
Anspruch erhoben, zu sagen, wo unser Land in 10, 15,
20 Jahren stehen soll. Eigentlich befasst sich mittlerweile jede Regierungserklärung und jede Rede, die aus
den Reihen der Regierung gehalten wird, nur mit der Tagespolitik.
Aber auch da, wo Sie meinen, Sie hätten besonders
gut gewirkt, haben Sie in Wahrheit die meiste Zeit versagt. Ich denke insbesondere an die Bankenaufsicht.
Die Bundeskanzlerin hat hier von dieser Stelle aus nach
Ausbruch der Finanzkrise in einer Regierungserklärung
angekündigt - unter dem Beifall übrigens auch der Fraktion der CDU/CSU -, dass die Bankenaufsicht in
Deutschland neu und schlagkräftiger sortiert werden
muss, weil die Zersplitterung bei dieser wichtigen Hoheitsaufgabe Lähmung bedeutet. Neun Monate ist diese
Bankenkrise in Deutschland mittlerweile alt, und wir haben auch im Deutschen Bundestag die gesamte Zeit darüber diskutiert. Aber bis zur Stunde haben Sie in der
Bankenaufsicht nichts zustande gebracht. Wir haben dieselbe verkorkste, zersplitterte Bankenaufsicht wie vor
der Krise. Nicht einmal die Krise haben Sie richtig bewältigt und notwendige strukturelle Reformen eingeleitet.
({4})
Wir brauchen eine Politik, die die Mittelschicht in
unserem Land wieder stärkt. Der Rückgang der Mittelschicht ist aus unserer Sicht die gefährlichste Entwicklung, übrigens nicht nur der letzten vier Jahre, sondern
der letzten zehn Jahre. Vor zehn Jahren hatte die Mittelschicht in unserer Gesellschaft einen Anteil von ungefähr zwei Dritteln. Heute muss man feststellen, dass die
Mittelschicht in unserem Land nur noch etwas mehr als
die Hälfte der Bevölkerung ausmacht. Das heißt, die
Mittelschicht schrumpft. Das ist in Wahrheit die Herausforderung für die Gesellschaftspolitik in unserem Land.
Denn wir wollen keine Gesellschaft, die nur noch aus
Arm und Reich besteht. Vielmehr brauchen wir eine
starke Mittelschicht, die in unserer Gesellschaft gewissermaßen als Klammer dient. Wenn die Mittelschicht
schrumpft, dann wachsen Spaltung und Ungerechtigkeit
in unserem Land.
Aus diesem Grund brauchen wir einen Neuanfang mit
einem fairen Steuersystem in Deutschland.
({5})
Nun heißt es, dass eine Politik der fairen Steuern nicht
finanzierbar sei. Es heißt, dass die Vorschläge für ein faires Steuersystem, die wir vorgelegt haben, nicht umsetzbar seien. Das bestreite ich mit Nachdruck. Ich lasse
mich auch nicht durch die angeblich amtlichen Berechnungen des Bundesfinanzministers bezüglich der Horrorkosten eines fairen Steuersystems irritieren.
Herr Minister Steinbrück, Sie werden ja in dieser Debatte noch reden.
({6})
Sie sind der Mann, der so viel Schulden gemacht hat wie
kein Finanzminister zuvor.
({7})
Sie haben in der gesamten Zeit in Bezug auf die Finanzpolitik immer falsch gelegen. Hören Sie doch wenigstens jetzt auf, den Leuten etwas Falsches vorzumachen!
Sie sagen, Sie können kein faires Steuersystem in
Deutschland durchsetzen. Dann gehen Sie; wir machen
es, wir können es nämlich!
({8})
- Das kommt jetzt, Herr Heil. Sie freuen sich doch schon
die ganze Zeit darauf.
({9})
Ich möchte nur kurz auf Folgendes aufmerksam machen: Ungefähr so viele SPD-Abgeordnete, wie jetzt hier
sitzen, wären in Ihrer Fraktion, wenn Sie vor der letzten
Bundestagswahl die Leute bezüglich der Mehrwertsteuer
nicht betrogen hätten.
({10})
Sie haben vor der Wahl überall auf dem Plakat heilige
Eide geschworen, Sie würden die Bürger entlasten; eine
Mehrwertsteuererhöhung gebe es nicht. Jeder von Ihnen,
der hier sitzt, hat in Sachen Mehrwertsteuer die eigenen
Wähler belogen, nur um an die Regierung zu kommen.
Sie haben in Wahrheit unglaubwürdige Politik gemacht.
({11})
Wir brauchen ein faires Steuersystem, das Arbeit und
Anstrengung belohnt. Das ist möglich, und es ist auch
dringend nötig. Damit müssen wir bei den Familien beginnen, indem wir die Familien entlasten. Nach dem
Steuermodell, das Deutschland braucht, wäre eine vierköpfige Familie erst ab 40 000 Euro überhaupt steuerpflichtig. Das ist eine familienfreundliche Politik; das ist
sozial.
Dass gewisse Gewerkschaftsfunktionäre mittlerweile
dazu aufrufen, ausgerechnet die Partei, nämlich die SPD,
zu wählen, die mit der Mehrwertsteuererhöhung um
3 Prozentpunkte die unsozialste Politik gegen Arbeitnehmer gemacht hat, die man machen konnte, finde ich
ganz schön scheinheilig.
({12})
Ich habe nicht die Absicht, das in dieser Generaldebatte
zu verschweigen.
Meine Damen und Herren, wir haben in den vergangenen vier Jahren jedes Jahr Vorschläge gemacht, wie
der Staat Geld sparen kann.
({13})
Kein einziges Mal sind Sie darauf eingegangen. Stattdessen fangen Sie wieder an - im Augenblick mit einer
Schwarz-gelbe-Socken-Kampagne -, den Menschen in
Deutschland Angst davor zu machen, dass Union und
FDP die Mehrheit erlangen und in der nächsten Legislaturperiode an die Regierung kommen.
({14})
Dazu möchte ich Ihnen zunächst einmal sagen, dass
es in Deutschland natürlich längst ganz anders läuft, als
Sie glauben. Nach den letzten Landtagswahlen werden
mit Sachsen die sechs größten Bundesländer von Union
und FDP regiert. Das heißt, von etwas mehr als
80 Millionen Deutschen leben drei Viertel, nämlich
60 Millionen, mittlerweile in Ländern, die schwarzgelbe Regierungen haben. In diesen Ländern kann jeder
erkennen, dass soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche
Vernunft keine Gegensätze sind, sondern einander bedingen. Das werden wir auch auf Bundesebene durchsetzen.
({15})
Lassen Sie bitte Ihre seltsamen Entgleisungen sein,
mit denen Sie in unsere Richtung zielen! Da sind zunächst einmal die Plakate, die Sie vor der letzten nationalen Wahl, der Europawahl, gedruckt haben; wir haben sie alle gesehen. Es ist schon eine Kunst - dafür
haben Sie bei der Wahl die entsprechende Quittung kassiert -, dass die SPD auf jedem dritten Plakat vor den
Haien der FDP gewarnt hat. Das ist deswegen drollig,
weil Sie wissen, wie die Sache ausgegangen ist. Aber
auch für uns liegt darin eine gewisse Ironie: Sie haben
mehr Plakate gegen die FDP geklebt, als wir Plakate für
uns kleben konnten.
({16})
Das ist bemerkenswert, weil es nach hinten losgegangen
ist.
Jetzt haben Sie sich etwas Neues ausgedacht. Weil ich
in der letzten Woche eine, wie ich finde, Selbstverständlichkeit ausgesprochen habe, nämlich dass der Sozialstaat für die Bedürftigen und nicht für die Findigen da
ist, höre ich beispielsweise von Ihrer Vizechefin, Frau
Nahles:
({17})
Selten wurde in solcher Klarheit zum Ausdruck gebracht, dass liberale Politik zulasten der Schwächsten
geht.
Ich möchte Ihnen einen Auszug aus einem bemerkenswerten Interview vortragen, das Gerhard Schröder,
der immer noch der SPD angehört, einmal gegeben hat.
Er hat als Bundeskanzler fast wörtlich das gesagt, wofür
Sie mich jetzt im Augenblick kritisieren. Er hat nämlich
gesagt: Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht
mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit
in unserer Gesellschaft. - Ich habe das fast wortgleich
gesagt.
({18})
Es ist richtig: Früher hätte sich jeder anständige Sozialdemokrat hinter den anständigen, fleißigen Leuten versammelt und genau dasselbe gesagt. So weit sind Sie
heute mit Ihrer linken Gehirnwäsche gekommen.
({19})
Arbeit muss sich wieder lohnen. Deswegen war es
falsch, dass die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung
und insbesondere dieser Koalition in Wahrheit nur noch
auf die ganz Großen und auf die ganz Kleinen gesetzt
hat.
({20})
Tatsächlich war es die Haushaltsvorlage mit Rekordverschuldung, warum wir diese Debatte heute angesetzt
haben. Ich möchte darauf eingehen, weil es wichtig ist,
darüber zu reden, wofür das Geld der Deutschen ausgegeben worden ist.
({21})
- Es mag ja sein, dass Sie es mit Ihrem Einfluss schaffen, zu verhindern, dass die Opposition Sie in den wichtigsten Fernsehsendungen stellen kann.
({22})
Hier müssen Sie es aber ertragen, zu hören, was wir zu
sagen haben.
({23})
Ich will darauf eingehen, wofür das Geld der Bürgerinnen und Bürger in Wahrheit ausgegeben worden ist.
Da ist beispielsweise die Abwrackprämie, die jetzt ausläuft. 5 Milliarden Euro haben Sie sozusagen über Nacht
für die Abwrackprämie gefunden. Das heißt, für alte Autos hatten wir in Deutschland mal eben 5 Milliarden
Euro übrig. Gleichzeitig sagen Sie: Bei Bildung und
Ausbildung geht es leider nicht; dafür haben wir zu wenig Geld in den Staatskassen.
Jetzt, wo die Abwrackprämie ausgelaufen ist, weiß jeder, was passiert. Wir wissen nämlich genau, dass die
Menschen, die dieses Jahr ein Auto gekauft haben, dies
im nächsten Jahr nicht noch einmal tun werden, weil es
dieses Jahr so schön war. Das kostet natürlich Arbeitsplätze. Aber dieser Abbau findet nach der Bundestagswahl statt. Darum kann sich ja dann die nächste Bundesregierung, also wir, kümmern.
({24})
Diese Art und Weise halte ich für völlig inakzeptabel.
Die Reparaturwerkstätten und der Gebrauchtwagenhandel leiden darunter und sind zum Teil pleitegegangen.
Sie haben nicht auf die Mittelständler geschaut, die aufgrund der Abwrackprämie pleitegegangen sind. Eine Regierung, die mal eben 5 Milliarden Euro für alte Autos
übrig hat, soll nie wieder sagen, für faire Steuern und für
bessere Bildung sei in Deutschland kein Geld vorhanden. Wir zeigen Ihnen, dass es besser geht.
({25})
Wenn es eine Sache gibt - außer dass die Mittelschicht geschrumpft ist, dass Sie dafür gesorgt haben,
dass die Schulden immer höher werden, und dass von Ihnen immer höhere Steuern durchgesetzt worden sind; ich
erinnere an den Wortbruch -,
({26})
die unser Land in wirklich große Schwierigkeiten bringt,
dann ist es insbesondere die Tatsache, dass Bildung als
Bürgerrecht in Deutschland immer mehr infrage gestellt
wird.
({27})
Ich nenne Ihnen ein Beispiel - ich rechne das einmal um,
weil ein entsprechender Zuruf gemacht wurde -: Die
Mittel für die Abwrackprämie betrugen 5 Milliarden
Euro. Mit diesen Mitteln könnte man ein perfektes Stipendienprogramm für Studenten elternunabhängig 25 Jahre
lang zahlen.
({28})
Das Geld gehört in helle Köpfe
({29})
und nicht in alte Autos. Sie verstehen es nicht.
Im Zusammenhang mit der Bildung müssen wir festhalten, dass uns die OECD in diesem Jahr bescheinigt
hat, dass in keinem vergleichbaren entwickelten Land
der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und
den Bildungschancen eines Kindes so unerfreulich ist
wie hier in Deutschland.
({30})
Sie können nicht so tun, als seien daran andere schuld.
Sie meinen immer, für Krisen und Missstände sei die
Opposition verantwortlich. Ich darf darauf aufmerksam
machen: Sie regieren seit elf Jahren ({31})
erst mit dem Finanzminister Lafontaine, dann mit dem
Finanzminister Eichel und jetzt mit dem Finanzminister
Steinbrück. Für die Prioritätensetzung, die in der Finanzpolitik falsch gelaufen ist, können Sie nicht die Opposition verantwortlich machen. Dafür sind Sie verantwortlich. Sie hatten die Macht. Sie haben nichts gemacht.
({32})
Ich kann der Koalition insgesamt einen Vorwurf nicht
ersparen.
({33})
Sie sagen, es gebe eine zersplitterte Bildungslandschaft.
Frau Bundeskanzlerin, Sie sagen, eine Familie müsse
auch umziehen können. Da haben Sie recht; das alles ist
richtig. Ich bin übrigens ein Anhänger dafür, dass es eine
Kultus- bzw. Bildungshoheit der Länder gibt.
({34})
- Das ist für mich überhaupt keine Frage. - Nur, eines
möchte ich festhalten: Sie sagen, es werde den Menschen wegen der Bildungsunterschiede in Deutschland
unmöglich gemacht, umzuziehen, und verschweigen dabei, dass Sie den Bereich Bildung mit Ihrer katastrophalen Föderalismusreform vermasselt haben.
({35})
Die Föderalismusreform hat doch die Zersplitterung der
Bildungslandschaft befördert. Dafür tragen Sie gemeinsam die Verantwortung.
Meine Damen und Herren, es ist so, dass wir nicht nur
beim Thema „Leistungsbereitschaft, Leistungsgerechtigkeit, soziale Verantwortung“ und beim Thema Bildung
in unserem Land nicht wirklich vorangekommen wären.
Es ist auch notwendig, dass wir in dieser letzten Debatte,
in der wir über diese vier Jahre der Großen Koalition
Bilanz ziehen, über ein Kernanliegen, das gerade von der
Bundeskanzlerin wieder verteidigt worden ist - die Gesundheitsreform -, reden. Diese Gesundheitsreform,
die Sie in Kraft gesetzt haben, und der Gesundheitsfonds
machen alles teurer, und nichts wird besser.
({36})
Sie wissen das auch. Beitragserhöhungen waren die
Folge. Im nächsten Jahr sollen - so ist die Finanzplanung der Regierung - allein 12 Milliarden Euro an Steuergeldern in das bürokratische Monstrum Gesundheitsfonds gesteckt werden.
Ich will hier in aller Ruhe und in großer Klarheit sagen - auch Ihnen, meine Damen und Herren von der
Union -: Diese Gesundheitspolitik von Ulla Schmidt
wird in einer Koalition aus Union und FDP beendet, weil
sie zulasten der Bürgerinnen und Bürger in ganz
Deutschland geht. Ich sage das, damit das klar ist.
({37})
Ich freue mich - Herr Ramsauer, Sie werden es sicherlich gleich Herrn Seehofer erzählen -, dass ich in ihm einen kräftigen Verbündeten haben werde.
({38})
Oder hat Herr Söder das, was er dazu gesagt hat, nicht in
Abstimmung mit seiner Partei gesagt?
Meine Damen und Herren, es ist dringend notwendig,
dass wir in dieser Richtung vorankommen. Wir haben in
diesem Hause in den Generaldebatten über einen Bereich, der meines Erachtens durch eine erhebliche Verschlechterung gekennzeichnet ist, selten diskutiert. Ich
will es trotzdem tun. Ich sprach eben von Bildung als
Bürgerrecht. Das Thema, wie mit den Bürgerrechten
insgesamt in den letzten Jahren umgegangen worden ist,
müsste uns hier beschäftigen. Unter Rot-Grün mit Herrn
Schily hat es begonnen; unter Schwarz-Rot mit Herrn
Schäuble wurde es fortgesetzt: Es hat noch nie so wenig
Respekt seitens der Mehrheit gegenüber den Bürgerrechten gegeben. Noch nie wurden Entscheidungen einer Regierung vom Verfassungsgericht in Karlsruhe so oft kassiert. Das muss hier erwähnt werden.
({39})
Wir halten es für einen wirklichen Fehler, dass man
diese Politik weiter fortsetzt. Bürgerrechte sind die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger. Wir setzen darauf, dass sie stärker geschützt und respektiert werden.
Gläserner Patient, gläserner Bankkunde, gläserner Steuerzahler, gläserner Autofahrer, Aufhebung des Bankgeheimnisses usw. usf. - eine solche Politik darf es nicht
länger geben.
Wie oft hört man von den Konservativen: Wer nichts
zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten.
({40})
- Sie rufen: Richtig! Das ist Obrigkeitsdenken.
({41})
Jeder selbstbewusste Bürger in dieser Gesellschaft muss
sagen: Weil ich nichts zu verbergen habe, verbitte ich es
mir, vom Staat wie ein gemeiner Krimineller unter Generalverdacht gestellt und permanent überwacht zu werden. Das müsste in diesem Land unser Anspruch sein.
Wir sind die Volksvertreter und damit auch diejenigen,
die Bürgerrechte schützen sollen.
({42})
In der Energie- und Umweltpolitik ging es in Wahrheit nicht um einen rationalen Energiemix, sondern es
herrschte Irrationalität. Zwar hat der Umweltminister
Knut aus dem Berliner Zoo adoptiert, aber das war wohl
das Einzige, das in Erinnerung bleibt.
({43})
Eine solche Umweltpolitik ist mit Abstand zu wenig.
Das ist in Wahrheit nur Kulisse. Eine vernünftige Umweltpolitik will das Zeitalter der erneuerbaren Energien
erreichen. Aber sie weiß auch, dass wir in dieses Zeitalter Brücken brauchen.
({44})
Es macht keinen Sinn, dass wir in Deutschland die modernsten Energieanlagen der Welt abschalten, um am
Tag danach den Strom aus sehr viel unsichereren Kraftwerken, vorzugsweise aus dem Ausland, einzukaufen.
({45})
Deswegen brauchen wir eine neue, vernünftige, rationale
Energiepolitik mit einem rationalen Energiemix.
({46})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist in solchen Generaldebatten üblich, Klartext zu reden. Wir haben eine solche Debatte nicht angesetzt, damit Sie in der
Großen Koalition eine Bühne bekommen, um sich gegenseitig auf die Schulter zu klopfen: Nicht wahr, FrankWalter, es war nicht alles schlecht! - Nein, da hast du
recht, Angela.
({47})
Das ist keine vernünftige Auseinandersetzung in einer
parlamentarischen Demokratie. Ich werde mir das Duell
am Sonntagabend anschauen.
({48})
- Ja, damit habt ihr wenigstens einen Zuschauer. Es ist
überhaupt keine Frage, dass ich mir das anschaue.
({49})
In Wahrheit geht es um etwas anderes: Es geht um unser Land. Unser Land braucht eine Politik, die an die Zukunft denkt und nicht nur in der Krise stecken bleibt. Wir
brauchen eine Politik der klaren Verhältnisse: Raus aus
der Großen Koalition, aber nicht rein in eine Linksregierung! Wir brauchen eine klare bürgerliche Mehrheit der
Mitte. Dafür stehen wir.
Ich danke sehr für Ihre freundliche Aufmerksamkeit,
liebe Genossinnen und Genossen.
({50})
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen,
Dr. Frank-Walter Steinmeier.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In 19 Tagen wird ein neuer Bundestag gewählt.
({0})
Auch wenn manche im Augenblick statt von der Wahl
lieber vom Wetter reden, Herr Koppelin: Den Menschen
ist klar - seien Sie gewiss -, dass wir vor schwierigen
Jahren stehen, Jahren, die unser Land prägen und verändern werden, entweder zum Besseren oder zum Schlechteren. Es geht darum, ob wir bereit und in der Lage sind,
die richtigen Lehren aus den Krisen zu ziehen, ob wir in
der Lage sind, die soziale Balance in diesem Lande zu
behalten, und ob wir uns auf den Weg hin zu einem
wirklich nachhaltigen Wachstumsmodell machen.
({1})
Ich bin sicher, die Menschen werden ganz genau hinschauen, Herr Westerwelle, wer die richtigen Antworten auf die Fragen der Vergangenheit hat und wer eine
klare Vorstellung davon hat, wohin die Reise gehen soll.
Wer sich den notwendigen Lehren aus der Krise verweigert, der wird nicht mit seiner Politik scheitern, sondern
der wird schon bei den Wahlen scheitern; das garantiere
ich Ihnen.
({2})
Wir haben in den letzten Monaten auch Glück gehabt;
das ist wahr. Aber dass die Krise die Menschen in
Deutschland nicht mit aller Wucht getroffen hat, das
alles ist doch nicht vom Himmel gefallen. Wir haben in
Deutschland Brücken gebaut, die bisher einigermaßen
getragen haben. Das ist doch nichts anderes, Herr
Westerwelle, als das Ergebnis von Politik.
Trotz des Wahlkampfs sage ich: Das ist ein gemeinsamer Erfolg aller Beteiligten. Deshalb will ich die Gelegenheit nutzen, während der letzten Rede im Deutschen
Bundestag in dieser Legislaturperiode allen Abgeordneten, gleich welcher Partei, zu danken. Ich weiß, dass wir
über vieles gestritten haben; auf einzelne Instrumente
werde ich gleich eingehen. Ich weiß, dass wir in Ausschüssen und im Plenum gestritten haben, dass wir nach
Kompromissen gesucht haben. Am Ende haben wir aber
- auch das ist die Wahrheit - unter unglaublichem Zeitdruck im September und im Oktober vergangenen Jahres
Entscheidungen gefällt, von denen ich überzeugt bin,
dass sie den allermeisten Menschen in Deutschland auch
weitergeholfen haben. Ich danke Ihnen dafür, dass das
gelungen ist.
({3})
Ich darf noch einmal an die Diskussionen über den
weit gespannten Rettungsschirm für die Banken erinnern, die wir zu Recht geführt haben. Der Rettungsschirm hat immerhin verhindert, dass es bei uns zu einem Zusammenbruch größerer Institute gekommen ist.
Ich darf an den Streit erinnern, den wir darüber geführt
haben, ob es ein Konjunkturprogramm geben soll und,
wenn ja, in welchem Umfang. Wir haben das miteinander entschieden. Ich darf daran erinnern, dass wir für ein
Investitionsprogramm für Städte und Gemeinden gekämpft haben. In all Ihren Orten zu Hause sind in den
Sommerferien Schulen und Kindergärten saniert worden.
({4})
Ich stehe auch, Herr Westerwelle, für die Umweltprämie. Das sage ich Ihnen ganz offen. Es ist nämlich
kein guter Ratschlag, den Menschen zu sagen: Wir haben noch schwierige Monate und Jahre vor uns, deshalb
wäre es gut gewesen, die 250 000 Arbeitsplätze sofort
preiszugeben. Das ist doch kein Ratschlag für eine Regierung und für ein Parlament: „auf besseres Wachstum
hoffen“.
({5})
Ich erwähne ausdrücklich die Diskussion um das
Kurzarbeitergeld. Wir haben auf Vorschlag von Olaf
Scholz hin nicht nur die Bezugsdauer verlängert,
sondern wir haben es vor allen Dingen attraktiver gemacht. Zehntausende Unternehmen in Deutschland
nutzen die Möglichkeit der Kurzarbeit.
All das zusammengenommen - ich will kein einzelnes Instrument zu weit hervorheben -, stelle ich fest:
Dieser Mix von Instrumenten war es, der am Ende dazu
geführt hat, dass bei uns nicht wie in Spanien die
Arbeitslosigkeit von 8 auf 18 Prozent gestiegen ist. Vielmehr haben wir den Anstieg von 7 auf 8 Prozent begrenzen können, Herr Westerwelle. Dass uns das gelungen ist, ist das Ergebnis von Politik, und zwar, wie ich
finde, richtiger Politik.
({6})
Es kann ja sein, dass wir in einzelnen Punkten unterschiedlicher Meinung sind. Das wird und muss auch so
bleiben; denn das - Sie haben Recht - gehört zu einer
parlamentarischen Demokratie. Aber was wichtiger ist
- das muss man am letzten Sitzungstag der Legislaturperiode dieses Deutschen Bundestags vielleicht einmal
festhalten -: Die politischen Institutionen in Deutschland
- das ist nicht selbstverständlich - haben sich in der
Krise bewährt. Deshalb darf ich mitten im Wahlkampf
und trotz Ihrer Rede allen, die jetzt ausscheiden und daran in Zukunft nicht mehr mitwirken können, einen herzlichen Dank aussprechen.
({7})
Ich möchte besonders einen Kollegen hervorheben.
Lieber Peter Struck, du warst so etwas wie der Hausmeier der Großen Koalition. Du warst derjenige, der immer gesagt hat: Die beiden großen Volksparteien haben
2005 keinen Wahlkampf für eine Große Koalition geführt, aber es war eben das Ergebnis des Wählervotums.
Mit Blick auf die vergangenen vier Jahre sage ich im
Unterschied zu Ihnen, Herr Westerwelle: Wir haben das
Beste daraus gemacht. Dass die Bilanz der Großen
Koalition, dass die Bilanz dieser Regierung eine sozialdemokratische Handschrift trägt,
({8})
ist ganz wesentlich das Verdienst von Peter Struck. Deshalb dir, lieber Peter, ganz herzlichen Dank.
({9})
Ich bleibe dabei: Unser politisches System hat sich in
der wirtschaftlichen Krise bewährt. Eines ist mir und den
meisten von Ihnen, denke ich, aber auch klar: Das Vertrauenskapital, das wir uns in den letzten Monaten
- davon bin ich überzeugt - erarbeitet haben, darf jetzt
nicht leichtfertig verspielt werden.
({10})
Ich bin davon überzeugt, dass es weltweit eine Rückkehr
der Politik geben wird. Der Glaube an die ungehemmten
Marktkräfte ist erschüttert. Nur einige Großbanken - das
gilt auch für Deutschland - glauben noch an die Selbstreinigungskräfte des Bankensektors und an erzielbare
Renditen von über 25 Prozent. Und weil das so ist, muss
die Politik gerade jetzt am Ball bleiben. Gerade jetzt
brauchen wir eine mutige Politik, eine Politik mit Kompass und Richtung. Wer, wie mancher hier im Hause,
Herr Westerwelle, bei dem Begriff Sozialstaat in erster
Linie an bezahlte Faulheit denkt, der hat diesen Kompass eben nicht.
({11})
Wer in einer solchen Situation, in der den meisten in
Deutschland klar ist, was in den nächsten Monaten und
Jahren auf uns zukommen wird, massive Steuersenkungen verspricht, täuscht die Wähler über das hinweg, was
in diesem Land wirklich möglich ist. Und auch das kostet Vertrauen in Demokratie.
({12})
Eines darf ich Ihnen hier im Saal und darüber hinaus
versichern: Mit meiner Partei, mit der SPD, wird es keinen Abbau des Sozialstaates geben. Mit der SPD bleibt
es bei einem handlungsfähigen Staat.
({13})
Damit kein Missverständnis über das Staatsverständnis
der SPD aufkommt: Wenn ich von einem handlungsfähigen Staat spreche, dann meine ich nie einen Staat, der
die Bürger von morgens bis abends bevormundet, sondern dann rede ich von einem Staat, der in der Lage ist,
Beistand zu leisten. Und wie notwendig das ist, sehen
wir doch gerade jetzt, in der Krise.
({14})
Ich bin fest davon überzeugt - das entspricht nicht
dem Programm der FDP -, dass wir vor Jahren stehen, in
denen der Rückzug des Staates nicht mehr auf dem Programm stehen wird. Ganz im Gegenteil: Was wir brauchen, ist nicht ein Rückzug des Staates, sondern die
Rückkehr von Politik.
({15})
Deshalb sage ich: Die Jahre, die vor uns liegen, werden
entweder mutige Jahre der Gestaltung, oder es werden
verlorene Jahre sein, Herr Westerwelle. Die letzten waren es nicht, meine Damen und Herren.
({16})
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir, wenn wir das
wirklich wollen, wenn wir die Kraft haben, wenn wir
den Mut haben und wirklich einsteigen, den internationalen Finanzmärkten neue Regeln geben können. Sie
erinnern sich: Peer Steinbrück und ich haben Anfang des
Jahres Vorschläge dazu gemacht. Wir haben das, was wir
für notwendig halten, auch auf den Tisch dieses Hauses
gelegt. Peer, dir einen ausdrücklichen Dank für deinen
unermüdlichen Einsatz. Lass dich bitte nicht unterkriegen, nicht in Pittsburgh, nicht in Brüssel und erst recht
nicht zu Hause.
({17})
Wir können die Weichen in der Wirtschaft anders stellen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir sie anders
stellen müssen: weg vom schnellen Geld, weg von einer
Politik der Ausplünderung von Unternehmen und hin zu
mehr Nachhaltigkeit. Wir können durch eine vernünftige
Integrations- und Bildungspolitik erreichen, dass es in
diesem Lande gut ausgebildete Menschen, die wir für
die Arbeitsplätze von morgen brauchen, gibt. Darauf
kommt es an und nicht auf eine vage Rückkehr in die
alte Welt. Was ist das überhaupt, die alte Welt, in die
manche zurückwollen? Das Deutschland Adenauers?
Das Deutschland Erhards? Das Deutschland Helmut
Kohls? Ich sage nur: Wenn man sich manches kleinkarierte Gezänk anhört, das im Augenblick zwischen der
FDP und einzelnen Vertretern der CSU stattfindet, dann
fühlt man sich jedenfalls atmosphärisch - so habe ich
das in Erinnerung - in die letzten Kohl-Jahre zurückversetzt.
({18})
Ich habe - im Unterschied zu vielen anderen - gesagt,
wie ich mir den Weg in die Zukunft dieses Landes vorstelle. Ich habe das Konzept dazu öffentlich zur Diskussion gestellt. Ich habe dargestellt, wo wir ansetzen müssen, um Arbeit, Arbeitsplätze und Wohlstand von
morgen zu schaffen.
({19})
Es geht um Energie- und Ressourceneffizienz. Wir sind
inmitten einer großen, einer gewaltigen technologischen
Umwälzung. Stichwort Effizienzrevolution: Niemand
in der Welt ist besser aufgestellt als wir in Deutschland
mit leistungsfähigen Großunternehmen, mit einem innovativen Mittelstand, mit hervorragenden Ingenieuren
und Facharbeitern. Ich sage Ihnen: Wenn uns das
gelingt, wenn wir den Mut und die Kraft haben, die Weichen jetzt richtig zu stellen, dann können wir Ausrüster
der Welt von morgen sein. Ich füge hinzu: Wir müssen
Ausrüster der Welt sein, wenn wir Arbeitsplätze und
Menschen mit der dafür erforderlichen Qualifikation in
ausreichender Zahl bei uns halten wollen.
