Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/8/2009

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie herzlich. Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, die nach Vereinbarung zwischen den Fraktionen erweitert werden soll, möchte ich zunächst dem Kollegen Kauder zu seinem 60. Geburtstag gratulieren, den er vor wenigen Tagen gefeiert hat, und im Namen des Hauses dazu meine und unser aller herzlichen Glückwünsche übermitteln. ({0}) Heute auf den Tag genau hat der Kollege Detlef Parr seinen 67. Geburtstag. Das alleine wäre kein Grund für eine Sondersitzung des Bundestages, aber ich weiß, dass es ihm gut gefällt, dass seine voraussichtlich letzte Teilnahme an einer Sitzung des Deutschen Bundestages just an seinem Geburtstag stattfindet. Deswegen nutze ich die Gelegenheit gerne, meine guten Wünsche mit dem herzlichen Dank für die gute Arbeit hier im Hause zu verbinden. ({1}) Wir müssen zwei Wahlen zu Gremien vornehmen, bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten. Für den Beirat der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr schlägt die Fraktion der CDU/CSU die Kollegin Julia Klöckner und die Fraktion der SPD die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß vor. Sind Sie mit diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die beiden Kolleginnen in den Beirat der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr gewählt. Die Fraktion der SPD hat außerdem mitgeteilt, dass der Kollege Dr. Dieter Wiefelspütz als stellvertretendes Mitglied aus dem Vermittlungsausschuss ausscheidet. Als Nachfolger wird der Kollege Klaus Uwe Benneter vorgeschlagen. Sind Sie auch mit diesem Vorschlag einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist der Kollege Benneter zum stellvertretenden Mitglied des Vermittlungsausschusses gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, dass die heutige Tagesordnung ergänzt werden soll. Bevor ich darüber sicherlich Einvernehmen herstelle, darf ich Ihnen mitteilen, dass auch der Kollege Gehrcke heute seinen Geburtstag feiert, der natürlich genauso herzlich beglückwünscht sei. ({2}) Es gibt eine Vereinbarung zwischen den Fraktionen, die heutige Tagesordnung um die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zu den aktuellen Ereignissen in Afghanistan zu erweitern. Als weiterer Zusatzpunkt soll darüber hinaus über eine Reihe von Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses ohne Debatte abgestimmt werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 1 auf: Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzlerin zu den aktuellen Ereignissen in Afghanistan Das Wort hat die Frau Bundeskanzlerin. ({3})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Letzte Woche Freitag hat eine der schwersten militärischen Auseinandersetzungen der Bundeswehr mit den Taliban im Rahmen des ISAF-Einsatzes in Afghanistan stattgefunden. Zahlreiche Menschen haben ihr Leben verloren. Über die Folgen, insbesondere über zivile Opfer, gibt es widersprüchliche Meldungen. Das genau zu klären, wird uns heute Morgen nicht möglich sein. Umso mehr sage ich eines vorweg - und zwar ohne jede Umschweife -: Jeder in Afghanistan unschuldig zu Tode gekommene Mensch ist einer zu viel. ({0}) Redetext Wir trauern um jeden Einzelnen. Jeder unschuldig Verletzte ist einer zu viel. Wir fühlen mit ihnen und ihren Angehörigen. Unschuldig verletzte und zu Tode gekommene Menschen, auch und gerade infolge deutschen Handelns, bedauere ich zutiefst. Es ist mir wichtig, dies heute als deutsche Bundeskanzlerin vor diesem Hohen Haus und genauso dem afghanischen Volk gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Ich denke, ich sage das in Ihrer aller Namen. ({1}) Afghanistan, dieses leidgeprüfte Land, hat eine bessere, eine friedlichere Zukunft verdient. Das ist unser aller Hoffnung. Wie in einem Brennglas werden in dem Vorfall vom Freitag alle grundsätzlichen Fragen sichtbar, die wir uns seit Beginn des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan immer wieder stellen müssen. Deshalb ist es richtig, und ich sage, es ist notwendig, dass wir darüber heute im Bundestag debattieren. Als deutsche Bundeskanzlerin möchte ich in diesem Hause festhalten: Erstens. Die lückenlose Aufklärung des Vorfalls vom letzten Freitag und seiner Folgen ist für mich und die ganze Bundesregierung ein Gebot der Selbstverständlichkeit. Die Bundeswehr wird mit allen zur Verfügung stehenden Kräften genau dazu beitragen. Den Ergebnissen kann und will ich heute nicht vorgreifen. Ich stehe dafür ein, dass wir nichts beschönigen werden, aber ich stehe genauso dafür ein, dass wir Vorverurteilungen nicht akzeptieren werden. ({2}) Ich sage nach dem, was ich in den letzten Tagen erlebt habe, ganz deutlich: Ich verbitte mir das, und zwar von wem auch immer, im Inland genauso wie im Ausland. ({3}) Genau darüber habe ich auch mit dem NATO-Generalsekretär Rasmussen gesprochen, und zwar sehr unmissverständlich. Eine umfassende Bewertung des Angriffs und seiner Folgen ist mir, ist dem Bundesminister der Verteidigung, ist der Bundesregierung insgesamt absolut wichtig. Auf der Grundlage aller Fakten wird sie erfolgen: offen und nachvollziehbar. Zweitens. Der Kampfeinsatz der Bundeswehr zusammen mit unseren Partnern im Nordatlantischen Bündnis in Afghanistan ist notwendig. Er trägt dazu bei, die internationale Sicherheit, den weltweiten Frieden und Leib und Leben der Menschen hier in Deutschland vor dem Übel des internationalen Terrorismus zu schützen. Das stand am Anfang dieses Einsatzes, und das gilt bis heute. Das ist unsere Überzeugung. Das fand und findet die Zustimmung der afghanischen Regierung, und wir wissen, wie viele einfache Afghanen uns immer wieder bitten, sie im Kampf gegen die Taliban nicht allein zu lassen. ({4}) Drittens. Die zweite Präsidentschaftswahl in Afghanistan markiert den Beginn einer neuen Qualitätsstufe in den Beziehungen zwischen der internationalen Staatengemeinschaft und dem Staat Afghanistan. Es stehen Entscheidungen über neue Schritte an, Entscheidungen, die getroffen werden müssen, und zwar auch, wenn es den Vorfall vom Freitag nicht gegeben hätte. Mit der zweiten Präsidentschaftswahl muss für die Autoritäten in Afghanistan der Beginn der Übernahme eigener Verantwortung in einer neuen Qualität verbunden sein. ({5}) Ich bin mit Staatspräsident Sarkozy und Premierminister Brown der Auffassung, dass jetzt, nach der zweiten Präsidentschaftswahl, der richtige Moment ist, um gemeinsam mit der neuen afghanischen Führung am Ende dieses Jahres festzulegen, wie diese Verantwortungsübernahme messbar geschehen kann. Wir schlagen deshalb dem Generalsekretär der Vereinten Nationen vor, noch in diesem Jahr eine Konferenz einzuberufen, bei der über Stand und Perspektiven der zukünftigen Afghanistan-Politik zu befinden sein wird. Ich erwarte auf dieser Konferenz Zielvorgaben zum politischen und wirtschaftlichen Aufbau des Landes. Dabei wird die Konferenz klarzustellen haben, dass und wie die afghanischen Verantwortlichen alles in ihrer Macht Stehende tun müssen, um Kriminalität, Korruption und Drogenhandel zu unterbinden. ({6}) Die Konferenz wird außerdem weitere klar umrissene Zielgrößen festzulegen haben, die die nächste afghanische Regierung auf gute Regierungsführung, auf Rechtsstaatlichkeit und auf die Einhaltung der Menschenrechte verpflichten. Vor allem aber muss die Konferenz Zielvorgaben zur Zahl und Qualität der auszubildenden afghanischen Sicherheitskräfte machen einschließlich klarer Zeitvorgaben, in denen dies zu geschehen hat. Die Konferenz wird festzuhalten haben, welches der beste Weg ist, um unser Engagement gerade auch den lokalen und regionalen Gegebenheiten des Landes anzupassen und die jeweiligen Machthaber vor Ort auf die gemeinsamen Ziele verlässlich zu verpflichten. Mit anderen Worten: Mit dieser Konferenz geht es Frankreich, Großbritannien und Deutschland darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir entschlossen eine international abgestimmte Übergabestrategie in Verantwortung entwickeln können. Denn unser übergeordnetes politisches Ziel ist und bleibt ein Afghanistan, das selbst für seine Sicherheit sorgen kann, ein Afghanistan, das wirksam verhindert, dass seine Regionen erneut Heimstatt des internationalen Terrorismus werden können. ({7}) Innerhalb der nächsten fünf Jahre - das ist die Laufzeit des nächsten Afghan Compact - müssen hier substanzielle, qualitative Fortschritte erzielt werden, die es den internationalen Truppen Schritt für Schritt ermöglichen, sich mehr und mehr zurückzuziehen. Das meine ich, wenn ich von einer „Übergabestrategie in Verantwortung“ spreche. Diese Worte sind miteinander verbunden: Übergabestrategie in Verantwortung. Damit erreichen wir unser Ziel. Viertens. Unser Engagement in Afghanistan war von Anfang an auf das Miteinander von wirtschaftlicher Entwicklung und Sicherheit ausgerichtet. Das eine - so unsere Überzeugung - funktioniert ohne das andere nicht. Beides muss ineinandergreifen. Deshalb beteiligt sich die Bundesregierung mit erheblichen Mitteln an Aufbau- und Entwicklungsprojekten: von der Infrastruktur über Bildungsprogramme bis hin zu Ausbildungsmaßnahmen für die Polizei. Es ist weitgehend auf das beharrliche Engagement der Bundesregierung und auch des Deutschen Bundestages zurückzuführen, dass nunmehr alle unsere Partner, auch alle in der NATO, von diesem Ansatz überzeugt sind. Wurde die Bundeswehr in der Vergangenheit oft als Brunnenbauer verspottet, so ist die Politik der vernetzten Sicherheit heute Konsens unter den Verbündeten. Das ist ein nachhaltiger Erfolg deutscher Afghanistan-Politik. ({8}) Dafür danke ich allen, die daran mitgewirkt haben. Ich danke allen in der Bundesregierung: dem Außenminister, der Entwicklungsministerin, natürlich dem Verteidigungsminister und dem Innenminister. Nur auf dieser Basis konnte die internationale Gemeinschaft in diesem Sommer wirksam Unterstützung leisten, damit die zweiten Präsidentschaftswahlen abgehalten werden konnten. Die Menschen in Afghanistan haben unter teils schwierigen Bedingungen ihre Stimme abgegeben. Sie haben damit großen Mut bewiesen, und sie haben ein Bekenntnis für Frieden, Einheit und Demokratie abgelegt. Ihnen gehört unser Respekt. ({9}) Wir verschließen dabei vor den Unzulänglichkeiten im Umfeld der Wahlen nicht die Augen. Die Überprüfung durch die Wahlbeschwerdekommission ist außerordentlich wichtig. Aber dass es - im Unterschied zu vielen anderen Staaten - eine solche Instanz gibt, zeigt den demokratischen Fortschritt, den wir in Afghanistan schon sehen können. ({10}) Fünftens. Von Beginn an haben wir uns mit unseren Partnern dafür eingesetzt, dass die Region über Afghanistan hinaus in Lösungsansätze einbezogen wird. So hat der Bundesaußenminister einen solchen Prozess mit Begegnungen der afghanischen und der pakistanischen Regierung bereits frühzeitig eingeleitet. Er ist nunmehr auch Teil der internationalen Strategie geworden. Sechstens. Unser Weg zur Erreichung unserer Ziele ist und bleibt vor allem anderen der Weg des gegenseitigen Vertrauens: des Vertrauens zwischen den Afghanen und den Bündnistruppen, des Vertrauens zwischen der afghanischen Regierung und den befreundeten Ländern der internationalen Staatengemeinschaft und eines immer stärker werdenden Vertrauens der Afghanen in ihre eigene Fähigkeit, ihre Zukunft wieder vollständig in die eigene Hand zu nehmen. Ebenso zentral gehört dazu für mich das Vertrauen der Menschen hier in Deutschland darin, dass die Regierung und das Parlament alles unternehmen, was für die Sicherheit des Landes notwendig ist, und zwar mit größtmöglicher Sorgfalt, unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit und beständiger Überprüfung, ob der gewählte Weg der richtige ist. Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich sagte es zu Beginn: Wie in einem Brennglas werden in den Folgen des Luftangriffs vom letzten Freitag alle grundsätzlichen Fragen sichtbar, die wir im Zusammenhang mit unserem Einsatz in Afghanistan zu beantworten haben. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Wie in einem Brennglas werden uns die drei Grundprinzipien vor Augen geführt, die die deutsche Außenpolitik seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland leiten: Deutschland ist dem Dienst für den Frieden in der Welt verpflichtet; so steht es in der Präambel unseres Grundgesetzes. ({11}) Deutschland ist eine wehrhafte Demokratie; wir schützen unsere Bürger, ihr Leben und ihre Unversehrtheit mit den zu Gebote stehenden rechtsstaatlichen Mitteln. ({12}) Deutschland steht in dieser Welt in festen Bündnissen und Partnerschaften; deutsche Sonderwege sind grundsätzlich keine Alternative deutscher Außenpolitik. ({13}) Es ist Aufgabe jeder politischen Führung, diese drei Prinzipien in der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit immer wieder neu zur Geltung zu bringen. Das gehört mit zu den schwersten Aufgaben. Denn letztlich geht es um den Schutz von Leben ({14}) und bei den Aufträgen der Bundeswehr auch um den Einsatz von Leben. Niemand täusche sich: Die Folgen von Nichthandeln werden uns genauso zugerechnet wie die Folgen von Handeln. ({15}) Das sollte jeder bedenken, der ein Zurseitetreten Deutschlands bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus auch und gerade in Afghanistan fordert. Wir dürfen nie die Umstände vergessen, die die Bundesregierung unter der Führung meines Amtsvorgängers und unter meiner Führung bis heute zum AfghanistanEinsatz bewogen haben: das von den Taliban und alQaida beherrschte Afghanistan, ({16}) das die Brutstätte des Terrors vom 11. September 2001 war. Am Freitag jähren sich die Anschläge zum achten Mal. Dem 11. September 2001 folgten weitere verheerende Anschläge auch in Europa, in Madrid und London. Auch Deutschland - das wissen wir - ist im Visier. Die Vorhaben der Sauerland-Gruppe wurden glücklicherweise vereitelt; sie hätten verheerende Folgen haben können. Die Ausbildung dieser Attentäter erfolgte in Afganistan. Deshalb sollte niemand die Ursachen verwechseln: Der Afghanistan-Einsatz ist unsere Reaktion auf den Terror - er ist von dort gekommen - und nicht umgekehrt. ({17}) Der Einsatz der Bundeswehr war und ist im dringenden Interesse der Sicherheit unseres Landes. Er beruht auf Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Die Entsendung unserer Soldaten ist seit Anfang 2002 von jeder Bundesregierung verantwortet worden. Die jährlichen Anpassungen und Verlängerungen haben jeweils eine breite Unterstützung im Parlament erhalten. Das ist nicht zuletzt im Interesse unserer Soldatinnen und Soldaten ausgesprochen wichtig. Ich danke ausdrücklich allen, die - auch aus der Opposition heraus - bei diesen Entscheidungen Verantwortung übernommen haben. Unsere Soldatinnen und Soldaten riskieren bei diesem Einsatz ihr Leben. Dafür haben wir ihnen zu danken, genauso wie wir unseren Polizisten und zivilen Aufbauhelfern für ihren Einsatz zu großem Dank verpflichtet sind. ({18}) Herr Präsident, meine Damen und Herren, das Handeln Deutschlands auf der Basis der drei Grundprinzipien deutscher Außenpolitik eröffnet die Möglichkeit, dass Afghanistan ein stabiler, selbstständiger Partner im Kampf gegen den internationalen Terrorismus wird und keine Verbündeten mehr im eigenen Land braucht. Das ist eine der schwierigsten internationalen Herausforderungen unserer Zeit. Sie zu meistern, ist mein Ziel und das Ziel der Bundesregierung. Dafür arbeitet die Bundesregierung, und dafür bitte ich Sie um Ihre Unterstützung, auch in der Zukunft. Herzlichen Dank. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die nachfolgende Aussprache soll nach einer Vereinbarung unter den Fraktionen eine Stunde dauern. Ich will der guten Ordnung halber auch hierzu förmlich Einvernehmen feststellen. - Das ist offenkundig der Fall. Erster Redner in der Aussprache ist der Kollege Dr. Guido Westerwelle für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, die Tatsache, dass Sie eine Regierungserklärung angesetzt haben, aber auch der überzeugende Inhalt dieser Regierungserklärung wird von den Freien Demokraten nachdrücklich unterstützt. ({0}) Wir gehen davon aus, dass diese Regierungserklärung eine Regierungserklärung der gesamten Regierung gewesen ist. Wir gehen davon aus, dass sich diejenigen - 80 Prozent, 90 Prozent in diesem Hohen Hause -, die den Afghanistan-Einsatz mit der Abgabe ihrer persönlichen Stimme beschlossen haben, hier jetzt keinen schlanken Fuß machen. Ich glaube, dass diejenigen, die den Afghanistan-Einsatz überparteilich mit beschlossen haben, sich hinter dieser Regierungserklärung versammeln können. Hier haben Sie für Deutschland gesprochen. ({1}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, weil Sie dazwischenrufen, will ich Ihnen Folgendes sagen: Ich akzeptiere und respektiere, dass Sie eine andere Haltung haben. Ich hoffe aber eines: dass die Debatte im Anschluss an diese Regierungserklärung keine Fortsetzung des Wahlkampfes in diesem Hause wird. ({2}) Hier geht es nicht um Parteien, hier geht es um unser Land; das ist es, worüber wir in dieser Stunde debattieren sollten. ({3}) Deswegen, Frau Bundeskanzlerin, möchte ich mit Nachdruck begrüßen, dass Sie Worte des Mitgefühls und der Trauer gesprochen haben. Sie haben diese Worte für Deutschland gewählt. Das ist aus unserer Sicht, aus Sicht der Freien Demokraten, richtig, angemessen, notwendig und überfällig gewesen, damit nicht der Eindruck erweckt wird, die Fakten zu allem seien schon bekannt und wir könnten abschließend urteilen. Es ist richtig: Wenn Fehler gemacht worden sind, müssen wir als ganzes Land die Verantwortung dafür übernehmen. Richtig ist aber auch: Wenn man die Fakten noch nicht kennt, wäre es falsch, eine Vorverurteilung vorzunehmen. Deswegen - dieses kritische Wort gehört dazu - ist es nicht in Ordnung, dass vor dieser Debatte, vor dieser Regierungserklärung eine Informationspolitik stattgefunden hat, die mehr zur Verwirrung als zur Aufklärung beigetragen hat. Die Regierungserklärung, die Sie abgegeben haben, war auch deswegen überzeugend, weil Sie gar nicht den Versuch unternommen haben, zu behaupten, alles sei schon aufgeklärt. Es wäre gut, wenn alle Kabinettsmitglieder vorher so gehandelt hätten. ({4}) Meine Damen und Herren, ich denke, es ist richtig und wichtig, dass wir alle, die wir diesem Einsatz zugestimmt haben, die Verantwortung nicht abgegeben haben. ({5}) - Das ist wahr. Mit „wir“ meine ich uns, die wir diesem Einsatz zugestimmt haben. Es ist hinreichend bekannt, dass Sie eine andere Haltung einnehmen. Das ist ja auch Ihr gutes Recht. - Wir alle, die wir diesem Einsatz ja auch aus der Opposition heraus zugestimmt haben, haben von Anfang an die Überzeugung gehabt, dass dieser Einsatz so schnell wie möglich beendet werden soll. Niemand schickt doch leichtfertig Soldaten in ein anderes Land, niemand schickt leichtfertig Soldaten nach Afghanistan. Jeder, der diesen Beschluss gefasst hat, möchte, dass unsere Frauen und Männer so schnell wie möglich gesund zurückkehren. Niemand tut das leichten Herzens. Wir tun das, um die Sicherheit unseres eigenen Landes, der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, in Mitteleuropa, zu gewährleisten und zu verbessern. Zuallererst deswegen sind wir in Afghanistan. Es geht um die Freiheit und die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger. ({6}) Deswegen ist es auch richtig, dass wir gemeinsam dem Ziel verpflichtet bleiben, so schnell wie möglich aus Afghanistan rauszugehen. Das Ganze kann aber weder kopflos noch überstürzt stattfinden; denn wenn wir jetzt überstürzt und kopflos abziehen würden, dann wäre Afghanistan am nächsten Tag wieder das Rückzugsgebiet der Terroristen in der ganzen Welt. Das kann niemand ernsthaft verantworten. Denjenigen, die es sich heute leicht machen, weil sie an den Wahltag denken, möchte ich zurufen: Bedenken Sie bitte auch, welche Diskussion es in diesem Lande gäbe, wenn wir als Vertreter des Volkes, wissend, welche Gefahr es für unser Volk gibt, so tun würden, als gäbe es diese Gefahr nicht. Wenn etwas passiert, dann findet plötzlich eine ganz andere Diskussion statt. Unsere Aufgabe ist es, zu verhindern, dass etwas passiert. ({7}) Deswegen möchte ich auch nachdrücklich darauf aufmerksam machen, dass die Idee, man könne den zivilen Aufbau von dem militärischen Schutz trennen, nicht umgesetzt werden kann. Es würde kein einziges Krankenhaus in Afghanistan gebaut, es würde kein Brunnen gebohrt, es gäbe keine einzige Ärztin, die zum Beispiel Kinder impft, und es gäbe keine Lehrerin, die unterrichtet, wenn keine Frauen und Männer der Bundeswehr dort wären, die mit ihrem Leib und Leben dafür geradestehen, dass diese großartige zivile Aufbauleistung überhaupt stattfinden kann. ({8}) Frau Bundeskanzlerin, es ist gleichwohl notwendig, dass wir feststellen: Wenn wir das Konzept der selbsttragenden Sicherheit im Bündnis durchsetzen wollen, dann müssen wir auch unseren Verpflichtungen, die wir international übernommen haben, nachkommen. Wir kritisieren seit längerer Zeit, dass der Aufbau der Polizeischulung nicht in dem Umfang von uns wahrgenommen wird, wie wir uns international dazu verpflichtet haben. ({9}) Wenn wir raus aus Afghanistan wollen, ohne dass der Terrorismus dort sofort wieder die Überhand gewinnt, dann müssen wir dafür sorgen, dass es dort eigene staatliche Hoheits- und Sicherheitsstrukturen gibt. Deswegen ist der Polizeiaufbau, die Schulung der Polizei, in Afghanistan von ganz besonderer Bedeutung. Dass derzeit lediglich 43 Polizeivollzugsbeamte dort wirken - das ist weniger als die Hälfte der Anzahl, die wir im Rahmen einer internationalen Verpflichtung bereitstellen wollten -, ist und bleibt ein Defizit, das wir uns hier gemeinsam ansehen müssen. ({10}) Ich denke, wir, die wir Verantwortung tragen, und zwar alle, ob Regierung oder Opposition, müssen diesem Thema, dem Aufbau der eigenen Staats- und Sicherheitsstrukturen in Afghanistan, mehr Nachdruck verleihen. ({11}) Das ist ein tragischer, furchtbarer Freitag gewesen, bei dem wir alle noch nicht wissen, wie viele Opfer tatsächlich ums Leben gekommen sind. Wir wissen auch noch nicht, wer wirklich welche Verantwortung trägt. Aber eines möchte ich hier doch feststellen. Man kann es sich nicht so einfach machen, zu sagen: „Das war die Bundeswehr“, und das ist es dann auch gewesen. Ich bitte, zu berücksichtigen, was in Deutschland losgewesen wäre, wenn diese beiden Tanklaster für einen Anschlag gegen uns, unsere Verbündeten und unsere Bundeswehr tatsächlich zum Einsatz gebracht worden wären. Auch das muss, denke ich, in der Abwägung im Rahmen einer wirklich sachlichen Bewertung angesprochen werden, und auch darauf möchte ich nachdrücklich aufmerksam machen. ({12}) Deswegen hoffe ich von ganzem Herzen, dass eines nicht passiert: dass unsere politische Auseinandersetzung, die naturgemäß drei Wochen vor einer Bundestagswahl verschärft ist, dazu führt, dass man sich mit kleiner Münze einen Wahlkampf auf dem Rücken der Frauen und Männer der Bundeswehr leistet. Sie leisten einen großartigen Einsatz, und dafür möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. ({13}) Ich möchte jedenfalls für die stärkste Oppositionsfraktion in diesem Hause nachdrücklich unterstreichen, dass wir uns mit dieser Linie einverstanden erklären und dass wir sie unterstützen und kritisch begleiten werden. Aber ich bleibe dabei: Das ist eine Angelegenheit, die nicht zwischen Parteien im Wahlkampf besprochen werden sollte. Das ist kein Wahlkampfmanöver. Hier geht es um unser Land; hier geht es darum, wie wir mit unserem Land in der Welt dastehen. Es geht in Wahrheit um unsere Sicherheit, unsere Freiheit und unseren Frieden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier. ({0})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Noch wissen wir nicht genau, wie viele Menschen bei dem Luftangriff am vergangenen Freitag in Afghanistan ums Leben gekommen sind. Noch wissen wir nicht, wie viele Zivilisten unter den Opfern waren. Aber eines wissen wir: Dieser Luftangriff war nicht irgendein bedauerlicher Zwischenfall, und wir können nach diesem Ereignis natürlich nicht ohne weiteres zur Tagesordnung übergehen. Dieser Freitagmorgen hat - ob wir das wollen oder nicht - ein Schlaglicht auf unseren Afghanistan-Einsatz geworfen und ihn neu ins Rampenlicht gerückt. Natürlich gibt es - das verstehe ich - darüber eine öffentliche Diskussion. Ich verstehe auch, dass Diskussionen nicht nur bei uns, sondern auch im europäischen und außereuropäischen Ausland geführt werden. Eines allerdings verstehe ich nicht - das können wir auch nicht so lassen -, nämlich dass, bevor die Untersuchungen abgeschlossen sind, Vorverurteilungen, auch im Ausland, stattfinden. Deshalb habe ich seit dem vergangenen Wochenende mit vielen europäischen Außenministern telefoniert und ihnen gesagt: Ihr müsst bitte genauso abwarten wie wir, bis öffentlich beurteilt werden kann, ob der Einsatz gerechtfertigt war oder nicht. ({0}) Ich habe aber nicht nur mit den europäischen Kollegen telefoniert, sondern vor allen Dingen vorgestern auch mit meinem afghanischen Kollegen, Herrn Spanta. Ich habe ihm im Namen der Bundesregierung das Mitgefühl für die möglicherweise unschuldigen Opfer zum Ausdruck gebracht, die es gegeben hat. Vor allen Dingen habe ich ihm versichert, dass es bei unserer Philosophie und unserem Verständnis des Einsatzes bleibt. Niemand hier im Saal war so naiv, zu glauben, dass der Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan nur mit militärischen Mitteln zu gewinnen sei. Weit vor anderen haben wir gesagt, dass wir in Afghanistan nur dann miteinander Erfolg haben werden, wenn wir diesem in 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg geschundenen Volk helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Wir haben immer gesagt - dabei bleibt es -: Wenn es notwendig ist, gegen terroristische Kräfte vorzugehen, dann müssen dabei zivile Opfer vermieden werden. Das war unsere Politik in allen Gremien der NATO. Ich freue mich, dass wir uns damit durchgesetzt haben. Aber ich weiß auch: Wie immer die Untersuchung ausgeht, die im Augenblick stattfindet, einfacher wird es insgesamt natürlich nicht. Ich sehe das ja im Augenblick auf den Straßen. Es gibt viele, die unterwegs sind und nach den ganz einfachen Antworten suchen. Es werden Schilder mit der Aufschrift „Sofort raus aus Afghanistan“ hochgehalten. Menschlich kann man das noch nachvollziehen. Das ist unangenehm. Das ist quälend. Es geht nicht schnell genug; es ist gefährlich. Aber ich sage auch: So menschlich verständlich es ist, dass man sich von Aufgaben, die unangenehm sind, trennen möchte, möglichst nichts damit zu tun haben will, so ist das gleichzeitig unpolitisch und unhistorisch und deshalb nicht zu verantworten. ({1}) Viele, die so tun, als gäbe es eine einfache Antwort, haben aus meiner Sicht ein paar Dinge vergessen, nämlich dass das Nein zum Irakkrieg und das Ja zu unserem Afghanistan-Engagement zusammengehören ({2}) und dass am Anfang etwas war - das dürfen wir in einer solchen Debatte nicht einfach zynisch übergehen -: 3 000 Opfer bei den Anschlägen in New York am 11. September. Ich habe in guter Erinnerung - weil ich damals Verantwortung getragen habe ({3}) - hören Sie einen Augenblick zu, bevor Sie zynisch darauf antworten! -, ({4}) in welchem Zustand dieses Land war, als sich nach den Anschlägen in New York in schneller Reihenfolge die Anschläge auf Djerba und Bali sowie in Casablanca wiederholten, darunter immer deutsche Opfer. Ich habe in guter Erinnerung, als die Anschläge näher kamen, nach Madrid und London. Ich weiß, dass die Angst in diesem Land davor ehrlich war, dass die terroristische Gefahr nicht nur besteht, sondern dass Terroristen auch hier in Deutschland zuschlagen könnten. Deshalb haben wir uns engagiert. Vielleicht haben wir nicht zu jeder Zeit in Afghanistan alles richtig gemacht. Das will ich auch gar nicht behaupten. Aber niemand war so naiv, zu glauben, dass wir dort nur mit militärischen Mitteln agieren könnten. Immer haben wir uns auf den Wiederaufbau konzentriert, weit vor anderen. Immer haben wir gesagt: Wir müssen diesem geschundenen Volk auf die Beine helfen. Und immer haben wir gesagt: Wir werden am Ende gemeinsam mit der afghanischen Regierung nur gewinnen, wenn wir die Herzen der Afghanen gewinnen. Insofern ziehe ich für mich noch immer die Zwischenbilanz: Wir sind in unser Engagement in Afghanistan nicht kopflos hineingestolpert. Weil das so ist, dürfen wir dort auch nicht einfach kopflos hinaus. Das geht nicht. Das ist nicht zu verantworten. ({5}) Wenn ich sage: „Wir können da nicht einfach kopflos raus“, dann heißt das natürlich nicht - Herr Westerwelle, hier haben Sie völlig recht -, dass die Aufgabe der Bundeswehr in Afghanistan eine Daueraufgabe ist oder sogar zu einer Daueraufgabe werden soll. Die Bundeswehr ist zusammen mit den anderen europäischen Truppenverbänden, die dort sind, keine Besatzungsarmee. Deshalb sind wir nicht für die Ewigkeit da. Ich sage Ihnen hier das, was ich schon vor diesen Ereignissen von Donnerstagnacht auf Freitagnacht und zur Wahl in Afghanistan gesagt habe, nämlich dass die Wahl eines neuen Präsidenten in Afghanistan ein Einschnitt sein muss. Ein schlichtes „Weiter so“ kann es danach nicht geben. Was wir dann von dem gewählten und im Amt befindlichen afghanischen Präsidenten brauchen, ist eine klare Ansage, wie wir in welchen Schritten und in welchen Zeitabständen zu mehr afghanischer Eigenverantwortung kommen. Im Kern geht es doch immer darum, dass die Afghanen selbst Sicherheit im Land garantieren. Dazu gehört ganz zuvörderst aus meiner Sicht, Herr Schäuble, die Festlegung der endgültigen Stärke der afghanischen Polizei ebenso wie die Festlegung der endgültigen Stärke der afghanischen Armee. Darüber haben wir noch keine Vereinbarung mit der afghanischen Regierung. Das muss vereinbart werden, und das steht jetzt an. ({6}) Dazu gehören auch die Festlegung von Ausbildungsstandards für die afghanische Armee und die afghanische Polizei, die Festlegung von Ausrüstungsstandards und natürlich auch - Herr Westerwelle, Sie haben das in Bezug auf die Polizei angesprochen; die Polizisten, die Sie genannt haben, sind nur die, die im europäischen Rahmen im Einsatz sind; dazu kommen die, die wir im bilateralen Polizeiausbildungsprojekt haben, aber im Kern haben Sie recht - klare Verantwortlichkeiten innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft, damit klar ist, wer für was zuständig ist und Verantwortung trägt. ({7}) Der geeignete Ort, das alles zu verabreden und dafür klare Vereinbarungen mit dem neuen afghanischen Präsidenten zu machen, ist der Afghan Compact. Der steht jetzt zur Neuverhandlung an. Wir müssen in diesem Afghan Compact - das ist mein Ziel - klare Perspektiven für die schrittweise Übergabe unserer Aufgaben in afghanische Hände festlegen. Für dieses Vorgehen werbe ich seit Wochen. Ich darf Ihnen sagen: Es gibt wachsende Unterstützung, jedenfalls der europäischen Kollegen, für dieses Vorgehen. Das ist aus meiner Sicht der einzige, aber, wie ich finde, ehrliche und verantwortliche Weg, um eine Perspektive in Hinsicht auf Dauer und Qualität unseres Einsatzes in Afghanistan zu gewinnen und damit eben auch eine Perspektive für die Reduzierung deutscher Truppen in Afghanistan zu gewinnen, eine Perspektive, von der ich sage, dass sie mit klaren Zeitangaben unterlegt werden muss. Meine Bitte an alle, außerhalb und innerhalb dieses Parlamentes, ist: Lassen Sie uns bitte der Öffentlichkeit nicht vormachen, es gäbe einen anderen Weg. ({8}) Ich erinnere mich - damit komme ich zum Schluss noch an meinen letzten Besuch in Afghanistan. 24 Stunden nach einem Angriff auf eine Patrouille, bei dem zwei seiner Kameraden ums Leben gekommen sind, habe ich mit einem jungen Soldaten gesprochen. Ich habe länger mit ihm gesprochen, und er hat mir am Ende des Gesprächs gesagt: Herr Außenminister, seien Sie sicher, wir wissen, warum wir hier sind; wir werden dieses Land nicht in der Steinzeit zurücklassen. ({9}) Wir hier zu Hause, finde ich, dürfen nicht weniger verantwortlich reden als dieser deutsche Soldat in Afghanistan. Herzlichen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Oskar Lafontaine, Fraktion Die Linke. ({0})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundeskanzlerin hat noch einmal den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan mit dem Argument gerechtfertigt, dieser Einsatz diene der internationalen Sicherheit, er diene dem Frieden und er diene der Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Für meine Fraktion möchte ich die gegenteilige Schlussfolgerung ziehen: Wir fordern den Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan, weil wir der festen Überzeugung sind, dass der Einsatz der Bundeswehr nicht der internationalen Sicherheit dient, nicht dem Frieden und er auch nicht geeignet ist, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen. ({0}) In der Kürze der Zeit kann ich nur wenige Argumente aufgreifen. Ein klassisches Argument, das immer wieder ins Feld geführt wird, ist das Argument, ein deutscher Sonderweg sei zu vermeiden; die Bundeskanzlerin hat es ebenfalls wieder ins Feld geführt. Wäre dieses Argument zutreffend, meine Damen und Herren, dann hätten wir uns auch am Irakkrieg beteiligen müssen, dann wäre hier der deutsche Sonderweg im Hinblick auf unsere internationalen Interessen nicht gerechtfertigt gewesen. ({1}) Sie haben dies als CDU-Vorsitzende damals auch so gesehen. Wäre das Argument des unzulässigen deutschen Sonderweges richtig, dann hätten die Kanadier völlig falsch entschieden, als sie jetzt schon ein Abzugsdatum festgesetzt haben. Warum haben wir nicht zumindest den Mut, uns so zu entscheiden wie die Kanadier? ({2}) Es ist interessant, dass Sie die zivile Komponente heute wieder betont haben. Das ist im Moment leider völlig unglaubwürdig; denn in den letzten Monaten ist das krasse Gegenteil geschehen: Es ist nicht die zivile Komponente gestärkt worden - das sollte man in einer solch tragischen Situation nicht beschwören -, sondern die militärische Komponente. Alles, was man hört, läuft darauf hinaus, dass die militärische Komponente weiter gestärkt werden soll. Man darf auch in einer solch schwierigen Situation über diesen Sachverhalt nicht hinwegtäuschen. ({3}) Nun komme ich zum entscheidenden Punkt. Die Behauptung, Sie bekämpften den internationalen Terrorismus, wird von denen widerlegt, die, wenn man so will, von der fachlichen Seite damit befasst sind. Es ist doch gut, dass dies der Kommandeur McChrystal zum ersten Mal in aller Klarheit festgestellt und Ihre Ausführungen hier krass widerlegt hat, ja, als - so möchte ich einmal sagen - nicht rational, als nicht vernünftig, als nicht nachvollziehbar dargestellt hat. Ich trage hier einmal vor, was dieser Kommandeur zu den Kampfeinsätzen, die Sie gerechtfertigt haben, vorgetragen hat. Er sagt, dass der Krieg in Afghanistan nicht mit konventionellem militärischem Denken gewonnen werden könne, das darauf abzielt, den Gegner zu bekämpfen. Aus konventioneller Sicht stelle sich die Tötung von zwei Aufständischen in einer Gruppe von zehn so dar, als seien nur noch acht Gegner übrig. In einem von Clans und Stämmen geprägten Umfeld wie Afghanistan sei es aber so, dass die zwei Getöteten viele Verwandte hätten, die nach solchen Vorfällen Rache schwörten. Im Fall von zivilen Opfern seien das sogar noch mehr als im Fall von getöteten Kämpfern. So laute die Rechnung: „10 minus 2 ergibt 20“. Das heißt, der verantwortliche Mann in Afghanistan sagt Ihnen hier, dass die Kampfeinsätze zu nichts anderem führen als dazu, dass mehr Kämpfer rekrutiert werden. Wie wollen Sie angesichts dieses Sachverhalts hier darstellen, Sie bekämpften den Terrorismus in Afghanistan? ({4}) Wie soll dabei überhaupt logisch argumentiert werden? Nichts anderes ist in den letzten Jahren passiert. Deshalb hat sich die Anzahl der Anschläge erhöht, deshalb ist das Land immer unsicherer geworden, deshalb haben wir dort - vielleicht in guter Absicht - mehr Unheil angerichtet, Jahr für Jahr: Immer mehr Menschen sind ums Leben gekommen, Soldaten und Zivilisten, Zivilisten und Soldaten. Sosehr ich anerkenne, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie hier vorgetragen haben, dass Sie bedauern, dass Zivilisten, also Unschuldige, ums Leben gekommen sind: Ich bedauere - auch aufgrund meiner persönlichen Erfahrung -, dass Soldaten dort ums Leben kommen. Ich würde mir wünschen, dass dort, in Afghanistan, keine Soldaten ums Leben kommen. ({5}) Was wir erkennen müssen, ist, dass wir dort gegen eine Kultur kämpfen, ({6}) und dieser Kampf gegen eine Kultur ist nicht zu gewinnen. Die Kultur, um die es geht, hat der Oberbefehlshaber der ISAF ganz klar angesprochen. Wir haben es dort mit einer Stammeskultur zu tun. Diese Stammeskultur verpflichtet all diejenigen, die im Verwandtenkreis Tote zu beklagen haben, auf Blutrache. ({7}) - An die Adresse der Grünen. Ich weiß, dass Sie jetzt Schwierigkeiten haben: Sie haben diesen Krieg mitzuverantworten und wollen sich jetzt aus dieser Verantwortung herauswinden. ({8}) Das ist keine noble Haltung. ({9}) Sie müssen auch zu dieser Verantwortung stehen. Wir sind der Auffassung, dass der Ansatz, der hier vorgetragen worden ist - dass die zivile Komponente zu verstärken sei -, natürlich letztendlich das Eingeständnis ist, dass die militärische Komponente gescheitert ist, weil sie die Folgen hat, die ich vorhin hier zitiert habe. Man kann sich vor dieser Logik nicht wegdrücken. Wir bewirken das Gegenteil von dem, was wir eigentlich bewirken wollen. Dies wird durch die Erklärung der Dienste hier in der Bundesrepublik auch noch bestärkt. Es ist gerade in den letzten Tagen erneut gemeldet worden - wir haben immer wieder darauf hingewiesen -, dass die Dienste in der Bundesrepublik sagen: Der Kampfeinsatz in Afghanistan, den die Bundeskanzlerin gerechtfertigt hat, erhöht die Terroranschlagsgefahr in Deutschland. Ich frage hier für meine Fraktion: Ist es Aufgabe der Bundesregierung, durch ihr Handeln dafür Sorge zu tragen, dass sich die Terroranschlagsgefahr in Deutschland erhöht? ({10}) - Ja, es ist unglaublich, welche Politik Sie machen; da haben Sie völlig recht. Sie haben kein rationales Argument, um diese Politik überhaupt noch zu rechtfertigen. ({11}) Am Schluss sage ich noch etwas zu dem häufig vorgebrachten Argument, es handele sich hier um einen Hilfseinsatz, um eine humanitäre Intervention. Alle internationalen Organisationen, die sich in der Hilfe engagieren, weisen immer auf folgenden Sachverhalt hin: Mit viel weniger Geld könnte man ungleich mehr Menschen vor dem Tod durch Hunger und vor dem Tod durch Krankheit bewahren, ohne dass man einen einzigen anderen Menschen töten müsste. - Das ist das moralische Dilemma, in dem Sie stecken. Deshalb bleiben wir bei der These: Krieg ist kein Mittel der Politik. Ziehen Sie die Bundeswehr aus Afghanistan ab! ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung. ({0})

Dr. Franz Josef Jung (Minister:in)

