Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
({0})
- Drucksache 16/813 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Föderalismusreform-Begleitgesetzes
- Drucksache 16/814 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache drei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Volker Kauder, CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute beginnen wir mit der parlamentarischen
Beratung des größten deutschen Reformvorhabens in
den letzten Jahren.
({0})
- Ich gehe davon aus, dass sich die Grünen noch daran
erinnern, dass sie an den Beratungen zu diesem Reformwerk mit beteiligt waren.
({1})
Wir beginnen mit den Beratungen dieses Reformwerks gleichzeitig in Bundestag und Bundesrat. Denn
Bund und Länder haben dieses Reformwerk gemeinsam
erarbeitet und auf den Weg gebracht. In der Vergangenheit gab es viele Anläufe zu dieser notwendigen Reform.
Sie sind bisher alle gescheitert.
Heute aber legen wir ein Ergebnis vor, ein Ergebnis,
das die föderale Ordnung unseres Landes zukunftsfähig
Redetext
macht. Unser Land braucht diese Reform. Wir werden
den globalen Wettbewerb nicht bestehen, wenn wir uns
weiterhin langwierige und komplizierte Gesetzgebungsverfahren leisten.
({2})
Das Hin und Her zwischen Bundestag und Bundesrat hat
uns in der Vergangenheit oft genug blockiert. Es hat uns
langsamer und schwerfälliger gemacht.
({3})
Mit der Föderalismusreform befreien wir uns von dieser Selbstblockade. Wir gewinnen an gesetzgeberischer
Handlungsfähigkeit; wir gewinnen an Gestaltungskraft.
Dies brauchen wir in dieser Zeit.
({4})
Nur mit dieser Reform können wir das Veränderungstempo der Globalisierung mitgehen. Nur mit dieser Reform werden wir von Getriebenen zu Antreibern.
({5})
Bei vielen Entscheidungen, die zwischen Bundestag
und Bundesrat mühsam ausgehandelt wurden - ich weiß,
wovon ich rede; denn ich war drei Jahre Mitglied des
Vermittlungsausschusses -, war nachher oft nicht mehr
klar, wer wofür die Verantwortung trägt.
({6})
Wir selbst im Deutschen Bundestag haben uns oft darüber gewundert, wie ein Gesetz ausgesehen hat, das wir
im Bundestag verabschiedet haben, nachdem es aus dem
Vermittlungsausschuss erneut in den Bundestag gekommen ist. Das wird so nicht mehr stattfinden.
({7})
Die Föderalismusreform schafft wieder mehr Klarheit. Sie weist Kompetenzen eindeutig zu und macht
deutlich, wo die Länder und wo der Bund Verantwortung
tragen. Deshalb stärkt eine Reform des föderalen Systems, wie sie heute vorgelegt wird, unsere Demokratie.
({8})
Natürlich nehmen damit die Gesetzgebungskompetenzen der Länder zu. Aber ganz entgegen manchen Befürchtungen, die geäußert werden, schwächen wir damit
nicht den Bund; wir stärken ihn vielmehr. Viele Entscheidungen können wir nun hier im Deutschen Bundestag endgültig ohne Zustimmung der Länder treffen. Das,
was in der Öffentlichkeit und in manchen Kommentaren
in den Medien immer wieder als Kuhhandel bezeichnet
wird, wird zukünftig nicht mehr stattfinden. Durch die
Föderalismusreform entflechten wir unser politisches
System und davon profitieren beide: Bund und Länder.
({9})
Wir als Union haben uns schon immer für das Prinzip
der Subsidiarität stark gemacht. Das ist keine abstrakte
Theorie, sondern ein Grundsatz, der besagt, dass Entscheidungen auf der Ebene gefällt werden sollen, auf der
die Sachverhalte am besten beurteilt werden können.
Das, was Länder oder Kommunen besser regeln können,
soll auch von den Ländern und Kommunen geregelt werden. In der Praxis sind wir diesem Grundsatz nicht mehr
ausreichend gerecht geworden. Mit der Föderalismusreform stärken wir den Gedanken der Subsidiarität.
Entscheidend ist, sich vom rein theoretischen Ansatz
zu verabschieden. Mit der Föderalismusreform und der
Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips bringen wir die
Politik wieder näher an die Menschen heran. Entscheidungen werden zukünftig dort gefällt, wo die Menschen
mitreden können.
({10})
Von der Föderalismusreform, die wir heute einleiten,
geht eine Botschaft an Europa, an Brüssel aus. Auch dort
muss das Prinzip der Subsidiarität wieder stärker beachtet werden. In Brüssel soll nur das geregelt werden, was
wir in den Nationalstaaten nicht selber regeln können.
({11})
Mit der Föderalismusreform fördern wir den Wettbewerb zwischen den Ländern und das ist gut so. Nur
für die Zaghaften und Mutlosen ist Wettbewerb etwas
Negatives. Nur diejenigen, die sich nichts zutrauen, versuchen, den Wettbewerb zu verhindern. Wir trauen uns
aber etwas zu, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({12})
Wettbewerb zwischen den Ländern heißt: Künftig
setzt der Beste den Maßstab. Nur so kommt unser Land
voran. Wir dürfen unser Heil nicht im Mittelmaß suchen.
Unser Land braucht Exzellenz. Wettbewerb ist ein Entdeckungsverfahren für Exzellenz. Eine Stärkung des
Wettbewerbs zwischen den Ländern wird mehr zum
Bürokratieabbau und zur Vereinfachung von Verwaltungsverfahren beitragen als jede theoretische Ankündigung zu diesem Thema.
({13})
PISA ist kein Schock, sondern ein Weckruf, es den erfolgreichen Ländern gleich zu tun, und zwar im Wettbewerb der Länder innerhalb Deutschlands, aber auch in
Europa. Im Korsett des einheitlichen Mittelmaßes hätte
sich kein Land erfolgreich profilieren können.
({14})
Für die Freiheit, in bestimmten Fragen eigene Wege
zu gehen und eigene Lösungen zu entwickeln, sind die
Länder bereit, auf Einfluss im Bund zu verzichten. Die
Reform macht daher etwas wahr, was viele nicht mehr
für möglich gehalten haben. „Deutschland lässt sich
doch reformieren“, titelte die „Neue Zürcher Zeitung“
vor einigen Tagen zur Föderalismusreform. Manchmal
müssen wir uns vom Ausland daran erinnern lassen, dass
wir nur mit Zuversicht, nicht aber mit Bedenken weiterkommen. Für uns sollte zu Beginn der Debatte im Deutschen Bundestag und in seinen Ausschüssen das Wort
von Tucholsky nicht gelten, der einmal gesagt hat: Wenn
der Deutsche nichts mehr hat, Bedenken hat er immer
noch.
({15})
- Ich glaube, Herr Kollege Westerwelle, dass diesen
Hinweis jeder verstanden hat, der ihn verstehen soll.
({16})
Tatsächlich sind wir mit der Reformgesetzgebung einer großen Herausforderung gerecht geworden. Denn es
ging nicht darum, eine Position des Bundes zu formulieren; es ging vielmehr darum, gemeinsam mit den Ländern eine von beiden Seiten getragene Lösung zu finden.
Auch die Länder waren sich nicht von vornherein in jeder Frage einig.
Natürlich handelt es sich bei dem, was wir heute vorlegen, um einen Kompromiss. Was ich immer wieder
höre und lese, nämlich dass der Bund einseitig seine
Vorstellungen hätte durchsetzen können, zeugt nicht von
Realismus. Wenn wir zwischen Bundestag und Bundesrat eine gemeinsame Lösung erarbeiten wollen, sollen
und in diesem Fall auch müssen, dann wird sich nicht einer auf Kosten des anderen zu 100 Prozent durchsetzen
können. Das hat mit Realität nichts zu tun.
({17})
Bei jeder einzelnen Frage haben wir deshalb das Für
und Wider abgewogen. Wir sind zu Ergebnissen gekommen, die sich sehen lassen können und von Bund und
Ländern gemeinsam getragen werden.
Lassen Sie mich ein paar Hinweise zu dem geben,
was die Föderalismusreform ausmacht. Wir reduzieren
die Vetorechte der Länder. Gleichzeitig stärken wir
ihre Gesetzgebungskompetenz. Den Kommunen dürfen
in Bundesgesetzen künftig keine Aufgaben mehr übertragen werden. Damit stärken wir das Prinzip der Konnexität; ganz einfach gesagt: Wer bestellt, bezahlt in Zukunft auch.
({18})
Die Organisations- und die Personalhoheit der Länder
werden gestärkt. Ich halte es für einen ganz zentralen
Punkt, dass der Bund eine neue Gesetzgebungskompetenz zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus erhält.
({19})
Ein Blick in das Gesetz erleichtert die Rechtsfindung
und auch die Tatsachenerkenntnis. Deswegen möchte
ich hier sagen: Wer in die Gesetze hineinschaut, wird erkennen, dass das, was wir uns vorgenommen haben,
möglich wird. Durch die Föderalismusreform wird nämlich ein Umweltgesetzbuch des Bundes möglich. Das
werden wir schaffen.
({20})
- Frau Künast,
({21})
die Wortkaskade „Ha, ha!“ habe ich wohl vernommen.
Aber soweit ich mich erinnern kann, ist dieses Umweltgesetzbuch in Ihrer Regierungszeit nicht in Kraft getreten.
({22})
- Frau Künast, Sie sollten einmal zuhören, manchmal
kann man etwas lernen.
Ein besonderer Stellenwert kommt dem Bereich der
Bildung zu.
({23})
Im Bereich Bildung und Hochschulen können die Länder ihre schon bestehenden Kompetenzen - manchmal
bekommt man den Eindruck, als ob die Verantwortung
für die Bildungspolitik bisher ausschließlich beim Bund
gelegen hätte und jetzt auf einmal auf die Länder übertragen werden soll; wir waren noch nie für die Grundschulen in Deutschland zuständig - abrunden.
Dass wir hier zu klaren Entscheidungen kommen, ist
zwingend notwendig. In keinem Land in Europa gibt es
so viel staatliche Einflussnahme auf das Bildungssystem
wie in Deutschland. Daran krankt unser System.
({24})
Wir können uns einen lähmenden Streit zwischen Bund
und Ländern in diesen Fragen nicht länger leisten. Sie
wissen aus Ihrer Regierungszeit: Immer wieder mussten
wir Streit vor dem Bundesverfassungsgericht klären. Das
wollen wir in Zukunft nicht mehr.
({25})
Jetzt geht es um mehr Wettbewerb und weniger Zentralismus. Die Föderalismusreform muss Wettbewerb
möglich machen und dazu führen, dass unsere Universitäten mehr Freiheit erhalten. Bei diesem Wettbewerb
geht es nicht nur um einen Vergleich der Länder untereinander; es geht um den Wettbewerb zwischen den einzelnen Universitäten. Bildung und Wissenschaft - das
wissen wir - kennen keine Grenzen. Der Wettbewerb,
den ich mir vorstelle, besteht zwischen München und
Harvard, zwischen Heidelberg und Cambridge, zwischen Aachen und der ETH in Zürich. In diesem Wettbe1752
werb werden unsere Universitäten aber nur bestehen
können, wenn wir ihnen die Freiheit dazu geben.
({26})
Der Kompetenzstreit zwischen Bund und Ländern in
den vergangenen Jahren hat uns nicht weitergeholfen.
Deshalb führt die Föderalismusreform zu einer notwendigen Entflechtung. Die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau wird beendet. Der Bund lässt die Länder aber
nicht allein. Das hat die Bundesbildungsministerin Frau
Schavan klar und deutlich gesagt. Die gemeinsame Förderung von Forschungsbauten an Hochschulen einschließlich Großgeräten wird in der Gemeinschaftsaufgabe Forschungsförderung fortgeführt.
Wenn wir etwas dringend brauchen, um Arbeitsplätze
schaffen und die Zukunft unseres Landes sichern zu können, dann ist es Forschungsförderung in großem Umfang. Daran wird der Bund beteiligt werden.
({27})
Deswegen ist diese Föderalismusreform auch eine Konzentration auf Aufgaben. Eine solche Konzentration auf
Aufgaben tut in dieser Zeit mehr Not, als mancher
glaubt. Das wurde in den Diskussionen über die Frage,
ob wir die Gemeinschaftsaufgabe Forschungsförderung
von Bund und Ländern weiterhin betreiben, auch nie bestritten.
In den vergangenen Tagen ist hier, unter den Kolleginnen und Kollegen, in den Fraktionen, in der Öffentlichkeit und in den Medien viel darüber gesprochen
worden, ob das Paket Föderalismusreform noch aufgeschnürt und verändert werden kann. Das Verfahren, in
das wir heute mit der ersten Lesung eintreten, ist ein Gesetzgebungsverfahren wie jedes andere auch.
({28})
- Ich bin einigermaßen überrascht, dass das solche Begeisterung auslöst.
({29})
Natürlich sind Änderungen an dem vorliegenden Entwurf denkbar.
({30})
Selbstverständlich werden wir eine ordentliche Expertenanhörung zu diesem großen Reformwerk durchführen.
({31})
- Augenblick, Sie sollten immer erst zuhören. - Das
wird keine Schaufensterveranstaltung sein.
({32})
- Herr Gerhardt, davon können Sie von der FDP wahrhaftig ein Lied singen.
({33})
Ihre Fraktion hat vor lauter Experten manchmal Probleme zusammenzufinden. Das wollen wir aber jetzt
nicht weiter diskutieren.
Klar muss sein: Entscheidungen des Bundestages allein reichen nicht aus. Jede Regelung muss von Bundestag und Bundesrat gemeinsam getragen werden, und
zwar mit verfassungsändernder Zweidrittelmehrheit.
({34})
Wer das vergisst, der hat übersehen, dass wir es hierbei
mit einem besonderen Verfahren zu tun haben. Zu glauben, es reiche aus, zu sagen, man habe einen Wunsch
und dieser könne umgesetzt werden, das hat mit der Realität dieses Verfahrens zwischen Bundestag und Bundesrat überhaupt nichts zu tun. Darin liegt unsere besondere
Verantwortung.