({20})
Ich freue mich, dass über diese Vorschläge eine öffentliche Diskussion entstanden ist. Entgegen mancher
Erwartung ärgere ich mich nicht; denn Kritik gab es
nicht aus der Fachwelt, nicht aus der Wirtschaft, sondern
allenfalls von der politischen Konkurrenz. Einige haben
mir vorgehalten, das Ziel Vollbeschäftigung sei unredlich. Ich sage: Ich werde mich niemals mit Massenarbeitslosigkeit in diesem Lande abfinden.
({21})
Noch viel wichtiger ist mir aufgrund meiner Erfahrung in der Politik: Wer sich keine anspruchsvollen,
keine hohen Ziele setzt, wird immer hinter seinen Möglichkeiten bleiben. Deshalb sage ich: Nur wer die Dinge
zusammen sieht, nur wer sieht, wie Bildung, Forschung,
Arbeitsmarkt, Integration und Gleichstellung zusammenwirken und ineinandergreifen, wird in der Lage sein,
in diesem Lande die Weichen richtig zu stellen. Wir sind
es.
({22})
Ich nenne nur ganz kurz ein Beispiel zur Energiepolitik: Ich finde es richtig, dass wir uns im letzten Jahr aufgemacht haben, Vorreiter bei der Klimapolitik zu sein.
Aber es geht nicht an, dass wir auf der einen Seite international Musterschüler sind und auf der anderen Seite im
Wahljahr hier bei uns zu Hause Energiepolitik von gestern machen.
({23})
Deshalb sage ich ganz deutlich: Wer jetzt ein Zurück zur
Kernenergie proklamiert, der dreht die Energiewende
zurück,
({24})
der wird dafür sorgen, dass wir den Vorsprung, den wir
im Augenblick bei der neuen Energietechnologie haben,
sehr schnell wieder einbüßen. Er wird vor allen Dingen
dafür sorgen, dass die Arbeitsplätze, die wir in diesem
Bereich so dringend brauchen, in Zukunft nicht mehr
entstehen.
Eine letzte Bemerkung mit Blick auf den vergangenen
Samstag: Wer den Atomkonsens von 2000 infrage stellt,
reißt einen alten gesellschaftlichen Großkonflikt in diesem Lande wieder auf. Frau Merkel, Sie kennen das
noch aus den 90er-Jahren: volle Zwischenlager, verstrahlte Castoren und kein Ausweg in der Energiepolitik.
Das ist jedenfalls nicht die Energiepolitik, die unser
Land braucht. Deshalb sage ich mit Sigmar Gabriels
Worten: Es muss beim Ausstieg aus der Atomenergie
bleiben.
({25})
Wenn ich von Weichenstellungen rede, dann geht es
um Arbeit und Umwelt, aber auch um Löhne und
Gehälter. Es muss in diesem Hause doch ein gemeinsamer Grundsatz sein, dass Menschen, die arbeiten, von
ihrem Lohn auch vernünftig leben können müssen.
({26})
Das ist nicht nur ein Gebot der Fairness, sondern - das
ist mir mindestens genauso wichtig; das sage ich mit
großer Ernsthaftigkeit - das ist auch ein Gebot wirtschaftlicher Vernunft. Denn unser deutsches Wirtschaftsmodell wird nur dann nachhaltig sein, wenn wir einen
starken Export haben; dafür arbeite ich. Wir dürfen uns
aber nicht nur auf den Export stützen, sondern müssen
gleichzeitig auch für eine starke Binnennachfrage sorgen. Anders funktioniert das nicht. Das ist nicht nur ein
sozialdemokratischer Wachstumstraum, sondern das,
worüber ich rede, ist auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Deshalb brauchen wir in unserem Land anständige Löhne, meine Damen und Herren.
({27})
Wer anständige Löhne will, der muss auch den zweiten Schritt tun und sagen: Da Löhne Angelegenheiten
der Tarifvertragsparteien sind, brauchen wir auch starke
Gewerkschaften, die darüber verhandeln. Wie Sie wissen, bin ich viel unterwegs, und ich weiß, dass dieser
Ratschlag nicht überall angenommen wird. Wir alle waren vor kurzem in Thüringen unterwegs, in einem Land,
in dem gerade noch 20 Prozent der Arbeitsplätze tarifgebunden sind. Durch solche Entwicklungen wird eine
Spirale nach unten in Gang gesetzt. All das hat schon
stattgefunden. Aber ich frage Sie: Wie soll denn jemand,
der mit 3,75 Euro pro Stunde abgespeist wird, bei der
Arbeit Einsatz zeigen? Das ist nicht nur in Thüringen,
aber auch dort ein Thema. Deshalb brauchen wir flächendeckend gesetzliche Mindestlöhne.
({28})
- Wir sind in dieser Frage ein Stück vorangekommen,
aber nicht weit genug. Ich kämpfe vor allen Dingen dafür, dass das, was wir erreicht haben, nicht rückabgewickelt wird. Darum geht es.
({29})
Die zentrale Aufgabe des nächsten Jahrzehnts - das
sage ich nicht einfach nur so daher - wird das Thema
Bildung sein. Sie werden bestimmt sagen: Das sagt jeder. Das ist wahr, das sagen alle. Bildung ist die Schlüsselaufgabe, der wir uns stellen müssen. Gelingt es uns, in
diesem Bereich Fortschritte zu machen, wird uns auch das
nächste Jahrzehnt gelingen, mit ordentlichem Wachstum
und zum Vorteil unserer Gesellschaft. Wenn wir aber
nichts tun, wenn wir die Weichen falsch oder gar nicht
stellen, dann haben wir im nächsten Jahrzehnt beides:
auf der einen Seite einen Mangel an Facharbeitern und
Ingenieuren und auf der anderen Seite trotzdem eine
hohe Arbeitslosigkeit. Diesen Weg dürfen wir nicht gehen. Deshalb müssen wir die Weichen beim Thema Bildung richtig stellen.
({30})
An dieser Stelle widerspricht noch keiner. Aber die
meisten werden unterschiedliche Vorstellungen davon
haben, welche Konsequenzen das hat. Ich sage: Bildung
kostet Geld, und wir dürfen uns in den nächsten Jahren
nicht künstlich arm machen. Wer es mit der Bildung
ernst meint, der muss auch bereit sein, dafür Geld auszugeben. Dafür muss aber auch Geld eingenommen werden.
({31})
Ich weiß, dass es im Wahlkampf nicht ganz einfach
ist, Vorschläge zu machen, woher das dafür benötigte
Geld kommen soll; auch wir haben intern lange über
diese Frage diskutiert. Wir sind allerdings der Meinung:
Wenn wir beim Thema Bildung ernst genommen werden
wollen, dann müssen wir auch sagen, woher das Geld
kommen soll. Ich habe die Einführung eines zweiprozentigen Aufschlags auf den Spitzensteuersatz, den Bildungssoli, vorgeschlagen. Das wäre verträglich. Ich habe
mit vielen Wirtschaftsvertretern Gespräche geführt. Man
hat mir gesagt: Wenn ihr wirklich sicherstellen könnt,
dass das Geld, das dadurch reinkommt, für die Bildung
verwandt wird, dann bin ich bereit, das zu zahlen. - Ich
sage: Wenn wir das machen, dann geht jeder Cent davon
in die Bildungspolitik, dahin, wo er dringend gebraucht
wird.
({32})
Nun geht diese Legislaturperiode zu Ende, und Gesetze werden nicht mehr gemacht.
({33})
Dennoch tragen wir noch ein paar Tage gemeinsam die
Regierungsverantwortung. Frau Merkel, Sie werden zusammen mit Peer Steinbrück die Bundesregierung auf
dem G-20-Gipfel vertreten. Sie haben erklärt, dass Sie
sich für strenge Regeln für die internationalen Finanzmärkte einsetzen wollen. Ich versichere Ihnen: Meine
und unsere Unterstützung haben Sie dabei.
({34})
Glaubwürdig wird die deutsche Öffentlichkeit diese
Position aber nur dann finden, wenn wir das, was wir international fordern, auch zu Hause tun.
({35})
Unser Oberlateiner kommt gleich noch. Hic Rhodus,
hic salta, würde er wahrscheinlich sagen. Aber ich muss
anfügen, dass es mit der CDU/CSU leider über viele
Monate hinweg nicht möglich war, die steuerliche Absetzbarkeit von Abfindungen, die sich nicht nur auf die
festen, sondern auch auf die variablen Bestandteile von
Gehältern beziehen, einzuschränken.
({36})
Es war auch nicht möglich, den Boni-Wahnsinn ernsthaft
zu begrenzen. Wir hatten vorgeschlagen, den festen und
den flexiblen Gehaltsbestandteil in ein vernünftiges Verhältnis zu bringen. Das ist uns leider nicht gelungen. So
bleibt es eine Aufgabe für die kommenden internationalen Verabredungen. Peer Steinbrück wird in Pittsburgh
dafür kämpfen. Ich möchte Sie, Frau Bundeskanzlerin,
bitten, ihn darin mit Nachdruck zu unterstützen.
({37})
19 Tage sind es noch bis zur Bundestagswahl. Ich bin
so gespannt wie Sie alle. Sie wissen, dass wir bis zum
letzten Tag gespannt bleiben werden, weil sich die Menschen offenbar immer später entscheiden und weil man
in einem Parlament mit vermutlich sechs Parteien immer
schlechter voraussagen kann, in welchen Konstellationen und Koalitionen es nach der Wahl weitergeht, welches Bündnis regieren wird. Deutschland braucht jedenfalls - darum geht es mir nur - in den nächsten vier
Jahren eine Regierung, die von dem Willen, zu gestalten,
beseelt ist;
({38})
eine Regierung, die mit aller Kraft die Arbeitslosigkeit
bekämpft; eine Regierung, die Arbeit zu fairen Bedingungen und anständigen Löhnen organisiert; eine Regierung, die mehr Geld in Zukunftsbranchen, in Forschung
und Bildung steckt; eine Regierung, unter der alle Kinder faire Chancen bekommen; eine Regierung, die Solidarität und soziale Sicherheit nicht zur Disposition stellt.
Das ist das Regierungsbündnis, für das ich kämpfe und
für das ich mir am 27. September eine Mehrheit wünsche.
({39})
Ich wünsche meinem Land, dass ihm eine andere Regierung erspart bleibt, eine Regierung nämlich, die sich
mit weniger zufriedengibt; eine Regierung, die den Staat
arm macht; eine Regierung, die das Gesundheitswesen
lieber privatisieren als stabilisieren will; eine Regierung,
die den Kündigungsschutz schwächen will; eine Regierung, die die Mitbestimmung als Folklore abtut. Ich
wünsche mir, dass das an unserem Land vorbeigeht.
({40})
Aber mir geht es wie Ihnen, meine Damen und Herren: Die Wählerinnen und Wähler werden ihr Urteil
sprechen. Ich kann Ihnen versichern: Dieses Urteil wird
anders ausfallen, als sich das manche hier wünschen.
({41})
Ich bin fest davon überzeugt: Dieses Land, Deutschland,
ist ein sozialdemokratisches Land,
({42})
und es gibt nur eine Sozialdemokratische Partei. Deshalb
werden sich Ihre Blütenträume von Schwarz-Gelb nicht
erfüllen. Das war 2002 nicht so, das war 2005 nicht so,
und das wird 2009 wieder nichts.
Herr Westerwelle, es geht um unser Land - da haben
Sie recht -, aber es geht nicht um Sie.
({43})
Das Wort hat der Vorsitzende der Fraktion Die Linke,
Dr. Gregor Gysi.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
jetzt drei Wahlkampfreden gehört. Es wird Sie nicht
wundern: Sie alle haben mich nicht überzeugt,
({0})
wobei ich sagen muss: Bei Frau Merkel habe ich verstanden, dass sie Kanzlerin bleiben will. Welche Politik
sie machen will, kam aber irgendwie nicht zum Ausdruck. Dann habe ich Sie, Herr Steinmeier, nicht ganz
verstanden; das ging ein bisschen durcheinander. Wollen
Sie Vizekanzler bleiben oder mit uns koalieren? Das
habe ich jetzt nicht richtig verstanden.
({1})
Bei Herrn Westerwelle habe ich verstanden, dass er
Vizekanzler werden will. Das alles kann aber doch keine
Wahlmotivation sein.
Im Übrigen verstehe ich die FDP und die SPD nicht.
Warum kämpfen Sie die ganze Zeit gegeneinander? Wer
sich ernsthaft entschieden hat, die FDP zu wählen, der
kommt doch nicht zur SPD, und wer sich, aus welchen
Gründen auch immer, entschieden hat, die SPD zu wählen, der kommt doch nicht zur FDP.
({2})
Ich wollte Ihnen nur sagen: Das können Sie beide einfach vergessen.
({3})
In einem Punkt muss ich Herrn Stiegler verteidigen,
Frau Merkel: Sie können keinen Applaus mehr anordnen; das geht nicht mehr. Die Zeiten sind vorbei. Wenn
man nicht klatschen will, dann lässt man das einfach
bleiben.
({4})
Das ist Ihnen gar nicht aufgefallen: Es gab schon drei
Landtagswahlen. Ich darf das hier einmal sagen: Wir
haben in Sachsen gut, in Thüringen sehr gut und im
Saarland gigantisch abgeschnitten. Das darf man doch
einfach einmal feststellen.
({5})
Ich möchte jetzt der SPD und den Grünen nur zwei
Takte sagen: Erstens. Wenn man drittstärkste Kraft ist,
dann kann man nicht so tun, als ob die Wählerinnen und
Wähler der SPD einen doppelten Wert haben wie die
Wählerinnen und Wähler der Linken. Das steht weder
im Grundgesetz noch in der Landesverfassung von Thüringen. Man muss einmal lernen, Wahlergebnisse zu respektieren. Das ist doch nicht zu viel verlangt, auch von
der SPD nicht.
({6})
Zweitens. Ich habe festgestellt, dass die SPD und die
Grünen in Thüringen und die Grünen im Saarland die
Sondierungsgespräche weit hinter den 27. September
2009 hinausschieben wollen.
({7})
- Hören Sie doch einmal zu! - Dazu möchte ich Ihnen
nur Folgendes sagen: Ich verstehe Sie beide. Sie von der
SPD sagen sich: Wenn wir zur Union gehen, dann verlieren wir Stimmen, wenn wir zur Linken gehen, dann verlieren wir auch Stimmen. Sie von den Grünen sagen
sich: Wenn wir zur Union gehen, dann verlieren wir
Stimmen, wenn wir zur Linken gehen, dann verlieren
wir auch Stimmen. Deshalb denken Sie: Verschieben ist
das Beste.
({8})
Eines sage ich Ihnen beiden aber auch: Wer verschiebt,
der verliert auch Stimmen. Und das ist auch richtig so.
({9})
Jetzt komme ich zur Politik zurück. Mit Ausnahme
der Linken gibt es in diesem Bundestag doch in Wirklichkeit eine Konsenssoße. Es gibt zwei nennenswerte
Widersprüche zwischen Ihnen: der eine bei der Nutzung
der Atomenergie - Herr Steinmeier hat das angesprochen -, der andere beim flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn; das stimmt. Dann ist bei den Kernfragen
aber auch Schluss.
Nehmen wir den Krieg in Afghanistan, über den wir
vorhin diskutiert haben. Sie alle sind einer Meinung und
glauben im Ernst, man könne Terrorismus mittels Krieg
bekämpfen. Ich sage Ihnen: Im Krieg sterben immer Unschuldige und Unbeteiligte. Dabei entsteht Hass, und die
Bin Ladens nutzen diesen Hass, um neue Terroristen zu
rekrutieren. Deshalb ist das das völlig falsche Mittel.
Wir müssen raus aus der Spirale der Gewalt, gerade
wenn wir den Terrorismus bekämpfen wollen.
({10})
Deutschland ist inzwischen der drittgrößte Waffenexporteur der Welt. Es gibt keinen Krieg, an dem wir
nicht mitverdienen. Solange an Kriegen so viel verdient
wird, hören sie auch nicht auf. Das müssen wir ändern.
Wir müssen den Waffenexport verbieten.
({11})
Nehmen wir einen weiteren Punkt: die Rentenkürzung. Sie haben die Rentenformel und damit das Rentenniveau geändert. Darin waren sich wieder alle vier einig:
Union, FDP, SPD und Grüne.
({12})
- Natürlich. Sie alle haben die Rentenkürzung um zwei
Jahre beschlossen. Ich sage Ihnen eines: Was mich daran
wirklich stört, ist, dass nicht einmal die SPD auf die Idee
kommt - bei der Interessenlage der anderen kann ich es
noch irgendwie nachvollziehen -, einen anderen Weg zu
gehen. Wir könnten doch drei Punkte beschließen. Wir
könnten erstens regeln, dass in der künftigen Generation
nicht nur die abhängig Beschäftigten, sondern alle, die
ein Einkommen beziehen - auch Abgeordnete, Ärztinnen und Rechtsanwälte -, in die Rentenkasse einzahlen
müssen. Das wäre ein gewaltiger Schritt.
({13})
Zweitens könnten wir die Beitragsbemessungsgrenzen aufheben. Dann muss eben ein Siemens-Chef seinen
Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung aus seinem
gesamten Einkommen statt nur aus einem kleinen Teil
davon zahlen. Als dritter Punkt sollte der damit verbundene Rentenanstieg abgeflacht werden.
Das wären drei Reformen. Dann könnte jeder eine
vernünftige gesetzliche Rente erhalten. Aber die SPD
hat zugestimmt, die Rente einfach um zwei Jahre zu kürzen, und dann sagen Sie, Herr Steinmeier, dass Sie keinen Sozialabbau mitmachen. Eine Rentenkürzung um
zwei Jahre ist doch wohl ein gigantischer Sozialabbau.
({14})
Nehmen wir die Agenda 2010 und die Hartz-IVGesetze. Sie alle sind für Hartz IV. Wir sagen: Das ist
ein Akt falscher Gleichmacherei und ein Akt der Demütigung. Deshalb wollen wir Hartz IV überwinden. Aber
wir sind in diesem Bundestag die Einzigen, die das wollen.
({15})
- Ja, ja. Nachher stimmen wir über einen Antrag ab.
Darauf bin ich schon gespannt. Darin geht es um die Erhöhung des Schonvermögens. Das fordert auch die FDP.
Mal sehen, wie Sie nachher abstimmen.
Ich war bei Hart aber fair zu Gast.
({16})
Dort trat eine Frau auf, die teilzeitbeschäftigt ist und zusätzlich ALG II bekommt. Deren Tochter hat in den
Ferien drei Wochen gearbeitet, um sich von dem dabei
verdienten Geld eine Gitarre zu kaufen, und dann hat das
Amt der Frau mitgeteilt, dass ihr dieses Geld vom
ALG II abgezogen wird. Ich finde, das ist ein Skandal.
Nachher können wir entscheiden, dass das ein Ende hat.
Mal sehen, was Sie nachher beschließen. Ich bin sehr gespannt.
({17})
Sie alle haben die Senkung des Spitzensteuersatzes
beschlossen. Herr Steinmeier, Sie wollen ihn um zwei
Prozentpunkte erhöhen. Ich darf Sie daran erinnern, dass
wir unter Herrn Schröder mit einem Spitzensteuersatz
von 53 Prozent begonnen haben, den Sie auf 42 Prozent
gesenkt haben. Davon hat Kohl nur geträumt. Er hat sich
das nie getraut. Das haben die SPD und die Grünen umgesetzt. Das ist die Wahrheit, und das führte dann letztlich auch zu einem Sozialabbau.
({18})
Keine andere Partei im Bundestag außer der Linken
will eine Vermögensteuer, auch die Grünen nicht. Sie
wollen eine einmalige Abgabe durch die Vermögenden,
aber keine Steuer, nicht dass sie regelmäßig etwas zu
zahlen hätten.
Das ist doch das ganze Problem: Die Linken sind
nicht Bestandteil dieser Konsenssoße. Deshalb mögen
Sie uns nicht. Deshalb ist unser Wahlergebnis das entscheidende. Denn Sie ändern sich nur in Bezug auf das
Wahlergebnis der Linken. Sie glauben doch nicht, dass
sich die SPD ändert, wenn die Grünen zwei Prozentpunkte mehr haben, oder dass es die Union interessiert,
ob die FDP zwei Prozentpunkte mehr bekommt. Aber
wenn wir stark abschließen, dann werden Union, SPD
und Grüne sozialer. Das ist die Wahrheit, und das wissen
immer mehr Leute. Deshalb bin ich auch ganz optimistisch.
({19})
Es begreifen immer mehr Menschen, dass es gesellschaftspolitisch irrelevant ist, ob wir eine Regierung in
dieser oder in jener Konstellation bekommen. Es geht in
unserer Gesellschaft um ganz andere Fragen. Herr Jörges
hat im Stern übrigens völlig zu Recht geschrieben, worum es geht: „Die Linke in der Krise klein halten, koste
es, was es wolle“. Er behauptet, dass die Menschen die
Verlängerung des Kurzarbeitergeldes und die Abwrackprämie nur unserer Existenz verdanken. Ich finde, das
sollte man verbreiten, damit es alle wissen.
({20})
Dann will ich noch ein bisschen in die Geschichte zurückgehen. Was ist passiert? Als die Grünen zusammen
mit Schröder regierten, haben sie den Spitzensteuersatz
der Einkommensteuer gesenkt. Dann haben sie entschieden, dass die Deutsche Bank, wenn sie etwas verkauft,
auf den Kaufpreis keine Steuern mehr bezahlen muss.
Sie haben aber auch entschieden, dass ein Bäckermeister
das Doppelte bezahlen muss, wenn er etwas verkauft. Es
ist ja wahnsinnig sozial, was Sie damals entschieden haben. Damit haben Sie alle Hedgefonds eingeladen. Herr
Steinbrück hat bei Frau Illner zu mir gesagt, dadurch
seien wir Weltklasse geworden. Ich kann nur feststellen,
Herr Steinbrück: Dadurch sind wir in eine Weltklassekrise geraten. Das ist wahr. Ansonsten hat das mit Weltklasse überhaupt nichts zu tun.
({21})
Das war doch eine Einladung an alle Hedgefonds. Die
können hier kaufen und verkaufen, was sie wollen. Sie
müssen nie einen Cent Steuern zahlen. Dafür haben SPD
und Grüne gesorgt, und die Union hat es selbstverständlich nicht korrigiert.
Dann haben Sie die Körperschaftsteuer zuerst von
45 Prozent auf 25 Prozent und jetzt in Ihrer Koalition
von 25 auf 15 Prozent gesenkt. Was macht man, wenn
man auf so viele Steuereinnahmen verzichtet? Dann
muss man jemanden zur Kasse bitten. Deshalb haben wir
bei der Einkommensteuer den Steuerbauch. Deshalb haben Sie die Pendlerpauschale grundgesetzwidrig
gekürzt. Herr Steinmeier, handelt es sich nicht um
Sozialkürzungen und einen Abbau des Sozialstaates,
wenn man den Menschen - grundgesetzwidrig - die
ersten 20 Kilometer nicht mehr bezahlen will? Das ist
doch wohl ein Abbau des Sozialstaates. Nichts anderes
haben Sie beschlossen.
({22})
Dann haben Sie den Sparerfreibetrag gesenkt, damit
auch die Kleinsparer früher Steuern zahlen müssen.
Dann haben Sie entschieden, die Mehrwertsteuer von
16 auf 19 Prozent zu erhöhen. Hier hat Herr Westerwelle
recht: Sie haben ein Wahlversprechen gebrochen. Diese
Mehrwertsteuererhöhung hat den schlimmsten Sozialabbau zur Folge, den man betreiben kann.
({23})
Frau Merkel, Sie sind nun eine ostdeutsche Kanzlerin.
({24})
Hat sich strukturell irgendetwas an der Situation der
Ostdeutschen durch Sie in den letzten vier Jahren verbessert? - Gar nichts!
({25})
Noch immer wird mir erzählt, geringerer Lohn bei längerer Arbeitszeit im Osten führe zum Abbau der Arbeitslosigkeit. Aber sie ist dort noch immer doppelt so
hoch. Wenn eine naturwissenschaftliche These durch ein
19-jähriges Experiment widerlegt ist, könnten Sie endlich sagen: gleicher Lohn für gleiche Arbeit bei gleicher
Arbeitszeit. Das sagen diejenigen, die vereinigen wollen.
({26})
Nehmen wir den Niedriglohnsektor als Beispiel.
19 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse in den alten
Bundesländern sind Niedriglohnverhältnisse. In den
neuen Bundesländern sind es 41 Prozent. Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse: Insgesamt macht das 17 Prozent der
Beschäftigungsverhältnisse in den alten Bundesländern
aus, aber 65 Prozent der Arbeitsverhältnisse in den
neuen Bundesländern. Ein weiteres Beispiel: Nach wie
vor haben wir keine gleiche Rente für gleiche Lebensleistung. Wir haben dazu 17 Anträge gestellt. Ich
möchte, dass Sie, Frau Merkel, und Sie, Herr Steinmeier,
aber auch Sie, Herr Westerwelle, und Sie, Frau Künast
und Herr Trittin, den Menschen im Osten nur drei Fragen beantworten: Warum dürfen geschiedene Frauen aus
der ehemaligen DDR - im Unterschied zu allen anderen
Frauen - keinen Versorgungsausgleich bekommen, wie
wir es beantragt haben? Warum stimmen Sie nicht der
Korrektur zu, dass die 1990 gestrichenen Anwartschaftsjahre von Hausfrauen, die über Jahre „Marken geklebt“
und Anwartschaftsjahre erworben haben, wieder anerkannt werden? Warum können Sie all dem nicht zustimmen?
({27})
Warum können Sie nicht der Korrektur der 1990 gestrichenen gesetzlichen Rentenansprüche von eingetragenen
Familienmitgliedern privater Handwerker zustimmen?
Warum können Sie das nicht machen? Sie alle lehnen
das ab. Ich finde, das ist ein völlig falscher Weg.
({28})
Vollbeschäftigung ist ein redliches Ziel; das stimmt.
Aber was ist denn bis 2008 passiert? Sie tun so, als ob
Sie Arbeitslosigkeit abgebaut hätten. Darf ich Sie auf
Folgendes hinweisen? - Sie haben 1,6 Millionen Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse abgebaut, aber 2,6 Millionen prekäre Beschäftigungsverhältnisse aufgebaut.
({29})
Sie haben oft einen Vollzeitjob in zwei 400-Euro-Jobs
umgewandelt. Das hat mit „sozial“ gar nichts zu tun und
löst nicht das Problem, sondern verschärft es.
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zur Bildung
sagen, da alle darüber reden. Es ist wirklich ein starkes
Stück. SPD und Union haben beschlossen, das Grundgesetz zu ändern. Der Bund ist aus der Zuständigkeit für
die Schulsysteme ganz hinausgeflogen. Sie wollten dann
in Bildung investieren, mussten aber feststellen, dass Sie
sich gerade selber ein Bein gestellt haben und gar nicht
mehr investieren dürfen. So kam das Programm zur
energetischen Sanierung der Schulgebäude zustande.
Wir brauchen aber mehr Lehrerinnen und Lehrer sowie
mehr Erzieherinnen und Erzieher. Wir brauchen mehr
Nachmittagsbetreuung und Förderung. Wir brauchen zudem mehr Gemeinschaftsschulen. Die frühe Trennung
der Kinder führt zu nichts anderem als zu sozialer Ausgrenzung. Das wird in Bayern ganz großgeschrieben.
({30})
Es gibt in jeder Gesellschaft eine unschuldige
Gruppe. Das sind die Kinder. Das Einzige, wozu wir verpflichtet sind, ist, ihnen gleiche Chancen einzuräumen.
Ich will gleiche Chancen für das eine Kind des Professors wie für das dritte Kind der alleinerziehenden
Hartz-IV-Empfängerin. Aber davon sind wir in Deutschland meilenweit entfernt.
({31})
In die Bildung müssen wir wirklich investieren, aber
nicht bei 16 verschiedenen Schulsystemen. Das ist
19. Jahrhundert. Wir brauchen ein Topbildungssystem
von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern. Jedes Kind
muss die Chance auf eine Topbildung erhalten.
({32})
Deshalb zum Schluss: Ihre Regierungstätigkeit hat
sich vielleicht für Sie gelohnt, aber nicht für die Bevölkerung.
Danke schön.
({33})
Das Wort hat die Vorsitzende der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast.
Vizepräsidentin Petra Pau
({0})
Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich nur mit
einem Satz auf die sehr engagierte Rede des Kollegen
Gysi eingehen: Lieber Gregor Gysi, wärst du doch einfach in Berlin Wirtschaftssenator geblieben und hättest
dort all die guten Ideen realisiert, über die du hier geredet hast,
({0})
dann hättest du dich hier nicht mit so einem hochroten
Kopf engagieren müssen. Wir allerdings hätten dann gewusst, ob den guten und engagierten Worten auch jemals
Taten folgen. Interessiert hätte es mich schon.
({1})
Ich will es damit bewenden lassen und einige Worte
zur Bundeskanzlerin und ihrer heutigen Rede zur Situation Deutschlands sagen. Diese Rede der Bundeskanzlerin war nicht wegweisend, sondern das war im Gegenteil
die typische Schlafwagenrede von Angela Merkel - man
kann auch sagen: eine Valiumrede -, die dem DreiPunkte-Schema folgte: erstens das Thema benennen,
zweitens eine Frage stellen und sich drittens um die Antwort drücken. Das hat sich durch ihre komplette Rede
gezogen.
({2})
Wir haben die Situation, dass diese Gesellschaft und
dieses Land vor wirklich tiefgreifenden Problemen stehen. Wir haben den Klimawandel, also das größte
Marktversagen, das wir kennen. Wir haben eine durch
ein zutiefst ungerechtes Bildungssystem blockierte Gesellschaft. Wir haben die höchste Verschuldung seit
60 Jahren. Wir haben eine Weltwirtschafts- und Finanzkrise mit Kurzarbeit und vermutlich bevorstehenden
Entlassungen. Sie, Frau Merkel, haben fast alle Themen
benannt, aber keine einzige Antwort gegeben. Das reicht
definitiv nicht aus.
({3})
Man könnte sagen: Frau Merkel hat heute wieder einmal
Kreide gefressen, weil sie alles benennt, sich aber um die
Antwort drückt. Das war wie in der Großen Koalition.
Frau Merkel vorneweg bietet immer kurzfristige Scheinlösungen, kuriert ein bisschen am System herum, und am
Ende wird noch die soziale Marktwirtschaft beschworen.
Aber was wir wirklich brauchen, ist eine Neuausrichtung, eine Neustrukturierung der Wirtschaft in
Deutschland. Wir hatten auch in den Schlüsselindustrien, zum Beispiel in der Chemieindustrie und in der
Automobilindustrie, schon vor der Krise eine große
Überproduktion und große Strukturprobleme. Wer dieses
Land aus der Krise herausführen will, der darf nicht sagen, dass wir wieder wie vor der Krise sein wollen, sondern er muss jetzt neue Antworten geben. Aus der Krise
kommen wir nicht mit der Denkweise von gestern, nicht
mit der Denkweise, die uns in die Krise geführt hat, sondern mit neuen, innovativen Lösungen, mit dem Mut,
den alten Lobbyisten nicht mehr auf dem Schoß zu sitzen, sondern ihnen einmal auf die Füße zu treten.