Politiker ID: 11003781

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Lafontaine, lassen Sie mich eine Bemerkung zu Ihren Ausführungen machen. Wenn wir Ihrer Aufforderung folgen würden, dann - der felsenfesten Überzeugung bin ich - würde dies eine Gefährdung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, eine Gefährdung ihrer Sicherheit bedeuten, weil Afghanistan wieder zurückfallen würde: in den Status eines Ausbildungscamps für den Terrorismus und in die Herrschaft der Taliban. Dies wäre eine Bedrohung von Frieden, Freiheit und Sicherheit in unserem Land. Deshalb können wir im Interesse der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger Ihrer Aufforderung nicht Folge leisten. ({0}) Die Ereignisse vom Freitag haben auch deutlich gemacht, in welch schwieriger Situation unsere Soldatinnen und Soldaten diesen Einsatz für unsere Sicherheit leisten. Durch die bevorstehende Wahl und durch Debatten, die hier immer wieder geführt werden - dies registrieren die Taliban -, sind wir weiter in den Blickpunkt der Taliban gerückt. Wir sind in Gefechtssituationen herausgefordert. Wir mussten uns in Kampfhandlungen bewähren, um Sicherheit dort zu gewährleisten. Die Situation vom Freitag hat aus meiner Sicht auch gezeigt, welch konkrete Bedrohungslage dort für unsere Soldatinnen und Soldaten vorhanden war. Deshalb haben unsere Soldatinnen und Soldaten, die im Interesse unserer Sicherheit ihr Leben riskieren und einen derartigen Einsatz auf sich nehmen, unseren Dank und unsere Unterstützung verdient. ({1}) Deshalb halte ich es auch für richtig, dass wir in einer solch schwierigen Situation unseren Oberst, der die Entscheidung getroffen hat, nicht alleinstehen lassen, wenn voreilig von schweren Fehlern gesprochen wird. Wir haben gleichzeitig andere Informationen - Sie kennen sie wahrscheinlich - von dem Polizeichef von Kunduz, von dem Gouverneur von Kunduz, von dem Geheimdienstchef von Kunduz, von dem Chef der ANA, sprich: der Streitkräfte, von Kunduz und von dem Vorsitzenden des Provinzrats. Sie haben in ihrer Erklärung gegenüber dem Präsidenten festgestellt, dass bei dieser Situation Taliban und deren Verbündete getötet worden sind. Weil es jetzt auch andere Informationen gibt, ist es notwendig und richtig, dass wir alles daransetzen, unseren Beitrag zur sachgerechten Aufklärung zu leisten. Ich sage noch einmal: Wenn es zivile Opfer gegeben hat, fordert dies unsere Anteilnahme und unser Mitgefühl. ({2}) Wir werden uns auch darum kümmern, dass die Situation vor Ort geregelt wird. Das halte ich für einen wichtigen Punkt. Aber um Entscheidungen in dieser Richtung treffen zu können, muss erst das abschließende Untersuchungsergebnis vorliegen. ({3}) Wir hatten eine sehr konkrete Bedrohungslage im Hinblick auf unser Lager in Kunduz. Als unser Oberst erfahren hat, dass zwei Tanklastzüge durch Gewaltmaßnahmen in die Hände der Taliban gelangt sind - sie haben einen der Fahrer ermordet -, war ihm klar, dass dies auch eine sehr konkrete Gefahrenlage für unsere Soldatinnen und Soldaten bedeutete. Meine Damen und Herren, versetzen Sie sich einmal in diesen Abwägungsprozess und in diese Situation: Er hatte durch klare Aufklärungsmittel den eindeutigen Hinweis, dass es sich ausschließlich um regierungsfeindliche Kräfte handelt und dass vier Talibanführer dabei waren. Deshalb hat er eine Gefahr für unsere Soldatinnen und Soldaten gesehen. Stellen Sie sich einmal vor, welcher Schaden durch eine Detonation zweier solcher Tanklastwagen hätte angerichtet werden können. Wir haben das sehr konkret in Kabul gesehen. Mit der Entscheidung, die unser Oberst in dieser schwierigen Situation getroffen hat, ({4}) darf man ihn nicht alleinlassen. Ich finde, es ist richtig, wenn man unsere Soldatinnen und Soldaten in dieser schwierigen Situation unterstützt, statt sie mit Vorverurteilungen alleinzulassen. ({5}) Ich denke, dass es richtig und notwendig ist - ich habe auch mit General McChrystal darüber gesprochen -, dass wir in dieser Situation einerseits alles tun, um ordnungsgemäß aufzuklären, dass wir andererseits aber auch weiterhin gemeinsam im Rahmen von ISAF und NATO unseren Auftrag zur Gewährleistung von Stabilität und Sicherheit in Afghanistan erfüllen. Denn man muss auch sehen, welche Erfolge wir dort bereits erzielt haben. Wir dürfen nicht verkennen, was sich alles erheblich verbessert hat: die Bildungschancen junger Menschen, die Situation der Universitäten, die medizinische Versorgung, die Infrastruktur bis hin zu einer Informationsgesellschaft. Es geht schrittweise voran. Das gilt auch für die Unterstützung und Ausbildung der afghanischen Kräfte. Die vergangene Wahl ist nach 30 Jahren Bürgerkrieg die erste Wahl, die in Verantwortung der afghanischen Regierung und im Wesentlichen abgesichert durch afghanische Kräfte durchgeführt worden ist. Inzwischen führen die ANA-Streitkräfte 50 Prozent der Einsätze selbst durch. ({6}) Wir konnten bereits die Stadt Kabul in die Sicherheitsverantwortung Afghanistans übergeben. Die Tatsache, dass im Norden, in unserem Verantwortungsbereich, bis zu 60 Prozent der Bürgerinnen und Bürger zur Wahl gegangen sind, trotz der Drohung der Taliban, ihnen die Finger abzuhacken, wenn sie daran die blaue Tinte als Zeichen für die Teilnahme an der Wahl finden, ist ein Ausdruck von Mut der Bevölkerung und auch ein Beweis für Stabilität und zukünftige positive Entwicklung. ({7}) Ich kann nur unterstreichen, dass wir weiterhin unseren Beitrag zur Umsetzung der vernetzten Sicherheit leisten, um das Vertrauen der Menschen dort zu gewinnen. Als ich in diesem Jahr in Kunduz war, haben mir die Bürgerinnen und Bürger versichert, dass 90 Prozent der Bevölkerung an unserer Seite stehen. Wir werden auf der Afghanistan-Konferenz alles daransetzen, um eine klare Zielorientierung zu entwickeln - Ausbildung von Streitkräften und Ausbildung von Polizei -, damit Afghanistan selber in der Lage ist, für seine Sicherheit zu sorgen. Die Bundeswehr wird im Interesse der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger weiterhin ihren Beitrag leisten; denn dies ist für die Gewährleistung von Frieden und Freiheit gerade auch in unserem Land von entscheidender Bedeutung. Recht schönen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der nächste Redner ist Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Jung, Sie haben mit Ihrem, wie ich finde, recht hilflosen Auftritt hier eines belegt: ({0}) Die Informationspolitik dieser Bundesregierung zu Afghanistan ist ein Desaster. - Das sagt einer Ihrer Amtsvorgänger, Volker Rühe. ({1}) Überhaupt, liebe Frau Merkel, ist Ihr Umgehen mit Afghanistan eigentlich nur mit dem Wörtchen „verdruckst“ zu beschreiben. ({2}) Trotz dieses schwersten Zwischenfalls, den es gegeben hat, mussten Sie von der Opposition zu dieser Regierungserklärung getrieben werden. Sie mussten vor Jahren von uns dazu getrieben werden, endlich einmal unsere Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan zu besuchen. Ehrlich gesagt: Das ist beschämend. Eine offene Haltung hierzu wäre angemessen gewesen. ({3}) Das haben Sie heute nur mühsam versucht nachzuholen. ({4}) In Afghanistan führen die Taliban einen Bürgerkrieg. Für den Tod unschuldiger Zivilisten, für hinterhältige Morde sind in erster Linie sie verantwortlich. ({5}) Sie sind es, die das Völkerrecht nicht einhalten. Sie bringen den schmutzigen Krieg in die Dörfer. ({6}) Mit Blick auf Sie, Herr Lafontaine, sage ich: Dass es in Afghanistan Krieg gibt, heißt nicht, dass die Bundeswehr dort einen Krieg führt. ({7}) Ich will das mit einem Zitat belegen: Die Bundeswehr ist in Afghanistan nicht im Krieg … Sie arbeitet auf der Grundlage des völkerrechtlichen ISAF-Mandats zur Stabilisierung des Landes. ({8}) Das stammt von Wolfgang Nešković, dem Rechtspolitiker Ihrer Fraktion. Ich sage Ihnen: Wolfgang Nešković hat vollständig recht. Aber dann dürfen Sie hier nicht solche Reden halten, wie Sie sie gehalten haben. ({9}) Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr haben einen schwierigen Auftrag. Sie riskieren ihr Leben, und sie sollen das Leben Unschuldiger nicht gefährden. Das verdient Respekt und Anerkennung. Deswegen kann es in dieser Debatte nicht darum gehen, irgendwelche Schuldigen zu finden. Aber es geht in der Tat darum, die Fakten auf den Tisch zu legen. ({10}) Es kann nicht akzeptiert werden, dass diese Operation verniedlicht wird. Frau Merkel, es handelt sich hier nicht um irgendeinen Vorfall. Es handelt sich um einen Einschnitt, der deutlich machen kann und der in der Öffentlichkeit den Eindruck hat entstehen lassen, dass Deutschland in Afghanistan zu einer anderen - ich sage an dieser Stelle: zu einer falschen - Strategie übergegangen ist. Darum geht es. Wenn es zivile Opfer gegeben hat, dann muss man zu dieser Verantwortung auch stehen. Wie man damit anders als Herr Jung umgeht, hat der Oberkommandierende von ISAF, Stanley McChrystal, bewiesen. Er hat sich so verhalten, wie wir es uns lange gewünscht haben: Nach dem Vorfall hat er sich an den Ort des Geschehens begeben. Er hat mit den Opfern gesprochen. Er hat sich entschuldigt. Er hat sich also gemäß den neuen Einsatzrichtlinien für solche Zwischenfälle verhalten, die lauten: „apologize“, „compensate“, „investigate“ - entschuldigen, entschädigen und dann untersuchen. Das ist die richtige Reihenfolge, und die hätte ich mir auch von unserem Bundesverteidigungsminister gewünscht. ({11}) Wie sind Sie vorgegangen? Sie haben als Erstes die Unwahrheit gesagt. Sie haben behauptet, das Ganze habe sich in 40 Minuten abgespielt. Die Wahrheit ist: Es hat sechs Stunden gedauert. Es hat übrigens zwölf weitere Stunden gedauert, bis nach dem Bombardement Aufklärer vor Ort gewesen sind. Das ist das Ergebnis der Unterrichtung, die Sie uns heute in den Ausschüssen gegeben haben. Schließlich haben Sie gesagt, Sie seien sicher, es habe keine zivilen Opfer gegeben. Im Ergebnis geben Sie heute zu, dass eine solche Möglichkeit nicht auszuschließen ist. Ihr Grundsatz ist ein anderer als der, den die Amerikaner an dieser Stelle beherzigt haben. Ihr Grundsatz lautet offensichtlich: Vertuschen, leugnen und, wenn es gar nicht anders geht, sich für das entschuldigen, was man vorher bestritten hat. Diese Haltung macht die Akzeptanz dieses Einsatzes in der Bevölkerung, in diesem Deutschen Bundestag so unerträglich schwer. ({12}) Sie sind heute zu einer Belastung für die deutsche Afghanistan-Politik geworden. Sie haben mit Ihrer Haltung inzwischen dafür gesorgt, dass Deutschland in einen scharfen Gegensatz zu seinem engsten Verbündeten, den USA, geraten ist und dass im Rat der Außenminister diese Isolierung kollektiv kritisiert worden ist. Dass es durch den Bundesverteidigungsminister dazu gekommen ist, dafür tragen Sie, Frau Merkel, die Verantwortung. Über diesen Punkt muss man diskutieren. ({13}) Ich will an dieser Stelle etwas hinzufügen. Wir führen seit drei Jahren eine Debatte um den Begriff der vernetzten Sicherheit. Wir haben in diesem Haus einen ziemlich breiten Konsens, dass dies der richtige Ansatz ist, um Afghanistan zu stabilisieren. Nur müssen Sie sich nach drei Jahren der Diskussion und nach vier Jahren Regierungszeit die Frage gefallen lassen: Was ist mit dem Ansatz der vernetzten Sicherheit geschehen? Da stellen wir fest: Es ist zwar möglich, in Wochenfrist beispielsweise den Einsatz von AWACS-Flugzeugen, die dort noch gar nicht angekommen sind, freizugeben. Aber Sie sind nicht in der Lage gewesen, die Zahl der Polizistinnen und Polizisten auf das Maß zu bringen, das diese Regierung international zugesagt hat. ({14}) Das heißt, Sie reden von vernetzter Sicherheit; aber Sie setzen sie nicht um. Was sollen wir denn davon halten, wenn Sie heute in Ihrer Regierungserklärung sagen: „Ich habe mit Gordon Brown die Abhaltung einer internationalen Konferenz verabredet“? Wir hätten von Ihnen erwartet, dass Sie dem Parlament, der deutschen Öffentlichkeit im Rahmen einer Regierungserklärung in aller Deutlichkeit sagen, mit welchen Vorstellungen, mit welchen Maßnahmen und mit welchen Zeitplänen Sie, die Bundesregierung, zu dieser Konferenz gehen. Wir sind sehr wohl der Auffassung, dass es einer zeitlichen Abzugsperspektive genauso bedarf, wie es einer zeitlichen Aufbauperspektive bedarf. Aber von vernetzter Sicherheit und vom Afghan Compact zu reden und nicht eine einzige konkrete Maßnahme vorzuschlagen, ist die Ankündigung, mit dem fortzufahren, was Ihre Afghanistan-Politik der letzten Jahre gekennzeichnet hat, nämlich durchwursteln, um bloß nicht aufzufallen, weil Sie wissen, wie unpopulär das Thema ist. Das ist mit dem Geschehen am letzten Freitag geplatzt. ({15}) Ich sage Ihnen eines: Alle Argumente gegen die Linkspartei, die sagt, wir würden die Truppen sofort abziehen, dahin gehend, ein solches Vorgehen würde die26308 ses Land in einen Bürgerkrieg ganz anderen Ausmaßes stürzen, sind richtig. Es ist falsch, diese Forderung zu erheben. Aber ich sage Ihnen auch: Wenn Sie mit dieser Politik des Durchwurstelns so weitermachen, werden Sie am Ende genau da landen, wo die Linkspartei schon heute ist, nämlich in einem kopflosen Abzug, weil Sie die notwendigen Anforderungen für den zivilen Aufbau und für den Polizeiaufbau nicht auf die Reihe bekommen haben. Deswegen muss Schluss sein mit diesem Durchwursteln; denn das führt ins Chaos, auch in Afghanistan. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Eckart von Klaeden, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Herr Kollege Trittin, ich finde es außerordentlich bedauerlich, dass Sie wenige Tage vor der Bundestagswahl der Versuchung nicht widerstanden haben, die AfghanistanDebatte zu einer Wahlkampfdebatte zu machen. ({0}) Ich habe nichts dagegen, im Wahlkampf über Afghanistan zu sprechen. Aber die Art und Weise, wie Sie den Vorfall und seine Folgen vom letzten Freitag, die noch aufgeklärt werden müssen, als Tatsachen dargestellt haben, und wie Sie dies versucht haben in einen Vorwurf gegen die Bundesregierung umzuwandeln, ist in hohem Maße unseriös. ({1}) Sie hätten durchaus sagen können, dass nach all dem, was uns bisher an Erkenntnissen vorliegt, festzustellen ist, dass den beteiligten Soldaten, insbesondere dem Oberst, der den Befehl gegeben hat, keine Pflichtverletzung vorzuwerfen ist, dass die Informationen, aufgrund derer die Entscheidung getroffen wurde, ganz wesentlich auch aus amerikanischen Quellen stammen und dass die Wirkung der eingesetzten Waffe - ihm wurde eine andere vorgeschlagen - aufgrund der Entscheidung des deutschen Offiziers geringer ausgefallen ist. Diese Aspekte gehören zur Wahrheit dazu. Sie hätten sie erwähnen müssen, wenn es Ihnen tatsächlich um eine sachgerechte Beurteilung und nicht um Wahlkampf gegangen wäre. ({2}) Herr Lafontaine hat wieder einmal vorgeführt, wie man in der Debatte um den Afghanistan-Einsatz Ursache und Wirkung verwechseln kann. Es ist richtig: Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus ist gefährlich. Sie ist mit Gefahren verbunden, nicht nur in Afghanistan, sondern auch hier. Aber noch viel gefährlicher wäre es, den Forderungen der Terroristen nachzugeben und Afghanistan im Stich zu lassen. Lassen Sie uns einmal einen Blick auf die Ideologie derer werfen, die nicht nur die Bundeswehr und ihre Verbündeten in diesem internationalen Einsatz bekämpfen, sondern vor allem den Aufbau der islamischen Republik Afghanistan verhindern und untergraben wollen. Ihr Ziel ist es, alle sogenannten Ungläubigen vom muslimischen Boden zu vertreiben oder zu töten. Dabei befinden sich vor allem auch die moderaten Kräfte in der islamischen Welt in ihrem Fadenkreuz, weil sie aus Sicht dieser islamistischen Ideologen als Verräter gelten. Diese Terroristen hassen uns nicht für das, was wir tun, sondern für das, was wir sind. Deswegen dürfen wir hier nicht nachgeben. ({3}) Wenn wir uns jetzt unverrichteter Dinge aus Afghanistan zurückzögen, wäre das ein enormer Propagandaerfolg für al-Qaida. Es wäre auch eine enorme Schwächung der moderaten Kräfte in der islamischen Welt, mit denen wir gemeinsam Strukturen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufbauen wollen. Bin Laden behauptet, dass er in den Jahren von 1979 bis 1989 den ersten großen Satan, die UdSSR, niedergerungen habe. Er würde im Falle eines Rückzugs behaupten, er habe auch den zweiten großen Satan, nämlich die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten im Westen, niedergerungen. Dabei spielt es keine Rolle, von wem die Vereinigten Staaten regiert werden. Wir dürfen den Fehler, den die internationale Gemeinschaft in den 90er-Jahren gemacht hat, nämlich sich nicht weiter um Afghanistan zu kümmern, nicht wiederholen. In den 90er-Jahren hat in Afghanistan ein Bürgerkrieg getobt. In dieser Zeit ist in den Medressen, in den Koranschulen, im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet die Taliban-Bewegung - „talib“ heißt Schüler - entstanden. Den Taliban ist es mithilfe des pakistanischen Geheimdienstes in einem langjährigen Bürgerkrieg gegen die Nordallianz, die vom Iran und von Russland unterstützt wurde, gelungen, die Macht in Afghanistan zu ergreifen. Gerade diese Verhältnisse haben Afghanistan zu einem Rückzugsraum für internationalen Terrorismus werden lassen. Würden wir uns jetzt zurückziehen, bestünde die Gefahr, dass sich die Geschichte der 90er-Jahre wiederholt, dass es wieder zu einem solchen Bürgerkrieg kommt und dass wir dasselbe Chaos, dieselben Gefahren zu gewärtigen hätten, allerdings unter wesentlich schlimmeren Voraussetzungen; denn damit wäre ein propagandistischer Erfolg für al-Qaida verbunden. Die Auswirkungen auf extremistische Kräfte in der muslimischen Welt wären unvorstellbar. Wir würden aber auch noch mehr Schwierigkeiten mit der Stabilisierung Pakistans bekommen. Pakistan zu stabilisieren, ist schon heute eine sehr schwierige Aufgabe; wenn Afghanistan verloren ginge, wäre sie nahezu unmöglich. Pakistan ist eine Nuklearmacht. Erinnern wir uns an die Ereignisse der letzten Monate und Jahre, die wir in Pakistan haben zur Kenntnis nehmen müssen: die Kämpfe um die Rote Moschee, die Ermordung von Benazir Bhutto, den Anschlag auf das Marriott-Hotel, die Anschläge in Bombay auf das Taj-Mahal-Hotel und andere Hotels sowie den Anschlag auf die sri-lankische Kricketnationalmannschaft in Lahore. All diese Terroranschläge haben in Pakistan und im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet ihren Ursprung. Wer sich in den letzten Tagen und Wochen die Zeit genommen hat, den Prozess um die Sauerlandgruppe zu verfolgen, der hätte zur Kenntnis nehmen können, dass einerseits die Erfolge in Afghanistan so groß sind, dass für die Terroristen heute das Wirken in diesem Grenzgebiet wesentlich schwieriger ist als vor einigen Jahren, dass die Netzwerke aber nach wie vor vorhanden sind. Deutsche Muslime sind in dieses Grenzgebiet gereist, um sich dort ausbilden zu lassen, um in Tschetschenien, im Irak oder bei uns Anschläge zu verüben. Es ist richtig: Wir sind in Afghanistan noch lange nicht am Ziel. Aber zu unserer Strategie der Stabilisierung gibt es keine Alternative. Unser Einsatz ist nicht auf Dauer, sondern auf Verlässlichkeit und Erfolg ausgerichtet. ({4}) Die Wahlen, die vor wenigen Wochen in Afghanistan stattgefunden haben, sind bei allen Defiziten ein beeindruckendes Beispiel für den Fortschritt im Land. Die afghanischen Präsidentschaftswahlen haben bei allen Gefahren, denen die Wählerinnen und Wähler ausgesetzt waren, mit einer höheren Beteiligung stattgefunden als die Europawahlen in Deutschland. Sie sind weniger blutig gewesen als die Parlamentswahlen 2004 in Spanien. Sie sind freier gewesen als die Präsidentschaftswahlen im Iran oder in Russland. ({5}) Das ist ein enormer Fortschritt für Afghanistan, den wir nicht aufgeben dürfen. Deswegen ist es falsch, vordergründig über Abzugspläne oder gar über Daten zu sprechen; das würde den Taliban nur deutlich machen, wie lange sie durchhalten bzw. stillhalten müssten. Wir dürfen an unserer Verpflichtung, zu dem Erfolg des Einsatzes in Afghanistan beizutragen, keinen Zweifel lassen, und zwar weil es sich nicht in erster Linie um eine humanitäre Intervention handelt, sondern weil es vor allem um unsere eigene Sicherheit geht. Für diese Verlässlichkeit steht diese Bundesregierung und, so hoffe ich, auch die Bundesregierung nach dem 27. September. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Gert Winkelmeier. ({0})

Gert Winkelmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003864, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Aussage des Bundesministers der Verteidigung heißt seit 2005: Die Bundeswehr befindet sich in Afghanistan in einem Stabilisierungseinsatz, nicht aber in einem Krieg. Weder das ungläubige Kopfschütteln seiner Soldaten vor Ort noch die seit 2005 steigende Zahl der Gefallenen, Traumatisierten und körperlich Verwundeten, ganz zu schweigen von der ständig zunehmenden Zahl der Opfer in der afghanischen Zivilbevölkerung, haben an dieser Aussage etwas geändert. Es ist armselig, Herr Jung, dass Sie immer noch nicht zur Kenntnis nehmen, dass sich unser Land in Afghanistan in einem Krieg befindet. ({0}) Vor Wochen diskutierten wir im Verteidigungsausschuss, dass nach Möglichkeit keine Luftunterstützung angefordert werden soll, weil dann sogenannte Kollateralschäden unvermeidlich sind. Nun gab es die Bombardierung der Tanklastzüge. Die Folge ist, dass viele zivile Opfer zu beklagen sind. Die Washington Post war scheinbar besser informiert als der deutsche Verteidigungsminister. Gemessen am ursprünglichen Auftrag der Bundeswehr, die Köpfe und Herzen der Afghanen zu gewinnen, ist der jetzige Zustand eine blanke Katastrophe. ({1}) Mit der Weigerung, die Kritik unserer Partner anzunehmen, blamieren Sie sich. Herr Minister, Sie betreiben reine Selbstverteidigung, weil Sie Angst haben, dass nun das eintritt, was Sie unter allen Umständen vermeiden wollten, nämlich dass der von zwei Dritteln der Deutschen abgelehnte Afghanistan-Einsatz zum Wahlkampfthema wird. Anstatt sich dem Thema offen zu stellen, vermitteln Sie der Öffentlichkeit ein Bild des Jammers, das Bild eines Realitätsverweigerers. ({2}) Es ist doch eine Schande, dass es eines derartig hohen Blutzolls bedarf, um in unserem Land über Krieg und Frieden und die Rolle der Bundeswehr zu debattieren. Lassen sie mich etwas zu der Entscheidung des örtlichen deutschen Kommandeurs sagen: Tankwagen sind nicht geländefähig. Sie können nur auf befestigten Straßen gefahren werden. Das Lager Kunduz hätte also auf den befestigten Zugangsstraßen mit ganz einfachen Mitteln gegen die vermeintliche Gefahr geschützt werden können. 2 000 Meter vor dem Lager postiert, hätten ein Schützenpanzer oder ein paar Maschinengewehre gereicht, um die Umwidmung dieser Lastwagen in Angriffswaffen zu unterbinden. ({3}) Zudem standen diese Lastwagen ständig unter Luftbeobachtung. Ich sage aber auch: Für diese schlechte Leistung ist als letztes Glied in der Kette nicht allein dieser Kommandeur haftbar. Nein, und das muss in aller Klarheit gesagt werden: Die Hauptverantwortung tragen diejenigen, die im Deutschen Bundestag immer der Verlängerung des ISAF-Mandats zugestimmt haben. Das ist die Wahrheit. ({4}) Jeder in unserem Land kann auf der Webseite des Bundestages die namentlichen Abstimmungen aufrufen und nachlesen, wer zugestimmt hat. Auch das sage ich Ihnen: Dieser Vorfall ist nicht die letzte Stufe der Eskalation der Gewalt. Das ist eine neue Qualität. Ich bin sicher, dass sich der nächste Bundestag mit diesen Gewalttaten noch öfter auseinandersetzen muss. Wenn nicht endlich umgedacht wird, gerät Deutschland immer tiefer in den Sumpf eines nicht gewinnbaren Krieges. Ziehen Sie die Bundeswehr so schnell wie möglich aus Afghanistan ab! Das wäre die Lösung. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Merten für die SPD-Fraktion. ({0})