({35})
Herr Kollege Westerwelle, ich stelle das, was ich vorhin gesagt habe, ganz bewusst noch in einen anderen Zusammenhang. Wer um die vielen gescheiterten Anläufe
zu einer Föderalismusreform weiß - das sage ich auch
dem einen oder anderen Kollegen in den Koalitionsfraktionen -, wird das vorliegende Ergebnis umso höher einschätzen und sich darüber bewusst sein, welche Verantwortung in dieser Frage im Gesetzgebungsverfahren auf
uns zukommt.
({36})
Die Föderalismusreform ist kein Stückwerk. Sie ist
ein Meilenstein in der Gesetzgebung. Sie stärkt unsere
bundesstaatliche Ordnung und macht sie zukunftsfähig.
Sie ist die richtige Antwort auf die Herausforderungen
unserer Zeit.
Unser Land braucht die Föderalismusreform. Deshalb
bitte ich Sie: Helfen Sie alle mit, dass es diesmal gelingt!
({37})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Kauder, Sie haben gerade gesagt: Wir
müssen das Veränderungstempo der Globalisierung mitgehen. Das ist richtig. Dann haben Sie vom größten
deutschen Reformvorhaben geredet. Auch das ist richtig.
Ein Vorhaben war das. Was aber jetzt auf dem Tisch liegt
und was dabei herausgekommen ist, ist eigentlich eine
mutlose Reform, die weit hinter den Erwartungen der
Fachleute und der staunenden Öffentlichkeit zurückbleibt.
({0})
Wir als FDP haben schon zu Beginn des Verfahrens
immer kritisiert, dass bei der Konstruktion der Föderalismuskommission Fehler gemacht wurden. Damals haben wir gesagt: Eine solche Reform aus den eigenen Reihen schultern zu wollen, wird schwierig. Das hat sich
bestätigt. Wir haben uns damals für den Konvent ausgesprochen. Denn es ist nun einmal schwierig, die Frösche
damit zu beauftragen, den Sumpf trocken zu legen. Ich
glaube, das Ergebnis, das jetzt auf dem Tisch liegt, bestätigt diese Einschätzung.
({1})
Auch wir haben über ein Jahr lang konstruktiv an den
Beratungen der Föderalismuskommission teilgenommen
und versucht, etwas zu bewegen.
({2})
Dort, verehrter Herr Kollege Röttgen, haben wir allerdings auch miterlebt, zu welcher Erbsenzählerei es in
den Projektgruppen manchmal kam: Die Beteiligten saßen teilweise mit einem Taschenrechner da und haben
gerechnet: „Was kostet es mich und was bringt es mir?“,
ohne dabei auch zu fragen: „Was müssen wir eigentlich
tun, um den großen Wurf zu erreichen?“ Diesen großen
Wurf vermissen wir auch in den Gesetzentwürfen, die
heute auf dem Tisch liegen.
({3})
Ich denke, heute kann und muss man feststellen: Es
war ein Fehler, wichtige Bereiche auszugrenzen und zu
tabuisieren. Hier denke ich zum Beispiel an die Reform
der Finanzbeziehungen und an das Thema Länderneugliederung. Es war falsch, diese Bereiche völlig außen
vor zu lassen. Wie Sie sich sicherlich erinnern, haben
wir in den Beratungen der Kommission den Vorschlag
eingebracht, wenigstens den Art. 29 des Grundgesetzes
so zu ändern, dass eine Länderneugliederung, wenn sie
denn von unten gewollt ist, erleichtert wird. Aber selbst
das haben Sie unter Berufung darauf, das gehöre nicht
zum Arbeitsauftrag der Kommission, abgelehnt. Das war
ein Fehler. Wir hätten diese Themen offensiver angehen
müssen. Dann würde heute auch ein anderes Ergebnis
vorliegen.
({4})
- Verehrte Frau Künast, das haben wir in der Kommission zweimal beantragt; aber es wurde von ihrer Mehrheit unter Berufung auf ihren Einsetzungsauftrag abgelehnt.
({5})
So sind nun einmal die Tatsachen.
Da ich gerade von der Kommission spreche, gestatten
Sie mir bitte, mich bei denjenigen zu bedanken, die uns
wesentlich unterstützt haben: bei den hervorragenden
Experten, die die Arbeit der Kommission mit viel Einsatz begleitet und auch gehofft haben, dass als Ergebnis
der Beratungen etwas mehr herauskommt. Diesen Experten möchte ich von dieser Stelle aus für ihre Arbeit
ganz herzlich danken.
({6})
Die FDP hat sich von dieser „Mutter aller Reformen“,
wie sie der bayerische Ministerpräsident Stoiber genannt
hat, wesentlich mehr erwartet - mich wundert übrigens,
dass er heute nicht hier ist ({7})
- Entschuldigung, Herr Ramsauer; das war kein
Angriff -, nämlich eine deutliche Stärkung der Parlamente sowie eine deutlichere Entflechtung der Zuständigkeiten mit einer sinnvollen Neuordnung der Kompetenzen und vor allem einer stärkeren Einbeziehung des
Subsidiaritätsprinzips. Das ist nur ansatzweise, aber viel
zu wenig gelungen. Das Grundproblem besteht unserer
Meinung nach darin, dass das Ziel, in Deutschland wieder mehr Wettbewerbsföderalismus zu schaffen, wirklich nur ansatzweise erreicht wurde.
Dieser Wettbewerb wurde von manchen in einer
Weise dargestellt, die mich nur wundern kann. Ich erinnere mich, dass Frau Kollegin Sager immer vom „entfesselten Wettbewerb“ geredet und ihn sehr negativ dargestellt hat. Welche Auffassung von Wettbewerb wurde bei
Ihnen eigentlich da deutlich? Gerade durch Wettbewerb
ist die Bundesrepublik Deutschland wieder hochgekommen. Durch Wettbewerb sind wir wieder zu Wohlstand
gekommen. Unser heutiges Problem ist nicht, dass wir
zu viel Wettbewerb hätten, unser Problem ist: Wir haben
zu wenig Wettbewerb. Das müssen wir korrigieren.
({8})
Viele haben ein völlig falsches Verständnis von
Wettbewerb. Die heute ärmeren Länder zum Beispiel
meinen, sie würden unter Wettbewerb prinzipiell leiden.
Das ist doch nicht der Fall. Wir wollen einen Wettbewerb, um die besten Möglichkeiten zu finden. Wir wollen Wettbewerb, weil Föderalismus für uns nicht Gleichmacherei, sondern Vielfalt bedeutet, und aus dieser
Vielfalt heraus können wir die besten Ergebnisse für unser Land erzielen. Das muss die Richtung sein.
({9})
Kollege Burgbacher, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sager?
Sehr gerne.
Herr Kollege Burgbacher, Sie hatten mich nach meinem Verständnis von Wettbewerb gefragt. Ich frage Sie:
Stimmen Sie mit mir darin überein, dass Wettbewerb in
Deutschland in erster Linie zwischen Unternehmen stattfinden sollte und nicht darin bestehen sollte, für diese
Unternehmen möglichst viele unterschiedliche Gesetze
zu machen? Stimmen Sie mit mir darin überein, dass in
Deutschland ein Wettbewerb zwischen den Bildungseinrichtungen stattfinden muss und nicht darin bestehen
sollte, dass die Länder für die Bildungseinrichtungen
möglichst viele unterschiedliche Gesetze machen?
({0})
Verehrte Kollegin Sager, schon Ihre Fragestellung
zeigt den Denkfehler, den Sie machen. Ich will Ihnen an
nur einem einzigen Beispiel zeigen, wozu Wettbewerb in
der Bildung führen kann: Das Land Baden-Württemberg
hat vor vielen Jahren die Berufsakademien eingeführt,
das Erfolgsmodell schlechthin bei uns im Land. Das
konnte Baden-Württemberg, weil hier Wettbewerb besteht. Wäre der Bund zuständig gewesen, hätten wir
noch heute keine Berufsakademien und wären für viele
Leute um einiges ärmer. Das ist eine Tatsache. Deshalb
will ich Wettbewerb.
({0})
Meine Damen und Herren, wir haben bei dieser Reform zu viele kleine Schritte gemacht. Die Frau Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung gesagt - ich
zitiere -:
Überraschen wir uns deshalb damit, dass wir die
großen Fragen nicht immer aufgegliedert nach Einzelfragen und -interessen angehen, sondern einmal
im Zusammenhang.
Die Erfüllung dieser Überraschung ist wünschenswert
und ich kann nur hoffen, dass dieses Hohe Haus die
Kraft findet, aus den vorliegenden Gesetzentwürfen jetzt
auch dieses große Ganze zu machen und sich nicht in
Einzelfragen zu verheddern. Wir als FDP werden daran
sehr konstruktiv mitwirken; da können Sie sicher sein.
({1})
Es gibt aber Punkte, die man wirklich anders hätte angehen und lösen können. Herr Kollege Kauder, Sie haben über Bildung und über Kompetenzverteilung geredet. Warum haben wir immer nur gefragt, wie wir
Kompetenzen zwischen Bund und Ländern verteilen?
Warum haben wir die Fragestellung nicht erweitert? Wir
haben als FDP den Antrag eingebracht, in der Föderalismuskommission zu beschließen, die Autonomie der
Hochschulen ins Grundgesetz zu schreiben.
({2})
Damit hätten wir einen deutlichen Schritt nach vorn getan. Denn wenn wir die Hochschulautonomie ins Grundgesetz geschrieben hätten, hätten wir uns einen Teil der
Diskussion über die Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern sparen können. Ich habe nicht
verstanden, warum die großen Fraktionen nicht den Mut
hatten, dem zuzustimmen; wir hätten es uns damit in einigen Punkten wesentlich erleichtert.
({3})
Wir als FDP-Fraktion haben nach wie vor Bedenken,
was die Beziehungen zwischen Bund und Kommunen
anbetrifft. Nach der aktuellen Formulierung darf der
Bund keine Aufgaben an die Kommunen übertragen. Die
große Mehrheit hat sich aber geweigert, das Konnexitätsprinzip - wer die Musik bestellt, bezahlt sie auch aufzunehmen. Ich sage wie der Deutsche Städtetag und
die kommunalen Spitzenorganisationen: Es gibt große
Zweifel an der Praktikabilität der vorgesehenen Regelung. Es kann durchaus Fälle geben, in denen es vernünftig ist, dass der Bund Aufgaben an die Kommunen
überträgt. Dann muss er aber auch das Geld dafür bereitstellen. Deswegen werden wir noch einmal beantragen,
das Konnexitätsprinzip im Grundgesetz festzuschreiben.
Das wäre der sauberste Weg und würde den Kommunen
Verlässlichkeit bringen.
({4})
Ich will auch nicht verschweigen, dass es in unserer
Fraktion Bedenken bezüglich der Themen Umwelt, öffentliches Dienstrecht und Strafvollzug gibt. Wir hatten
das in der Kommission teilweise ja auch ausführlicher
diskutiert.
Meine Damen und Herren, die Akzeptanz der Föderalismusreform wird sehr stark davon abhängen, ob wir
diese Bedenken ausräumen können. Wir können sie nur
ausräumen, wenn es ein wirklich sauberes Gesetzgebungsverfahren gibt. Deshalb verstehe ich nicht, dass in
dieser Woche zum Beispiel Anhörungen im Umweltausschuss abgelehnt wurden, die bereits beschlossen waren.
Das ist kein richtiges Vorgehen, dadurch werden Minderheitenrechte ausgehebelt. Ich kann Sie nur dringend
auffordern, jetzt nicht mit der Arroganz der Mehrheit der
großen Koalition vorzugehen, sondern die Rechte der
Minderheit in diesem Haus sehr sorgsam zu achten. Die
Opposition beteiligt sich an dem Verfahren, aber Sie
müssen der Opposition auch die Rechte dazu lassen.
({5})
Es ist eine kleine Reform, aber wir haben immer sehr
deutlich gemacht, dass wir das konstruktiv angehen. Wir
begreifen unsere Oppositionsrolle nicht so, dass wir jetzt
plötzlich alles ablehnen, weil wir in der Opposition sind,
sondern wir begreifen unsere Rolle so, dass wir konstruktiv handeln.
({6})
- Genau darauf habe ich gewartet.
({7})
Es ist schon faszinierend - wir saßen mit den Grünen ja
immer am Tisch -, wie Sie das Ganze begleitet und jetzt
vergessen haben, dass Sie einmal in der Regierung waren.
({8})
Jetzt höre ich nur noch Stimmen, die besagen, dass Sie
alles ablehnen. Sie haben es doch mitgetragen. Stehen
Sie doch endlich auch einmal dazu.
({9})
Meine Damen und Herren, uns liegt jetzt ein Gesetzentwurf vor. Wenn dieser Gesetzentwurf Realität wird,
wird er im Lande einiges Positive bewirken. Wir werden
den Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze reduzieren. Über die Zahlen kann man streiten, aber die Reduktion wird erfolgen. Das bedeutet eine Stärkung der Parlamente - sowohl eine Stärkung des Deutschen
Bundestages als auch eine Stärkung der Landtage - auf
Kosten der Ministerpräsidenten. Das begrüßen wir ausdrücklich.
({10})
Kollege Burgbacher, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Sager?
Aber selbstverständlich.
({0})
Herr Burgbacher kann es ja nicht lassen, uns immer
persönlich anzusprechen.
Herr Burgbacher, können Sie sich wenigstens noch
daran erinnern,
({0})
dass wir, als wir in der Regierung waren, keinesfalls zu
allem Ja gesagt haben, dass wir nämlich gesagt haben:
Die Regelungen im Bildungs- und Umweltbereich gehen
so nicht. - Wir stehen immer noch dazu. Daran hat sich
nichts geändert.