({4})
Wir brauchen in diesem Land keine Scheinlösungen,
sondern wirklich neue Ideen und andere Strukturen, gerade für die Schlüsselindustrien Deutschlands. Das geht
nicht mit Wischiwaschi, wie es Frau Merkel gemacht
hat, sondern alle Maßnahmen, die man ergreift, müssen
dem Kriterium entsprechen, dass es keine Neuverschuldung geben darf, ohne dass ein Mehrwert, eine Neuausrichtung entsteht. Wer einfach neue Schulden macht, wie
sie es getan hat, versündigt sich an der jüngeren Generation.
({5})
Im Zusammenhang mit Scheinlösungen muss ich
Opel erwähnen. Die Bundesregierung hat beim Thema
Opel vorgeführt, was sie alles nicht kann.
({6})
Jetzt findet quasi ein Wettbewerb statt, wer von den Ministern am schönsten aussieht. Das interessiert uns aber
hier überhaupt nicht.
({7})
Wir wollen wissen, wer wirklich professionell an die
Aufgabe herangeht und was er für die Opelaner tut, egal
ob in Bochum, Rüsselsheim, Eisenach oder in Kaiserslautern. Aber diese Regierung hat die Verhandlungssituation komplett falsch eingeschätzt. Jetzt haben wir
eine Bundesregierung, die am Gängelband des GeneralMotors-Verwaltungsrats ist. Das war handwerklich nicht
gut gemacht.
({8})
Man muss nach vier Jahren Großer Koalition eines
sagen: Deutschland hat vier verlorene Jahre hinter sich,
eben weil es keine Neuausrichtung gab. Deutschland hat
sich verschuldet, ohne zu wissen, wer dafür eigentlich
zahlen soll. Deutschland hat in diesen vier Jahren keine
Neuausrichtung auf Zukunftsprojekte vorgenommen.
Sie von der Koalition behaupten - Frau Merkel heute
vorneweg -, Sie bauten Brücken. Brücken bauen Sie immer nur ins Nichts. Die Abwrackprämie oder die Kurzarbeit: Was folgt denn danach? Mir kommt es so vor, als
würden Sie an einem Ufer anfangen, eine Brücke zu
bauen. Nur leider endet sie in der Mitte des Sees, da, wo
der See am tiefsten ist. Wer kauft Autos nach Ablauf der
Abwrackprämie? Was produzieren die Automobilkonzerne und deren Zulieferer eigentlich, wenn die Abwrackprämie ausgelaufen ist? Wie sollen angesichts von
Kohlekraft- und Atomkraftwerken - ich erinnere an Ihre
Wünsche, deren Laufzeiten zu verlängern - die erneuerbaren Energien, die damit verbundene Effizienz und die
damit einhergehenden Jobmöglichkeiten wachsen? Sie
bauen keine Brücken in die Zukunft, sondern Sie haben
in den vergangenen vier Jahren lauter Brücken ins
Nichts gebaut.
({9})
Was sind denn die dringendsten Probleme? Schauen
wir uns einmal den Sozialbereich an. Dazu hat Frau
Merkel heute wieder einmal gar keine Antwort gegeben.
Sie hat gesagt - dieser Satz ist mir aufgefallen -, das
Thema Kündigungsschutz sei für sie abgehakt. Ich
weiß nicht, wie sie es meint: Denkt sie an die Reduzierung oder an den Erhalt des Kündigungsschutzes? Man
kann an dieser Stelle nur in das Grundsatzprogramm der
CDU schauen. Was ist ihre Reaktion auf die Sorgen der
Menschen in diesem Land? Diese Menschen fragen, ob
ihr Job sicher ist, ob ihnen gekündigt wird, ob sie einen
neuen Job finden. Dazu sagt die Kanzlerin, das Thema
Kündigungsschutz sei für sie abgehakt. Das Grundsatzprogramm der CDU von 2007 besagt, eine Flexibilisierung des Kündigungsschutzes sei ein Gebot der
Gerechtigkeit. Das bedeutet, dass kleinere Unternehmen
- Unternehmen bis 20 Personen - mehr Möglichkeiten
haben sollen, Arbeitnehmern zu kündigen.
({10})
Das Ganze wird präzisiert durch Papiere, von denen
Herr Guttenberg mittlerweile nichts mehr wissen will.
Wenn ich mir vorstelle, dass auch noch die WesterwelleFDP der Regierung angehört, dann weiß ich, wie Sozialpolitik Ihrer Meinung nach in Zukunft aussehen soll.
Schon deshalb muss man Schwarz-Gelb verhindern.
({11})
Was sind Ihre Sorgen um das Soziale? Nehmen wir
einmal die Menschen in diesem Land, die wirklich einen
Vollzeitjob haben und denken, dass sie von ihrer Hände
Arbeit sich selber ernähren können, also nicht aufs Amt
laufen müssen - was ich für selbstverständlich, für eine
Frage der Würde halte. In Thüringen bekommen eine
Friseurin 3,18 Euro die Stunde und ein Wachmann
4,32 Euro die Stunde. Für den Kollegen Gregor Gysi:
Bis vor kurzem zahlte auch Berlin für so manchen outgesourcten Wachmann 5 Euro die Stunde. Das änderte sich
erst, nachdem andere immer wieder mit dem Finger darauf hingewiesen hatten. Gut, dass auch andere Stimmen
bekommen und euch nachhelfen können, mein Lieber!
Die CDU sagt zu diesem Thema: Mindestlöhne
schränken die notwendige Flexibilität der Unternehmen
ein und verteuern die Arbeit. Auch das CDU-Wahlprogramm besagt: Das für ein menschenwürdiges Leben
- das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen notwendige Einkommen sichert nicht ein einheitlicher
gesetzlicher Mindestlohn. Ja, wer denn dann?
({12})
Es kann doch nicht sein, dass Unternehmen Profit machen, dass deren Arbeitnehmer zum Amt laufen und dass
die öffentliche Hand nachher von nicht eingenommenen
Steuern Wohngeld und anderes finanziert.
({13})
Es gehört zur Sozialbindung des Eigentums des Unternehmers, dass man Mindestlöhne zahlt. So steht es im
Grundgesetz. Deshalb brauchen wir einen Mindestlohn
von 7,50 Euro.
Was ist mit den Menschen in Armut? Was haben Sie
eigentlich dazu gesagt? Frau Merkel hat ein bisschen
über Bildung geredet; darauf komme ich gleich zurück.
Jedes sechste Kind in Deutschland lebt in Armut. Besonders betroffen sind Alleinerziehende; 44 Prozent von ihnen müssen von ALG II leben. Das kann im Alltag heißen, dass deren Kinder schon bei einer Klassenfahrt
darauf angewiesen sind, dass andere Geld sammeln, damit sie mitfahren können. Außerdem können sie darauf
angewiesen sein, dass andere Geld sammeln, damit sie
zum Beispiel ein Musikinstrument bekommen. Was haben Sie an dieser Stelle in dieser Legislaturperiode getan? Ich sage Ihnen: faktisch nichts. Ihre Antwort heißt:
Familiensplitting, also für Verheiratete mit vielen Kindern aufs Ehegattensplitting oben noch was drauf. Aber
die Mehrheit der wirklich Armen in diesem Land sind
die alleinerziehenden Eltern, und für die haben Sie gar
nichts getan.
({14})
Dann schauen wir mal weiter beim Thema Gerechtigkeit! Gerechtigkeit hat für unsere Begriffe viel damit zu
tun, dass wir nicht auf Kosten der kommenden Generationen leben. Wir haben jetzt die größte Verschuldung
seit den 60er-Jahren, in diesem Jahr sicher mindestens
100 Milliarden Euro, im nächsten Jahr noch mal so viel.
Hinzu kommt noch das Versteckspiel dieser Koalition:
Finanzmarktstabilisierung, Investitionsfonds, Wirtschaftsfonds, alles in Schattenhaushalten versteckt. Ich sage Ihnen ganz klar: Es ist nicht gerecht, auf Kosten der Kinder zu leben. Es geht nicht an, sich jetzt nicht Gedanken
darüber zu machen, wie dies abgezahlt wird.
({15})
Es ist schon gar nicht gerecht, dann noch, wie Union,
CDU/CSU, und FDP es tun, über Steuerentlastungen
nachzudenken. Wenn Sie, meine Damen und Herren, in
dieser Situation von Steuerentlastung für Wohlhabende
reden, ist darin die Drohung enthalten, an anderer Stelle
Leistungen zu kürzen oder Abgaben zu erhöhen. Das
wird am Ende heißen: Sozialabbau und Bildungsabbau
oder, wie selbst Wolfgang Kubicki sagt, erneute Erhöhung der Mehrwertsteuer.
({16})
Das ist nicht gerecht.
({17})
Wovon zahlen Sie das denn? Ich weiß nicht, woher
die zweistelligen Milliardenbeträge der CDU/CSU kommen sollen. Ich weiß nur eines: Herr Westerwelle macht
Folgendes: Hier wird ein bisschen gestrichen, da wird
ein bisschen gestrichen, und dann werden zweistellige
Milliardenbeträge mit der Entwicklungshilfe für China
finanziert, die allerdings nur 200 Millionen Euro - nicht
200 Milliarden Euro! - beträgt. Sie haben hier eine echte
Lücke in Ihrer Rechnung. Deshalb muss man erwarten,
dass Sie das auf Kosten des Sozialen aufbringen.
({18})
Wir sagen: Diese Generation muss sich Gedanken
übers Abzahlen machen. Deshalb müssen in dieser Generation diejenigen, die von dieser Wirtschafts- und
Finanzweise profitiert haben, anfangen, den Schaden zu
beseitigen. Deshalb geht es nicht an, eine Steuersenkung
zu versprechen. Was wir jetzt brauchen, ist eine befristete Vermögensabgabe, die gezielt gezahlt wird, um mit
dem Abtragen der Schulden zu beginnen.
({19})
Worüber haben Sie an dieser Stelle und heute noch
nicht geredet, Frau Merkel? Sie haben auf allen vergangenen Terminen wohltuende Worte über die Finanzmarktregulierung gesprochen. Sie kündigen jetzt schon
wieder schöne Dinge an. Aber auch London und
Washington waren Ankündigungen. Da hieß es von Ihnen: Kein Staat, kein Produkt, kein Institut soll unreguliert bleiben. - Nun kommt Pittsburgh. Schon wieder ein
Versprechen! Für uns stellt sich aber die Frage: Wann
passiert denn endlich was?
Die Kanzlerin hat sich hier gerade mit ganz viel Emotion über den Vertrag von Herrn Eick echauffiert, der bei
Arcandor nach sechs Monaten Arbeit insgesamt
15 Millionen Euro Abfindung erhält. Darüber kann man
sich trefflich aufregen, das ist mehr als unanständig, aber
wer mit dem Finger darauf zeigt, ist als Nächstes gefordert, zu sagen, warum er oder sie nicht selbst etwas dagegen getan hat. Weil in Deutschland Vertragsfreiheit
herrscht - das ist auch gut so -, können wir die nicht
zwingen, einen anderen Vertrag abzuschließen. Wir
könnten aber dafür sorgen, dass in Zukunft nicht der
Aufsichtsrat, sondern ganz öffentlich die Hauptversammlung über die Gehälter entscheidet. Das könnten
wir gesetzlich festlegen.
({20})
Dann wüsste jeder, was Sache ist, und könnte sich dagegen entscheiden.
({21})
Was könnte man noch tun, und was hätte man gerade
tun können? Sie haben das Gesetz über die Angemessenheit der Managervergütungen verabschiedet. Warum
haben Sie in dieses Gesetz denn nicht die einzig sinnvolle Vorschrift hineingeschrieben, nämlich die, dass
Gehälter oder Boni nur bis zur Höhe von 1 Million Euro
steuerlich abzugsfähig sind, also nur bis zu dieser Höhe
auf dem Rücken des Steuerzahlers gewährt werden?
({22})
Dazu hat die CDU/CSU Nein gesagt. Dazu hat auch
Frau Merkel Nein gesagt. Aber das wäre das Richtige.
({23})
Dann würden nämlich die horrenden Gehälter oder die
Verträge, nach denen schon nach sechs Monaten
15 Millionen Euro Abfindung gezahlt werden, nicht
mehr durch die Minderung der Steuerberechnungsgrundlage dem Steuerzahler aufgebürdet, sondern knallhart
zulasten des Profits des Unternehmens gehen. Das wäre
die einzig richtige Entscheidung.
({24})
Jetzt kommen Sie damit, dass man eine rechtliche
Verankerung des Rückforderungsrechts für den Fall vereinbart habe, dass die Profite einer Firma nicht ganz so
groß gewesen seien wie erwartet. Dies reicht uns nicht
aus. Wir wollen dafür Sorge tragen, dass große Gehälter
nicht zulasten des Steuerzahlers gehen. So einfach ist
das.
Ich habe aufmerksam beobachtet, wie Herr
Westerwelle engagiert gefordert hat, zum Beispiel die
Bankenaufsicht zu verbessern und Ähnliches. Er hat die
FDP als Partei der Bürgerrechte dargestellt. Ich wollte
schon glauben, Sie seien die Partei der Verbraucherrechte. Ich denke aber, die FDP wäre gut beraten, nicht
nur zu reden, sondern bei den Themen Banken, Arbeitnehmerrechte, Datenschutz und Internetrechte einmal
auf ihre Landesminister zu achten. Wenn Sie hier den
Bürgerrechtler geben, während Herr Wolf beim Verfassungsgericht mit der Forderung der Onlinedurchsuchung
und Herr Goll mit der Forderung der Sicherungsverwahrung gegen die Wand läuft und die FDP in Niedersachsen das Polizeigesetz gar nicht erst durchbringt, ist das
sehr doppelbödige Politik.
({25})
Was wir brauchen, ist ein Aufbruch zu einer ökologischen und sozialen Modernisierung dieses Landes.
Wir hätten mit einem Zehntel des Geldes, das Sie für die
Abwrackprämie ausgegeben haben, einen riesigen Entwicklungsboom bei der Elektromobilität auslösen
können. Sie haben eine Brücke nur bis zur Wahl gebaut,
und es besteht die Befürchtung, dass sofort danach
90 000 Arbeitsplätze gefährdet sind. Sie denken immer
noch nicht darüber nach, wie eine gute Struktur für die
deutsche Wirtschaft aussehen müsste. Ich habe mir ehrlich gesagt die Augen gerieben, als ich gehört habe, dass
dieses Bundeskabinett beschlossen hat, für 2015 ein Projekt der unbemannten Mondfahrt mit 1,5 Milliarden
Euro zu finanzieren. Was wollen wir eigentlich auf dem
Mond? Wir wollen doch nicht Letzter auf dem Mond
sein, sondern die Ersten, die Elektromobile mit einer
modernen Technologie haben, welche in der Lage sind,
von Flensburg bis München statt nur 80 Kilometer zu
fahren. Damit wäre man vorne.
({26})
Diese Gesellschaft muss man so aufbauen, dass man
in vier Jahren 1 Million neue Jobs schafft. Das kann man
auch: durch erneuerbare Energien, durch Investitionen in
Bildung und soziale Gerechtigkeit. Dafür muss aber der
Blaumann in der Industrie endlich grün werden. Dafür
muss man den Mut haben, der Wirtschaft nicht hinterherzulaufen und sie die Gesetze schreiben zu lassen,
sondern ihr einen Ordnungsrahmen zu setzen. Wenn die
CDU plakatiert: „Wir haben die Kraft“,
({27})
dann sage ich Ihnen ehrlich: Sie haben vier Jahre lang
nicht die Kraft und nicht den Mut gehabt, der Wirtschaft
Leitplanken zu setzen, um zu verhindern, dass sie auf
Kosten der Umwelt ihr Wachstum und ihren Profit organisiert. Das ist die Wahrheit.
({28})
Sie propagieren immer noch: Weiter mit der Atomenergie! Das ist genauso falsch. Wer jetzt Hand an die
Vereinbarungen zum Atomausstieg legt und Verlängerung fordert, schadet diesem Land, weil auf diese Weise
keine neuen Arbeitsplätze im Bereich der erneuerbaren
Energien und der effizienten Technologien entstehen,
sondern nur die Profite der Atombetreiber erhöht werden. Aber wir haben verstanden: Wenn der Atomkonsens
für Sie und die Atomkonzerne nicht gilt, dann gilt er
auch nicht mehr für die Menschen in diesem Land, die
diese Risikotechnologie mehrheitlich nicht wollen. Dann
kämpfen wir dafür, dass die Atomwerke noch schneller
abgeschaltet werden.
({29})
Kollegin Künast, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. - Wir kämpfen dafür, dass die Menschen in Gorleben nicht mit Gutachten, die in Zeiten einer schwarz-gelben Bundesregierung vorsätzlich gefälscht wurden, über
den Tisch gezogen werden.
({0})
Wir kämpfen dafür, dass die Kinder in diesem Land
nicht an Leukämie sterben, wenn sie in der Nähe eines
Atomkraftwerks wohnen. Wir kämpfen dafür, dass man
die soziale Frage für die Frauen endlich löst, indem man
ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft macht.
Wir kämpfen für ein Bildungssystem, bei dem jedes
Kind unabhängig vom Bildungsabschluss seiner Eltern
die Chance hat, sich zu entwickeln.
Wir wissen: Am 27. September steht dieses Land vor
einer Richtungsentscheidung, weil es darum geht, wie
wir aus der Krise herauskommen und wie wir die Weichen für ein ökologisches Wachstum stellen, das nicht
zulasten der Umwelt geht. Die Debatte in der Zukunft
geht darum: entweder erneuerbare Energien oder Atomenergie, entweder Bildung oder Steuersenkung.
Frau Kollegin Künast, Sie müssen jetzt bitte zum
Schluss kommen.
Mein letzter Satz, Frau Präsidentin.
Dieses Land braucht einen Richtungswechsel,
({0})
weil wir nur mit einem Richtungswechsel aus der Krise
herauskommen.
({1})
Das Wort hat der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Volker Kauder.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Was bewegt die Menschen im Augenblick am
meisten? - Das sind die Fragen: „Sind wir schon durch
die Krise durch?“ und „Bleibt mein Arbeitsplatz erhalten?“ Für diejenigen, die in Arbeit sind, ist die Arbeitsplatzsicherheit und für die jungen Menschen ist die
Frage, ob sie einen Ausbildungsplatz bekommen und ob
sie nach ihrer erfolgreichen Ausbildung weiterbeschäftigt werden, das zentrale Thema. Deswegen sagen wir
von der Union: „Arbeit für alle“ ist unser Thema. Dafür
müssen wir in den nächsten Wochen und Monaten und
wahrscheinlich auch in den nächsten Jahren ganz energisch arbeiten.
({0})
Dass wir nicht nur davon sprechen - Arbeit für alle -,
sondern dass wir von diesem Thema auch etwas verstehen, haben wir in den vergangenen vier Jahren gezeigt.
Denn die rot-grüne Bundesregierung hat uns über
5 Millionen Arbeitslose hinterlassen. Diese Zahl haben
wir auf unter 3 Millionen zurückgeführt.
({1})
Wenn es also einer bewiesen hat, dass er es kann,
({2})
dass er es schafft, die Arbeitslosigkeit zurückzuführen,
dann war es die Union.
({3})
Wir haben dies mit den richtigen Konzepten gemacht.
Es ist völlig klar: Wir brauchen Wachstumsantriebe, die
unser Land nach vorne bringen und die unsere Wirtschaft motivieren. Die Stärke der Wirtschaft in unserem
Land beruht auf dem Mittelstand und den Familienbetrieben, in die Menschen ihr ganzes Vermögen gesteckt
haben. Diese Menschen stehen mit Haut und Haaren dafür ein, dass die Firma fortgeführt wird. Ihr Risiko und
Ertrag ist nicht nur Ertrag und Risiko der Firma, sondern
auch der ganzen Familie. Wenn Sie in diesem Bereich
die Steuern erhöhen, dann nehmen Sie gerade denen die
Kraft, auf die es in dieser Zeit besonders ankommt.
({4})
Einen größeren Unsinn, als die zu bestrafen, von denen
wir erwarten, dass sie etwas machen, habe ich in der
letzten Zeit nicht gehört.
Um dieses Land voranzubringen, brauchen wir auch
die Motivation der Menschen. Unsere Unternehmen sind
keine Ansammlungen von Betriebsgebäuden und von
Maschinen. In unseren Unternehmen arbeiten Menschen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Von diesen erwarten wir, dass sie ihre ganze Kraft einsetzen.
Aber wenn diese die Botschaft erhalten, jede Überstunde
ist mit besonders hohen Abgaben verbunden, dann ist
dies keine Motivation. Ich nenne beispielsweise die Erzieherin, die jetzt zwar 120 Euro mehr bekommt, die
aber von diesem Bisschen einen großen Teil an das Finanzamt und in die Sozialversicherung zahlen muss.
Deswegen ist es richtig, wenn wir sagen: Wir werden die
unteren und mittleren Einkommen entlasten, damit der
Satz stimmt: Wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet.
({5})
Dass da Sozialdemokraten nicht mitmachen können,
kann ich überhaupt nicht verstehen. Ich kann zwar noch
nachvollziehen, dass ein Finanzminister seinen Haushalt
zusammenhalten will und sagt: Es gibt vielleicht keinen
Spielraum. - Aber eines kann ich überhaupt nicht akzeptieren: dass es immer dann einen Spielraum für die Senkung von Steuern gibt, wenn das Bundesverfassungsgericht es verlangt, und nie dann, wenn wir der Meinung
sind, wir sollten dies machen.
({6})
Ich sage Ihnen: Wir werden die Bezieher unterer und
mittlerer Einkommen entlasten.
Jetzt will ich ein klares Wort sagen: Natürlich gehört
zu unserer Wirtschaft auch, dass sie über ausreichend
Energie zu einem akzeptablen Preis verfügen kann.
Wenn ich auf die offizielle Homepage des Bundesumweltministers schaue, sehe ich dort, dass die erneuerbaren Energien aktuell einen Anteil von 15,1 Prozent am
Gesamtstrom haben. Die Prognose lautet: 2020 wird der
Anteil der erneuerbaren Energien 30 Prozent betragen.
Ich habe noch ganz normal rechnen gelernt - keine
anderen Mittel verwendet, auch keine Mengenlehre -,
nämlich dass eins plus eins zwei ist. Deswegen weiß ich,
dass in zehn Jahren 70 Prozent Energie fehlen werden.
Frau Künast, Sie haben ein paar schnoddrige Bemerkungen gemacht.
({7})
Ich sage Ihnen eines: In der Energiepolitik stellen Sie gar
keine Fragen mehr, sondern sagen einfach: „Wir steigen
aus der Atomenergie aus“, ohne mir zu erklären, wo die
70 Prozent Strom herkommen sollen, die im Jahre 2020
fehlen werden.
({8})
Deswegen sage ich Ihnen: Machen Sie Ihre Hausaufgaben!
Wir haben ausdrücklich erklärt: Wir brauchen für eine
Übergangszeit, bis wir durch Einsparen und erneuerbare
Energien das Problem der Energieversorgung gelöst haben, Kohlekraftwerke, die modern gestaltet sein sollen,
und Kernkraftwerke, die sicher laufen. Wir haben nicht
davon gesprochen, dass das unsere Wunschform ist.
Aber eines muss ich sagen: Es ist in höchstem Maße unredlich, wenn sich Grüne und andere der Lösung einer
Endlagerung verweigern; denn gerade diejenigen, die
den Ausstieg wollen, wissen, dass beim Ausstieg Atommüll anfällt. Dieser muss irgendwohin. Deswegen ist es
nicht in Ordnung, nach dem Motto zu verfahren: Wer
aussteigt, hat kein Problem mit der Endlagerung. Sie haben es erst recht.
({9})
Dies muss eine neue Koalition lösen.
Es geht derzeit vor allem darum, dass wir Antworten
darauf geben, was die Menschen jetzt von uns erwarten.
Es kommt dabei darauf an - dies sage ich mit allem
Nachdruck -, den Menschen keine Angst, sondern ihnen
Mut zu machen. Wir brauchen Menschen, die zuversichtlich nach vorne schauen und zuversichtlich durch
diese Krise gehen, und keine Menschen, die ängstlich
sind. Ich kann Ihnen sagen - auch an die Adresse von
manchem Sozialdemokraten gerichtet -: Wer Ängste
schürt, wird die Stimmen der Wählerinnen und Wähler
dafür zu Recht nicht bekommen.
({10})
Reden wir vielmehr davon, was notwendig ist. Dazu
sage ich Ihnen: Wir sind auf einem guten Weg:
Erstens. Diese Koalition hat einen wichtigen Einstieg
dahin gehend gemacht, dass auch in Zukunft moderne
Autos in Deutschland gebaut werden. Die Automobiltechnologie wird auch in Zukunft eine Schlüsseltechnologie sein. Deswegen ist es richtig, dass wir in die
Elektromobilität einsteigen.
Zweitens. Die Pharmazie wird ein wichtiges Thema
bleiben. Wir haben zusammen mit den deutschen Pharmazieunternehmen in wichtigen Bereichen eine moderne
Medizin zu entwickeln. Deswegen werden natürlich die
Biologie, die Pharmazie, aber auch die Gentechnologie
({11})
Schlüsseltechnologien für den Aufbruch in eine Zukunft
mit Arbeitsplätzen für qualifiziert ausgebildete junge
Menschen sein. Auf diesem Weg gehen wir voran.
Natürlich ist auch klar, dass Bildung das Thema ist.
Als Bundespolitiker sind wir für Bildung in einem begrenzten Maße zuständig.
({12})
Ich sage Ihnen aber eines: Auch als Bundespolitiker können wir uns mit bildungspolitischen Fragen auseinandersetzen sowie dafür sorgen und werben, dass dort, wo wir
an Landesregierungen beteiligt sind, der richtige Weg
eingeschlagen wird.
Ich sage Ihnen nur eines: In den Ländern, in denen es
ein differenziertes Schulsystem gibt und in denen man
sich sehr intensiv um die jungen Leute kümmert, um
ihnen je nach Fähigkeiten und Stand der Entwicklung zu
helfen, haben wir bessere Ergebnisse erzielt als in den
Ländern, in denen Sie nur über Gesamtschulen diskutiert
und in der Bildungspolitik nicht den richtigen Weg eingeschlagen haben.
({13})
Es ist doch nicht von ungefähr gekommen, dass zu
Zeiten von Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen die Eltern
auf die Barrikaden gegangen sind und sich ein Schulsystem nahe an den Kindern gewünscht haben, nicht
nahe an der Ideologie von Rot-Grün. Das war der entscheidende Punkt.
({14})
Wir sollten auch in den natürlich vom Wahlkampf geprägten Diskussionen der nächsten Wochen klarmachen,
worum es geht. Wir von der Union werden das machen.
Uns geht es darum, dass Menschen, die sich jetzt in
Kurzarbeit befinden und sich die Frage stellen, wie es
weitergeht, von uns eine Perspektive bekommen und
dass sich diese Menschen Hoffnung machen können,
weil sie sehen: Da gibt es welche, die genau den richtigen Weg vorgeben. Mit Mut, Zuversicht und dem richtigen politischen Konzept führen wir dieses Land durch
die Krise und aus der Krise heraus. Dafür bin ich Angela
Merkel außerordentlich dankbar.
({15})
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Peer
Steinbrück.
({0})
Wenn Sie das doch in Ihren Beziehungen zu Schweizer Bankern sowie zu Vertretern der Schweizer Regierung einmal ausgesprochen und auf den Punkt gebracht
hätten! Sie haben hier „Kavallerie“ gerufen, um mich
gleich einzunorden.
Ich überlege noch, ob ich jetzt eine Wahlkampfrede
halte
({0})
oder eine Parlamentsrede. Was ich definitiv nicht machen werde, ist, das Parlament mit einer Talkshow zu
verwechseln, Herr Westerwelle. Der Fehler wird mir
nicht passieren.
({1})
- Sie treten ja ganz anders auf.
({2})
- Nein. Sie versuchen, mir meine große Klappe vorzuhalten, obwohl Sie selber eine Maulsperre brauchen. Insofern ist es für Sie schwierig, hier mit Steinen zu werfen.
({3})
- Den brauche ich nicht immer, genauso wenig wie Sie;
das haben Sie mit Ihrer Rede gezeigt. Wir können dasselbe Tempo halten, Herr Westerwelle. Da stehen wir
uns in nichts nach.
Heute in sieben Tagen ist es ein Jahr her, dass sich
- die Pleite von Lehman Brothers war das Epizentrum das Beben weltweit ausbreitete. Zwei Tage später hätten
wir es mit dem Fall von AIG mit einer Situation zu tun
gehabt, die in der Tat nicht nur in der Bundesrepublik
Deutschland, sondern weltweit zu einer Kernschmelze
der gesamten Finanzmarktarchitektur hätte führen
können. Weltweit hat es entsprechende Erschütterungen
gegeben. Es kam zu Übersprungeffekten.
Ich habe damals sehr früh zwei Sätze gesagt: Erstens.
Nach dieser Krise wird die Welt nicht mehr so aussehen
wie vor der Krise. Diejenigen, die das bis heute nicht gelernt haben, sollten es durch die Beiträge des Deutschen
Bundestages langsam lernen. Zweitens. Das ist nicht nur
eine Krise, sondern eine Zäsur. Wir haben es nicht nur
mit einer enormen ökonomischen Wertvernichtung zu
tun, sondern wir haben es auch mit erheblichen sozialen,
ja mit gesellschaftlichen Konsequenzen zu tun. Darüber
will ich gerne einige Worte verlieren.
Wichtig ist gewesen - das war die Leitschnur dieser
Regierung, die wir gut eingehalten haben -, dabei vier
Gedanken nicht nur zu verfolgen, sondern uns auch in
der konkreten Politik daran zu halten.
Erstens. Wir wollten keine Schlangen von Menschen
vor der Filiale eines deutschen Kreditinstitutes sehen.
({4})
Das diesbezügliche Bild, dass sich vor der Filiale einer
englischen Bank Schlangen von Menschen bildeten, die
aus Verunsicherung und Angst ihr Geld abhoben, hat
diese Politik sehr geprägt, weil wir gleichzeitig wussten,
dass solche Bilder in Deutschland vor dem Hintergrund
einer historischen Traumatisierung aus dem 20. Jahrhundert eine völlig andere Wirkung haben als im VereinigBundesminister Peer Steinbrück
ten Königreich mit einer sehr viel kontinuierlicheren und
weniger tragisch entwikkelten Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Zweitens. Wir wollten verhindern - dabei standen wir
im Obligo auch internationaler Zusagen -, dass eine
deutsche Bank, egal welcher Säule zugehörig, möglicherweise einen Dominosteineffekt auslöst, sodass andere Banken betroffen sind und plötzlich eine systematische Erschütterung erfolgt, die weit über Deutschland
hätte hinausgehen können.