Ulrike Merten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003192, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Nur mit einem konstitutiven Beschluss des Deutschen Bundestages kann die Bundeswehr auf Antrag der Bundesregierung in bewaffnete Auslandseinsätze entsendet werden. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz ist hierfür die rechtliche Grundlage. Das ist aber lediglich die formale Ebene. Sie ist wichtig, aber hinter dem Parlamentsbeteiligungsgesetz und dem Umstand, dass das Parlament zustimmen oder ablehnen kann, steht für jede Bundesregierung natürlich auch die Notwendigkeit, das Parlament vor einer Antragstellung soweit wie möglich einzubeziehen und zu hören, inwieweit das Parlament bereit und in der Lage ist, mitzugehen. Wenn das gelingt, hat das im besten Fall zur Folge, dass es einen lange andauernden und über alle Parteigrenzen hinwegreichenden Konsens gibt. Deshalb ist die im Parlamentsbeteiligungsgesetz verankerte Pflicht der Bundesregierung, das Parlament über alle Vorfälle im Verlauf eines Einsatzes zu informieren, eine weitere wichtige Grundlage dafür, dass einem im Laufe eines Einsatzes sozusagen nicht das Parlament verloren geht und der Rückhalt, den die Soldaten brauchen, nicht schwindet. Herr Minister, ich will hier deutlich sagen - ich habe das auch an anderer Stelle getan -: Es wäre gut gewesen, wenn Sie dies berücksichtigt und das Parlament frühzeitig eingebunden hätten. Natürlich sind wir durch eine schriftliche Information einbezogen gewesen; das ist auch in Ordnung. Aber darüber hinaus mussten wir in der Zeitung lesen, dass Sie, Herr Minister, und auch der Parlamentarische Staatssekretär Kossendey sich sehr ausführlich über Details geäußert haben. Das ist immer schlecht; das Parlament sollte sich das - ich finde: zu Recht - nicht gefallen lassen. Wie sollen wir den Bundeswehreinsatz in Afghanistan, den ich hier nur stellvertretend für unser Engagement im Ausland nenne, den Bürgerinnen und Bürgern erklären, ja, sie davon überzeugen, wenn nicht in jedem Fall versucht wird, uns als Partner zu gewinnen? Ich meine damit keine Komplizenschaft, sondern den Rückhalt, den, glaube ich, jede Bundesregierung in einer solchen Frage braucht. Wie soll eine breite öffentliche Debatte über unsere Sicherheits- und Verteidigungspolitik entstehen, wenn der Informationsstrom und die Überzeugungsarbeit bereits an der Quelle versiegen? ({0}) Herr Minister, indem ich - das will ich betonen - den Diskurs verhindere, ernte ich nur kurzfristig eine trügerische Ruhe und keine Ruhe oder Gelassenheit der Akzeptanz für unser Tun. Die Bundeskanzlerin, Sie, Herr Minister, der Bundesaußenminister und andere haben in der Debatte zu Recht darauf hingewiesen, dass wir in Afghanistan sind, nicht weil wir verhindern wollen, dass die Frauen dort Burka tragen müssen, sondern weil Afghanistan nicht wieder zum Rückzugsort für Terroristen werden soll. Gleichzeitig dient unser Engagement dort der Sicherheit der Menschen unseres Landes. Ich sage auch ganz klar: Diese Wahrheit mit Leben zu füllen, bedarf nicht nur einer jährlichen Bundestagsdebatte über die Verlängerung des Mandats; dies muss immer und immer wieder erklärt werden. Ich glaube, es wäre gut, wenn wir uns ehrlich vor Augen hielten: Hier sind wir weniger vorangekommen, als wir es uns wünschen und es notwendig ist, um die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes davon zu überzeugen, dass das, was wir in Afghanistan tun, keine Verschwendung ist, sondern dass wir es auch für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes tun. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind heute Morgen im Verteidigungsausschuss und im Auswärtigen Ausschuss über die Aspekte, die zu berücksichtigen sind, informiert worden. Ich sage ganz deutlich: Das Bild, das sich uns daraus ergeben hat, lässt aus meiner Sicht immer noch keine voreiligen Schlüsse zu. Vielmehr sollten wir abwarten, bis die Untersuchungen abgeschlossen sind. Ich wundere mich schon sehr - auch nach der Information heute Morgen in den Ausschüssen -, über welche Erkenntnisse einige verfügen, die mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass das Gebot der Verhältnismäßigkeit verletzt worden ist, und die schon ausmachen können, dass hier gravierende Fehler begangen worden sind. Unsere Soldaten, die im Raum Kunduz eingesetzt sind, haben einen gefährlichen und schweren Auftrag zu erfüllen. Sie sind tagtäglich mit konkreten Gefährdungen für Leib und Leben der Afghanen, aber auch für sich selbst konfrontiert. Sie müssen zum Teil sehr weitreichende Entscheidungen treffen. Sie haben alles Recht darauf, dass dies bei der Kommentierung und Bewertung berücksichtigt wird. Ich sage ganz deutlich: Wir müssen berücksichtigen, dass da, wo Menschen handeln, Fehler gemacht werden können. Dies liegt letzen Endes in der Natur der Sache. Jeder hat das Recht, vor voreiligen Verurteilungen geschützt zu werden. Inzwischen ist es wahrscheinlich, dass auch zivile Opfer zu beklagen sind. Die Bilder, die uns am Wochenende aus dem Krankenhaus von Kunduz erreichten, können niemanden gleichmütig lassen. Ich bin überzeugt, dass die Bundesregierung zusammen mit unseren PartUlrike Merten nern auf die Betroffenen und die Familien der Opfer zugehen wird. Ich will abschließend sagen: Die Bundeswehr hat mit der Art und Weise ihres Auftretens und Vorgehens stets das Ziel verfolgt, für die Menschen in Afghanistan zu wirken. Sie will nicht als Besatzer auftreten, sondern als Unterstützer für den Wiederaufbau. Vor diesem Hintergrund kommt dem Vorfall am letzten Freitag eine große Bedeutung zu, nicht weil wir von unserer bisherigen Strategie abgewichen wären, sondern weil wir befürchten müssen, dass die vorschnellen Kommentierungen und Einreden letzten Endes auf fruchtbaren Boden fallen und wir dadurch zunehmend unter Druck geraten. Deswegen ist es so wichtig, dass wir das, was am letzten Freitag passiert ist, mit großer Transparenz aufklären. Wir müssen Afghanistan auf dem Wege zu Stabilität und Sicherheit weiterhin helfen und an unserer nach wie vor richtigen Strategie festhalten. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Thomas Silberhorn, CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Hoffnung dieses Sommers war, dass mit der Präsidentschaftswahl und der Ernennung einer neuen afghanischen Regierung zumindest ein kleiner Fortschritt in Richtung einer weiteren Stabilisierung des Landes gelingen könnte. Stattdessen diskutieren wir heute über Bomben auf zwei Tanklastzüge, durch die möglicherweise auch Zivilisten ums Leben gekommen sind. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen aller Opfer. Ich begrüße, dass vonseiten der Regierung schon angekündigt worden ist, den Gesprächsfaden mit ihnen aufzunehmen. Es gab in den letzten Wochen und Tagen immer wieder Warnungen vor gezielten Anschlägen gegen die Bundeswehr in Afghanistan im Vorfeld der Bundestagswahl. Deswegen möchte ich darauf hinweisen: Die erschreckend hohe Zahl von Toten zeigt auch die Dimension der Gefährdung, der unsere Soldaten vor Ort in Afghanistan ausgesetzt sind, wenn solche Tanklastzüge als Waffen missbraucht werden. Vor diesem Hintergrund muss man diese Situation betrachten. Deswegen sind wir gut beraten, die genauen Ergebnisse der noch laufenden Untersuchungen abzuwarten, bevor wir eine Bewertung des Vorfalls vornehmen. Das gilt auch für unsere NATOPartner. Denn wer jetzt versucht, in der NATO Politik auf dem Rücken der Bundeswehr zu machen, der schadet nicht nur dem gemeinsamen Bündnis, sondern gefährdet auch alle, die in Afghanistan nach wie vor im Einsatz sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Engagement in Afghanistan bietet keinen Platz für vorschnelle Verurteilungen und wahltaktisch motivierte Polemiken. Denn eines hat die heutige Debatte gezeigt: Alle, die Kritik geübt haben, haben nicht einen Deut etwas dazu sagen können, wie wir es besser machen und unsere Strategie modifizieren könnten, um schneller zu Ergebnissen zu kommen. Wer meint, er müsse an dieser Debatte sein Mütchen kühlen, der wird nicht nur den deutschen Soldaten in Afghanistan, sondern auch der afghanischen Bevölkerung, die auf die internationale Gemeinschaft vertraut, nicht gerecht. Vor allem wird er der deutschen Öffentlichkeit nicht gerecht, die von uns wissen möchte, wie wir in Afghanistan vorgehen. ({0}) Ich begrüße, dass die Bundeskanzlerin heute angekündigt hat, sich für eine weitere internationale Afghanistan-Konferenz einzusetzen. Wir müssen allerdings darauf hinwirken, dass eine solche Konferenz tatsächlich zu Ergebnissen kommt und eine internationale Strategie verabredet wird, die den Einstieg in den Ausstieg aus diesem Einsatz ermöglicht. Die Frage ist nicht, ob wir unsere Truppen aus Afghanistan abziehen - sie werden dort nicht ewig bleiben -, sondern die Frage ist, wie und wann wir das tun. Wir müssen die Rahmenbedingungen vor Ort so setzen, dass die Bundeswehr keinen Tag länger als unbedingt notwendig in Afghanistan bleibt. Wir haben in diesem Zusammenhang eine Reihe von Dingen bereits verwirklichen können. Wir haben von dem hehren Ziel, in Afghanistan eine Demokratie nach westlichem Vorbild einzuführen, Abstand genommen und gesagt: Wir müssen unser Engagement darauf konzentrieren, die Lage in Afghanistan so zu stabilisieren und die Sicherheitskräfte so auszubilden und auszustatten, dass wir die Verantwortung in Afghanistan in die Hände der Verantwortlichen vor Ort legen können. Dazu ist es notwendig, dass auch die staatlichen Strukturen, Verwaltung und Justiz in Afghanistan auf die Beine kommen; denn von außen allein wird dieser Einsatz nicht gelingen. An diesem Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, halte ich es für notwendig, dass wir in unserer Strategie einen Wechsel vollziehen. Es reicht nicht aus, dass wir in deutschen Legislaturperioden und in den Vorgaben, die wir international vereinbaren, denken. Wir müssen auch den Zeitplan der Afghanen im Blick haben. Wir müssen die Ziele, die wir uns setzen, mit den Beteiligten in Afghanistan, und zwar mit allen Beteiligten, vereinbaren. Ich halte es für notwendig, dass wir der neuen afghanischen Regierung klare und nachprüfbare Vorgaben machen, was sie bis wann erreicht haben muss, um Verwaltung und Justiz zu reformieren sowie um organisierte Kriminalität und den Drogenanbau zu bekämpfen. Das muss eine gemeinsame Aufgabe sein. Wir müssen unseren Partnern in der afghanischen Regierung klar sagen, was wir von ihnen erwarten. ({1}) Diese Zielvorgaben müssen wir noch in der laufenden Periode des afghanischen Parlaments bereden, das im Sommer nächsten Jahres neu gewählt werden soll. In der dann beginnenden Legislaturperiode muss das afghanische Parlament die Voraussetzungen schaffen, die wir brauchen, um unsere Ziele in Afghanistan zu erreichen. Ich sage ein Letztes: Wir müssen die Ziele auch mit Vertretern der Taliban, mit den paschtunischen Stämmen, mit den Gouverneuren vor Ort vereinbaren. Denn wie immer wieder richtig kommentiert worden ist: Jeder Konflikt endet mit Verhandlungen, jeder Konflikt endet dann, wenn es gelingt, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. Auch in diese Richtung müssen wir denken. Wir dürfen nicht nur selber Ziele setzen, sondern wir müssen mit den Verantwortlichen auf allen Seiten vereinbaren, welche Ziele in der nächsten Legislaturperiode erreicht werden müssen, damit die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass wir uns mit unserem militärischen Engagement schrittweise zurückziehen und auf den zivilen Aufbau des Landes setzen können. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt und rufe nun den Tagesordnungspunkt 1 auf: Vereinbarte Debatte Zur Situation in Deutschland Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. Auch hierzu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundeskanzlerin, Frau Dr. Merkel. ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die zentrale Frage, vor der wir in den nächsten Monaten und Jahren stehen, heißt: Wird Deutschland es schaffen, nachhaltig gestärkt aus der Krise zu kommen, oder werden andere auf der Welt unseren Platz einnehmen, weil wir es versäumen, die Quellen unseres Wohlstands von Morgen zu finden und zu nutzen? Denn eines ist klar: In dieser internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise werden die Karten auf der Welt neu gemischt. Alle Länder versuchen, ihre Position zu verbessern. Das haben wir bei der Struktur der Konjunkturprogramme erlebt. Deshalb ist es wichtig, dass wir unsere Aufstellung, die Aufstellung der Bundesrepublik Deutschland für die Zukunft, finden. ({0}) Es sei mir ein kurzer Rückblick gestattet. Gestern haben wir in Bonn des Ereignisses gedacht, dass dort vor 60 Jahren der Deutsche Bundestag zum ersten Mal zusammengetreten ist. Das geschah damals in einem völlig zerstörten Land. Es war nicht sicher, ob die Aufbauarbeit gelingen wird. Sie gelang, Schritt für Schritt, und im Rückblick bezeichnen wir diese Zeit als die Zeit des Wirtschaftswunders. Ich erinnere auch an den September vor 20 Jahren. In jenem September begannen die Montagsdemonstrationen, und die Flüchtlingsströme in Richtung Westen wurden immer größer. Niemand wusste damals, ob sich die Zukunft zum Besseren wenden würde. Die Freiheit hat gesiegt, und wir sind heute ein einiges Vaterland. Auch der Aufbau der neuen Bundesländer gelang, Schritt für Schritt und manchmal langsamer, als wir dachten; aber es ist geschafft. ({1}) Im September vor einem Jahr, vor fast genau zwölf Monaten, führte der Fall der US-Bank Lehman Brothers beinahe zu einem Zusammenbruch des internationalen Finanzsystems. Diesen Tag und die darauffolgenden Tage hat manch einer mit den Worten „Wir haben in den Abgrund geblickt“ beschrieben. Das ist bildhaft beschrieben, aber es ist richtig. Seitdem sind wir in der schwersten Wirtschaftskrise, die die Bundesrepublik Deutschland in ihrer 60-jährigen Geschichte erlebt hat. Wir hatten während der Erdölkrise in den 70er-Jahren einmal einen Einbruch des Wirtschaftswachstums auf minus 0,9 Prozent - und sonst immer positive Wachstumsraten. In diesem Jahr werden es minus 5,5 Prozent bis minus 6 Prozent sein. Aber - das ist die gute Botschaft - wir können immer klarer sehen: Offensichtlich ist die Talsohle erreicht. Das Bankensystem ist vor dem Zusammenbruch bewahrt worden, die sozialen Sicherungssysteme in unserem Lande haben gehalten, die Betriebe leisten Großartiges, und die Politik hat Handlungsfähigkeit bewiesen. Dennoch sage ich angesichts dieser Debatte auch mit Blick auf die Zukunft: Es wird noch ein langer Weg sein, bei der Wirtschaftskraft wieder das zu erreichen, was wir vor der Krise bereits erreicht hatten; denn auch 0,3 Prozent Wachstum im letzten Quartal können angesichts eines Einbruchs auf minus 6 Prozent natürlich längst nicht das Ende der Krise bezeichnen. Wir haben aber auch erlebt: Deutschland ist stark, Deutschland ist stabil. Das ist das Deutschland des Jahres 2009, und das Deutschland des Jahres 2009 ist stärker als das Deutschland des Jahres 2005. ({2}) Wir können erst einmal festhalten, dass wir bei der Meisterung dieser Krise viele Antworten auf Fragen gefunden haben, die uns sicherlich zu allen Zeiten beschäftigen, zum Beispiel, ob der Staat in solchen Krisensituationen überhaupt eingreifen und eine aktive Wirtschaftspolitik machen darf oder nicht. Das ist ja viel diskutiert worden. Ich finde, es ist klar: Er darf es nicht nur, er muss es in bestimmten Situationen tun. ({3}) Die zweite Frage, die sich immer wieder gestellt hat und die wir immer wieder diskutiert haben, ist die Frage, ob der Staat nicht eigentlich der bessere Unternehmer wäre. Ich sage klar: Er ist es nicht, und er wird es niemals werden. Unternehmen haben ihren eigenständigen Wert. ({4}) Ich glaube auch, der Streit, welche Partei sich nun am meisten für den Erhalt von Arbeitsplätzen einsetzt, ist ein Streit, den wir nicht zu führen brauchen; denn alle, die wir hier sitzen, haben ihre Vorstellungen davon, wie man Arbeitsplätze schaffen kann. Der Streit geht um die Frage, wie wir das schaffen und welche Konzepte wir dafür für richtig halten. Ich finde, es haben sich drei Stärken als Fundament für die Zukunft unseres Landes erwiesen: Das sind zuallererst die Menschen, die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Sie haben in dieser Krise zusammengehalten, ob in den Betrieben, bei den Belegschaften, in den Unternehmen, bei den Managern oder auch in den Eigentumsunternehmen und Familienunternehmen. Viele sind jeden Abend mit Sorgen ins Bett gegangen und haben nachts vielleicht nicht schlafen können. Sie haben sich aber immer wieder dafür entschieden, die Beschäftigten zu halten und nicht leichtfertig aufzugeben. Dafür ein herzliches Dankeschön. ({5}) Die Betriebsräte haben genauso verantwortlich gehandelt. Man hätte protestieren können. Die unternehmerische Vernunft hat sich durchgesetzt, auch bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Man hat in vielen Fällen zusammengehalten. Die zweite Stärke unserer Wirtschaft ist, dass sich der Mittelstand als besonders stabil erwiesen hat. Er hat es nicht einfach, aber er hat sich als das Rückgrat unseres Landes erwiesen. Das, was seit der Schaffung der sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard immer unser Credo war, dass nämlich die Wettbewerbsbeschränkung dazu da ist, dass kleine und große Unternehmen des Mittelstandes in einem fairen Wettbewerb miteinander agieren können, hat sich in dieser schwierigen Situation als die Stärke unseres Landes herausgestellt. Ohne überheblich zu sein, dürfen wir drittens sagen: Auch die politischen Institutionen unseres Landes haben sich als handlungsfähig erwiesen. Bundesregierung, Verwaltung, Bundestag, Bundesrat: Sie alle - ich schließe die Kommunen mit ein - haben ihre Handlungsfähigkeit bei der Umsetzung des Infrastrukturprogramms gezeigt. Wir können stolz auf das sein, was unser Land in den letzten zwölf Monaten geleistet hat. ({6}) Am Anfang sind wir viel dafür kritisiert worden - gerade auch international -, wie wir unsere Konjunkturprogramme anlegen. Inzwischen gibt es ein breites Nachahmungsprogramm, ob es die Kurzarbeit, die Umweltprämie für Autos oder alle Versuche der Stabilisierung des Binnenmarktes sind. Die Maßnahmen werden in vielen europäischen Ländern und auch in den Vereinigten Staaten von Amerika angewandt. Unser Programm war also richtig, inklusive des Infrastrukturprogramms für die Kommunen - was die Bauwirtschaft in diesen Tagen auch bestätigt -, und wir sagen: Wir arbeiten für die Zukunft. Wir machen aus dieser Krise eine Chance. Wir machen etwas Positives aus dieser Krise. Ein Thema, das uns auch in den nächsten Monaten beschäftigen wird, ist die Kreditklemme. Viele Unternehmen haben Angst. Unternehmen, die lange Jahre eine stabile Basis hatten, bekommen heute nur unter sehr schwierigen Bedingungen von den Banken Kredite. Hier kommen viele Effekte zusammen, aber ich möchte an dieser Stelle auch noch einmal die Banken und Finanzinstitutionen unseres Landes auffordern, ihrer Aufgabe endlich wieder ein Stück mutig und verantwortungsvoll zu entsprechen. ({7}) Es war auch richtig, in unserem Konjunkturprogramm ein großes Kredit- und Bürgschaftsprogramm aufzulegen. Wir haben jetzt erste Erfahrungen mit diesem Programm. Ich kann nur sagen: Es hat sich herausgestellt, dass wir selbstverständlich jedes Unternehmen gleich behandeln. Wir behandeln die kleineren und die mittelständischen Unternehmen genauso wie die großen, und wir können von den etwa 4 Milliarden Euro, die im August ausgereicht worden sind, sagen, dass zwei Drittel der Gelder - gemessen an der Zahl der Unternehmen ist es ein viel größerer Anteil; dort sind es über 99 Prozent von mittelständischen Unternehmen in Anspruch genommen werden und sie die Genehmigung bekommen werden. Jedes Unternehmen hat in unserem Land die gleiche Chance. Alle Unternehmen werden von uns gleich behandelt. ({8}) Ich will aber hier keinen Rückblick machen, sondern nur an einem Faktum aufzeigen, dass wir in den letzten vier Jahren vorangekommen sind. Trotz der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise haben wir derzeit immerhin noch 1,25 Millionen mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse als Ende 2005. Das ist ein Erfolg der Großen Koalition. Das stabilisiert unsere sozialen Sicherungssysteme. ({9}) Allen Unkenrufen zum Trotz haben sich unsere sozialen Sicherungssysteme als stabil erwiesen. Am Anfang unserer Regierungsarbeit sah es so aus, als hätten wir im Rentensystem eine Lücke von 2 bis 3 Milliarden Euro. Durch die verbesserte Beschäftigungslage haben wir im Rentensystem heute Rücklagen von 15 Milliarden Euro. Der Gesundheitsfonds, der so vielfältig kritisiert wird, hat sich als ein ausgesprochener Stabilisator in dieser schwierigen Situation erwiesen. Das wird auch in Zukunft der Fall sein. ({10}) - Klatschen Sie lieber, Herr Stiegler, als dass Sie sich aufregen! ({11}) Sie sind doch der Meinung, dass der Gesundheitsfonds eine tolle Sache ist. Klatschen Sie! Das wäre doch viel besser. ({12}) Meine Damen und Herren, worum geht es in der Zukunft? Ich glaube, wir haben in den letzten Monaten erfahren, dass die soziale Marktwirtschaft als unsere gesellschaftliche Ordnung das richtige Wertefundament für eine zukunftsfähige Wirtschaft ist. ({13}) Sie gibt uns die Maßstäbe und Möglichkeiten, auch im Rahmen dieser sozialen Marktwirtschaft Weiterentwicklungen vorzunehmen und auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu reagieren. Ich will an dieser Stelle deutlich machen: Es war richtig, dass wir uns mit der Vergütung von Managern befasst haben. ({14}) - Ich weiß ja, dass Sie weitergehende Vorstellungen hatten, Herr Poß. Ich kann Ihnen Folgendes sagen - darüber werden wir uns wahrscheinlich jetzt nicht mehr einig werden -: ({15}) Wenn Sie zum Beispiel die Versteuerung ab einem Verdienst von 1 Million Euro fordern und glauben, damit würden Sie dem Problem gerecht werden, ({16}) dann kann ich Ihnen nur sagen, dass man das in Amerika gemacht hat. Das hat zu einer extensiven Verwendung von Boni geführt, über die wir jetzt wieder sprechen, und wir versuchen, sie zu unterbinden. ({17}) Das ist doch der Punkt. Das alleine hilft doch nicht. Darin sind wir halt unterschiedlicher Meinung, aber einiges haben wir zustande gebracht. ({18}) Wir haben seitens der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen Mindestanforderungen für Boni definiert, die ihresgleichen suchen. Natürlich spüren wir alle, selbst wenn wir in einigen Fragen unterschiedlicher Meinung sind - das ist auch gut so; wenn wir jetzt im Wahlkampf sind, können wir uns unterscheiden -, dass die Frage nach Managervergütungen und Bonuszahlungen etwas mit dem tiefen Empfinden der Menschen für Gerechtigkeit in der sozialen Marktwirtschaft zu tun hat. ({19}) Deshalb sind wir wahrscheinlich gemeinschaftlich der Meinung - hier helfen Ihre Forderungen nicht weiter -, dass zum Bespiel eine Bezahlung von Herrn Eick für sechs Monate Arbeit mit einem Fünfjahresvertrag nicht das ist, was dem Gerechtigkeitsgefühl der Menschen entspricht. Ich bin dabei, zu überlegen, wie zum Beispiel verhindert werden kann, dass man Gehälter für fünf Jahre bekommt, wenn man keine sechs Monate gearbeitet hat. Das halte ich für sinnvoller als eine schärfere Besteuerung von Managergehältern. ({20}) Die zweite Lehre ist, dass wir in Zukunft unsere Wirtschaftsweise stärker auf Nachhaltigkeit ausrichten müssen. ({21}) Deshalb halte ich es für außerordentlich wichtig - ich will ein Lob für uns alle äußern; ({22}) das hat bislang keiner in der Welt nachgemacht -, dass wir, Bund und Länder, die Kraft aufgebracht haben, eine Schuldenbremse für die Zukunft im Grundgesetz zu verankern und uns zu einer nachhaltigen Haushaltsführung zu verpflichten. Ich danke allen, die dabei mitgewirkt haben. ({23}) Ich sehe einen dritten Punkt, wenn es um die Zukunft unserer Wirtschaft geht. Wir können stolz darauf sein und uns darüber freuen, dass wir breit aufgestellt sind, dass wir eine breite Industriestruktur haben. In der jetzigen Krise hat sich gezeigt, dass die Länder, die sich einseitig orientieren und keine Vielfalt haben, sehr viel schwerer betroffen sind. Ich sage für die Zukunft: Sollte es einen ernsthaften Streit über Industriegesellschaft und Dienstleistungsgesellschaft gegeben haben, müssen wir ihn aufgeben. Wir brauchen beide. Beide müssen Säulen unseres zukünftigen wirtschaftlichen Erfolgs sein. ({24}) Deshalb ist die Debatte, ob wir weg von der Position müssen, vorne beim Export und sogar Exportweltmeister zu sein, natürlich falsch. Wir müssen alles daran setzen, innovative Produkte zu haben, um den Export als eine der wirklich wichtigen Säulen unserer Wirtschaft zu stärken. Aber richtig ist auch, dass wir gleichzeitig darauf achten müssen, dass sich der Dienstleistungsbereich entwickeln kann. So ist es richtig, darauf zu setzen, dass wir im Maschinenbau und der Feinmechanik stark sind sowie den modernen Fahrzeugbau nach vorne bringen. Deshalb haben wir in unserem Konjunkturprogramm zum Beispiel die Elektromobilität gefördert. Deshalb haben wir, die Bundesregierung, einen Plan bzw. ein Konzept, das weit über diese Legislaturperiode hinausreicht, aufgestellt, aus dem hervorgeht, wie wir die Elektromobilität nach vorne bringen. Wir werden mit den betreffenden Unternehmen sprechen müssen und sie darauf aufmerksam machen, dass sie in einer so wichtigen Frage zusammenarbeiten müssen; denn es nutzt uns nichts, wenn jeder deutsche Automobilproduzent mit einem anderen Anbieter zusammenarbeitet, um die Batterieentwicklung voranzubringen. Wir wollen vielmehr - genauso wie unsere Vorfahren am Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Benzinautos gebaut haben - diejenigen sein, die bei der Elektromobilität vorne dabei sind. ({25}) Natürlich ist es richtig, dass wir auf Energieeffizienz und erneuerbare Energien setzen und die Medizintechnik voranbringen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir vernünftige Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung und die Industrie schaffen. Dazu sage ich, wenn ich in die Zukunft schaue: Wir müssen alles verhindern, was zu prozyklischen Effekten bei der Unternehmensbesteuerung führt. Wir haben eine erste Korrektur vorgenommen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir nicht in einigen Monaten noch einmal nachsteuern müssen. ({26}) Ich würde das jedenfalls für wichtig halten, weil es die Zukunft unserer Wirtschaft beeinflusst. Wir haben in dieser Legislaturperiode - das muss weiterentwickelt werden - den Dienstleistungsbereich gestärkt. Wir haben ihn gestärkt, indem wir angefangen haben, den privaten Haushalt zu einem Arbeitgeber zu machen. Das ist eine ganz wichtige Initiative gewesen; denn in einer alternden Gesellschaft, in der wir mehr Dienstleistungen von Menschen für Menschen brauchen, muss der Haushalt als Arbeitgeber gestärkt werden. Dieser Weg ist eingeleitet - wir sind Gott sei Dank darüber hinweg, dass wir über das Dienstmädchenprivileg streiten -, und wir alle wissen: Von der Kinderbetreuung bis hin zu handwerklichen und anderen Dienstleistungen sollten wir den Haushalt stärken, weil er auch Menschen, die keine ganz gute Ausbildung haben, eine Beschäftigungschance bietet und die Arbeit im Haushalt gleichzeitig anderen Menschen dient und diesen Freude macht. ({27}) Alles in allem müssen wir vor allen Dingen wieder unsere mittelständische Basis stärken. Hier geht es darum, dass wir eine kluge Steuerpolitik betreiben. Ich glaube, dass es in der jetzigen Zeit nicht richtig ist, ein Signal für Steuererhöhungen zu setzen, weil diese auch mittelständische Unternehmen und selbstständige Personengesellschaften treffen. Die aber brauchen wir, denen dürfen wir keine Knüppel zwischen die Beine schmeißen, sondern wir müssen ihnen sagen: Ihr habt ein Zuhause bei uns, ihr dürft nicht abwandern; denn die Arbeitsplätze sollen bei uns in Deutschland entstehen. ({28}) Ich sage ganz eindeutig: Diese Bundesregierung hat mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz für wichtige Weiterentwicklungen gesorgt. Damit werden gerade die Umwelttechnologien und die neuen Energien gefördert. Das ist ein wichtiger Exportbereich. Für uns in Deutschland ist es jetzt von entscheidender Bedeutung, dass es uns gelingt, in Kopenhagen international verbindliche Verpflichtungen für die Zukunft zu vereinbaren, damit wir einen stabilen Exportmarkt haben und gleichzeitig zu einer globalen Verbesserung unserer Klimasituation beitragen. Das ist Wirtschaft und Umwelt zusammen. ({29}) - Natürlich will die das. ({30}) - Herr Kelber, Sie können doch erfreut sagen, was wir alles erfolgreich miteinander verabschiedet haben. Es sind tolle Nummern gewesen. ({31}) Das wäre doch ohne die CDU/CSU-Fraktion weiß Gott nicht gegangen. - Allerdings sind wir diejenigen, die immer wieder darauf geachtet haben, dass Wirtschaft und Umwelt zusammengehen, weil es nichts nützt, wenn Umweltpolitik Jobs kostet. Umweltpolitik muss Jobs bringen. ({32}) Das zentrale Thema, das uns im nächsten Jahrzehnt wesentlich begleiten wird, ist die Bildungspolitik. Ich habe mich außerdem dafür eingesetzt, dass wir die Integrationsaufgabe im Bundeskanzleramt ansiedeln. Das hat sich bewährt. Es ist zu einem Nationalen Integrationsplan von Bund, Ländern und Kommunen gekommen. Da ist noch vieles umzusetzen, und das wird die nächste Legislaturperiode bestimmen. Aber der Ansatz ist richtig. Integration ist eine Schwerpunktaufgabe und muss weiterentwickelt werden. ({33}) Bildung ist das zentrale Thema für die Frage des Wohlstands in der Zukunft. Darüber sind wir uns parteiübergreifend einig, wenngleich wir über die Ausgestaltung, wie häufig, unterschiedliche Meinungen haben. Ich bin dafür, dass wir uns für ein gegliedertes Schulsystem entscheiden und dass wir natürlich die Durchlässigkeit fordern, aber gleichzeitig Leistung belohnen und Leistungsanreize setzen, auch schon bei Kindern. Ich halte, mit Verlaub gesagt, nichts davon, dass man wie in Berlin Gymnasialplätze in Zukunft verlosen will. Das scheint mir die falsche Antwort auf die Frage, wie wir vorgehen, zu sein. ({34}) Wir kennen die unterschiedlichen Zuständigkeiten, aber wir wissen, dass wir in der Bildungspolitik natürlich zusammenarbeiten müssen. Deshalb habe ich - nicht zur Freude aller Ministerpräsidenten, um es vorsichtig auszudrücken - zu einem Bildungsgipfel zusammen mit der Bundesbildungsministerin und dem Bundesarbeitsminister eingeladen. Wir haben konkrete Vereinbarungen getroffen, die wichtig sind: Halbierung der Zahl der Schulabbrecher, Investition von 10 Prozent des Bruttoinlandprodukts in Forschung und Bildung bis zum Jahr 2015. Wir haben Pakte zur Förderung der Hochschulabsolventen abgeschlossen. Für die Förderung der Forschungseinrichtungen wird es jedes Jahr einen Zuwachs der Mittel von 5 Prozent geben. Da gibt es jetzt ein hohes Maß von Berechenbarkeit für die Zukunft. Wir haben gesagt, die Exzellenzinitiative muss weitergeführt werden, weil wir nur mit exzellenten Forschungs- und Hochschulinstitutionen die Zukunft wirklich gestalten können. ({35}) Meine Damen und Herren, ich bin dafür - ich will das ganz klar sagen -, dass wir die Schulpolitik bei den Ländern belassen. Aber ich bin dagegen, dass die Schulpolitik in den Ländern so ausgestaltet wird, dass man in Deutschland nicht umziehen kann. Deshalb war es wichtig, dass die Kultusminister sich auf gleiche Standards geeinigt haben. Außerdem bin ich dagegen, dass wir zulassen, dass Schulabsolventen von den Industrie- und Handelskammern das Zeugnis ausgestellt wird, dass sie nicht ausbildungsfähig sind. So etwas kann sich unser Land nicht leisten. Deshalb war der Bildungsgipfel ein Erfolg und muss gleich in der nächsten Legislaturperiode umgesetzt werden. ({36}) Auch daran zeigt sich, dass wir unsere Arbeitswelt gerade an der Anerkennung für diejenigen ausrichten müssen, die Bildung - vom Kleinkind bis hin zur Weiterbildung in den Betrieben - vermitteln. Wenn ich einen kritischen Punkt zu unserem Konjunkturprogramm sagen darf: Die Weiterbildungsmöglichkeiten, die wir in diesem Konjunkturprogramm angeboten haben, wurden von den Unternehmen leider sehr zögerlich angenommen. ({37}) Lebenslanges Lernen wird eine Aufgabe sein, die uns in den nächsten Jahren begleitet. Hier müssen wir sehr viel mehr Druck machen. Mit dem Erreichten kann man noch nicht zufrieden sein. ({38}) Meine Damen und Herren, wir haben nach innen einiges auf den Weg gebracht. Es zeichnet sich ab, wo die Aufgaben der nächsten Legislaturperiode liegen. Ich bin dafür, dass wir alles tun, um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu fördern. Das bedeutet Motivation für jeden. Ich sage: Die Krise ist erst vorbei, wenn wir aus der Talsohle wirklich heraus sind und wieder da sind, wo wir vorher waren. Deshalb brauchen wir auch Motivation für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Deshalb gibt es innerhalb der Großen Koalition eine unterschiedliche Auffassung darüber, ob wir gerade bei der kalten Progression, bei der Steuererhöhung durch die Hintertür, für diejenigen, die den Tag über arbeiten, die Überstunden machen, die ein bisschen mehr Gehalt haben, auch dafür Sorge tragen müssen, dass sie zum Schluss wirklich mehr im Portemonnaie und auf dem Konto haben. ({39}) Uns ist in dieser Krise bewusst geworden, dass wir als Bundesrepublik Deutschland allein nicht agieren können. ({40}) Uns ist bewusst geworden, dass die Europäische Union in dieser Zeit eine ganz wesentliche Bedeutung hat. Wir sollten uns nur einmal vorstellen, was in der Finanzkrise auf uns zugekommen wäre, wenn wir keine gemeinsame Währung wie den Euro gehabt hätten - nicht auszudenken! Aber ich sage auch: Erfolgreich konnte das nur funktionieren, weil wir an bestimmten Grundprinzipien nicht gerüttelt haben. Klar ist: Mit der Union ist nicht zu machen, die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank aufzugeben, wie das in einigen Papieren aus Teilen dieses Hauses gefordert wurde. ({41}) - Das hat nichts mit Parteitagsrede zu tun, Herr Heil, Sie kennen vielleicht nichts anderes mehr, sondern es hat mit meinen europapolitischen Aktivitäten zu tun. ({42}) Ich habe Herrn Trichet versprochen, dass die Europäische Zentralbank unabhängig bleibt, und ich werde mich auch dafür einsetzen, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht angetastet wird, sondern die Leitlinie für die Zukunft unseres Landes bleiben wird. ({43}) Eine abschließende Bemerkung. Wir werden heute noch über den Lissabon-Vertrag beraten. Dieser Lissabon-Vertrag ist eine Bekräftigung unseres europäischen Engagements. ({44}) Er bringt Europa näher zu den Bürgerinnen und Bürgern. Wir hatten dazu ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das besagt, dass das Parlament mehr Mitwirkungsrechte braucht. Dieses Urteil wird heute umgesetzt, und die Bundesregierung hat dabei, sofern sie gefragt war, konstruktiv mitgearbeitet. Dieses Bundesverfassungsgerichtsurteil ist in der Europäischen Union mit großem Interesse aufgenommen worden, weil es natürlich die Frage stellt: Wie wird sich Deutschland in der Europäischen Union in Zukunft positionieren? Ich habe zugesagt - ich werde das auch einhalten -, am 17. September, wenn wir uns zur Vorbereitung des G-20-Gipfels treffen, meinen europäischen Kollegen zwei Dinge noch einmal deutlich zu machen: Erstens. Urteile des Bundesverfassungsgerichts sind in Deutschland bindend bezüglich der Anwendung von Gesetzen, also auch des Lissabonner Vertrags. ({45}) Zweitens. Deutschland wird sein proeuropäisches Engagement beibehalten, und es wird weiter Motor der Europäischen Union sein. ({46}) Das sind die beiden Botschaften für den Gipfel. Eine letzte Bemerkung. Es ist so, dass wir uns in wenigen Tagen zum nächsten G-20-Gipfel treffen werden. Die Finanzminister sind bereits am Wochenende in London zusammengekommen. Es geht darum, dass kein Finanzplatz, keine Institution und kein Produkt in der Krise ungeregelt bleiben. Was wir uns in der Krise vorgenommen haben, muss auch umgesetzt werden. Wir sind hier auf einem guten Weg, aber es gibt noch einiges zu tun. Ein Punkt, der mir neben der Frage der Zahlung von Boni besonders am Herzen liegt, ist, dass wir nie wieder in eine Situation geraten dürfen, in der Banken Staaten erpressen können, weil sie so groß sind, dass sie glauben, den Staaten sozusagen die Pistole auf die Brust setzen zu können. ({47}) Es wird an internationalen Regeln gearbeitet, was die Eigenkapitalhinterlegung anbelangt, damit Banken das von ihnen eingegangene Risiko selber tragen müssen. ({48}) Ich spüre schon wieder, dass die Ersten die verschiedenartigsten Ausreden finden, warum dies nun gerade nicht sein muss und warum Wachstum doch viel schneller zustande kommen könnte, wenn man solche Sicherungen nicht hätte. ({49}) Für mich ist die Lehre - die werde ich zusammen mit dem Finanzminister beim G-20-Treffen in Pittsburgh auch ganz deutlich machen -: nicht auf diese Stimmen hören, sondern auf nachhaltiges Wachstum setzen - im Sinne der sozialen Marktwirtschaft, im Sinne der Prinzipien, die Deutschland stark gemacht haben. ({50}) Das wird uns in unserer weiteren Arbeit prägen. Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. ({51})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Dr. Guido Westerwelle. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! An dem Beifall nach der Rede der Bundeskanzlerin hat man in diesem Hohen Hause wirklich lehrbuchartig sehen können, wo und in welcher Zerrüttung Zwangsehen enden. Diese Große Koalition hat nie den Anspruch auf geistige Führung erhoben. Mal hat sich diese Große Koalition zusammengerauft; meistens hat sie sich nur gerauft. Sie wollte politischen Schlaglöchern aus dem Weg gehen. Das Ziel von Ihnen war immer nur, die nächste Kurve zu kriegen. In Wahrheit war diese Große Koalition im besten Fall ein Reparaturbetrieb für tagespolitische Probleme; mehr war sie nicht für unser Land. ({0}) Es waren in Wahrheit vier verlorene Jahre. Sie haben Deutschland der Zukunft nicht näher gebracht. Sie haben Krisen verwaltet und vollständig darauf verzichtet, die Zukunft zu gestalten. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben hier gesagt, Deutschland sei 2009 stärker als 2005. Das ist eine interessante Sichtweise. Sie sind stärker verschuldet als 2005, so stark wie nie zuvor. ({1}) Sie haben die Steuern so stark erhöht wie nie zuvor. Wir sind in der Gesundheitspolitik in der Planwirtschaft so stark wie noch nie zuvor. Sie haben mit dieser Regierung Deutschland nicht gestärkt. Es waren vier verlorene Jahre. Sie haben unser Land geschwächt. Sie haben es nicht in Ihrer eigenen Richtung vorangebracht. ({2}) Aber auch bei dem Bereich, den Sie hier für sich reklamiert haben, gilt: Sie haben gar nicht mehr den Anspruch erhoben, wirklich perspektivisch Politik für unser Volk anzugehen. ({3}) Sie haben als Regierungskoalition gar nicht mehr den Anspruch erhoben, zu sagen, wo unser Land in 10, 15, 20 Jahren stehen soll. Eigentlich befasst sich mittlerweile jede Regierungserklärung und jede Rede, die aus den Reihen der Regierung gehalten wird, nur mit der Tagespolitik. Aber auch da, wo Sie meinen, Sie hätten besonders gut gewirkt, haben Sie in Wahrheit die meiste Zeit versagt. Ich denke insbesondere an die Bankenaufsicht. Die Bundeskanzlerin hat hier von dieser Stelle aus nach Ausbruch der Finanzkrise in einer Regierungserklärung angekündigt - unter dem Beifall übrigens auch der Fraktion der CDU/CSU -, dass die Bankenaufsicht in Deutschland neu und schlagkräftiger sortiert werden muss, weil die Zersplitterung bei dieser wichtigen Hoheitsaufgabe Lähmung bedeutet. Neun Monate ist diese Bankenkrise in Deutschland mittlerweile alt, und wir haben auch im Deutschen Bundestag die gesamte Zeit darüber diskutiert. Aber bis zur Stunde haben Sie in der Bankenaufsicht nichts zustande gebracht. Wir haben dieselbe verkorkste, zersplitterte Bankenaufsicht wie vor der Krise. Nicht einmal die Krise haben Sie richtig bewältigt und notwendige strukturelle Reformen eingeleitet. ({4}) Wir brauchen eine Politik, die die Mittelschicht in unserem Land wieder stärkt. Der Rückgang der Mittelschicht ist aus unserer Sicht die gefährlichste Entwicklung, übrigens nicht nur der letzten vier Jahre, sondern der letzten zehn Jahre. Vor zehn Jahren hatte die Mittelschicht in unserer Gesellschaft einen Anteil von ungefähr zwei Dritteln. Heute muss man feststellen, dass die Mittelschicht in unserem Land nur noch etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmacht. Das heißt, die Mittelschicht schrumpft. Das ist in Wahrheit die Herausforderung für die Gesellschaftspolitik in unserem Land. Denn wir wollen keine Gesellschaft, die nur noch aus Arm und Reich besteht. Vielmehr brauchen wir eine starke Mittelschicht, die in unserer Gesellschaft gewissermaßen als Klammer dient. Wenn die Mittelschicht schrumpft, dann wachsen Spaltung und Ungerechtigkeit in unserem Land. Aus diesem Grund brauchen wir einen Neuanfang mit einem fairen Steuersystem in Deutschland. ({5}) Nun heißt es, dass eine Politik der fairen Steuern nicht finanzierbar sei. Es heißt, dass die Vorschläge für ein faires Steuersystem, die wir vorgelegt haben, nicht umsetzbar seien. Das bestreite ich mit Nachdruck. Ich lasse mich auch nicht durch die angeblich amtlichen Berechnungen des Bundesfinanzministers bezüglich der Horrorkosten eines fairen Steuersystems irritieren. Herr Minister Steinbrück, Sie werden ja in dieser Debatte noch reden. ({6}) Sie sind der Mann, der so viel Schulden gemacht hat wie kein Finanzminister zuvor. ({7}) Sie haben in der gesamten Zeit in Bezug auf die Finanzpolitik immer falsch gelegen. Hören Sie doch wenigstens jetzt auf, den Leuten etwas Falsches vorzumachen! Sie sagen, Sie können kein faires Steuersystem in Deutschland durchsetzen. Dann gehen Sie; wir machen es, wir können es nämlich! ({8}) - Das kommt jetzt, Herr Heil. Sie freuen sich doch schon die ganze Zeit darauf. ({9}) Ich möchte nur kurz auf Folgendes aufmerksam machen: Ungefähr so viele SPD-Abgeordnete, wie jetzt hier sitzen, wären in Ihrer Fraktion, wenn Sie vor der letzten Bundestagswahl die Leute bezüglich der Mehrwertsteuer nicht betrogen hätten. ({10}) Sie haben vor der Wahl überall auf dem Plakat heilige Eide geschworen, Sie würden die Bürger entlasten; eine Mehrwertsteuererhöhung gebe es nicht. Jeder von Ihnen, der hier sitzt, hat in Sachen Mehrwertsteuer die eigenen Wähler belogen, nur um an die Regierung zu kommen. Sie haben in Wahrheit unglaubwürdige Politik gemacht. ({11}) Wir brauchen ein faires Steuersystem, das Arbeit und Anstrengung belohnt. Das ist möglich, und es ist auch dringend nötig. Damit müssen wir bei den Familien beginnen, indem wir die Familien entlasten. Nach dem Steuermodell, das Deutschland braucht, wäre eine vierköpfige Familie erst ab 40 000 Euro überhaupt steuerpflichtig. Das ist eine familienfreundliche Politik; das ist sozial. Dass gewisse Gewerkschaftsfunktionäre mittlerweile dazu aufrufen, ausgerechnet die Partei, nämlich die SPD, zu wählen, die mit der Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte die unsozialste Politik gegen Arbeitnehmer gemacht hat, die man machen konnte, finde ich ganz schön scheinheilig. ({12}) Ich habe nicht die Absicht, das in dieser Generaldebatte zu verschweigen. Meine Damen und Herren, wir haben in den vergangenen vier Jahren jedes Jahr Vorschläge gemacht, wie der Staat Geld sparen kann. ({13}) Kein einziges Mal sind Sie darauf eingegangen. Stattdessen fangen Sie wieder an - im Augenblick mit einer Schwarz-gelbe-Socken-Kampagne -, den Menschen in Deutschland Angst davor zu machen, dass Union und FDP die Mehrheit erlangen und in der nächsten Legislaturperiode an die Regierung kommen. ({14}) Dazu möchte ich Ihnen zunächst einmal sagen, dass es in Deutschland natürlich längst ganz anders läuft, als Sie glauben. Nach den letzten Landtagswahlen werden mit Sachsen die sechs größten Bundesländer von Union und FDP regiert. Das heißt, von etwas mehr als 80 Millionen Deutschen leben drei Viertel, nämlich 60 Millionen, mittlerweile in Ländern, die schwarzgelbe Regierungen haben. In diesen Ländern kann jeder erkennen, dass soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Vernunft keine Gegensätze sind, sondern einander bedingen. Das werden wir auch auf Bundesebene durchsetzen. ({15}) Lassen Sie bitte Ihre seltsamen Entgleisungen sein, mit denen Sie in unsere Richtung zielen! Da sind zunächst einmal die Plakate, die Sie vor der letzten nationalen Wahl, der Europawahl, gedruckt haben; wir haben sie alle gesehen. Es ist schon eine Kunst - dafür haben Sie bei der Wahl die entsprechende Quittung kassiert -, dass die SPD auf jedem dritten Plakat vor den Haien der FDP gewarnt hat. Das ist deswegen drollig, weil Sie wissen, wie die Sache ausgegangen ist. Aber auch für uns liegt darin eine gewisse Ironie: Sie haben mehr Plakate gegen die FDP geklebt, als wir Plakate für uns kleben konnten. ({16}) Das ist bemerkenswert, weil es nach hinten losgegangen ist. Jetzt haben Sie sich etwas Neues ausgedacht. Weil ich in der letzten Woche eine, wie ich finde, Selbstverständlichkeit ausgesprochen habe, nämlich dass der Sozialstaat für die Bedürftigen und nicht für die Findigen da ist, höre ich beispielsweise von Ihrer Vizechefin, Frau Nahles: ({17}) Selten wurde in solcher Klarheit zum Ausdruck gebracht, dass liberale Politik zulasten der Schwächsten geht. Ich möchte Ihnen einen Auszug aus einem bemerkenswerten Interview vortragen, das Gerhard Schröder, der immer noch der SPD angehört, einmal gegeben hat. Er hat als Bundeskanzler fast wörtlich das gesagt, wofür Sie mich jetzt im Augenblick kritisieren. Er hat nämlich gesagt: Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft. - Ich habe das fast wortgleich gesagt. ({18}) Es ist richtig: Früher hätte sich jeder anständige Sozialdemokrat hinter den anständigen, fleißigen Leuten versammelt und genau dasselbe gesagt. So weit sind Sie heute mit Ihrer linken Gehirnwäsche gekommen. ({19}) Arbeit muss sich wieder lohnen. Deswegen war es falsch, dass die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung und insbesondere dieser Koalition in Wahrheit nur noch auf die ganz Großen und auf die ganz Kleinen gesetzt hat. ({20}) Tatsächlich war es die Haushaltsvorlage mit Rekordverschuldung, warum wir diese Debatte heute angesetzt haben. Ich möchte darauf eingehen, weil es wichtig ist, darüber zu reden, wofür das Geld der Deutschen ausgegeben worden ist. ({21}) - Es mag ja sein, dass Sie es mit Ihrem Einfluss schaffen, zu verhindern, dass die Opposition Sie in den wichtigsten Fernsehsendungen stellen kann. ({22}) Hier müssen Sie es aber ertragen, zu hören, was wir zu sagen haben. ({23}) Ich will darauf eingehen, wofür das Geld der Bürgerinnen und Bürger in Wahrheit ausgegeben worden ist. Da ist beispielsweise die Abwrackprämie, die jetzt ausläuft. 5 Milliarden Euro haben Sie sozusagen über Nacht für die Abwrackprämie gefunden. Das heißt, für alte Autos hatten wir in Deutschland mal eben 5 Milliarden Euro übrig. Gleichzeitig sagen Sie: Bei Bildung und Ausbildung geht es leider nicht; dafür haben wir zu wenig Geld in den Staatskassen. Jetzt, wo die Abwrackprämie ausgelaufen ist, weiß jeder, was passiert. Wir wissen nämlich genau, dass die Menschen, die dieses Jahr ein Auto gekauft haben, dies im nächsten Jahr nicht noch einmal tun werden, weil es dieses Jahr so schön war. Das kostet natürlich Arbeitsplätze. Aber dieser Abbau findet nach der Bundestagswahl statt. Darum kann sich ja dann die nächste Bundesregierung, also wir, kümmern. ({24}) Diese Art und Weise halte ich für völlig inakzeptabel. Die Reparaturwerkstätten und der Gebrauchtwagenhandel leiden darunter und sind zum Teil pleitegegangen. Sie haben nicht auf die Mittelständler geschaut, die aufgrund der Abwrackprämie pleitegegangen sind. Eine Regierung, die mal eben 5 Milliarden Euro für alte Autos übrig hat, soll nie wieder sagen, für faire Steuern und für bessere Bildung sei in Deutschland kein Geld vorhanden. Wir zeigen Ihnen, dass es besser geht. ({25}) Wenn es eine Sache gibt - außer dass die Mittelschicht geschrumpft ist, dass Sie dafür gesorgt haben, dass die Schulden immer höher werden, und dass von Ihnen immer höhere Steuern durchgesetzt worden sind; ich erinnere an den Wortbruch -, ({26}) die unser Land in wirklich große Schwierigkeiten bringt, dann ist es insbesondere die Tatsache, dass Bildung als Bürgerrecht in Deutschland immer mehr infrage gestellt wird. ({27}) Ich nenne Ihnen ein Beispiel - ich rechne das einmal um, weil ein entsprechender Zuruf gemacht wurde -: Die Mittel für die Abwrackprämie betrugen 5 Milliarden Euro. Mit diesen Mitteln könnte man ein perfektes Stipendienprogramm für Studenten elternunabhängig 25 Jahre lang zahlen. ({28}) Das Geld gehört in helle Köpfe ({29}) und nicht in alte Autos. Sie verstehen es nicht. Im Zusammenhang mit der Bildung müssen wir festhalten, dass uns die OECD in diesem Jahr bescheinigt hat, dass in keinem vergleichbaren entwickelten Land der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und den Bildungschancen eines Kindes so unerfreulich ist wie hier in Deutschland. ({30}) Sie können nicht so tun, als seien daran andere schuld. Sie meinen immer, für Krisen und Missstände sei die Opposition verantwortlich. Ich darf darauf aufmerksam machen: Sie regieren seit elf Jahren ({31}) erst mit dem Finanzminister Lafontaine, dann mit dem Finanzminister Eichel und jetzt mit dem Finanzminister Steinbrück. Für die Prioritätensetzung, die in der Finanzpolitik falsch gelaufen ist, können Sie nicht die Opposition verantwortlich machen. Dafür sind Sie verantwortlich. Sie hatten die Macht. Sie haben nichts gemacht. ({32}) Ich kann der Koalition insgesamt einen Vorwurf nicht ersparen. ({33}) Sie sagen, es gebe eine zersplitterte Bildungslandschaft. Frau Bundeskanzlerin, Sie sagen, eine Familie müsse auch umziehen können. Da haben Sie recht; das alles ist richtig. Ich bin übrigens ein Anhänger dafür, dass es eine Kultus- bzw. Bildungshoheit der Länder gibt. ({34}) - Das ist für mich überhaupt keine Frage. - Nur, eines möchte ich festhalten: Sie sagen, es werde den Menschen wegen der Bildungsunterschiede in Deutschland unmöglich gemacht, umzuziehen, und verschweigen dabei, dass Sie den Bereich Bildung mit Ihrer katastrophalen Föderalismusreform vermasselt haben. ({35}) Die Föderalismusreform hat doch die Zersplitterung der Bildungslandschaft befördert. Dafür tragen Sie gemeinsam die Verantwortung. Meine Damen und Herren, es ist so, dass wir nicht nur beim Thema „Leistungsbereitschaft, Leistungsgerechtigkeit, soziale Verantwortung“ und beim Thema Bildung in unserem Land nicht wirklich vorangekommen wären. Es ist auch notwendig, dass wir in dieser letzten Debatte, in der wir über diese vier Jahre der Großen Koalition Bilanz ziehen, über ein Kernanliegen, das gerade von der Bundeskanzlerin wieder verteidigt worden ist - die Gesundheitsreform -, reden. Diese Gesundheitsreform, die Sie in Kraft gesetzt haben, und der Gesundheitsfonds machen alles teurer, und nichts wird besser. ({36}) Sie wissen das auch. Beitragserhöhungen waren die Folge. Im nächsten Jahr sollen - so ist die Finanzplanung der Regierung - allein 12 Milliarden Euro an Steuergeldern in das bürokratische Monstrum Gesundheitsfonds gesteckt werden. Ich will hier in aller Ruhe und in großer Klarheit sagen - auch Ihnen, meine Damen und Herren von der Union -: Diese Gesundheitspolitik von Ulla Schmidt wird in einer Koalition aus Union und FDP beendet, weil sie zulasten der Bürgerinnen und Bürger in ganz Deutschland geht. Ich sage das, damit das klar ist. ({37}) Ich freue mich - Herr Ramsauer, Sie werden es sicherlich gleich Herrn Seehofer erzählen -, dass ich in ihm einen kräftigen Verbündeten haben werde. ({38}) Oder hat Herr Söder das, was er dazu gesagt hat, nicht in Abstimmung mit seiner Partei gesagt? Meine Damen und Herren, es ist dringend notwendig, dass wir in dieser Richtung vorankommen. Wir haben in diesem Hause in den Generaldebatten über einen Bereich, der meines Erachtens durch eine erhebliche Verschlechterung gekennzeichnet ist, selten diskutiert. Ich will es trotzdem tun. Ich sprach eben von Bildung als Bürgerrecht. Das Thema, wie mit den Bürgerrechten insgesamt in den letzten Jahren umgegangen worden ist, müsste uns hier beschäftigen. Unter Rot-Grün mit Herrn Schily hat es begonnen; unter Schwarz-Rot mit Herrn Schäuble wurde es fortgesetzt: Es hat noch nie so wenig Respekt seitens der Mehrheit gegenüber den Bürgerrechten gegeben. Noch nie wurden Entscheidungen einer Regierung vom Verfassungsgericht in Karlsruhe so oft kassiert. Das muss hier erwähnt werden. ({39}) Wir halten es für einen wirklichen Fehler, dass man diese Politik weiter fortsetzt. Bürgerrechte sind die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger. Wir setzen darauf, dass sie stärker geschützt und respektiert werden. Gläserner Patient, gläserner Bankkunde, gläserner Steuerzahler, gläserner Autofahrer, Aufhebung des Bankgeheimnisses usw. usf. - eine solche Politik darf es nicht länger geben. Wie oft hört man von den Konservativen: Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten. ({40}) - Sie rufen: Richtig! Das ist Obrigkeitsdenken. ({41}) Jeder selbstbewusste Bürger in dieser Gesellschaft muss sagen: Weil ich nichts zu verbergen habe, verbitte ich es mir, vom Staat wie ein gemeiner Krimineller unter Generalverdacht gestellt und permanent überwacht zu werden. Das müsste in diesem Land unser Anspruch sein. Wir sind die Volksvertreter und damit auch diejenigen, die Bürgerrechte schützen sollen. ({42}) In der Energie- und Umweltpolitik ging es in Wahrheit nicht um einen rationalen Energiemix, sondern es herrschte Irrationalität. Zwar hat der Umweltminister Knut aus dem Berliner Zoo adoptiert, aber das war wohl das Einzige, das in Erinnerung bleibt. ({43}) Eine solche Umweltpolitik ist mit Abstand zu wenig. Das ist in Wahrheit nur Kulisse. Eine vernünftige Umweltpolitik will das Zeitalter der erneuerbaren Energien erreichen. Aber sie weiß auch, dass wir in dieses Zeitalter Brücken brauchen. ({44}) Es macht keinen Sinn, dass wir in Deutschland die modernsten Energieanlagen der Welt abschalten, um am Tag danach den Strom aus sehr viel unsichereren Kraftwerken, vorzugsweise aus dem Ausland, einzukaufen. ({45}) Deswegen brauchen wir eine neue, vernünftige, rationale Energiepolitik mit einem rationalen Energiemix. ({46}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist in solchen Generaldebatten üblich, Klartext zu reden. Wir haben eine solche Debatte nicht angesetzt, damit Sie in der Großen Koalition eine Bühne bekommen, um sich gegenseitig auf die Schulter zu klopfen: Nicht wahr, FrankWalter, es war nicht alles schlecht! - Nein, da hast du recht, Angela. ({47}) Das ist keine vernünftige Auseinandersetzung in einer parlamentarischen Demokratie. Ich werde mir das Duell am Sonntagabend anschauen. ({48}) - Ja, damit habt ihr wenigstens einen Zuschauer. Es ist überhaupt keine Frage, dass ich mir das anschaue. ({49}) In Wahrheit geht es um etwas anderes: Es geht um unser Land. Unser Land braucht eine Politik, die an die Zukunft denkt und nicht nur in der Krise stecken bleibt. Wir brauchen eine Politik der klaren Verhältnisse: Raus aus der Großen Koalition, aber nicht rein in eine Linksregierung! Wir brauchen eine klare bürgerliche Mehrheit der Mitte. Dafür stehen wir. Ich danke sehr für Ihre freundliche Aufmerksamkeit, liebe Genossinnen und Genossen. ({50})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier.