({1})
Frau Kollegin Sager, ich weiß sehr wohl, wo Sie Bedenken angemeldet hatten und wo auch wir das getan
hatten.
({0})
Dass ich jetzt von den Grünen aber nur noch ein Nein
höre - andere Kommentare sind nicht mehr vernehmbar -, zeigt, dass Sie sich nicht mehr zu Ihrer Verantwortung bekennen. Sie haben regiert und daran sollten Sie
sich noch ein kleines Stück erinnern. Das wäre hilfreich
für alle.
({1})
Herr Kollege Kauder, meine Damen und Herren von
der großen Koalition, lassen Sie mich noch einmal klarstellen: Wir werden das Verfahren konstruktiv begleiten.
Wir haben immer gesagt, wir würden Dinge mitmachen,
aber unter zwei Bedingungen:
Erstens. Es muss klar sein, dass es vor Abschluss des
Gesetzgebungsprozesses eine feste Vereinbarung darüber geben muss, dass die Reform der Finanzverfassung noch in diesem Jahr angegangen wird. Darin muss
stehen, in welcher Form, mit welchem Zeitplan und mit
welchen Eckpunkten dies geschieht. Dabei darf es keine
Tabus geben. - Das ist die eine Bedingung der FDP. Das
wissen Sie auch und das müssen wir zu Papier bringen.
({2})
Zweitens. Die Länder erhalten tatsächlich erheblich
größere Kompetenzen. Deshalb wollen wir von den Ländern auch wissen, wie sie es bewerkstelligen wollen,
dass die Qualität der Bildung erhöht wird. Wir wollen
daneben auch wissen, wie sie es bewerkstelligen wollen,
dass Bildungsabschlüsse vergleichbar sind und überall
anerkannt werden. Die Kultusministerkonferenz hat das
nicht geleistet. Sie müssen uns vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens sagen, wie das geschehen soll;
denn Mobilität ist in dieser Republik notwendig. Mobilität darf dadurch nicht eingeschränkt, sondern muss befördert werden.
({3})
Ich höre viel Erstaunliches aus dem Lager der großen
Koalition. Der Kollege Tauss
({4})
zieht durchs Land und erklärt, das Ganze könne man so
nicht machen. Er ist Generalsekretär der baden-württembergischen SPD. Sein Kollege Drexler hingegen, der
Fraktionschef der baden-württembergischen SPD, verkündet überall im Land, dass diese Regelungen ganz toll
seien und die SPD mitmachen werde. Herr Tauss, Sie
müssen den Leuten schon erklären, was jetzt stimmt.
({5})
Wir machen das nicht mit. Wir haben eine klare Linie.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen Koalition, jetzt ist der Ball in Ihrem Feld. Sie müssen uns
schon sagen: Wollen Sie auf diesem Weg weitergehen
oder stimmen die Meldungen, dass dieser Beschluss in
der SPD-Fraktion überhaupt nicht mehrheitsfähig ist?
Wir sagen noch einmal ganz klar: Unter den genannten
Bedingungen haben Sie unsere konstruktive Unterstützung. Wir haben unsere Bedingungen klar gemacht. Wir
wollen die Reform. Wir wären gerne einen größeren
Schritt gegangen. Aber wenn der kleinere Schritt der
Einstieg in eine gute Reform ist, dann soll er an der FDP
nicht scheitern.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Peter Struck, SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das parlamentarische Verfahren zur Föderalismusreform beginnt heute. Es ist nicht am Ende; das will
ich deutlich sagen. Das heißt auch, das Ergebnis ist offen.
({0})
Zu dem Verfahren gehören - Kollege Kauder hat das
ausgeführt - ausführliche Anhörungen, Diskussionen
und, wenn es sich als notwendig erweist, Änderungen
am Gesetzestext.
({1})
Erst wenn der Bundestag und der Bundesrat diese Reform jeweils mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen
haben, ist sie in Kraft getreten, aber erst dann.
({2})
Ich halte auch nichts von Äußerungen, dass die Reform
dann, wenn man dieses oder jenes ändern würde, nicht
mehr in Kraft treten könne. Auch halte ich nichts von
Äußerungen aus meiner Fraktion, die ihre Zustimmung
von Bedingungen abhängig machen. Das betrifft auch
hier im Saal Anwesende.
({3})
Vielmehr müssen wir ausführlich beraten. Wofür ist
denn sonst das parlamentarische Verfahren da?
({4})
Ich will vorweg nicht nur einer Pflicht, sondern auch
einem Wunsch nachkommen. Wir müssen uns bei denjenigen bedanken, die die Föderalismusreformkommission
über eine lange Zeit wirklich erfolgreich geführt haben.
Das sind Franz Müntefering und Edmund Stoiber. Beiden gebührt unser Dank für die Vorarbeit für das, was
wir heute beraten.
({5})
Dass wir unser Grundgesetz ändern müssen, steht außer Frage; Volker Kauder hat das überzeugend dargelegt.
Auch zu Herrn Kollegen Burgbacher von der FDP-Fraktion muss ich sagen: Sie haben überhaupt keine Zweifel
daran geäußert, dass Änderungsbedarf besteht.
Jetzt reden wir über die Frage, wie das gehen soll. Wir
reden auch über die Frage, inwieweit wir das zusammen
mit den Ländern machen können. Ich will zunächst einmal darauf hinweisen, dass es ein Fehler wäre, zu glauben, dass der Bund im Gegensatz zu den Ländern eine
einheitliche Position vertritt. Natürlich gibt es innerhalb
unserer Fraktion und zwischen den Fraktionen im Parlament unterschiedliche Auffassungen. Das haben wir im
Vermittlungsausschuss oft genug erlebt. Dass wir Regelungen finden müssen, um die Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze zu reduzieren, steht außer Frage.
({6})
Die Frage ist natürlich: Wie groß ist tatsächlich der
Umfang der Gesetze, die dann nicht mehr zustimmungspflichtig wären? Wir haben die Bundestagsverwaltung
darum gebeten, uns anhand der letzten Gesetzgebungsvorhaben darzulegen, wie das Verhältnis aussehen
würde, wenn die Föderalismusreform schon in Kraft gewesen wäre. Wir werden sehen, dass diese Reform schon
etwas bringen wird; daran habe ich gar keinen Zweifel.
Wenn man hier im Bundestag über die Länder redet,
hat man bei den Debatten den Eindruck, als gehe es nur
um die „bösen“ Ministerpräsidenten, betrachtet von der
jeweils anderen politischen Seite. Aber wenn wir über
die Länder reden, Herr Burgbacher, dann reden wir auch
über Landtage. Wir reden dann auch über neue Zuständigkeiten für die Landtage, nicht nur für die Ministerpräsidenten.
({7})
Ich traue den Landtagen einiges zu. Wenn man ihnen
eine Zuständigkeit gibt, heißt das für mich nicht automatisch, dass sie dann etwas Verrücktes beschließen. Das
ist ganz sicher nicht der Fall. Sie werden vielmehr genauso sorgfältig abwägen, um zum Wohle des Landes zu
entscheiden, wie wir das im Bundestag tun.
Trotzdem müssen wir über einige Punkte ausführlich
sprechen. Ich beginne mit der Bildungspolitik. In dem
neuen Art. 104 b Grundgesetz wird vorgeschlagen, dass
der Bund in den Bereichen keine Finanzhilfe mehr leisten darf, in denen die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz bei den Ländern liegt. Nicht nur in meiner
Fraktion gibt es dagegen ernst zu nehmende Bedenken.
({8})
Diese Regelung würde nämlich konkret bedeuten,
dass der Bund generell in der Bildungspolitik keine Akzente mehr setzen darf. Ist das wirklich gewollt? Wird
das von allen Ländern gleichermaßen beurteilt? Oder hat
man sich in dieser Frage von den Bedenken lediglich eines Landes leiten lassen? Ich kann mir schwer vorstellen, dass Länder erklären, sie wollten kein Geld vom
Bund haben. Das war in den vergangenen 15 Jahren immer anders.
({9})
Gerade in diesem Bereich hat das Ganztagsschulprogramm gezeigt, dass der Bund mit seinen Finanzzuweisungen richtige und zukunftsweisende Weichen stellen
und vor allem auch Diskussionen auslösen kann.
({10})
Deshalb bin ich sehr dafür, dass im Laufe der Beratungen im Bundestag und Bundesrat die Frage ernsthaft geprüft wird, ob das Kooperationsverbot in der vorgesehenen Fassung sinnvoll ist oder nicht. Ich neige eher zu
Letzterem, um das deutlich zu sagen.
({11})
Ich bin den Ländern auch dankbar, dass Bundestag
und Bundesrat, wie heute Morgen mitgeteilt wurde, ein
gemeinsames Anhörungsverfahren durchführen werden.
Ich glaube, damit wird den Bedenken der Opposition einigermaßen Rechnung getragen.
Wir müssen auch über das Umweltrecht reden.
({12})
Das ist ein weiterer Punkt, der ausführlich diskutiert
werden muss. Wird mit der beabsichtigten Regelung tatsächlich eine klare Rechtssicherheit gewährleistet oder
trägt die vorgesehene Lösung nicht vielmehr zur Zersplitterung des Umweltrechts, zur möglichen Absenkung
der Umweltstandards und zu einem für die Unternehmen
nicht mehr tragbaren bürokratischen Aufwand bei? Auch
diese Fragen müssen geprüft werden.
({13})
Auch das Heimrecht ist ein sehr diskussionswürdiger
Punkt. Wir haben das Heimrecht erst vor wenigen Jahren
novelliert. Die Kompetenz dafür soll auf die Länder
übergehen. Das kann - es muss aber nicht - in den Bundesländern zu unterschiedlichen Qualitätsstandards bei
der Pflege führen. Es gab bereits eine Bundesratsinitiative, in den Ländern unterschiedliche Regelungen für die
Personalausstattung festzulegen, um künftig Personal
einzusparen. Die Pflege von Menschen ist aber ein
höchst sensibler Punkt, der nicht nur unter finanziellen
Aspekten betrachtet werden darf,
({14})
nach dem Motto „In reichen Ländern steht mehr Geld für
pflegebedürftige Menschen zur Verfügung, in armen
Ländern weniger“.
({15})
Diskussionswürdig ist des Weiteren - das hat der Kollege van Essen bereits gestern in der Geschäftsordnungsdebatte nicht ganz zu Unrecht angesprochen - das
Thema Strafvollzug. Nach meiner Kenntnis war nie beabsichtigt, den Strafvollzug in die alleinige Kompetenz
der Länder zu übertragen.
({16})
Wenn Sie heute jemanden fragen, wem das eingefallen
ist, dann will es keiner gewesen sein.
({17})
- Nein, es ging um die Frage, wie es dazu gekommen ist,
die Zuständigkeit übertragen zu wollen.
({18})
Eigentlich passt das auch nicht zu der im Koalitionsvertrag getroffenen Vereinbarung, erstmals ein Untersuchungshaftvollzugsgesetz und ein Jugendstrafvollzugsgesetz zu schaffen. Bei der Übertragung der Kompetenz
auf die Länder ist zu befürchten, dass diese Bereiche
nicht in allen Ländern geregelt werden. Ich frage Sie: Ist
ein Wettbewerb um die härtesten und strengsten Knäste
in Deutschland sinnvoll? Wollen wir das wirklich?
({19})
Das sind Punkte, die wir in den Ausschüssen diskutieren müssen. Ich kann sehr gut verstehen, dass unsere Abgeordneten, ich persönlich auch, darauf fundierte Antworten haben wollen. Nur weil etwas eingebracht
worden ist, muss es nicht so beschlossen werden. Dieser
alte Grundsatz gilt nach wie vor.
({20})
Ich will in diesem Zusammenhang einen weiteren
Aspekt nennen. In allen Verfassungen der Bundesländer
sind Kultur und Sport als Staatszielbestimmungen
definiert. Auch die europäische Verfassung, die wir
schon ratifiziert haben, die die Europäische Union in
besonderer Weise zur Förderung und zum Schutz von
Kultur und Sport verpflichtet, sieht ähnliche Regelungen
vor. Wir sollten zumindest ergebnisoffen prüfen, ob eine
solche Bestimmung, die Staatszielbestimmung „Förderung der Kultur und des Sports“, nicht auch in das
Grundgesetz Eingang finden sollte.
({21})
Ich komme zum Schluss. Es besteht überhaupt kein
Zweifel daran, auch für mich und meine Fraktion nicht,
dass die Föderalismusreform beschlossen werden muss.
Ich wollte mit meinem Beitrag nur deutlich machen,
dass in der Tat für mich das, was eingebracht worden ist,
noch nicht das letzte Wort ist. Das kann auch nicht sein.
Jeder Abgeordnete würde seine Rechte sozusagen an der
Garderobe abgeben, wenn er sagte: Ich muss das alles
abnicken. - Das machen wir ja auch nicht.
({22})
Es gibt eine Reihe von Punkten, die wir diskutieren
müssen. Das Parlament wird sich dazu die nötige Zeit
nehmen; daran besteht überhaupt kein Zweifel. Wir werden alle Sachverständigen, die von den Oppositionsfraktionen und den Koalitionsfraktionen vorgeschlagen werden, bitten, uns Auskunft zu geben. Am Ende werden
wir eine Föderalismusreform beschließen, die unser
Land zukunftsfähiger macht, die die Entscheidungen
hier im Parlament transparenter macht, die von den Bürgern akzeptiert werden wird und die auch von den Abgeordneten des Deutschen Bundestages getragen wird.
Vielen Dank.
({23})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Bodo Ramelow,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Man möchte Herrn Fraktionsvorsitzenden Struck direkt
Recht geben und sagen: Wenn dem so wäre, dass wir das
alles diskutieren würden, und wenn der Prozess so offen
wäre, wie Sie ihn eben als notwendig beschrieben haben,
dann würden auch wir uns eingeladen fühlen, auf diesem
Weg mit Ihnen gemeinsam zu gehen, um dann am
Schluss mehr zu erhalten als das, was im Moment von
Herrn Stoiber als die „Mutter aller Reformen“ bezeichnet wird.