Drittens. Wir wollten verhindern, dass sich eine solche Krise wiederholt. Anders als manche Oppositionspolitiker behaupten, lässt sich belegen, was uns in diesen
letzten zwölf Monaten an Regulierungsmaßnahmen und
der Umsetzung des Prinzips, dass kein Finanzmarktteilnehmer, kein Finanzmarktprodukt, kein einzelner
Finanzmarkt ohne Aufsicht und ohne Regelung sein soll,
gelungen ist.
Viertens. Wir wollten nicht tatenlos zusehen, dass
Millionen von Menschen unverschuldet in die Arbeitslosigkeit hineingeraten. Das ist der Sinn der Konjunkturpakete I und II gewesen. In diesem Sinne, glaube ich,
dass die Große Koalition in diesen zwölf Monaten ein
gutes Krisenmanagement geleistet hat.
({5})
Im internationalen Vergleich sind wir bisher nicht
schlecht durch diese Krise gekommen. Die Konjunkturprogramme bekommen intern und vor allen Dingen
auch von ausländischen Beobachtern sehr viel bessere
Zensuren als von der Opposition. Es gibt eine Studie, die
selten zitiert wird - ich glaube von der Boston Consulting Group -, die insbesondere dem Konjunkturpaket II
im internationalen Vergleich Bestnoten gibt. Diese Studie spielt im politischen Schlagabtausch aber nur sehr
selten eine Rolle.
Die von Herrn Westerwelle so kritisierte Abwrackprämie ist inzwischen von mehreren Staaten, nicht zuletzt in
den USA, ebenfalls eingeführt worden. Wenn er denn
die Rolle bekommt, in die er gerne hinein möchte, dann
kann er der amerikanischen Regierung ja vorhalten, welchen Mist sie gerade mit der Abwrackprämie gebaut hat.
({6})
Der allerletzte Kronzeuge für eine analytische Aufarbeitung dieser Krise, die allerletzte Instanz, die uns raten kann, wie wir über Leitplanken und Verkehrsregeln
aus dieser Krise herauskommen, ist nun wirklich die
FDP.
({7})
Ich kenne keine andere politische Kraft, auch in diesem
Haus, die die Monstranz der entfesselten Märkte in der
Zeit nach Reagan und Thatcher so hochgehalten hat wie
die FDP.
({8})
Ich kenne keine andere Partei und keine andere Fraktion,
die in den letzten zehn Jahren drögere Predigten einer
Markttheologie gehalten haben als Ihre Partei.
({9})
Deshalb haben Sie bis heute auch kein Verhältnis zur
Finanzmarktkrise. Ich kenne von Ihrer Fraktion, Ihrer
Partei keinerlei Beiträge zur Aufarbeitung, die in irgendeiner Form von nennenswerter Bedeutung sind. Ich
kenne entsprechende Beiträge von anderen Parteien,
aber von der FDP kenne ich keine. Ich kenne keine einzige analytische Aufarbeitung, nur ein Stichwort, auf das
ich später zu sprechen komme. Ich kenne kein konzises
Papier, keine konzise Position von Ihnen über das, was
Sie konkret an Finanzmarktregulierung in Zukunft für
notwendig halten. Da ist nichts.
({10})
In Ihren Reden verirren Sie sich immer wieder in dem
Thema Bankenaufsicht. Darüber kann man reden; ich
komme gleich darauf zu sprechen. Aber mit diesem Seitenschritt lenken Sie in Wirklichkeit davon ab, dass Ihr
ordnungspolitischer Faden gerissen ist.
({11})
Sie lenken davon ab, dass Ihre ideologische Markttheologie gescheitert ist, sonst müssten Sie sich auf mehr
einlassen, als nur diesen Hinweis zur Bankenaufsicht zu
geben. Im Übrigen verschweigen Sie dabei regelmäßig
in fast allen Ihren Beiträgen, Herr Westerwelle, dass es
vier oder fünf gesetzliche Initiativen der Großen Koalition zur Verbesserung der Bankenaufsicht gegeben hat.
Zuletzt wurde übrigens im Juni ein Banken- und Versicherungsaufsichtsgesetz mit überwältigender Mehrheit
des Parlamentes beschlossen.
Sie verschweigen auch regelmäßig in den Parlamentsdebatten, dass wir es längst mit einer neuen Aufsichtsrichtlinie zur Zusammenarbeit von BaFin und Bundesbank zu tun haben, unbenommen der Tatsache, dass
national wie international selbstverständlich weitere
Themen zur Verbesserung der Bankenaufsicht anstehen.
Das, was ich faszinierend an dem finde, was Sie hier
betreiben, Herr Westerwelle, möchte ich anhand eines
Zitats des Journalisten Nils Minkmar verdeutlichen. Er
nennt das die akustische Möblierung des öffentlichen
Raumes. Sie verwenden immer dieselben Stichworte,
aber immer mit einer selbst verordneten Begrenzung Ihres Blickwinkels.
Ich will Ihnen drei Beispiele aus Ihrer Rede geben.
Sie behaupten mit großem Affront, großem Temperament und auch in einer erheblichen Lautstärke: Wir
tragen dafür Sorge, dass Familien - verheiratet, zwei
Kinder - mit einem Jahreseinkommen von bis zu
40 000 Euro keine Steuern bezahlen müssen. Dabei ist
dies längst Fakt!
({12})
Die genaue Zahl beträgt nicht 40 000 Euro, sondern
39 000 und ein paar Zerquetschte, und zwar dank einer
Steuerpolitik, die schon unter Schröder und später in der
Großen Koalition gemacht worden ist. All diese Familien - verheiratet, zwei Kinder - zahlen, unter Anrechnung des Kindergeldes, in Deutschland keine Steuern.
({13})
Sie zahlen Sozialversicherungsabgaben. Da Sie sich immer auf dem Gebiet der Steuerpolitik verirren, gilt: Vorsicht an der Bahnsteigkante! Das geht meistens schief.
({14})
- Sie versuchen, einen Nerv zu treffen: die größte Steuerhöhe in der Geschichte der Republik. Ich stehe gar
nicht lange an, um zu bestätigen, dass das mit der Mehrwertsteuer so gelaufen ist und dass das im Kurzzeitgedächtnis der Menschen drin ist; da gebe ich Ihnen recht.
Das ist, wie ich glaube, einer der Gründe, warum sich
CDU/CSU und SPD darauf geeinigt haben, an dem Regelsatz der Mehrwertsteuer nicht herumzufummeln. Was
Sie aber regelmäßig verschweigen, ist, dass in der Zeit
dieser Großen Koalition, wenn man die Gesamtheit aller
steuer- und abgabenpolitischen Beschlüsse betrachtet,
eine Nettoentlastung für die Bürgerinnen und Bürger
herausgekommen ist.
({15})
Das kommt bei Ihnen nicht vor.
So ähnlich ist es auch dann, wenn Sie sich auf andere
Felder begeben, insbesondere, wenn Sie über Tatbestände der Unternehmensbesteuerung reden, zum Beispiel über die exorbitant hohe Substanzbesteuerung in
Deutschland. Wissen Sie eigentlich, dass die Substanzbesteuerung in Deutschland im Vergleich mit anderen
OECD- und EU-Staaten eine der niedrigsten ist?
({16})
Das wissen Sie nicht, aber Sie stellen sich trotzdem
mit Aplomb hier hin und reden in einer Form über die
Staatsverschuldung, dass man glauben könnte, wir hätten zurzeit nicht die größte Wirtschaftskrise seit Gründung der Republik. Mein Vorgänger in Sachen „größte
Rekordschuldenzahl“ hatte wirtschaftlich gute Zeiten.
Damals betrug das Wachstum gut 1 Prozent. Das ist aber
ein Unterschied zu minus 5 oder minus 6 Prozent. Insofern ist der Hinweis auf den Schuldenstand unzweifelhaft richtig. Ich werde darauf zurückkommen, wenn es
um Ihre Steuersenkungsarien geht. Wenn Sie Ihre Analyse in die Tatsache eingebettet hätten, dass wir nach einem Wirtschaftswachstum von minus 0,9 Prozent im
Jahre 1975 jetzt mit minus 5 bis minus 6 Prozent die
schärfste Wirtschaftskrise in der Geschichte der Bundesrepublik haben, die alle Haushaltskennzahlen wegfegt,
und zwar bei Kommunen, Ländern und beim Bund, hätten Sie sich wenigstens intellektuell redlich verhalten;
von politischer Redlichkeit will ich gar nicht reden.
({17})
Ihre Hinweise zur Abwrackprämie hatten Talkshowcharakter. Darüber kann ich lange reden. Im Übrigen
gilt: Die Logik der Bundesregierung ist in diesem Zusammenhang völlig richtig gewesen. Eine Leitindustrie
in Deutschland, an der nach wie vor ungefähr
700 000 bis 800 000 Arbeitsplätze hängen, vor dem Hintergrund eines der größten Einbrüche, die es je gegeben
hat, zu stabilisieren, war völlig richtig. Ich möchte mir
gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn man Ihren
Empfehlungen gefolgt wäre und diese Abwrackprämie
nicht eingeführt hätte. Der Hinweis, das sei ein reiner
Vorzieheffekt, ist richtig. Es ging ja gerade darum, die
Automobilindustrie in dem sehr ungünstigen Jahr 2009/
2010 zu stabilisieren, um den möglichen negativen
Effekt in den Jahren 2010, 2011 und folgende in einem
hoffentlich besseren konjunkturellen Umfeld zu haben.
({18})
Den Einwand der Grünen lasse ich nicht gelten. Es
hat keine dezidierte ökologische Lenkungsüberlegung
dabei gegeben.
({19})
Der konjunktur- und arbeitsmarktpolitische Effekt stand
im Vordergrund. Abgesehen davon hat die Abwrackprämie natürlich einen ökologischen Lenkungseffekt. Wenn
Sie zehn Jahre alte Klitschen durch neue Autos mit einem anderen Emissionswert ersetzen, hat das einen Umwelteffekt.
({20})
Ich sprach vorhin davon, dass wir nicht nur über die
ökonomischen Folgen dieser Krise zu reden haben. Das,
was Sie und ich im Wahlkampf erleben, sind die sozialen
Auswirkungen. Etwas komplizierter ausgedrückt, heißt
das: Viele Leute zweifeln an der Balance dieser sozialen Marktwirtschaft. Man kann auch sagen: Diese
Krise hat die legitimatorischen Grundlagen dieses Ordnungs- und Wirtschaftsmodells auf die Tagesordnung
gehoben. Genau darum geht es in diesem Bundestagswahlkampf und bei der Bildung einer neuen Regierung:
Es geht um den Spannungsbogen zwischen dem, was
Franz Müntefering sittenwidrig niedrige Löhne nennt,
und der Frage, wie wir zukünftig mit Mindestlöhnen umBundesminister Peer Steinbrück
gehen - Sie wollen sie wieder abschaffen - auf der einen
Seite und den sittenwidrig hohen Abfindungen und Boni
und der Frage, wie wir diese eingrenzen können, auf der
anderen Seite. Da ist uns vieles gelungen. Wir haben ein
Gesetz zur Angemessenheit von Vorstandsvergütungen
verabschiedet, das derzeit unter Wert verkauft wird. Wir
hätten gerne mehr.
Es wird sehr stark darauf ankommen, auf internationaler Ebene andere Länder zu motivieren, die Boni stärker zu begrenzen, damit dieser Wettlauf von Land zu
Land - Ähnliches gibt es bei Bundesligaspielern - aufhört. In London ist etwas Wichtiges beschlossen worden:
Zum ersten Mal haben wir eine Limitierung beschlossen,
keine Limitierung auf absolute Zahlen - das können Sie
nicht machen -, aber eine Limitierung im Verhältnis der
fixen Bestandteile zu den variablen Bestandteilen. Es
wird sehr stark darauf ankommen, dass wir in Pittsburgh,
nachdem das weiter aufgearbeitet worden ist, dazu kommen, dieses Verhältnis zu definieren, zum Beispiel 3:1,
um ein Beispiel zu nennen. Diese internationale Festlegung müssen wir dann durch die jeweils nationalen Bankenaufsichten durchsetzen.
Wir haben auch eine Mindestanforderung im Bereich
des Risikomanagements durchgesetzt. Dadurch wird
zum ersten Mal die Bankenaufsicht in die Lage versetzt,
Vergütungssysteme dahin gehend zu überprüfen, ob sie
an dem nachhaltigen Unternehmenszweck orientiert sind
und nicht infolge einer Quartalsbilanzorientierung in
Gang gesetzt werden.
({21})
Eine drängende Frage, die die Menschen beschäftigt,
lautet: Wer zahlt die Zeche? Die zweite große Frage, die
sie stellen, lautet: Ziehen wir die richtigen Lehren aus
dem, was in diesen Irrsinn geführt hat? Sie repräsentieren die Denke, die in diese Krise geführt hat. Genau die
wollen wir nicht mehr.
({22})
Ich will zwei, drei Bemerkungen zu den vollmundigen Steuerversprechungen, die vorgetragen werden, machen. Ich werde wahrscheinlich auch in die Beete der
Empfindlichkeiten der Union hineintreten. Die Nettokreditaufnahme des Bundes im nächsten Jahr wird
wahrscheinlich bei 100 Milliarden Euro liegen statt
geplanter 6 Milliarden Euro. In der mittelfristigen Finanzplanung haben wir als Bund bereits jetzt durch Steuerausfälle 150 Milliarden Euro weniger. Die Staatsverschuldung wird von 1,6 Billionen auf wahrscheinlich
1,7 oder 1,8 Billionen Euro steigen. Die damit verbundenen Zinslasten werden steigen. Die Spielräume, über die
Sie als Souverän zu entscheiden haben mit Blick auf die
wichtigen Zukunftsfelder Bildung, Infrastruktur, Forschung und Entwicklung sowie Mittelstand werden
dadurch immer weiter eingeengt. Wie man angesichts
dieser Lage trotz Wahlkampfes vollmundig Steuerversprechungen machen kann, die sowohl die Einnahmesituation der Kommunen und damit die Daseinsvorsorge
vor Ort als auch die der Länder und des Bundes buchstäblich aushebeln würden, ist mir ein absolutes Rätsel.
({23})
Der Hinweis von Herrn Kauder ist nicht tragfähig mit
Blick auf die Umsetzung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, die sich im Bürgerentlastungsgesetz niederschlägt. Dies bewirkt ab 1. Januar 2010
eine Entlastung in Höhe von 9 Milliarden Euro. Aber Sie
reden über den Faktor zwei oder drei; von der FDP will
ich gar nicht reden. Das Simulationsmodell, das wir im
Ministerium allein bezogen auf die Lohn- und Einkommensteuer plus Kinderfreibetrag gemacht haben, hat als
Ergebnis 90 Milliarden Euro bei voller Jahreswirksamkeit. Das ist kein Witz. Das ist nicht die Abteilung
„Agitation und Propaganda“. Insbesondere mit Blick auf
die Absenkung des Spitzensteuersatzes in Ihrem Dreistufenmodell aus verteilungspolitischen Gesichtspunkten
muss man hervorheben, dass die FDP etwas vorschlägt,
das im oberen Bereich achtmal so viel Entlastung wie im
unteren Bereich bringt.
({24})
- So sind sie.
Das Bemerkenswerte ist, dass Sie nicht einmal dabei
stehen bleiben. Die nächsten Nummern kommen. Sie
wollen die Refinanzierungsmöglichkeiten bei der Unternehmensteuer rückgängig machen. Gute Reise, Herr
Thiele! Wie machen wir das denn bezogen auf den
Haushalt? Sie wollen die Gewerbesteuer abschaffen.
Was halten denn CDU- und CSU-Kommunalpolitiker
davon? Das, was Sie kompensatorisch einführen wollen,
ist ziemlich unsicher und nimmt jedenfalls den Kommunen das Interesse, über eine eigene wirtschaftskraftbezogene Einnahmequelle das zu tun, wofür alle Sonntagsreden halten: Pflege von Handwerk und Gewerbe in dem
eigenen Gemeindegebiet, weil man eine Rendite davon
hat. Das kommt bei denen nicht mehr vor. Die Erbschaftsteuer - schön und sauber - wird in Zweifel gezogen.
Die steuerpolitischen Vorstellungen, die da deutlich werden, würden bei ihrer Umsetzung die Achse dieser Republik definitiv aushebeln.
({25})
Teile Ihrer Vorstellungen sind leider Gottes nicht weit
davon entfernt. Ich mache Ihnen eine Prophezeiung:
Egal, wie die nächste Zusammensetzung der Regierung
ist, keines dieser Versprechen wird erkennbar in der
nächsten Legislaturperiode realisiert werden können,
kein einziges.
({26})
Das sollten wir aus der letzten Operation Mehrwertsteuer als Lerneffekt mitnehmen; das richtet sich nicht
an Sie von der FDP, sondern an uns alle. Abgesehen da26338
von sollte man darauf hinweisen, dass ein Teil der Mehrwertsteuererhöhung an anderer Stelle zu Entlastungen
geführt hat, und zwar bei den Arbeitslosenversicherungsbeiträgen. Das wird immer verschwiegen.
({27})
- Von 6,5 auf 2,8 Prozent herunter, lieber Herr Gysi, ist
eine Entlastung in Höhe von 30 Milliarden Euro.
({28})
- Ja, Sie sind ein Experte der Steuerpolitik, mit dem es
schwer ist, zu streiten. Da braucht man 90 Minuten, um
das zu erklären, was Sie in 5 Minuten geredet haben.
Herr Bundesminister, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie natürlich weiterreden können, allerdings inzwischen auf Kosten des Kollegen Stiegler.
({0})
Das ist schade, weil ich hier gerade so schön in Fahrt
bin.
({0})
- Ja, einiges daran stört Sie; aber Ihre Steuerpolitik
werde ich Ihnen weiter vorführen. Das ist mein Kirchhof, was Sie da sagen.
({1})
Am 27. September dieses Jahres wird, wie ich glaube,
über drei wichtige Grundsatzfragen entschieden:
Erstens. Ziehen wir Lehren aus dem Irrsinn, und zwar
national und - indem wir uns entsprechend einbringen auch international?
Zweitens. Sorgen wir für einen handlungsfähigen
Staat, der wichtige öffentliche Dienstleistungen bezahlbar hält, auch für diejenigen, die dies privat sonst sehr
viel teurer bezahlen müssten? Das gilt insbesondere für
Bildung und die Frage der kostenlosen Zugänge zu Bildung.
Drittens. Halten wir diese Gesellschaft weltoffen, tolerant und so zusammen, dass die innere, die soziale Stabilität, die soziale Kohäsion nicht aufgegeben wird im
Zuge dieser Wirtschafts- und Finanzkrise?
({2})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Hermann
Otto Solms das Wort.
Herr Minister Steinbrück, ich habe Ihre Rede vor dem
Fernseher verfolgt und gehört, dass Sie zum Ausdruck
gebracht haben, die FDP-Fraktion habe zum Thema
Finanzmarkt keine Vorschläge gemacht. Daraufhin habe
ich mir schnell vier wesentliche Positionspapiere, die
wir in den letzten Wochen und Monaten verabschiedet
haben, ausdrucken lassen.
({0})
Ich nenne einige Beispiele: „Grundsätze für Managervergütungen“ vom 24. März 2009,
({1})
„Liberale Antworten auf die Finanzkrise“ - das ist ein
Beschluss unseres Bundesparteitages in Hannover im
Mai dieses Jahres -, „Verbraucherrechte im Finanzmarkt
stärken“ vom 5. Mai 2009
({2})
und ein Papier mit dem Titel „Bankeninsolvenz“ vom
Juni dieses Jahres, in dem wir die Einführung eines dem
Insolvenzverfahren vorgelagerten Restrukturierungsverfahrens vorschlagen. Außerdem haben wir gefordert, die
Bankenaufsicht neu zu strukturieren und vieles andere
mehr.
({3})
Ich möchte nur darauf hinweisen: Bei diesem Thema ist
es genauso wie in der Steuerpolitik: Sie nehmen die Vorschläge der Opposition nur lückenhaft zur Kenntnis,
({4})
um dann umso rücksichtsloser draufschlagen zu können.
Auch Ihre Berechnungen der Steuerausfälle sind reine
Fantasie. Das Bundesfinanzministerium hat einem Bürger gegenüber schriftlich dargelegt - dieses Schreiben
liegt mir vor -, dass es die Steuerausfälle nicht genau beziffern kann. Mit Schätzungen können wir aber keine
Politik machen. Selbstverständlich werden wir aufgrund
des neuen Tarifs Steuerausfälle zu verzeichnen haben.
Wir haben aber eine ganze Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen, durch die diese Steuerausfälle deutlich gemindert würden.
({5})
Im März dieses Jahres sprachen Sie von 25 Milliarden
Euro, im Mai von 70 Milliarden Euro, und jetzt sind Sie
bei 90 Milliarden Euro. Am Wahltag sagen Sie dann
wahrscheinlich, dass die Vorschläge der FDP zu Steuerausfällen von 150 Milliarden Euro führen würden. Das
ist überhaupt nicht konkret und auch völlig unhaltbar.
Zu dem, was die SPD will, haben Sie kein Wort gesagt.
({6})
Warum haben Sie nicht über die Steuererhöhungsvorschläge gesprochen, über die in der SPD diskutiert wird?
Es wäre richtig gewesen, diese Alternative hier deutlich
zum Ausdruck zu bringen.
({7})
Ich bitte Sie daher: Wenn Sie sich mit der Opposition
und der FDP beschäftigen, sollten Sie sich erst einmal
deren Vorschläge anschauen.
Vielen Dank.
({8})
Herr Minister, Sie können antworten.
Herr Kollege Solms, vielleicht konnten Sie nicht hier
sein; aber selbstverständlich hat sich Herr Steinmeier zu
den Vorschlägen der SPD geäußert. Er hat insbesondere
darauf hingewiesen, dass wir den Spitzensteuersatz um
2 Prozent erhöhen wollen, um das damit verbundene
Steueraufkommen direkt und unmittelbar Bildungszwecken zukommen zu lassen.
({0})
Von dieser Maßnahme werden Verheiratete ab einem zu
versteuernden Einkommen in Höhe von 250 000 Euro
betroffen sein. Fragen Sie doch einmal die Zuschauer
auf der Tribüne, wer von ihnen verheiratet ist und
250 000 Euro oder mehr verdient! - Wo ist also das Problem, wenn davon nur sehr wenige Menschen in
Deutschland betroffen sind?
Für das, was Sie zu Ihren Einsparvorschlägen gesagt
haben, bin ich Ihnen sehr dankbar - denn das war ein
Steilpass -: Die Vorschläge, die ich in Ihrem Liberalen
Sparbuch lese, würden auf einen absoluten Raubbau an
unseren sozialen Sicherungssystemen und in der
Arbeitsmarktpolitik hinauslaufen. Diese Maßnahmen
würden ausgerechnet jene Bereiche treffen, die aufgrund
von Absicherung und Sozialpartnerschaft in der Krise
die wichtigste stabilisierende Funktion haben.
({1})
Diese Vorschläge werden durch Ihre Relativierung
des Kündigungsschutzes ergänzt. Das, was Sie wollen,
hätte zur Folge, dass 2,4 Millionen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer mehr als bisher keinen Kündigungsschutz mehr hätten. Über die Relativierung der paritätischen Mitbestimmung, die Sie in Ihrem Programm fordern, können wir gern diskutieren.
All die Papiere, die Sie zum Thema Finanzmarktkrise
vorgelegt haben, sind Weichmacher.
({2})
Ich hätte gern einmal gewusst, wo sich die FDP konkret
geäußert hat: zu Leerverkäufen,
({3})
zum Eigenbehalt im Zusammenhang mit Risiken, zu Eigenkapitalkennziffern, zum Thema Liquiditätspuffer und
- darüber wird nämlich auf internationaler Ebene diskutiert - zur Überwachung bis ins Management hinein
durch Colleges of Supervisors. Auch was die Bekämpfung der Steuerhinterziehung angeht, haben Sie nichts
vorgelegt. Da haben Sie sich nur mir gegenüber über
Stilfragen ausgelassen und meine Wortwahl kritisiert,
aber auf die Substanz meiner Vorschläge sind Sie nie
eingegangen. Dabei haben Sie auch einmal regiert und
übrigens mit Blick auf die Schuldenentwicklung eine
keineswegs geringere Verantwortung zu tragen als wir.
Gehen wir auf das, was in den letzten zehn Jahren
stattgefunden hat, noch einmal ein: Es hat eine lange Debatte darüber gegeben - übrigens gar nicht im Widerspruch zu Positionen der FDP -, ob wir den Finanzplatz
Frankfurt auf Augenhöhe halten können mit Finanzplätzen wie London und New York. Die Alternative
wäre gewesen, dass der Finanzplatz Frankfurt in die
Kreisklasse absteigt und damit der Finanzplatz Deutschland nicht auf Augenhöhe bleibt - und das bei einer Realökonomie, die nach wie vor die drittgrößte oder
viertgrößte der Welt ist und Finanzmarktprodukte und
-dienstleistungen möglichst in Deutschland abrufen
sollte und nicht etwa in Mailand, in Den Haag, in London oder New York. Darüber ging die Debatte zu Beginn
dieses Jahrzehnts.
Selbstkritisch füge ich hinzu, dass sich wahrscheinlich die gesamte Politik den damit verbundenen Deregulierungsmechanismen zu sehr ergeben hat. Aber die
FDP ist die allerletzte Partei, die mir vorhalten kann, sie
sei ordnungspolitisch auf der anderen Seite gewesen.
({4})
Das Wort hat der Kollege Oskar Lafontaine, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Bundesfinanzminister, Sie haben eine Rede
gehalten, der man über weite Strecken zustimmen
könnte. Es macht regelrecht Spaß, Ihnen zuzuhören. Jetzt rennt er gerade raus. - Es ist wirklich eine Unsitte,
dass Regierungsmitglieder gleich im Anschluss an ihre
Rede gehen. Das gibt es selbst im Dorfparlament nicht.
({0})
Ich wende mich jetzt anderen Themen zu und setze
mich auseinander mit dem, was Herr Kauder vorgetragen hat - wenn er überhaupt noch im Saal ist. Herr
Kauder hat die Sorge der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um ihren Arbeitsplatz aufgegriffen und die
Sorge derjenigen, die sich in Ausbildung befinden und
sich fragen, ob sie weiter beschäftigt werden. In diesem
Zusammenhang wurde vorhin gesagt, die soziale
Marktwirtschaft sei in eine Krise geraten. Das ist richtig. Die Krise der sozialen Marktwirtschaft besteht darin
- davon war heute noch nicht die Rede -, dass die große
Mehrheit der Bevölkerung vom wachsenden Wohlstand
abgekoppelt wird. Wir hatten das niemals vorher. Das ist
die Folge von ordnungspolitischen Weichenstellungen,
die fehlerhaft sind. Wir hatten es niemals vorher, dass
der Reichtum der Volkswirtschaft zugenommen hat, aber
die Löhne, die Renten und die sozialen Leistungen gesunken sind. Deshalb ist die soziale Marktwirtschaft in
einer Krise. Sie ist gar keine soziale Marktwirtschaft
mehr.
({1})
Denn „soziale Marktwirtschaft“ heißt, dass die große
Mehrheit der Bevölkerung, wenn der Wohlstand wächst,
beteiligt wird. So platt ist die Definition von sozialer
Marktwirtschaft. Hier wird immer mit Begriffen um sich
geworfen, ohne dass irgendeiner definiert, was er darunter versteht.
Lustig ist immer wieder, wenn sich die CDU auf
Ludwig Erhard beruft. Ich bin davon überzeugt: Kein
Einziger von Ihnen hat Erhards Standardwerk gelesen;
sonst könnten Sie sich nicht auf ihn berufen. In diesem
Standardwerk wird nämlich im Hinblick auf die soziale
Marktwirtschaft eine Grundforderung erhoben: dass die
Arbeitnehmer im Rahmen des Produktivitätszuwachses
ein Lohnwachstum haben müssen, damit das in den
Konsum fließt. Gegen diese Grundforderung Erhards haben Sie über zehn Jahre verstoßen, und Sie haben es
nicht einmal gemerkt, meine sehr geehrten Damen und
Herren. Das möchte ich hier einmal anmerken.
({2})
Offensichtlich kennen Sie die Zusammenhänge nicht
mehr.
Dann kommt die Frage nach der Motivation der
Menschen. Die Motivation der Menschen, sagte Herr
Kauder - ich sehe ihn im Moment ebenfalls nicht; auch
das ist sehr „motivierend“, wenn man solche Debatten
führt -, liege ihm besonders am Herzen. Wenn man
ernsthaft will, dass die Menschen motiviert sind, dann
muss es doch verdammt noch mal das Erste sein, denjenigen, die acht Stunden am Tag arbeiten, einen Lohn zuzubilligen, von dem sie leben können.
({3})
Wenn man das nicht tut, dann soll man nicht von Motivation sprechen, dann ist das schlicht und einfach Zynismus.
Das Zweite ist: Wenn man es mit der Motivation der
Menschen ernst meint, muss man sofort die Rentenformel ändern. Die Rentenformel - man kann es nicht oft
genug sagen - führt dazu, dass Menschen, die 45 Jahre,
ein Leben lang, gearbeitet haben, wenn sie im Niedriglohnsektor beschäftigt sind - das sind immerhin 20 Prozent der Bevölkerung -, denselben Rentenanspruch haben wie jemand, der nie gearbeitet hat. Eine größere
Zerstörung des Leistungsgedankens hat es in dieser Gesellschaft noch nie gegeben.
({4})
Arbeit ist regelrecht entwertet worden. Das ist das Ergebnis der Politik der letzten Jahre. Wenn man also von
Motivation spricht, dann muss man bei den Löhnen beginnen - ich habe zwei Vorschläge gemacht -, und man
müsste zumindest die Rentenformel ändern.
Ein weiterer Vorschlag, den die FDP und die CDU
jetzt im Wahlkampf immer wieder benennen, ist der eines anderen Steuertarifs. Ich muss Ihnen sagen: Für
mich sind Sie an dieser Stelle total unglaubwürdig, weil
Sie praktisch dieselben Vorschläge immer wieder abgelehnt haben, als wir sie hier zum Beschluss vorgelegt haben: sowohl den linearen Tarif als auch die Beseitigung
der kalten Progression. Sie haben alles abgelehnt, als die
Kassen voll waren. Jetzt, da die Kassen leer und Riesendefizite aufgelaufen sind, sagen Sie, Sie würden das umsetzen. Das ist für uns total unglaubwürdig.
({5})
Solche leeren Versprechungen sollten Sie vor der
Wahl nicht machen. Ich kann Herrn Steinbrück nur zustimmen: Nichts von alledem, was hier angekündigt
worden ist, wird nach der Wahl realisiert werden. Wenn
die Schätzungen hinsichtlich der Entwicklung der Finanzen, die jetzt vorgetragen worden sind, nur in etwa stimmen, dann wird davon überhaupt nichts umgesetzt.
Wenn Herr Kauder schon die Sicherheit der Arbeitsplätze usw. in den Vordergrund stellt, dann sollte er aus
dieser Krise doch endlich einmal auch Lehren ziehen.
Nichts von alledem geschieht.