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In 19 Tagen wird ein neuer Bundestag gewählt. ({0}) Auch wenn manche im Augenblick statt von der Wahl lieber vom Wetter reden, Herr Koppelin: Den Menschen ist klar - seien Sie gewiss -, dass wir vor schwierigen Jahren stehen, Jahren, die unser Land prägen und verändern werden, entweder zum Besseren oder zum Schlechteren. Es geht darum, ob wir bereit und in der Lage sind, die richtigen Lehren aus den Krisen zu ziehen, ob wir in der Lage sind, die soziale Balance in diesem Lande zu behalten, und ob wir uns auf den Weg hin zu einem wirklich nachhaltigen Wachstumsmodell machen. ({1}) Ich bin sicher, die Menschen werden ganz genau hinschauen, Herr Westerwelle, wer die richtigen Antworten auf die Fragen der Vergangenheit hat und wer eine klare Vorstellung davon hat, wohin die Reise gehen soll. Wer sich den notwendigen Lehren aus der Krise verweigert, der wird nicht mit seiner Politik scheitern, sondern der wird schon bei den Wahlen scheitern; das garantiere ich Ihnen. ({2}) Wir haben in den letzten Monaten auch Glück gehabt; das ist wahr. Aber dass die Krise die Menschen in Deutschland nicht mit aller Wucht getroffen hat, das alles ist doch nicht vom Himmel gefallen. Wir haben in Deutschland Brücken gebaut, die bisher einigermaßen getragen haben. Das ist doch nichts anderes, Herr Westerwelle, als das Ergebnis von Politik. Trotz des Wahlkampfs sage ich: Das ist ein gemeinsamer Erfolg aller Beteiligten. Deshalb will ich die Gelegenheit nutzen, während der letzten Rede im Deutschen Bundestag in dieser Legislaturperiode allen Abgeordneten, gleich welcher Partei, zu danken. Ich weiß, dass wir über vieles gestritten haben; auf einzelne Instrumente werde ich gleich eingehen. Ich weiß, dass wir in Ausschüssen und im Plenum gestritten haben, dass wir nach Kompromissen gesucht haben. Am Ende haben wir aber - auch das ist die Wahrheit - unter unglaublichem Zeitdruck im September und im Oktober vergangenen Jahres Entscheidungen gefällt, von denen ich überzeugt bin, dass sie den allermeisten Menschen in Deutschland auch weitergeholfen haben. Ich danke Ihnen dafür, dass das gelungen ist. ({3}) Ich darf noch einmal an die Diskussionen über den weit gespannten Rettungsschirm für die Banken erinnern, die wir zu Recht geführt haben. Der Rettungsschirm hat immerhin verhindert, dass es bei uns zu einem Zusammenbruch größerer Institute gekommen ist. Ich darf an den Streit erinnern, den wir darüber geführt haben, ob es ein Konjunkturprogramm geben soll und, wenn ja, in welchem Umfang. Wir haben das miteinander entschieden. Ich darf daran erinnern, dass wir für ein Investitionsprogramm für Städte und Gemeinden gekämpft haben. In all Ihren Orten zu Hause sind in den Sommerferien Schulen und Kindergärten saniert worden. ({4}) Ich stehe auch, Herr Westerwelle, für die Umweltprämie. Das sage ich Ihnen ganz offen. Es ist nämlich kein guter Ratschlag, den Menschen zu sagen: Wir haben noch schwierige Monate und Jahre vor uns, deshalb wäre es gut gewesen, die 250 000 Arbeitsplätze sofort preiszugeben. Das ist doch kein Ratschlag für eine Regierung und für ein Parlament: „auf besseres Wachstum hoffen“. ({5}) Ich erwähne ausdrücklich die Diskussion um das Kurzarbeitergeld. Wir haben auf Vorschlag von Olaf Scholz hin nicht nur die Bezugsdauer verlängert, sondern wir haben es vor allen Dingen attraktiver gemacht. Zehntausende Unternehmen in Deutschland nutzen die Möglichkeit der Kurzarbeit. All das zusammengenommen - ich will kein einzelnes Instrument zu weit hervorheben -, stelle ich fest: Dieser Mix von Instrumenten war es, der am Ende dazu geführt hat, dass bei uns nicht wie in Spanien die Arbeitslosigkeit von 8 auf 18 Prozent gestiegen ist. Vielmehr haben wir den Anstieg von 7 auf 8 Prozent begrenzen können, Herr Westerwelle. Dass uns das gelungen ist, ist das Ergebnis von Politik, und zwar, wie ich finde, richtiger Politik. ({6}) Es kann ja sein, dass wir in einzelnen Punkten unterschiedlicher Meinung sind. Das wird und muss auch so bleiben; denn das - Sie haben Recht - gehört zu einer parlamentarischen Demokratie. Aber was wichtiger ist - das muss man am letzten Sitzungstag der Legislaturperiode dieses Deutschen Bundestags vielleicht einmal festhalten -: Die politischen Institutionen in Deutschland - das ist nicht selbstverständlich - haben sich in der Krise bewährt. Deshalb darf ich mitten im Wahlkampf und trotz Ihrer Rede allen, die jetzt ausscheiden und daran in Zukunft nicht mehr mitwirken können, einen herzlichen Dank aussprechen. ({7}) Ich möchte besonders einen Kollegen hervorheben. Lieber Peter Struck, du warst so etwas wie der Hausmeier der Großen Koalition. Du warst derjenige, der immer gesagt hat: Die beiden großen Volksparteien haben 2005 keinen Wahlkampf für eine Große Koalition geführt, aber es war eben das Ergebnis des Wählervotums. Mit Blick auf die vergangenen vier Jahre sage ich im Unterschied zu Ihnen, Herr Westerwelle: Wir haben das Beste daraus gemacht. Dass die Bilanz der Großen Koalition, dass die Bilanz dieser Regierung eine sozialdemokratische Handschrift trägt, ({8}) ist ganz wesentlich das Verdienst von Peter Struck. Deshalb dir, lieber Peter, ganz herzlichen Dank. ({9}) Ich bleibe dabei: Unser politisches System hat sich in der wirtschaftlichen Krise bewährt. Eines ist mir und den meisten von Ihnen, denke ich, aber auch klar: Das Vertrauenskapital, das wir uns in den letzten Monaten - davon bin ich überzeugt - erarbeitet haben, darf jetzt nicht leichtfertig verspielt werden. ({10}) Ich bin davon überzeugt, dass es weltweit eine Rückkehr der Politik geben wird. Der Glaube an die ungehemmten Marktkräfte ist erschüttert. Nur einige Großbanken - das gilt auch für Deutschland - glauben noch an die Selbstreinigungskräfte des Bankensektors und an erzielbare Renditen von über 25 Prozent. Und weil das so ist, muss die Politik gerade jetzt am Ball bleiben. Gerade jetzt brauchen wir eine mutige Politik, eine Politik mit Kompass und Richtung. Wer, wie mancher hier im Hause, Herr Westerwelle, bei dem Begriff Sozialstaat in erster Linie an bezahlte Faulheit denkt, der hat diesen Kompass eben nicht. ({11}) Wer in einer solchen Situation, in der den meisten in Deutschland klar ist, was in den nächsten Monaten und Jahren auf uns zukommen wird, massive Steuersenkungen verspricht, täuscht die Wähler über das hinweg, was in diesem Land wirklich möglich ist. Und auch das kostet Vertrauen in Demokratie. ({12}) Eines darf ich Ihnen hier im Saal und darüber hinaus versichern: Mit meiner Partei, mit der SPD, wird es keinen Abbau des Sozialstaates geben. Mit der SPD bleibt es bei einem handlungsfähigen Staat. ({13}) Damit kein Missverständnis über das Staatsverständnis der SPD aufkommt: Wenn ich von einem handlungsfähigen Staat spreche, dann meine ich nie einen Staat, der die Bürger von morgens bis abends bevormundet, sondern dann rede ich von einem Staat, der in der Lage ist, Beistand zu leisten. Und wie notwendig das ist, sehen wir doch gerade jetzt, in der Krise. ({14}) Ich bin fest davon überzeugt - das entspricht nicht dem Programm der FDP -, dass wir vor Jahren stehen, in denen der Rückzug des Staates nicht mehr auf dem Programm stehen wird. Ganz im Gegenteil: Was wir brauchen, ist nicht ein Rückzug des Staates, sondern die Rückkehr von Politik. ({15}) Deshalb sage ich: Die Jahre, die vor uns liegen, werden entweder mutige Jahre der Gestaltung, oder es werden verlorene Jahre sein, Herr Westerwelle. Die letzten waren es nicht, meine Damen und Herren. ({16}) Ich bin fest davon überzeugt, dass wir, wenn wir das wirklich wollen, wenn wir die Kraft haben, wenn wir den Mut haben und wirklich einsteigen, den internationalen Finanzmärkten neue Regeln geben können. Sie erinnern sich: Peer Steinbrück und ich haben Anfang des Jahres Vorschläge dazu gemacht. Wir haben das, was wir für notwendig halten, auch auf den Tisch dieses Hauses gelegt. Peer, dir einen ausdrücklichen Dank für deinen unermüdlichen Einsatz. Lass dich bitte nicht unterkriegen, nicht in Pittsburgh, nicht in Brüssel und erst recht nicht zu Hause. ({17}) Wir können die Weichen in der Wirtschaft anders stellen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir sie anders stellen müssen: weg vom schnellen Geld, weg von einer Politik der Ausplünderung von Unternehmen und hin zu mehr Nachhaltigkeit. Wir können durch eine vernünftige Integrations- und Bildungspolitik erreichen, dass es in diesem Lande gut ausgebildete Menschen, die wir für die Arbeitsplätze von morgen brauchen, gibt. Darauf kommt es an und nicht auf eine vage Rückkehr in die alte Welt. Was ist das überhaupt, die alte Welt, in die manche zurückwollen? Das Deutschland Adenauers? Das Deutschland Erhards? Das Deutschland Helmut Kohls? Ich sage nur: Wenn man sich manches kleinkarierte Gezänk anhört, das im Augenblick zwischen der FDP und einzelnen Vertretern der CSU stattfindet, dann fühlt man sich jedenfalls atmosphärisch - so habe ich das in Erinnerung - in die letzten Kohl-Jahre zurückversetzt. ({18}) Ich habe - im Unterschied zu vielen anderen - gesagt, wie ich mir den Weg in die Zukunft dieses Landes vorstelle. Ich habe das Konzept dazu öffentlich zur Diskussion gestellt. Ich habe dargestellt, wo wir ansetzen müssen, um Arbeit, Arbeitsplätze und Wohlstand von morgen zu schaffen. ({19}) Es geht um Energie- und Ressourceneffizienz. Wir sind inmitten einer großen, einer gewaltigen technologischen Umwälzung. Stichwort Effizienzrevolution: Niemand in der Welt ist besser aufgestellt als wir in Deutschland mit leistungsfähigen Großunternehmen, mit einem innovativen Mittelstand, mit hervorragenden Ingenieuren und Facharbeitern. Ich sage Ihnen: Wenn uns das gelingt, wenn wir den Mut und die Kraft haben, die Weichen jetzt richtig zu stellen, dann können wir Ausrüster der Welt von morgen sein. Ich füge hinzu: Wir müssen Ausrüster der Welt sein, wenn wir Arbeitsplätze und Menschen mit der dafür erforderlichen Qualifikation in ausreichender Zahl bei uns halten wollen. ({20}) Ich freue mich, dass über diese Vorschläge eine öffentliche Diskussion entstanden ist. Entgegen mancher Erwartung ärgere ich mich nicht; denn Kritik gab es nicht aus der Fachwelt, nicht aus der Wirtschaft, sondern allenfalls von der politischen Konkurrenz. Einige haben mir vorgehalten, das Ziel Vollbeschäftigung sei unredlich. Ich sage: Ich werde mich niemals mit Massenarbeitslosigkeit in diesem Lande abfinden. ({21}) Noch viel wichtiger ist mir aufgrund meiner Erfahrung in der Politik: Wer sich keine anspruchsvollen, keine hohen Ziele setzt, wird immer hinter seinen Möglichkeiten bleiben. Deshalb sage ich: Nur wer die Dinge zusammen sieht, nur wer sieht, wie Bildung, Forschung, Arbeitsmarkt, Integration und Gleichstellung zusammenwirken und ineinandergreifen, wird in der Lage sein, in diesem Lande die Weichen richtig zu stellen. Wir sind es. ({22}) Ich nenne nur ganz kurz ein Beispiel zur Energiepolitik: Ich finde es richtig, dass wir uns im letzten Jahr aufgemacht haben, Vorreiter bei der Klimapolitik zu sein. Aber es geht nicht an, dass wir auf der einen Seite international Musterschüler sind und auf der anderen Seite im Wahljahr hier bei uns zu Hause Energiepolitik von gestern machen. ({23}) Deshalb sage ich ganz deutlich: Wer jetzt ein Zurück zur Kernenergie proklamiert, der dreht die Energiewende zurück, ({24}) der wird dafür sorgen, dass wir den Vorsprung, den wir im Augenblick bei der neuen Energietechnologie haben, sehr schnell wieder einbüßen. Er wird vor allen Dingen dafür sorgen, dass die Arbeitsplätze, die wir in diesem Bereich so dringend brauchen, in Zukunft nicht mehr entstehen. Eine letzte Bemerkung mit Blick auf den vergangenen Samstag: Wer den Atomkonsens von 2000 infrage stellt, reißt einen alten gesellschaftlichen Großkonflikt in diesem Lande wieder auf. Frau Merkel, Sie kennen das noch aus den 90er-Jahren: volle Zwischenlager, verstrahlte Castoren und kein Ausweg in der Energiepolitik. Das ist jedenfalls nicht die Energiepolitik, die unser Land braucht. Deshalb sage ich mit Sigmar Gabriels Worten: Es muss beim Ausstieg aus der Atomenergie bleiben. ({25}) Wenn ich von Weichenstellungen rede, dann geht es um Arbeit und Umwelt, aber auch um Löhne und Gehälter. Es muss in diesem Hause doch ein gemeinsamer Grundsatz sein, dass Menschen, die arbeiten, von ihrem Lohn auch vernünftig leben können müssen. ({26}) Das ist nicht nur ein Gebot der Fairness, sondern - das ist mir mindestens genauso wichtig; das sage ich mit großer Ernsthaftigkeit - das ist auch ein Gebot wirtschaftlicher Vernunft. Denn unser deutsches Wirtschaftsmodell wird nur dann nachhaltig sein, wenn wir einen starken Export haben; dafür arbeite ich. Wir dürfen uns aber nicht nur auf den Export stützen, sondern müssen gleichzeitig auch für eine starke Binnennachfrage sorgen. Anders funktioniert das nicht. Das ist nicht nur ein sozialdemokratischer Wachstumstraum, sondern das, worüber ich rede, ist auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Deshalb brauchen wir in unserem Land anständige Löhne, meine Damen und Herren. ({27}) Wer anständige Löhne will, der muss auch den zweiten Schritt tun und sagen: Da Löhne Angelegenheiten der Tarifvertragsparteien sind, brauchen wir auch starke Gewerkschaften, die darüber verhandeln. Wie Sie wissen, bin ich viel unterwegs, und ich weiß, dass dieser Ratschlag nicht überall angenommen wird. Wir alle waren vor kurzem in Thüringen unterwegs, in einem Land, in dem gerade noch 20 Prozent der Arbeitsplätze tarifgebunden sind. Durch solche Entwicklungen wird eine Spirale nach unten in Gang gesetzt. All das hat schon stattgefunden. Aber ich frage Sie: Wie soll denn jemand, der mit 3,75 Euro pro Stunde abgespeist wird, bei der Arbeit Einsatz zeigen? Das ist nicht nur in Thüringen, aber auch dort ein Thema. Deshalb brauchen wir flächendeckend gesetzliche Mindestlöhne. ({28}) - Wir sind in dieser Frage ein Stück vorangekommen, aber nicht weit genug. Ich kämpfe vor allen Dingen dafür, dass das, was wir erreicht haben, nicht rückabgewickelt wird. Darum geht es. ({29}) Die zentrale Aufgabe des nächsten Jahrzehnts - das sage ich nicht einfach nur so daher - wird das Thema Bildung sein. Sie werden bestimmt sagen: Das sagt jeder. Das ist wahr, das sagen alle. Bildung ist die Schlüsselaufgabe, der wir uns stellen müssen. Gelingt es uns, in diesem Bereich Fortschritte zu machen, wird uns auch das nächste Jahrzehnt gelingen, mit ordentlichem Wachstum und zum Vorteil unserer Gesellschaft. Wenn wir aber nichts tun, wenn wir die Weichen falsch oder gar nicht stellen, dann haben wir im nächsten Jahrzehnt beides: auf der einen Seite einen Mangel an Facharbeitern und Ingenieuren und auf der anderen Seite trotzdem eine hohe Arbeitslosigkeit. Diesen Weg dürfen wir nicht gehen. Deshalb müssen wir die Weichen beim Thema Bildung richtig stellen. ({30}) An dieser Stelle widerspricht noch keiner. Aber die meisten werden unterschiedliche Vorstellungen davon haben, welche Konsequenzen das hat. Ich sage: Bildung kostet Geld, und wir dürfen uns in den nächsten Jahren nicht künstlich arm machen. Wer es mit der Bildung ernst meint, der muss auch bereit sein, dafür Geld auszugeben. Dafür muss aber auch Geld eingenommen werden. ({31}) Ich weiß, dass es im Wahlkampf nicht ganz einfach ist, Vorschläge zu machen, woher das dafür benötigte Geld kommen soll; auch wir haben intern lange über diese Frage diskutiert. Wir sind allerdings der Meinung: Wenn wir beim Thema Bildung ernst genommen werden wollen, dann müssen wir auch sagen, woher das Geld kommen soll. Ich habe die Einführung eines zweiprozentigen Aufschlags auf den Spitzensteuersatz, den Bildungssoli, vorgeschlagen. Das wäre verträglich. Ich habe mit vielen Wirtschaftsvertretern Gespräche geführt. Man hat mir gesagt: Wenn ihr wirklich sicherstellen könnt, dass das Geld, das dadurch reinkommt, für die Bildung verwandt wird, dann bin ich bereit, das zu zahlen. - Ich sage: Wenn wir das machen, dann geht jeder Cent davon in die Bildungspolitik, dahin, wo er dringend gebraucht wird. ({32}) Nun geht diese Legislaturperiode zu Ende, und Gesetze werden nicht mehr gemacht. ({33}) Dennoch tragen wir noch ein paar Tage gemeinsam die Regierungsverantwortung. Frau Merkel, Sie werden zusammen mit Peer Steinbrück die Bundesregierung auf dem G-20-Gipfel vertreten. Sie haben erklärt, dass Sie sich für strenge Regeln für die internationalen Finanzmärkte einsetzen wollen. Ich versichere Ihnen: Meine und unsere Unterstützung haben Sie dabei. ({34}) Glaubwürdig wird die deutsche Öffentlichkeit diese Position aber nur dann finden, wenn wir das, was wir international fordern, auch zu Hause tun. ({35}) Unser Oberlateiner kommt gleich noch. Hic Rhodus, hic salta, würde er wahrscheinlich sagen. Aber ich muss anfügen, dass es mit der CDU/CSU leider über viele Monate hinweg nicht möglich war, die steuerliche Absetzbarkeit von Abfindungen, die sich nicht nur auf die festen, sondern auch auf die variablen Bestandteile von Gehältern beziehen, einzuschränken. ({36}) Es war auch nicht möglich, den Boni-Wahnsinn ernsthaft zu begrenzen. Wir hatten vorgeschlagen, den festen und den flexiblen Gehaltsbestandteil in ein vernünftiges Verhältnis zu bringen. Das ist uns leider nicht gelungen. So bleibt es eine Aufgabe für die kommenden internationalen Verabredungen. Peer Steinbrück wird in Pittsburgh dafür kämpfen. Ich möchte Sie, Frau Bundeskanzlerin, bitten, ihn darin mit Nachdruck zu unterstützen. ({37}) 19 Tage sind es noch bis zur Bundestagswahl. Ich bin so gespannt wie Sie alle. Sie wissen, dass wir bis zum letzten Tag gespannt bleiben werden, weil sich die Menschen offenbar immer später entscheiden und weil man in einem Parlament mit vermutlich sechs Parteien immer schlechter voraussagen kann, in welchen Konstellationen und Koalitionen es nach der Wahl weitergeht, welches Bündnis regieren wird. Deutschland braucht jedenfalls - darum geht es mir nur - in den nächsten vier Jahren eine Regierung, die von dem Willen, zu gestalten, beseelt ist; ({38}) eine Regierung, die mit aller Kraft die Arbeitslosigkeit bekämpft; eine Regierung, die Arbeit zu fairen Bedingungen und anständigen Löhnen organisiert; eine Regierung, die mehr Geld in Zukunftsbranchen, in Forschung und Bildung steckt; eine Regierung, unter der alle Kinder faire Chancen bekommen; eine Regierung, die Solidarität und soziale Sicherheit nicht zur Disposition stellt. Das ist das Regierungsbündnis, für das ich kämpfe und für das ich mir am 27. September eine Mehrheit wünsche. ({39}) Ich wünsche meinem Land, dass ihm eine andere Regierung erspart bleibt, eine Regierung nämlich, die sich mit weniger zufriedengibt; eine Regierung, die den Staat arm macht; eine Regierung, die das Gesundheitswesen lieber privatisieren als stabilisieren will; eine Regierung, die den Kündigungsschutz schwächen will; eine Regierung, die die Mitbestimmung als Folklore abtut. Ich wünsche mir, dass das an unserem Land vorbeigeht. ({40}) Aber mir geht es wie Ihnen, meine Damen und Herren: Die Wählerinnen und Wähler werden ihr Urteil sprechen. Ich kann Ihnen versichern: Dieses Urteil wird anders ausfallen, als sich das manche hier wünschen. ({41}) Ich bin fest davon überzeugt: Dieses Land, Deutschland, ist ein sozialdemokratisches Land, ({42}) und es gibt nur eine Sozialdemokratische Partei. Deshalb werden sich Ihre Blütenträume von Schwarz-Gelb nicht erfüllen. Das war 2002 nicht so, das war 2005 nicht so, und das wird 2009 wieder nichts. Herr Westerwelle, es geht um unser Land - da haben Sie recht -, aber es geht nicht um Sie. ({43})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Vorsitzende der Fraktion Die Linke, Dr. Gregor Gysi. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe jetzt drei Wahlkampfreden gehört. Es wird Sie nicht wundern: Sie alle haben mich nicht überzeugt, ({0}) wobei ich sagen muss: Bei Frau Merkel habe ich verstanden, dass sie Kanzlerin bleiben will. Welche Politik sie machen will, kam aber irgendwie nicht zum Ausdruck. Dann habe ich Sie, Herr Steinmeier, nicht ganz verstanden; das ging ein bisschen durcheinander. Wollen Sie Vizekanzler bleiben oder mit uns koalieren? Das habe ich jetzt nicht richtig verstanden. ({1}) Bei Herrn Westerwelle habe ich verstanden, dass er Vizekanzler werden will. Das alles kann aber doch keine Wahlmotivation sein. Im Übrigen verstehe ich die FDP und die SPD nicht. Warum kämpfen Sie die ganze Zeit gegeneinander? Wer sich ernsthaft entschieden hat, die FDP zu wählen, der kommt doch nicht zur SPD, und wer sich, aus welchen Gründen auch immer, entschieden hat, die SPD zu wählen, der kommt doch nicht zur FDP. ({2}) Ich wollte Ihnen nur sagen: Das können Sie beide einfach vergessen. ({3}) In einem Punkt muss ich Herrn Stiegler verteidigen, Frau Merkel: Sie können keinen Applaus mehr anordnen; das geht nicht mehr. Die Zeiten sind vorbei. Wenn man nicht klatschen will, dann lässt man das einfach bleiben. ({4}) Das ist Ihnen gar nicht aufgefallen: Es gab schon drei Landtagswahlen. Ich darf das hier einmal sagen: Wir haben in Sachsen gut, in Thüringen sehr gut und im Saarland gigantisch abgeschnitten. Das darf man doch einfach einmal feststellen. ({5}) Ich möchte jetzt der SPD und den Grünen nur zwei Takte sagen: Erstens. Wenn man drittstärkste Kraft ist, dann kann man nicht so tun, als ob die Wählerinnen und Wähler der SPD einen doppelten Wert haben wie die Wählerinnen und Wähler der Linken. Das steht weder im Grundgesetz noch in der Landesverfassung von Thüringen. Man muss einmal lernen, Wahlergebnisse zu respektieren. Das ist doch nicht zu viel verlangt, auch von der SPD nicht. ({6}) Zweitens. Ich habe festgestellt, dass die SPD und die Grünen in Thüringen und die Grünen im Saarland die Sondierungsgespräche weit hinter den 27. September 2009 hinausschieben wollen. ({7}) - Hören Sie doch einmal zu! - Dazu möchte ich Ihnen nur Folgendes sagen: Ich verstehe Sie beide. Sie von der SPD sagen sich: Wenn wir zur Union gehen, dann verlieren wir Stimmen, wenn wir zur Linken gehen, dann verlieren wir auch Stimmen. Sie von den Grünen sagen sich: Wenn wir zur Union gehen, dann verlieren wir Stimmen, wenn wir zur Linken gehen, dann verlieren wir auch Stimmen. Deshalb denken Sie: Verschieben ist das Beste. ({8}) Eines sage ich Ihnen beiden aber auch: Wer verschiebt, der verliert auch Stimmen. Und das ist auch richtig so. ({9}) Jetzt komme ich zur Politik zurück. Mit Ausnahme der Linken gibt es in diesem Bundestag doch in Wirklichkeit eine Konsenssoße. Es gibt zwei nennenswerte Widersprüche zwischen Ihnen: der eine bei der Nutzung der Atomenergie - Herr Steinmeier hat das angesprochen -, der andere beim flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn; das stimmt. Dann ist bei den Kernfragen aber auch Schluss. Nehmen wir den Krieg in Afghanistan, über den wir vorhin diskutiert haben. Sie alle sind einer Meinung und glauben im Ernst, man könne Terrorismus mittels Krieg bekämpfen. Ich sage Ihnen: Im Krieg sterben immer Unschuldige und Unbeteiligte. Dabei entsteht Hass, und die Bin Ladens nutzen diesen Hass, um neue Terroristen zu rekrutieren. Deshalb ist das das völlig falsche Mittel. Wir müssen raus aus der Spirale der Gewalt, gerade wenn wir den Terrorismus bekämpfen wollen. ({10}) Deutschland ist inzwischen der drittgrößte Waffenexporteur der Welt. Es gibt keinen Krieg, an dem wir nicht mitverdienen. Solange an Kriegen so viel verdient wird, hören sie auch nicht auf. Das müssen wir ändern. Wir müssen den Waffenexport verbieten. ({11}) Nehmen wir einen weiteren Punkt: die Rentenkürzung. Sie haben die Rentenformel und damit das Rentenniveau geändert. Darin waren sich wieder alle vier einig: Union, FDP, SPD und Grüne. ({12}) - Natürlich. Sie alle haben die Rentenkürzung um zwei Jahre beschlossen. Ich sage Ihnen eines: Was mich daran wirklich stört, ist, dass nicht einmal die SPD auf die Idee kommt - bei der Interessenlage der anderen kann ich es noch irgendwie nachvollziehen -, einen anderen Weg zu gehen. Wir könnten doch drei Punkte beschließen. Wir könnten erstens regeln, dass in der künftigen Generation nicht nur die abhängig Beschäftigten, sondern alle, die ein Einkommen beziehen - auch Abgeordnete, Ärztinnen und Rechtsanwälte -, in die Rentenkasse einzahlen müssen. Das wäre ein gewaltiger Schritt. ({13}) Zweitens könnten wir die Beitragsbemessungsgrenzen aufheben. Dann muss eben ein Siemens-Chef seinen Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung aus seinem gesamten Einkommen statt nur aus einem kleinen Teil davon zahlen. Als dritter Punkt sollte der damit verbundene Rentenanstieg abgeflacht werden. Das wären drei Reformen. Dann könnte jeder eine vernünftige gesetzliche Rente erhalten. Aber die SPD hat zugestimmt, die Rente einfach um zwei Jahre zu kürzen, und dann sagen Sie, Herr Steinmeier, dass Sie keinen Sozialabbau mitmachen. Eine Rentenkürzung um zwei Jahre ist doch wohl ein gigantischer Sozialabbau. ({14}) Nehmen wir die Agenda 2010 und die Hartz-IVGesetze. Sie alle sind für Hartz IV. Wir sagen: Das ist ein Akt falscher Gleichmacherei und ein Akt der Demütigung. Deshalb wollen wir Hartz IV überwinden. Aber wir sind in diesem Bundestag die Einzigen, die das wollen. ({15}) - Ja, ja. Nachher stimmen wir über einen Antrag ab. Darauf bin ich schon gespannt. Darin geht es um die Erhöhung des Schonvermögens. Das fordert auch die FDP. Mal sehen, wie Sie nachher abstimmen. Ich war bei Hart aber fair zu Gast. ({16}) Dort trat eine Frau auf, die teilzeitbeschäftigt ist und zusätzlich ALG II bekommt. Deren Tochter hat in den Ferien drei Wochen gearbeitet, um sich von dem dabei verdienten Geld eine Gitarre zu kaufen, und dann hat das Amt der Frau mitgeteilt, dass ihr dieses Geld vom ALG II abgezogen wird. Ich finde, das ist ein Skandal. Nachher können wir entscheiden, dass das ein Ende hat. Mal sehen, was Sie nachher beschließen. Ich bin sehr gespannt. ({17}) Sie alle haben die Senkung des Spitzensteuersatzes beschlossen. Herr Steinmeier, Sie wollen ihn um zwei Prozentpunkte erhöhen. Ich darf Sie daran erinnern, dass wir unter Herrn Schröder mit einem Spitzensteuersatz von 53 Prozent begonnen haben, den Sie auf 42 Prozent gesenkt haben. Davon hat Kohl nur geträumt. Er hat sich das nie getraut. Das haben die SPD und die Grünen umgesetzt. Das ist die Wahrheit, und das führte dann letztlich auch zu einem Sozialabbau. ({18}) Keine andere Partei im Bundestag außer der Linken will eine Vermögensteuer, auch die Grünen nicht. Sie wollen eine einmalige Abgabe durch die Vermögenden, aber keine Steuer, nicht dass sie regelmäßig etwas zu zahlen hätten. Das ist doch das ganze Problem: Die Linken sind nicht Bestandteil dieser Konsenssoße. Deshalb mögen Sie uns nicht. Deshalb ist unser Wahlergebnis das entscheidende. Denn Sie ändern sich nur in Bezug auf das Wahlergebnis der Linken. Sie glauben doch nicht, dass sich die SPD ändert, wenn die Grünen zwei Prozentpunkte mehr haben, oder dass es die Union interessiert, ob die FDP zwei Prozentpunkte mehr bekommt. Aber wenn wir stark abschließen, dann werden Union, SPD und Grüne sozialer. Das ist die Wahrheit, und das wissen immer mehr Leute. Deshalb bin ich auch ganz optimistisch. ({19}) Es begreifen immer mehr Menschen, dass es gesellschaftspolitisch irrelevant ist, ob wir eine Regierung in dieser oder in jener Konstellation bekommen. Es geht in unserer Gesellschaft um ganz andere Fragen. Herr Jörges hat im Stern übrigens völlig zu Recht geschrieben, worum es geht: „Die Linke in der Krise klein halten, koste es, was es wolle“. Er behauptet, dass die Menschen die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes und die Abwrackprämie nur unserer Existenz verdanken. Ich finde, das sollte man verbreiten, damit es alle wissen. ({20}) Dann will ich noch ein bisschen in die Geschichte zurückgehen. Was ist passiert? Als die Grünen zusammen mit Schröder regierten, haben sie den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer gesenkt. Dann haben sie entschieden, dass die Deutsche Bank, wenn sie etwas verkauft, auf den Kaufpreis keine Steuern mehr bezahlen muss. Sie haben aber auch entschieden, dass ein Bäckermeister das Doppelte bezahlen muss, wenn er etwas verkauft. Es ist ja wahnsinnig sozial, was Sie damals entschieden haben. Damit haben Sie alle Hedgefonds eingeladen. Herr Steinbrück hat bei Frau Illner zu mir gesagt, dadurch seien wir Weltklasse geworden. Ich kann nur feststellen, Herr Steinbrück: Dadurch sind wir in eine Weltklassekrise geraten. Das ist wahr. Ansonsten hat das mit Weltklasse überhaupt nichts zu tun. ({21}) Das war doch eine Einladung an alle Hedgefonds. Die können hier kaufen und verkaufen, was sie wollen. Sie müssen nie einen Cent Steuern zahlen. Dafür haben SPD und Grüne gesorgt, und die Union hat es selbstverständlich nicht korrigiert. Dann haben Sie die Körperschaftsteuer zuerst von 45 Prozent auf 25 Prozent und jetzt in Ihrer Koalition von 25 auf 15 Prozent gesenkt. Was macht man, wenn man auf so viele Steuereinnahmen verzichtet? Dann muss man jemanden zur Kasse bitten. Deshalb haben wir bei der Einkommensteuer den Steuerbauch. Deshalb haben Sie die Pendlerpauschale grundgesetzwidrig gekürzt. Herr Steinmeier, handelt es sich nicht um Sozialkürzungen und einen Abbau des Sozialstaates, wenn man den Menschen - grundgesetzwidrig - die ersten 20 Kilometer nicht mehr bezahlen will? Das ist doch wohl ein Abbau des Sozialstaates. Nichts anderes haben Sie beschlossen. ({22}) Dann haben Sie den Sparerfreibetrag gesenkt, damit auch die Kleinsparer früher Steuern zahlen müssen. Dann haben Sie entschieden, die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent zu erhöhen. Hier hat Herr Westerwelle recht: Sie haben ein Wahlversprechen gebrochen. Diese Mehrwertsteuererhöhung hat den schlimmsten Sozialabbau zur Folge, den man betreiben kann. ({23}) Frau Merkel, Sie sind nun eine ostdeutsche Kanzlerin. ({24}) Hat sich strukturell irgendetwas an der Situation der Ostdeutschen durch Sie in den letzten vier Jahren verbessert? - Gar nichts! ({25}) Noch immer wird mir erzählt, geringerer Lohn bei längerer Arbeitszeit im Osten führe zum Abbau der Arbeitslosigkeit. Aber sie ist dort noch immer doppelt so hoch. Wenn eine naturwissenschaftliche These durch ein 19-jähriges Experiment widerlegt ist, könnten Sie endlich sagen: gleicher Lohn für gleiche Arbeit bei gleicher Arbeitszeit. Das sagen diejenigen, die vereinigen wollen. ({26}) Nehmen wir den Niedriglohnsektor als Beispiel. 19 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse in den alten Bundesländern sind Niedriglohnverhältnisse. In den neuen Bundesländern sind es 41 Prozent. Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse: Insgesamt macht das 17 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse in den alten Bundesländern aus, aber 65 Prozent der Arbeitsverhältnisse in den neuen Bundesländern. Ein weiteres Beispiel: Nach wie vor haben wir keine gleiche Rente für gleiche Lebensleistung. Wir haben dazu 17 Anträge gestellt. Ich möchte, dass Sie, Frau Merkel, und Sie, Herr Steinmeier, aber auch Sie, Herr Westerwelle, und Sie, Frau Künast und Herr Trittin, den Menschen im Osten nur drei Fragen beantworten: Warum dürfen geschiedene Frauen aus der ehemaligen DDR - im Unterschied zu allen anderen Frauen - keinen Versorgungsausgleich bekommen, wie wir es beantragt haben? Warum stimmen Sie nicht der Korrektur zu, dass die 1990 gestrichenen Anwartschaftsjahre von Hausfrauen, die über Jahre „Marken geklebt“ und Anwartschaftsjahre erworben haben, wieder anerkannt werden? Warum können Sie all dem nicht zustimmen? ({27}) Warum können Sie nicht der Korrektur der 1990 gestrichenen gesetzlichen Rentenansprüche von eingetragenen Familienmitgliedern privater Handwerker zustimmen? Warum können Sie das nicht machen? Sie alle lehnen das ab. Ich finde, das ist ein völlig falscher Weg. ({28}) Vollbeschäftigung ist ein redliches Ziel; das stimmt. Aber was ist denn bis 2008 passiert? Sie tun so, als ob Sie Arbeitslosigkeit abgebaut hätten. Darf ich Sie auf Folgendes hinweisen? - Sie haben 1,6 Millionen Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse abgebaut, aber 2,6 Millionen prekäre Beschäftigungsverhältnisse aufgebaut. ({29}) Sie haben oft einen Vollzeitjob in zwei 400-Euro-Jobs umgewandelt. Das hat mit „sozial“ gar nichts zu tun und löst nicht das Problem, sondern verschärft es. Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zur Bildung sagen, da alle darüber reden. Es ist wirklich ein starkes Stück. SPD und Union haben beschlossen, das Grundgesetz zu ändern. Der Bund ist aus der Zuständigkeit für die Schulsysteme ganz hinausgeflogen. Sie wollten dann in Bildung investieren, mussten aber feststellen, dass Sie sich gerade selber ein Bein gestellt haben und gar nicht mehr investieren dürfen. So kam das Programm zur energetischen Sanierung der Schulgebäude zustande. Wir brauchen aber mehr Lehrerinnen und Lehrer sowie mehr Erzieherinnen und Erzieher. Wir brauchen mehr Nachmittagsbetreuung und Förderung. Wir brauchen zudem mehr Gemeinschaftsschulen. Die frühe Trennung der Kinder führt zu nichts anderem als zu sozialer Ausgrenzung. Das wird in Bayern ganz großgeschrieben. ({30}) Es gibt in jeder Gesellschaft eine unschuldige Gruppe. Das sind die Kinder. Das Einzige, wozu wir verpflichtet sind, ist, ihnen gleiche Chancen einzuräumen. Ich will gleiche Chancen für das eine Kind des Professors wie für das dritte Kind der alleinerziehenden Hartz-IV-Empfängerin. Aber davon sind wir in Deutschland meilenweit entfernt. ({31}) In die Bildung müssen wir wirklich investieren, aber nicht bei 16 verschiedenen Schulsystemen. Das ist 19. Jahrhundert. Wir brauchen ein Topbildungssystem von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern. Jedes Kind muss die Chance auf eine Topbildung erhalten. ({32}) Deshalb zum Schluss: Ihre Regierungstätigkeit hat sich vielleicht für Sie gelohnt, aber nicht für die Bevölkerung. Danke schön. ({33})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast. Vizepräsidentin Petra Pau ({0})