({0})
Herr Struck, ich hatte aber eher den Eindruck, dass
Sie Ihre Fraktion, die ja ein Teil der großen Koalition ist,
befrieden wollten und dass Sie nicht für die notwendige
Offenheit sorgen, die wir brauchen, wenn wir tatsächlich eine Reform bekommen wollen, die diesen Namen
verdient. Zurzeit erleben wir nur, dass die Reform in einer Art und Weise auf den Weg gebracht wird, bei der
ganze Bereiche ausgegrenzt werden. Ich darf daran erinnern: Ich gehörte als Fraktionsvorsitzender aus dem
Thüringer Landtag dem Lübecker Konvent an. Die Tinte
unter dem Papier, das die Basis für die Föderalismusdebatte abgeben sollte - sie ist ja dringend notwendig und
ich sage ausdrücklich: Niemand bezweifelt, dass sie geführt und erfolgreich zu Ende gebracht werden muss -,
war noch nicht trocken, da wurden alle Fraktionsvorsitzenden und alle Fraktionen der PDS aus den Landtagen
einfach aus dem Prozess ausgegrenzt. Man hat uns gar
nicht mehr eingeladen; man hat uns nicht einmal mehr
mit einem Vertreter in der Kommission mitarbeiten lassen. Das war der erste Punkt.
Zweiter Punkt. Herr Struck hat das, was auf den Weg
gebracht worden ist, als offenen Prozess dargestellt.
Aber gleichzeitig sorgt die SPD im Bundesrat dafür, dass
der Prozess nicht mehr offen ist. Herr Beck lässt heute
als Wahlkämpfer verlautbaren, die ostdeutschen Bundesländer hätten wohl ein gestörtes Verhältnis zum Zentralstaat oder litten an einer zentralstaatlichen Nostalgie.
Deswegen bringt er wohl die gleichen Gesetzentwürfe,
die hier als Diskussionsgrundlage eingebracht werden,
gleichzeitig in den Bundesrat ein, sodass das Vermittlungsverfahren wesentlich komplizierter wird. Ich habe
den Eindruck, dass es angebrachter ist, die Föderalismusreform, die Herr Stoiber als die „Mutter aller Reformen“ bezeichnet, mit dem Wortpaar „Edelstahl und
Diebstahl“ zu qualifizieren. Beides hat nichts miteinander zu tun. Von einer Mutter aller Reformen kann ich jedenfalls nicht sonderlich viel erkennen. Ich sehe nur,
dass wir eine Rolle rückwärts in die feudale Kleinstaaterei machen, in der Herrn Koch und anderen gedient wird.
({1})
Ich appelliere an alle Vertreterinnen und Vertreter der
neuen Bundesländer, über Folgendes einmal parteiübergreifend und kritisch nachzudenken: Sowohl die A-Länder als auch die B-Länder, die im Bundesrat federführend am Verfahren beteiligt sind, sind ausschließlich
Westländer. Das heißt, der gesamte Osten Deutschlands
wird in dem Verfahren, über das wir hier zurzeit diskutieren, völlig abgemeldet. In einem Punkt gebe ich der
FDP ausdrücklich nicht Recht. Wettbewerbsföderalismus ist nicht unser Ziel.
({2})
Wir wollen zwar eine Neuordnung des Föderalismus.
Aber Wettbewerbsföderalismus auf dem Rücken der
strukturschwächeren Regionen bedeutet, ganze Regionen in Deutschland komplett abzuhängen. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Steuerdeckungsquote
der Bundesländer hinweisen. Ihre Bandbreite reicht realiter von 37 bis 73 Prozent. Das heißt, die starken Bundesländer können sich die geplante Föderalismusreform
erlauben. Aber die schwachen Bundesländer werden abgehängt. Letztendlich werden wir erleben, dass der Wettbewerbsföderalismus zum Abbau von Standards führt.
Das kann aber nicht unser Ziel sein.
({3})
Ich möchte der FDP allerdings ausdrücklich Recht
geben, dass alle Fragen betreffend die Finanzbeziehungen in die Reform einbezogen werden müssen. Sie außen vor zu lassen ist schon einmal ein zentraler Fehler.
Herr Struck, ich begrüße Ihre Ausführungen über die
Kultur. Aber ich wünsche mir, dass wir, wenn wir schon
das Grundgesetz mit Zweidrittelmehrheit ändern, Subsidiarität und Konnexität als Prinzipien festschreiben und
so die Kommunalparlamente und die Landesparlamente
ermutigen. Denn dann wäre endlich klargestellt: Wer die
Musik bestellt, bezahlt sie auch. Das bedeutete auch
mehr Freiraum für die Kommunen. Diese Prinzipien
müssen also im Grundgesetz verankert werden. Dabei
dürfen aber die Finanzbeziehungen nicht vergessen werden.
Es gibt allerdings einen Unterschied zwischen der
FDP und der Linken.
({4})
- Herr Westerwelle, das stimmt. Damit haben Sie Recht.
Deswegen bin ich nicht auf Ihrer Seite.
Wir unterscheiden uns eindeutig, wenn es um die
Steuereinnahmenseite geht. Wir sagen: Damit sich Bund,
Länder und Kommunen finanzieren und entschulden
können, brauchen wir ein klares Bekenntnis zur Wiedereinführung der Vermögensteuer, der Börsenumsatzsteuer
und anderer Steuerarten.
({5})
Wir lehnen Wettbewerbsföderalismus in der Bundesrepublik Deutschland ganz klar ab. Wir wollen vielmehr
einen kooperativen Föderalismus, der die Aufgaben neu
verteilt.
In der gestrigen Sitzung des Vermittlungsausschusses
ist ein verehrter Kollege nach vielen Jahren und
60 Sitzungen verabschiedet worden. Der Vorsitzende des
Vermittlungsausschusses hat sich bei ihm für die geleistete Arbeit bedankt. Der Kollege hat darauf geantwortet,
man habe im Vermittlungsausschuss hervorragend zusammengearbeitet und oft die Probleme lösen müssen,
die die Parteivorderen ihnen eingebrockt hätten. Ich
glaube, so nehmen das auch die Menschen in diesem
Land wahr. Über die Relation zwischen Bundestag und
Bundesrat wird nicht im Vermittlungsausschuss entschieden, sondern in erster Linie in den strategischen
Abteilungen der Parteizentralen. So hat man seit Jahren
und Jahrzehnten Bundestag und Bundesrat in parteipolitische Frontstellung zueinander gebracht.
Nun sitzen die Strategen gemeinsam in der großen
Koalition und wollen eine große Föderalismusreform auf
den Weg bringen. Wir können nur feststellen: Diese Art
der Herangehensweise ist mutlos, kraftlos und sogar
ziellos.
({6})
Ich will es Ihnen an einem Beispiel deutlich machen,
dem Thema Umwelt. Jetzt soll das Umweltgesetzbuch
eingeführt werden. Es soll aber gleich wieder von den
Ländern außer Kraft gesetzt werden können bzw. die
Standards sollen gesenkt werden können. Was ist denn
das für ein Unsinn?
({7})
Ich denke auch an den Hochwasserschutz. Erinnern Sie
sich doch einmal an das Elbe- bzw. Oderhochwasser! Erinnern Sie sich an die Hamburger Sturmflut! Wollen wir
wirklich zulassen, dass es 16 verschiedene Standards bei
solchen Katastrophen gibt? Glauben Sie, die Flutwelle
wäre in einem Fluss unterschiedlich, nur weil er verschiedene Bundesländer durchfließt? Was soll denn an
der Grenze zwischen zwei Bundesländern geschehen,
die der Fluss durchquert? Soll es da unterschiedliche
Standards und unterschiedliche Deiche geben? Das, was
Sie in Sachen Umwelt beabsichtigen, ist ein Schritt in
die Kleinstaaterei.
Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang eine
zweite Anmerkung. Sie verlagern alle Kompetenzen auf
die Länder, nur die Atompolitik soll Sache des Bundes
bleiben. Alles, was uns umgibt, ist aus Atomen zusammengesetzt, selbst die Luft, die wir atmen. Bleibt also
über diesen Umweg alles in der Hoheit des Bundes?
Oder wie soll ich diesen Unsinn verstehen, den Sie auf
den Weg bringen wollen?
({8})
Kommen wir zum Thema Justiz. Ich bin erstaunt,
dass Sie, Herr Struck, sagen, die Kompetenzverlagerung
habe niemand vor. Ich frage mich dann allerdings, warum alle Fachleute, die sich bisher mit dem Teil der Föderalismusreform, der die Justiz betrifft, beschäftigt haben, kategorisch ablehnen, dass diese Kompetenzen
künftig unter die Länderhoheit fallen sollen. Es muss,
was den Justizvollzug betrifft, nationale Standards geben. Es ist ein Skandal, diesen Bereich den Ländern zu
überlassen. Ich habe eben auf die Steuerdeckungsquote
hingewiesen. Arme Länder können dann darüber nachdenken, ob sie die Knäste privatisieren und es den privaten Betreibern überlassen, die Standards zu setzen. Das
halten wir für katastrophal und für den falschen Weg.
({9})
Ich glaube, dass der Kollege Beck beim Thema
Bildung vor lauter Wahlkampf in Rheinland-Pfalz die
wesentlichen Dinge aus den Augen verloren hat. Er bezichtigt die ostdeutschen Länder, sie hätten ein merkwürdiges Verhältnis zum Zentralstaat. Das mag sich so
darstellen, wenn man aus dem Blickwinkel der südlichen
Weinstraße oder von Trier aus Mainz betrachtet. Tatsächlich aber ist die Erfahrung der neuen Bundesländer,
dass man mit längerem gemeinsamen Lernen und nationalen Bildungsstandards mehr erreicht als durch Kleinstaaterei, die Sie gerade auf den Weg bringen.
({10})
Deswegen wäre es auch hilfreich, in Sachen nationale
Bildungsstandards nicht nur nach Finnland, sondern
auch einmal in die ehemalige DDR zu schauen. Man
könnte dann ein wenig davon finden, was in Finnland erfolgreich umgesetzt worden ist.
({11})
- Sie können einfach nach Finnland schauen, wenn Ihnen das leichter fällt. Es fällt Ihnen ideologisch schwer,
die Struktur der DDR-Schule an bestimmten Stellen
- ich rede nicht von Margot Honecker und der Ideologie,
sondern von den Bildungsstandards - einfach anzuerkennen.
({12})
Die Industrie- und Handelskammer Südthüringen - sie
ist nicht verdächtig, uns nahe zu stehen - hat festgestellt,
dass polytechnischer Unterricht in den Schulen heute
fehlt. Interessant ist doch, dass ausgerechnet Wirtschaftsvertreter diesen Teil der Föderalismusreform für
falsch halten. Deswegen ermuntere ich Sie: Schauen Sie
sich doch einfach einmal das Bildungssystem genauer
an!
({13})
Das Gleiche gilt auch für die Hochschulen. Wenn man
Exzellenzstandorte haben will, dann müssen die Hochschulen auch mit den entsprechenden finanziellen Mitteln ausgestattet sein. Darüber hinaus sagen wir kategorisch Nein zu Studiengebühren.
({14})
Eine weitere Bemerkung zum Beamtenrecht. Ich
finde es hocherstaunlich, dass der verehrte Ministerpräsident Dieter Althaus am letzten Wochenende die 42-Stunden-Woche gefordert hat, und das trotz des Streiks im öffentlichen Dienst. Er sagte, die 42-Stunden-Woche sei
die Lösung für alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst.
Er fordert sie für West- und Ostdeutschland. Es war die
CDU in Thüringen, die die 42-Stunden-Woche für Beamte durchgepeitscht hat, und jetzt empfiehlt sie, dass
den Angestellten im öffentlichen Dienst dasselbe zugemutet wird. Das tut sie auch noch, obwohl zurzeit gestreikt wird. Diese Form der Solidarität verbitten wir
uns. Wenn Sie Mut hätten - deshalb habe ich vorhin von
Mutlosigkeit geredet -, dann würden Sie ein einheitliches Dienstrecht für Deutschland schaffen. Keine Trennung mehr zwischen Arbeitern, Angestellten und Beamten. Das wäre ein mutiger Schritt nach vorne, ein
einheitliches Arbeitsgesetzbuch.
({15})
Was aber machen Sie? 16 Beamtenrechte auf Länderebene plus ein Bundesbeamtenrecht heißt 17 verschiedene Rechtssituationen. Die kommen zu dem atomisierten Arbeitsrecht hinzu, das wir in Deutschland ohnehin
haben. Das ist rückwärtsgewandt. Deswegen wäre es
gut, in Analogie zur Überleitung des Bundes-Angestelltentarifvertrages in den TVöD das Dienstrecht in
Deutschland insgesamt zu öffnen und damit einen
Schritt nach vorne zu kommen. Ich glaube, dass Sie den
Beamtenbund auf Ihre Seite ziehen können, wenn sich
herausstellt, dass es nicht um formale oder um angebliche Privilegien geht. Es geht vielmehr um die Trennung
und Atomisierung von Menschen im öffentlichen
Dienst. Es wäre gut, ein einheitliches Dienstrecht zu haben.
Die Menschen im Lande haben eh das Gefühl, dass
Bundestag und Bundesrat immer nur versuchen, sich gegenseitig auszubremsen. Wir sind sehr gespannt darauf,
zu sehen, wie lange die große Koalition das Verhältnis
zu den Bundesländern austarieren kann. Ob der Vermittlungsausschuss in dieser Legislatur Arbeit bekommt,
wissen wir nicht.