Wir haben erlebt, dass in dieser Krise als Erstes die
Leiharbeiter gefeuert worden sind. Es wäre deshalb doch
eine sachgemäße Antwort, die Leiharbeit auf ein Minimum zu begrenzen. Nichts von alledem tragen Sie vor.
({6})
Wir haben erlebt, dass die Nächsten, die gefeuert wurden, diejenigen waren, die befristete Arbeitsverträge haben. Deshalb wäre es doch eine logische Konsequenz, zu
sagen: Lasst uns die Anzahl der befristeten Arbeitsverträge auf ein Minimum begrenzen, damit die Leute eine
gewisse Existenzsicherheit haben. - Das wäre eine Antwort auf die Krise.
({7})
Das Dritte ist, auch die sogenannten Mini- und Midijobs, deren Anzahl ausgeufert ist, zu begrenzen.
Das Tollste ist immer wieder - man kann es hier nicht
oft genug sagen -, dass sich die CDU als Familienpartei
darstellt. Es ist wirklich absurd, was Sie hier für ein
Theater veranstalten. Leute, die nicht wissen, ob sie in
ein paar Wochen noch Geld auf dem Konto haben, die
also befristete Arbeitsverträge haben, in Leiharbeit sind
oder was weiß ich, können doch keine Ehe schließen, geschweige denn Kinder in die Welt setzen. Sie wären
doch völlig verantwortungslos, wenn sie das tun würden.
({8})
Begreifen Sie doch endlich einmal: Die Leute brauchen Sicherheit, Mindestlöhne und nichtbefristete Arbeitsverträge. Die Flexibilisierung der Arbeitswelt, Ihr
Credo, hat nichts anderes als die Zerstörung der Familien und der Gemeinschaften zur Folge gehabt. Das ist
die entscheidende verheerende Wirkung dessen, was wir
Neoliberalismus nennen.
({9})
Ich fasse zusammen. Es ist gut, dass wir Alternativen
haben, die die Wählerinnen und Wähler zur Kenntnis
nehmen. Es ist gut, dass jetzt mehr und mehr Alternativen, die wir vorgetragen haben, von sogenannten neoliberalen Professoren übernommen werden. Ich erwähne
sie einmal kurz: Die Kontrolle des Bankensektors wird
jetzt von Herrn Sinn vertreten, ein drittes Konjunkturpaket wird jetzt von Herrn Sinn vertreten, die längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes wird jetzt von Herrn
Franz vertreten, und eine höhere Vermögensteuer wird
jetzt von Herrn Zimmermann vertreten.
All diese Vorschläge, die als populistisch und dumm
diffamiert worden sind, werden jetzt von der Wissenschaft übernommen. Es wäre gut, wenn Sie diese Vorschläge wenigstens teilweise übernehmen würden; denn
mit Steuersenkungen und einem „Weiter so wie bisher!“
werden Sie die Krise niemals bewältigen.
({10})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Westerwelle.
Frau Präsidentin! Ich möchte hier meinem Ärger darüber Luft machen, dass ein Mann, der nicht Mitglied
des Deutschen Bundestages ist, von der Regierungsbank
aus als Minister das Wort für die Bundesregierung ergreift, hier eine scharfe Attacke reitet - das ist sein gutes
Recht; solche Meinungsunterschiede kann auch jeder
vertragen - und anschließend, wenn das Parlament ihm
antworten kann, mit seinen Akten den Raum verlässt
und an dieser Debatte nicht mehr teilnimmt. Ich finde,
das ist eine unverschämte Missachtung dieses Deutschen Bundestages.
({0})
Ich appelliere an das Präsidium des Deutschen Bundestages, gegenüber dem Verfassungsorgan Bundesregierung kenntlich zu machen, dass das keine Art und
Weise des Umgangs ist. Wir hier sind die Parlamentarier.
Ein Minister redet hier, greift die Abgeordneten an - das
ist völlig in Ordnung -, und wenn dann geantwortet
wird, haut er ab. So ist kein Dienstgeschäft zu machen.
({1})
Dafür gibt es auch keine Entschuldigung.
Das wollte ich hier zu Protokoll geben.
({2})
Herr Kollege Westerwelle, Ihr Appell ist angekommen, obwohl Sie sicher wissen, dass in einer Kurzintervention auf den vorangegangenen Redner einzugehen
ist.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Peter Ramsauer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf einige wirtschaftliche
Fragen zu sprechen komme, möchte ich einen Aspekt
aufgreifen, den die Frau Bundeskanzlerin in ihrer Rede
zu Beginn dieser Debatte angesprochen hat, nämlich die
europäische Dimension, die heute über der gesamten
Debatte schwebt und auch beim nächsten Tagesordnungspunkt dieser Plenarsitzung im Zusammenhang mit
der Ratifizierung des Lissabon-Vertrages zur Sprache
kommt.
Ich begrüße ausdrücklich Ihre Ankündigung, Frau
Bundeskanzlerin, dass Sie bei der schwedischen Präsidentschaft beantragt haben, beim nächsten Europäischen
Rat am 17. September auf die Tagesordnung zu setzen,
dass Sie über den Fortgang des Ratifikationsprozesses
des Lissabon-Vertrages berichten werden. Ich begrüße
auch ausdrücklich Ihre Ankündigung, dass Sie dort gegenüber den Regierungen der anderen Mitgliedsländer
und auch gegenüber der Kommission und ihrem Präsidenten eine wichtige Klarstellung vornehmen werden,
nämlich dass die Auslegung des Lissabon-Vertrages
selbstverständlich nur nach Maßgabe des Urteils des
Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni erfolgen kann.
({0})
Nur in dieser Auslegung kann der Lissabon-Vertrag gesehen werden, und ich füge ausdrücklich hinzu: Das bezieht sich nicht nur auf die Politik Deutschlands im Inneren. Vielmehr ist diese Interpretation auch dann zu
beachten, wenn sich aus dem Vertrag von außen her
- von europäischer Seite - für Deutschland eine Wirkung ergeben soll. Die Auslegung bezieht sich auf beides: auf innen und auf außen.
({1})
Im Grunde genommen ist das völlig selbstverständlich; denn dies entspricht dem Charakter und der Wertigkeit - auch der verfassungspolitischen Wertigkeit - des
Bundesverfassungsgerichts. Ich möchte dazu Heribert
Prantl, einen der kritischsten Journalisten unserer Republik, zitieren, der vorletzte Woche in der Süddeutschen
Zeitung zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
geschrieben hat, das Bundesverfassungsgericht verlange:
Der Lissabon-Vertrag sei nur nach „Maßgabe der
Gründe“ des Urteils mit dem Grundgesetz vereinbar … Dass es darüber im Bundestag … Streit gibt,
ist unverständlich.
Ich verstehe dies auch nicht. Deshalb haben die Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion die von mir eben
beschriebene Maßgabe dazu, wie der Lissabon-Vertrag
ausschließlich interpretiert werden kann, in einer Erklärung zur Abstimmung niedergelegt. Ich freue mich, Frau
Bundeskanzlerin, dass auch Sie als Mitglied der Fraktion
diese Erklärung unterschrieben haben.
({2})
Ich kann die Kritik vonseiten der SPD-Bundestagsfraktion daran, dass wir solche Selbstverständlichkeiten
zum Ausdruck bringen, in keiner Weise verstehen. Ich
verstehe nicht, warum sich die SPD weigert, eine solche
Selbstverständlichkeit auch im Hinblick darauf zu formulieren, dass wir damit die Interessen Deutschlands auf
europäischer Ebene auf bestmögliche Weise wahren
können. Die SPD widersetzt sich mit dieser Weigerung
der Wahrung der deutschen Interessen auf europäischer
Ebene.
({3})
Ich verstehe dies umso weniger, als sonst gerade die
SPD-Fraktion immer nach mehr Basisdemokratie, Teilhabe, Mitbestimmung und plebiszitären Elementen ruft.
({4})
Mit dieser zusätzlichen Klarstellung in Bezug auf die
Rechte des Parlaments hätten auch die Kolleginnen und
Kollegen der SPD diesem Anliegen Rechnung getragen.
Ich möchte noch einen anderen Aspekt aufgreifen, der
die wirtschaftliche Lage betrifft. Auch hier ist in besonderer Weise die europäische Ebene gefordert. Wir haben
in allen Debatten dieses Hohen Hauses zur Wirtschaftsund Finanzkrise über alle möglichen Sektoren unserer
Wirtschaft und Finanzwelt gesprochen. Aber bislang,
auch heute nicht, ist kein einziges Mal ein Wirtschaftsbereich genannt worden, der für unser Land ebenso
wichtig ist wie viele andere Bereiche unserer Wirtschaft.
Ich meine die krisenhafte Zuspitzung, die wir derzeit in
vielen Bereichen der Landwirtschaft erleben.
({5})
Wir sind sehr für die Stärkung der Metropolregionen.
Aber wir treten genauso energisch dafür ein, dass auch
die ländlichen Räume gestärkt werden. Wenn wir über
alle Bereiche der Wirtschaft sprechen, in denen es krisenhafte Zuspitzungen gibt, müssen wir heute auch über
die dramatischen Entwicklungen in der Landwirtschaft
und insbesondere in der Milchwirtschaft sprechen.
({6})
Ich bin ehrlich gesagt etwas überrascht darüber, dass
ich der Erste am heutigen Tag bin, der diese Problematik
überhaupt aufgreift. Allen liegt sonst in Sonntagsreden
an guten Zuständen und Bedingungen für unsere Landwirtschaft. Ich möchte herausheben: Es gibt eine fundamental unterschiedliche Sichtweise, wann und wo in Zukunft Landwirtschaft produzieren soll. Die einen sagen,
Landwirtschaft solle in Zukunft nur noch dort möglich
sein, wo weltweit oder europaweit am allerbilligsten
produziert werden kann. Diese Sichtweise teilen wir ausdrücklich nicht.
({7})
Denn wenn das die Maßgabe künftiger Standortentscheidungen und der Förderpolitik in der Landwirtschaft
wäre, könnte die Landwirtschaft nicht nur in Deutschland, sondern in Europa in weiten Bereichen einpacken.
Deswegen bekennen wir uns ausdrücklich dazu, dass
eine landwirtschaftliche Produktion und insbesondere
eine Milchproduktion auch in strukturschwachen Regionen und in solchen Regionen ermöglicht werden, in denen es aufgrund der topografischen und landschaftlichen
Lagen große Erschwernisse gibt.
Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich
die Bemühungen unserer Agrarministerin Ilse Aigner loben,
({8})
die aus gegebenem Anlass leider nach Brüssel reisen
musste, um zu kämpfen und sich für die bäuerliche
Landwirtschaft und insbesondere für die Milchviehbetriebe einzusetzen. Ich halte es für vollkommen inakzeptabel, dass sich die Europäische Kommission und insbesondere die zuständige Kommissarin bei den gestrigen
Beratungen der Agrarminister in Brüssel vehement widersetzt haben, Sofortmaßnahmen zugunsten der Milchbetriebe zu ergreifen, obwohl 15 von 27 Mitgliedsländern solche Maßnahmen verlangt haben. Es darf nicht
sein, dass eine einzelne Kommissarin ganz allein über
die Zukunft der Landwirtschaft in Europa befindet.
({9})
- Ich höre das Wort „konservativ“. Jawohl, ich bekenne:
Ich bin ein Konservativer, aber auch ein Liberaler. Ich
bin ein Konservativer, wenn es um eine gesunde Wirtschaft und insbesondere um vernünftige Bedingungen
für die Landwirtschaft geht. Das ist guter Konservatismus.
Ich verlange von der Europäischen Kommission und
ihrem Präsidenten, sich der wichtigen Belange und Nöte
der bäuerlichen Landwirtschaft und insbesondere der
Milchwirtschaft in Europa und Deutschland anzunehmen.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Jörg Tauss.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Tagesordnungspunkt 1 des heutigen Nachmittags
lautet: Zur Situation in Deutschland. Ich glaube, es wäre
besser gewesen, wenn der Tagesordnungspunkt geheißen
hätte: Zur wirtschaftlichen Situation in Deutschland. Das
ist wichtig und der Schwerpunkt. Aber zur Situation in
Deutschland gehört meines Erachtens ein bisschen mehr,
beispielsweise dass wir im Moment in einem Wahlkampf sind, der erneut - ich schaue die Frau Präsidentin
an, die in Sachen Rumänien sehr engagiert ist - zulasten
anderer Menschen geführt wird - Koch lässt grüßen -, in
diesem Fall der Menschen in Rumänien. Aber auch
Chinesen und andere wurden in diesem Wahlkampf
schon erwähnt. Frau von der Leyen führt einen Wahlkampf mit falschen Anschuldigungen gegen Indien, dem
sie unterstellt, nicht das Notwendige gegen Kinderpornografie zu tun. Frau Bundeskanzlerin, ich glaube, es
wäre Zeit, dass sich diese Bundesregierung für die
Falschaussagen und die Verbreitung offenkundiger
Unwahrheiten über die entsprechenden Staaten und auch
Indien gegenüber dem Parlament und der deutschen
Öffentlichkeit entschuldigt.
Zur Lage gehört auch, wenn man über Rumänien redet, das Folgende: Ich habe vorhin die Zeit genutzt, um
ein bisschen zu googeln. Man kann feststellen, dass wir
in großem Maße Menschen aus Rumänien anwerben, damit diese für Menschen in Deutschland die Pflege übernehmen. Ich zitiere aus einem entsprechenden Angebot:
Eine Rumänin lebt als Haushaltshilfe in Ihrem Haus. Sie
ist fast rund um die Uhr präsent. - Es schließt mit dem
humanitären Absatz: Bitte beachten Sie aber, dass auch
diese Menschen Freizeit haben. - Ich glaube, das sagt
mehr über die Situation dieses Landes aus als manch
anderes, über das wir gelegentlich diskutieren.
Die Freiheitsrechte und die Bürgerrechte, die eigentlich keine Randnotiz sein sollten - auf dem Rand des
Zweieurostücks sind die Worte „Einigkeit und Recht und
Freiheit“ vermerkt -, waren in der heutigen Debatte eine
Randnotiz. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben in Ihren gesamten Ausführungen zum Thema Bürgerrechte und
zum Thema Rechtsstaat nicht ein einziges Wort verloren.
Auch dies kennzeichnet deutlich Ihren Wahlkampf, der
von Sicherheit geprägt ist. Erst ganz weit hinten kommt
die Freiheit.
Ich habe gestern einen Bescheid eines Verwaltungsgerichts mit der Aufforderung erhalten, die Gerichtsgebühren für eine Auseinandersetzung zu zahlen - ich
werde sie natürlich zahlen -, die ich seit einigen Jahren
mit dem Bundesministerium für Verkehr führe. Es ging
darum, dass ich beantragt habe, als deutscher Abgeordneter - auch dieses hängt mit dem Zustand Deutschlands
zusammen - Einsicht in den Vertrag der Bundesrepublik
Deutschland mit dem Mautkonsortium zu nehmen, der
rund 10 000 Seiten umfasst. Ich kann Ihnen sagen: Mir
als Abgeordnetem wird diese Einsicht verwehrt. Von den
10 000 Seiten darf ich vier Seiten betrachten. Das sind
die ersten beiden Deckblätter und die beiden rückwärtigen Deckblätter. Die Begründung lautet, es handle sich
um Geschäftsgeheimnisse. Auch das gehört zur Situation Deutschlands, dass ein deutscher Abgeordneter
nicht in Verträge hineinschauen darf, die die deutsche
Bundesregierung zulasten und auf Kosten des deutschen
Steuerzahlers mit der Privatwirtschaft abschließt. Ich
denke, auch dieser Skandal sollte, wenn man zur Situation in Deutschland spricht, benannt werden.
Zur Lage in Deutschland gehört auch, dass wir nach
den größten Datenschutzskandalen, die wir in der Geschichte der Republik hatten, hier ein allenfalls halbherziges Datenschutzgesetz hinbekommen haben, es aber
nicht geschafft haben, den Bundesbeauftragten für den
Datenschutz personell zu verstärken. Wir haben hier ein
Gesetz beschlossen, das am 1. August in Kraft treten
sollte. Es hat meine Partei schier zerrissen und bei mir
dazu geführt, dass ich meine Partei verlassen habe. Fragen Sie einmal, was mit diesem Gesetz geschehen ist. Es
ist natürlich nicht in Kraft getreten, weil es wegen der
schlampigen Vorbereitung durch Frau von der Leyen
und Herrn zu Guttenberg überhaupt nicht tauglich ist,
vom Herrn Bundespräsidenten unterschrieben zu werden. Auch das ist die Lage in Deutschland. Dafür nimmt
man aber in Kauf, 134 000 Petentinnen und Petenten, die
sich gegen dieses Gesetz gewandt haben, zu beschimpfen. Die Konservativen verhalten sich beim Internet wie
damals bei der Einrichtung des Eisenbahnverkehrs: Man
verlangt, dass man mit einer Fahne vor der Lokomotive
herläuft. Meine Damen und Herren von der Union, Sie
reden über Technikfreundlichkeit. Die letzte Technik,
die Sie gut fanden, war vielleicht die Kernkraft. Mit dem
Internet haben Sie nichts am Hut.
({0})
Vielleicht noch etwas zum Zustand des Parlaments.
- Darüber rede ich gerne nachher mit dem Kollegen. Ich kümmere mich im Moment sehr um inhaftierte Blogger in Aserbaidschan. Menschen, die im Internet ihre
Meinung gesagt haben, sind in diesem Land verhaftet
worden. Ich bin selbstverständlich hingefahren, zumal
einer der Betroffenen einmal Praktikant in meinem Büro
war. Wissen Sie, was die Auskunft der Bundestagsverwaltung war, als ich gesagt habe, ich würde gerne dorthin fliegen? Ich habe den Bescheid bekommen, dass ich
als Abgeordneter selbstverständlich eine Bildungsreise
unternehmen könnte - dafür könnte ich auch meine
Bonusmeilen, die ich erflogen habe, verwenden -, aber
für eine Reise in Sachen Menschenrechte dürfte ich
Bonusmeilen nicht verwenden. Das ist der Zustand
Deutschlands im Jahr 2009.
Man könnte mit dem fortfahren, was vom Kollegen
Westerwelle zum Bundesverfassungsgericht gesagt worden ist. Ich bin froh, dass bereits richtiggestellt worden
ist, dass die Anregung zur Onlinedurchsuchung aus
FDP-Kreisen in Nordrhein-Westfalen gekommen ist.
Lieber Kollege Westerwelle, ich traue Ihnen ebenso zu,
etwas für die Bürgerrechte zu tun, wie ich mir zutraue,
eine Kuh zu werfen. Sie haben immer nur ein taktisches
Verhältnis zu den Menschenrechten gehabt. Dort, wo Sie
regiert haben, haben Sie mit dem Thema Menschenrechte, wie Sie an den aktuellen Landesregierungen
sehen, nichts zu tun gehabt.
Was die Terroristen angeht, so würde ich Ihnen, Herr
Lafontaine, sehr empfehlen, nicht in die Kerbe zu hauen,
in die auch der Herr Innenminister immer haut; denn mit
dem Schüren von Terrorangst werden immer mehr Bürgerrechte und Menschenrechte in diesem Land eingeschränkt.
Last, but not least, Frau Präsidentin, zur Lage in
Deutschland gehört auch - das ist angesprochen worden
- der Mindestlohn. Lassen Sie mich angesichts der Tatsache, dass ich heute wohl meine vorläufig letzte Rede
halte, den Garderobenfrauen und anderem Personal im
Deutschen Bundestag danken. Vielleicht könnten wir,
bevor wir salbungsvolle Reden halten, mit Blick auf unsere Fahrerinnen und Fahrer, auf die, die hier als
Personal arbeiten und bei denen ich mich herzlich
bedanke, anfangen, über einen Mindestlohn zu reden.
({1})
Das wäre gut und würde dieses Parlament ehren. Ich ärgere mich jedes Mal - ich schäme mich fast -, wenn ich
an unseren Garderobenfrauen vorbeilaufe, weil ich immer daran denken muss, welche finanzielle Leistung
diese bei einer auswärtigen Firma beschäftigten Kräfte
bekommen.
Herr Kollege Tauss!
Frau Präsidentin. Ich bedanke mich für Ihre Geduld. Ich wünsche Ihnen alles Gute und einen schönen Tag.
Vielleicht können Sie den einen oder anderen Punkt über
die Zukunft Deutschlands, den ich angesprochen habe,
hier in diesem Parlament berücksichtigen.
Besten Dank.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Ludwig Stiegler,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Kollege Ramsauer hat hier eine bemerkenswerte Rede
gehalten. Er hat sich erstens an der Kanzlerin abgearbeitet und ihr vorgeworfen, dass sie wichtige Politikfelder
überhaupt nicht wahrnimmt.
({0})
Das ist wieder einmal ein Beweis für die Eintracht in der
Union; CDU und CSU sind eben wie feindliche Geschwister.
({1})
Lieber Peter Ramsauer, statt über die Landwirtschaft zu
klagen, lasst uns das Kartellrecht ändern und die Nachfragemacht der großen Einkäufer hier beenden. Das
wäre die richtige Reaktion. Es ist eines der Grundübel in
der deutschen Wirtschaftsordnung, dass wenige die
Leute ausbeuten können.
({2})
Bemerkenswert an der Rede des Kollegen Ramsauer
war auch, dass er Freiherr zu Guttenberg vollkommen
ignoriert hat. Guttenberg wird zwar plakatiert und darf
sich in Bierzeltreden austoben, aber mehr erlaubt der
Futterneid innerhalb der CSU nicht. Früher hätte man
Lobpreis und Dank zum Ausdruck gebracht. Wenn
Michael Glos hier noch gesessen hätte, dann hätte sich
Peter Ramsauer in unberechtigtem Lobpreis und Dank
überschlagen. Heute hat er beredt geschwiegen.
Er hat in gewisser Weise recht. Während sich Olaf
Scholz bezüglich Mindestlohn und Kurzarbeit überall
schmücken kann, fällt einem bei Guttenberg Hans
Christian Andersens Des Kaisers neue Kleider ein.
({3})
Wer hinschaut, der sieht, dass nur ein paar Hofschranzen
in der Presse und in der Union des Kaisers neue Kleider
rühmen und sagen: Was hat der alles für Taten vollbracht!
({4})
Ich sage Ihnen: Vor dem 27. September wird das Kind
noch kommen und feststellen, dass der Kaiser nackt ist.
Der erste, der uns das jetzt gesagt hat, war Peter
Ramsauer durch sein beredtes Schweigen.
({5})
Im Zusammenhang mit Herrn Guttenberg fällt mir
auch noch Das Bildnis des Dorian Gray ein. Dorian
Gray war der wunderbare Jüngling, der porträtiert
wurde, bevor sich Lebensweg und Bildnis trennen; das
Bild wird auf dem Speicher aufbewahrt, während der
Jüngling durch die Welt zieht. Lange Zeit haben sich alle
Grausamkeiten des Jünglings nicht an ihm gezeigt
- auch Guttenberg sieht man nichts an -, aber am Bildnis
ist es sichtbar geworden. Wenn ich an das industriepolitische Papier des Ministeriums denke, dann fürchte ich,
dass das wahre Bild von Guttenberg im Archiv des Bundeswirtschaftsministeriums ist.
({6})
Da sind zum Beispiel die Pläne für die Abschaffung des
Kündigungsschutzes. Jetzt tut er noch, als sei er unschuldig. Ihr werdet sehen: Wenn er die Gelegenheit dazu bekäme - aber wir werden alles tun, dass er diese Gelegenheit nicht bekommt -, würde dieses schöne Bild zerstört
werden. Belassen wir es also bitte bei der jetzt bestehenden Illusion!
Auch die Frau Bundeskanzlerin war heute ganz melancholisch-sachlich.
({7})
Sie hat in die Vergangenheit geschaut, weil sie mit dem
neuen Verlobten nicht in die Zukunft schauen kann.
({8})
Wenn ich mir vorstelle, wie sich dieser neue Verlobte
aufgeführt hat: Einen solchen Kerl würde ich nicht heiraten.
({9})
Er sagt Ihnen schon jetzt, Sie hätten alles falsch gemacht
und seien die schrecklichste Frau der Welt;
({10})
aber die Ehe kann er kaum erwarten. Eine solche Ehe
würde allein wegen mentalen Vorbehalts angefochten.
({11})
Es war so, dass hier die Nebelschleier über die Zukunft gehängt werden - wie in einer Inszenierung von
Schlingenschief.
({12})
- Entschuldigung; Schlingensief. Ich war zu sehr auf
„schief“ fixiert.
({13})
Da gibt es nur Nebel und irgendwelche Verhängnisse.
({14})
- Nein, ich sage heute nichts Lateinisches, sondern die
Wahrheit.
({15})
- Aber wenn Sie es wollen, Herr Westerwelle, dann
komme ich Ihnen mit einem griechischen Wort. Die alten Griechen kannten das Wort „Aletheia“ für „Wahrheit“. Das hat Gadamer mit „Unverborgenheit“ übersetzt; man kann es sehen. Wenn ich mir die Reden von
Ihnen von der Union vor Augen führe, in denen Sie etwas dazu gesagt haben, was Sie in Zukunft mit dem
Land vorhaben, komme ich zu dem Schluss: Sie haben
nicht die Wahrheit gesagt; denn Sie haben verborgen,
was Sie wirklich im Schilde führen und was wir verhindern müssen.
({16})
Frank-Walter Steinmeier hat eben gezeigt, was er in
Zukunft haben will: eine starke Exportwirtschaft, eine
starke Binnenwirtschaft, starke Löhne, damit das Wachstum auch in der Binnenwirtschaft gelingen kann. Das ist
eine Perspektive, und dafür sorgt auch die Kraft der
SPD.
({17})
Ich möchte bei dieser Gelegenheit unserer SPD-Fraktion danken. Wohin wäre die Union gelaufen, wenn nicht
Peter Struck mit seiner Truppe sie immer auf dem Pfad
der Tugend gehalten hätte?
({18})
Ich sage einen ganz herzlichen Dank an unsere Fraktion
und an Peter Struck, der das Kunststück fertiggebracht
hat, einerseits sozialdemokratische Konzepte zu machen,
andererseits auch mit den schwarzen Brüdern und
Schwestern zu hantieren,
({19})
sie vom rechten Weg, vom falschen Weg abzuhalten und
auf den Pfad der Tugend zu bringen.
({20})
Das hat er geschafft, und dafür danken wir ihm ganz
herzlich.
({21})
Meine Damen und Herren, beim letzten Wahlkampf
haben Sie mit offenem Visier gekämpft, heute kämpfen
Sie mit der Tarnkappe. Aber ich sage Ihnen: Auch die
Tarnkappe wird Ihnen nicht helfen; denn die Menschen
wissen: Ohne die soziale Kompetenz und die soziale
Kraft der Sozialdemokratie kommen wir nicht anständig
in das nächste Jahrzehnt.
Ich sage Ihnen: Servus! Alles Gute! Die SPD-Fraktion ist auf der Wacht.
({22})
Herzlichen Dank, Ludwig Stiegler, für diese letzte humorvolle Rede.
({0})
Wir wünschen dir im Namen des Hohen Hauses alles
Gute für deinen dritten Lebensabschnitt.
({1})
Ich schließe die Aussprache und rufe die Tagesord-
nungspunkte 2 a bis 2 d auf:
2 a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes über die Ausweitung und Stärkung
der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen
Union
- Drucksache 16/13923 - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Umsetzung der Grundgesetzänderungen für die Ratifizierung des Vertrags
von Lissabon
- Drucksache 16/13924 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({2})
- Drucksachen 16/13985, 16/13994 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Michael Roth ({3})
Dr. Diether Dehm
Rainder Steenblock
2 b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union
- Drucksache 16/13925 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({4})
- Drucksachen 16/13986, 16/13995 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Michael Roth ({5})
Dr. Diether Dehm
Rainder Steenblock
c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund
und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 16/13926 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({6})
- Drucksachen 16/13987, 16/13996 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Michael Roth ({7})
Dr. Diether Dehm
Rainder Steenblock
d) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Nešković, Dr. Diether Dehm,
Alexander Ulrich, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({8})
- Drucksache 16/13928 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({9})
- Drucksachen 16/13988, 16/13997 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Michael Roth ({10})
Dr. Diether Dehm
Rainder Steenblock
Zu den Gesetzentwürfen liegen ein Änderungsantrag
der Fraktion der FDP, drei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke, drei Änderungsanträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag
der Fraktion Die Linke vor.
Über den Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des
Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen
Union werden wir später namentlich abstimmen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Thomas Oppermann, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen und
Kolleginnen! Heute machen wir mit den Europagesetzen
vom Bundestag aus den Weg für die Ratifizierung des
Vertrages von Lissabon frei. Dieser Vertrag wird die demokratischen Entscheidungssysteme der Mitgliedsländer noch stärker mit der Europäischen Union verzahnen.
Das macht die Union demokratischer und handlungsfähiger und setzt sie in den Stand, auf der Basis gemeinsamer Werte die legitimen Interessen von 500 Millionen
Europäern in einer globalisierten Welt effektiv und nachhaltig zu vertreten - besser, als jedes einzelne Mitgliedsland dies tun könnte.
Wir haben in kurzen, aber intensiven Beratungen gute
Kompromisse erzielt zwischen Bundesrat und Bundestag sowie zwischen Mehrheit und Opposition im Bundestag. Der Kompromiss sieht vor, dass der Bundestag
bei vertragsgestaltenden Entscheidungen umfassend mitwirken muss und darf. Die Bundesregierung ist nach innen voll rechenschaftspflichtig und nach außen uneingeschränkt verhandlungsfähig. Das ist ein gutes Ergebnis.
Gut ist auch, meine Kollegen und Kolleginnen von
der CSU, dass der Entschließungsantrag vom Tisch ist.
Wir brauchen keine neuen Klagearten beim Bundesverfassungsgericht. Wir brauchen keine irritierenden Vorbehalte gegen den Vertrag. Wir brauchen keine imperativen
Mandate.
({0})
Im Übrigen ist es nicht so, dass der Vertrag nur nach
Maßgabe der Gründe des Urteils verfassungsgemäß ist.
Vielmehr ist der Vertrag ohne Wenn und Aber verfassungsgemäß. Durch die Begleitgesetze, die wir heute
verabschieden, wird der Vertrag mit der Ratifizierung
Rechtskraft erlangen. Er erlangt Rechtskraft, weil wir
ihn mit einem verfassungskonformen Begleitgesetz in
Kraft setzen, aber nicht weil das Bundesverfassungsgericht weitergehende Äußerungen dazu macht.
Sie, meine Damen und Herren von der CSU, müssen
sich heute entscheiden, ob Sie in der antieuropäischen
Ecke bleiben wollen oder ob Sie sich auf die Seite derer
stellen wollen, die für ein vereintes, soziales und demokratisches Europa streiten.
({1})
Ich habe den Eindruck, dass sich hinter mancher - nicht
hinter allen - antieuropäischen Attitüde in Wirklichkeit
nationales Denken versteckt. Aber weil nationales Denken antiquiert ist, weil es nicht in eine moderne Gesellschaft passt, wird das so nicht gesagt. Stattdessen wird
der ganze politische Frust an Europa abgelassen.