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich nur mit einem Satz auf die sehr engagierte Rede des Kollegen Gysi eingehen: Lieber Gregor Gysi, wärst du doch einfach in Berlin Wirtschaftssenator geblieben und hättest dort all die guten Ideen realisiert, über die du hier geredet hast, ({0}) dann hättest du dich hier nicht mit so einem hochroten Kopf engagieren müssen. Wir allerdings hätten dann gewusst, ob den guten und engagierten Worten auch jemals Taten folgen. Interessiert hätte es mich schon. ({1}) Ich will es damit bewenden lassen und einige Worte zur Bundeskanzlerin und ihrer heutigen Rede zur Situation Deutschlands sagen. Diese Rede der Bundeskanzlerin war nicht wegweisend, sondern das war im Gegenteil die typische Schlafwagenrede von Angela Merkel - man kann auch sagen: eine Valiumrede -, die dem DreiPunkte-Schema folgte: erstens das Thema benennen, zweitens eine Frage stellen und sich drittens um die Antwort drücken. Das hat sich durch ihre komplette Rede gezogen. ({2}) Wir haben die Situation, dass diese Gesellschaft und dieses Land vor wirklich tiefgreifenden Problemen stehen. Wir haben den Klimawandel, also das größte Marktversagen, das wir kennen. Wir haben eine durch ein zutiefst ungerechtes Bildungssystem blockierte Gesellschaft. Wir haben die höchste Verschuldung seit 60 Jahren. Wir haben eine Weltwirtschafts- und Finanzkrise mit Kurzarbeit und vermutlich bevorstehenden Entlassungen. Sie, Frau Merkel, haben fast alle Themen benannt, aber keine einzige Antwort gegeben. Das reicht definitiv nicht aus. ({3}) Man könnte sagen: Frau Merkel hat heute wieder einmal Kreide gefressen, weil sie alles benennt, sich aber um die Antwort drückt. Das war wie in der Großen Koalition. Frau Merkel vorneweg bietet immer kurzfristige Scheinlösungen, kuriert ein bisschen am System herum, und am Ende wird noch die soziale Marktwirtschaft beschworen. Aber was wir wirklich brauchen, ist eine Neuausrichtung, eine Neustrukturierung der Wirtschaft in Deutschland. Wir hatten auch in den Schlüsselindustrien, zum Beispiel in der Chemieindustrie und in der Automobilindustrie, schon vor der Krise eine große Überproduktion und große Strukturprobleme. Wer dieses Land aus der Krise herausführen will, der darf nicht sagen, dass wir wieder wie vor der Krise sein wollen, sondern er muss jetzt neue Antworten geben. Aus der Krise kommen wir nicht mit der Denkweise von gestern, nicht mit der Denkweise, die uns in die Krise geführt hat, sondern mit neuen, innovativen Lösungen, mit dem Mut, den alten Lobbyisten nicht mehr auf dem Schoß zu sitzen, sondern ihnen einmal auf die Füße zu treten. ({4}) Wir brauchen in diesem Land keine Scheinlösungen, sondern wirklich neue Ideen und andere Strukturen, gerade für die Schlüsselindustrien Deutschlands. Das geht nicht mit Wischiwaschi, wie es Frau Merkel gemacht hat, sondern alle Maßnahmen, die man ergreift, müssen dem Kriterium entsprechen, dass es keine Neuverschuldung geben darf, ohne dass ein Mehrwert, eine Neuausrichtung entsteht. Wer einfach neue Schulden macht, wie sie es getan hat, versündigt sich an der jüngeren Generation. ({5}) Im Zusammenhang mit Scheinlösungen muss ich Opel erwähnen. Die Bundesregierung hat beim Thema Opel vorgeführt, was sie alles nicht kann. ({6}) Jetzt findet quasi ein Wettbewerb statt, wer von den Ministern am schönsten aussieht. Das interessiert uns aber hier überhaupt nicht. ({7}) Wir wollen wissen, wer wirklich professionell an die Aufgabe herangeht und was er für die Opelaner tut, egal ob in Bochum, Rüsselsheim, Eisenach oder in Kaiserslautern. Aber diese Regierung hat die Verhandlungssituation komplett falsch eingeschätzt. Jetzt haben wir eine Bundesregierung, die am Gängelband des GeneralMotors-Verwaltungsrats ist. Das war handwerklich nicht gut gemacht. ({8}) Man muss nach vier Jahren Großer Koalition eines sagen: Deutschland hat vier verlorene Jahre hinter sich, eben weil es keine Neuausrichtung gab. Deutschland hat sich verschuldet, ohne zu wissen, wer dafür eigentlich zahlen soll. Deutschland hat in diesen vier Jahren keine Neuausrichtung auf Zukunftsprojekte vorgenommen. Sie von der Koalition behaupten - Frau Merkel heute vorneweg -, Sie bauten Brücken. Brücken bauen Sie immer nur ins Nichts. Die Abwrackprämie oder die Kurzarbeit: Was folgt denn danach? Mir kommt es so vor, als würden Sie an einem Ufer anfangen, eine Brücke zu bauen. Nur leider endet sie in der Mitte des Sees, da, wo der See am tiefsten ist. Wer kauft Autos nach Ablauf der Abwrackprämie? Was produzieren die Automobilkonzerne und deren Zulieferer eigentlich, wenn die Abwrackprämie ausgelaufen ist? Wie sollen angesichts von Kohlekraft- und Atomkraftwerken - ich erinnere an Ihre Wünsche, deren Laufzeiten zu verlängern - die erneuerbaren Energien, die damit verbundene Effizienz und die damit einhergehenden Jobmöglichkeiten wachsen? Sie bauen keine Brücken in die Zukunft, sondern Sie haben in den vergangenen vier Jahren lauter Brücken ins Nichts gebaut. ({9}) Was sind denn die dringendsten Probleme? Schauen wir uns einmal den Sozialbereich an. Dazu hat Frau Merkel heute wieder einmal gar keine Antwort gegeben. Sie hat gesagt - dieser Satz ist mir aufgefallen -, das Thema Kündigungsschutz sei für sie abgehakt. Ich weiß nicht, wie sie es meint: Denkt sie an die Reduzierung oder an den Erhalt des Kündigungsschutzes? Man kann an dieser Stelle nur in das Grundsatzprogramm der CDU schauen. Was ist ihre Reaktion auf die Sorgen der Menschen in diesem Land? Diese Menschen fragen, ob ihr Job sicher ist, ob ihnen gekündigt wird, ob sie einen neuen Job finden. Dazu sagt die Kanzlerin, das Thema Kündigungsschutz sei für sie abgehakt. Das Grundsatzprogramm der CDU von 2007 besagt, eine Flexibilisierung des Kündigungsschutzes sei ein Gebot der Gerechtigkeit. Das bedeutet, dass kleinere Unternehmen - Unternehmen bis 20 Personen - mehr Möglichkeiten haben sollen, Arbeitnehmern zu kündigen. ({10}) Das Ganze wird präzisiert durch Papiere, von denen Herr Guttenberg mittlerweile nichts mehr wissen will. Wenn ich mir vorstelle, dass auch noch die WesterwelleFDP der Regierung angehört, dann weiß ich, wie Sozialpolitik Ihrer Meinung nach in Zukunft aussehen soll. Schon deshalb muss man Schwarz-Gelb verhindern. ({11}) Was sind Ihre Sorgen um das Soziale? Nehmen wir einmal die Menschen in diesem Land, die wirklich einen Vollzeitjob haben und denken, dass sie von ihrer Hände Arbeit sich selber ernähren können, also nicht aufs Amt laufen müssen - was ich für selbstverständlich, für eine Frage der Würde halte. In Thüringen bekommen eine Friseurin 3,18 Euro die Stunde und ein Wachmann 4,32 Euro die Stunde. Für den Kollegen Gregor Gysi: Bis vor kurzem zahlte auch Berlin für so manchen outgesourcten Wachmann 5 Euro die Stunde. Das änderte sich erst, nachdem andere immer wieder mit dem Finger darauf hingewiesen hatten. Gut, dass auch andere Stimmen bekommen und euch nachhelfen können, mein Lieber! Die CDU sagt zu diesem Thema: Mindestlöhne schränken die notwendige Flexibilität der Unternehmen ein und verteuern die Arbeit. Auch das CDU-Wahlprogramm besagt: Das für ein menschenwürdiges Leben - das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen notwendige Einkommen sichert nicht ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn. Ja, wer denn dann? ({12}) Es kann doch nicht sein, dass Unternehmen Profit machen, dass deren Arbeitnehmer zum Amt laufen und dass die öffentliche Hand nachher von nicht eingenommenen Steuern Wohngeld und anderes finanziert. ({13}) Es gehört zur Sozialbindung des Eigentums des Unternehmers, dass man Mindestlöhne zahlt. So steht es im Grundgesetz. Deshalb brauchen wir einen Mindestlohn von 7,50 Euro. Was ist mit den Menschen in Armut? Was haben Sie eigentlich dazu gesagt? Frau Merkel hat ein bisschen über Bildung geredet; darauf komme ich gleich zurück. Jedes sechste Kind in Deutschland lebt in Armut. Besonders betroffen sind Alleinerziehende; 44 Prozent von ihnen müssen von ALG II leben. Das kann im Alltag heißen, dass deren Kinder schon bei einer Klassenfahrt darauf angewiesen sind, dass andere Geld sammeln, damit sie mitfahren können. Außerdem können sie darauf angewiesen sein, dass andere Geld sammeln, damit sie zum Beispiel ein Musikinstrument bekommen. Was haben Sie an dieser Stelle in dieser Legislaturperiode getan? Ich sage Ihnen: faktisch nichts. Ihre Antwort heißt: Familiensplitting, also für Verheiratete mit vielen Kindern aufs Ehegattensplitting oben noch was drauf. Aber die Mehrheit der wirklich Armen in diesem Land sind die alleinerziehenden Eltern, und für die haben Sie gar nichts getan. ({14}) Dann schauen wir mal weiter beim Thema Gerechtigkeit! Gerechtigkeit hat für unsere Begriffe viel damit zu tun, dass wir nicht auf Kosten der kommenden Generationen leben. Wir haben jetzt die größte Verschuldung seit den 60er-Jahren, in diesem Jahr sicher mindestens 100 Milliarden Euro, im nächsten Jahr noch mal so viel. Hinzu kommt noch das Versteckspiel dieser Koalition: Finanzmarktstabilisierung, Investitionsfonds, Wirtschaftsfonds, alles in Schattenhaushalten versteckt. Ich sage Ihnen ganz klar: Es ist nicht gerecht, auf Kosten der Kinder zu leben. Es geht nicht an, sich jetzt nicht Gedanken darüber zu machen, wie dies abgezahlt wird. ({15}) Es ist schon gar nicht gerecht, dann noch, wie Union, CDU/CSU, und FDP es tun, über Steuerentlastungen nachzudenken. Wenn Sie, meine Damen und Herren, in dieser Situation von Steuerentlastung für Wohlhabende reden, ist darin die Drohung enthalten, an anderer Stelle Leistungen zu kürzen oder Abgaben zu erhöhen. Das wird am Ende heißen: Sozialabbau und Bildungsabbau oder, wie selbst Wolfgang Kubicki sagt, erneute Erhöhung der Mehrwertsteuer. ({16}) Das ist nicht gerecht. ({17}) Wovon zahlen Sie das denn? Ich weiß nicht, woher die zweistelligen Milliardenbeträge der CDU/CSU kommen sollen. Ich weiß nur eines: Herr Westerwelle macht Folgendes: Hier wird ein bisschen gestrichen, da wird ein bisschen gestrichen, und dann werden zweistellige Milliardenbeträge mit der Entwicklungshilfe für China finanziert, die allerdings nur 200 Millionen Euro - nicht 200 Milliarden Euro! - beträgt. Sie haben hier eine echte Lücke in Ihrer Rechnung. Deshalb muss man erwarten, dass Sie das auf Kosten des Sozialen aufbringen. ({18}) Wir sagen: Diese Generation muss sich Gedanken übers Abzahlen machen. Deshalb müssen in dieser Generation diejenigen, die von dieser Wirtschafts- und Finanzweise profitiert haben, anfangen, den Schaden zu beseitigen. Deshalb geht es nicht an, eine Steuersenkung zu versprechen. Was wir jetzt brauchen, ist eine befristete Vermögensabgabe, die gezielt gezahlt wird, um mit dem Abtragen der Schulden zu beginnen. ({19}) Worüber haben Sie an dieser Stelle und heute noch nicht geredet, Frau Merkel? Sie haben auf allen vergangenen Terminen wohltuende Worte über die Finanzmarktregulierung gesprochen. Sie kündigen jetzt schon wieder schöne Dinge an. Aber auch London und Washington waren Ankündigungen. Da hieß es von Ihnen: Kein Staat, kein Produkt, kein Institut soll unreguliert bleiben. - Nun kommt Pittsburgh. Schon wieder ein Versprechen! Für uns stellt sich aber die Frage: Wann passiert denn endlich was? Die Kanzlerin hat sich hier gerade mit ganz viel Emotion über den Vertrag von Herrn Eick echauffiert, der bei Arcandor nach sechs Monaten Arbeit insgesamt 15 Millionen Euro Abfindung erhält. Darüber kann man sich trefflich aufregen, das ist mehr als unanständig, aber wer mit dem Finger darauf zeigt, ist als Nächstes gefordert, zu sagen, warum er oder sie nicht selbst etwas dagegen getan hat. Weil in Deutschland Vertragsfreiheit herrscht - das ist auch gut so -, können wir die nicht zwingen, einen anderen Vertrag abzuschließen. Wir könnten aber dafür sorgen, dass in Zukunft nicht der Aufsichtsrat, sondern ganz öffentlich die Hauptversammlung über die Gehälter entscheidet. Das könnten wir gesetzlich festlegen. ({20}) Dann wüsste jeder, was Sache ist, und könnte sich dagegen entscheiden. ({21}) Was könnte man noch tun, und was hätte man gerade tun können? Sie haben das Gesetz über die Angemessenheit der Managervergütungen verabschiedet. Warum haben Sie in dieses Gesetz denn nicht die einzig sinnvolle Vorschrift hineingeschrieben, nämlich die, dass Gehälter oder Boni nur bis zur Höhe von 1 Million Euro steuerlich abzugsfähig sind, also nur bis zu dieser Höhe auf dem Rücken des Steuerzahlers gewährt werden? ({22}) Dazu hat die CDU/CSU Nein gesagt. Dazu hat auch Frau Merkel Nein gesagt. Aber das wäre das Richtige. ({23}) Dann würden nämlich die horrenden Gehälter oder die Verträge, nach denen schon nach sechs Monaten 15 Millionen Euro Abfindung gezahlt werden, nicht mehr durch die Minderung der Steuerberechnungsgrundlage dem Steuerzahler aufgebürdet, sondern knallhart zulasten des Profits des Unternehmens gehen. Das wäre die einzig richtige Entscheidung. ({24}) Jetzt kommen Sie damit, dass man eine rechtliche Verankerung des Rückforderungsrechts für den Fall vereinbart habe, dass die Profite einer Firma nicht ganz so groß gewesen seien wie erwartet. Dies reicht uns nicht aus. Wir wollen dafür Sorge tragen, dass große Gehälter nicht zulasten des Steuerzahlers gehen. So einfach ist das. Ich habe aufmerksam beobachtet, wie Herr Westerwelle engagiert gefordert hat, zum Beispiel die Bankenaufsicht zu verbessern und Ähnliches. Er hat die FDP als Partei der Bürgerrechte dargestellt. Ich wollte schon glauben, Sie seien die Partei der Verbraucherrechte. Ich denke aber, die FDP wäre gut beraten, nicht nur zu reden, sondern bei den Themen Banken, Arbeitnehmerrechte, Datenschutz und Internetrechte einmal auf ihre Landesminister zu achten. Wenn Sie hier den Bürgerrechtler geben, während Herr Wolf beim Verfassungsgericht mit der Forderung der Onlinedurchsuchung und Herr Goll mit der Forderung der Sicherungsverwahrung gegen die Wand läuft und die FDP in Niedersachsen das Polizeigesetz gar nicht erst durchbringt, ist das sehr doppelbödige Politik. ({25}) Was wir brauchen, ist ein Aufbruch zu einer ökologischen und sozialen Modernisierung dieses Landes. Wir hätten mit einem Zehntel des Geldes, das Sie für die Abwrackprämie ausgegeben haben, einen riesigen Entwicklungsboom bei der Elektromobilität auslösen können. Sie haben eine Brücke nur bis zur Wahl gebaut, und es besteht die Befürchtung, dass sofort danach 90 000 Arbeitsplätze gefährdet sind. Sie denken immer noch nicht darüber nach, wie eine gute Struktur für die deutsche Wirtschaft aussehen müsste. Ich habe mir ehrlich gesagt die Augen gerieben, als ich gehört habe, dass dieses Bundeskabinett beschlossen hat, für 2015 ein Projekt der unbemannten Mondfahrt mit 1,5 Milliarden Euro zu finanzieren. Was wollen wir eigentlich auf dem Mond? Wir wollen doch nicht Letzter auf dem Mond sein, sondern die Ersten, die Elektromobile mit einer modernen Technologie haben, welche in der Lage sind, von Flensburg bis München statt nur 80 Kilometer zu fahren. Damit wäre man vorne. ({26}) Diese Gesellschaft muss man so aufbauen, dass man in vier Jahren 1 Million neue Jobs schafft. Das kann man auch: durch erneuerbare Energien, durch Investitionen in Bildung und soziale Gerechtigkeit. Dafür muss aber der Blaumann in der Industrie endlich grün werden. Dafür muss man den Mut haben, der Wirtschaft nicht hinterherzulaufen und sie die Gesetze schreiben zu lassen, sondern ihr einen Ordnungsrahmen zu setzen. Wenn die CDU plakatiert: „Wir haben die Kraft“, ({27}) dann sage ich Ihnen ehrlich: Sie haben vier Jahre lang nicht die Kraft und nicht den Mut gehabt, der Wirtschaft Leitplanken zu setzen, um zu verhindern, dass sie auf Kosten der Umwelt ihr Wachstum und ihren Profit organisiert. Das ist die Wahrheit. ({28}) Sie propagieren immer noch: Weiter mit der Atomenergie! Das ist genauso falsch. Wer jetzt Hand an die Vereinbarungen zum Atomausstieg legt und Verlängerung fordert, schadet diesem Land, weil auf diese Weise keine neuen Arbeitsplätze im Bereich der erneuerbaren Energien und der effizienten Technologien entstehen, sondern nur die Profite der Atombetreiber erhöht werden. Aber wir haben verstanden: Wenn der Atomkonsens für Sie und die Atomkonzerne nicht gilt, dann gilt er auch nicht mehr für die Menschen in diesem Land, die diese Risikotechnologie mehrheitlich nicht wollen. Dann kämpfen wir dafür, dass die Atomwerke noch schneller abgeschaltet werden. ({29})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Künast, kommen Sie bitte zum Schluss.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. - Wir kämpfen dafür, dass die Menschen in Gorleben nicht mit Gutachten, die in Zeiten einer schwarz-gelben Bundesregierung vorsätzlich gefälscht wurden, über den Tisch gezogen werden. ({0}) Wir kämpfen dafür, dass die Kinder in diesem Land nicht an Leukämie sterben, wenn sie in der Nähe eines Atomkraftwerks wohnen. Wir kämpfen dafür, dass man die soziale Frage für die Frauen endlich löst, indem man ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft macht. Wir kämpfen für ein Bildungssystem, bei dem jedes Kind unabhängig vom Bildungsabschluss seiner Eltern die Chance hat, sich zu entwickeln. Wir wissen: Am 27. September steht dieses Land vor einer Richtungsentscheidung, weil es darum geht, wie wir aus der Krise herauskommen und wie wir die Weichen für ein ökologisches Wachstum stellen, das nicht zulasten der Umwelt geht. Die Debatte in der Zukunft geht darum: entweder erneuerbare Energien oder Atomenergie, entweder Bildung oder Steuersenkung.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin Künast, Sie müssen jetzt bitte zum Schluss kommen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mein letzter Satz, Frau Präsidentin. Dieses Land braucht einen Richtungswechsel, ({0}) weil wir nur mit einem Richtungswechsel aus der Krise herauskommen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Volker Kauder. ({0})

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was bewegt die Menschen im Augenblick am meisten? - Das sind die Fragen: „Sind wir schon durch die Krise durch?“ und „Bleibt mein Arbeitsplatz erhalten?“ Für diejenigen, die in Arbeit sind, ist die Arbeitsplatzsicherheit und für die jungen Menschen ist die Frage, ob sie einen Ausbildungsplatz bekommen und ob sie nach ihrer erfolgreichen Ausbildung weiterbeschäftigt werden, das zentrale Thema. Deswegen sagen wir von der Union: „Arbeit für alle“ ist unser Thema. Dafür müssen wir in den nächsten Wochen und Monaten und wahrscheinlich auch in den nächsten Jahren ganz energisch arbeiten. ({0}) Dass wir nicht nur davon sprechen - Arbeit für alle -, sondern dass wir von diesem Thema auch etwas verstehen, haben wir in den vergangenen vier Jahren gezeigt. Denn die rot-grüne Bundesregierung hat uns über 5 Millionen Arbeitslose hinterlassen. Diese Zahl haben wir auf unter 3 Millionen zurückgeführt. ({1}) Wenn es also einer bewiesen hat, dass er es kann, ({2}) dass er es schafft, die Arbeitslosigkeit zurückzuführen, dann war es die Union. ({3}) Wir haben dies mit den richtigen Konzepten gemacht. Es ist völlig klar: Wir brauchen Wachstumsantriebe, die unser Land nach vorne bringen und die unsere Wirtschaft motivieren. Die Stärke der Wirtschaft in unserem Land beruht auf dem Mittelstand und den Familienbetrieben, in die Menschen ihr ganzes Vermögen gesteckt haben. Diese Menschen stehen mit Haut und Haaren dafür ein, dass die Firma fortgeführt wird. Ihr Risiko und Ertrag ist nicht nur Ertrag und Risiko der Firma, sondern auch der ganzen Familie. Wenn Sie in diesem Bereich die Steuern erhöhen, dann nehmen Sie gerade denen die Kraft, auf die es in dieser Zeit besonders ankommt. ({4}) Einen größeren Unsinn, als die zu bestrafen, von denen wir erwarten, dass sie etwas machen, habe ich in der letzten Zeit nicht gehört. Um dieses Land voranzubringen, brauchen wir auch die Motivation der Menschen. Unsere Unternehmen sind keine Ansammlungen von Betriebsgebäuden und von Maschinen. In unseren Unternehmen arbeiten Menschen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Von diesen erwarten wir, dass sie ihre ganze Kraft einsetzen. Aber wenn diese die Botschaft erhalten, jede Überstunde ist mit besonders hohen Abgaben verbunden, dann ist dies keine Motivation. Ich nenne beispielsweise die Erzieherin, die jetzt zwar 120 Euro mehr bekommt, die aber von diesem Bisschen einen großen Teil an das Finanzamt und in die Sozialversicherung zahlen muss. Deswegen ist es richtig, wenn wir sagen: Wir werden die unteren und mittleren Einkommen entlasten, damit der Satz stimmt: Wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet. ({5}) Dass da Sozialdemokraten nicht mitmachen können, kann ich überhaupt nicht verstehen. Ich kann zwar noch nachvollziehen, dass ein Finanzminister seinen Haushalt zusammenhalten will und sagt: Es gibt vielleicht keinen Spielraum. - Aber eines kann ich überhaupt nicht akzeptieren: dass es immer dann einen Spielraum für die Senkung von Steuern gibt, wenn das Bundesverfassungsgericht es verlangt, und nie dann, wenn wir der Meinung sind, wir sollten dies machen. ({6}) Ich sage Ihnen: Wir werden die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen entlasten. Jetzt will ich ein klares Wort sagen: Natürlich gehört zu unserer Wirtschaft auch, dass sie über ausreichend Energie zu einem akzeptablen Preis verfügen kann. Wenn ich auf die offizielle Homepage des Bundesumweltministers schaue, sehe ich dort, dass die erneuerbaren Energien aktuell einen Anteil von 15,1 Prozent am Gesamtstrom haben. Die Prognose lautet: 2020 wird der Anteil der erneuerbaren Energien 30 Prozent betragen. Ich habe noch ganz normal rechnen gelernt - keine anderen Mittel verwendet, auch keine Mengenlehre -, nämlich dass eins plus eins zwei ist. Deswegen weiß ich, dass in zehn Jahren 70 Prozent Energie fehlen werden. Frau Künast, Sie haben ein paar schnoddrige Bemerkungen gemacht. ({7}) Ich sage Ihnen eines: In der Energiepolitik stellen Sie gar keine Fragen mehr, sondern sagen einfach: „Wir steigen aus der Atomenergie aus“, ohne mir zu erklären, wo die 70 Prozent Strom herkommen sollen, die im Jahre 2020 fehlen werden. ({8}) Deswegen sage ich Ihnen: Machen Sie Ihre Hausaufgaben! Wir haben ausdrücklich erklärt: Wir brauchen für eine Übergangszeit, bis wir durch Einsparen und erneuerbare Energien das Problem der Energieversorgung gelöst haben, Kohlekraftwerke, die modern gestaltet sein sollen, und Kernkraftwerke, die sicher laufen. Wir haben nicht davon gesprochen, dass das unsere Wunschform ist. Aber eines muss ich sagen: Es ist in höchstem Maße unredlich, wenn sich Grüne und andere der Lösung einer Endlagerung verweigern; denn gerade diejenigen, die den Ausstieg wollen, wissen, dass beim Ausstieg Atommüll anfällt. Dieser muss irgendwohin. Deswegen ist es nicht in Ordnung, nach dem Motto zu verfahren: Wer aussteigt, hat kein Problem mit der Endlagerung. Sie haben es erst recht. ({9}) Dies muss eine neue Koalition lösen. Es geht derzeit vor allem darum, dass wir Antworten darauf geben, was die Menschen jetzt von uns erwarten. Es kommt dabei darauf an - dies sage ich mit allem Nachdruck -, den Menschen keine Angst, sondern ihnen Mut zu machen. Wir brauchen Menschen, die zuversichtlich nach vorne schauen und zuversichtlich durch diese Krise gehen, und keine Menschen, die ängstlich sind. Ich kann Ihnen sagen - auch an die Adresse von manchem Sozialdemokraten gerichtet -: Wer Ängste schürt, wird die Stimmen der Wählerinnen und Wähler dafür zu Recht nicht bekommen. ({10}) Reden wir vielmehr davon, was notwendig ist. Dazu sage ich Ihnen: Wir sind auf einem guten Weg: Erstens. Diese Koalition hat einen wichtigen Einstieg dahin gehend gemacht, dass auch in Zukunft moderne Autos in Deutschland gebaut werden. Die Automobiltechnologie wird auch in Zukunft eine Schlüsseltechnologie sein. Deswegen ist es richtig, dass wir in die Elektromobilität einsteigen. Zweitens. Die Pharmazie wird ein wichtiges Thema bleiben. Wir haben zusammen mit den deutschen Pharmazieunternehmen in wichtigen Bereichen eine moderne Medizin zu entwickeln. Deswegen werden natürlich die Biologie, die Pharmazie, aber auch die Gentechnologie ({11}) Schlüsseltechnologien für den Aufbruch in eine Zukunft mit Arbeitsplätzen für qualifiziert ausgebildete junge Menschen sein. Auf diesem Weg gehen wir voran. Natürlich ist auch klar, dass Bildung das Thema ist. Als Bundespolitiker sind wir für Bildung in einem begrenzten Maße zuständig. ({12}) Ich sage Ihnen aber eines: Auch als Bundespolitiker können wir uns mit bildungspolitischen Fragen auseinandersetzen sowie dafür sorgen und werben, dass dort, wo wir an Landesregierungen beteiligt sind, der richtige Weg eingeschlagen wird. Ich sage Ihnen nur eines: In den Ländern, in denen es ein differenziertes Schulsystem gibt und in denen man sich sehr intensiv um die jungen Leute kümmert, um ihnen je nach Fähigkeiten und Stand der Entwicklung zu helfen, haben wir bessere Ergebnisse erzielt als in den Ländern, in denen Sie nur über Gesamtschulen diskutiert und in der Bildungspolitik nicht den richtigen Weg eingeschlagen haben. ({13}) Es ist doch nicht von ungefähr gekommen, dass zu Zeiten von Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen die Eltern auf die Barrikaden gegangen sind und sich ein Schulsystem nahe an den Kindern gewünscht haben, nicht nahe an der Ideologie von Rot-Grün. Das war der entscheidende Punkt. ({14}) Wir sollten auch in den natürlich vom Wahlkampf geprägten Diskussionen der nächsten Wochen klarmachen, worum es geht. Wir von der Union werden das machen. Uns geht es darum, dass Menschen, die sich jetzt in Kurzarbeit befinden und sich die Frage stellen, wie es weitergeht, von uns eine Perspektive bekommen und dass sich diese Menschen Hoffnung machen können, weil sie sehen: Da gibt es welche, die genau den richtigen Weg vorgeben. Mit Mut, Zuversicht und dem richtigen politischen Konzept führen wir dieses Land durch die Krise und aus der Krise heraus. Dafür bin ich Angela Merkel außerordentlich dankbar. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück. ({0})

Peer Steinbrück (Minister:in)

Politiker ID: 11004165

Wenn Sie das doch in Ihren Beziehungen zu Schweizer Bankern sowie zu Vertretern der Schweizer Regierung einmal ausgesprochen und auf den Punkt gebracht hätten! Sie haben hier „Kavallerie“ gerufen, um mich gleich einzunorden. Ich überlege noch, ob ich jetzt eine Wahlkampfrede halte ({0}) oder eine Parlamentsrede. Was ich definitiv nicht machen werde, ist, das Parlament mit einer Talkshow zu verwechseln, Herr Westerwelle. Der Fehler wird mir nicht passieren. ({1}) - Sie treten ja ganz anders auf. ({2}) - Nein. Sie versuchen, mir meine große Klappe vorzuhalten, obwohl Sie selber eine Maulsperre brauchen. Insofern ist es für Sie schwierig, hier mit Steinen zu werfen. ({3}) - Den brauche ich nicht immer, genauso wenig wie Sie; das haben Sie mit Ihrer Rede gezeigt. Wir können dasselbe Tempo halten, Herr Westerwelle. Da stehen wir uns in nichts nach. Heute in sieben Tagen ist es ein Jahr her, dass sich - die Pleite von Lehman Brothers war das Epizentrum das Beben weltweit ausbreitete. Zwei Tage später hätten wir es mit dem Fall von AIG mit einer Situation zu tun gehabt, die in der Tat nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern weltweit zu einer Kernschmelze der gesamten Finanzmarktarchitektur hätte führen können. Weltweit hat es entsprechende Erschütterungen gegeben. Es kam zu Übersprungeffekten. Ich habe damals sehr früh zwei Sätze gesagt: Erstens. Nach dieser Krise wird die Welt nicht mehr so aussehen wie vor der Krise. Diejenigen, die das bis heute nicht gelernt haben, sollten es durch die Beiträge des Deutschen Bundestages langsam lernen. Zweitens. Das ist nicht nur eine Krise, sondern eine Zäsur. Wir haben es nicht nur mit einer enormen ökonomischen Wertvernichtung zu tun, sondern wir haben es auch mit erheblichen sozialen, ja mit gesellschaftlichen Konsequenzen zu tun. Darüber will ich gerne einige Worte verlieren. Wichtig ist gewesen - das war die Leitschnur dieser Regierung, die wir gut eingehalten haben -, dabei vier Gedanken nicht nur zu verfolgen, sondern uns auch in der konkreten Politik daran zu halten. Erstens. Wir wollten keine Schlangen von Menschen vor der Filiale eines deutschen Kreditinstitutes sehen. ({4}) Das diesbezügliche Bild, dass sich vor der Filiale einer englischen Bank Schlangen von Menschen bildeten, die aus Verunsicherung und Angst ihr Geld abhoben, hat diese Politik sehr geprägt, weil wir gleichzeitig wussten, dass solche Bilder in Deutschland vor dem Hintergrund einer historischen Traumatisierung aus dem 20. Jahrhundert eine völlig andere Wirkung haben als im VereinigBundesminister Peer Steinbrück ten Königreich mit einer sehr viel kontinuierlicheren und weniger tragisch entwikkelten Geschichte des 20. Jahrhunderts. Zweitens. Wir wollten verhindern - dabei standen wir im Obligo auch internationaler Zusagen -, dass eine deutsche Bank, egal welcher Säule zugehörig, möglicherweise einen Dominosteineffekt auslöst, sodass andere Banken betroffen sind und plötzlich eine systematische Erschütterung erfolgt, die weit über Deutschland hätte hinausgehen können. Drittens. Wir wollten verhindern, dass sich eine solche Krise wiederholt. Anders als manche Oppositionspolitiker behaupten, lässt sich belegen, was uns in diesen letzten zwölf Monaten an Regulierungsmaßnahmen und der Umsetzung des Prinzips, dass kein Finanzmarktteilnehmer, kein Finanzmarktprodukt, kein einzelner Finanzmarkt ohne Aufsicht und ohne Regelung sein soll, gelungen ist. Viertens. Wir wollten nicht tatenlos zusehen, dass Millionen von Menschen unverschuldet in die Arbeitslosigkeit hineingeraten. Das ist der Sinn der Konjunkturpakete I und II gewesen. In diesem Sinne, glaube ich, dass die Große Koalition in diesen zwölf Monaten ein gutes Krisenmanagement geleistet hat. ({5}) Im internationalen Vergleich sind wir bisher nicht schlecht durch diese Krise gekommen. Die Konjunkturprogramme bekommen intern und vor allen Dingen auch von ausländischen Beobachtern sehr viel bessere Zensuren als von der Opposition. Es gibt eine Studie, die selten zitiert wird - ich glaube von der Boston Consulting Group -, die insbesondere dem Konjunkturpaket II im internationalen Vergleich Bestnoten gibt. Diese Studie spielt im politischen Schlagabtausch aber nur sehr selten eine Rolle. Die von Herrn Westerwelle so kritisierte Abwrackprämie ist inzwischen von mehreren Staaten, nicht zuletzt in den USA, ebenfalls eingeführt worden. Wenn er denn die Rolle bekommt, in die er gerne hinein möchte, dann kann er der amerikanischen Regierung ja vorhalten, welchen Mist sie gerade mit der Abwrackprämie gebaut hat. ({6}) Der allerletzte Kronzeuge für eine analytische Aufarbeitung dieser Krise, die allerletzte Instanz, die uns raten kann, wie wir über Leitplanken und Verkehrsregeln aus dieser Krise herauskommen, ist nun wirklich die FDP. ({7}) Ich kenne keine andere politische Kraft, auch in diesem Haus, die die Monstranz der entfesselten Märkte in der Zeit nach Reagan und Thatcher so hochgehalten hat wie die FDP. ({8}) Ich kenne keine andere Partei und keine andere Fraktion, die in den letzten zehn Jahren drögere Predigten einer Markttheologie gehalten haben als Ihre Partei. ({9}) Deshalb haben Sie bis heute auch kein Verhältnis zur Finanzmarktkrise. Ich kenne von Ihrer Fraktion, Ihrer Partei keinerlei Beiträge zur Aufarbeitung, die in irgendeiner Form von nennenswerter Bedeutung sind. Ich kenne entsprechende Beiträge von anderen Parteien, aber von der FDP kenne ich keine. Ich kenne keine einzige analytische Aufarbeitung, nur ein Stichwort, auf das ich später zu sprechen komme. Ich kenne kein konzises Papier, keine konzise Position von Ihnen über das, was Sie konkret an Finanzmarktregulierung in Zukunft für notwendig halten. Da ist nichts. ({10}) In Ihren Reden verirren Sie sich immer wieder in dem Thema Bankenaufsicht. Darüber kann man reden; ich komme gleich darauf zu sprechen. Aber mit diesem Seitenschritt lenken Sie in Wirklichkeit davon ab, dass Ihr ordnungspolitischer Faden gerissen ist. ({11}) Sie lenken davon ab, dass Ihre ideologische Markttheologie gescheitert ist, sonst müssten Sie sich auf mehr einlassen, als nur diesen Hinweis zur Bankenaufsicht zu geben. Im Übrigen verschweigen Sie dabei regelmäßig in fast allen Ihren Beiträgen, Herr Westerwelle, dass es vier oder fünf gesetzliche Initiativen der Großen Koalition zur Verbesserung der Bankenaufsicht gegeben hat. Zuletzt wurde übrigens im Juni ein Banken- und Versicherungsaufsichtsgesetz mit überwältigender Mehrheit des Parlamentes beschlossen. Sie verschweigen auch regelmäßig in den Parlamentsdebatten, dass wir es längst mit einer neuen Aufsichtsrichtlinie zur Zusammenarbeit von BaFin und Bundesbank zu tun haben, unbenommen der Tatsache, dass national wie international selbstverständlich weitere Themen zur Verbesserung der Bankenaufsicht anstehen. Das, was ich faszinierend an dem finde, was Sie hier betreiben, Herr Westerwelle, möchte ich anhand eines Zitats des Journalisten Nils Minkmar verdeutlichen. Er nennt das die akustische Möblierung des öffentlichen Raumes. Sie verwenden immer dieselben Stichworte, aber immer mit einer selbst verordneten Begrenzung Ihres Blickwinkels. Ich will Ihnen drei Beispiele aus Ihrer Rede geben. Sie behaupten mit großem Affront, großem Temperament und auch in einer erheblichen Lautstärke: Wir tragen dafür Sorge, dass Familien - verheiratet, zwei Kinder - mit einem Jahreseinkommen von bis zu 40 000 Euro keine Steuern bezahlen müssen. Dabei ist dies längst Fakt! ({12}) Die genaue Zahl beträgt nicht 40 000 Euro, sondern 39 000 und ein paar Zerquetschte, und zwar dank einer Steuerpolitik, die schon unter Schröder und später in der Großen Koalition gemacht worden ist. All diese Familien - verheiratet, zwei Kinder - zahlen, unter Anrechnung des Kindergeldes, in Deutschland keine Steuern. ({13}) Sie zahlen Sozialversicherungsabgaben. Da Sie sich immer auf dem Gebiet der Steuerpolitik verirren, gilt: Vorsicht an der Bahnsteigkante! Das geht meistens schief. ({14}) - Sie versuchen, einen Nerv zu treffen: die größte Steuerhöhe in der Geschichte der Republik. Ich stehe gar nicht lange an, um zu bestätigen, dass das mit der Mehrwertsteuer so gelaufen ist und dass das im Kurzzeitgedächtnis der Menschen drin ist; da gebe ich Ihnen recht. Das ist, wie ich glaube, einer der Gründe, warum sich CDU/CSU und SPD darauf geeinigt haben, an dem Regelsatz der Mehrwertsteuer nicht herumzufummeln. Was Sie aber regelmäßig verschweigen, ist, dass in der Zeit dieser Großen Koalition, wenn man die Gesamtheit aller steuer- und abgabenpolitischen Beschlüsse betrachtet, eine Nettoentlastung für die Bürgerinnen und Bürger herausgekommen ist. ({15}) Das kommt bei Ihnen nicht vor. So ähnlich ist es auch dann, wenn Sie sich auf andere Felder begeben, insbesondere, wenn Sie über Tatbestände der Unternehmensbesteuerung reden, zum Beispiel über die exorbitant hohe Substanzbesteuerung in Deutschland. Wissen Sie eigentlich, dass die Substanzbesteuerung in Deutschland im Vergleich mit anderen OECD- und EU-Staaten eine der niedrigsten ist? ({16}) Das wissen Sie nicht, aber Sie stellen sich trotzdem mit Aplomb hier hin und reden in einer Form über die Staatsverschuldung, dass man glauben könnte, wir hätten zurzeit nicht die größte Wirtschaftskrise seit Gründung der Republik. Mein Vorgänger in Sachen „größte Rekordschuldenzahl“ hatte wirtschaftlich gute Zeiten. Damals betrug das Wachstum gut 1 Prozent. Das ist aber ein Unterschied zu minus 5 oder minus 6 Prozent. Insofern ist der Hinweis auf den Schuldenstand unzweifelhaft richtig. Ich werde darauf zurückkommen, wenn es um Ihre Steuersenkungsarien geht. Wenn Sie Ihre Analyse in die Tatsache eingebettet hätten, dass wir nach einem Wirtschaftswachstum von minus 0,9 Prozent im Jahre 1975 jetzt mit minus 5 bis minus 6 Prozent die schärfste Wirtschaftskrise in der Geschichte der Bundesrepublik haben, die alle Haushaltskennzahlen wegfegt, und zwar bei Kommunen, Ländern und beim Bund, hätten Sie sich wenigstens intellektuell redlich verhalten; von politischer Redlichkeit will ich gar nicht reden. ({17}) Ihre Hinweise zur Abwrackprämie hatten Talkshowcharakter. Darüber kann ich lange reden. Im Übrigen gilt: Die Logik der Bundesregierung ist in diesem Zusammenhang völlig richtig gewesen. Eine Leitindustrie in Deutschland, an der nach wie vor ungefähr 700 000 bis 800 000 Arbeitsplätze hängen, vor dem Hintergrund eines der größten Einbrüche, die es je gegeben hat, zu stabilisieren, war völlig richtig. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn man Ihren Empfehlungen gefolgt wäre und diese Abwrackprämie nicht eingeführt hätte. Der Hinweis, das sei ein reiner Vorzieheffekt, ist richtig. Es ging ja gerade darum, die Automobilindustrie in dem sehr ungünstigen Jahr 2009/ 2010 zu stabilisieren, um den möglichen negativen Effekt in den Jahren 2010, 2011 und folgende in einem hoffentlich besseren konjunkturellen Umfeld zu haben. ({18}) Den Einwand der Grünen lasse ich nicht gelten. Es hat keine dezidierte ökologische Lenkungsüberlegung dabei gegeben. ({19}) Der konjunktur- und arbeitsmarktpolitische Effekt stand im Vordergrund. Abgesehen davon hat die Abwrackprämie natürlich einen ökologischen Lenkungseffekt. Wenn Sie zehn Jahre alte Klitschen durch neue Autos mit einem anderen Emissionswert ersetzen, hat das einen Umwelteffekt. ({20}) Ich sprach vorhin davon, dass wir nicht nur über die ökonomischen Folgen dieser Krise zu reden haben. Das, was Sie und ich im Wahlkampf erleben, sind die sozialen Auswirkungen. Etwas komplizierter ausgedrückt, heißt das: Viele Leute zweifeln an der Balance dieser sozialen Marktwirtschaft. Man kann auch sagen: Diese Krise hat die legitimatorischen Grundlagen dieses Ordnungs- und Wirtschaftsmodells auf die Tagesordnung gehoben. Genau darum geht es in diesem Bundestagswahlkampf und bei der Bildung einer neuen Regierung: Es geht um den Spannungsbogen zwischen dem, was Franz Müntefering sittenwidrig niedrige Löhne nennt, und der Frage, wie wir zukünftig mit Mindestlöhnen umBundesminister Peer Steinbrück gehen - Sie wollen sie wieder abschaffen - auf der einen Seite und den sittenwidrig hohen Abfindungen und Boni und der Frage, wie wir diese eingrenzen können, auf der anderen Seite. Da ist uns vieles gelungen. Wir haben ein Gesetz zur Angemessenheit von Vorstandsvergütungen verabschiedet, das derzeit unter Wert verkauft wird. Wir hätten gerne mehr. Es wird sehr stark darauf ankommen, auf internationaler Ebene andere Länder zu motivieren, die Boni stärker zu begrenzen, damit dieser Wettlauf von Land zu Land - Ähnliches gibt es bei Bundesligaspielern - aufhört. In London ist etwas Wichtiges beschlossen worden: Zum ersten Mal haben wir eine Limitierung beschlossen, keine Limitierung auf absolute Zahlen - das können Sie nicht machen -, aber eine Limitierung im Verhältnis der fixen Bestandteile zu den variablen Bestandteilen. Es wird sehr stark darauf ankommen, dass wir in Pittsburgh, nachdem das weiter aufgearbeitet worden ist, dazu kommen, dieses Verhältnis zu definieren, zum Beispiel 3:1, um ein Beispiel zu nennen. Diese internationale Festlegung müssen wir dann durch die jeweils nationalen Bankenaufsichten durchsetzen. Wir haben auch eine Mindestanforderung im Bereich des Risikomanagements durchgesetzt. Dadurch wird zum ersten Mal die Bankenaufsicht in die Lage versetzt, Vergütungssysteme dahin gehend zu überprüfen, ob sie an dem nachhaltigen Unternehmenszweck orientiert sind und nicht infolge einer Quartalsbilanzorientierung in Gang gesetzt werden. ({21}) Eine drängende Frage, die die Menschen beschäftigt, lautet: Wer zahlt die Zeche? Die zweite große Frage, die sie stellen, lautet: Ziehen wir die richtigen Lehren aus dem, was in diesen Irrsinn geführt hat? Sie repräsentieren die Denke, die in diese Krise geführt hat. Genau die wollen wir nicht mehr. ({22}) Ich will zwei, drei Bemerkungen zu den vollmundigen Steuerversprechungen, die vorgetragen werden, machen. Ich werde wahrscheinlich auch in die Beete der Empfindlichkeiten der Union hineintreten. Die Nettokreditaufnahme des Bundes im nächsten Jahr wird wahrscheinlich bei 100 Milliarden Euro liegen statt geplanter 6 Milliarden Euro. In der mittelfristigen Finanzplanung haben wir als Bund bereits jetzt durch Steuerausfälle 150 Milliarden Euro weniger. Die Staatsverschuldung wird von 1,6 Billionen auf wahrscheinlich 1,7 oder 1,8 Billionen Euro steigen. Die damit verbundenen Zinslasten werden steigen. Die Spielräume, über die Sie als Souverän zu entscheiden haben mit Blick auf die wichtigen Zukunftsfelder Bildung, Infrastruktur, Forschung und Entwicklung sowie Mittelstand werden dadurch immer weiter eingeengt. Wie man angesichts dieser Lage trotz Wahlkampfes vollmundig Steuerversprechungen machen kann, die sowohl die Einnahmesituation der Kommunen und damit die Daseinsvorsorge vor Ort als auch die der Länder und des Bundes buchstäblich aushebeln würden, ist mir ein absolutes Rätsel. ({23}) Der Hinweis von Herrn Kauder ist nicht tragfähig mit Blick auf die Umsetzung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, die sich im Bürgerentlastungsgesetz niederschlägt. Dies bewirkt ab 1. Januar 2010 eine Entlastung in Höhe von 9 Milliarden Euro. Aber Sie reden über den Faktor zwei oder drei; von der FDP will ich gar nicht reden. Das Simulationsmodell, das wir im Ministerium allein bezogen auf die Lohn- und Einkommensteuer plus Kinderfreibetrag gemacht haben, hat als Ergebnis 90 Milliarden Euro bei voller Jahreswirksamkeit. Das ist kein Witz. Das ist nicht die Abteilung „Agitation und Propaganda“. Insbesondere mit Blick auf die Absenkung des Spitzensteuersatzes in Ihrem Dreistufenmodell aus verteilungspolitischen Gesichtspunkten muss man hervorheben, dass die FDP etwas vorschlägt, das im oberen Bereich achtmal so viel Entlastung wie im unteren Bereich bringt. ({24}) - So sind sie. Das Bemerkenswerte ist, dass Sie nicht einmal dabei stehen bleiben. Die nächsten Nummern kommen. Sie wollen die Refinanzierungsmöglichkeiten bei der Unternehmensteuer rückgängig machen. Gute Reise, Herr Thiele! Wie machen wir das denn bezogen auf den Haushalt? Sie wollen die Gewerbesteuer abschaffen. Was halten denn CDU- und CSU-Kommunalpolitiker davon? Das, was Sie kompensatorisch einführen wollen, ist ziemlich unsicher und nimmt jedenfalls den Kommunen das Interesse, über eine eigene wirtschaftskraftbezogene Einnahmequelle das zu tun, wofür alle Sonntagsreden halten: Pflege von Handwerk und Gewerbe in dem eigenen Gemeindegebiet, weil man eine Rendite davon hat. Das kommt bei denen nicht mehr vor. Die Erbschaftsteuer - schön und sauber - wird in Zweifel gezogen. Die steuerpolitischen Vorstellungen, die da deutlich werden, würden bei ihrer Umsetzung die Achse dieser Republik definitiv aushebeln. ({25}) Teile Ihrer Vorstellungen sind leider Gottes nicht weit davon entfernt. Ich mache Ihnen eine Prophezeiung: Egal, wie die nächste Zusammensetzung der Regierung ist, keines dieser Versprechen wird erkennbar in der nächsten Legislaturperiode realisiert werden können, kein einziges. ({26}) Das sollten wir aus der letzten Operation Mehrwertsteuer als Lerneffekt mitnehmen; das richtet sich nicht an Sie von der FDP, sondern an uns alle. Abgesehen da26338 von sollte man darauf hinweisen, dass ein Teil der Mehrwertsteuererhöhung an anderer Stelle zu Entlastungen geführt hat, und zwar bei den Arbeitslosenversicherungsbeiträgen. Das wird immer verschwiegen. ({27}) - Von 6,5 auf 2,8 Prozent herunter, lieber Herr Gysi, ist eine Entlastung in Höhe von 30 Milliarden Euro. ({28}) - Ja, Sie sind ein Experte der Steuerpolitik, mit dem es schwer ist, zu streiten. Da braucht man 90 Minuten, um das zu erklären, was Sie in 5 Minuten geredet haben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Bundesminister, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie natürlich weiterreden können, allerdings inzwischen auf Kosten des Kollegen Stiegler. ({0})

Peer Steinbrück (Minister:in)

Politiker ID: 11004165

Das ist schade, weil ich hier gerade so schön in Fahrt bin. ({0}) - Ja, einiges daran stört Sie; aber Ihre Steuerpolitik werde ich Ihnen weiter vorführen. Das ist mein Kirchhof, was Sie da sagen. ({1}) Am 27. September dieses Jahres wird, wie ich glaube, über drei wichtige Grundsatzfragen entschieden: Erstens. Ziehen wir Lehren aus dem Irrsinn, und zwar national und - indem wir uns entsprechend einbringen auch international? Zweitens. Sorgen wir für einen handlungsfähigen Staat, der wichtige öffentliche Dienstleistungen bezahlbar hält, auch für diejenigen, die dies privat sonst sehr viel teurer bezahlen müssten? Das gilt insbesondere für Bildung und die Frage der kostenlosen Zugänge zu Bildung. Drittens. Halten wir diese Gesellschaft weltoffen, tolerant und so zusammen, dass die innere, die soziale Stabilität, die soziale Kohäsion nicht aufgegeben wird im Zuge dieser Wirtschafts- und Finanzkrise? ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Hermann Otto Solms das Wort.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister Steinbrück, ich habe Ihre Rede vor dem Fernseher verfolgt und gehört, dass Sie zum Ausdruck gebracht haben, die FDP-Fraktion habe zum Thema Finanzmarkt keine Vorschläge gemacht. Daraufhin habe ich mir schnell vier wesentliche Positionspapiere, die wir in den letzten Wochen und Monaten verabschiedet haben, ausdrucken lassen. ({0}) Ich nenne einige Beispiele: „Grundsätze für Managervergütungen“ vom 24. März 2009, ({1}) „Liberale Antworten auf die Finanzkrise“ - das ist ein Beschluss unseres Bundesparteitages in Hannover im Mai dieses Jahres -, „Verbraucherrechte im Finanzmarkt stärken“ vom 5. Mai 2009 ({2}) und ein Papier mit dem Titel „Bankeninsolvenz“ vom Juni dieses Jahres, in dem wir die Einführung eines dem Insolvenzverfahren vorgelagerten Restrukturierungsverfahrens vorschlagen. Außerdem haben wir gefordert, die Bankenaufsicht neu zu strukturieren und vieles andere mehr. ({3}) Ich möchte nur darauf hinweisen: Bei diesem Thema ist es genauso wie in der Steuerpolitik: Sie nehmen die Vorschläge der Opposition nur lückenhaft zur Kenntnis, ({4}) um dann umso rücksichtsloser draufschlagen zu können. Auch Ihre Berechnungen der Steuerausfälle sind reine Fantasie. Das Bundesfinanzministerium hat einem Bürger gegenüber schriftlich dargelegt - dieses Schreiben liegt mir vor -, dass es die Steuerausfälle nicht genau beziffern kann. Mit Schätzungen können wir aber keine Politik machen. Selbstverständlich werden wir aufgrund des neuen Tarifs Steuerausfälle zu verzeichnen haben. Wir haben aber eine ganze Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen, durch die diese Steuerausfälle deutlich gemindert würden. ({5}) Im März dieses Jahres sprachen Sie von 25 Milliarden Euro, im Mai von 70 Milliarden Euro, und jetzt sind Sie bei 90 Milliarden Euro. Am Wahltag sagen Sie dann wahrscheinlich, dass die Vorschläge der FDP zu Steuerausfällen von 150 Milliarden Euro führen würden. Das ist überhaupt nicht konkret und auch völlig unhaltbar. Zu dem, was die SPD will, haben Sie kein Wort gesagt. ({6}) Warum haben Sie nicht über die Steuererhöhungsvorschläge gesprochen, über die in der SPD diskutiert wird? Es wäre richtig gewesen, diese Alternative hier deutlich zum Ausdruck zu bringen. ({7}) Ich bitte Sie daher: Wenn Sie sich mit der Opposition und der FDP beschäftigen, sollten Sie sich erst einmal deren Vorschläge anschauen. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Minister, Sie können antworten.