Eines darf ich Ihnen sagen: Eine Föderalismusreform,
die diesen Namen verdienen möchte, muss die Menschen mitnehmen, muss sie überhaupt erreichen. Wenn
wir das Grundgesetz ändern - wir wollen es; Sie haben
beschlossen, entsprechende Gesetzesinitiativen auf den
Weg zu bringen -, dann lassen Sie uns folgende Punkte
im Grundgesetz verankern:
Erstens: Kulturförderung, Konnexitätsprinzip und das
Prinzip „mehr direkte Demokratie“. Das Verhältnis der
Bürger zu ihrem Staat wäre damit ein Stück weit gestärkt. Wir fordern deswegen, mehr direkte Demokratie
im Grundgesetz zu verankern.
({16})
Das wäre ein Element der Neuordnung der Strukturen in
Deutschland.
Zweitens: das Subsidiaritätsprinzip.
Drittens: nationale Standards für Bildung. Gemeint
sind sämtliche Bildungsstandards, also auch nationale
Standards für Hochschulen.
Viertens: nationale Umweltstandards. Ziel sollte ein
Umweltgesetzbuch sein, das diesen Namen verdient hat
und nicht anschließend infrage gestellt wird.
Fünftens: ein einheitliches Dienstrecht für ganz
Deutschland. Ich empfehle Ihnen einen Blick auf das Arbeitsgesetzbuch der DDR. Sie müssen es nicht übernehmen.
({17})
- Sie können weiter aus ideologischen Gründen aufschreien. Aber es würde sich lohnen, hinzuschauen. Vergleichen Sie das Arbeitsgesetzbuch der DDR einmal
mit dem deutschen Arbeitsrecht! Wer entbürokratisieren
will, der sollte 30 Formen von Arbeitsrecht beseitigen
und durch ein einheitliches Dienstrecht ersetzen.
({18})
- Wenn Sie möchten: Bitte, gerne. Im Gegensatz zu Ihnen übernehmen wir die Verantwortung, auch wenn Sie
das immer leugnen.
Sechstens: Hände weg von Justiz und Strafvollzug!
Siebtens: eine bundeseinheitliche Verwaltungsreform, die diesen Namen verdient hat. Das heißt, es
muss zu einer Aufgabentrennung und zu einer Aufgabenzuordnung kommen. Einfließen sollten dabei die Ergebnisse der Diskussion der Bundesländer. Ob die Aufstellung der Bundesländer noch zeitgemäß ist, auch
darüber muss diskutiert werden, allerdings von unten.
Deswegen wäre es gut, den Weg dafür über eine entsprechende Änderung im Grundgesetz zu ebnen.
Achtens: die Stärkung der Staatsfinanzen. Das heißt
nicht nur, dass die Finanzbeziehungen neu geordnet werden müssen, sondern auch, dass die Einnahmenseite zu
stärken ist.
Wenn Sie diese acht Punkte mit auf den Weg bringen,
dann können wir gemeinsam eine Föderalismusreform
verabschieden. Nach meiner Überzeugung brächte diese
Reform den Menschen mehr Gewinn als Verlust. Das,
was Sie im Moment machen, ist wieder Gezänk in den
parteipolitischen Hinterzimmern.
({19})
Das führt leider nur zur Befriedigung von Herrn Koch
und anderen, aber nicht dazu, dass wir Deutschland
wirklich zum Wohle der Menschen neu ordnen. Bitte,
machen Sie sich in eine andere Richtung auf und verlassen Sie Ihre parteipolitischen Hinterzimmer.
Vielen Dank.
({20})
Ich erteile das Wort Kollegin Renate Künast, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir brauchen eine Föderalismusreform. Dabei brauchen wir eines: mehr Transparenz, damit die Bevölkerung und wir
alle wirklich verstehen, wer eigentlich für welche Bereiche zuständig ist. Wir brauchen mehr politische Handlungsfähigkeit, damit die immer wieder qualvollen Verhandlungen, die sich über ein oder zwei Jahre hinziehen,
und die permanenten Blockaden durch den Bundesrat
endlich hinter uns liegen. Das ist unser Maßstab. Das
war übrigens auch der Maßstab der Föderalismuskommission. Ich muss leider feststellen: Was uns heute hier
vorliegt, wird diesem Maßstab nicht gerecht. Dies ist
keine große Reform.
({0})
Wir wollten entflechten. Das leistet diese Reform
nicht. Wir wollten handlungsfähiger werden in Europa.
Das leistet diese Reform nicht. Wir wollten Lösungen
der großen Zukunftsaufgaben anbieten. Auch das leistet
diese Reform nicht. Diese große Koalition hat behauptet:
Nach den ersten 100 Tagen dieser Regierung kommt das
Meisterstück. Eines ist ganz klar: Wir haben das in den
vergangenen Wochen kritisiert. Nach der Rede des SPDFraktionsvorsitzenden gibt es überhaupt kein Beweisproblem mehr: Dies ist nicht das Meisterstück der großen Koalition, sondern das ist ein Stümperwerk, in das
noch viel Arbeit gesteckt werden muss, wenn es
Deutschland dienen soll.
({1})
Herr Kauder, Sie haben hier über Wettbewerbsföderalismus geredet. Ich sage Ihnen einmal ganz klar: Wir
wollen an der Stelle keinen Wettbewerbsföderalismus,
sondern wir wollen einen Föderalismus, der auch noch
die gleichwertigen Lebensverhältnisse in dieser Republik im Blick hat.
({2})
Wir müssen den Ausgleich der Waage, die Balance hinbekommen, sodass wir Föderalismus mit einem Stück
Wettbewerb, aber auch mit Solidarität haben. Die Bundesrepublik macht es nämlich aus, dass nicht an dem einen Ende des Landes arme Kinder oder Migrantenkinder
keine Chancen auf gute Bildung haben und darauf, sich
zu entwickeln, Teil der Gesellschaft zu sein, sich beruflich zu verwirklichen und in der Gesellschaft ihren Teil
zu leisten, während die reichen Kinder am anderen Ende
der Republik so richtig durchziehen, sodass nur sie am
Ende die Vorstände in den DAX-Unternehmen stellen.
Einen solchen Föderalismus wollen wir nicht, Herr
Kauder. Wir wollen auch Solidarität.
({3})
- Nein. Von uns gibt es ein klares Bekenntnis zum Föderalismus, Herr Kauder. Aber man muss auch im Detail
wissen, was man wie regelt. Ich will, dass die Länder
mehr entscheiden können, aber nicht nur die Ministerpräsidentenbank, nicht nur der Bundesrat, sondern wirklich auch die Landtage.
({4})
Wir haben die Debatte um die Frage, wie hier mit
dem Parlament und mit seinen Anhörungsrechten umgegangen wird, schon geführt. Was Sie da gestern und vorgestern hingelegt haben, war, finde ich, demokratietechnisch nun nicht gerade ein Meisterwerk.
({5})
Herr Kauder, Ihnen fehlt noch etwas ganz anderes.
Sie haben hier gesagt, jetzt werde es eine wunderbare
gemeinsame mehrtägige Anhörung geben.
({6})
- Geht es? Können Sie nicht einmal einen Koalitionsausschuss einberufen? Dann könnten Sie alles besprechen. Wir haben bei diesem so genannten Meisterstück
gerade gemerkt, dass die Koalition hoch zerstritten ist.
Insofern verstehe ich sozusagen Ihre Debatte jetzt über
die grünen Bänke hinweg.
Die einen sagen, es sei ein Meisterstück. Herr Struck
sagt, man müsse eigentlich in wesentlichen Bereichen
noch ändern. Sie sagen, Sie hätten jetzt eine Anhörungsidee mit Bundestag und Bundesrat zusammen. Aber,
Herr Kauder, Herr Struck, Sie haben schon wieder die
Landtage vergessen.
({7})
Wenn es eine ehrliche Beratung gibt, dann wollen wir,
dass auch die Landtage und nicht nur die Ministerpräsidenten und die Mehrheit an dieser Beratung beteiligt
werden.
Ich würde übrigens auch gern wissen, was eigentlich
die Position der FDP ist. Herr Burgbacher, mir ist sie
mit Ihren Ausführungen nicht klar geworden. Wenn ich
mir das Ganze noch einmal vor Augen führe, dann erinnere ich mich daran, dass Herr Westerwelle im Dezember 2004 gesagt hat, das sei deutlich zu wenig und
enttäuschend. Mittlerweile hören wir von Herrn
Westerwelle, Sie würden dieser Reform sowieso zustimmen, weil man danach über die Finanzfragen redet. Herr
Burgbacher erklärt hier aber, es müsse noch viel geregelt
werden. Herr Burgbacher, dann widerrufen Sie doch Ihren Parteivorsitzenden, Herrn Westerwelle; der ist an
dieser Stelle längst umgefallen.
({8})
- Ich weiß, was Sie wollen, Herr Gerhardt. Wegen des
26. März wollten Sie sich, weil Sie in Rheinland-Pfalz
gern mit den einen und in Baden-Württemberg gern mit
den anderen wollen, keinen Ärger mit den beiden einhandeln. Deshalb haben Sie sich hier eigentlich schon
zum Steigbügelhalter dieser schlechten Reformvorlage
gemacht.
({9})
Ich kann nicht akzeptieren, wenn hier angesagt wird,
sogar aus dem Kanzleramt, dass dieses Paket so geschnürt ist und so durchgeht. Ich kann auch nicht akzeptieren, wenn uns Ministerpräsidenten das sagen; denn es
geht an dieser Stelle nicht allein darum, ein Paket durchzuwinken. Wir haben vielmehr die Aufgabe, uns zu
überlegen: Was sind die Probleme der Republik, der
Kinder dieser Republik, der Wirtschaft dieser Republik?
Was sind die Probleme von heute, von morgen und von
übermorgen? Diese Reform muss eine Lösung für diese
Probleme anbieten und das tut sie bisher definitiv nicht;
im Gegenteil.
({10})
Ich gehe einmal zwei oder drei Punkte durch, um zu
klären, ob diese Reform uns eigentlich genügt. In der
Generaleinschätzung wird behauptet, hier finde eine ausreichende Entflechtung statt. Es mag sein, dass hier eine
kleine Entflechtung vorgenommen wurde, aber für die
Behauptung, die Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze würde von 60 auf circa 40 Prozent reduziert, also
selbst für diesen kleinen Sprung, findet sich bei keinem
Wissenschaftler ein Beleg. Wir alle hier wissen, dass es
sich hierbei schlicht und einfach um eine Schätzung Pi
mal Daumen handelt. Es liegt keinerlei Beleg dafür vor,
dass es zu einer solchen Reduzierung kommen wird. Ich
glaube sogar, dass das Gegenteil der Fall ist.
In Ihre Änderungsvorschläge bezüglich des Verfahrensrechtes in Art. 84 und 104 a Grundgesetz bezüglich
der geldwerten Sachleistungen haben Sie wieder Regelungen hereingefummelt, die am Ende mindestens in
gleichem Umfang dem Bundesrat ein Zustimmungsrecht
einräumen, wie es derzeit der Fall ist.
({11})
Auch Sie wissen genau, dass es Papiere von Sachverständigen gibt, in denen das so gesagt wird. Am Ende
bleibt alles beim Alten: Sie wollen zwar entflechten,
aber mit den von Ihnen vorgesehenen Änderungen bezüglich geldwerter Sachleistungen haben Sie eigentlich
wieder einen Nasenring eingeführt, an dem die Landesfürsten, also die Ministerpräsidenten, den Bundestag
durch die Republik ziehen können. Ich bin mir sicher,
auch in diesem Punkt wird es uns gehen wie nach der
schnell durchgezogenen und nicht durchdachten Reform
1994: Wir werden uns in Karlsruhe wiedertreffen. Unsere Vorstellung war eigentlich, eine Reform auf die
Beine zu stellen, bei der das nicht der Fall ist.
({12})
Schauen wir uns einmal an, wie Sie die Probleme
beim Thema Bildung lösen. Bildungspolitik ist die Sozialpolitik der Zukunft und damit Politik für den Standort Deutschland. Aber Sie geben jede Möglichkeit für
eine gemeinsame strategische Bildungsplanung auf. Ich
respektiere die Zuständigkeit der Länder für die Bildung
und die Erziehung von Kindern im föderalen System,
aber zugleich müssen wir uns bewusst machen, dass es
einen knallharten internationalen Wettbewerb gibt. Indien bildet jedes Jahr 300 000 Ingenieure aus. Wir können es uns nicht leisten, hier in Vielstaaterei zu verfallen.
Wir müssen wenigstens die Möglichkeit zu einer gemeinsamen strategischen Bildungsplanung von Bund
und Ländern offen lassen. Davon würden nämlich unsere Kinder profitieren, weil unsere Wirtschaft Fachleute
braucht. Das ist damit in doppeltem Sinne die Zukunftsfrage Deutschlands. Deshalb darf es nicht zu solchen Regelungen kommen, wie sie geplant sind.
({13})
Schauen Sie sich einmal an, Herr Kauder, was passierte, wenn Ihre Vorschläge durchkämen: Ganztagsschulprogramme wären nicht mehr möglich. So etwas
wie das Sinusprogramm, mit dem Edelgard Bulmahn
dazu beigetragen hat, dass dieses Land bei den mathematischen Fähigkeiten weiter nach vorne kommt, dürfRenate Künast
ten wir nicht mehr machen. Von Mitteln für den Hochschulbau und von Ihrer Förderung von technischen
Großgeräten profitierten am Ende nur die großen Länder; ein Land wie Schleswig-Holstein würde leer ausgehen.
({14})
So kann doch die Zukunft dieses Landes nicht gestaltet
werden.
({15})
- Das war wahrscheinlich, Herr Kauder, Ihr Wort zum
Frauentag. Es kam zwar ein bisschen spät, aber passte
vom Niveau her.
({16})
Herr Kauder, Sie haben gesagt, durch die Föderalismusreform würde der Bund für Bürokratieabbau bei den
Ländern sorgen. Ich sage Ihnen, die Bürokratie, unter
der im Augenblick die Schulen leiden, liegt nicht in der
Verantwortung des Bundes, sondern wurde von den
Bundesländern verschuldet, weil sie den Schulen keine
Autonomie geben wollen.