({2})
Im Europaausschuss haben die CSU-Abgeordneten
Gauweiler, Silberhorn und Lintner 15-mal gegen die
Koalition abgestimmt, 7-mal im Schulterschluss mit der
Linkspartei.
({3})
- Mit Diether Dehm und den Kollegen von der Linkspartei. - Ich muss sagen: Ich habe mich gewundert über die
randständigen Positionen, die Sie da eingenommen haben. Das ist eine antieuropäische Allianz an den Rändern
des Deutschen Bundestages.
({4})
Zu dem europäischen Geist und dem, was wir heute
verabschieden, passt es auch nicht, wenn der nordrheinwestfälische Ministerpräsident abfällige und tendenziell
rassistische Äußerungen über Rumänen macht.
({5})
Genauso wenig passt dazu, wenn Oskar Lafontaine ausführt, er müsse deutsche Arbeitsplätze gegen europäische Fremdarbeiter schützen.
({6})
Auch das ist kein europäischer Tonfall.
({7})
Ich finde, wir brauchen keinen Nationalismus, weder
linken noch rechten. Was wir brauchen, ist ein friedfertiges, innovatives, ökonomisch starkes, soziales und demokratisches Europa. Dem kommen wir mit dem Vertrag von Lissabon ein gutes Stück näher.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Silberhorn.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Der Umstand, dass
ich mit einigen Kollegen in der letzten Woche im Europaausschuss gegen, wie Sie sagen, die Koalition abgestimmt habe,
({0})
hat den Grund, dass es der Koalition zu meinem Bedauern nicht gelungen ist, alle Anträge gemeinsam abzustimmen. Sie wissen: Die schriftlichen Anträge der
Koalition lagen am Mittwoch um 10 Uhr vor. Die CSULandesgruppe hatte ihre Änderungswünsche bereits am
Freitag vorher vorgelegt.
({1})
Wenn die Einbringung nicht anders möglich ist, müssen
wir eben eigene Anträge einbringen.
Es war im Übrigen bezeichnend, Herr Trittin, dass
viele Anträge, die von meiner Seite eingebracht worden
sind, mit Anträgen der Grünen oder auch der FDP inhaltlich identisch waren.
({2})
Das hat den schlichten Hintergrund, dass wir alle die
zweitägige Sachverständigenanhörung ernst genommen
und die Anliegen, die von den Sachverständigen vielfach
an uns herangetragen worden sind, aufgegriffen und in
Antragsform gefasst haben.
Ich werde diesem Begleitgesetz am Ende aus Überzeugung zustimmen, weil der Bundestag deutlich mehr
Informations- und Mitwirkungsrechte erhält, als er bisher hat. Aber ich hätte mir schon gewünscht, dass man
denjenigen, die an Sonntagen über mehr Demokratie,
Bürgernähe und Transparenz in der Europapolitik reden,
nicht jedes neue Informations- und Mitwirkungsrecht
des Bundestages förmlich aus der Nase ziehen muss.
Es bleibt dabei: Wir hätten etwas mehr Demokratie,
Transparenz und Bürgernähe in der deutschen Europapolitik erreichen können. Gleichwohl begrüßen wir, dass
wir einen großen Schritt nach vorne machen. Wir werden deshalb aus Überzeugung dieser Begleitgesetzgebung zustimmen.
Vielen Dank.
({3})
Herr Kollege Oppermann, bitte.
Herr Silberhorn, ich finde es erfreulich, dass Sie sich
am Ende entschließen, den Gesetzen zuzustimmen. Sie
haben anfangs noch gegen den Vertrag von Lissabon gestimmt.
({0})
Wenn das ein Lernprozess ist, der auch den Rest der
CSU erfasst, dann hat sich die Auseinandersetzung mit
Ihnen gelohnt.
Im Übrigen haben Sie im Ausschuss Anträge gestellt,
die sich aus den Verhandlungen ergeben haben. Es lagen
ausverhandelte Gesetzentwürfe vor. Sie haben aber gemeinsam mit der Linkspartei abgestimmt, und das nicht,
weil Sie mehr Transparenz nach Europa bringen wollten,
sondern weil Sie in Sachen Europa Sand ins Getriebe
streuen wollten. Sie wollten europäische Prozesse bremsen und verlangsamen. Das entspricht genau der Haltung, die Sie ansonsten einnehmen. Ihnen ist die Europäische Union suspekt. Uns ist die Europäische Union
willkommen, weil nur sie uns und der nächsten Generation in Europa eine Zukunft sichern kann.
({1})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Markus Löning,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die FDP-Fraktion hat dieses Gesetzespaket mit eingebracht, weil sich hier die Linie der Vernunft durchgesetzt hat. Die euroskeptisch angehauchte Linie, die in der
Öffentlichkeit von den Kollegen auf der linken Seite des
Hauses vertreten worden ist, hat sich nicht durchgesetzt.
Herr Oppermann, an dieser Stelle muss ich aber sagen:
Auch die Linie, dem Parlament möglichst wenig zu sagen
({0})
und möglichst alles geheim zu halten, wäre nicht die Linie der FDP gewesen. Wir sind froh, dass sich nicht die
Linie der Geheimbündelei, sondern die Linie der Vernunft durchgesetzt hat.
({1})
Zwei Punkte konnten wir leider nicht durchsetzen; einen Punkt bringen wir hier noch einmal ein. Das Interessante an diesen beiden Punkten ist, dass alle sie wollten.
Wir haben vorgeschlagen - dazu gibt es unseren Änderungsantrag -, dass alle finanziellen Verpflichtungen, die
die Bundesregierung gegenüber der Europäischen Union
eingeht, vom Bundestag kontrolliert werden,
({2})
und zwar sowohl im Zufluss als auch im Haushaltsvollzug. Ich erinnere beispielsweise an den Europäischen
Entwicklungsfonds, den Europäischen Globalisierungsfonds und an Galileo. Für diese Projekte wurden im Rat
dreistellige Millionenbeträge und teilweise mehr zugesagt, ohne dass der Gesetzgeber dazu auch nur ein Wort
sagen konnte. Deswegen fordere ich Sie als Parlamentarier auf: Stimmen Sie unserem Änderungsantrag zu! Es
ist nötig, dass der Bundestag die volle Kontrolle im
Haushaltsrecht, auch was die EU angeht, behält.
({3})
Die Tatsache, dass auch der andere Punkt abgelehnt
wurde, ist eigentlich noch bizarrer. Wir wollten festschreiben, dass die Bundesregierung dem Bundestag die
Gelegenheit gibt, einen deutschen Kandidaten für die
Europäische Kommission anzuhören. Ein Kandidat, der
sich im Europäischen Parlament einer Anhörung stellen
muss, soll sich auch einer Anhörung der Bundestagsabgeordneten stellen. Das ist ein Symbol für mehr Transparenz und für mehr Mitbestimmung des Bundestages.
Alle Kollegen quer durch die Fraktionen haben gesagt:
Ja, wir wollen das. - Trotzdem wurde dieser Vorschlag
abgelehnt. Das ist die eigentliche Krux und illustriert,
worauf es am Ende des Tages ankommen wird. Es ist
gut, dass jetzt mehr Rechte in einem Gesetz und nicht
nur in einer Vereinbarung normiert sind. Am Ende des
Tages wird es aber darauf ankommen, dass die Mehrheit
in diesem Haus, die Mehrheit, die die Regierung trägt,
den Mut aufbringt, diese Rechte auch einzufordern und
auszufüllen. Wenn das nicht passiert, sind diese Gesetze,
diese Mitwirkungsrechte des Bundestages nichts wert.
({4})
Wir haben in dieser Legislaturperiode leider mehrfach
erlebt, dass sich die Koalitionsfraktionen entweder nicht
einigen konnten oder am Ende des Tages den Mut nicht
aufgebracht haben, wichtige europäische Entscheidungen in das Plenum einzubringen und das Plenum darüber
entscheiden zu lassen. Das muss sich ändern. Im nächsten Deutschen Bundestag wird die Mehrheit - es wird
eine andere Mehrheit sein, die die nächste Bundesregierung tragen wird ({5})
die neue Bundesregierung anders kontrollieren - mit
mehr Selbstbewusstsein, mit mehr Mitsprache. Ansonsten macht sich der Deutsche Bundestag in dieser Frage
völlig unglaubwürdig.
Meine Damen und Herren, angesichts des langen Prozesses der Debatte - über den Verfassungsvertrag bis hin
zum Lissabonner Vertrag - müssen wir uns darauf konzentrieren, den Blick nach vorne zu richten. Die Menschen sind es leid, unsere Debatten über Stimmrechtsfragen, darüber, ob es einen Kommissar mehr oder weniger
geben soll, und über irgendwelche technischen Absprachen zu hören. Es wird darauf ankommen, die europäische Politik mit Leben zu erfüllen - und nicht mit
Geschacher um Posten, Stimmenmehrheiten und Geschäftsordnungsfragen. Es wird darauf ankommen, dass
sich die europäische Politik mit der neuen Kommission
wieder eine vernünftige Agenda gibt. Es wird darauf ankommen, dass die europäische Politik nach vorne blickt,
für die Menschen arbeitet und nicht über Institutionen
und Mehrheitsfragen streitet.
Lassen Sie mich einige wenige Punkte aufzählen, die
auch für den Bundestag wichtig sind. Wir sollten nicht
vergessen, die bilateralen Beziehungen gerade zu unseren europäischen Partnern in den nächsten Jahren mit
viel mehr Intensität zu pflegen. Für den Deutschen Bundestag ist es insbesondere wichtig, darauf zu achten, dass
er, wenn die Parlamente in Zukunft mehr mitsprechen
wollen, ein vernünftiges Geflecht an Beziehungen zu
den anderen nationalen Parlamenten aufbaut. Das brauchen wir für die Demokratie in Europa; das brauchen wir
aber auch für das Zusammenwachsen in Europa. Wir
brauchen, wenn Europa eine Zukunft haben soll, eine intensive Pflege der bilateralen Beziehungen. Das wird zu
leicht vergessen. Es wird zu sehr für selbstverständlich
gehalten, dass die Beziehungen zu unseren Nachbarn gut
sind. Das ist nicht selbstverständlich. Es ist nicht selbstverständlich, dass die Beziehungen zu unseren polnischen Nachbarn oder auch zu unseren Nachbarn auf der
anderen Seite, zu den Dänen, zu den Holländern, zu den
Belgiern oder den Luxemburgern, von vornherein gut
sind. Wir müssen uns darum kümmern, dass sie das auch
in Zukunft bleiben. Das hat nichts mit gesetzlichen Regulierungen zu tun, sondern damit, dass wir sehen und
verstehen, dass unsere Zukunft in einem gemeinsamen
Europa liegt.
Der neue Bundestag ist dazu aufgerufen, auf der demokratischen Seite mehr zu machen, die neue Bundesregierung besser zu kontrollieren, aber auch seine Verantwortung im Rahmen der Beziehungen zu unseren
europäischen Partnern besser wahrzunehmen als in der
Vergangenheit.
Vielen Dank.
({6})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Gunther Krichbaum,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute ist ein guter Tag für den Deutschen Bundestag und
ein guter Tag für den Bundesrat, aber ebenso für den
Parlamentarismus in Deutschland. Wir verabschieden
heute die vier Begleitgesetze zum Vertrag von Lissabon,
die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts notwendig wurden. Die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten und -rechte des Bundestages werden damit deutlich gestärkt.
Einem Eindruck möchte ich aber entgegentreten, und
zwar dem Eindruck, es hätte in der Vergangenheit gar
keine Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages in
der Europapolitik gegeben. Es handelt es sich hier vielmehr um einen kontinuierlichen Prozess. Wir haben unsere Rechte gerade gegenüber der Bundesregierung über
die Jahre hinweg kontinuierlich ausgebaut. Das, was wir
bislang in der sogenannten Zusammenarbeitsvereinbarung, der BBV, geregelt hatten, hat nun seinen Niederschlag im Gesetz gefunden. Das ist sicherlich gut so,
weil wir damit ein höheres Maß an Verbindlichkeit haben.
Ich möchte den Gedanken des Kollegen Löning hinsichtlich der Vernetzung aufgreifen. Ja, wir brauchen für
die Zukunft eine stärkere Vernetzung der nationalen Parlamente in Europa. Aber ich darf auch hier daran erinnern, dass es mittlerweile die fest etablierte COSAC
gibt, wie wir die Konferenz der Europaausschüsse der
Parlamente der EU-Mitgliedstaaten technisch nennen, in
der wir uns in Europa regelmäßig begegnen. Wir haben
ein Verbindungsbüro des Bundestages in Brüssel. Wir
haben - auch das darf man in diesem Zusammenhang ruhig einmal erwähnen - gut arbeitende Stiftungen der
Parteien in nahezu allen europäischen Ländern. Auch
das trägt dem Gedanken der Vernetzung der Parlamentarier untereinander Rechnung.
Aber zurück zum sogenannten Begleitgesetz und zur
BBV. Wir haben die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts eins zu eins umgesetzt und sind sogar darüber
hinausgegangen. Die Schwierigkeit bestand aber darin,
eine Balance zu finden; denn gerade wir als Deutscher
Bundestag haben ein elementares Interesse daran, dass
die eigene Regierung in Brüssel und damit in Europa
handlungsfähig bleibt. Nur dann stärken wir das Gewicht Deutschlands und nutzen die Potenziale des Vertrages von Lissabon, die uns dieser Vertrag erst gibt.
Eines aber muss an dieser Stelle klar sein: Der Deutsche Bundestag ist ein oberstes Verfassungsorgan. Deswegen haben wir die Einschätzungsprerogative darüber,
wie wir die europäische Integration in Zukunft verantworten und gestalten. Dafür sind in erster Linie wir
verantwortlich, nicht ein anderes oberstes Verfassungsorgan, das Bundesverfassungsgericht. Wir tragen die
Verantwortung gegenüber unseren Wählerinnen und
Wählern.
({0})
Das dürfen wir als Bundestag einmal sehr selbstbewusst
sagen.
Mit der heutigen Verabschiedung der Begleitgesetze
folgen wir vor allem der zeitlichen Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts; denn die Begleitgesetze sollten vor
der Ratifizierung in Kraft treten. Auch hier haben wir
unsere Hausaufgaben gemacht.
Die Erarbeitung der Begleitgesetze geschah unter
großem Zeitdruck. Ich möchte deshalb vor allem den
Fraktionsarbeitsgruppen und den Berichterstattern innerhalb der Arbeitsgruppen danken. Ich möchte auch der
Bundestagsverwaltung und ihren zahlreichen Mitarbeitern danken; denn die Erarbeitung und die Beratungen
erfolgten während der sogenannten parlamentarischen
Sommerpause. Es ist - das möchte ich hervorheben - ein
echtes Parlamentsgesetz. Es ist ein Gesetz, das aus der
Mitte des Parlaments heraus entwickelt wurde. Darauf
haben wir als Parlamentarier sehr großen Wert gelegt.
Wir äußern nun aber die Erwartung, dass die Ratifizierung, nachdem wir unsere Aufgaben erledigt haben,
schnell vonstatten geht. Ich meine damit, dass die
Urkunde in Rom hinterlegt werden kann. Dann ist das
Ratifizierungsverfahren abgeschlossen. Was mögliche
neuerliche Klagen gegen die Begleitgesetze angeht, so
äußere ich den Wunsch und die Erwartung an ein anderes oberstes Verfassungsorgan, diese Klagen bitte zügig
zu bearbeiten, damit es zu keiner zeitlichen Verzögerung
kommt. Das ist möglich. Wir brauchen dieses Signal in
Richtung Irland, aber auch in Richtung Polen und Tschechien, weil dort die Ratifizierungen noch nicht abgeschlossen sind. Vor allem für das irische Referendum
wünsche, aber erwarte ich auch einen entsprechenden
Impuls.
Ziel muss es sein, dass der Vertrag zu Beginn des Jahres 2010 in Kraft tritt.
({1})
Er fördert die Rechte des Bundestages und die Rechte
des Europäischen Parlamentes; denn erst der Vertrag von
Lissabon schafft bei aller Diskussion um die Begleitgesetze das, was wir eigentlich wollen und was wir anstreben.
Er macht Europa handlungsfähiger, demokratischer
und auch transparenter. Erst dann können wir uns den
Problemen zuwenden, die die Bürgerinnen und Bürger
im Kern beschäftigen, nämlich Fragen und Probleme der
Wirtschaft und der Beschäftigung, worum wir heute
Morgen in den Debatten gerungen haben. Es geht um
Fragen der Finanzmarktkontrolle, des Klimaschutzes,
des Verbraucherschutzes, aber auch darum, dass wir die
Möglichkeiten nutzen, die uns der Binnenmarkt gibt,
denn nur dann können wir die Freiheitspotenziale der
Europäischen Union ausschöpfen. Nur dann können wir
die europäische Integration weiter gestalten. Nur dann
können wir die Probleme lösen, die auch für uns als großer Mitgliedstaat eine Schuhgröße zu groß wären. Wir
brauchen das europäische Miteinander, damit wir im
Prozess der Globalisierung bestehen können.
Ja, die heute vorgelegten Gesetzentwürfe sind verfassungsfest. Wir hatten eine zweitägige Anhörung mit
Sachverständigen durchgeführt. Diesen gilt mein Dank;
denn sie haben in den zwei Tagen ihre Expertise in den
Prozess eingebracht. Mein Dank gilt an dieser Stelle
auch Minister Prof. Dr. Reinhart, dem Vorsitzenden des
Europaausschusses des Bundesrates; denn auch hier hat
sich gezeigt, dass es bei den ansonsten manches Mal entgegengesetzten Positionen gut war, diese Anhörung gemeinsam durchzuführen.
Wir müssen die Rechte, die wir heute bekommen, für
die Zukunft nutzen. Es wurde in den anderen Debattenbeiträgen, auch vom Kollegen Oppermann, schon angesprochen. Der Deutsche Bundestag erhält mit den heutigen Gesetzen mehr Rechte, aber daraus fließt auch ein
höheres Maß an Verantwortung. Dieser Verantwortung
müssen wir insofern gerecht werden, als wir uns als
Bundestag auch organisatorisch darauf einrichten. Die
Europapolitik muss wieder stärker in den Fachausschüssen stattfinden, nicht allein im Europaausschuss. Sie
muss dort gelebt werden. Dort werden auch die Probleme behandelt.
Die Arbeit des Europäischen Parlamentes muss hier
in Berlin besser dargestellt werden. Hier laufen viel zu
häufig die Dinge nebeneinander her. Dann erst erkennen
auch die Bürgerinnen und Bürger vor Ort und hier bei
uns, wie wichtig die Arbeit des Europäischen Parlaments
ist.
Wir haben unsere Aufgaben erledigt. Ich möchte Sie
um die Zustimmung bitten und den Bundespräsidenten
um die Hinterlegung und damit um den Abschluss des
Verfahrens.
Vielen Dank.
({2})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Alexander Ulrich,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben die Vorredner gehört. Sie alle freuen sich über
die zusätzlichen Rechte, die der Deutsche Bundestag in
Zukunft in den Angelegenheiten Europas hat. Man sollte
aber darauf hinweisen, dass man dafür, dass der Bundestag diese Rechte bekommen hat, der Fraktion Die Linke
und auch dem Kollegen Gauweiler Danke schön sagen
muss; denn das waren diejenigen, die nach Karlsruhe gegangen sind und das letztlich erstritten haben.
({0})
CDU/CSU, FDP und Grüne haben das immer als antieuropäische Reflexe begriffen und nie verstanden, dass
sie sich durch das, was sie tun, ihrer eigenen Rechte, ihrer Möglichkeiten berauben. Jetzt hört man, dass das alles ein wohldosierter Gang war. Deshalb kann man
schon sagen, dass heute ein Stück weit Demokratie zurückgewonnen worden ist,
({1})
von der Regierungspolitik zum demokratischen Handeln. Das ist, wie gesagt, auch ein Verdienst unserer
Fraktion Die Linke.
({2})
Herr Oppermann, Sie erklären, dass die Fraktion Die
Linke und CSU-Politiker antieuropäisch gehandelt hätten. Dazu möchte ich Folgendes sagen: Willy Brandt
pflegte den großen Satz zu sagen: Mehr Demokratie wagen. Dass Sie Fraktionen und Abgeordnete, die zum Beispiel bei wichtigen europäischen Entscheidungen den
Volksentscheid wollen, als antieuropäisch bezeichnen,
zeigt, wie verkommen die Sozialdemokratie mittlerweile
ist.
({3})
Ganz nebenbei: Wenn Sie das zu politischen Rändern
erklären, dann haben Sie damit auch erklärt, dass Klaus
Wowereit zum politischen Rand gehört; denn Berlin hat
den EU-Verträgen im Bundesrat nicht zugestimmt. Auch
Ihre Partei hat mitgemacht.
({4})
Auch das gehört zur Ehrlichkeit dazu.
Wir als Linke haben über die kompletten vier Jahre
hinweg die Debatte über die EU-Verfassung und dann
den Vertrag von Lissabon geführt. Das war das zentrale
Thema im EU-Ausschuss und damit auch das zentrale
Thema der Europapolitik im Bundestag.
Wie oft hat man gesagt, Europa ist in der Krise? Dann
kam die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Die Bundeskanzlerin hat sich sehr früh dafür feiern lassen, sie hätte
die EU-Verträge gerettet. Mittlerweile wissen wir, da hat
man zu früh gejubelt; denn die deutsche EU-Ratspräsidentschaft war auch in dieser Hinsicht ein Flop.
({5})
Danach kamen die Iren, die verstanden haben, dass es
nicht zu einer anderen Entscheidung kommen kann,
wenn man der EU-Verfassung nur einen anderen Titel
gibt, aber 95 Prozent der Inhalte beibehält. Deshalb kann
ich hier nur sagen: Wir hoffen, dass die No-Campaign in
Irland erfolgreich ist und wir uns in der nächsten Legislaturperiode nochmals über dieses Vertragswerk unterhalten müssen.
({6})
Wir haben immer gesagt, wir lehnen die EU-Verfassung nicht aus antieuropäischen Gründen ab. An die
Adresse der Union, die hier gerne zujubelt, sage ich: Wer
wie Ministerpräsident Rüttgers die Bevölkerung eines
EU-Mitgliedslands so bezeichnet und wer das wie die
CDU-Bundesvorsitzende und Bundeskanzlerin durch
Nichtssagen toleriert, ist ein wahrer Antieuropäer. So
geht man mit den Menschen eines Mitgliedslandes nicht
um. Sie sollten sich für solch antieuropäische Reflexe
schämen!
({7})
Wir haben immer gesagt, wir wollen, dass Europa sozial, demokratischer und friedlich gestaltet wird. Das
waren und sind die Hauptgründe, warum wir diese Verträge ablehnen. Wir fühlen uns durch das Bundesverfassungsgericht und Ihre Argumentation in dieser Ansicht
bestätigt. Das Bundesverfassungsgericht zeigt zum Beispiel auf, dass die EU-Verfassungsverträge aufgrund der
Ausgestaltung des Begleitgesetzes nicht verfassungskonform sind. Nur durch eine verbindliche Regelung des
Begleitgesetzes wird das verfassungskonform.
Herr Oppermann, ich finde es schön, dass Sie sich
hier und heute dazu geäußert haben. Es wäre aber sinnvoll gewesen, wenn Sie bei den Beratungen manchmal
wirklich dabei gewesen wären. Vieles von dem, was Sie
in der Öffentlichkeit gesagt haben, hat gezeigt, dass Sie
von dieser Materie wenig Ahnung haben. Als Parlamentarischer Geschäftsführer waren Sie zwar dabei, von der
Sache aber haben Sie keine Ahnung. Sie konnten mit
„Seehofer als Bettvorleger“ zwar glänzen, aber zu den
Inhalten haben Sie auch heute wenig gesagt.
({8})
Die Mehrheit der Abgeordneten in diesem Haus
wollte und will weiterhin eine Europäische Union, die
den wirtschaftlich Mächtigen verpflichtet ist. Wir haben
das sehr oft gesagt. Auch die SPD hat im Zusammenhang mit den EuGH-Urteilen zu Viking, Laval usw. gemeinsam mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund Erklärungen zur Fortschrittsklausel abgegeben. Die SPD hat
die Gewerkschaften aber auch da im Stich gelassen und
bei der Klausel für den sozialen Fortschritt mit Nein gestimmt. Wenn Sie jetzt gemeinsam mit den Gewerkschaften Wahlkampf machen wollen, müssen Sie auch
sagen, dass Sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in dieser Sache im Stich gelassen haben. Sie haben
nichts dagegen getan, dass die Regelungen durch den
Europäischen Gerichtshof eingeschränkt wurden. Auch
da hat die Sozialdemokratie vollkommen versagt.
({9})
Wir haben heute die letzte Plenarsitzung in dieser Legislaturperiode. Für Rainder Steenblock und Markus
Löning ist die heutige Plenarsitzung die letzte. Im Europaausschuss haben wir oft darum gekämpft, dass auch
die kleineren Fraktionen eine tatsächliche Mitsprache in
Europaangelegenheiten bekommen. Wir haben oft versucht, Parlamentsrechte zu erhalten. Ich glaube, auch die
kleinen Fraktionen hatten einen Anteil an dieser BBV.
Weil ihr heute zum letzten Mal da seid, sage ich: Wir haben zwar unterschiedliche Standpunkte, aber Danke
schön für eure Arbeit. Ich glaube, ihr gehört auch zu denen, denen es um das Parlament und nicht um Regierungshandeln geht. Europa kann man sozialer machen,
aber nicht mit dieser SPD und nicht mit dieser CDU/
CSU.
Vielen Dank.
({10})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Manuel Sarrazin,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
wir denn der Linken dafür dankbar sein sollten, dass sie
vor dem Bundesverfassungsgericht den Vertrag von Lissabon, der die Grundlage für die Einführung von mehr
Parlamentsrechten ist, beklagt hat und ganz kippen
wollte, weil wir mit den Gesetzen jetzt mehr Rechte bekommen, denke ich mir: Wir können Ihnen doch höchstens bis zu dem Zeitpunkt dankbar sein, bis Sie das nachher ablehnen werden. Wenn ich das richtig sehe, werden
Sie nachher gegen das EUZBBG stimmen und sich beim
IntVG, also bei der Eins-zu-eins-Umsetzung der Forderung des Verfassungsgerichts enthalten. Da muss ich sagen: Selbst wenn Sie Dankbarkeit wollten, so blöd sind
wir nicht, dass wir Ihnen das auch noch durchgehen lassen.
({0})
Erklärungen, bayerische Ministerpräsidenten, Linke,
Zusatzanträge, Koalitionsstreit - ich habe heute Nacht
bei Mondschein nicht einschlafen können und mir überlegt, was ich heute sagen könnte. Man könnte versuchen,
das gegen die CSU zu wenden. Man könnte die SPD, unsere Wechselwähler oder die Linke ansprechen. Internationale Solidarität hat ja etwas mit Europa zu tun. Insofern wären Marx und Lenin von euch enttäuscht.
({1})
Das Wichtige, das wir heute beschließen, ist, dass wir,
der Deutsche Bundestag, uns stärker dafür verantwortlich erklären, welche Politik in Europa gemacht wird,
und dass wir sagen: Europäische Politik ist nicht nur von
den Europaabgeordneten, von der Europäischen Kommission und vielleicht noch von einem Minister, der im
Rat sitzt, relevant zu erklären, sondern wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind verantwortlich,
treten ein, fühlen uns zuständig, informieren und diskutieren über das, was in Europa passiert. Das ist das
Wichtigste, was wir heute beschließen.
({2})
Das erklären wir unseren Wählern. Es liegt an uns,
was in Europa passiert. Wenn es an uns Bundestagsabgeordneten liegt, dann liegt es auch an unseren Wählerinnen und Wählern, dass Europa in der Integration weiter
fortschreiten kann. Ich muss über diese Parlamentsrechte
sagen: Das Verfassungsgerichtsurteil ist kritisiert worden. Ich als europäischer Föderalist persönlich war auch
nicht unbedingt glücklich und brauchte einige Zeit. Aber
die befriedende Wirkung des Verfassungsgerichtsurteils
darf nicht infrage gestellt werden. Es steht außer Frage,
dass die Bundesrepublik Deutschland eine Integrationsverantwortung hat. Wir als Bundestag sind dazu verpflichtet, an der europäischen Integration teilzuhaben.
({3})
Diese befriedende Wirkung des Verfassungsgerichtsurteils besteht in Bezug auf die Verbesserung der Rechte
vor allem auch darin, dass die alte grüne Forderung, die
BBV auf Gesetzesrang zu bringen, in weiten Teilen
übernommen wurde. Es bezieht sich allerdings - aus unserer Sicht zu Unrecht - nicht auf einen ganz wichtigen
Bereich. Praktisch alle Redner, auch aus den Koalitionsfraktionen und erst recht aus der Regierung, betonen imManuel Sarrazin
mer wieder: Europa brauchen wir, weil die großen Fragen der internationalen Sicherheit, die Fragen der
zukünftigen Entwicklung der Welt nur noch von Europa
beantwortet werden können. Deswegen halten wir es für
unbedingt erforderlich, nachzubessern - am besten durch
Zustimmung zu unseren Änderungsanträgen heute - und
den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik hinter die sonstigen Politikbereiche zurückzustufen; sonst wird dies der Bedeutung dieser Politikbereiche
für Europa, aber auch der Kommunikation mit unseren
Wählern, die wir leisten müssen, nicht gerecht.
Noch etwas anderes ist wichtig. Wenn wir uns anschauen, was das Verfassungsgericht sagt, sehen wir,
dass es etwas ganz Grundsätzliches für die Europäische
Union feststellt. Die europäische Integration sorgt nicht
dafür, dass ein europäischer Überstaat existiert. Die europäische Integration sorgt auch nicht dafür, dass die
Wählerinnen und Wählern weniger demokratische
Rechte haben. Das Verfassungsgericht sagt ganz deutlich: Durch den Prozess der europäischen Integration
und auch durch den Vertrag von Lissabon werden die
Handlungsfähigkeit der Demokratie und damit die Möglichkeiten der Menschen, über demokratische Wahlen
auf Politik Einfluss zu nehmen, gestärkt, weil übernationale Interessenfelder und übernationale Fragestellungen
von Politik überhaupt belangbar werden.
({4})
Wenn wir uns anschauen, wo wir mit diesen Gesetzesvorlagen angelangt sind, denen wir zustimmen werden und die wir zum großen Teil auch mit einbringen,
und wenn wir berücksichtigen, dass viele unserer Forderungen eingeflossen sind und wir im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, beim Umgang mit der Notbremse und bei der schrittweisen
Festlegung der gemeinsamen Verteidigungspolitik und
der Rechtfertigung gegenüber dem Bundestag noch weitergehen wollten, dann müssen wir eines feststellen: Am
Ende der Regierungszeit dieser Großen Koalition wird
der Ratifikationsprozess des Vertrages von Lissabon, der
im Hinterzimmer der Regierung ohne ausreichende Information des Parlaments begonnen hat, im Deutschen
Bundestag mit einer Entscheidung abgeschlossen, die
den Deutschen Bundestag neu in die Verantwortung
nimmt und die Parlamentsrechte gerade hinsichtlich der
Information stärkt.