Peer Steinbrück (Minister:in)

Politiker ID: 11004165

Herr Kollege Solms, vielleicht konnten Sie nicht hier sein; aber selbstverständlich hat sich Herr Steinmeier zu den Vorschlägen der SPD geäußert. Er hat insbesondere darauf hingewiesen, dass wir den Spitzensteuersatz um 2 Prozent erhöhen wollen, um das damit verbundene Steueraufkommen direkt und unmittelbar Bildungszwecken zukommen zu lassen. ({0}) Von dieser Maßnahme werden Verheiratete ab einem zu versteuernden Einkommen in Höhe von 250 000 Euro betroffen sein. Fragen Sie doch einmal die Zuschauer auf der Tribüne, wer von ihnen verheiratet ist und 250 000 Euro oder mehr verdient! - Wo ist also das Problem, wenn davon nur sehr wenige Menschen in Deutschland betroffen sind? Für das, was Sie zu Ihren Einsparvorschlägen gesagt haben, bin ich Ihnen sehr dankbar - denn das war ein Steilpass -: Die Vorschläge, die ich in Ihrem Liberalen Sparbuch lese, würden auf einen absoluten Raubbau an unseren sozialen Sicherungssystemen und in der Arbeitsmarktpolitik hinauslaufen. Diese Maßnahmen würden ausgerechnet jene Bereiche treffen, die aufgrund von Absicherung und Sozialpartnerschaft in der Krise die wichtigste stabilisierende Funktion haben. ({1}) Diese Vorschläge werden durch Ihre Relativierung des Kündigungsschutzes ergänzt. Das, was Sie wollen, hätte zur Folge, dass 2,4 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr als bisher keinen Kündigungsschutz mehr hätten. Über die Relativierung der paritätischen Mitbestimmung, die Sie in Ihrem Programm fordern, können wir gern diskutieren. All die Papiere, die Sie zum Thema Finanzmarktkrise vorgelegt haben, sind Weichmacher. ({2}) Ich hätte gern einmal gewusst, wo sich die FDP konkret geäußert hat: zu Leerverkäufen, ({3}) zum Eigenbehalt im Zusammenhang mit Risiken, zu Eigenkapitalkennziffern, zum Thema Liquiditätspuffer und - darüber wird nämlich auf internationaler Ebene diskutiert - zur Überwachung bis ins Management hinein durch Colleges of Supervisors. Auch was die Bekämpfung der Steuerhinterziehung angeht, haben Sie nichts vorgelegt. Da haben Sie sich nur mir gegenüber über Stilfragen ausgelassen und meine Wortwahl kritisiert, aber auf die Substanz meiner Vorschläge sind Sie nie eingegangen. Dabei haben Sie auch einmal regiert und übrigens mit Blick auf die Schuldenentwicklung eine keineswegs geringere Verantwortung zu tragen als wir. Gehen wir auf das, was in den letzten zehn Jahren stattgefunden hat, noch einmal ein: Es hat eine lange Debatte darüber gegeben - übrigens gar nicht im Widerspruch zu Positionen der FDP -, ob wir den Finanzplatz Frankfurt auf Augenhöhe halten können mit Finanzplätzen wie London und New York. Die Alternative wäre gewesen, dass der Finanzplatz Frankfurt in die Kreisklasse absteigt und damit der Finanzplatz Deutschland nicht auf Augenhöhe bleibt - und das bei einer Realökonomie, die nach wie vor die drittgrößte oder viertgrößte der Welt ist und Finanzmarktprodukte und -dienstleistungen möglichst in Deutschland abrufen sollte und nicht etwa in Mailand, in Den Haag, in London oder New York. Darüber ging die Debatte zu Beginn dieses Jahrzehnts. Selbstkritisch füge ich hinzu, dass sich wahrscheinlich die gesamte Politik den damit verbundenen Deregulierungsmechanismen zu sehr ergeben hat. Aber die FDP ist die allerletzte Partei, die mir vorhalten kann, sie sei ordnungspolitisch auf der anderen Seite gewesen. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Oskar Lafontaine, Fraktion Die Linke. ({0})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundesfinanzminister, Sie haben eine Rede gehalten, der man über weite Strecken zustimmen könnte. Es macht regelrecht Spaß, Ihnen zuzuhören. Jetzt rennt er gerade raus. - Es ist wirklich eine Unsitte, dass Regierungsmitglieder gleich im Anschluss an ihre Rede gehen. Das gibt es selbst im Dorfparlament nicht. ({0}) Ich wende mich jetzt anderen Themen zu und setze mich auseinander mit dem, was Herr Kauder vorgetragen hat - wenn er überhaupt noch im Saal ist. Herr Kauder hat die Sorge der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um ihren Arbeitsplatz aufgegriffen und die Sorge derjenigen, die sich in Ausbildung befinden und sich fragen, ob sie weiter beschäftigt werden. In diesem Zusammenhang wurde vorhin gesagt, die soziale Marktwirtschaft sei in eine Krise geraten. Das ist richtig. Die Krise der sozialen Marktwirtschaft besteht darin - davon war heute noch nicht die Rede -, dass die große Mehrheit der Bevölkerung vom wachsenden Wohlstand abgekoppelt wird. Wir hatten das niemals vorher. Das ist die Folge von ordnungspolitischen Weichenstellungen, die fehlerhaft sind. Wir hatten es niemals vorher, dass der Reichtum der Volkswirtschaft zugenommen hat, aber die Löhne, die Renten und die sozialen Leistungen gesunken sind. Deshalb ist die soziale Marktwirtschaft in einer Krise. Sie ist gar keine soziale Marktwirtschaft mehr. ({1}) Denn „soziale Marktwirtschaft“ heißt, dass die große Mehrheit der Bevölkerung, wenn der Wohlstand wächst, beteiligt wird. So platt ist die Definition von sozialer Marktwirtschaft. Hier wird immer mit Begriffen um sich geworfen, ohne dass irgendeiner definiert, was er darunter versteht. Lustig ist immer wieder, wenn sich die CDU auf Ludwig Erhard beruft. Ich bin davon überzeugt: Kein Einziger von Ihnen hat Erhards Standardwerk gelesen; sonst könnten Sie sich nicht auf ihn berufen. In diesem Standardwerk wird nämlich im Hinblick auf die soziale Marktwirtschaft eine Grundforderung erhoben: dass die Arbeitnehmer im Rahmen des Produktivitätszuwachses ein Lohnwachstum haben müssen, damit das in den Konsum fließt. Gegen diese Grundforderung Erhards haben Sie über zehn Jahre verstoßen, und Sie haben es nicht einmal gemerkt, meine sehr geehrten Damen und Herren. Das möchte ich hier einmal anmerken. ({2}) Offensichtlich kennen Sie die Zusammenhänge nicht mehr. Dann kommt die Frage nach der Motivation der Menschen. Die Motivation der Menschen, sagte Herr Kauder - ich sehe ihn im Moment ebenfalls nicht; auch das ist sehr „motivierend“, wenn man solche Debatten führt -, liege ihm besonders am Herzen. Wenn man ernsthaft will, dass die Menschen motiviert sind, dann muss es doch verdammt noch mal das Erste sein, denjenigen, die acht Stunden am Tag arbeiten, einen Lohn zuzubilligen, von dem sie leben können. ({3}) Wenn man das nicht tut, dann soll man nicht von Motivation sprechen, dann ist das schlicht und einfach Zynismus. Das Zweite ist: Wenn man es mit der Motivation der Menschen ernst meint, muss man sofort die Rentenformel ändern. Die Rentenformel - man kann es nicht oft genug sagen - führt dazu, dass Menschen, die 45 Jahre, ein Leben lang, gearbeitet haben, wenn sie im Niedriglohnsektor beschäftigt sind - das sind immerhin 20 Prozent der Bevölkerung -, denselben Rentenanspruch haben wie jemand, der nie gearbeitet hat. Eine größere Zerstörung des Leistungsgedankens hat es in dieser Gesellschaft noch nie gegeben. ({4}) Arbeit ist regelrecht entwertet worden. Das ist das Ergebnis der Politik der letzten Jahre. Wenn man also von Motivation spricht, dann muss man bei den Löhnen beginnen - ich habe zwei Vorschläge gemacht -, und man müsste zumindest die Rentenformel ändern. Ein weiterer Vorschlag, den die FDP und die CDU jetzt im Wahlkampf immer wieder benennen, ist der eines anderen Steuertarifs. Ich muss Ihnen sagen: Für mich sind Sie an dieser Stelle total unglaubwürdig, weil Sie praktisch dieselben Vorschläge immer wieder abgelehnt haben, als wir sie hier zum Beschluss vorgelegt haben: sowohl den linearen Tarif als auch die Beseitigung der kalten Progression. Sie haben alles abgelehnt, als die Kassen voll waren. Jetzt, da die Kassen leer und Riesendefizite aufgelaufen sind, sagen Sie, Sie würden das umsetzen. Das ist für uns total unglaubwürdig. ({5}) Solche leeren Versprechungen sollten Sie vor der Wahl nicht machen. Ich kann Herrn Steinbrück nur zustimmen: Nichts von alledem, was hier angekündigt worden ist, wird nach der Wahl realisiert werden. Wenn die Schätzungen hinsichtlich der Entwicklung der Finanzen, die jetzt vorgetragen worden sind, nur in etwa stimmen, dann wird davon überhaupt nichts umgesetzt. Wenn Herr Kauder schon die Sicherheit der Arbeitsplätze usw. in den Vordergrund stellt, dann sollte er aus dieser Krise doch endlich einmal auch Lehren ziehen. Nichts von alledem geschieht. Wir haben erlebt, dass in dieser Krise als Erstes die Leiharbeiter gefeuert worden sind. Es wäre deshalb doch eine sachgemäße Antwort, die Leiharbeit auf ein Minimum zu begrenzen. Nichts von alledem tragen Sie vor. ({6}) Wir haben erlebt, dass die Nächsten, die gefeuert wurden, diejenigen waren, die befristete Arbeitsverträge haben. Deshalb wäre es doch eine logische Konsequenz, zu sagen: Lasst uns die Anzahl der befristeten Arbeitsverträge auf ein Minimum begrenzen, damit die Leute eine gewisse Existenzsicherheit haben. - Das wäre eine Antwort auf die Krise. ({7}) Das Dritte ist, auch die sogenannten Mini- und Midijobs, deren Anzahl ausgeufert ist, zu begrenzen. Das Tollste ist immer wieder - man kann es hier nicht oft genug sagen -, dass sich die CDU als Familienpartei darstellt. Es ist wirklich absurd, was Sie hier für ein Theater veranstalten. Leute, die nicht wissen, ob sie in ein paar Wochen noch Geld auf dem Konto haben, die also befristete Arbeitsverträge haben, in Leiharbeit sind oder was weiß ich, können doch keine Ehe schließen, geschweige denn Kinder in die Welt setzen. Sie wären doch völlig verantwortungslos, wenn sie das tun würden. ({8}) Begreifen Sie doch endlich einmal: Die Leute brauchen Sicherheit, Mindestlöhne und nichtbefristete Arbeitsverträge. Die Flexibilisierung der Arbeitswelt, Ihr Credo, hat nichts anderes als die Zerstörung der Familien und der Gemeinschaften zur Folge gehabt. Das ist die entscheidende verheerende Wirkung dessen, was wir Neoliberalismus nennen. ({9}) Ich fasse zusammen. Es ist gut, dass wir Alternativen haben, die die Wählerinnen und Wähler zur Kenntnis nehmen. Es ist gut, dass jetzt mehr und mehr Alternativen, die wir vorgetragen haben, von sogenannten neoliberalen Professoren übernommen werden. Ich erwähne sie einmal kurz: Die Kontrolle des Bankensektors wird jetzt von Herrn Sinn vertreten, ein drittes Konjunkturpaket wird jetzt von Herrn Sinn vertreten, die längere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes wird jetzt von Herrn Franz vertreten, und eine höhere Vermögensteuer wird jetzt von Herrn Zimmermann vertreten. All diese Vorschläge, die als populistisch und dumm diffamiert worden sind, werden jetzt von der Wissenschaft übernommen. Es wäre gut, wenn Sie diese Vorschläge wenigstens teilweise übernehmen würden; denn mit Steuersenkungen und einem „Weiter so wie bisher!“ werden Sie die Krise niemals bewältigen. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Westerwelle.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Ich möchte hier meinem Ärger darüber Luft machen, dass ein Mann, der nicht Mitglied des Deutschen Bundestages ist, von der Regierungsbank aus als Minister das Wort für die Bundesregierung ergreift, hier eine scharfe Attacke reitet - das ist sein gutes Recht; solche Meinungsunterschiede kann auch jeder vertragen - und anschließend, wenn das Parlament ihm antworten kann, mit seinen Akten den Raum verlässt und an dieser Debatte nicht mehr teilnimmt. Ich finde, das ist eine unverschämte Missachtung dieses Deutschen Bundestages. ({0}) Ich appelliere an das Präsidium des Deutschen Bundestages, gegenüber dem Verfassungsorgan Bundesregierung kenntlich zu machen, dass das keine Art und Weise des Umgangs ist. Wir hier sind die Parlamentarier. Ein Minister redet hier, greift die Abgeordneten an - das ist völlig in Ordnung -, und wenn dann geantwortet wird, haut er ab. So ist kein Dienstgeschäft zu machen. ({1}) Dafür gibt es auch keine Entschuldigung. Das wollte ich hier zu Protokoll geben. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Westerwelle, Ihr Appell ist angekommen, obwohl Sie sicher wissen, dass in einer Kurzintervention auf den vorangegangenen Redner einzugehen ist. Nächster Redner ist der Kollege Dr. Peter Ramsauer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Ramsauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001772, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf einige wirtschaftliche Fragen zu sprechen komme, möchte ich einen Aspekt aufgreifen, den die Frau Bundeskanzlerin in ihrer Rede zu Beginn dieser Debatte angesprochen hat, nämlich die europäische Dimension, die heute über der gesamten Debatte schwebt und auch beim nächsten Tagesordnungspunkt dieser Plenarsitzung im Zusammenhang mit der Ratifizierung des Lissabon-Vertrages zur Sprache kommt. Ich begrüße ausdrücklich Ihre Ankündigung, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie bei der schwedischen Präsidentschaft beantragt haben, beim nächsten Europäischen Rat am 17. September auf die Tagesordnung zu setzen, dass Sie über den Fortgang des Ratifikationsprozesses des Lissabon-Vertrages berichten werden. Ich begrüße auch ausdrücklich Ihre Ankündigung, dass Sie dort gegenüber den Regierungen der anderen Mitgliedsländer und auch gegenüber der Kommission und ihrem Präsidenten eine wichtige Klarstellung vornehmen werden, nämlich dass die Auslegung des Lissabon-Vertrages selbstverständlich nur nach Maßgabe des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni erfolgen kann. ({0}) Nur in dieser Auslegung kann der Lissabon-Vertrag gesehen werden, und ich füge ausdrücklich hinzu: Das bezieht sich nicht nur auf die Politik Deutschlands im Inneren. Vielmehr ist diese Interpretation auch dann zu beachten, wenn sich aus dem Vertrag von außen her - von europäischer Seite - für Deutschland eine Wirkung ergeben soll. Die Auslegung bezieht sich auf beides: auf innen und auf außen. ({1}) Im Grunde genommen ist das völlig selbstverständlich; denn dies entspricht dem Charakter und der Wertigkeit - auch der verfassungspolitischen Wertigkeit - des Bundesverfassungsgerichts. Ich möchte dazu Heribert Prantl, einen der kritischsten Journalisten unserer Republik, zitieren, der vorletzte Woche in der Süddeutschen Zeitung zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts geschrieben hat, das Bundesverfassungsgericht verlange: Der Lissabon-Vertrag sei nur nach „Maßgabe der Gründe“ des Urteils mit dem Grundgesetz vereinbar … Dass es darüber im Bundestag … Streit gibt, ist unverständlich. Ich verstehe dies auch nicht. Deshalb haben die Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion die von mir eben beschriebene Maßgabe dazu, wie der Lissabon-Vertrag ausschließlich interpretiert werden kann, in einer Erklärung zur Abstimmung niedergelegt. Ich freue mich, Frau Bundeskanzlerin, dass auch Sie als Mitglied der Fraktion diese Erklärung unterschrieben haben. ({2}) Ich kann die Kritik vonseiten der SPD-Bundestagsfraktion daran, dass wir solche Selbstverständlichkeiten zum Ausdruck bringen, in keiner Weise verstehen. Ich verstehe nicht, warum sich die SPD weigert, eine solche Selbstverständlichkeit auch im Hinblick darauf zu formulieren, dass wir damit die Interessen Deutschlands auf europäischer Ebene auf bestmögliche Weise wahren können. Die SPD widersetzt sich mit dieser Weigerung der Wahrung der deutschen Interessen auf europäischer Ebene. ({3}) Ich verstehe dies umso weniger, als sonst gerade die SPD-Fraktion immer nach mehr Basisdemokratie, Teilhabe, Mitbestimmung und plebiszitären Elementen ruft. ({4}) Mit dieser zusätzlichen Klarstellung in Bezug auf die Rechte des Parlaments hätten auch die Kolleginnen und Kollegen der SPD diesem Anliegen Rechnung getragen. Ich möchte noch einen anderen Aspekt aufgreifen, der die wirtschaftliche Lage betrifft. Auch hier ist in besonderer Weise die europäische Ebene gefordert. Wir haben in allen Debatten dieses Hohen Hauses zur Wirtschaftsund Finanzkrise über alle möglichen Sektoren unserer Wirtschaft und Finanzwelt gesprochen. Aber bislang, auch heute nicht, ist kein einziges Mal ein Wirtschaftsbereich genannt worden, der für unser Land ebenso wichtig ist wie viele andere Bereiche unserer Wirtschaft. Ich meine die krisenhafte Zuspitzung, die wir derzeit in vielen Bereichen der Landwirtschaft erleben. ({5}) Wir sind sehr für die Stärkung der Metropolregionen. Aber wir treten genauso energisch dafür ein, dass auch die ländlichen Räume gestärkt werden. Wenn wir über alle Bereiche der Wirtschaft sprechen, in denen es krisenhafte Zuspitzungen gibt, müssen wir heute auch über die dramatischen Entwicklungen in der Landwirtschaft und insbesondere in der Milchwirtschaft sprechen. ({6}) Ich bin ehrlich gesagt etwas überrascht darüber, dass ich der Erste am heutigen Tag bin, der diese Problematik überhaupt aufgreift. Allen liegt sonst in Sonntagsreden an guten Zuständen und Bedingungen für unsere Landwirtschaft. Ich möchte herausheben: Es gibt eine fundamental unterschiedliche Sichtweise, wann und wo in Zukunft Landwirtschaft produzieren soll. Die einen sagen, Landwirtschaft solle in Zukunft nur noch dort möglich sein, wo weltweit oder europaweit am allerbilligsten produziert werden kann. Diese Sichtweise teilen wir ausdrücklich nicht. ({7}) Denn wenn das die Maßgabe künftiger Standortentscheidungen und der Förderpolitik in der Landwirtschaft wäre, könnte die Landwirtschaft nicht nur in Deutschland, sondern in Europa in weiten Bereichen einpacken. Deswegen bekennen wir uns ausdrücklich dazu, dass eine landwirtschaftliche Produktion und insbesondere eine Milchproduktion auch in strukturschwachen Regionen und in solchen Regionen ermöglicht werden, in denen es aufgrund der topografischen und landschaftlichen Lagen große Erschwernisse gibt. Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Bemühungen unserer Agrarministerin Ilse Aigner loben, ({8}) die aus gegebenem Anlass leider nach Brüssel reisen musste, um zu kämpfen und sich für die bäuerliche Landwirtschaft und insbesondere für die Milchviehbetriebe einzusetzen. Ich halte es für vollkommen inakzeptabel, dass sich die Europäische Kommission und insbesondere die zuständige Kommissarin bei den gestrigen Beratungen der Agrarminister in Brüssel vehement widersetzt haben, Sofortmaßnahmen zugunsten der Milchbetriebe zu ergreifen, obwohl 15 von 27 Mitgliedsländern solche Maßnahmen verlangt haben. Es darf nicht sein, dass eine einzelne Kommissarin ganz allein über die Zukunft der Landwirtschaft in Europa befindet. ({9}) - Ich höre das Wort „konservativ“. Jawohl, ich bekenne: Ich bin ein Konservativer, aber auch ein Liberaler. Ich bin ein Konservativer, wenn es um eine gesunde Wirtschaft und insbesondere um vernünftige Bedingungen für die Landwirtschaft geht. Das ist guter Konservatismus. Ich verlange von der Europäischen Kommission und ihrem Präsidenten, sich der wichtigen Belange und Nöte der bäuerlichen Landwirtschaft und insbesondere der Milchwirtschaft in Europa und Deutschland anzunehmen. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Jörg Tauss.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Tagesordnungspunkt 1 des heutigen Nachmittags lautet: Zur Situation in Deutschland. Ich glaube, es wäre besser gewesen, wenn der Tagesordnungspunkt geheißen hätte: Zur wirtschaftlichen Situation in Deutschland. Das ist wichtig und der Schwerpunkt. Aber zur Situation in Deutschland gehört meines Erachtens ein bisschen mehr, beispielsweise dass wir im Moment in einem Wahlkampf sind, der erneut - ich schaue die Frau Präsidentin an, die in Sachen Rumänien sehr engagiert ist - zulasten anderer Menschen geführt wird - Koch lässt grüßen -, in diesem Fall der Menschen in Rumänien. Aber auch Chinesen und andere wurden in diesem Wahlkampf schon erwähnt. Frau von der Leyen führt einen Wahlkampf mit falschen Anschuldigungen gegen Indien, dem sie unterstellt, nicht das Notwendige gegen Kinderpornografie zu tun. Frau Bundeskanzlerin, ich glaube, es wäre Zeit, dass sich diese Bundesregierung für die Falschaussagen und die Verbreitung offenkundiger Unwahrheiten über die entsprechenden Staaten und auch Indien gegenüber dem Parlament und der deutschen Öffentlichkeit entschuldigt. Zur Lage gehört auch, wenn man über Rumänien redet, das Folgende: Ich habe vorhin die Zeit genutzt, um ein bisschen zu googeln. Man kann feststellen, dass wir in großem Maße Menschen aus Rumänien anwerben, damit diese für Menschen in Deutschland die Pflege übernehmen. Ich zitiere aus einem entsprechenden Angebot: Eine Rumänin lebt als Haushaltshilfe in Ihrem Haus. Sie ist fast rund um die Uhr präsent. - Es schließt mit dem humanitären Absatz: Bitte beachten Sie aber, dass auch diese Menschen Freizeit haben. - Ich glaube, das sagt mehr über die Situation dieses Landes aus als manch anderes, über das wir gelegentlich diskutieren. Die Freiheitsrechte und die Bürgerrechte, die eigentlich keine Randnotiz sein sollten - auf dem Rand des Zweieurostücks sind die Worte „Einigkeit und Recht und Freiheit“ vermerkt -, waren in der heutigen Debatte eine Randnotiz. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben in Ihren gesamten Ausführungen zum Thema Bürgerrechte und zum Thema Rechtsstaat nicht ein einziges Wort verloren. Auch dies kennzeichnet deutlich Ihren Wahlkampf, der von Sicherheit geprägt ist. Erst ganz weit hinten kommt die Freiheit. Ich habe gestern einen Bescheid eines Verwaltungsgerichts mit der Aufforderung erhalten, die Gerichtsgebühren für eine Auseinandersetzung zu zahlen - ich werde sie natürlich zahlen -, die ich seit einigen Jahren mit dem Bundesministerium für Verkehr führe. Es ging darum, dass ich beantragt habe, als deutscher Abgeordneter - auch dieses hängt mit dem Zustand Deutschlands zusammen - Einsicht in den Vertrag der Bundesrepublik Deutschland mit dem Mautkonsortium zu nehmen, der rund 10 000 Seiten umfasst. Ich kann Ihnen sagen: Mir als Abgeordnetem wird diese Einsicht verwehrt. Von den 10 000 Seiten darf ich vier Seiten betrachten. Das sind die ersten beiden Deckblätter und die beiden rückwärtigen Deckblätter. Die Begründung lautet, es handle sich um Geschäftsgeheimnisse. Auch das gehört zur Situation Deutschlands, dass ein deutscher Abgeordneter nicht in Verträge hineinschauen darf, die die deutsche Bundesregierung zulasten und auf Kosten des deutschen Steuerzahlers mit der Privatwirtschaft abschließt. Ich denke, auch dieser Skandal sollte, wenn man zur Situation in Deutschland spricht, benannt werden. Zur Lage in Deutschland gehört auch, dass wir nach den größten Datenschutzskandalen, die wir in der Geschichte der Republik hatten, hier ein allenfalls halbherziges Datenschutzgesetz hinbekommen haben, es aber nicht geschafft haben, den Bundesbeauftragten für den Datenschutz personell zu verstärken. Wir haben hier ein Gesetz beschlossen, das am 1. August in Kraft treten sollte. Es hat meine Partei schier zerrissen und bei mir dazu geführt, dass ich meine Partei verlassen habe. Fragen Sie einmal, was mit diesem Gesetz geschehen ist. Es ist natürlich nicht in Kraft getreten, weil es wegen der schlampigen Vorbereitung durch Frau von der Leyen und Herrn zu Guttenberg überhaupt nicht tauglich ist, vom Herrn Bundespräsidenten unterschrieben zu werden. Auch das ist die Lage in Deutschland. Dafür nimmt man aber in Kauf, 134 000 Petentinnen und Petenten, die sich gegen dieses Gesetz gewandt haben, zu beschimpfen. Die Konservativen verhalten sich beim Internet wie damals bei der Einrichtung des Eisenbahnverkehrs: Man verlangt, dass man mit einer Fahne vor der Lokomotive herläuft. Meine Damen und Herren von der Union, Sie reden über Technikfreundlichkeit. Die letzte Technik, die Sie gut fanden, war vielleicht die Kernkraft. Mit dem Internet haben Sie nichts am Hut. ({0}) Vielleicht noch etwas zum Zustand des Parlaments. - Darüber rede ich gerne nachher mit dem Kollegen. Ich kümmere mich im Moment sehr um inhaftierte Blogger in Aserbaidschan. Menschen, die im Internet ihre Meinung gesagt haben, sind in diesem Land verhaftet worden. Ich bin selbstverständlich hingefahren, zumal einer der Betroffenen einmal Praktikant in meinem Büro war. Wissen Sie, was die Auskunft der Bundestagsverwaltung war, als ich gesagt habe, ich würde gerne dorthin fliegen? Ich habe den Bescheid bekommen, dass ich als Abgeordneter selbstverständlich eine Bildungsreise unternehmen könnte - dafür könnte ich auch meine Bonusmeilen, die ich erflogen habe, verwenden -, aber für eine Reise in Sachen Menschenrechte dürfte ich Bonusmeilen nicht verwenden. Das ist der Zustand Deutschlands im Jahr 2009. Man könnte mit dem fortfahren, was vom Kollegen Westerwelle zum Bundesverfassungsgericht gesagt worden ist. Ich bin froh, dass bereits richtiggestellt worden ist, dass die Anregung zur Onlinedurchsuchung aus FDP-Kreisen in Nordrhein-Westfalen gekommen ist. Lieber Kollege Westerwelle, ich traue Ihnen ebenso zu, etwas für die Bürgerrechte zu tun, wie ich mir zutraue, eine Kuh zu werfen. Sie haben immer nur ein taktisches Verhältnis zu den Menschenrechten gehabt. Dort, wo Sie regiert haben, haben Sie mit dem Thema Menschenrechte, wie Sie an den aktuellen Landesregierungen sehen, nichts zu tun gehabt. Was die Terroristen angeht, so würde ich Ihnen, Herr Lafontaine, sehr empfehlen, nicht in die Kerbe zu hauen, in die auch der Herr Innenminister immer haut; denn mit dem Schüren von Terrorangst werden immer mehr Bürgerrechte und Menschenrechte in diesem Land eingeschränkt. Last, but not least, Frau Präsidentin, zur Lage in Deutschland gehört auch - das ist angesprochen worden - der Mindestlohn. Lassen Sie mich angesichts der Tatsache, dass ich heute wohl meine vorläufig letzte Rede halte, den Garderobenfrauen und anderem Personal im Deutschen Bundestag danken. Vielleicht könnten wir, bevor wir salbungsvolle Reden halten, mit Blick auf unsere Fahrerinnen und Fahrer, auf die, die hier als Personal arbeiten und bei denen ich mich herzlich bedanke, anfangen, über einen Mindestlohn zu reden. ({1}) Das wäre gut und würde dieses Parlament ehren. Ich ärgere mich jedes Mal - ich schäme mich fast -, wenn ich an unseren Garderobenfrauen vorbeilaufe, weil ich immer daran denken muss, welche finanzielle Leistung diese bei einer auswärtigen Firma beschäftigten Kräfte bekommen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Tauss!

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin. Ich bedanke mich für Ihre Geduld. Ich wünsche Ihnen alles Gute und einen schönen Tag. Vielleicht können Sie den einen oder anderen Punkt über die Zukunft Deutschlands, den ich angesprochen habe, hier in diesem Parlament berücksichtigen. Besten Dank.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Ludwig Stiegler, SPD-Fraktion.

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Ramsauer hat hier eine bemerkenswerte Rede gehalten. Er hat sich erstens an der Kanzlerin abgearbeitet und ihr vorgeworfen, dass sie wichtige Politikfelder überhaupt nicht wahrnimmt. ({0}) Das ist wieder einmal ein Beweis für die Eintracht in der Union; CDU und CSU sind eben wie feindliche Geschwister. ({1}) Lieber Peter Ramsauer, statt über die Landwirtschaft zu klagen, lasst uns das Kartellrecht ändern und die Nachfragemacht der großen Einkäufer hier beenden. Das wäre die richtige Reaktion. Es ist eines der Grundübel in der deutschen Wirtschaftsordnung, dass wenige die Leute ausbeuten können. ({2}) Bemerkenswert an der Rede des Kollegen Ramsauer war auch, dass er Freiherr zu Guttenberg vollkommen ignoriert hat. Guttenberg wird zwar plakatiert und darf sich in Bierzeltreden austoben, aber mehr erlaubt der Futterneid innerhalb der CSU nicht. Früher hätte man Lobpreis und Dank zum Ausdruck gebracht. Wenn Michael Glos hier noch gesessen hätte, dann hätte sich Peter Ramsauer in unberechtigtem Lobpreis und Dank überschlagen. Heute hat er beredt geschwiegen. Er hat in gewisser Weise recht. Während sich Olaf Scholz bezüglich Mindestlohn und Kurzarbeit überall schmücken kann, fällt einem bei Guttenberg Hans Christian Andersens Des Kaisers neue Kleider ein. ({3}) Wer hinschaut, der sieht, dass nur ein paar Hofschranzen in der Presse und in der Union des Kaisers neue Kleider rühmen und sagen: Was hat der alles für Taten vollbracht! ({4}) Ich sage Ihnen: Vor dem 27. September wird das Kind noch kommen und feststellen, dass der Kaiser nackt ist. Der erste, der uns das jetzt gesagt hat, war Peter Ramsauer durch sein beredtes Schweigen. ({5}) Im Zusammenhang mit Herrn Guttenberg fällt mir auch noch Das Bildnis des Dorian Gray ein. Dorian Gray war der wunderbare Jüngling, der porträtiert wurde, bevor sich Lebensweg und Bildnis trennen; das Bild wird auf dem Speicher aufbewahrt, während der Jüngling durch die Welt zieht. Lange Zeit haben sich alle Grausamkeiten des Jünglings nicht an ihm gezeigt - auch Guttenberg sieht man nichts an -, aber am Bildnis ist es sichtbar geworden. Wenn ich an das industriepolitische Papier des Ministeriums denke, dann fürchte ich, dass das wahre Bild von Guttenberg im Archiv des Bundeswirtschaftsministeriums ist. ({6}) Da sind zum Beispiel die Pläne für die Abschaffung des Kündigungsschutzes. Jetzt tut er noch, als sei er unschuldig. Ihr werdet sehen: Wenn er die Gelegenheit dazu bekäme - aber wir werden alles tun, dass er diese Gelegenheit nicht bekommt -, würde dieses schöne Bild zerstört werden. Belassen wir es also bitte bei der jetzt bestehenden Illusion! Auch die Frau Bundeskanzlerin war heute ganz melancholisch-sachlich. ({7}) Sie hat in die Vergangenheit geschaut, weil sie mit dem neuen Verlobten nicht in die Zukunft schauen kann. ({8}) Wenn ich mir vorstelle, wie sich dieser neue Verlobte aufgeführt hat: Einen solchen Kerl würde ich nicht heiraten. ({9}) Er sagt Ihnen schon jetzt, Sie hätten alles falsch gemacht und seien die schrecklichste Frau der Welt; ({10}) aber die Ehe kann er kaum erwarten. Eine solche Ehe würde allein wegen mentalen Vorbehalts angefochten. ({11}) Es war so, dass hier die Nebelschleier über die Zukunft gehängt werden - wie in einer Inszenierung von Schlingenschief. ({12}) - Entschuldigung; Schlingensief. Ich war zu sehr auf „schief“ fixiert. ({13}) Da gibt es nur Nebel und irgendwelche Verhängnisse. ({14}) - Nein, ich sage heute nichts Lateinisches, sondern die Wahrheit. ({15}) - Aber wenn Sie es wollen, Herr Westerwelle, dann komme ich Ihnen mit einem griechischen Wort. Die alten Griechen kannten das Wort „Aletheia“ für „Wahrheit“. Das hat Gadamer mit „Unverborgenheit“ übersetzt; man kann es sehen. Wenn ich mir die Reden von Ihnen von der Union vor Augen führe, in denen Sie etwas dazu gesagt haben, was Sie in Zukunft mit dem Land vorhaben, komme ich zu dem Schluss: Sie haben nicht die Wahrheit gesagt; denn Sie haben verborgen, was Sie wirklich im Schilde führen und was wir verhindern müssen. ({16}) Frank-Walter Steinmeier hat eben gezeigt, was er in Zukunft haben will: eine starke Exportwirtschaft, eine starke Binnenwirtschaft, starke Löhne, damit das Wachstum auch in der Binnenwirtschaft gelingen kann. Das ist eine Perspektive, und dafür sorgt auch die Kraft der SPD. ({17}) Ich möchte bei dieser Gelegenheit unserer SPD-Fraktion danken. Wohin wäre die Union gelaufen, wenn nicht Peter Struck mit seiner Truppe sie immer auf dem Pfad der Tugend gehalten hätte? ({18}) Ich sage einen ganz herzlichen Dank an unsere Fraktion und an Peter Struck, der das Kunststück fertiggebracht hat, einerseits sozialdemokratische Konzepte zu machen, andererseits auch mit den schwarzen Brüdern und Schwestern zu hantieren, ({19}) sie vom rechten Weg, vom falschen Weg abzuhalten und auf den Pfad der Tugend zu bringen. ({20}) Das hat er geschafft, und dafür danken wir ihm ganz herzlich. ({21}) Meine Damen und Herren, beim letzten Wahlkampf haben Sie mit offenem Visier gekämpft, heute kämpfen Sie mit der Tarnkappe. Aber ich sage Ihnen: Auch die Tarnkappe wird Ihnen nicht helfen; denn die Menschen wissen: Ohne die soziale Kompetenz und die soziale Kraft der Sozialdemokratie kommen wir nicht anständig in das nächste Jahrzehnt. Ich sage Ihnen: Servus! Alles Gute! Die SPD-Fraktion ist auf der Wacht. ({22})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herzlichen Dank, Ludwig Stiegler, für diese letzte humorvolle Rede. ({0}) Wir wünschen dir im Namen des Hohen Hauses alles Gute für deinen dritten Lebensabschnitt. ({1}) Ich schließe die Aussprache und rufe die Tagesord- nungspunkte 2 a bis 2 d auf: 2 a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union - Drucksache 16/13923 - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Grundgesetzänderungen für die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon - Drucksache 16/13924 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2}) - Drucksachen 16/13985, 16/13994 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Stübgen Michael Roth ({3}) Dr. Diether Dehm Rainder Steenblock 2 b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union - Drucksache 16/13925 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4}) - Drucksachen 16/13986, 16/13995 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Stübgen Michael Roth ({5}) Dr. Diether Dehm Rainder Steenblock c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union - Drucksache 16/13926 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({6}) - Drucksachen 16/13987, 16/13996 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Stübgen Michael Roth ({7}) Dr. Diether Dehm Rainder Steenblock d) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Nešković, Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({8}) - Drucksache 16/13928 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({9}) - Drucksachen 16/13988, 16/13997 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Stübgen Michael Roth ({10}) Dr. Diether Dehm Rainder Steenblock Zu den Gesetzentwürfen liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der FDP, drei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke, drei Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Über den Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union werden wir später namentlich abstimmen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Thomas Oppermann, SPD-Fraktion.

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen und Kolleginnen! Heute machen wir mit den Europagesetzen vom Bundestag aus den Weg für die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon frei. Dieser Vertrag wird die demokratischen Entscheidungssysteme der Mitgliedsländer noch stärker mit der Europäischen Union verzahnen. Das macht die Union demokratischer und handlungsfähiger und setzt sie in den Stand, auf der Basis gemeinsamer Werte die legitimen Interessen von 500 Millionen Europäern in einer globalisierten Welt effektiv und nachhaltig zu vertreten - besser, als jedes einzelne Mitgliedsland dies tun könnte. Wir haben in kurzen, aber intensiven Beratungen gute Kompromisse erzielt zwischen Bundesrat und Bundestag sowie zwischen Mehrheit und Opposition im Bundestag. Der Kompromiss sieht vor, dass der Bundestag bei vertragsgestaltenden Entscheidungen umfassend mitwirken muss und darf. Die Bundesregierung ist nach innen voll rechenschaftspflichtig und nach außen uneingeschränkt verhandlungsfähig. Das ist ein gutes Ergebnis. Gut ist auch, meine Kollegen und Kolleginnen von der CSU, dass der Entschließungsantrag vom Tisch ist. Wir brauchen keine neuen Klagearten beim Bundesverfassungsgericht. Wir brauchen keine irritierenden Vorbehalte gegen den Vertrag. Wir brauchen keine imperativen Mandate. ({0}) Im Übrigen ist es nicht so, dass der Vertrag nur nach Maßgabe der Gründe des Urteils verfassungsgemäß ist. Vielmehr ist der Vertrag ohne Wenn und Aber verfassungsgemäß. Durch die Begleitgesetze, die wir heute verabschieden, wird der Vertrag mit der Ratifizierung Rechtskraft erlangen. Er erlangt Rechtskraft, weil wir ihn mit einem verfassungskonformen Begleitgesetz in Kraft setzen, aber nicht weil das Bundesverfassungsgericht weitergehende Äußerungen dazu macht. Sie, meine Damen und Herren von der CSU, müssen sich heute entscheiden, ob Sie in der antieuropäischen Ecke bleiben wollen oder ob Sie sich auf die Seite derer stellen wollen, die für ein vereintes, soziales und demokratisches Europa streiten. ({1}) Ich habe den Eindruck, dass sich hinter mancher - nicht hinter allen - antieuropäischen Attitüde in Wirklichkeit nationales Denken versteckt. Aber weil nationales Denken antiquiert ist, weil es nicht in eine moderne Gesellschaft passt, wird das so nicht gesagt. Stattdessen wird der ganze politische Frust an Europa abgelassen. ({2}) Im Europaausschuss haben die CSU-Abgeordneten Gauweiler, Silberhorn und Lintner 15-mal gegen die Koalition abgestimmt, 7-mal im Schulterschluss mit der Linkspartei. ({3}) - Mit Diether Dehm und den Kollegen von der Linkspartei. - Ich muss sagen: Ich habe mich gewundert über die randständigen Positionen, die Sie da eingenommen haben. Das ist eine antieuropäische Allianz an den Rändern des Deutschen Bundestages. ({4}) Zu dem europäischen Geist und dem, was wir heute verabschieden, passt es auch nicht, wenn der nordrheinwestfälische Ministerpräsident abfällige und tendenziell rassistische Äußerungen über Rumänen macht. ({5}) Genauso wenig passt dazu, wenn Oskar Lafontaine ausführt, er müsse deutsche Arbeitsplätze gegen europäische Fremdarbeiter schützen. ({6}) Auch das ist kein europäischer Tonfall. ({7}) Ich finde, wir brauchen keinen Nationalismus, weder linken noch rechten. Was wir brauchen, ist ein friedfertiges, innovatives, ökonomisch starkes, soziales und demokratisches Europa. Dem kommen wir mit dem Vertrag von Lissabon ein gutes Stück näher. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Silberhorn. ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Der Umstand, dass ich mit einigen Kollegen in der letzten Woche im Europaausschuss gegen, wie Sie sagen, die Koalition abgestimmt habe, ({0}) hat den Grund, dass es der Koalition zu meinem Bedauern nicht gelungen ist, alle Anträge gemeinsam abzustimmen. Sie wissen: Die schriftlichen Anträge der Koalition lagen am Mittwoch um 10 Uhr vor. Die CSULandesgruppe hatte ihre Änderungswünsche bereits am Freitag vorher vorgelegt. ({1}) Wenn die Einbringung nicht anders möglich ist, müssen wir eben eigene Anträge einbringen. Es war im Übrigen bezeichnend, Herr Trittin, dass viele Anträge, die von meiner Seite eingebracht worden sind, mit Anträgen der Grünen oder auch der FDP inhaltlich identisch waren. ({2}) Das hat den schlichten Hintergrund, dass wir alle die zweitägige Sachverständigenanhörung ernst genommen und die Anliegen, die von den Sachverständigen vielfach an uns herangetragen worden sind, aufgegriffen und in Antragsform gefasst haben. Ich werde diesem Begleitgesetz am Ende aus Überzeugung zustimmen, weil der Bundestag deutlich mehr Informations- und Mitwirkungsrechte erhält, als er bisher hat. Aber ich hätte mir schon gewünscht, dass man denjenigen, die an Sonntagen über mehr Demokratie, Bürgernähe und Transparenz in der Europapolitik reden, nicht jedes neue Informations- und Mitwirkungsrecht des Bundestages förmlich aus der Nase ziehen muss. Es bleibt dabei: Wir hätten etwas mehr Demokratie, Transparenz und Bürgernähe in der deutschen Europapolitik erreichen können. Gleichwohl begrüßen wir, dass wir einen großen Schritt nach vorne machen. Wir werden deshalb aus Überzeugung dieser Begleitgesetzgebung zustimmen. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Oppermann, bitte.