({17})
Schauen wir uns das Thema Umwelt an: Mit dem in
Ihrer Vorlage enthaltenen Vorschlag für ein Umweltgesetzbuch bauen Sie nichts anderes auf als ein potemkinsches Dorf: vorne eine elegante Fassade, dahinter aber
nicht einmal ein fester Kern, der Abweichungen in den
verschiedenen Bereichen verhindert, wie es ein UGB tatsächlich ermöglichen könnte.
({18})
- Ja, Herr Röttgen, nur ein Hauch Naturschutz: Ihre Position kenne ich aus der Kommission.
({19})
Ihre hier vorgesehene Abweichungsgesetzgebung ist ein
Fehler. Sie wird am Ende nicht die Probleme lösen, die
bisher im Zusammenhang mit der Erforderlichkeitsklausel auftraten.
({20})
Wir wollen ein Umweltgesetzbuch, das im Kern gut
für die Umwelt und gut für die mittelständische Wirtschaft in dieser Republik ist. Das wäre zum Beispiel der
Fall, wenn ein Mittelständler mit einem Antrag ein Genehmigungsverfahren bewältigen könnte. Er hat nämlich
nicht die Möglichkeit, drei Juristen einzustellen, um die
Gesetzessammlungen von 16 Bundesländern durchschauen zu lassen.
({21})
Herr Struck, ich habe mit einer gewissen Genugtuung
wahrgenommen, dass Sie auch auf die Themen Heimrecht und Strafvollzug eingegangen sind. Wir werden
mit Ihnen und der SPD-Fraktion da eine intensive Diskussion führen. Ich will Ihnen sagen, warum: Ich meine,
dass das Heimrecht nicht nur mit Blick auf die Kinder,
sondern gerade mit Blick auf die älteren Menschen - wir
alle kennen das Thema des demografischen Wandels einer der Kernpunkte ist, um die wir uns kümmern müssen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass man in dieser
Republik in Würde altern und ein entsprechendes Leben
führen kann. Deshalb dürfen wir nicht dazu beitragen,
dass ältere Menschen in Heimen nur noch gewaschen
und gefüttert werden. Wir dürfen nicht dazu beitragen,
dass es im wahrsten Sinne des Wortes einen Personaldumpingschlüssel gibt.
({22})
Ich freue mich darüber, dass auch die SPD-Fraktion
an dieser Stelle einen Blick auf den Strafvollzug wirft.
Ich weiß, warum dieses Thema aufgenommen worden
ist. Ich sage Ihnen aber: Im Interesse unser aller Sicherheit in der Bevölkerung ist es wichtig, dass im Strafvollzug nicht gespart wird, sondern dass Resozialisierung
stattfindet.
({23})
In diesem Sinne haben wir noch grundsätzliche Beratungen vor uns, damit dies eine Reform wird, die verdient, dass man über sie sagen kann: Das ist ein Meisterstück, das die Probleme des Landes löst.
({24})
Ich erteile das Wort Kollegen Peter Ramsauer, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau
Kollegin Künast, Sie haben gegen Ende Ihrer Rede gesagt: Das ist doch nicht die Zukunft unseres Landes. Ich sage Ihnen dagegen: Mit der Einstellung, die Sie soeben in Ihrer Rede verbreitet haben, sind Sie, Ihre Partei
und Ihre Fraktion garantiert nicht die Zukunft unseres
Landes.
({0})
Wir sind uns - darüber bin ich froh - im Grunde genommen alle über die Fraktionsgrenzen hinweg darin einig, dass es so wie bisher nicht weitergeht und dass wir
- ich bin meinem Kollegen Peter Struck außerordentlich
dankbar, dass er dies am Ende seiner Rede noch einmal
betont hat ({1})
diese Reform zu einem guten Ende bringen wollen. Deshalb bin ich mir ganz sicher, dass diese Reform des Föderalismus ein Zeichen der Zuversicht für unser Land
ist.
Die Probleme sind uns seit langem bekannt. Deswegen wissen wir alle, dass es so nicht weitergeht. In den
letzten Jahren wurde viel darüber geredet und geschrieben: über die schrittweisen Zuständigkeitsverluste der
Länder, über die Verflechtung aller Ebenen, über verwischte Verantwortlichkeiten und über die Blockademacht des Bundesrates.
Neu ist: Die große Koalition redet nicht nur, sondern
sie handelt auch.
({2})
Deutschland ist nicht mehr Stillstandort. Wir haben das
innerhalb der ersten 100 Tage dieser großen Koalition
bewiesen. Wir haben bewiesen, dass wir handlungsfähig
sind; es wird entschieden, es geht vorwärts und es gibt
Zuversicht in unserem Lande.
({3})
Ich schließe mich dem Dank, den der Kollege Peter
Struck gerade ausgesprochen hat, für meine Fraktion
und für meine Partei ausdrücklich an: dem Dank an die
beiden Pioniere der Föderalismusreform in den letzten
Jahren,
({4})
nämlich Edmund Stoiber und Franz Müntefering.
({5})
Sie haben an der Spitze der Föderalismuskommission
großartige Vorarbeit geleistet. Das verdient Respekt und
Dank.
({6})
Ich schließe auch alle anderen in diesen Dank ein:
Graf Lambsdorff, wie hier zugerufen wurde, und diejenigen, die viel früher aktiv waren. Gerade deshalb stehen
die Liberalen in der Verpflichtung, zielstrebig daran mitzuwirken, dass wir Erfolg haben.
({7})
- Kollege Westerwelle, Sie sprechen nach mir und können dies bestätigen.
({8})
Bundestag und Bundesrat beginnen heute parallel mit
den parlamentarischen Beratungen dieser umfassenden
Reform des Grundgesetzes. Wie meine beiden Kollegen
Volker Kauder und Peter Struck sehe auch ich die Beratung der Vorlagen von zwei Leitgedanken geprägt.
Der erste Leitgedanke. Wir Abgeordneten nehmen
unsere parlamentarische Verantwortung wahr. Die Änderung des Grundgesetzes, ihre Begründung und die begleitenden Gesetze werden gründlich geprüft. Um die
Vorwürfe der Opposition nochmals aufzunehmen: Sie
tun so, als befänden wir uns hier in einem Ratifizierungsverfahren. Davon kann aber überhaupt nicht die
Rede sein. In einem Ratifizierungsverfahren kann nichts
geändert werden; dafür gibt es Beispiele. Wir befinden
uns hier aber in einem geordneten Gesetzgebungsverfahren.
({9})
Wenn da und dort Feinschliff erforderlich ist - so hat es
der Kollege Volker Kauder mit anderen Worten gesagt -,
dann handeln wir entsprechend und machen aus diesem
Diamanten sozusagen einen großartigen politischen Brillanten.
({10})
Der zweite Leitgedanke. Die Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat setzen auf Kooperation statt wie
bisher auf Konfrontation. Das ist etwas, was unsere
Wählerinnen und Wähler nach den vielen Jahren des
ständigen Gegeneinanders erwarten. Wir unterstreichen
dies mit gemeinsamen Sitzungen: Heute gibt es parallele
Sitzungen im Bundesrat und im Bundestag - es findet
die erste Lesung statt - und die federführenden Ausschüsse der beiden Häuser tagen gemeinsam.
Die große Koalition will eine gute Zusammenarbeit
mit den Ländern. Das stimmt optimistisch; denn Bund
und Länder müssen gemeinsam anpacken, um Deutschland wieder nach vorne zu bringen. Ich bin sicher, das
Reformwerk wird überzeugen. In den Debatten werden
seine Stärken hervorgehoben und Fehldeutungen korrigiert werden.
({11})
Die schlimmste Fehldeutung ist, dass der jeweils andere der Verlierer sein müsse, wenn Bund bzw. Länder
etwas gewännen. Das ist falsch. Ich sehe das anders.
Wenn Verflechtungen aufgelöst werden, dann gewinnen
doch beide Ebenen neue Gestaltungsfreiheit. Ausufernde
Zustimmungserfordernisse im Bundesrat verwischen
doch Verantwortung und sie verzögern Entscheidungen.
Die Zahl derjenigen Gesetze wird deshalb reduziert, denen der Bundesrat zustimmen muss. Auf dem Feld der
bisherigen Rahmengesetzgebung gewinnt der Bund
neue Kompetenzen hinzu. In 22 Gegenständen der
konkurrierenden Gesetzgebung entfällt die bisherige
verfassungsgerichtliche Prüfung, ob eine bundeseinheitliche Regelung erforderlich ist. Das schafft Rechtsklarheit.
Im Gegenzug - darin liegt natürlich auch eine gewisse Ausgewogenheit - wachsen die Kompetenzen
der Länder. Vom Presserecht bis zum Ladenschluss
kommen neue Kompetenzen hinzu. Schule, Kultur und
Rundfunk werden als Sache der Länder bestätigt.
Ich will auch hervorheben: Die Föderalismusreform
macht endlich Ernst mit dem Grundsatz - er ist für die
Kommunen von großer Bedeutung -: Wer anschafft, der
bezahlt. Dieser Grundsatz ist gerade für meine Partei
sehr wichtig, da sie in den Kommunen tief verwurzelt
ist. Der Bund darf Aufgaben künftig nicht mehr direkt
auf die Gemeinden, die Städte oder die Landkreise übertragen. Von den bisher getroffenen Behördenregelungen
können die Länder nach Abschluss der Reform abweichen. Das ist ein echter Autonomiegewinn für die Länder. Die Länder - ich betone: die Länder - regeln damit
künftig das Verhältnis zu den Kommunen. Damit schützt
das so genannte Konnexitätsprinzip in den Landesverfassungen die Kommunen künftig auch im Bereich der
Bundesgesetze.
Deutschland braucht starke Länder. Deutschland
braucht starke Kommunen. Vielfalt belebt. Wettbewerb
setzt Anreize, nach besseren Lösungen zu suchen. Noch
einmal: Beide, das Parlament im Bund und die Parlamente in den Ländern, die Landtage, sind die Gewinner
dieser großartigen Reform. Der gesetzgeberische Spielraum der Landesparlamente wächst. Wir Abgeordneten
im Deutschen Bundestag sind künftig freier in der Gestaltung unserer Gesetzesbeschlüsse. Ich stimme Volker
Kauder zu, der gesagt hat, dass man die Gesetze manchmal nicht mehr erkannt habe, als sie zerrupft aus dem
Vermittlungsausschuss zurückgekommen seien. Vielleicht wurden sie auch manchmal verbessert, wenn wir
in den letzten sieben Jahren am anderen Ende gezogen
haben.
({12})
Es gewinnt derjenige, auf den es in unserem Land letztlich ankommt und dem wir unsere politische Macht und
unser politisches Mandat verdanken: Letztlich gewinnen
die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes.
Auf Folgendes kommt es an: Erstens. Entscheidungen
können schneller getroffen werden. Zweitens. Politische
Verantwortung wird klarer. Drittens. Wichtige Kompetenzen rücken näher an die Bürger heran.
({13})
Die Entflechtung der Ebenen lässt die Wahlentscheidung künftig wieder klarer als eindeutige Entscheidung für die eine oder die andere Richtung in der Politik
hervortreten. Es gibt kein Herumstochern mehr in einem
Einheitsbrei, sondern klare Richtungen und klare Kompetenzzuweisungen. Klare Verantwortlichkeiten stärken
das Vertrauen in unseren demokratischen Staat.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben mit dieser Reform eine ganz großartige Chance in der Hand.
Lassen Sie uns diese Chance für unser Land gemeinsam
nutzen!
({15})
Ich erteile das Wort dem stellvertretenden Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Andreas
Pinkwart.
({0})
Dr. Andreas Pinkwart, Minister ({1}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Bundestag und Bundesrat gehen mit diesem Reformvorhaben einen ersten Schritt in die richtige Richtung. Es ist ein Stück weit ein erster Schritt, um mit dem
bisherigen System organisierter Unverantwortlichkeit in
unserem demokratischen Gemeinwesen Schluss zu machen.
({2})
Das gilt auch mit Blick auf die gemeinsame Herausforderung, die deutsche Wissenschafts- und Hochschullandschaft wieder an die internationale Spitze
heranzuführen. Wir müssen die Hochschulen und Forschungseinrichtungen in unserem Land befähigen, sich
im immer härteren internationalen Wettbewerb um die
besten Köpfe, die größten Etats und um exzellente Ergebnisse besser zu behaupten. Sie brauchen dafür im
Kern zwei Dinge: erstens, die Freiheit, sich im Wettbewerb strategisch zu entwickeln und zu positionieren,
und, zweitens, eine verlässliche und auskömmliche Finanzierung.
({3})
Mehr Freiheit und Verantwortung sollen die Länder
im Bereich von Wissenschaft und Forschung bekommen. Das ist ein viel diskutierter und wesentlicher Bestandteil des heutigen Reformvorhabens. Die Länder
nehmen diese neue Herausforderung an. Sie sind nach
unserer festen Überzeugung gut beraten, die neuen
Handlungsspielräume in Form von echter Freiheit und
Autonomie an ihre Hochschulen weiterzugeben.
({4})
Wir jedenfalls tun das.
Frau Künast, Sie haben eben die Autonomie der
Schulen eingefordert. Ich würde mich freuen, wenn Ihre
Partei zum Beispiel in meinem Bundesland auch die
Autonomie der Hochschulen so nachdrücklich unterstützen würde, wie Sie dies eben hier im Bundestag im
Hinblick auf die Schulen gefordert haben.
({5})
Niemand muss Angst vor Kleinstaaterei haben. Ein
gesunder Wettbewerbsföderalismus darf nicht mit kleinkarierter Kleinstaaterei gleichgesetzt werden. Es ist ein
Irrglaube, dass Probleme umso besser gelöst werden, je
zentralistischer die Zuständigkeiten angesiedelt sind.
({6})
Das gilt mit Blick auf die letzte Legislaturperiode
auch für die Wissenschaftspolitik. Einheitslösungen wie
etwa ein bundesweites Verbot von Studiengebühren - es
Dr. Andreas Pinkwart, Minister ({7})
ist beim Versuch geblieben; das ist nur ein Beispiel - haben Deutschland in Europa nicht wettbewerbsfähiger gemacht.