Deswegen sage ich: Ich wünsche mir, dass diese Gesetze, die hier heute beschlossen und nächste Woche ratifiziert werden, auch in Irland, Tschechien und Polen ratifiziert werden und für das nächste deutsche Parlament
und für die nächste deutsche Bundesregierung Ansporn
sind, den Auftrag von heute ernst zu nehmen und damit
Europa einen Schritt weiterzubringen.
Ich bedanke mich.
({5})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Henry Nitzsche.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich können Sie alle froh sein, dass das deutsche Volk
von Revolutionen seit Jahren die Nase voll hat. Sonst
würden heute wohl etliche Bürger dieses Hohe Haus belagern und Sie zum Abdanken auffordern. Das Recht
dazu hätten sie. Schließlich heißt es in Art. 20 Abs. 2 des
Grundgesetzes: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“
Wenn Sie heute allerdings dem EU-Reformvertrag
den Weg ebnen, geben Sie große Teile unserer nationalen Souveränität an Brüssel ab. Für genau diesen Fall
sieht das Grundgesetz das sogenannte Widerstandsrecht
vor. Ich zitiere Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes:
Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu
beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum
Widerstand …
Doris Neujahr hat es in der Jungen Freiheit mit Blick auf
die politische Klasse kürzlich auf den Punkt gebracht:
Die Quelle ihrer Legitimität ist der deutsche Wähler
und niemand sonst!
Wenn Sie jetzt Rechte des deutschen Parlaments an
Brüssel abtreten, verschenken Sie etwas, das Ihnen vom
deutschen Volk nur geliehen war. Aber in Ihrer Selbstherrlichkeit ignorieren Sie das bewusst. Für Sie besteht
das Volk nur aus Wählern, die den Parteien alle vier
Jahre ihre Futtertröge füllen sollen.
Richtig wäre gewesen, die Bürger selbst über den Reformvertrag und seine Folgen abstimmen zu lassen.
Aber daran besteht hier offenbar kein Interesse, angeblich weil es das Grundgesetz nicht hergibt. Aber wenn
das Grundgesetz das nicht hergibt, warum ändern wir es
dann nicht? In anderen Fällen ist das doch auch kein
Problem. Kommen Sie mir also nicht mit der faulen
Ausrede, ein Volksentscheid über den Reformvertrag sei
rechtlich nicht möglich. Seien Sie einmal ehrlich und sagen Sie: „Wir wollen nicht, dass die Bürger darüber entscheiden. Die machen uns sonst einen Strich durch die
Rechnung.“
({0})
Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf soll der Deutsche Bundestag bei Fragen der Kompetenzerweiterung
in Zukunft mit Zweidrittelmehrheit zustimmen. Vom
Gedanken her ist dies begrüßenswert. Nur wurde dabei
offenbar vergessen, dass wir es in Deutschland nicht mit
freien Abgeordneten zu tun haben, sondern mit willfährigen Parteisklaven,
({1})
die nur abnicken, was ihnen ihre Partei- und Fraktionsführung vorgibt.
({2})
Das beste Beispiel ist die Verabschiedung des Reformvertrages im letzten Jahr. Dieser wurde samt verfassungswidrigem Begleitgesetz mit deutlich mehr als zwei
Dritteln der Stimmen angenommen, was hinterher noch
als großer Tag für Deutschland gefeiert wurde. Dabei
war dieser Tag einer der Tiefpunkte der deutschen
Geschichte.
({3})
Ich habe damals zu Recht an das Ermächtigungsgesetz
von 1933 erinnert.
({4})
Ich bin mir sicher, dass die Mehrheit von Ihnen auch
dem heute vorliegenden Gesetzentwurf zustimmt und
sich somit zum Totengräber der deutschen Souveränität
macht.
({5})
Es gibt hier aber auch noch selbsternannte Freiheitskämpfer, die CSU zum Beispiel. Pünktlich vor der Bundestagswahl kritteln Sie am Reformvertrag herum und
betonen, wie dankbar Sie Ihrem Kollegen Gauweiler
sind: „Danke, Peter, dass du das für uns durchgeboxt
hast!“ Ich frage mich aber, warum Sie alle im April vergangenen Jahres so fröhlich für den Vertrag von
Lissabon gestimmt haben. Sie hatten wohl Angst vor der
Knute von Frau Merkel!
Da war die Linksfraktion schon mutiger. Sie hat sogar
gegen den Vertrag gestimmt und in Karlsruhe geklagt.
Allerdings frage ich mich: Aus welchen Motiven? Wahrscheinlich können Sie sich mit der allgemeinen Reisefreiheit in der Europäischen Union nicht so ganz anfreunden. Oder fehlt Ihnen etwa der antifaschistische
Schutzwall
Herr Kollege Nitzsche.
- ich komme zum letzten Satz -, damit Sie sich in der
„EUdSSR“ richtig wohlfühlen? Ich nehme Ihnen jedenfalls nicht ab, dass Sie sich um die Interessen Deutschlands sorgen - wie keiner in diesem Hause.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Angelica SchwallDüren, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lassen Sie uns zu einem demokratischen Diskurs
zurückkehren.
({0})
Wir sind gestern in Bonn gewesen und haben
„60 Jahre Deutscher Bundestag“ gefeiert. Bundestagspräsident Lammert hat aus der Rede des damaligen
Alterspräsidenten Paul Löbe zitiert, der sich damals gewünscht hat, dieses deutsche Parlament möge dazu beitragen, dass Deutschland im Sinne des Grundgesetzes in
einem vereinten Europa an dem Frieden der Welt mitarbeite. Ich bin froh, dass wir heute den letzten Schritt machen können, damit der Lissabonner Vertrag in Kraft gesetzt werden kann, damit auch die Iren zu einem Ja
ermutigt werden und wir darüber hinaus positive Signale
nach Tschechien und Polen senden. Denn mit dem Lissabonner Vertrag wird die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union gestärkt. Im Gegensatz zu dem, was von
Europaskeptikern immer wieder verbreitet wird, wird
auch die demokratische Legitimität der Europäischen
Union durch den Lissabonner Vertrag forciert, gestärkt
und unterstützt. Wir haben bereits mit der damaligen Ratifizierung des Verfassungsvertrags in Begleitgesetzen
festgelegt, dass eine stärkere Beteiligung des Bundestages an europapolitischen Fragestellungen Platz greifen
soll. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird
die Integrationsverantwortung des Bundestages gestärkt
und strukturiert. Ich bin froh, dass wir heute zu einem
Abschluss kommen können.
Wir haben immer noch Kollegen hier im Parlament,
die glauben, wir müssten eher Sand ins Getriebe werfen.
Dass die Linkspartei grundsätzlich eine europaskeptische Haltung hat, braucht kaum noch eine Erwähnung.
Aber ich bin sehr enttäuscht von dem Verhalten der CSU
in diesem Beratungsprozess. Die Kollegen von der CDU
hatten offenbar nicht die Kraft, sich diesen Bremsmanövern der CSU entgegenzustellen
({1})
und dafür zu sorgen, dass es wirklich zu einer gemeinsam Arbeit der Koalitionsfraktionen kommt. Die Frage
war ja nicht die Kurzfristigkeit durch die Ausschussarbeit, Herr Silberhorn. Wir standen doch alle unter dem
Druck des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes, die
Beratungen rechtzeitig abzuschließen und gemeinsam
die Dinge voranzubringen.
Wenn Sie heute in einer Erklärung nach § 31 GO die
Vorbehalte, die Sie formuliert haben,
({2})
erneut vortragen und die Bundeskanzlerin nach Brüssel
schicken wollen, damit sie dort erklärt, dass es in
Deutschland Vorbehalte gegenüber dem Lissabonner
Vertrag gibt, und Sie außerdem eine Selbstentmündigung propagieren und fordern, dass nicht der Gesetzgeber, sondern das Bundesverfassungsgericht vorab überprüfen solle, ob europäische Rechtsakte in Ordnung
gehen, dann kann ich die Frau Bundeskanzlerin nur warnen: Wenn sie die Europareputation der CDU schädigt,
ist das ihre Sache, aber wenn die Bundeskanzlerin die
Europareputation Deutschlands schädigt, dann ist das
mehr als bedauerlich und dient sicherlich nicht den Interessen Deutschlands in der Europäischen Union.
({3})
Schwierig war es gelegentlich auch mit dem Bundesrat. Ich möchte die Auseinandersetzung um die Frage
der Daseinsvorsorge erwähnen. In der Situation, dass wir
zum ersten Mal in einem europäischen Vertrag die nationale Kultur im Bereich der Daseinsvorsorge als schützenswert festgeschrieben haben, meinte der Bundesrat,
die Gelegenheit nutzen zu können, seine Rechte noch
weiter auszudehnen. Dem konnten wir zum Glück ein P
vorsetzen. Die Rechte des Bundesrates werden nicht geschwächt; aber es wird dem Bundesrat auch nicht möglich sein, weitere Schwierigkeiten zu machen.
Was wir nun ins Auge fassen müssen - da hat Herr
Löning recht -, sind die Konsequenzen aus den neuen
Gesetzen. Die Arbeit des EU-Ausschusses wird sich verändern müssen. Wir werden Schwerpunkte setzen müssen, und wir werden darüber nachdenken müssen - ich
möchte das hiermit vorschlagen -, auch im EU-Ausschuss ein Berichterstatterregime einzuführen, damit wir
unsere Verantwortung für die europäische Integration
umsetzen können und der Bundestag hier stärker als in
der Vergangenheit beteiligt wird.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, ich möchte mich
dem Dank von Herrn Krichbaum anschließen: Viele
Menschen haben viele Tage bis spät in die Nacht daran
gearbeitet, dass diese Gesetze heute vorliegen. Die SPD
ist froh, dass wir heute so weit gekommen sind und entsprechend der Präambel weiter dynamisch an der Integration der Europäischen Union arbeiten können - als
ein Mitgliedstaat in dieser Gemeinschaft, die für den
Frieden der Welt arbeitet.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Gauweiler, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mir bleiben
leider nur fünf Minuten, sodass ich, Frau SchwallDüren, auf Ihre Rede nicht im Einzelnen antworten
kann.
({0})
Ich empfehle Ihnen nur, sich Ihren Redebeitrag vom
Dezember 2007 bei der Einbringung der verfassungswidrigen alten Begleitgesetze durchzulesen und diese
Rede in den nächsten drei Wochen im Wahlkampf fest
unter Verschluss zu halten. Ich hätte von Ihnen wenigstens ein Wort der Selbstkritik erwartet,
({1})
dass hier im Haus ein in dieser fundamentalen Weise
verfassungswidriges Gesetz verabschiedet worden ist.
Sie haben von Bremsmanövern gesprochen. Das
wichtigste Bremsmanöver überhaupt war die von der
CSU unterstützte Klage gegen die alten Begleitgesetze
zum Lissabon-Vertrag; denn ohne dieses Klageverfahren
säßen Sie heute nicht hier und könnten den neuen Gesetzentwurf nicht loben.
Ich danke allen Mitstreitern, übrigens auch der Fraktion der Linken. Es ist besser, mit den Außenseitern das
Grundgesetz zu verteidigen, als es mit den Volksparteien
zu brechen.
({2})
Ich möchte hier ganz kurz drei Punkte ansprechen:
Herr Kollege Gauweiler, einen Augenblick bitte. Ich
halte Ihre Redezeit auch an.
Danke.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein bisschen zuhören müssen Sie schon.
({0})
Ich glaube auch, dass Sie zugehört haben. Es war
Ausdruck Ihrer Erregung; das freut mich ja.
Erstens. Mit dem neuen Begleitgesetz wurde viel erreicht. Alle Prozessbevollmächtigten, die in Karlsruhe
aufseiten der Kläger dabei waren, haben erklärt, dass
diesem neuen Begleitgesetz zugestimmt werden kann.
Sie können mir also auch noch über die Abstimmung hinaus danken, Herr Kollege. Mit diesem neuen Begleitgesetz wurde auch mehr erreicht - das, was hier gesagt
worden ist, stimmt -, als vom Bundesverfassungsgericht
verlangt worden ist. Der Bundestag und teilweise auch
der Bundesrat haben in 30 Fällen zum Teil fundamentale
neue Rechte erhalten.
Für zwölf Arten von Beschlüssen ist in Zukunft ein
parlamentarisches Zustimmungsgesetz zwingend erforderlich, zum Beispiel zur Einführung eines einheitlichen
Wahlverfahrens zum Europäischen Parlament, zur Einführung einer gemeinsamen Verteidigung und zur Festlegung der Eigenmittel der EU.
Für sechs weitere Arten von Beschlüssen ist ein zustimmender Parlamentsbeschluss des Deutschen Bundestages erforderlich, zum Beispiel zur Wahrnehmung
von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, zu Maßnahmen zum Schutz von Arbeitnehmern bei Beendigung
des Arbeitsvertrages und zu Maßnahmen der Umweltpolitik. Dazu waren alle Kompetenzen, auch die Erweiterungskompetenzen, nach Brüssel weitergegeben worden.
Ich frage mich, warum Sie sich über Papiere im Wirtschaftsministerium aufregen, wenn Sie die Kompetenzen im Arbeits- und Sozialrecht so intensiv nach Brüssel
abgeben wollen.
In drei Fällen, nämlich in dem sogenannten Notbremseverfahren, beispielsweise beim Strafrecht und bei der
Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, sind in
Zukunft verbindliche Weisungen des Bundesrates und
des Bundestages möglich.
Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts kann in
Zukunft nur aufgrund verfassungsrechtlicher Ermächtigung durch das deutsche Grundgesetz verwirklicht
werden. Das Bundesverfassungsgericht kann die Unanwendbarkeit einzelner Rechtsakte der Europäischen
Union in Deutschland feststellen.
Der zweite Punkt, auf den ich hinweisen möchte: Sie
meinen immer, nicht ohne Süffisanz über uns reden zu
können. Sie sagten, dass die gemeinsame Erklärung zur
Abstimmung vom Tisch sei. Mit dieser Erklärung sollte
die Bundesregierung aufgefordert werden, dafür zu sorgen, dass im Europäischen Rat festgestellt wird, dass der
Lissabon-Vertrag nur nach Maßgabe der im Urteil des
Bundesverfassungsgerichts dargelegten Gründe gültig
ist. Das, was Herr Ramsauer hier dazu gesagt hat, war
völlig richtig. Diese Erklärung des Bundestages, mit der
die Bundesregierung dazu aufgefordert werden sollte, ist
deswegen obsolet, weil die Bundeskanzlerin, übrigens
heute hier in dieser Sitzung, dem Parlament erklärt hat,
dass sie eine solche Erklärung dem Europäischen Rat
und der schwedischen Präsidentschaft gegenüber abgeben wird. Ich danke ihr dafür.
({0})
Der dritte und letzte Punkt ist der Streit um die Fortentwicklung der Integration. Herr Kollege Oppermann,
Sie haben gesagt, in Wahrheit solle klammheimlich der
Nationalismus befördert werden, man würde es sich nur
nicht so richtig trauen. Ich weiß nicht, ob Sie sich in einen Bayern hineindenken können, aber ich sage es trotzdem: Es ist für unsereinen von München und von Bayern
aus und nach der Erfahrung von 1871 nur ein gradueller
Unterschied, ob man von Berlin oder von Brüssel bevormundet wird.
({1})
- Richtig. Ich spreche betont einfach. - Unser Anliegen
ist, Leuten entgegenzuwirken, die einer Verwechslung
unterliegen. Ich fürchte - das sage ich mit Respekt -,
dass auch Sie die Bildung eines vereinten Europas mit
immer mehr Zentralismus verwechseln. Dagegen wenden wir uns.
({2})
Jeder redet in seinem Programm von Bürgernähe.
Aber diese Nähe des Bürgers entsteht nicht in einer
Mammutzentrale für 450 Millionen Menschen, sondern
vor Ort, wo der Bürger lebt, wo seine Sprache verstanden wird und die von ihm gewählte unmittelbare Volksvertretung lebt und arbeitet.
Herr Kollege Gauweiler.
Ich bin gleich fertig. - Letzter Satz: Um diese nicht
noch weiter entmachten zu lassen, habe ich mit anderen
dieses Klageverfahren beim Bundesverfassungsgericht
durchgeführt. Es war eine Sternstunde des Gerichts, dass
dies erreicht werden konnte.
Herr Kollege Gauweiler.
Mit diesem neuen Gesetz gehen wir in eine bessere
Richtung als vorher.
Vielen herzlichen Dank.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Michael Roth, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schon ein etwas seltsames Schauspiel heute Nachmittag: Wir erleben eine sich stabilisierende Allianz aus
CSU und Linkspartei. Wer hätte das noch vor wenigen
Monaten für möglich gehalten?
({0})
Symbol dieser wachsenden und gedeihlichen Zusammenarbeit ist Herr Gauweiler.
Herr Gauweiler, die CSU war doch bislang immer so
stolz darauf, zur politischen Bundesliga zu gehören.
Aber was Sie eben abgegeben haben, war schlechte Regionalliga. Darüber muss man sich schon wundern. Vielleicht liegt es daran, Herr Gauweiler, dass Sie beabsichtigen, sich hier zum europapolitischen Star aufzuspielen.
Sie sind aber eigentlich nur ein europapolitischer Mops.
Die europapolitischen Stars sind nämlich diejenigen unter uns in allen Fraktionen, die jahrein, jahraus, tagein,
tagaus europapolitische Kärrnerarbeit leisten.
({1})
Das sind diejenigen, die schon seit Jahren konstruktiv
mitarbeiten und Verantwortung tragen.
Ich bin gespannt, ob Sie dem nächsten Europaausschuss angehören, Herr Gauweiler. Dann darf ich Sie
schon jetzt im Klub der europapolitischen Ackergäule
willkommen heißen. Da geht es nämlich nicht alleine darum, dass man vor das Bundesverfassungsgericht zieht,
Michael Roth ({2})
sondern dass man in der tagtäglichen Arbeit kontrolliert,
Verantwortung übernimmt - Sie können genügend Kolleginnen und Kollegen Ihrer eigenen Fraktion fragen und sich der mühseligen Kleinarbeit ergibt. Vielleicht
haben Sie Zeit dafür. Wir würden uns darüber freuen.
({3})
Gestatten Sie mir zum Schluss der Debatte noch ein
paar klare Worte zum Bundesverfassungsgericht. Ich
hatte den Eindruck, dass sich nicht wenige Kolleginnen
und Kollegen hinter dem Bundesverfassungsgericht verstecken. Für mich ist aber der Deutsche Bundestag das
erste Verfassungsorgan. Wir sagen, wo es europapolitisch langgeht.
({4})
Wir sollten unsere Verantwortung nicht an das Bundesverfassungsgericht abgeben.
Ich widerspreche dem Bundesverfassungsgericht
- das sage ich deutlich - in mindestens zwei Punkten.
Der erste Punkt: Ich halte das Urteil im Hinblick auf das
Europaparlament für wenig akzeptabel.
({5})
Was dort über das Europäische Parlament gesagt und geschrieben wird, hat mit der europapolitischen Wirklichkeit in Brüssel überhaupt nichts gemein. Das muss man
den Richterinnen und Richtern einmal ins Stammbuch
schreiben dürfen.
({6})
Der zweite Punkte - insofern freue ich mich über die
Debatte der vergangenen Woche -: Das Bundesverfassungsgericht bedient sich aus meiner Sicht eines überholten Souveränitätsgedankens. Diese nationale Souveränität, von der das Bundesverfassungsgericht spricht,
hat mit dem 21. Jahrhundert und den Herausforderungen
der Globalisierung nichts zu tun.
({7})
Wir sind zur europapolitischen Zusammenarbeit verpflichtet. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig. Wir
müssen uns fragen, inwieweit wir in Partnerschaft mit
dem Europaparlament Europa demokratischer und handlungsfähiger machen können. In dieser Hinsicht ist der
Vertrag von Lissabon sicherlich nicht die letztinstanzliche, aber eine akzeptable Antwort. Deshalb treten wir
alle gemeinsam in der SPD-Bundestagsfraktion dafür
ein, dass dieser Vertrag so schnell wie nur irgend möglich in Kraft treten kann.
({8})
Wir freuen uns über neue gesetzliche Regelungen sowie neue Chancen und Optionen für den Deutschen Bundestag, aber auch für den Bundesrat. Aber viel wichtiger
als Gesetzesänderungen ist die politische Praxis. Ich bin
gespannt, ob wir als Deutscher Bundestag, die Fachausschüsse und insbesondere der Europaausschuss, dieser
wachsenden Verantwortung gerecht zu werden vermögen. Ich hoffe es. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion,
werden dazu einen aktiven und verantwortungsbewussten Beitrag leisten. Wir werden, wenn es nötig erscheint,
der Bundesregierung auch Feuer machen.
Zum Schluss. Die Verfassungsväter und Verfassungsmütter haben - wenn man die alten Kommentare zum
Grundgesetz liest, wird einem das sehr deutlich - im vereinten Europa noch Hoffnung und Zuversicht gesehen.
In den vergangenen Wochen war ich mir nicht mehr so
ganz sicher, ob diese Hoffnung und Zuversicht, dieser
optimistische Geist von allen Kolleginnen und Kollegen
getragen wird. Vielleicht war das der Grund, warum
1949 der Freistaat Bayern das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland abgelehnt hat.
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 2 a. Wir kommen zur Abstim-
mung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD,
FDP und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf
eines Gesetzes über die Ausweitung und Stärkung der
Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angele-
genheiten der Europäischen Union. Zu dieser Abstim-
mung liegen mir zahlreiche Erklärungen nach § 31 unse-
rer Geschäftsordnung vonseiten der CDU/CSU und eine
Erklärung von der SPD vor.1)
Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13985, den
Gesetzentwurf auf Drucksache 16/13923 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Hierzu liegen Änderungs-
anträge vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/14013? - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist bei
Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit dem Rest der
Stimmen des Hauses abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/14017? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ände-
rungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und CDU/
CSU bei Enthaltung der Fraktion der FDP und Gegen-
stimmen der Fraktion Die Grünen und der Fraktion Die
Linke abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Gegen-
stimmen der Fraktion Die Linke mit dem Rest der
Stimmen des Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung.
1) Anlagen 2 und 3
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD namentlich
ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an
den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung und weise darauf hin, dass im Anschluss an
die namentliche Abstimmung noch etliche andere Abstimmungen folgen werden.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Wir kommen nun zum Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/14018. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der SPD,
CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/
Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/
CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der
Grundgesetzänderung für die Ratifizierung des Vertrags
von Lissabon. Der Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union empfiehlt unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13985,
den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/13924 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der SPD, Bündnis 90/Die
Grünen, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in dritter Beratung mit demselben Ergebnis wie in
zweiter Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 2 b. Abstimmung über den von
den Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union. Der Ausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13986,
den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/13925 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegen Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/14011? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/14015? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit
den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion
Die Linke abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/14019? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist ebenfalls mit den Stimmen von SPD,
CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/
Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke mit den restlichen Stimmen des Hauses in zweiter
Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
dritter Beratung mit demselben Stimmenergebnis wie in
zweiter Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 2 c. Abstimmung über den von
den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union. Der Ausschuss für
die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13987,
den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/13926 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit
den restlichen Stimmen des Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in dritter Beratung mit demselben Stimmenergebnis wie in zweiter Beratung angenommen.
Ich komme zu dem von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelten Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen
der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen, Entwurf eines Gesetzes über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des
Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen
Union: abgegebene Stimmen 494. Mit Ja haben gestimmt 446, mit Nein haben gestimmt 46, Enthaltungen 2. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 494;
davon
ja: 446
nein: 46
enthalten: 2
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({0})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer ({1})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr
zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung ({6})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Eckart von Klaeden
Jens Koeppen
Dr. Kristina Köhler
({8})
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Andreas G. Lämmel
Helmut Lamp
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Dr. Michael Luther
Thomas Mahlberg
Stephan Mayer ({9})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Maria Michalk
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Carsten Müller
({10})
Stefan Müller ({11})
Dr. Gerd Müller
Bernd Neumann ({12})
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({13})
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({14})
Hermann-Josef Scharf
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({15})
Andreas Schmidt ({16})
Ingo Schmitt ({17})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Marion Seib
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Thomas Strobl ({18})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Peter Weiß ({19})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer ({20})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Werner Wittlich
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Gregor Amann
Dr. h. c. Gerd Andres
Niels Annen
Ernst Bahr ({21})
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Ute Berg
Petra Bierwirth
Volker Blumentritt
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({22})
Edelgard Bulmahn
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Elvira Drobinski-Weiß
Detlef Dzembritzki
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Angelika Graf ({23})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Alfred Hartenbach
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Petra Heß
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Stephan Hilsberg
Petra Hinz ({24})
Gerd Höfer
Iris Hoffmann ({25})
Frank Hofmann ({26})
Dr. Eva Högl
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung ({27})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Helga Kühn-Mengel
Dr. Uwe Küster
Christian Lange ({28})
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Markus Meckel
Petra Merkel ({29})
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({30})
Michael Müller ({31})
Andrea Nahles
Dr. Erika Ober
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche ({32})
Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({33})
Michael Roth ({34})
Ortwin Runde
Anton Schaaf
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Otto Schily
Ulla Schmidt ({35})
Silvia Schmidt ({36})
Heinz Schmitt ({37})
Carsten Schneider ({38})
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz
({39})
Swen Schulz ({40})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dieter Steinecke
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Andreas Weigel
Petra Weis
Gert Weisskirchen
({41})
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
({42})
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr ({43})
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({44})
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz-Peter Haustein
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Ina Lenke
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Jan Mücke
Dirk Niebel
Marina Schuster
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Dr. Daniel Volk
Christoph Waitz
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({45})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Volker Beck ({46})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz ({47})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Markus Kurth
Anna Lührmann
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({48})
Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Krista Sager
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Gerhard Schick
Grietje Staffelt
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
fraktionsloser
Abgeordneter
Nein
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Dr. Steffen Hultsch
Ulla Jelpke
Katja Kipping
Monika Knoche
Katrin Kunert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Dorothée Menzner
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer ({49})
Volker Schneider
({50})
Dr. Ilja Seifert
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
fraktionslose
Abgeordnete
Gert Winkelmeier
Enthalten
SPD
Dr. Hermann Scheer
FDP
Dr. Konrad Schily
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
({51})
Tagesordnungspunkt 2 d. Abstimmung über den von
der Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes, Art. 23, 45 und
93. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/13988, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/13928 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den
restlichen Stimmen des Hauses abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/14014. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke mit den restlichen Stimmen des Hauses abgelehnt.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
teile ich Ihnen mit, dass sich die Fraktionen verständigt
haben, die heute Morgen aufgesetzten Zusatzpunkte 2 a
bis 2 g - es handelt sich um Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses - von der Tagesordnung abzusetzen. Sind Sie mit der Vereinbarung einverstanden? - Das
ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e auf. Es
handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 4 a:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung der
Sanierung von Unternehmen
- Drucksache 16/13927 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({52})
- Drucksache 16/13980 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Joachim Stünker
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Sevim Dağdelen
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13980, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 16/13927 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU bei Gegenstimmen der Fraktionen der FDP und Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in dritter Beratung mit demselben Ergebnis wie in
zweiter Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({53}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
- Fünfundachtzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
- Einhundertachte Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste - Anlage AL zur
Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 16/13920, 16/13921, 16/13975 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13975, die Aufhebung der Verordnungen auf den Drucksachen 16/13920 und 16/13921
nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({54})
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 1/09
- Drucksache 16/13976 Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt ({55})
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, in dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eine Stellungnahme abzugeben und den
Präsidenten zu bitten, Professor Dr. Hans Michael
Heinig, Universität Göttingen, als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen mit den restlichen Stimmen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({56}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des
Rates über das Recht auf Verdolmetschung
und Übersetzung in Strafverfahren ({57}) ({58})
KOM ({59}) 338 endg.; Ratsdok. 11917/09
- Drucksachen 16/13912 A.4, 16/13982 26362
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Berichterstattung:
Abgeordnete Daniela Raab
Joachim Stünker
Mechthild Dyckmans
Sevim Dağdelen
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13982, in Kenntnis der Unterrichtung festzustellen, dass der Vorschlag der EU-Kommission für einen Rahmenbeschluss des Rates über das
Recht auf Verdolmetschung und Übersetzung in Strafverfahren keinen Bedenken hinsichtlich der Einhaltung
des gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes der Subsidiarität begegnet. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 e:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, Klaus Ernst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Freigrenzen im SGB II erweitern - Erhöhung
des Schonvermögens und Anrechungsfreiheit
für Ferienjobs
- Drucksache 16/14012 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
von SPD, CDU/CSU bei Enthaltung der FDP und Gegenstimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und
Die Linke abgelehnt.
Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung einer Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur
Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und
diese jetzt als Zusatzpunkt 3 aufzurufen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe somit den Zusatzpunkt 3 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({60}) zu einem Antrag
auf Genehmigung zur Durchführung eines
Strafverfahrens
- Drucksache 16/14010 Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/14010, die Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens zu erteilen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
({61})
- Welche Enthaltung?
({62})
- Eine Enthaltung vom Kollegen Tauss.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege ({63})
- Drucksache 16/13654 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jan Korte, Christine Lambrecht,
Wolfgang Wieland und weiteren Abgeordneten
eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile
in der Strafrechtspflege
- Drucksache 16/13405 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jan Korte, Petra Pau, Ulla Jelpke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der
Strafrechtspflege ({64})
- Drucksache 16/3139 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({65})
- Drucksache 16/13979 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Joachim Stünker
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Carl-Christian Dressel, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
freue mich sehr, als Redner zum letzten Tagesordnungspunkt vor Abschluss dieser Wahlperiode und damit ganz
kurz vor Toresschluss feststellen zu können: Wir haben
am 26. August im Rechtsausschuss einstimmig beschlossen, dem Plenum zu empfehlen, den Gesetzentwurf auf der Drucksache 16/13654 in zweiter und dritter
Lesung anzunehmen. Das freut mich besonders, weil wir
damit die Ehre der letzten Opfergruppe wiederherstellen
können oder, wie es Professor Wolfram Wette in seinem
Buch Das letzte Tabu bezeichnet hat, das letzte Tabu gebrochen haben.
({0})
Es ist ein guter Tag für die Opfer der Nazijustiz, und
es ist gut, dass es diesen Tag, an dem alle Todesurteile
und Urteile gegen die sogenannten Kriegsverräter pauschal aufgehoben werden, in der 16. Wahlperiode gibt.
({1})
Soldaten und, entgegen dem Wortlaut, auch Zivilisten
wurden während des Zweiten Weltkrieges nach dem damaligen § 57 des Militärstrafgesetzbuchs von 1934 wegen Kriegsverrats verurteilt und fast ausnahmslos mit
dem Tode bestraft. Ich habe eben den Wortlaut erwähnt.