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Silberhorn, ich finde es erfreulich, dass Sie sich am Ende entschließen, den Gesetzen zuzustimmen. Sie haben anfangs noch gegen den Vertrag von Lissabon gestimmt. ({0}) Wenn das ein Lernprozess ist, der auch den Rest der CSU erfasst, dann hat sich die Auseinandersetzung mit Ihnen gelohnt. Im Übrigen haben Sie im Ausschuss Anträge gestellt, die sich aus den Verhandlungen ergeben haben. Es lagen ausverhandelte Gesetzentwürfe vor. Sie haben aber gemeinsam mit der Linkspartei abgestimmt, und das nicht, weil Sie mehr Transparenz nach Europa bringen wollten, sondern weil Sie in Sachen Europa Sand ins Getriebe streuen wollten. Sie wollten europäische Prozesse bremsen und verlangsamen. Das entspricht genau der Haltung, die Sie ansonsten einnehmen. Ihnen ist die Europäische Union suspekt. Uns ist die Europäische Union willkommen, weil nur sie uns und der nächsten Generation in Europa eine Zukunft sichern kann. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Markus Löning, FDP-Fraktion. ({0})

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die FDP-Fraktion hat dieses Gesetzespaket mit eingebracht, weil sich hier die Linie der Vernunft durchgesetzt hat. Die euroskeptisch angehauchte Linie, die in der Öffentlichkeit von den Kollegen auf der linken Seite des Hauses vertreten worden ist, hat sich nicht durchgesetzt. Herr Oppermann, an dieser Stelle muss ich aber sagen: Auch die Linie, dem Parlament möglichst wenig zu sagen ({0}) und möglichst alles geheim zu halten, wäre nicht die Linie der FDP gewesen. Wir sind froh, dass sich nicht die Linie der Geheimbündelei, sondern die Linie der Vernunft durchgesetzt hat. ({1}) Zwei Punkte konnten wir leider nicht durchsetzen; einen Punkt bringen wir hier noch einmal ein. Das Interessante an diesen beiden Punkten ist, dass alle sie wollten. Wir haben vorgeschlagen - dazu gibt es unseren Änderungsantrag -, dass alle finanziellen Verpflichtungen, die die Bundesregierung gegenüber der Europäischen Union eingeht, vom Bundestag kontrolliert werden, ({2}) und zwar sowohl im Zufluss als auch im Haushaltsvollzug. Ich erinnere beispielsweise an den Europäischen Entwicklungsfonds, den Europäischen Globalisierungsfonds und an Galileo. Für diese Projekte wurden im Rat dreistellige Millionenbeträge und teilweise mehr zugesagt, ohne dass der Gesetzgeber dazu auch nur ein Wort sagen konnte. Deswegen fordere ich Sie als Parlamentarier auf: Stimmen Sie unserem Änderungsantrag zu! Es ist nötig, dass der Bundestag die volle Kontrolle im Haushaltsrecht, auch was die EU angeht, behält. ({3}) Die Tatsache, dass auch der andere Punkt abgelehnt wurde, ist eigentlich noch bizarrer. Wir wollten festschreiben, dass die Bundesregierung dem Bundestag die Gelegenheit gibt, einen deutschen Kandidaten für die Europäische Kommission anzuhören. Ein Kandidat, der sich im Europäischen Parlament einer Anhörung stellen muss, soll sich auch einer Anhörung der Bundestagsabgeordneten stellen. Das ist ein Symbol für mehr Transparenz und für mehr Mitbestimmung des Bundestages. Alle Kollegen quer durch die Fraktionen haben gesagt: Ja, wir wollen das. - Trotzdem wurde dieser Vorschlag abgelehnt. Das ist die eigentliche Krux und illustriert, worauf es am Ende des Tages ankommen wird. Es ist gut, dass jetzt mehr Rechte in einem Gesetz und nicht nur in einer Vereinbarung normiert sind. Am Ende des Tages wird es aber darauf ankommen, dass die Mehrheit in diesem Haus, die Mehrheit, die die Regierung trägt, den Mut aufbringt, diese Rechte auch einzufordern und auszufüllen. Wenn das nicht passiert, sind diese Gesetze, diese Mitwirkungsrechte des Bundestages nichts wert. ({4}) Wir haben in dieser Legislaturperiode leider mehrfach erlebt, dass sich die Koalitionsfraktionen entweder nicht einigen konnten oder am Ende des Tages den Mut nicht aufgebracht haben, wichtige europäische Entscheidungen in das Plenum einzubringen und das Plenum darüber entscheiden zu lassen. Das muss sich ändern. Im nächsten Deutschen Bundestag wird die Mehrheit - es wird eine andere Mehrheit sein, die die nächste Bundesregierung tragen wird ({5}) die neue Bundesregierung anders kontrollieren - mit mehr Selbstbewusstsein, mit mehr Mitsprache. Ansonsten macht sich der Deutsche Bundestag in dieser Frage völlig unglaubwürdig. Meine Damen und Herren, angesichts des langen Prozesses der Debatte - über den Verfassungsvertrag bis hin zum Lissabonner Vertrag - müssen wir uns darauf konzentrieren, den Blick nach vorne zu richten. Die Menschen sind es leid, unsere Debatten über Stimmrechtsfragen, darüber, ob es einen Kommissar mehr oder weniger geben soll, und über irgendwelche technischen Absprachen zu hören. Es wird darauf ankommen, die europäische Politik mit Leben zu erfüllen - und nicht mit Geschacher um Posten, Stimmenmehrheiten und Geschäftsordnungsfragen. Es wird darauf ankommen, dass sich die europäische Politik mit der neuen Kommission wieder eine vernünftige Agenda gibt. Es wird darauf ankommen, dass die europäische Politik nach vorne blickt, für die Menschen arbeitet und nicht über Institutionen und Mehrheitsfragen streitet. Lassen Sie mich einige wenige Punkte aufzählen, die auch für den Bundestag wichtig sind. Wir sollten nicht vergessen, die bilateralen Beziehungen gerade zu unseren europäischen Partnern in den nächsten Jahren mit viel mehr Intensität zu pflegen. Für den Deutschen Bundestag ist es insbesondere wichtig, darauf zu achten, dass er, wenn die Parlamente in Zukunft mehr mitsprechen wollen, ein vernünftiges Geflecht an Beziehungen zu den anderen nationalen Parlamenten aufbaut. Das brauchen wir für die Demokratie in Europa; das brauchen wir aber auch für das Zusammenwachsen in Europa. Wir brauchen, wenn Europa eine Zukunft haben soll, eine intensive Pflege der bilateralen Beziehungen. Das wird zu leicht vergessen. Es wird zu sehr für selbstverständlich gehalten, dass die Beziehungen zu unseren Nachbarn gut sind. Das ist nicht selbstverständlich. Es ist nicht selbstverständlich, dass die Beziehungen zu unseren polnischen Nachbarn oder auch zu unseren Nachbarn auf der anderen Seite, zu den Dänen, zu den Holländern, zu den Belgiern oder den Luxemburgern, von vornherein gut sind. Wir müssen uns darum kümmern, dass sie das auch in Zukunft bleiben. Das hat nichts mit gesetzlichen Regulierungen zu tun, sondern damit, dass wir sehen und verstehen, dass unsere Zukunft in einem gemeinsamen Europa liegt. Der neue Bundestag ist dazu aufgerufen, auf der demokratischen Seite mehr zu machen, die neue Bundesregierung besser zu kontrollieren, aber auch seine Verantwortung im Rahmen der Beziehungen zu unseren europäischen Partnern besser wahrzunehmen als in der Vergangenheit. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Gunther Krichbaum, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein guter Tag für den Deutschen Bundestag und ein guter Tag für den Bundesrat, aber ebenso für den Parlamentarismus in Deutschland. Wir verabschieden heute die vier Begleitgesetze zum Vertrag von Lissabon, die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts notwendig wurden. Die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten und -rechte des Bundestages werden damit deutlich gestärkt. Einem Eindruck möchte ich aber entgegentreten, und zwar dem Eindruck, es hätte in der Vergangenheit gar keine Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages in der Europapolitik gegeben. Es handelt es sich hier vielmehr um einen kontinuierlichen Prozess. Wir haben unsere Rechte gerade gegenüber der Bundesregierung über die Jahre hinweg kontinuierlich ausgebaut. Das, was wir bislang in der sogenannten Zusammenarbeitsvereinbarung, der BBV, geregelt hatten, hat nun seinen Niederschlag im Gesetz gefunden. Das ist sicherlich gut so, weil wir damit ein höheres Maß an Verbindlichkeit haben. Ich möchte den Gedanken des Kollegen Löning hinsichtlich der Vernetzung aufgreifen. Ja, wir brauchen für die Zukunft eine stärkere Vernetzung der nationalen Parlamente in Europa. Aber ich darf auch hier daran erinnern, dass es mittlerweile die fest etablierte COSAC gibt, wie wir die Konferenz der Europaausschüsse der Parlamente der EU-Mitgliedstaaten technisch nennen, in der wir uns in Europa regelmäßig begegnen. Wir haben ein Verbindungsbüro des Bundestages in Brüssel. Wir haben - auch das darf man in diesem Zusammenhang ruhig einmal erwähnen - gut arbeitende Stiftungen der Parteien in nahezu allen europäischen Ländern. Auch das trägt dem Gedanken der Vernetzung der Parlamentarier untereinander Rechnung. Aber zurück zum sogenannten Begleitgesetz und zur BBV. Wir haben die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts eins zu eins umgesetzt und sind sogar darüber hinausgegangen. Die Schwierigkeit bestand aber darin, eine Balance zu finden; denn gerade wir als Deutscher Bundestag haben ein elementares Interesse daran, dass die eigene Regierung in Brüssel und damit in Europa handlungsfähig bleibt. Nur dann stärken wir das Gewicht Deutschlands und nutzen die Potenziale des Vertrages von Lissabon, die uns dieser Vertrag erst gibt. Eines aber muss an dieser Stelle klar sein: Der Deutsche Bundestag ist ein oberstes Verfassungsorgan. Deswegen haben wir die Einschätzungsprerogative darüber, wie wir die europäische Integration in Zukunft verantworten und gestalten. Dafür sind in erster Linie wir verantwortlich, nicht ein anderes oberstes Verfassungsorgan, das Bundesverfassungsgericht. Wir tragen die Verantwortung gegenüber unseren Wählerinnen und Wählern. ({0}) Das dürfen wir als Bundestag einmal sehr selbstbewusst sagen. Mit der heutigen Verabschiedung der Begleitgesetze folgen wir vor allem der zeitlichen Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts; denn die Begleitgesetze sollten vor der Ratifizierung in Kraft treten. Auch hier haben wir unsere Hausaufgaben gemacht. Die Erarbeitung der Begleitgesetze geschah unter großem Zeitdruck. Ich möchte deshalb vor allem den Fraktionsarbeitsgruppen und den Berichterstattern innerhalb der Arbeitsgruppen danken. Ich möchte auch der Bundestagsverwaltung und ihren zahlreichen Mitarbeitern danken; denn die Erarbeitung und die Beratungen erfolgten während der sogenannten parlamentarischen Sommerpause. Es ist - das möchte ich hervorheben - ein echtes Parlamentsgesetz. Es ist ein Gesetz, das aus der Mitte des Parlaments heraus entwickelt wurde. Darauf haben wir als Parlamentarier sehr großen Wert gelegt. Wir äußern nun aber die Erwartung, dass die Ratifizierung, nachdem wir unsere Aufgaben erledigt haben, schnell vonstatten geht. Ich meine damit, dass die Urkunde in Rom hinterlegt werden kann. Dann ist das Ratifizierungsverfahren abgeschlossen. Was mögliche neuerliche Klagen gegen die Begleitgesetze angeht, so äußere ich den Wunsch und die Erwartung an ein anderes oberstes Verfassungsorgan, diese Klagen bitte zügig zu bearbeiten, damit es zu keiner zeitlichen Verzögerung kommt. Das ist möglich. Wir brauchen dieses Signal in Richtung Irland, aber auch in Richtung Polen und Tschechien, weil dort die Ratifizierungen noch nicht abgeschlossen sind. Vor allem für das irische Referendum wünsche, aber erwarte ich auch einen entsprechenden Impuls. Ziel muss es sein, dass der Vertrag zu Beginn des Jahres 2010 in Kraft tritt. ({1}) Er fördert die Rechte des Bundestages und die Rechte des Europäischen Parlamentes; denn erst der Vertrag von Lissabon schafft bei aller Diskussion um die Begleitgesetze das, was wir eigentlich wollen und was wir anstreben. Er macht Europa handlungsfähiger, demokratischer und auch transparenter. Erst dann können wir uns den Problemen zuwenden, die die Bürgerinnen und Bürger im Kern beschäftigen, nämlich Fragen und Probleme der Wirtschaft und der Beschäftigung, worum wir heute Morgen in den Debatten gerungen haben. Es geht um Fragen der Finanzmarktkontrolle, des Klimaschutzes, des Verbraucherschutzes, aber auch darum, dass wir die Möglichkeiten nutzen, die uns der Binnenmarkt gibt, denn nur dann können wir die Freiheitspotenziale der Europäischen Union ausschöpfen. Nur dann können wir die europäische Integration weiter gestalten. Nur dann können wir die Probleme lösen, die auch für uns als großer Mitgliedstaat eine Schuhgröße zu groß wären. Wir brauchen das europäische Miteinander, damit wir im Prozess der Globalisierung bestehen können. Ja, die heute vorgelegten Gesetzentwürfe sind verfassungsfest. Wir hatten eine zweitägige Anhörung mit Sachverständigen durchgeführt. Diesen gilt mein Dank; denn sie haben in den zwei Tagen ihre Expertise in den Prozess eingebracht. Mein Dank gilt an dieser Stelle auch Minister Prof. Dr. Reinhart, dem Vorsitzenden des Europaausschusses des Bundesrates; denn auch hier hat sich gezeigt, dass es bei den ansonsten manches Mal entgegengesetzten Positionen gut war, diese Anhörung gemeinsam durchzuführen. Wir müssen die Rechte, die wir heute bekommen, für die Zukunft nutzen. Es wurde in den anderen Debattenbeiträgen, auch vom Kollegen Oppermann, schon angesprochen. Der Deutsche Bundestag erhält mit den heutigen Gesetzen mehr Rechte, aber daraus fließt auch ein höheres Maß an Verantwortung. Dieser Verantwortung müssen wir insofern gerecht werden, als wir uns als Bundestag auch organisatorisch darauf einrichten. Die Europapolitik muss wieder stärker in den Fachausschüssen stattfinden, nicht allein im Europaausschuss. Sie muss dort gelebt werden. Dort werden auch die Probleme behandelt. Die Arbeit des Europäischen Parlamentes muss hier in Berlin besser dargestellt werden. Hier laufen viel zu häufig die Dinge nebeneinander her. Dann erst erkennen auch die Bürgerinnen und Bürger vor Ort und hier bei uns, wie wichtig die Arbeit des Europäischen Parlaments ist. Wir haben unsere Aufgaben erledigt. Ich möchte Sie um die Zustimmung bitten und den Bundespräsidenten um die Hinterlegung und damit um den Abschluss des Verfahrens. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Alexander Ulrich, Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben die Vorredner gehört. Sie alle freuen sich über die zusätzlichen Rechte, die der Deutsche Bundestag in Zukunft in den Angelegenheiten Europas hat. Man sollte aber darauf hinweisen, dass man dafür, dass der Bundestag diese Rechte bekommen hat, der Fraktion Die Linke und auch dem Kollegen Gauweiler Danke schön sagen muss; denn das waren diejenigen, die nach Karlsruhe gegangen sind und das letztlich erstritten haben. ({0}) CDU/CSU, FDP und Grüne haben das immer als antieuropäische Reflexe begriffen und nie verstanden, dass sie sich durch das, was sie tun, ihrer eigenen Rechte, ihrer Möglichkeiten berauben. Jetzt hört man, dass das alles ein wohldosierter Gang war. Deshalb kann man schon sagen, dass heute ein Stück weit Demokratie zurückgewonnen worden ist, ({1}) von der Regierungspolitik zum demokratischen Handeln. Das ist, wie gesagt, auch ein Verdienst unserer Fraktion Die Linke. ({2}) Herr Oppermann, Sie erklären, dass die Fraktion Die Linke und CSU-Politiker antieuropäisch gehandelt hätten. Dazu möchte ich Folgendes sagen: Willy Brandt pflegte den großen Satz zu sagen: Mehr Demokratie wagen. Dass Sie Fraktionen und Abgeordnete, die zum Beispiel bei wichtigen europäischen Entscheidungen den Volksentscheid wollen, als antieuropäisch bezeichnen, zeigt, wie verkommen die Sozialdemokratie mittlerweile ist. ({3}) Ganz nebenbei: Wenn Sie das zu politischen Rändern erklären, dann haben Sie damit auch erklärt, dass Klaus Wowereit zum politischen Rand gehört; denn Berlin hat den EU-Verträgen im Bundesrat nicht zugestimmt. Auch Ihre Partei hat mitgemacht. ({4}) Auch das gehört zur Ehrlichkeit dazu. Wir als Linke haben über die kompletten vier Jahre hinweg die Debatte über die EU-Verfassung und dann den Vertrag von Lissabon geführt. Das war das zentrale Thema im EU-Ausschuss und damit auch das zentrale Thema der Europapolitik im Bundestag. Wie oft hat man gesagt, Europa ist in der Krise? Dann kam die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Die Bundeskanzlerin hat sich sehr früh dafür feiern lassen, sie hätte die EU-Verträge gerettet. Mittlerweile wissen wir, da hat man zu früh gejubelt; denn die deutsche EU-Ratspräsidentschaft war auch in dieser Hinsicht ein Flop. ({5}) Danach kamen die Iren, die verstanden haben, dass es nicht zu einer anderen Entscheidung kommen kann, wenn man der EU-Verfassung nur einen anderen Titel gibt, aber 95 Prozent der Inhalte beibehält. Deshalb kann ich hier nur sagen: Wir hoffen, dass die No-Campaign in Irland erfolgreich ist und wir uns in der nächsten Legislaturperiode nochmals über dieses Vertragswerk unterhalten müssen. ({6}) Wir haben immer gesagt, wir lehnen die EU-Verfassung nicht aus antieuropäischen Gründen ab. An die Adresse der Union, die hier gerne zujubelt, sage ich: Wer wie Ministerpräsident Rüttgers die Bevölkerung eines EU-Mitgliedslands so bezeichnet und wer das wie die CDU-Bundesvorsitzende und Bundeskanzlerin durch Nichtssagen toleriert, ist ein wahrer Antieuropäer. So geht man mit den Menschen eines Mitgliedslandes nicht um. Sie sollten sich für solch antieuropäische Reflexe schämen! ({7}) Wir haben immer gesagt, wir wollen, dass Europa sozial, demokratischer und friedlich gestaltet wird. Das waren und sind die Hauptgründe, warum wir diese Verträge ablehnen. Wir fühlen uns durch das Bundesverfassungsgericht und Ihre Argumentation in dieser Ansicht bestätigt. Das Bundesverfassungsgericht zeigt zum Beispiel auf, dass die EU-Verfassungsverträge aufgrund der Ausgestaltung des Begleitgesetzes nicht verfassungskonform sind. Nur durch eine verbindliche Regelung des Begleitgesetzes wird das verfassungskonform. Herr Oppermann, ich finde es schön, dass Sie sich hier und heute dazu geäußert haben. Es wäre aber sinnvoll gewesen, wenn Sie bei den Beratungen manchmal wirklich dabei gewesen wären. Vieles von dem, was Sie in der Öffentlichkeit gesagt haben, hat gezeigt, dass Sie von dieser Materie wenig Ahnung haben. Als Parlamentarischer Geschäftsführer waren Sie zwar dabei, von der Sache aber haben Sie keine Ahnung. Sie konnten mit „Seehofer als Bettvorleger“ zwar glänzen, aber zu den Inhalten haben Sie auch heute wenig gesagt. ({8}) Die Mehrheit der Abgeordneten in diesem Haus wollte und will weiterhin eine Europäische Union, die den wirtschaftlich Mächtigen verpflichtet ist. Wir haben das sehr oft gesagt. Auch die SPD hat im Zusammenhang mit den EuGH-Urteilen zu Viking, Laval usw. gemeinsam mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund Erklärungen zur Fortschrittsklausel abgegeben. Die SPD hat die Gewerkschaften aber auch da im Stich gelassen und bei der Klausel für den sozialen Fortschritt mit Nein gestimmt. Wenn Sie jetzt gemeinsam mit den Gewerkschaften Wahlkampf machen wollen, müssen Sie auch sagen, dass Sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in dieser Sache im Stich gelassen haben. Sie haben nichts dagegen getan, dass die Regelungen durch den Europäischen Gerichtshof eingeschränkt wurden. Auch da hat die Sozialdemokratie vollkommen versagt. ({9}) Wir haben heute die letzte Plenarsitzung in dieser Legislaturperiode. Für Rainder Steenblock und Markus Löning ist die heutige Plenarsitzung die letzte. Im Europaausschuss haben wir oft darum gekämpft, dass auch die kleineren Fraktionen eine tatsächliche Mitsprache in Europaangelegenheiten bekommen. Wir haben oft versucht, Parlamentsrechte zu erhalten. Ich glaube, auch die kleinen Fraktionen hatten einen Anteil an dieser BBV. Weil ihr heute zum letzten Mal da seid, sage ich: Wir haben zwar unterschiedliche Standpunkte, aber Danke schön für eure Arbeit. Ich glaube, ihr gehört auch zu denen, denen es um das Parlament und nicht um Regierungshandeln geht. Europa kann man sozialer machen, aber nicht mit dieser SPD und nicht mit dieser CDU/ CSU. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Manuel Sarrazin, Bündnis 90/Die Grünen.

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir denn der Linken dafür dankbar sein sollten, dass sie vor dem Bundesverfassungsgericht den Vertrag von Lissabon, der die Grundlage für die Einführung von mehr Parlamentsrechten ist, beklagt hat und ganz kippen wollte, weil wir mit den Gesetzen jetzt mehr Rechte bekommen, denke ich mir: Wir können Ihnen doch höchstens bis zu dem Zeitpunkt dankbar sein, bis Sie das nachher ablehnen werden. Wenn ich das richtig sehe, werden Sie nachher gegen das EUZBBG stimmen und sich beim IntVG, also bei der Eins-zu-eins-Umsetzung der Forderung des Verfassungsgerichts enthalten. Da muss ich sagen: Selbst wenn Sie Dankbarkeit wollten, so blöd sind wir nicht, dass wir Ihnen das auch noch durchgehen lassen. ({0}) Erklärungen, bayerische Ministerpräsidenten, Linke, Zusatzanträge, Koalitionsstreit - ich habe heute Nacht bei Mondschein nicht einschlafen können und mir überlegt, was ich heute sagen könnte. Man könnte versuchen, das gegen die CSU zu wenden. Man könnte die SPD, unsere Wechselwähler oder die Linke ansprechen. Internationale Solidarität hat ja etwas mit Europa zu tun. Insofern wären Marx und Lenin von euch enttäuscht. ({1}) Das Wichtige, das wir heute beschließen, ist, dass wir, der Deutsche Bundestag, uns stärker dafür verantwortlich erklären, welche Politik in Europa gemacht wird, und dass wir sagen: Europäische Politik ist nicht nur von den Europaabgeordneten, von der Europäischen Kommission und vielleicht noch von einem Minister, der im Rat sitzt, relevant zu erklären, sondern wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages sind verantwortlich, treten ein, fühlen uns zuständig, informieren und diskutieren über das, was in Europa passiert. Das ist das Wichtigste, was wir heute beschließen. ({2}) Das erklären wir unseren Wählern. Es liegt an uns, was in Europa passiert. Wenn es an uns Bundestagsabgeordneten liegt, dann liegt es auch an unseren Wählerinnen und Wählern, dass Europa in der Integration weiter fortschreiten kann. Ich muss über diese Parlamentsrechte sagen: Das Verfassungsgerichtsurteil ist kritisiert worden. Ich als europäischer Föderalist persönlich war auch nicht unbedingt glücklich und brauchte einige Zeit. Aber die befriedende Wirkung des Verfassungsgerichtsurteils darf nicht infrage gestellt werden. Es steht außer Frage, dass die Bundesrepublik Deutschland eine Integrationsverantwortung hat. Wir als Bundestag sind dazu verpflichtet, an der europäischen Integration teilzuhaben. ({3}) Diese befriedende Wirkung des Verfassungsgerichtsurteils besteht in Bezug auf die Verbesserung der Rechte vor allem auch darin, dass die alte grüne Forderung, die BBV auf Gesetzesrang zu bringen, in weiten Teilen übernommen wurde. Es bezieht sich allerdings - aus unserer Sicht zu Unrecht - nicht auf einen ganz wichtigen Bereich. Praktisch alle Redner, auch aus den Koalitionsfraktionen und erst recht aus der Regierung, betonen imManuel Sarrazin mer wieder: Europa brauchen wir, weil die großen Fragen der internationalen Sicherheit, die Fragen der zukünftigen Entwicklung der Welt nur noch von Europa beantwortet werden können. Deswegen halten wir es für unbedingt erforderlich, nachzubessern - am besten durch Zustimmung zu unseren Änderungsanträgen heute - und den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik hinter die sonstigen Politikbereiche zurückzustufen; sonst wird dies der Bedeutung dieser Politikbereiche für Europa, aber auch der Kommunikation mit unseren Wählern, die wir leisten müssen, nicht gerecht. Noch etwas anderes ist wichtig. Wenn wir uns anschauen, was das Verfassungsgericht sagt, sehen wir, dass es etwas ganz Grundsätzliches für die Europäische Union feststellt. Die europäische Integration sorgt nicht dafür, dass ein europäischer Überstaat existiert. Die europäische Integration sorgt auch nicht dafür, dass die Wählerinnen und Wählern weniger demokratische Rechte haben. Das Verfassungsgericht sagt ganz deutlich: Durch den Prozess der europäischen Integration und auch durch den Vertrag von Lissabon werden die Handlungsfähigkeit der Demokratie und damit die Möglichkeiten der Menschen, über demokratische Wahlen auf Politik Einfluss zu nehmen, gestärkt, weil übernationale Interessenfelder und übernationale Fragestellungen von Politik überhaupt belangbar werden. ({4}) Wenn wir uns anschauen, wo wir mit diesen Gesetzesvorlagen angelangt sind, denen wir zustimmen werden und die wir zum großen Teil auch mit einbringen, und wenn wir berücksichtigen, dass viele unserer Forderungen eingeflossen sind und wir im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, beim Umgang mit der Notbremse und bei der schrittweisen Festlegung der gemeinsamen Verteidigungspolitik und der Rechtfertigung gegenüber dem Bundestag noch weitergehen wollten, dann müssen wir eines feststellen: Am Ende der Regierungszeit dieser Großen Koalition wird der Ratifikationsprozess des Vertrages von Lissabon, der im Hinterzimmer der Regierung ohne ausreichende Information des Parlaments begonnen hat, im Deutschen Bundestag mit einer Entscheidung abgeschlossen, die den Deutschen Bundestag neu in die Verantwortung nimmt und die Parlamentsrechte gerade hinsichtlich der Information stärkt. Deswegen sage ich: Ich wünsche mir, dass diese Gesetze, die hier heute beschlossen und nächste Woche ratifiziert werden, auch in Irland, Tschechien und Polen ratifiziert werden und für das nächste deutsche Parlament und für die nächste deutsche Bundesregierung Ansporn sind, den Auftrag von heute ernst zu nehmen und damit Europa einen Schritt weiterzubringen. Ich bedanke mich. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Henry Nitzsche.

Henry Nitzsche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003601, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich können Sie alle froh sein, dass das deutsche Volk von Revolutionen seit Jahren die Nase voll hat. Sonst würden heute wohl etliche Bürger dieses Hohe Haus belagern und Sie zum Abdanken auffordern. Das Recht dazu hätten sie. Schließlich heißt es in Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Wenn Sie heute allerdings dem EU-Reformvertrag den Weg ebnen, geben Sie große Teile unserer nationalen Souveränität an Brüssel ab. Für genau diesen Fall sieht das Grundgesetz das sogenannte Widerstandsrecht vor. Ich zitiere Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes: Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand … Doris Neujahr hat es in der Jungen Freiheit mit Blick auf die politische Klasse kürzlich auf den Punkt gebracht: Die Quelle ihrer Legitimität ist der deutsche Wähler und niemand sonst! Wenn Sie jetzt Rechte des deutschen Parlaments an Brüssel abtreten, verschenken Sie etwas, das Ihnen vom deutschen Volk nur geliehen war. Aber in Ihrer Selbstherrlichkeit ignorieren Sie das bewusst. Für Sie besteht das Volk nur aus Wählern, die den Parteien alle vier Jahre ihre Futtertröge füllen sollen. Richtig wäre gewesen, die Bürger selbst über den Reformvertrag und seine Folgen abstimmen zu lassen. Aber daran besteht hier offenbar kein Interesse, angeblich weil es das Grundgesetz nicht hergibt. Aber wenn das Grundgesetz das nicht hergibt, warum ändern wir es dann nicht? In anderen Fällen ist das doch auch kein Problem. Kommen Sie mir also nicht mit der faulen Ausrede, ein Volksentscheid über den Reformvertrag sei rechtlich nicht möglich. Seien Sie einmal ehrlich und sagen Sie: „Wir wollen nicht, dass die Bürger darüber entscheiden. Die machen uns sonst einen Strich durch die Rechnung.“ ({0}) Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf soll der Deutsche Bundestag bei Fragen der Kompetenzerweiterung in Zukunft mit Zweidrittelmehrheit zustimmen. Vom Gedanken her ist dies begrüßenswert. Nur wurde dabei offenbar vergessen, dass wir es in Deutschland nicht mit freien Abgeordneten zu tun haben, sondern mit willfährigen Parteisklaven, ({1}) die nur abnicken, was ihnen ihre Partei- und Fraktionsführung vorgibt. ({2}) Das beste Beispiel ist die Verabschiedung des Reformvertrages im letzten Jahr. Dieser wurde samt verfassungswidrigem Begleitgesetz mit deutlich mehr als zwei Dritteln der Stimmen angenommen, was hinterher noch als großer Tag für Deutschland gefeiert wurde. Dabei war dieser Tag einer der Tiefpunkte der deutschen Geschichte. ({3}) Ich habe damals zu Recht an das Ermächtigungsgesetz von 1933 erinnert. ({4}) Ich bin mir sicher, dass die Mehrheit von Ihnen auch dem heute vorliegenden Gesetzentwurf zustimmt und sich somit zum Totengräber der deutschen Souveränität macht. ({5}) Es gibt hier aber auch noch selbsternannte Freiheitskämpfer, die CSU zum Beispiel. Pünktlich vor der Bundestagswahl kritteln Sie am Reformvertrag herum und betonen, wie dankbar Sie Ihrem Kollegen Gauweiler sind: „Danke, Peter, dass du das für uns durchgeboxt hast!“ Ich frage mich aber, warum Sie alle im April vergangenen Jahres so fröhlich für den Vertrag von Lissabon gestimmt haben. Sie hatten wohl Angst vor der Knute von Frau Merkel! Da war die Linksfraktion schon mutiger. Sie hat sogar gegen den Vertrag gestimmt und in Karlsruhe geklagt. Allerdings frage ich mich: Aus welchen Motiven? Wahrscheinlich können Sie sich mit der allgemeinen Reisefreiheit in der Europäischen Union nicht so ganz anfreunden. Oder fehlt Ihnen etwa der antifaschistische Schutzwall

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Nitzsche.

Henry Nitzsche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003601, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

- ich komme zum letzten Satz -, damit Sie sich in der „EUdSSR“ richtig wohlfühlen? Ich nehme Ihnen jedenfalls nicht ab, dass Sie sich um die Interessen Deutschlands sorgen - wie keiner in diesem Hause.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Dr. Angelica SchwallDüren, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lassen Sie uns zu einem demokratischen Diskurs zurückkehren. ({0}) Wir sind gestern in Bonn gewesen und haben „60 Jahre Deutscher Bundestag“ gefeiert. Bundestagspräsident Lammert hat aus der Rede des damaligen Alterspräsidenten Paul Löbe zitiert, der sich damals gewünscht hat, dieses deutsche Parlament möge dazu beitragen, dass Deutschland im Sinne des Grundgesetzes in einem vereinten Europa an dem Frieden der Welt mitarbeite. Ich bin froh, dass wir heute den letzten Schritt machen können, damit der Lissabonner Vertrag in Kraft gesetzt werden kann, damit auch die Iren zu einem Ja ermutigt werden und wir darüber hinaus positive Signale nach Tschechien und Polen senden. Denn mit dem Lissabonner Vertrag wird die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union gestärkt. Im Gegensatz zu dem, was von Europaskeptikern immer wieder verbreitet wird, wird auch die demokratische Legitimität der Europäischen Union durch den Lissabonner Vertrag forciert, gestärkt und unterstützt. Wir haben bereits mit der damaligen Ratifizierung des Verfassungsvertrags in Begleitgesetzen festgelegt, dass eine stärkere Beteiligung des Bundestages an europapolitischen Fragestellungen Platz greifen soll. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird die Integrationsverantwortung des Bundestages gestärkt und strukturiert. Ich bin froh, dass wir heute zu einem Abschluss kommen können. Wir haben immer noch Kollegen hier im Parlament, die glauben, wir müssten eher Sand ins Getriebe werfen. Dass die Linkspartei grundsätzlich eine europaskeptische Haltung hat, braucht kaum noch eine Erwähnung. Aber ich bin sehr enttäuscht von dem Verhalten der CSU in diesem Beratungsprozess. Die Kollegen von der CDU hatten offenbar nicht die Kraft, sich diesen Bremsmanövern der CSU entgegenzustellen ({1}) und dafür zu sorgen, dass es wirklich zu einer gemeinsam Arbeit der Koalitionsfraktionen kommt. Die Frage war ja nicht die Kurzfristigkeit durch die Ausschussarbeit, Herr Silberhorn. Wir standen doch alle unter dem Druck des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes, die Beratungen rechtzeitig abzuschließen und gemeinsam die Dinge voranzubringen. Wenn Sie heute in einer Erklärung nach § 31 GO die Vorbehalte, die Sie formuliert haben, ({2}) erneut vortragen und die Bundeskanzlerin nach Brüssel schicken wollen, damit sie dort erklärt, dass es in Deutschland Vorbehalte gegenüber dem Lissabonner Vertrag gibt, und Sie außerdem eine Selbstentmündigung propagieren und fordern, dass nicht der Gesetzgeber, sondern das Bundesverfassungsgericht vorab überprüfen solle, ob europäische Rechtsakte in Ordnung gehen, dann kann ich die Frau Bundeskanzlerin nur warnen: Wenn sie die Europareputation der CDU schädigt, ist das ihre Sache, aber wenn die Bundeskanzlerin die Europareputation Deutschlands schädigt, dann ist das mehr als bedauerlich und dient sicherlich nicht den Interessen Deutschlands in der Europäischen Union. ({3}) Schwierig war es gelegentlich auch mit dem Bundesrat. Ich möchte die Auseinandersetzung um die Frage der Daseinsvorsorge erwähnen. In der Situation, dass wir zum ersten Mal in einem europäischen Vertrag die nationale Kultur im Bereich der Daseinsvorsorge als schützenswert festgeschrieben haben, meinte der Bundesrat, die Gelegenheit nutzen zu können, seine Rechte noch weiter auszudehnen. Dem konnten wir zum Glück ein P vorsetzen. Die Rechte des Bundesrates werden nicht geschwächt; aber es wird dem Bundesrat auch nicht möglich sein, weitere Schwierigkeiten zu machen. Was wir nun ins Auge fassen müssen - da hat Herr Löning recht -, sind die Konsequenzen aus den neuen Gesetzen. Die Arbeit des EU-Ausschusses wird sich verändern müssen. Wir werden Schwerpunkte setzen müssen, und wir werden darüber nachdenken müssen - ich möchte das hiermit vorschlagen -, auch im EU-Ausschuss ein Berichterstatterregime einzuführen, damit wir unsere Verantwortung für die europäische Integration umsetzen können und der Bundestag hier stärker als in der Vergangenheit beteiligt wird. Liebe Kollegen und Kolleginnen, ich möchte mich dem Dank von Herrn Krichbaum anschließen: Viele Menschen haben viele Tage bis spät in die Nacht daran gearbeitet, dass diese Gesetze heute vorliegen. Die SPD ist froh, dass wir heute so weit gekommen sind und entsprechend der Präambel weiter dynamisch an der Integration der Europäischen Union arbeiten können - als ein Mitgliedstaat in dieser Gemeinschaft, die für den Frieden der Welt arbeitet. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Gauweiler, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mir bleiben leider nur fünf Minuten, sodass ich, Frau SchwallDüren, auf Ihre Rede nicht im Einzelnen antworten kann. ({0}) Ich empfehle Ihnen nur, sich Ihren Redebeitrag vom Dezember 2007 bei der Einbringung der verfassungswidrigen alten Begleitgesetze durchzulesen und diese Rede in den nächsten drei Wochen im Wahlkampf fest unter Verschluss zu halten. Ich hätte von Ihnen wenigstens ein Wort der Selbstkritik erwartet, ({1}) dass hier im Haus ein in dieser fundamentalen Weise verfassungswidriges Gesetz verabschiedet worden ist. Sie haben von Bremsmanövern gesprochen. Das wichtigste Bremsmanöver überhaupt war die von der CSU unterstützte Klage gegen die alten Begleitgesetze zum Lissabon-Vertrag; denn ohne dieses Klageverfahren säßen Sie heute nicht hier und könnten den neuen Gesetzentwurf nicht loben. Ich danke allen Mitstreitern, übrigens auch der Fraktion der Linken. Es ist besser, mit den Außenseitern das Grundgesetz zu verteidigen, als es mit den Volksparteien zu brechen. ({2}) Ich möchte hier ganz kurz drei Punkte ansprechen:

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Gauweiler, einen Augenblick bitte. Ich halte Ihre Redezeit auch an.

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein bisschen zuhören müssen Sie schon. ({0})

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube auch, dass Sie zugehört haben. Es war Ausdruck Ihrer Erregung; das freut mich ja. Erstens. Mit dem neuen Begleitgesetz wurde viel erreicht. Alle Prozessbevollmächtigten, die in Karlsruhe aufseiten der Kläger dabei waren, haben erklärt, dass diesem neuen Begleitgesetz zugestimmt werden kann. Sie können mir also auch noch über die Abstimmung hinaus danken, Herr Kollege. Mit diesem neuen Begleitgesetz wurde auch mehr erreicht - das, was hier gesagt worden ist, stimmt -, als vom Bundesverfassungsgericht verlangt worden ist. Der Bundestag und teilweise auch der Bundesrat haben in 30 Fällen zum Teil fundamentale neue Rechte erhalten. Für zwölf Arten von Beschlüssen ist in Zukunft ein parlamentarisches Zustimmungsgesetz zwingend erforderlich, zum Beispiel zur Einführung eines einheitlichen Wahlverfahrens zum Europäischen Parlament, zur Einführung einer gemeinsamen Verteidigung und zur Festlegung der Eigenmittel der EU. Für sechs weitere Arten von Beschlüssen ist ein zustimmender Parlamentsbeschluss des Deutschen Bundestages erforderlich, zum Beispiel zur Wahrnehmung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, zu Maßnahmen zum Schutz von Arbeitnehmern bei Beendigung des Arbeitsvertrages und zu Maßnahmen der Umweltpolitik. Dazu waren alle Kompetenzen, auch die Erweiterungskompetenzen, nach Brüssel weitergegeben worden. Ich frage mich, warum Sie sich über Papiere im Wirtschaftsministerium aufregen, wenn Sie die Kompetenzen im Arbeits- und Sozialrecht so intensiv nach Brüssel abgeben wollen. In drei Fällen, nämlich in dem sogenannten Notbremseverfahren, beispielsweise beim Strafrecht und bei der Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, sind in Zukunft verbindliche Weisungen des Bundesrates und des Bundestages möglich. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts kann in Zukunft nur aufgrund verfassungsrechtlicher Ermächtigung durch das deutsche Grundgesetz verwirklicht werden. Das Bundesverfassungsgericht kann die Unanwendbarkeit einzelner Rechtsakte der Europäischen Union in Deutschland feststellen. Der zweite Punkt, auf den ich hinweisen möchte: Sie meinen immer, nicht ohne Süffisanz über uns reden zu können. Sie sagten, dass die gemeinsame Erklärung zur Abstimmung vom Tisch sei. Mit dieser Erklärung sollte die Bundesregierung aufgefordert werden, dafür zu sorgen, dass im Europäischen Rat festgestellt wird, dass der Lissabon-Vertrag nur nach Maßgabe der im Urteil des Bundesverfassungsgerichts dargelegten Gründe gültig ist. Das, was Herr Ramsauer hier dazu gesagt hat, war völlig richtig. Diese Erklärung des Bundestages, mit der die Bundesregierung dazu aufgefordert werden sollte, ist deswegen obsolet, weil die Bundeskanzlerin, übrigens heute hier in dieser Sitzung, dem Parlament erklärt hat, dass sie eine solche Erklärung dem Europäischen Rat und der schwedischen Präsidentschaft gegenüber abgeben wird. Ich danke ihr dafür. ({0}) Der dritte und letzte Punkt ist der Streit um die Fortentwicklung der Integration. Herr Kollege Oppermann, Sie haben gesagt, in Wahrheit solle klammheimlich der Nationalismus befördert werden, man würde es sich nur nicht so richtig trauen. Ich weiß nicht, ob Sie sich in einen Bayern hineindenken können, aber ich sage es trotzdem: Es ist für unsereinen von München und von Bayern aus und nach der Erfahrung von 1871 nur ein gradueller Unterschied, ob man von Berlin oder von Brüssel bevormundet wird. ({1}) - Richtig. Ich spreche betont einfach. - Unser Anliegen ist, Leuten entgegenzuwirken, die einer Verwechslung unterliegen. Ich fürchte - das sage ich mit Respekt -, dass auch Sie die Bildung eines vereinten Europas mit immer mehr Zentralismus verwechseln. Dagegen wenden wir uns. ({2}) Jeder redet in seinem Programm von Bürgernähe. Aber diese Nähe des Bürgers entsteht nicht in einer Mammutzentrale für 450 Millionen Menschen, sondern vor Ort, wo der Bürger lebt, wo seine Sprache verstanden wird und die von ihm gewählte unmittelbare Volksvertretung lebt und arbeitet.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Gauweiler.

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin gleich fertig. - Letzter Satz: Um diese nicht noch weiter entmachten zu lassen, habe ich mit anderen dieses Klageverfahren beim Bundesverfassungsgericht durchgeführt. Es war eine Sternstunde des Gerichts, dass dies erreicht werden konnte.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Gauweiler.