({8})
Freiheit ist aber nur eine Seite der Medaille. Hinreichende Finanzierung, Herr Tauss, ist die andere. Auch
wegen unzureichender und durch die Vorgängerregierung abgesenkter Bundesmittel besteht im Hochschulbereich ein enormer Sanierungsstau.
({9})
Hinzu kommen steigende Studierendenzahlen, die wir
nicht als Belastung, sondern als Chance für unser Land
begreifen sollten.
Eine besondere Bedeutung kommt deshalb dem
Hochschulbau zu. Dafür ist dreierlei notwendig: Erstens. Wir setzen uns für eine Garantie für eine dauerhafte
Zweckbindung der Bundesmittel in den jeweiligen Ländern ein.
({10})
Zweitens. Wir - darum bitte ich das ganze Haus sehr
herzlich - müssen im laufenden Gesetzgebungsverfahren darüber diskutieren, ob die bis 2013 vom Bund zur
Finanzierung vorgesehenen Baumittel mit Blick auf die
steigenden Studierendenzahlen tatsächlich sachgerecht
sind.
Drittens. Wir sollten noch einmal darüber nachdenken, ob die jetzt vorgesehene Verteilung der Mittel an
die Länder sachgerecht ist;
({11})
denn es kann nicht sein, dass die Länder, in denen
50 Prozent der Studierenden in Deutschland eingeschrieben sind, in Zukunft nur 30 Prozent der Bundesmittel erhalten sollen. Diese Regelung sollte man, wenn man den
Hochschulen wirklich helfen will, noch einmal überdenken.
({12})
Auf einem anderen Feld, bei der Forschungsförderung und der Finanzierung von Forschungsbauten und
Großgeräten von überregionaler Bedeutung, steht der
Bund weiter in der Pflicht. Frau Ministerin Schavan hat
angekündigt, dass sie die gemeinsamen Aufgaben in einem kollegialen Verhältnis zu den Ländern angehen will.
Sie hat den Ländern vorgeschlagen, einen Hochschulpakt 2020 zu schließen, der klären soll, wie Bund und
Länder auch künftig gemeinsam Verantwortung tragen
können. Die Gespräche dazu haben begonnen. Wir begrüßen dieses Vorgehen. Es ist ein richtiges Signal, wenn
wir den Hochschulen einerseits mehr Freiheit geben, sie
aber andererseits nicht im Stich lassen, wenn es darum
geht, Qualitätssicherung im Studium und bei der Forschung sicherzustellen.
({13})
Lassen Sie mich einen letzten Gedanken formulieren.
Eingangs habe ich von einem ersten Schritt in die richtige Richtung gesprochen. Die andere Seite der Medaille
der Neuordnung der Aufgaben ist, wenn man die Grundsystematik richtig versteht, die Neuordnung der Finanzbeziehungen. Deswegen begrüßt das Land NordrheinWestfalen ausdrücklich, dass vorgesehen ist, dem ersten
Schritt einen zweiten folgen zu lassen. Wir begrüßen es
außerordentlich, dass dies jetzt verbindlich und konkret
angegangen wird. Nur so kann die Bundesrepublik
Deutschland auch an dieser Stelle aus der organisierten
Unverantwortlichkeit herausfinden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Fritz Rudolf
Körper, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will
meinen Ausführungen ein Zitat von Johannes Rau voranstellen. Johannes Rau sagte einmal:
Die Demokratie lebt davon, dass für die Bürger klar
ist, wem sie auf Zeit welche Verantwortung übertragen haben und wer ihnen nach der Frist Rechenschaft schuldet.
Ich denke, dass wir diese Mahnung ganz besonders ernst
nehmen sollten, wenn wir über das Thema Föderalismusreform sprechen.
({0})
Bei diesem Reformvorhaben können wir auf Vorarbeiten der Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung zurückgreifen. Diese hatte eine
schöne Abkürzung, nämlich KoMbO. Tatsächlich glaube
ich, dass es bei diesen Fragen eher wie in einer Bigband
zugeht. Denn bei so vielen Beteiligten ist es in der Tat
nicht überraschend, dass es hier und da zu Misstönen
und Missstimmungen kommt. Diese müssen ausgeräumt
werden.
({1})
Deswegen ist die Kritik an unserem jetzt geplanten
Anhörungsverfahren unter der Federführung des
Rechtsausschusses völlig unangebracht. Diese Anhörung wird so strukturiert und organisiert, dass alle Expertenmeinungen und alle Fachpolitiken einbezogen
werden, und steht unter dem Motto: Es ist allemal besser, miteinander zu reden als übereinander; denn nur das
bringt gute Ergebnisse.
({2})
Ich appelliere an Sie, diese Beratungen nicht in Konfrontation, sondern im Geiste der Kooperation zwischen
der Bundesebene auf der einen Seite und der LänderFritz Rudolf Körper
ebene auf der anderen Seite anzugehen. Wenn wir nicht
verinnerlichen, dass wir Kooperation brauchen, werden
wir scheitern. Das wollen wir nicht und das können wir
uns nicht leisten.
({3})
Was bedeutet eigentlich Föderalismusreform? Ich
habe festgestellt, dass das von den Menschen im Land
häufig nicht richtig nachvollzogen werden kann. Bei der
Föderalismusreform geht es darum, dass wir Klarheit
und mehr Transparenz im Verhältnis zwischen Bund und
Ländern schaffen, und um eine stärkere Kompetenztrennung und -abgrenzung. Dass der eine oder andere Streitpunkt darüber entsteht, hängt mit der unterschiedlichen
Interessenvertretung zusammen.
Im Moment ist die Situation so, dass 16 Materien auf
die Länder übertragen werden. Das betrifft beispielsweise den umstrittenen Hochschulbereich, das Versammlungsrecht, das aus meiner Sicht überhaupt nicht
umstritten ist, und das öffentliche Dienstrecht. Auf der
anderen Seite werden dem Bund Bereiche übertragen
- ob man sich als Bundespolitiker darüber besonders
freuen kann, mag dahingestellt sein -, wie zum Beispiel
das Waffenrecht und das Atomrecht. Und es kommt
- was ganz erstaunlich ist - zu einer Kompetenzerweiterung des Bundeskriminalamtes im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Ich bin sehr froh, dass die
Länderebene dem zugestimmt hat. Denn das ist eine
Maßnahme, die der Herausforderung, gegen den internationalen Terrorismus effektiv und effizient vorzugehen,
gerecht wird.
({4})
Ich komme zur Zustimmung des Bundesrates zu Bundesgesetzen. Es ist ein wichtiges Ziel - und ich hoffe,
dass wir uns darin einig sind -, die Zustimmungsquote
erheblich zu reduzieren.
({5})
Wenn wir die Zustimmungsquote des Bundesrates um
mehr als die Hälfte reduzieren könnten, wäre das hervorragend.
({6})
Dass auch die klare Zuordnung der Finanzverantwortung
zwischen Bund und Ländern klar geregelt werden muss,
versteht sich von selbst.
({7})
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen: Wenn es
um Lösungen so genannter großer Probleme in unserem
Land geht, dann muss man bedenken, dass sich die Erwartungen der Menschen in unserem Land zuerst an die
Bundespolitik richten. Das ist die Gefühlslage. Das ist
die Erwartungshaltung. Mehr Arbeitsplätze, sichere
Renten oder eine moderne Familienpolitik erhofft man
sich zuerst aus Berlin und nicht aus der jeweiligen Landeshauptstadt.
({8})
Das kann man zwar bestreiten, aber ich glaube, die Erwartungshaltung ist so richtig beschrieben. Das ist mit
Sicherheit eine Folge der Globalisierung in vielen Lebensbereichen. Diese Erwartungshaltung entspricht aber
auch unserem Grundgesetz, das dem Bund eine maßgebliche Gesetzgebungskompetenz zuweist.
Allerdings steckt der Bund in einem ähnlichen Dilemma wie der Riese Gulliver: Gefesselt sind seine
Kräfte wirkungslos. Die Fessel ist hier und heute das Vetorecht des Bundesrates. Die Reform der bundesstaatlichen Ordnung muss ein klares Ziel verfolgen, nämlich
die Zahl der Bundesgesetze, denen der Bundesrat zustimmen muss, deutlich zu reduzieren.
({9})
Ein wichtiger und richtiger Schritt auf dem Weg zu
diesem Ziel ist die Änderung des Art. 84 des Grundgesetzes. Bislang muss sich der Bund entscheiden: Macht
er den Ländern Vorgaben für den Vollzug seiner Gesetze,
entsteht Zustimmungspflicht. Nur dann, wenn er sich jeder Verfahrensregelung enthält - wir haben in der vergangenen Zeit gesehen, wie man das macht -, kann er
ohne den Bundesrat handeln. Dieses Alles-oder-nichtsPrinzip wollen und müssen wir ändern. Abweichungsrecht statt Zustimmungspflicht lautet im Grunde genommen die neue Formel, die hier erfunden worden ist.
Künftig soll der Bund den Vollzug seiner Gesetze auch
ohne die Zustimmung des Bundesrates regeln können.
Allerdings dürfen die Länder von diesen Vorgaben abweichen.
Dazu sage ich mit Blick auf die Praxis: Ich bin zuversichtlich, dass auf Bundesebene so gute Gesetze gemacht werden, dass die Länder nur in seltenen Fällen
von der Möglichkeit der Abweichungsregelungen Gebrauch machen werden. Davon bin ich überzeugt.
({10})
Allerdings muss der Bund auch den Mut haben, auf die
Qualität seiner Regelungen zu vertrauen. Die Möglichkeit, eine Länderabweichung mit Zustimmung des Bundesrates auszuschließen, ist als Ausnahmefall konzipiert.
Sie sollte, wenn ich das richtig verstanden habe, nicht
zur Regel werden.
Wir müssen an einer anderen Stelle aber sehr aufpassen, damit wir unser Anliegen nicht zunichte machen,
beispielsweise bei Art. 104 a des Grundgesetzes. Künftig soll der Bundesrat ein Vetorecht bei allen Gesetzen
haben, die die Länder zu Geld- oder geldwerten Sachleistungen verpflichten. Das ist eine bedeutsame Ausweitung der gegenwärtigen Regelung, die mir ganz persönlich fast zu weitgehend erscheint.
({11})
Die Länder sollen mitreden, wenn ihnen erhebliche
Kosten zu entstehen drohen. Einverstanden. Braucht der
Bundesrat aber wirklich ein Vetorecht, wenn 99,9 Prozent einer Geldleistung vom Bund übernommen werden?
({12})
Wir sollten Obacht geben, dass wir hier keine neuen
Seile auslegen, mit denen der Bund gefesselt werden
kann.
({13})
Ich habe den Eindruck gewonnen, dass bei manch
einem noch Unklarheit darüber besteht, welche Konsequenzen praktischer Art sich aus der Föderalismusreform ergeben. Auf Länderseite gibt es zu manchen
Punkten ganz unterschiedliche Reaktionen und Kommentierungen. Was die einen freudig herbeisehnen, wird
von anderen mit gewisser Sorge betrachtet. Ich nehme
auf die Richter- und Beamtenbesoldung Bezug. Das
Grundgesetz kennt keinen asymmetrischen Föderalismus, bei dem einige Länder mehr Befugnisse haben als
andere. Das Grundgesetz kennt nur ein Entweder-Oder,
Bund oder Länder. Deshalb müssen sich alle Länder im
Klaren darüber sein, ob sie mehr Verantwortung wollen
und ob sie die neuen Lasten auch wirklich schultern können.
Das Ergebnis unserer Arbeit darf nicht zu einem
Scheinföderalismus führen
({14})
- klatscht doch später -,
({15})
der dazu führt, dass Gesetze in Düsseldorf oder München, also in den großen Bundesländern, gemacht werden und die kleinen Länder ihren Inhalt nur noch abschreiben.
({16})
Einige Länder hoffen zwar, von individuellen Regelungen anderer Länder profitieren zu können. Aber angesichts eines gesetzgeberischen Wettbewerbs, bei dem
ungleiche Startbedingungen herrschen, werden mit Sicherheit nicht alle eine faire Chance haben.
({17})
Wir haben die Pflicht und die Verpflichtung, für eine
sorgfältige und intensive Beratung im Deutschen Bundestag zu sorgen.
({18})
Das Föderalismuspaket ist nicht geeignet, mit verbundenen Augen und im Schweinsgalopp abgesandt zu werden. Deswegen werden wir es intensiv beraten und letztlich auch eine Reform hinbekommen.
Herzlichen Dank.
({19})
Ich erteile das Wort der Kollegin Inge Höger-Neuling,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Föderalismusreform könnte zum Unwort des Jahres werden,
({0})
nicht weil die Menschen im Lande diesen Begriff nicht
verstehen,
({1})
sondern weil das, was als Jahrhundertreform und als
Befreiung von der Selbstblockade angekündigt wird, in
Wahrheit ein Bürokratiemonster ist.
Sie verhindert eine einheitliche Bildungspolitik, eine
einheitliche Vorschulförderung und eine einheitliche
Hochschulpolitik. Es fehlt auch eine einheitliche Antwort auf die PISA-Studie. Sie macht effektiven Naturschutz und vernünftigen Hochwasserschutz unmöglich.
Wir brauchen endlich ein einheitliches Umweltrecht statt
eines neuen Kompetenzwirrwarrs. Man sollte doch glauben, dass es ihr Ziel war, für Entbürokratisierung und für
Verbesserungen für die Menschen zu sorgen. Herausgekommen sind allerdings massive Verschlechterungen für
viele.
Die Länder und Gemeinden haben sinkende Steuereinnahmen zu verzeichnen. Nun suchen nach Einsparmöglichkeiten und sehen diese erfahrungsgemäß nicht
bei Wirtschaftssubventionen oder beim Straßenbau, sondern eher in den Haushalten für Soziales und für Jugend.