Kriegsverrat war ein Landesverrat, der von Militärpersonen während des Krieges begangen wurde. Das war allerdings eine schwammige Formulierung, die es der NSMilitärjustiz ermöglichte, widerständiges Handeln stets
mit dem Tode zu bestrafen. Schätzungsweise 30 000 Todesurteile wurden von der NS-Militärjustiz gefällt;
20 000 dieser Urteile wurden vollstreckt.
Viele wussten lange nicht, was es mit dem Delikt
„Kriegsverrat“ und den betroffenen Menschen auf sich
hatte. Dank der Arbeit von Wolfram Wette wissen wir
inzwischen mehr: Wer sich nicht am Krieg beteiligen
wollte, wer half, dass die Barbarei früher beendet wurde,
der handelte nicht kriminell. Es ist gut, dass der Deutsche Bundestag das heute abermals feststellt. Kriminell
waren das Regime und die in weiten Teilen nicht rechtsstaatliche Vorgehensweise.
({2})
Ich sage „abermals“; denn der Deutsche Bundestag
hat bereits 1998 beschlossen, Unrechtsurteile aufzuheben. Die Deserteure, die zunächst von dieser Aufhebung
ausgenommen wurden, wurden am 17. Mai 2002 mit
einbezogen. Die letzte Lücke schließen wir heute. Mit
dem Gesetzentwurf, den wir heute beraten und beschließen werden, beenden wir eine weitere Phase im Prozess
der Bewusstseinswerdung bezüglich des Unrechts der
NS-Militärjustiz.
Ich freue mich, dass auch neue Erkenntnisse zu dieser
Entschließung geführt haben: zum einen die Studie des
Militärhistorikers und SPD-Sachverständigen in der Anhörung Wolfram Wette mit dem Titel Das letzte Tabu,
und zum anderen von der rechtswissenschaftlichen Seite
ein Gutachten, das der frühere Bundesverfassungsrichter
Hans Hugo Klein für das Bundesjustizministerium erstellt hat. Darin wird festgestellt, dass der Tatbestand des
Kriegsverrats von den Nazimachthabern so verändert
wurde, dass er den Anforderungen, die man an rechtsstaatliche Strafnormen stellen muss, nicht mehr genügte.
Diese Ergebnisse führten dankenswerterweise auch in
weiten Teilen dieses Hauses zu einem Umdenken. Es ist
wichtig, dazuzulernen und umdenken zu können. Die
Vorschrift war rechtsstaatswidrig, und Urteile, die aufgrund rechtsstaatswidriger Vorschriften ergangen sind,
können keinen Bestand haben. Dazu möge sich der
Deutsche Bundestag heute bekennen, indem er die
Kriegsverräter vollständig rehabilitiert. Es hat zwar etwas länger gedauert, aber ich freue mich, dass auch unser Koalitionspartner überzeugt werden konnte.
Ich möchte allen, die an diesem Prozess beteiligt waren, danken: der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz um Ludwig Baumann, den Historikern, die sich
damit auseinandergesetzt haben - in erster Linie
Wolfram Wette und Helmut Kramer -, der Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, Herrn Staatssekretär
Hartenbach und den Mitarbeitern des Bundesministeriums der Justiz, die in der Sache an unserer Seite standen, sowie den Kolleginnen und Kollegen aus allen
Fraktionen, die immer wieder Druck gemacht haben.
Bei der Wiederherstellung der Ehre der Opfer wäre es
ein gutes Zeichen, wenn nicht nur der Rechtsausschuss,
sondern auch das Plenum den gemeinsamen Gesetzentwurf heute einstimmig verabschieden würde.
Ich danke Ihnen.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Max Stadler,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Dieses Thema ist so wichtig, dass es richtig gewesen ist, sich darauf zu einigen, am Ende der Legislaturperiode noch eine Aussprache im Plenum durchzuführen und nicht, wie manche überlegt haben, die Reden
zu Protokoll zu geben.
Bereits seit mehreren Jahren diskutiert der Bundestag
über die Aufhebung von NS-Urteilen wegen Kriegsverrats. Die FDP freut sich, dass es zum Ende dieser Legislaturperiode gelungen ist, fraktionsübergreifend einen
Konsens zu finden. Wenn der Deutsche Bundestag heute
mit den Stimmen aller Fraktionen den vorliegenden Gesetzentwurf verabschiedet, so ist dies bei diesem sensiblen Thema ein wichtiges Zeichen für die Betroffenen,
aber auch für den Rechtsstaat.
Der Umgang mit Urteilen aus der Nazizeit hat den
Deutschen Bundestag wiederholt beschäftigt. In der
13. Wahlperiode hat die damalige Koalition aus CDU/
CSU und FDP das NS-Aufhebungsgesetz auf den Weg
gebracht. Einstimmig wurde 1998 beschlossen, dass solche strafgerichtlichen Verurteilungen durch Gesetz aufgehoben werden, die gegen elementare Grundsätze der
Gerechtigkeit verstoßen haben und die nach dem
30. Januar 1933 zur Durchsetzung der Politik des Naziregimes gefällt worden sind.
Davon betroffen waren insbesondere Entscheidungen,
die auf gesetzlichen Vorschriften beruhten, die in einer
Anlage zu dem Gesetz zusammengefasst worden sind.
Ausdrücklich hat der Gesetzgeber aber immer die Auffassung vertreten, dass auch andere Verurteilungen Ge26364
genstand der Generalklausel des § 1 des NS-Aufhebungsgesetzes sein könnten. Das bedeutet: Auch Urteile,
die nicht ausdrücklich in der Anlage erwähnt sind oder
die Sachverhalte betroffen haben, die dort nicht aufgeführt sind, konnten sehr wohl als nichtig angesehen werden, weil sie gegen elementare Rechtsgrundsätze verstoßen haben. Dazu gehörten nach Auffassung der FDP
unzweifelhaft auch Entscheidungen wegen Kriegsverrats.
Der Gesetzgeber hat längere Zeit gemeint, dass mit
der Gesetzgebung von 1998 das Thema angemessen behandelt worden sei. Dies ist auch die Auffassung der
FDP-Fraktion gewesen. Gleichwohl ist es in der Folgezeit immer wieder zu Forderungen gekommen, ausdrücklich die heute in Rede stehenden Urteile per Gesetz
aufzuheben. Grund dafür waren neuere wissenschaftliche Abhandlungen; Sie haben es bereits erwähnt, Herr
Kollege Dressel. Insbesondere war für die FDP-Fraktion
auch das Gutachten des ehemaligen Verfassungsrichters
Professor Klein von Bedeutung. Darin wurde ausgeführt,
dass die Vorschriften über den Kriegsverrat mit rechtsstaatlichen Grundsätzen schlechterdings unvereinbar gewesen seien. Der Sachverhalt, der zu einer Verurteilung
habe führen können, sei dort nicht präzise beschrieben.
Es mangelte also an dem Grundsatz der Bestimmtheit einer Strafnorm. Auch was die Rechtsfolgen betrifft - ausnahmslos musste die Todesstrafe verhängt werden, was
völlig unverhältnismäßig war -, kann dieses damalige
Gesetz nur als Unrecht bezeichnet werden.
Aufgrund dieser neueren Erkenntnisse hat sich die
Frage gestellt, ob es nachträglich doch noch geboten ist,
die Vorschriften über den Kriegsverrat in die Anlage
zum NS-Aufhebungsgesetz aufzunehmen. Diese Auffassung hat sich nunmehr durchgesetzt. Ich will gerne anerkennen, dass sich aus den Reihen der Parlamentarier der
Kollege Jan Korte in dieser Angelegenheit besonders
engagiert hat.
({0})
Dies gilt ebenso für den Kollegen Wolfgang Wieland im
Innenausschuss und die Kollegin Christine Lambrecht
im Rechtsausschuss.
({1})
Meine Damen und Herren, die FDP war immer der
Auffassung, dass es sich bei diesen Urteilen um typisches NS-Unrecht gehandelt hat. Wir waren also nicht
der Meinung, dass die Entscheidung des Gesetzgebers
von 1998 solche Urteile nicht betroffen hätte. Aber wir
schließen uns gerne der sich mittlerweile durchsetzenden
Auffassung an, dass es ein richtiges Zeichen ist, wenn
der Gesetzgeber diese Urteile heute noch einmal ausdrücklich aufhebt. Deswegen stimmen wir dem fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf zu.
({2})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Jürgen Gehb,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!
Meine Herren! Herr Stadler, ich will da anknüpfen, wo
Sie aufgehört haben. Im Ergebnis ist dies eine Initiative
von CDU/CSU, SPD und FDP. Man fragt sich, warum
die Linken nicht dabei sind, die Sie gerade so gelobt haben.
({0})
Das kann ich erklären. Wir haben nicht nur gesagt, dass
wir mit den Erben der Verantwortlichen für Stacheldraht
und Mauerschüsse keine solche Initiative machen. Wir
haben dafür auch sachliche Gründe.
In der vorletzten Legislaturperiode unter Rot-Grün,
als es um die Änderung des NS-Aufhebungsgesetzes
ging, stand in der Begründung des Gesetzentwurfes in
der Bundestagsdrucksache 14/8276 wörtlich - entgegen
meiner sonstigen Gewohnheit muss ich nun doch einmal
ablesen -:
Es finden sich
- im Militärstrafgesetzbuch eine ganze Reihe von Straftatbeständen, bei denen
die Aufhebung des Urteils ohne Einzelfallprüfung
nicht verantwortbar erscheint. Beispielhaft seien
hier der Kriegsverrat, die Plünderung, die Fledderei
sowie die Misshandlung von Untergebenen genannt. Bei diesen Delikten vermag auch der Umstand, dass sie während eines völkerrechtswidrigen
Angriffskrieges begangen wurden, keinen Anlass
zur Rehabilitierung zu begründen. Aus diesen
Gründen war die Aufnahme von genau zu benennenden Einzelvorschriften des MStGB in die Anlage zu § 2 erforderlich.
Wir haben schon gehört, dass es neuere wissenschaftliche Erkenntnisse gibt. Der Historiker sagt: Es gibt keinen einzigen Fall, in dem man das vielleicht nachweisen
könnte. Dann haben Sie auf Hans Hugo Klein hingewiesen. Es hätte uns vielleicht schon in den letzten
15 Jahren einmal auffallen können, dass der Tatbestand
nicht bestimmt genug ist.
Aber jetzt komme ich zu dem wesentlichen Unterschied zu den Linken. Wir alle sind der Auffassung, dass
die Arbeitsweise der Kriegsgerichte, die Weite des
Straftatbestandes und die ausschließliche Strafandrohung der Todesstrafe mit rechtsstaatlichen Kautelen
nicht übereinstimmen können.
({1})
Die Linken sehen es ganz anders. Sie sagen: Ungeachtet
davon, ob jemand Kriegsverräter war oder nicht, ist er zu
rehabilitieren. - Ich darf aus der Begründung des Gesetzentwurfes der Linken vorlesen. Dort steht unter anderem:
Die Kriegsverräter haben aus zutiefst humanen
Gründen gehandelt und sind selbst bei anderen Motiven zu rehabilitieren, weil sie sich gegen einen
völkerrechtswidrigen Angriffs- und Vernichtungskrieg stellten.
({2})
Eines ist mit mir nicht zu machen: dass ich die tatsächlichen oder vermeintlichen Kriegsverräter glorifiziere oder am Ende auf einen Podest stelle und ihnen ein
Ehrenzeichen umhänge.
({3})
Wir sagen ganz klar: Die entsprechende Vorschrift ist
in die Anlage zu § 2 des NS-Aufhebungsgesetzes aufzunehmen, weil wir im Grunde genommen nicht mehr verifizieren können, ob es Fälle gibt, in denen es tatsächlich um Kriegsverräter geht, aber ungeachtet dessen, ob
jemand Kriegsverräter war oder nicht, nicht sagen: Das
ist ein prima Kerl, heben wir das Urteil auf. Diesen Unterschied möchte ich an dieser Stelle für meine Fraktion
heute ganz besonders herausgearbeitet haben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Ich gebe dem Kollegen Jan Korte, Fraktion Die
Linke, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine Frage, Herr Gehb, müssen Sie schon beantworten,
nämlich wie Sie den Widerstand des 20. Juli 1944 einschätzen. Das müssen Sie uns einmal darlegen.
({0})
Heute treffen wir eine wichtige Entscheidung. Ich
freue mich ganz besonders, dass Ludwig Baumann als
Vorsitzender der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz heute bei uns im Plenum ist. Herzlich willkommen, Ludwig Baumann.
({1})
Auch wenn ich dazu ein wenig Lust verspüre, will ich
nicht darüber sprechen, was hier in den letzten drei Jahren gesagt und wie diskutiert wurde. Ich will auch nicht
darüber reden - man kann hier eine andere Position
haben -, was aus parteitaktischen Erwägungen in den
letzten drei Jahren abgelaufen ist. Ich will auch nicht näher darauf eingehen, dass es schon relativ absurd ist,
dass ausgerechnet der Name derjenigen Fraktion, die
dieses Thema seit dreieinhalb Jahren vorangebracht hat,
nicht auf diesem Antrag steht. Aber geschenkt! Wir
stimmen auf jeden Fall zu; das haben wir immer gesagt.
Uns geht es um die Sache. Deswegen werden wir heute
natürlich allen Anträgen zustimmen, in denen eine pauschale Rehabilitierung vorgesehen ist.
({2})
Es geht um zwei Dinge. Zum einen geht es darum, für
die Angehörigen das Zeichen zu setzen, dass ihre Väter
und Großväter keine Kriminellen gewesen sind, sondern
dass sie Opfer einer durch und durch willkürlichen Nazimilitärjustiz geworden sind, die Teil des gesetzlichen
Unrechts war. Die Militärjustiz ist von dem NS-Terrorregime nicht trennbar. Das ist der Kern der politischen
Auseinandersetzung.
({3})
Zum anderen haben wir es hier mit Bestimmungen in
der Fassung von 1934 zu tun. Spätestens da muss man
hellhörig werden und sich diese Bestimmung, über die
wir hier diskutieren, anschauen. Die Fassung von 1934
beinhaltet eben kein Recht, wie es das in anderen Ländern gegeben hat, sodass sie heute als gültiger Bezugspunkt gelten könnte. Genau damit haben wir es nicht zu
tun, sondern der Kriegsverrat war zentrales Terrorinstrument zur Aufrechterhaltung der Disziplin in der Wehrmacht. Er war Teil des gesetzlichen Unrechts. Eine Abtrennung ist nicht möglich.
Fritz Bauer, der hessische Generalstaatsanwalt, hat
damals im Zusammenhang mit den Verunglimpfungen
gegen die Widerständler des 20. Juni, die wir jedes Jahr
ehren, Folgendes gesagt:
Ein Unrechtsstaat wie das Dritte Reich ist überhaupt nicht hochverratsfähig.
Das ist der Kern der Auseinandersetzung. Was, bitte, ist
an einem Angriffs- und Vernichtungskrieg verratswürdig? Jeder, der diesen Krieg verraten hat, verdient unseren größten Respekt, um das ganz klar zu sagen. Darum
geht es heute.
({4})
Ich möchte sagen, dass wir heute keine Regelung erreicht hätten, wenn es darüber keine gesellschaftliche
Debatte gegeben hätte. Sie alle wissen, die Debatten der
letzten 60 Jahre über die Rolle der Wehrmacht und über
den NS-Justizapparat waren heftige Debatten. Deswegen
freue ich mich, dass heute alle Fraktionen diesem Antrag
zustimmen werden; denn er bedeutet - das finde ich in
der Tat auch aufseiten der Union politisch bemerkenswert; das gebe ich gerne zu - das Ende eines Denkens:
„Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.“
Der heutige Antrag bedeutet das Ende dieses Denkens.
Es freut mich, dass alle Fraktionen zustimmen werden.
Wenn es andere Positionen gibt, die auch deutlich geäußert wurden, ist das in Ordnung. Was ich nicht verstehen
konnte, ist, wie hier herumgeeiert und herumtaktiert
wurde, anstatt sich mit der Sache auseinanderzusetzen.
Das bedauere ich sehr.
({5})
Trotzdem glaube ich, dass wir heute eine wichtige
Entscheidung treffen. Auch ich bedanke mich bei
Christine Lambrecht und Wolfgang Wieland für den ge26366
meinsam eingebrachten Gruppenantrag. Der Antrag, den
die Linke eingebracht hat, wurde zwar inhaltlich von allen geteilt, aber es bestand eben das Problem der Einbringer. Deswegen haben wir einen Gruppenantrag gemacht. Danach hat dann auch die CDU/CSU-Fraktion
und die gesamte SPD-Fraktion diesem Anliegen stattgegeben. Das ist eine wichtige Entscheidung und würdigt
ein Stück weit das Kämpfen und Streiten von Leuten wie
Ludwig Baumann in den letzten Jahrzehnten der Bundesrepublik.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Satz
„Was lange währt, wird endlich gut.“ geht mir hier nicht
so einfach über die Lippen. Zum einen hat es zu lange
gedauert und zu lange gewährt. Das muss man in Richtung von Herrn Baumann zugestehen. Viele seiner Kameraden sind inzwischen tot und haben diese Rehabilitierung nicht mehr erlebt.
Zum anderen muss man ganz deutlich sagen: Lieber
Kollege Gehb, einige zentrale Fragen sind offenbar immer noch nicht geklärt.
Wir haben letzte Woche eine Woche im Zeichen des
Gedenkens an den Beginn des Zweiten Weltkrieges gehabt. Die Kanzlerin hat in Polen eine Rede gehalten. Bei
dieser Gelegenheit wurde in den Medien noch einmal
viel über den Krieg berichtet. Auch ich habe dabei noch
Neues gelernt. Ich wusste beispielsweise nicht, dass dieser Krieg mit einem Angriff auf die polnische Zivilbevölkerung begann - als Erstes wurde eine polnische
Stadt bombardiert -, dass man von Anfang an mit Massenexekutionen gearbeitet hat, weil es den Widerstand in
polnischen Dörfern tatsächlich gab oder gegeben haben
soll, dass der Mythos der sauberen Wehrmacht, den man
gerne verbreitet, und der SS und der Sondereinsatzgruppen, die angeblich nur gewütet haben sollen, vom ersten
Tag an falsch gewesen ist, dass der Plan nicht nur zur
Vernichtung des europäischen Judentums, sondern auch
der polnischen Intelligenz von Anfang an durchgesetzt
wurde. In Krakau wurden Professoren ermordet, nur
weil sie intelligent waren. Das alles war geplant. Das alles hat man gemacht.
Jetzt stellt sich die Frage: War es nicht ehrenwert, einen solchen Krieg zu verraten, war das nicht eine bessere Haltung, als ihn zu führen, als den Mut nicht aufzubringen, zu desertieren, als die Befehle bis zum Ende zu
befolgen? Das ist die entscheidende Frage. Hier haben
Sie immer noch keine Klarheit geschaffen, Herr Kollege
Gehb. Die Konservativen in diesem Land haben in
50 Jahren Aufarbeitung leider immer noch keine Klarheit gewonnen.
({0})
Zur Frage der toten Kameraden. Dieser Frage muss
man sich stellen. Nur, wie hätten die Alliierten denn siegen sollen? Mit Wattebäuschchen oder mit Gut-Zureden? Es ging leider nur über Millionen toter deutscher
Soldaten. Die Schuld dafür trugen andere. Wenn Sie behaupten, ein Kriegsverrat ist schändlich, wenn er tatsächlich dazu führt, dass die Wehrmacht militärisch geschwächt wurde,
({1})
dann müssen Sie auch fragen, was mit den amerikanischen Bauernsöhnen aus Kentucky ist, die in Hürtgenwald, die in der Eifel gefallen sind. War es in deren Interesse nicht richtig, so viele militärische Details wie
möglich zu verraten? Diese Frage muss man stellen.
Als Letztes: Die Untersuchungen haben ergeben, dass
die Fälle, die abgeurteilt wurden, keine Fälle des Verrats
von militärischen Geheimnissen waren. Das kommt ja
noch dazu.
({2})
- Ja, aber Sie haben darauf abgestellt.
({3})
Sie haben gesagt: wenn es so gewesen wäre! Die Männer
des 20. Juli haben Angriffspläne verraten, sogar schon
sehr früh. Sie sind nach London geflogen und haben den
Kriegsverrat begangen, weil sie den Krieg verhindern
wollten. Sie haben genau das getan. Auch sie haben richtig gehandelt, und auch sie verdienen unseren Respekt.
({4})
Es war ein ganz langer Weg in der Geschichte der
Bundesrepublik, bis zunächst einmal anerkannt wurde,
dass die Männer des 20. Juli keine Verräter sind. Jetzt
sind wir sozusagen bei den Gefreiten, bei den Schützen
angekommen, die heute auch rehabilitiert werden.
Von dem, was Ralph Giordano einmal die zweite
Schuld der Deutschen genannt hat, nämlich die Unfähigkeit, nach dem Krieg aufzuarbeiten, auch zu bestrafen,
beispielsweise auch die Richter des Volksgerichtshofs
vor Gericht zu bringen, wird ein ganz kleines Stück abgetragen, aber wirklich nur ein ganz kleines Stück.
Mein Dank gilt Jan Korte. Er hat dieses Thema aufgegriffen. Wir hätten jederzeit dem Gesetzentwurf der
Linkspartei zugestimmt. Wir haben das auch immer gesagt. Wir wollten nicht, dass er beerdigt wird. Mein
Dank gilt auch Christine Lambrecht, die in der SPDFraktion mit anderen zusammen das Ruder herumgerissen hat; sonst wäre eine weitere Legislaturperiode verplempert worden. Das muss man ganz deutlich sagen.
Insofern freue ich mich dann doch noch an dem heutigen
Tag.
({5})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist Christine
Lambrecht, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Quasi in letzter Minute beschließen wir heute die Rehabilitierung der
letzten Opfergruppe der NS-Zeit. Noch vor ein paar Wochen hätte es wahrscheinlich niemand für möglich gehalten, dass wir das doch noch hinbekommen. Ich muss sagen, es freut mich sehr und macht mich auch ein
bisschen stolz, dass wir es als Parlament geschafft haben, uns zusammenzuraufen und diese wichtige Frage in
der letzten Sitzung zur Abstimmung zu bringen.
({0})
Es ist zwar schon oft gesagt worden, aber ich möchte
trotzdem die Gelegenheit ergreifen und den Kollegen
Jan Korte und Wolfgang Wieland danken, die mich unterstützt haben, als wir einen Gruppenantrag auf den
Weg gebracht haben, mit dem wir - so will ich es einmal
sagen - noch einmal Bewegung in die Angelegenheit gebracht haben. Weil das Ganze dermaßen ins Stocken gekommen ist, haben wir befürchtet, dass darüber nicht
mehr entschieden werden könnte. Deswegen haben wir
die unübliche und nicht regelmäßig genutzte Möglichkeit des Gruppenantrags gewählt. Ich glaube, das war in
dieser hochmoralischen und wichtigen Angelegenheit
der richtige Weg.
Ich bin ganz oft von Journalisten gefragt worden: Warum setzen Sie sich für diese Opfergruppe ein, die Menschen sind doch alle tot? Das hört sich auf den ersten
Blick zynisch an. Ich glaube aber, man muss trotzdem
eine Antwort darauf geben. Gewiss, nach unserem heutigen Kenntnisstand gibt es niemanden, der während der
NS-Zeit wegen Kriegsverrats verurteilt worden ist und
heute noch lebt. Aber ich glaube, wir müssen auch den
Hinterbliebenen zu ihrem Recht verhelfen.
({1})
Beim Lesen der vielen Zuschriften, die ich bekommen habe, wurde mir erst bewusst, wie schwierig es gerade für die Hinterbliebenen war, mit dem Stigma, mein
Vater, mein Sohn, mein Bruder waren Kriegsverräter, in
der Nachkriegszeit zu leben. Es war ja keineswegs so,
dass, als der Krieg vorbei war, das Naziunrecht nicht
mehr vorhanden war und auf einmal alle Antifaschisten
waren, sondern dort, wo dieses Urteil im Raum stand,
hat der eine oder andere Nachbar selbstverständlich mit
dem Finger auf die Frau gedeutet, deren Mann wegen
Kriegsverrats verurteilt wurde.
({2})
Auch Kinder wurden in der Schule deswegen - heute
würde wir sagen - gemobbt. Es gab unglaublich schwere
Schicksale. Die Menschen haben das in sich hineingefressen, manche sind daran sogar zerbrochen. Ich
glaube, dass es wichtig ist, dass wir nicht nur den eigentlichen Kriegsverrätern, sondern auch ihren Angehörigen
im Rahmen unserer Möglichkeiten als Parlament heute
ihre Würde zurückgeben.
({3})
Die Menschen, die wegen Kriegsverrats verurteilt
wurden, sind tot. Das ist richtig. Aber es gibt den Ausspruch von Bertolt Brecht, dass nur die wirklich tot sind,
an die sich niemand mehr erinnert. Es ist vor allen Dingen Professor Wette zu verdanken, dass viele Fälle nicht
der Vergessenheit anheimgegeben wurden, sondern wir
ihnen heute mit Respekt noch einmal begegnen.
Wir haben viele Diskussionen darüber geführt. Der
Kollege Gehb hat in der ihm eigenen Art deutlich gemacht, was Kriegsverrat bedeutet hat. Nach gegenwärtigem Forschungsstand wissen wir, dass § 57 MStGB eine
Allzweckwaffe gegen Soldaten war, insbesondere gegen
Soldaten unterer Dienstränge; auch das muss man in diesem Zusammenhang sagen. Wer in irgendeiner Form gegen den Willen der Naziführung verstoßen hatte, wurde
verurteilt. Es ist kein einziger Fall von Kameradenverrat
belegt.
Es ist oft eingewendet worden - auch Sie haben das
heute wieder getan -, dass man die wegen Kriegsverrats
Verurteilten nicht nachträglich zu Helden machen dürfe.
({4})
Es leuchtet mir bis heute nicht ein, warum ich Menschen, die zu Unrecht verurteilt wurden, dadurch zu Helden machen soll, dass ich deren Unrechtsurteile aufhebe.
Nein, ich gebe ihnen lediglich ihr Recht zurück. Das hat
mit Heldentum überhaupt nichts zu tun.
({5})
Persönlich will ich erklären, dass jede Tat, die dazu
geführt hat, Widerstand gegen das NS-Regime deutlich
zu machen oder den Krieg um nur einen Tag, um nur
eine Stunde zu verkürzen, dass jede Tat, die das Schweigen der Waffen früher herbeigeführt hat und die Befreiung von Auschwitz und der anderen Konzentrationsund Vernichtungslager früher ermöglicht hat, für mich
persönlich eine Heldentat war. So gab es viele Helden in
dieser Zeit, viele unbesungene Helden.
({6})
Ich hoffe, dass das Ergebnis dieser langen, zähen Diskussion, dass die Aufhebung dieses NS-Unrechts darin
besteht, dass sich auch heute und in der Zukunft Menschen finden werden, die gegen Unterdrückung,
Unrecht, Ausbeutung und Krieg aufstehen; denn dann
wären die Menschen, denen wir heute Gerechtigkeit widerfahren lassen, nicht umsonst gestorben.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 16/13979 zu dem von den
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf, dem von den
Abgeordneten Jan Korte, Christine Lambrecht,
Wolfgang Wieland und weiteren Abgeordneten eingebrachten Gesetzentwurf sowie dem von der Fraktion Die
Linke eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des
Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen
der CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/13654. Der Rechtsausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Gesetzentwurfs. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in dritter Beratung ebenfalls mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
({0})
Mit der Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf entfällt die Abstimmung über die beiden weiteren Gesetzentwürfe auf Drucksachen 16/13405 und 16/3139.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen jetzt
noch über ein paar Petitionen abstimmen; es tut mir leid.
Im Übrigen weise ich darauf hin, dass ein Änderungsantrag der Linken auf Drucksache 16/14016 vorgelegen
hat und nicht darüber abgestimmt worden ist. Es ist ja
über einen Gesetzentwurf abgestimmt worden. Ich bitte,
dies zur Kenntnis zu nehmen. Wir können über ihn nicht
mehr abstimmen, weil über den Gesetzentwurf bereits
abgestimmt worden ist. Ich wollte der Form halber darauf hinweisen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 4 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 617 zu Petitionen
- Drucksache 16/13951 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 617 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 618 zu Petitionen
- Drucksache 16/13952 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 618 ist ebenfalls mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 619 zu Petitionen
- Drucksache 16/13953 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 619 ist mit den Stimmen
von SPD, CDU/CSU, FDP bei Enthaltung des
Bündnisses 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 620 zu Petitionen
- Drucksache 16/13954 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 620 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 621 zu Petitionen
- Drucksache 16/13955 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 621 ist bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Rest der
Stimmen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 622 zu Petitionen
- Drucksache 16/13956 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 622 ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit dem Rest der Stimmen
des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 623 zu Petitionen
- Drucksache 16/13957 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 623 ist bei Gegenstimmen der FDP mit dem Rest der Stimmen des Hauses angenommen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Tagesordnungspunkt 4 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 624 zu Petitionen
- Drucksache 16/13958 Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 624 ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU bei Enthaltung der
FDP und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 625 zu Petitionen
- Drucksache 16/13959 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 625 ist bei Zustimmung
von SPD, CDU/CSU, FDP und Gegenstimmen des
Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 626 zu Petitionen
- Drucksache 16/13960 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 626 ist mit den Stimmen
der Fraktionen Die Linke, SPD, CDU/CSU bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP
angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 p:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 627 zu Petitionen
- Drucksache 16/13961 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 627 ist mit den Stimmen
von SPD und CDU/CSU bei Enthaltung der FDP und bei
Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 4 q:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 628 zu Petitionen
- Drucksache 16/13962 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 628 ist mit den Stimmen der
Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung und somit am Ende der voraussichtlich letzten Sitzung in der
16. Wahlperiode des Deutschen Bundestages.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hinter uns liegen
vier arbeitsreiche Jahre, Jahre kontroverser Debatten,
vielfach aber auch der Übereinstimmung über Fraktionsgrenzen hinweg. Wir führten in grundlegenden Fragen
Diskussionen, die Höhepunkte unserer parlamentarischen Demokratie darstellten.
Ich möchte Ihnen allen für Ihr Engagement und Ihren
Einsatz ganz herzlich danken. Das gilt insbesondere für
die Schriftführerinnen und Schriftführer, die das Präsidium tatkräftig unterstützt haben.
({13})
Mein besonderer Dank gilt den vielen Kolleginnen
und Kollegen, die dem neuen, dem 17. Deutschen Bundestag nicht mehr angehören werden. Ich wünsche Ihnen
im Namen aller alles erdenklich Gute für die Zukunft.
Mein Dank gilt aber auch den vielen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung, die vor
oder hinter den Kulissen ihre Dienste geleistet haben und
noch leisten. Ohne sie könnten wir unsere parlamentarische Arbeit überhaupt nicht machen.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche uns allen in den nächsten Wochen einen fairen Wahlkampf.
Den Zuschauerinnen und Zuschauern auf der Tribüne
und vor den Bildschirmen wünsche ich eine gute Woche.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Sitzung ist geschlossen.
({15})