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit diesem neuen Gesetz gehen wir in eine bessere Richtung als vorher. Vielen herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Michael Roth, SPD-Fraktion. ({0})

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon ein etwas seltsames Schauspiel heute Nachmittag: Wir erleben eine sich stabilisierende Allianz aus CSU und Linkspartei. Wer hätte das noch vor wenigen Monaten für möglich gehalten? ({0}) Symbol dieser wachsenden und gedeihlichen Zusammenarbeit ist Herr Gauweiler. Herr Gauweiler, die CSU war doch bislang immer so stolz darauf, zur politischen Bundesliga zu gehören. Aber was Sie eben abgegeben haben, war schlechte Regionalliga. Darüber muss man sich schon wundern. Vielleicht liegt es daran, Herr Gauweiler, dass Sie beabsichtigen, sich hier zum europapolitischen Star aufzuspielen. Sie sind aber eigentlich nur ein europapolitischer Mops. Die europapolitischen Stars sind nämlich diejenigen unter uns in allen Fraktionen, die jahrein, jahraus, tagein, tagaus europapolitische Kärrnerarbeit leisten. ({1}) Das sind diejenigen, die schon seit Jahren konstruktiv mitarbeiten und Verantwortung tragen. Ich bin gespannt, ob Sie dem nächsten Europaausschuss angehören, Herr Gauweiler. Dann darf ich Sie schon jetzt im Klub der europapolitischen Ackergäule willkommen heißen. Da geht es nämlich nicht alleine darum, dass man vor das Bundesverfassungsgericht zieht, Michael Roth ({2}) sondern dass man in der tagtäglichen Arbeit kontrolliert, Verantwortung übernimmt - Sie können genügend Kolleginnen und Kollegen Ihrer eigenen Fraktion fragen und sich der mühseligen Kleinarbeit ergibt. Vielleicht haben Sie Zeit dafür. Wir würden uns darüber freuen. ({3}) Gestatten Sie mir zum Schluss der Debatte noch ein paar klare Worte zum Bundesverfassungsgericht. Ich hatte den Eindruck, dass sich nicht wenige Kolleginnen und Kollegen hinter dem Bundesverfassungsgericht verstecken. Für mich ist aber der Deutsche Bundestag das erste Verfassungsorgan. Wir sagen, wo es europapolitisch langgeht. ({4}) Wir sollten unsere Verantwortung nicht an das Bundesverfassungsgericht abgeben. Ich widerspreche dem Bundesverfassungsgericht - das sage ich deutlich - in mindestens zwei Punkten. Der erste Punkt: Ich halte das Urteil im Hinblick auf das Europaparlament für wenig akzeptabel. ({5}) Was dort über das Europäische Parlament gesagt und geschrieben wird, hat mit der europapolitischen Wirklichkeit in Brüssel überhaupt nichts gemein. Das muss man den Richterinnen und Richtern einmal ins Stammbuch schreiben dürfen. ({6}) Der zweite Punkte - insofern freue ich mich über die Debatte der vergangenen Woche -: Das Bundesverfassungsgericht bedient sich aus meiner Sicht eines überholten Souveränitätsgedankens. Diese nationale Souveränität, von der das Bundesverfassungsgericht spricht, hat mit dem 21. Jahrhundert und den Herausforderungen der Globalisierung nichts zu tun. ({7}) Wir sind zur europapolitischen Zusammenarbeit verpflichtet. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig. Wir müssen uns fragen, inwieweit wir in Partnerschaft mit dem Europaparlament Europa demokratischer und handlungsfähiger machen können. In dieser Hinsicht ist der Vertrag von Lissabon sicherlich nicht die letztinstanzliche, aber eine akzeptable Antwort. Deshalb treten wir alle gemeinsam in der SPD-Bundestagsfraktion dafür ein, dass dieser Vertrag so schnell wie nur irgend möglich in Kraft treten kann. ({8}) Wir freuen uns über neue gesetzliche Regelungen sowie neue Chancen und Optionen für den Deutschen Bundestag, aber auch für den Bundesrat. Aber viel wichtiger als Gesetzesänderungen ist die politische Praxis. Ich bin gespannt, ob wir als Deutscher Bundestag, die Fachausschüsse und insbesondere der Europaausschuss, dieser wachsenden Verantwortung gerecht zu werden vermögen. Ich hoffe es. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, werden dazu einen aktiven und verantwortungsbewussten Beitrag leisten. Wir werden, wenn es nötig erscheint, der Bundesregierung auch Feuer machen. Zum Schluss. Die Verfassungsväter und Verfassungsmütter haben - wenn man die alten Kommentare zum Grundgesetz liest, wird einem das sehr deutlich - im vereinten Europa noch Hoffnung und Zuversicht gesehen. In den vergangenen Wochen war ich mir nicht mehr so ganz sicher, ob diese Hoffnung und Zuversicht, dieser optimistische Geist von allen Kolleginnen und Kollegen getragen wird. Vielleicht war das der Grund, warum 1949 der Freistaat Bayern das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland abgelehnt hat. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Tagesordnungspunkt 2 a. Wir kommen zur Abstim- mung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angele- genheiten der Europäischen Union. Zu dieser Abstim- mung liegen mir zahlreiche Erklärungen nach § 31 unse- rer Geschäftsordnung vonseiten der CDU/CSU und eine Erklärung von der SPD vor.1) Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi- schen Union empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13985, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/13923 in der Aus- schussfassung anzunehmen. Hierzu liegen Änderungs- anträge vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/14013? - Wer stimmt da- gegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit dem Rest der Stimmen des Hauses abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/14017? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ände- rungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und CDU/ CSU bei Enthaltung der Fraktion der FDP und Gegen- stimmen der Fraktion Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ge- setzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Gegen- stimmen der Fraktion Die Linke mit dem Rest der Stimmen des Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. 1) Anlagen 2 und 3 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung und weise darauf hin, dass im Anschluss an die namentliche Abstimmung noch etliche andere Abstimmungen folgen werden. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Wir kommen nun zum Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/14018. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/ Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/ CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Grundgesetzänderung für die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13985, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/13924 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit demselben Ergebnis wie in zweiter Beratung angenommen. Tagesordnungspunkt 2 b. Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13986, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/13925 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/14011? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/14015? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/14019? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist ebenfalls mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/ Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den restlichen Stimmen des Hauses in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit demselben Stimmenergebnis wie in zweiter Beratung angenommen. Tagesordnungspunkt 2 c. Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13987, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/13926 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den restlichen Stimmen des Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit demselben Stimmenergebnis wie in zweiter Beratung angenommen. Ich komme zu dem von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen, Entwurf eines Gesetzes über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union: abgegebene Stimmen 494. Mit Ja haben gestimmt 446, mit Nein haben gestimmt 46, Enthaltungen 2. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 494; davon ja: 446 nein: 46 enthalten: 2 Ja CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Albach Peter Altmaier Dorothee Bär Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Otto Bernhardt Clemens Binninger Renate Blank Peter Bleser Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({0}) Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Monika Brüning Georg Brunnhuber Cajus Caesar Leo Dautzenberg Hubert Deittert Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Dr. Stephan Eisel Anke Eymer ({1}) Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Enak Ferlemann Hartwig Fischer ({2}) Dirk Fischer ({3}) Axel E. Fischer ({4}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({5}) Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Eberhard Gienger Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Olav Gutting Holger Haibach Gerda Hasselfeldt Ursula Heinen Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Hubert Hüppe Susanne Jaffke-Witt Dr. Hans-Heinrich Jordan Andreas Jung ({6}) Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({7}) Eckart von Klaeden Jens Koeppen Dr. Kristina Köhler ({8}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Dr. Günter Krings Dr. Martina Krogmann Dr. Hermann Kues Andreas G. Lämmel Helmut Lamp Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Ingbert Liebing Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold Dr. Michael Luther Thomas Mahlberg Stephan Mayer ({9}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Friedrich Merz Maria Michalk Philipp Mißfelder Dr. Eva Möllring Marlene Mortler Carsten Müller ({10}) Stefan Müller ({11}) Dr. Gerd Müller Bernd Neumann ({12}) Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Rita Pawelski Dr. Joachim Pfeiffer Beatrix Philipp Ruprecht Polenz Daniela Raab Thomas Rachel Hans Raidel Peter Rauen Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({13}) Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Johannes Röring Kurt J. Rossmanith Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Peter Rzepka Anita Schäfer ({14}) Hermann-Josef Scharf Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Annette Schavan Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Georg Schirmbeck Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({15}) Andreas Schmidt ({16}) Ingo Schmitt ({17}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Kurt Segner Marion Seib Bernd Siebert Johannes Singhammer Jens Spahn Christian Freiherr von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({18}) Lena Strothmann Michael Stübgen Hans Peter Thul Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Gerhard Wächter Marco Wanderwitz Kai Wegner Peter Weiß ({19}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Anette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer ({20}) Elisabeth WinkelmeierBecker Werner Wittlich Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Gregor Amann Dr. h. c. Gerd Andres Niels Annen Ernst Bahr ({21}) Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Dirk Becker Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Ute Berg Petra Bierwirth Volker Blumentritt Clemens Bollen Gerd Bollmann Dr. Gerhard Botz Klaus Brandner Bernhard Brinkmann ({22}) Edelgard Bulmahn Dr. Michael Bürsch Christian Carstensen Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Dr. Herta Däubler-Gmelin Karl Diller Elvira Drobinski-Weiß Detlef Dzembritzki Siegmund Ehrmann Hans Eichel Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Gabriele Frechen Dagmar Freitag Peter Friedrich Sigmar Gabriel Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Angelika Graf ({23}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Alfred Hartenbach Hubertus Heil Dr. Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Petra Heß Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Stephan Hilsberg Petra Hinz ({24}) Gerd Höfer Iris Hoffmann ({25}) Frank Hofmann ({26}) Dr. Eva Högl Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Johannes Jung ({27}) Josip Juratovic Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Ulrich Kelber Christian Kleiminger Hans-Ulrich Klose Astrid Klug Dr. Bärbel Kofler Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Helga Kühn-Mengel Dr. Uwe Küster Christian Lange ({28}) Dr. Karl Lauterbach Waltraud Lehn Helga Lopez Gabriele Lösekrug-Möller Lothar Mark Caren Marks Katja Mast Markus Meckel Petra Merkel ({29}) Dr. Matthias Miersch Ursula Mogg Marko Mühlstein Detlef Müller ({30}) Michael Müller ({31}) Andrea Nahles Dr. Erika Ober Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Steffen Reiche ({32}) Maik Reichel Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Walter Riester René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({33}) Michael Roth ({34}) Ortwin Runde Anton Schaaf Bernd Scheelen Marianne Schieder Otto Schily Ulla Schmidt ({35}) Silvia Schmidt ({36}) Heinz Schmitt ({37}) Carsten Schneider ({38}) Ottmar Schreiner Reinhard Schultz ({39}) Swen Schulz ({40}) Ewald Schurer Frank Schwabe Rolf Schwanitz Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dieter Steinecke Rolf Stöckel Christoph Strässer Dr. Peter Struck Joachim Stünker Dr. Rainer Tabillion Jella Teuchner Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Rüdiger Veit Simone Violka Jörg Vogelsänger Dr. Marlies Volkmer Andreas Weigel Petra Weis Gert Weisskirchen ({41}) Hildegard Wester Lydia Westrich Dr. Margrit Wetzel Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Wolfgang Wodarg Waltraud Wolff ({42}) Heidi Wright Uta Zapf Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Dr. Karl Addicks Daniel Bahr ({43}) Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Patrick Döring Mechthild Dyckmans Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Paul K. Friedhoff Horst Friedrich ({44}) Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz-Peter Haustein Dr. Werner Hoyer Michael Kauch Dr. Heinrich L. Kolb Hellmut Königshaus Gudrun Kopp Dr. h. c. Jürgen Koppelin Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Ina Lenke Dr. Erwin Lotter Horst Meierhofer Jan Mücke Dirk Niebel Marina Schuster Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Carl-Ludwig Thiele Florian Toncar Dr. Daniel Volk Christoph Waitz Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff ({45}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Volker Beck ({46}) Cornelia Behm Birgitt Bender Alexander Bonde Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Dr. Uschi Eid Kai Gehring Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Winfried Hermann Peter Hettlich Priska Hinz ({47}) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Thilo Hoppe Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Fritz Kuhn Markus Kurth Anna Lührmann Jerzy Montag Kerstin Müller ({48}) Winfried Nachtwei Omid Nouripour Krista Sager Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Dr. Gerhard Schick Grietje Staffelt Rainder Steenblock Silke Stokar von Neuforn Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Wolfgang Wieland Josef Philip Winkler fraktionsloser Abgeordneter Nein DIE LINKE Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Heidrun Bluhm Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Diana Golze Heike Hänsel Lutz Heilmann Hans-Kurt Hill Inge Höger Dr. Barbara Höll Dr. Steffen Hultsch Ulla Jelpke Katja Kipping Monika Knoche Katrin Kunert Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Dorothée Menzner Kersten Naumann Wolfgang Nešković Dr. Norman Paech Bodo Ramelow Elke Reinke Paul Schäfer ({49}) Volker Schneider ({50}) Dr. Ilja Seifert Frank Spieth Dr. Kirsten Tackmann Dr. Axel Troost Jörn Wunderlich Sabine Zimmermann fraktionslose Abgeordnete Gert Winkelmeier Enthalten SPD Dr. Hermann Scheer FDP Dr. Konrad Schily Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner ({51}) Tagesordnungspunkt 2 d. Abstimmung über den von der Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes, Art. 23, 45 und 93. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13988, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/13928 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den restlichen Stimmen des Hauses abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/14014. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den restlichen Stimmen des Hauses abgelehnt. Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, teile ich Ihnen mit, dass sich die Fraktionen verständigt haben, die heute Morgen aufgesetzten Zusatzpunkte 2 a bis 2 g - es handelt sich um Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses - von der Tagesordnung abzusetzen. Sind Sie mit der Vereinbarung einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 4 a: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung der Sanierung von Unternehmen - Drucksache 16/13927 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({52}) - Drucksache 16/13980 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Günter Krings Joachim Stünker Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Sevim Dağdelen Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13980, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/13927 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU bei Gegenstimmen der Fraktionen der FDP und Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit demselben Ergebnis wie in zweiter Beratung angenommen. Tagesordnungspunkt 4 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({53}) zu der Verordnung der Bundesregierung - Fünfundachtzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung - Einhundertachte Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 16/13920, 16/13921, 16/13975 Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13975, die Aufhebung der Verordnungen auf den Drucksachen 16/13920 und 16/13921 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 4 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({54}) zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 1/09 - Drucksache 16/13976 Berichterstattung: Abgeordneter Andreas Schmidt ({55}) Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, in dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, Professor Dr. Hans Michael Heinig, Universität Göttingen, als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen mit den restlichen Stimmen des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 4 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({56}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über das Recht auf Verdolmetschung und Übersetzung in Strafverfahren ({57}) ({58}) KOM ({59}) 338 endg.; Ratsdok. 11917/09 - Drucksachen 16/13912 A.4, 16/13982 26362 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Berichterstattung: Abgeordnete Daniela Raab Joachim Stünker Mechthild Dyckmans Sevim Dağdelen Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13982, in Kenntnis der Unterrichtung festzustellen, dass der Vorschlag der EU-Kommission für einen Rahmenbeschluss des Rates über das Recht auf Verdolmetschung und Übersetzung in Strafverfahren keinen Bedenken hinsichtlich der Einhaltung des gemeinschaftsrechtlichen Grundsatzes der Subsidiarität begegnet. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 4 e: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Freigrenzen im SGB II erweitern - Erhöhung des Schonvermögens und Anrechungsfreiheit für Ferienjobs - Drucksache 16/14012 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU bei Enthaltung der FDP und Gegenstimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke abgelehnt. Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung einer Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und diese jetzt als Zusatzpunkt 3 aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe somit den Zusatzpunkt 3 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({60}) zu einem Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens - Drucksache 16/14010 Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/14010, die Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens zu erteilen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. ({61}) - Welche Enthaltung? ({62}) - Eine Enthaltung vom Kollegen Tauss. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege ({63}) - Drucksache 16/13654 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jan Korte, Christine Lambrecht, Wolfgang Wieland und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege - Drucksache 16/13405 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jan Korte, Petra Pau, Ulla Jelpke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege ({64}) - Drucksache 16/3139 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({65}) - Drucksache 16/13979 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Günter Krings Joachim Stünker Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Carl-Christian Dressel, SPD-Fraktion.

Dr. Carl Christian Dressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003750, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich freue mich sehr, als Redner zum letzten Tagesordnungspunkt vor Abschluss dieser Wahlperiode und damit ganz kurz vor Toresschluss feststellen zu können: Wir haben am 26. August im Rechtsausschuss einstimmig beschlossen, dem Plenum zu empfehlen, den Gesetzentwurf auf der Drucksache 16/13654 in zweiter und dritter Lesung anzunehmen. Das freut mich besonders, weil wir damit die Ehre der letzten Opfergruppe wiederherstellen können oder, wie es Professor Wolfram Wette in seinem Buch Das letzte Tabu bezeichnet hat, das letzte Tabu gebrochen haben. ({0}) Es ist ein guter Tag für die Opfer der Nazijustiz, und es ist gut, dass es diesen Tag, an dem alle Todesurteile und Urteile gegen die sogenannten Kriegsverräter pauschal aufgehoben werden, in der 16. Wahlperiode gibt. ({1}) Soldaten und, entgegen dem Wortlaut, auch Zivilisten wurden während des Zweiten Weltkrieges nach dem damaligen § 57 des Militärstrafgesetzbuchs von 1934 wegen Kriegsverrats verurteilt und fast ausnahmslos mit dem Tode bestraft. Ich habe eben den Wortlaut erwähnt. Kriegsverrat war ein Landesverrat, der von Militärpersonen während des Krieges begangen wurde. Das war allerdings eine schwammige Formulierung, die es der NSMilitärjustiz ermöglichte, widerständiges Handeln stets mit dem Tode zu bestrafen. Schätzungsweise 30 000 Todesurteile wurden von der NS-Militärjustiz gefällt; 20 000 dieser Urteile wurden vollstreckt. Viele wussten lange nicht, was es mit dem Delikt „Kriegsverrat“ und den betroffenen Menschen auf sich hatte. Dank der Arbeit von Wolfram Wette wissen wir inzwischen mehr: Wer sich nicht am Krieg beteiligen wollte, wer half, dass die Barbarei früher beendet wurde, der handelte nicht kriminell. Es ist gut, dass der Deutsche Bundestag das heute abermals feststellt. Kriminell waren das Regime und die in weiten Teilen nicht rechtsstaatliche Vorgehensweise. ({2}) Ich sage „abermals“; denn der Deutsche Bundestag hat bereits 1998 beschlossen, Unrechtsurteile aufzuheben. Die Deserteure, die zunächst von dieser Aufhebung ausgenommen wurden, wurden am 17. Mai 2002 mit einbezogen. Die letzte Lücke schließen wir heute. Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute beraten und beschließen werden, beenden wir eine weitere Phase im Prozess der Bewusstseinswerdung bezüglich des Unrechts der NS-Militärjustiz. Ich freue mich, dass auch neue Erkenntnisse zu dieser Entschließung geführt haben: zum einen die Studie des Militärhistorikers und SPD-Sachverständigen in der Anhörung Wolfram Wette mit dem Titel Das letzte Tabu, und zum anderen von der rechtswissenschaftlichen Seite ein Gutachten, das der frühere Bundesverfassungsrichter Hans Hugo Klein für das Bundesjustizministerium erstellt hat. Darin wird festgestellt, dass der Tatbestand des Kriegsverrats von den Nazimachthabern so verändert wurde, dass er den Anforderungen, die man an rechtsstaatliche Strafnormen stellen muss, nicht mehr genügte. Diese Ergebnisse führten dankenswerterweise auch in weiten Teilen dieses Hauses zu einem Umdenken. Es ist wichtig, dazuzulernen und umdenken zu können. Die Vorschrift war rechtsstaatswidrig, und Urteile, die aufgrund rechtsstaatswidriger Vorschriften ergangen sind, können keinen Bestand haben. Dazu möge sich der Deutsche Bundestag heute bekennen, indem er die Kriegsverräter vollständig rehabilitiert. Es hat zwar etwas länger gedauert, aber ich freue mich, dass auch unser Koalitionspartner überzeugt werden konnte. Ich möchte allen, die an diesem Prozess beteiligt waren, danken: der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz um Ludwig Baumann, den Historikern, die sich damit auseinandergesetzt haben - in erster Linie Wolfram Wette und Helmut Kramer -, der Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, Herrn Staatssekretär Hartenbach und den Mitarbeitern des Bundesministeriums der Justiz, die in der Sache an unserer Seite standen, sowie den Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen, die immer wieder Druck gemacht haben. Bei der Wiederherstellung der Ehre der Opfer wäre es ein gutes Zeichen, wenn nicht nur der Rechtsausschuss, sondern auch das Plenum den gemeinsamen Gesetzentwurf heute einstimmig verabschieden würde. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Max Stadler, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dieses Thema ist so wichtig, dass es richtig gewesen ist, sich darauf zu einigen, am Ende der Legislaturperiode noch eine Aussprache im Plenum durchzuführen und nicht, wie manche überlegt haben, die Reden zu Protokoll zu geben. Bereits seit mehreren Jahren diskutiert der Bundestag über die Aufhebung von NS-Urteilen wegen Kriegsverrats. Die FDP freut sich, dass es zum Ende dieser Legislaturperiode gelungen ist, fraktionsübergreifend einen Konsens zu finden. Wenn der Deutsche Bundestag heute mit den Stimmen aller Fraktionen den vorliegenden Gesetzentwurf verabschiedet, so ist dies bei diesem sensiblen Thema ein wichtiges Zeichen für die Betroffenen, aber auch für den Rechtsstaat. Der Umgang mit Urteilen aus der Nazizeit hat den Deutschen Bundestag wiederholt beschäftigt. In der 13. Wahlperiode hat die damalige Koalition aus CDU/ CSU und FDP das NS-Aufhebungsgesetz auf den Weg gebracht. Einstimmig wurde 1998 beschlossen, dass solche strafgerichtlichen Verurteilungen durch Gesetz aufgehoben werden, die gegen elementare Grundsätze der Gerechtigkeit verstoßen haben und die nach dem 30. Januar 1933 zur Durchsetzung der Politik des Naziregimes gefällt worden sind. Davon betroffen waren insbesondere Entscheidungen, die auf gesetzlichen Vorschriften beruhten, die in einer Anlage zu dem Gesetz zusammengefasst worden sind. Ausdrücklich hat der Gesetzgeber aber immer die Auffassung vertreten, dass auch andere Verurteilungen Ge26364 genstand der Generalklausel des § 1 des NS-Aufhebungsgesetzes sein könnten. Das bedeutet: Auch Urteile, die nicht ausdrücklich in der Anlage erwähnt sind oder die Sachverhalte betroffen haben, die dort nicht aufgeführt sind, konnten sehr wohl als nichtig angesehen werden, weil sie gegen elementare Rechtsgrundsätze verstoßen haben. Dazu gehörten nach Auffassung der FDP unzweifelhaft auch Entscheidungen wegen Kriegsverrats. Der Gesetzgeber hat längere Zeit gemeint, dass mit der Gesetzgebung von 1998 das Thema angemessen behandelt worden sei. Dies ist auch die Auffassung der FDP-Fraktion gewesen. Gleichwohl ist es in der Folgezeit immer wieder zu Forderungen gekommen, ausdrücklich die heute in Rede stehenden Urteile per Gesetz aufzuheben. Grund dafür waren neuere wissenschaftliche Abhandlungen; Sie haben es bereits erwähnt, Herr Kollege Dressel. Insbesondere war für die FDP-Fraktion auch das Gutachten des ehemaligen Verfassungsrichters Professor Klein von Bedeutung. Darin wurde ausgeführt, dass die Vorschriften über den Kriegsverrat mit rechtsstaatlichen Grundsätzen schlechterdings unvereinbar gewesen seien. Der Sachverhalt, der zu einer Verurteilung habe führen können, sei dort nicht präzise beschrieben. Es mangelte also an dem Grundsatz der Bestimmtheit einer Strafnorm. Auch was die Rechtsfolgen betrifft - ausnahmslos musste die Todesstrafe verhängt werden, was völlig unverhältnismäßig war -, kann dieses damalige Gesetz nur als Unrecht bezeichnet werden. Aufgrund dieser neueren Erkenntnisse hat sich die Frage gestellt, ob es nachträglich doch noch geboten ist, die Vorschriften über den Kriegsverrat in die Anlage zum NS-Aufhebungsgesetz aufzunehmen. Diese Auffassung hat sich nunmehr durchgesetzt. Ich will gerne anerkennen, dass sich aus den Reihen der Parlamentarier der Kollege Jan Korte in dieser Angelegenheit besonders engagiert hat. ({0}) Dies gilt ebenso für den Kollegen Wolfgang Wieland im Innenausschuss und die Kollegin Christine Lambrecht im Rechtsausschuss. ({1}) Meine Damen und Herren, die FDP war immer der Auffassung, dass es sich bei diesen Urteilen um typisches NS-Unrecht gehandelt hat. Wir waren also nicht der Meinung, dass die Entscheidung des Gesetzgebers von 1998 solche Urteile nicht betroffen hätte. Aber wir schließen uns gerne der sich mittlerweile durchsetzenden Auffassung an, dass es ein richtiges Zeichen ist, wenn der Gesetzgeber diese Urteile heute noch einmal ausdrücklich aufhebt. Deswegen stimmen wir dem fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf zu. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Jürgen Gehb, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Stadler, ich will da anknüpfen, wo Sie aufgehört haben. Im Ergebnis ist dies eine Initiative von CDU/CSU, SPD und FDP. Man fragt sich, warum die Linken nicht dabei sind, die Sie gerade so gelobt haben. ({0}) Das kann ich erklären. Wir haben nicht nur gesagt, dass wir mit den Erben der Verantwortlichen für Stacheldraht und Mauerschüsse keine solche Initiative machen. Wir haben dafür auch sachliche Gründe. In der vorletzten Legislaturperiode unter Rot-Grün, als es um die Änderung des NS-Aufhebungsgesetzes ging, stand in der Begründung des Gesetzentwurfes in der Bundestagsdrucksache 14/8276 wörtlich - entgegen meiner sonstigen Gewohnheit muss ich nun doch einmal ablesen -: Es finden sich - im Militärstrafgesetzbuch eine ganze Reihe von Straftatbeständen, bei denen die Aufhebung des Urteils ohne Einzelfallprüfung nicht verantwortbar erscheint. Beispielhaft seien hier der Kriegsverrat, die Plünderung, die Fledderei sowie die Misshandlung von Untergebenen genannt. Bei diesen Delikten vermag auch der Umstand, dass sie während eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges begangen wurden, keinen Anlass zur Rehabilitierung zu begründen. Aus diesen Gründen war die Aufnahme von genau zu benennenden Einzelvorschriften des MStGB in die Anlage zu § 2 erforderlich. Wir haben schon gehört, dass es neuere wissenschaftliche Erkenntnisse gibt. Der Historiker sagt: Es gibt keinen einzigen Fall, in dem man das vielleicht nachweisen könnte. Dann haben Sie auf Hans Hugo Klein hingewiesen. Es hätte uns vielleicht schon in den letzten 15 Jahren einmal auffallen können, dass der Tatbestand nicht bestimmt genug ist. Aber jetzt komme ich zu dem wesentlichen Unterschied zu den Linken. Wir alle sind der Auffassung, dass die Arbeitsweise der Kriegsgerichte, die Weite des Straftatbestandes und die ausschließliche Strafandrohung der Todesstrafe mit rechtsstaatlichen Kautelen nicht übereinstimmen können. ({1}) Die Linken sehen es ganz anders. Sie sagen: Ungeachtet davon, ob jemand Kriegsverräter war oder nicht, ist er zu rehabilitieren. - Ich darf aus der Begründung des Gesetzentwurfes der Linken vorlesen. Dort steht unter anderem: Die Kriegsverräter haben aus zutiefst humanen Gründen gehandelt und sind selbst bei anderen Motiven zu rehabilitieren, weil sie sich gegen einen völkerrechtswidrigen Angriffs- und Vernichtungskrieg stellten. ({2}) Eines ist mit mir nicht zu machen: dass ich die tatsächlichen oder vermeintlichen Kriegsverräter glorifiziere oder am Ende auf einen Podest stelle und ihnen ein Ehrenzeichen umhänge. ({3}) Wir sagen ganz klar: Die entsprechende Vorschrift ist in die Anlage zu § 2 des NS-Aufhebungsgesetzes aufzunehmen, weil wir im Grunde genommen nicht mehr verifizieren können, ob es Fälle gibt, in denen es tatsächlich um Kriegsverräter geht, aber ungeachtet dessen, ob jemand Kriegsverräter war oder nicht, nicht sagen: Das ist ein prima Kerl, heben wir das Urteil auf. Diesen Unterschied möchte ich an dieser Stelle für meine Fraktion heute ganz besonders herausgearbeitet haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe dem Kollegen Jan Korte, Fraktion Die Linke, das Wort. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Frage, Herr Gehb, müssen Sie schon beantworten, nämlich wie Sie den Widerstand des 20. Juli 1944 einschätzen. Das müssen Sie uns einmal darlegen. ({0}) Heute treffen wir eine wichtige Entscheidung. Ich freue mich ganz besonders, dass Ludwig Baumann als Vorsitzender der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz heute bei uns im Plenum ist. Herzlich willkommen, Ludwig Baumann. ({1}) Auch wenn ich dazu ein wenig Lust verspüre, will ich nicht darüber sprechen, was hier in den letzten drei Jahren gesagt und wie diskutiert wurde. Ich will auch nicht darüber reden - man kann hier eine andere Position haben -, was aus parteitaktischen Erwägungen in den letzten drei Jahren abgelaufen ist. Ich will auch nicht näher darauf eingehen, dass es schon relativ absurd ist, dass ausgerechnet der Name derjenigen Fraktion, die dieses Thema seit dreieinhalb Jahren vorangebracht hat, nicht auf diesem Antrag steht. Aber geschenkt! Wir stimmen auf jeden Fall zu; das haben wir immer gesagt. Uns geht es um die Sache. Deswegen werden wir heute natürlich allen Anträgen zustimmen, in denen eine pauschale Rehabilitierung vorgesehen ist. ({2}) Es geht um zwei Dinge. Zum einen geht es darum, für die Angehörigen das Zeichen zu setzen, dass ihre Väter und Großväter keine Kriminellen gewesen sind, sondern dass sie Opfer einer durch und durch willkürlichen Nazimilitärjustiz geworden sind, die Teil des gesetzlichen Unrechts war. Die Militärjustiz ist von dem NS-Terrorregime nicht trennbar. Das ist der Kern der politischen Auseinandersetzung. ({3}) Zum anderen haben wir es hier mit Bestimmungen in der Fassung von 1934 zu tun. Spätestens da muss man hellhörig werden und sich diese Bestimmung, über die wir hier diskutieren, anschauen. Die Fassung von 1934 beinhaltet eben kein Recht, wie es das in anderen Ländern gegeben hat, sodass sie heute als gültiger Bezugspunkt gelten könnte. Genau damit haben wir es nicht zu tun, sondern der Kriegsverrat war zentrales Terrorinstrument zur Aufrechterhaltung der Disziplin in der Wehrmacht. Er war Teil des gesetzlichen Unrechts. Eine Abtrennung ist nicht möglich. Fritz Bauer, der hessische Generalstaatsanwalt, hat damals im Zusammenhang mit den Verunglimpfungen gegen die Widerständler des 20. Juni, die wir jedes Jahr ehren, Folgendes gesagt: Ein Unrechtsstaat wie das Dritte Reich ist überhaupt nicht hochverratsfähig. Das ist der Kern der Auseinandersetzung. Was, bitte, ist an einem Angriffs- und Vernichtungskrieg verratswürdig? Jeder, der diesen Krieg verraten hat, verdient unseren größten Respekt, um das ganz klar zu sagen. Darum geht es heute. ({4}) Ich möchte sagen, dass wir heute keine Regelung erreicht hätten, wenn es darüber keine gesellschaftliche Debatte gegeben hätte. Sie alle wissen, die Debatten der letzten 60 Jahre über die Rolle der Wehrmacht und über den NS-Justizapparat waren heftige Debatten. Deswegen freue ich mich, dass heute alle Fraktionen diesem Antrag zustimmen werden; denn er bedeutet - das finde ich in der Tat auch aufseiten der Union politisch bemerkenswert; das gebe ich gerne zu - das Ende eines Denkens: „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.“ Der heutige Antrag bedeutet das Ende dieses Denkens. Es freut mich, dass alle Fraktionen zustimmen werden. Wenn es andere Positionen gibt, die auch deutlich geäußert wurden, ist das in Ordnung. Was ich nicht verstehen konnte, ist, wie hier herumgeeiert und herumtaktiert wurde, anstatt sich mit der Sache auseinanderzusetzen. Das bedauere ich sehr. ({5}) Trotzdem glaube ich, dass wir heute eine wichtige Entscheidung treffen. Auch ich bedanke mich bei Christine Lambrecht und Wolfgang Wieland für den ge26366 meinsam eingebrachten Gruppenantrag. Der Antrag, den die Linke eingebracht hat, wurde zwar inhaltlich von allen geteilt, aber es bestand eben das Problem der Einbringer. Deswegen haben wir einen Gruppenantrag gemacht. Danach hat dann auch die CDU/CSU-Fraktion und die gesamte SPD-Fraktion diesem Anliegen stattgegeben. Das ist eine wichtige Entscheidung und würdigt ein Stück weit das Kämpfen und Streiten von Leuten wie Ludwig Baumann in den letzten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland, Bündnis 90/Die Grünen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Satz „Was lange währt, wird endlich gut.“ geht mir hier nicht so einfach über die Lippen. Zum einen hat es zu lange gedauert und zu lange gewährt. Das muss man in Richtung von Herrn Baumann zugestehen. Viele seiner Kameraden sind inzwischen tot und haben diese Rehabilitierung nicht mehr erlebt. Zum anderen muss man ganz deutlich sagen: Lieber Kollege Gehb, einige zentrale Fragen sind offenbar immer noch nicht geklärt. Wir haben letzte Woche eine Woche im Zeichen des Gedenkens an den Beginn des Zweiten Weltkrieges gehabt. Die Kanzlerin hat in Polen eine Rede gehalten. Bei dieser Gelegenheit wurde in den Medien noch einmal viel über den Krieg berichtet. Auch ich habe dabei noch Neues gelernt. Ich wusste beispielsweise nicht, dass dieser Krieg mit einem Angriff auf die polnische Zivilbevölkerung begann - als Erstes wurde eine polnische Stadt bombardiert -, dass man von Anfang an mit Massenexekutionen gearbeitet hat, weil es den Widerstand in polnischen Dörfern tatsächlich gab oder gegeben haben soll, dass der Mythos der sauberen Wehrmacht, den man gerne verbreitet, und der SS und der Sondereinsatzgruppen, die angeblich nur gewütet haben sollen, vom ersten Tag an falsch gewesen ist, dass der Plan nicht nur zur Vernichtung des europäischen Judentums, sondern auch der polnischen Intelligenz von Anfang an durchgesetzt wurde. In Krakau wurden Professoren ermordet, nur weil sie intelligent waren. Das alles war geplant. Das alles hat man gemacht. Jetzt stellt sich die Frage: War es nicht ehrenwert, einen solchen Krieg zu verraten, war das nicht eine bessere Haltung, als ihn zu führen, als den Mut nicht aufzubringen, zu desertieren, als die Befehle bis zum Ende zu befolgen? Das ist die entscheidende Frage. Hier haben Sie immer noch keine Klarheit geschaffen, Herr Kollege Gehb. Die Konservativen in diesem Land haben in 50 Jahren Aufarbeitung leider immer noch keine Klarheit gewonnen. ({0}) Zur Frage der toten Kameraden. Dieser Frage muss man sich stellen. Nur, wie hätten die Alliierten denn siegen sollen? Mit Wattebäuschchen oder mit Gut-Zureden? Es ging leider nur über Millionen toter deutscher Soldaten. Die Schuld dafür trugen andere. Wenn Sie behaupten, ein Kriegsverrat ist schändlich, wenn er tatsächlich dazu führt, dass die Wehrmacht militärisch geschwächt wurde, ({1}) dann müssen Sie auch fragen, was mit den amerikanischen Bauernsöhnen aus Kentucky ist, die in Hürtgenwald, die in der Eifel gefallen sind. War es in deren Interesse nicht richtig, so viele militärische Details wie möglich zu verraten? Diese Frage muss man stellen. Als Letztes: Die Untersuchungen haben ergeben, dass die Fälle, die abgeurteilt wurden, keine Fälle des Verrats von militärischen Geheimnissen waren. Das kommt ja noch dazu. ({2}) - Ja, aber Sie haben darauf abgestellt. ({3}) Sie haben gesagt: wenn es so gewesen wäre! Die Männer des 20. Juli haben Angriffspläne verraten, sogar schon sehr früh. Sie sind nach London geflogen und haben den Kriegsverrat begangen, weil sie den Krieg verhindern wollten. Sie haben genau das getan. Auch sie haben richtig gehandelt, und auch sie verdienen unseren Respekt. ({4}) Es war ein ganz langer Weg in der Geschichte der Bundesrepublik, bis zunächst einmal anerkannt wurde, dass die Männer des 20. Juli keine Verräter sind. Jetzt sind wir sozusagen bei den Gefreiten, bei den Schützen angekommen, die heute auch rehabilitiert werden. Von dem, was Ralph Giordano einmal die zweite Schuld der Deutschen genannt hat, nämlich die Unfähigkeit, nach dem Krieg aufzuarbeiten, auch zu bestrafen, beispielsweise auch die Richter des Volksgerichtshofs vor Gericht zu bringen, wird ein ganz kleines Stück abgetragen, aber wirklich nur ein ganz kleines Stück. Mein Dank gilt Jan Korte. Er hat dieses Thema aufgegriffen. Wir hätten jederzeit dem Gesetzentwurf der Linkspartei zugestimmt. Wir haben das auch immer gesagt. Wir wollten nicht, dass er beerdigt wird. Mein Dank gilt auch Christine Lambrecht, die in der SPDFraktion mit anderen zusammen das Ruder herumgerissen hat; sonst wäre eine weitere Legislaturperiode verplempert worden. Das muss man ganz deutlich sagen. Insofern freue ich mich dann doch noch an dem heutigen Tag. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist Christine Lambrecht, SPD-Fraktion.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Quasi in letzter Minute beschließen wir heute die Rehabilitierung der letzten Opfergruppe der NS-Zeit. Noch vor ein paar Wochen hätte es wahrscheinlich niemand für möglich gehalten, dass wir das doch noch hinbekommen. Ich muss sagen, es freut mich sehr und macht mich auch ein bisschen stolz, dass wir es als Parlament geschafft haben, uns zusammenzuraufen und diese wichtige Frage in der letzten Sitzung zur Abstimmung zu bringen. ({0}) Es ist zwar schon oft gesagt worden, aber ich möchte trotzdem die Gelegenheit ergreifen und den Kollegen Jan Korte und Wolfgang Wieland danken, die mich unterstützt haben, als wir einen Gruppenantrag auf den Weg gebracht haben, mit dem wir - so will ich es einmal sagen - noch einmal Bewegung in die Angelegenheit gebracht haben. Weil das Ganze dermaßen ins Stocken gekommen ist, haben wir befürchtet, dass darüber nicht mehr entschieden werden könnte. Deswegen haben wir die unübliche und nicht regelmäßig genutzte Möglichkeit des Gruppenantrags gewählt. Ich glaube, das war in dieser hochmoralischen und wichtigen Angelegenheit der richtige Weg. Ich bin ganz oft von Journalisten gefragt worden: Warum setzen Sie sich für diese Opfergruppe ein, die Menschen sind doch alle tot? Das hört sich auf den ersten Blick zynisch an. Ich glaube aber, man muss trotzdem eine Antwort darauf geben. Gewiss, nach unserem heutigen Kenntnisstand gibt es niemanden, der während der NS-Zeit wegen Kriegsverrats verurteilt worden ist und heute noch lebt. Aber ich glaube, wir müssen auch den Hinterbliebenen zu ihrem Recht verhelfen. ({1}) Beim Lesen der vielen Zuschriften, die ich bekommen habe, wurde mir erst bewusst, wie schwierig es gerade für die Hinterbliebenen war, mit dem Stigma, mein Vater, mein Sohn, mein Bruder waren Kriegsverräter, in der Nachkriegszeit zu leben. Es war ja keineswegs so, dass, als der Krieg vorbei war, das Naziunrecht nicht mehr vorhanden war und auf einmal alle Antifaschisten waren, sondern dort, wo dieses Urteil im Raum stand, hat der eine oder andere Nachbar selbstverständlich mit dem Finger auf die Frau gedeutet, deren Mann wegen Kriegsverrats verurteilt wurde. ({2}) Auch Kinder wurden in der Schule deswegen - heute würde wir sagen - gemobbt. Es gab unglaublich schwere Schicksale. Die Menschen haben das in sich hineingefressen, manche sind daran sogar zerbrochen. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir nicht nur den eigentlichen Kriegsverrätern, sondern auch ihren Angehörigen im Rahmen unserer Möglichkeiten als Parlament heute ihre Würde zurückgeben. ({3}) Die Menschen, die wegen Kriegsverrats verurteilt wurden, sind tot. Das ist richtig. Aber es gibt den Ausspruch von Bertolt Brecht, dass nur die wirklich tot sind, an die sich niemand mehr erinnert. Es ist vor allen Dingen Professor Wette zu verdanken, dass viele Fälle nicht der Vergessenheit anheimgegeben wurden, sondern wir ihnen heute mit Respekt noch einmal begegnen. Wir haben viele Diskussionen darüber geführt. Der Kollege Gehb hat in der ihm eigenen Art deutlich gemacht, was Kriegsverrat bedeutet hat. Nach gegenwärtigem Forschungsstand wissen wir, dass § 57 MStGB eine Allzweckwaffe gegen Soldaten war, insbesondere gegen Soldaten unterer Dienstränge; auch das muss man in diesem Zusammenhang sagen. Wer in irgendeiner Form gegen den Willen der Naziführung verstoßen hatte, wurde verurteilt. Es ist kein einziger Fall von Kameradenverrat belegt. Es ist oft eingewendet worden - auch Sie haben das heute wieder getan -, dass man die wegen Kriegsverrats Verurteilten nicht nachträglich zu Helden machen dürfe. ({4}) Es leuchtet mir bis heute nicht ein, warum ich Menschen, die zu Unrecht verurteilt wurden, dadurch zu Helden machen soll, dass ich deren Unrechtsurteile aufhebe. Nein, ich gebe ihnen lediglich ihr Recht zurück. Das hat mit Heldentum überhaupt nichts zu tun. ({5}) Persönlich will ich erklären, dass jede Tat, die dazu geführt hat, Widerstand gegen das NS-Regime deutlich zu machen oder den Krieg um nur einen Tag, um nur eine Stunde zu verkürzen, dass jede Tat, die das Schweigen der Waffen früher herbeigeführt hat und die Befreiung von Auschwitz und der anderen Konzentrationsund Vernichtungslager früher ermöglicht hat, für mich persönlich eine Heldentat war. So gab es viele Helden in dieser Zeit, viele unbesungene Helden. ({6}) Ich hoffe, dass das Ergebnis dieser langen, zähen Diskussion, dass die Aufhebung dieses NS-Unrechts darin besteht, dass sich auch heute und in der Zukunft Menschen finden werden, die gegen Unterdrückung, Unrecht, Ausbeutung und Krieg aufstehen; denn dann wären die Menschen, denen wir heute Gerechtigkeit widerfahren lassen, nicht umsonst gestorben. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 16/13979 zu dem von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/ Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf, dem von den Abgeordneten Jan Korte, Christine Lambrecht, Wolfgang Wieland und weiteren Abgeordneten eingebrachten Gesetzentwurf sowie dem von der Fraktion Die Linke eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege. Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/13654. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Gesetzentwurfs. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. ({0}) Mit der Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf entfällt die Abstimmung über die beiden weiteren Gesetzentwürfe auf Drucksachen 16/13405 und 16/3139. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen jetzt noch über ein paar Petitionen abstimmen; es tut mir leid. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass ein Änderungsantrag der Linken auf Drucksache 16/14016 vorgelegen hat und nicht darüber abgestimmt worden ist. Es ist ja über einen Gesetzentwurf abgestimmt worden. Ich bitte, dies zur Kenntnis zu nehmen. Wir können über ihn nicht mehr abstimmen, weil über den Gesetzentwurf bereits abgestimmt worden ist. Ich wollte der Form halber darauf hinweisen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 4 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1}) Sammelübersicht 617 zu Petitionen - Drucksache 16/13951 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 617 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 4 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2}) Sammelübersicht 618 zu Petitionen - Drucksache 16/13952 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 618 ist ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 4 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3}) Sammelübersicht 619 zu Petitionen - Drucksache 16/13953 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 619 ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, FDP bei Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 4 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4}) Sammelübersicht 620 zu Petitionen - Drucksache 16/13954 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 620 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 4 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5}) Sammelübersicht 621 zu Petitionen - Drucksache 16/13955 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 621 ist bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Rest der Stimmen des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 4 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6}) Sammelübersicht 622 zu Petitionen - Drucksache 16/13956 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 622 ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit dem Rest der Stimmen des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 4 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7}) Sammelübersicht 623 zu Petitionen - Drucksache 16/13957 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 623 ist bei Gegenstimmen der FDP mit dem Rest der Stimmen des Hauses angenommen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Tagesordnungspunkt 4 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8}) Sammelübersicht 624 zu Petitionen - Drucksache 16/13958 Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 624 ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU bei Enthaltung der FDP und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 4 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9}) Sammelübersicht 625 zu Petitionen - Drucksache 16/13959 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 625 ist bei Zustimmung von SPD, CDU/CSU, FDP und Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 4 o: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10}) Sammelübersicht 626 zu Petitionen - Drucksache 16/13960 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 626 ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD, CDU/CSU bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP angenommen. Tagesordnungspunkt 4 p: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11}) Sammelübersicht 627 zu Petitionen - Drucksache 16/13961 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 627 ist mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU bei Enthaltung der FDP und bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 4 q: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12}) Sammelübersicht 628 zu Petitionen - Drucksache 16/13962 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 628 ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung und somit am Ende der voraussichtlich letzten Sitzung in der 16. Wahlperiode des Deutschen Bundestages. Liebe Kolleginnen und Kollegen, hinter uns liegen vier arbeitsreiche Jahre, Jahre kontroverser Debatten, vielfach aber auch der Übereinstimmung über Fraktionsgrenzen hinweg. Wir führten in grundlegenden Fragen Diskussionen, die Höhepunkte unserer parlamentarischen Demokratie darstellten. Ich möchte Ihnen allen für Ihr Engagement und Ihren Einsatz ganz herzlich danken. Das gilt insbesondere für die Schriftführerinnen und Schriftführer, die das Präsidium tatkräftig unterstützt haben. ({13}) Mein besonderer Dank gilt den vielen Kolleginnen und Kollegen, die dem neuen, dem 17. Deutschen Bundestag nicht mehr angehören werden. Ich wünsche Ihnen im Namen aller alles erdenklich Gute für die Zukunft. Mein Dank gilt aber auch den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung, die vor oder hinter den Kulissen ihre Dienste geleistet haben und noch leisten. Ohne sie könnten wir unsere parlamentarische Arbeit überhaupt nicht machen. ({14}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche uns allen in den nächsten Wochen einen fairen Wahlkampf. Den Zuschauerinnen und Zuschauern auf der Tribüne und vor den Bildschirmen wünsche ich eine gute Woche. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Die Sitzung ist geschlossen. ({15})