Die Länder und Gemeinden geben dem Druck von
Firmen nach, die mit Arbeitsplatzverlagerungen drohen.
Die Zuständigkeit des Bundes stellte bisher häufig eine
Grenze dar. In Zukunft wird es einen Wettbewerb zwischen den Ländern - den sie ja alle befürworten - um
das schnellste Sozialdumping geben. Das ist der Inhalt
dieser Reform.
Das wird zum Beispiel die Menschen, die in Heimen
leben, betreffen, also Menschen mit Behinderungen,
Alte und chronisch Kranke. Das Heimrecht soll nun
Ländersache werden. Einzelne Bundesländer haben bereits angekündigt, ihre Pflegestandards zu senken und
den Pflegeschlüssel nach unten zu schrauben. Dabei waren es gerade die Missstände in den Heimen, die 1974
dazu geführt haben, dass das Heimrecht auf die Bundesebene übertragen wurde.
Die in diesem Bereich tätigen Vereine laufen dagegen
Sturm: Die Caritas, sehr geehrte Damen und Herren von
der CDU/CSU, die Arbeiterwohlfahrt, liebe Genossinnen und Genossen von der SPD, die VerbraucherzentraInge Höger-Neuling
len, werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
und wichtige private Träger von Pflegeheimen - das
sage ich an die Liberalen gerichtet -, alle protestieren
energisch gegen die Verlagerung der Zuständigkeit für
das Heimrecht auf die Länder.
({2})
Worum geht es diesen Verbänden? Wenn Eltern behinderter Kinder umziehen müssen, können sie sich in
Zukunft nicht mehr darauf verlassen, dass ihr Kind in einem anderen Bundesland ähnliche Bedingungen vorfindet. Angehörige pflegebedürftiger alter Menschen werden sich nicht mehr darauf verlassen können, dass an der
Ostseeküste bei der Heimpflege ähnliche Qualitätsstandards gelten wie in der Rhön.
({3})
Die Menschen, die beruflich Pflege organisieren,
müssen demnächst nicht nur vier Ausführungsverordnungen zum Heimgesetz kennen, sondern 4 mal 16, also
64. Die geplante Grundgesetzänderung würde also einen
enormen Zuwachs an Bürokratie - ja, einen Zuwachs bedeuten. Alle gegenteiligen Behauptungen sind schlicht
unwahr.
({4})
Betroffen sind auch Kinder und Jugendliche, die in
sozial benachteiligten Familien aufwachsen, in Familien,
die Hilfen von Jugendämtern in Anspruch nehmen müssen. Denn die geplante Grundgesetzänderung trifft auch
die Jugendämter. Bisher fungieren die örtlichen und die
Landesjugendämter als Berater von Familien, als Ansprechpartner für Frauen mit Unterhaltsproblemen, für
missbrauchte Mädchen, für belastete Jugendliche. Demnächst werden diese Ansprechpartner kaum noch ansprechbar sein. Denn wer glaubt im Ernst, dass die armen
Kommunen bzw. die Landesfinanzminister weiterhin Jugendämter vorhalten werden, die fachlich fundiert über
Hilfebedarf entscheiden können? Auch dies wird der
Sparwut und somit dem Sozialdumping zum Opfer fallen.
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden nicht
nur unmittelbar von der jetzt vorgesehenen vollständigen
Verlagerung der Zuständigkeit für das Dienstrecht auf
die Länder betroffen sein, sondern auch mittelbar. Künftig wird es einen Kostenwettbewerb zwischen den Ländern geben. Im sozialen und im Gesundheitssektor lassen
sich Kosten in der Regel aber nur durch Personalabbau
sparen. Das betrifft unter anderem die Hochschulkliniken, die nun von den Ländern anerkannt, gefördert, gesteuert werden sollen. Dadurch werden sie noch stärker
in den Wettbewerb mit anderen Krankenhäusern geraten.
Sie werden in einen Kostenwettbewerb gedrängt, der auf
dem Rücken der zurzeit streikenden Pflegekräfte ausgetragen wird.
({5})
Der Wettbewerb, der entsteht, wenn die Zulassung
von Arzneimitteln Ländersache wird, wird auch die Beschäftigten in der Pharmaindustrie treffen. Die Globalplayer werden die Länder künftig noch intensiver mit
dem Arbeitsplatzargument gegeneinander ausspielen
nach dem Motto: Erlaubt mir die Einleitung von Chemikalien in den Rhein oder wir verlagern den Betrieb.
Mit der vorgesehenen Grundgesetzänderung soll die
Bundeszuständigkeit für den sozialen Wohnungsbau und
das Wohngeld quasi abgeschafft werden. Das wird die
Leute treffen, die auf Wohngeld oder Sozialwohnungen
angewiesen sind.
Sie wollen Entscheidungen zu den Menschen bringen? Die Föderalismusreform bringt den Menschen
mehr Bürokratie, ein Wirrwarr von Verordnungen und
einen Abbau von Sozialstandards. Statt der Lösung dringender Probleme wie Erwerbslosigkeit oder Pflegebedürftigkeit wird auf dem Rücken der Betroffenen ein
Kuhhandel abgeschlossen. Als Mitglied der Fraktion Die
Linke kann ich diese Grundgesetzänderungen nur ablehnen; sie sind unsozial.
({6})
Frau Kollegin Höger, dies war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation und alles
Gute für Ihre Arbeit.
({0})
Ich erteile nun das Wort Kollegin Krista Sager, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich halte
es für ein sehr gutes Signal, dass Herr Struck hier deutlich gemacht hat, dass über diese Reform noch nicht das
letzte Wort gesprochen ist und dass es Veränderungen
geben wird. Das will ich ausdrücklich sagen.
({0})
Ich hoffe, dass er das heute nicht bloß gesagt hat, um
Kritiker in den eigenen Reihen kurzfristig zu beschwichtigen.
({1})
Wie sich andere diese Reform vorstellen, hat der Kollege Dr. Röttgen ja gestern aufgezeigt nach dem Motto:
Wir können jetzt nicht auf Einzelanliegen und Einzelinteressen schauen, wir müssen den Blick doch auf das
große Ganze richten. Wir können aber nicht einerseits in
Sonntagsreden immer wieder erklären, dass Bildung und
Wissenschaft zentral für die Zukunft dieses Landes sind,
({2})
und andererseits dann, wenn es um die Reform des Föderalismus geht, so tun, als seien das Eigeninteressen
von Einzelpersonen. Das passt einfach nicht zusammen.
({3})
Dass von Bildungs- und Wissenschaftsorganisationen massive Kritik kommt, müssen wir ernst nehmen.
Wir können uns falsche Weichenstellungen bei Bildung
und Wissenschaft nicht leisten. Das wäre mit dem „großen Ganzen“ vollkommen unvereinbar.
({4})
Es ist ja richtig, dass es schwer ist, eine Mehrheit für
eine Verfassungsänderung zusammenzubekommen. Aber
gerade wenn das schwer ist, können wir uns eine falsche
Weichenstellung für Bildung und Wissenschaft erst recht
nicht erlauben; sie würde uns über Jahrzehnte begleiten,
wir würden sie nicht wieder los.
({5})
Mit einem Kooperationsverbot für den Bund im Bereich Schulen und Hochschulen würden wir international einen absoluten Sonderweg einschlagen. Es gibt kein
föderatives System, in dem das so geregelt ist. Nirgends
ist es der Zentralebene verboten, für Schulen und Hochschulen Geld auszugeben. Das gibt es nicht einmal in
den USA und wir sollen so etwas einführen. Das ist an
Blödsinn kaum noch zu übertreffen.
({6})
Erzählen Sie den Menschen draußen im Lande doch einmal, dass dem Bund durch die Verfassung verboten werden soll, in Zukunft etwas für die Ganztagsschulen in
Deutschland zu tun. Das begreift wirklich kein Mensch.
({7})
Es muss einen doch wirklich misstrauisch stimmen,
dass die Ministerpräsidenten der großen Länder während
der Arbeit der Föderalismuskommission so tun - auch in
den letzten Tagen -, als könnten sie vor Kraft kaum noch
laufen und in Zukunft alles alleine machen, während der
erste Fachminister, der hier auftritt - er kommt nicht aus
einem kleinen, schwachen Land -,
({8})
schon einmal den herannahenden Katzenjammer aufscheinen lässt. Das haben wir hier erlebt und das muss
uns doch misstrauisch machen.
({9})
Wer den Bund bei der Bildung und der Wissenschaft
vor die Tür stellt, der tut das doch nicht nur auf Kosten
der schwachen Länder. Er tut das zwar ganz massiv auf
Kosten der schwachen Länder, aber er tut das vor allen
Dingen auch auf Kosten der jungen Menschen in diesem
Lande, einem Lande, in dem der Zusammenhang zwischen Bildung und sozialer Herkunft schon heute unerträglich ist.
({10})
Das würde dadurch noch schlimmer gemacht, was wir
nicht akzeptieren können.
({11})
Herr Burgbacher, Sie können es mir abnehmen - das
haben Sie auch erlebt -: Es geht nicht darum, den Ländern die Schulkompetenz streitig zu machen. Das hat
doch niemand getan. Wir müssen aber doch auch sehen,
dass es in anderen Ländern mehr Freiheit der Bildungseinrichtungen, mehr Wettbewerb um Qualität und mehr
Autonomie bei einem gemeinsamen Rahmen gibt. Diese
sind dabei besser gefahren als wir; denn sie haben bei
der PISA-Studie die besseren Ergebnisse erzielt. Das
müsste uns doch ein bisschen zum Nachdenken bringen.
({12})
Von vielen Zielen, die Sie in Ihrem Koalitionsvertrag
selbst formuliert haben - Sie wollen etwas für junge
Leute ohne Schulabschluss tun und die Studierendenquote erhöhen -, hat sich die Bildungsministerin im
Grunde doch schon längst verabschiedet. Dort wird sie
im Bund keine Rolle mehr spielen. Sie ist nur noch eine
Ministerin der warmen Worte für diese jungen Leute.
Nach dieser Reform wird sie dort nichts mehr tun können. Deswegen darf diese Reform so nicht kommen.
({13})
Wir als Grüne wollen eine Föderalismusreform. Wir
haben aber an den richtigen Stellen Nein gesagt, nämlich
bei Bildung, Umwelt und Strafvollzug. Dass der Gesetzentwurf jetzt unverändert vorgelegt wird, zeigt doch, wie
schlecht es für dieses Land ist, wenn der Einfluss der
Grünen zurückgeht.
({14})
Ich hoffe, dass gerade auch die Kollegen in der SPD
das, worüber wir uns im Dezember 2004 einig waren,
weiterhin ernst nehmen. Liebe Kollegen, ich sage Ihnen
eines: Den Stellenwert Ihrer Partei und den Stellenwert
von Gerechtigkeit und Wohlstandssicherung für alle
Menschen in diesem Lande wird man am Ende auch daran messen, ob Sie sich durch die Koalitionskarte niederbügeln lassen oder ob Sie hier noch Veränderungen vornehmen.
({15})
Ich erteile Kollegen Norbert Röttgen, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
häufigsten diskutieren wir Abgeordnete, wir Politiker
hier im Bundestag darüber, auf welche Veränderungen
und Reformen sich die Bürger einstellen müssen. Wir sagen den Bürgern: Ihr müsst euch ändern und reformbereit sein.
Diese Föderalismusreform ist eine Reform des Staates. Sie wird damit der Erwartung der Bürger gerecht
- alle sagen das: Bürger, Fraktionen und Parteien -, dass
sich nicht nur die Bürger ändern müssen, sondern dass
sich auch der Staat verändern muss. Er muss besser werden. Das ist der Anspruch, der mit dieser Reform verbunden wird.
({0})
Der Staat muss auf einem Gebiet besser werden, das
das Entscheidende, das Zentrum eines demokratischen
Gemeinwesens ist, nämlich in der Gesetzgebung. Bevor
wir wieder auf die Einzelheiten kommen: Was ist der
Ausgangspunkt? Was ist denn jahrelang zu Recht beklagt worden? Was ist die Misere? Ich finde es nicht
übertrieben, von einer Misere zu sprechen. Die Misere,
die wir erleben und erleiden, ist der Verlust an Entscheidungsfähigkeit des Staates. Das ist das Problem.
({1})
Auf dieses Problem richtet sich auch der Vorwurf der
Menschen. Wir reden relativ viel über Politikverdrossenheit und ich glaube, dass es dieses Phänomen gibt.
Ich bin auch davon überzeugt, dass dieses Phänomen,
diese Unzufriedenheit, einen zentralen Vorwurf an die
Politik beinhaltet: Ihr tut nicht das, was das Wichtigste
ist, das, wozu ihr da seid, nämlich Probleme zu lösen.
Dafür seid ihr gewählt und das tut ihr zu wenig. - Dieser
Vorwurf stimmt. Darum müssen wir etwas ändern.
({2})
Ich meine das natürlich nicht in quantitativer Hinsicht. Es werden im Bund permanent Entscheidungen
getroffen und Gesetze produziert. Aber es geht um den
Verlust von Problemlösungsfähigkeit. Mit diesem Vorwurf sind wir alle, die wir hier im Parlament Verantwortung tragen, konfrontiert. Für diese Unzulänglichkeit, für
diese Misere - ich will das Kind beim Namen nennen gibt es viele Gründe. Aber es gibt einen ganz wichtigen
Grund, und zwar die Frage, wie wir das Verhältnis zwischen Bund und Ländern organisiert haben. Es geht
darum, dass wir das Zusammenwirken von Bund und
Ländern, die Verantwortung beider Ebenen, in ein System der Vermischung von Verantwortung über fast
alle staatlichen Aktivitäten verwandelt haben: Vermischung bei der Gesetzgebung, Vermischung bei der Finanzierung und Vermischung bei der Verwaltung des
Staates.
({3})
Wir haben erlebt, dass Vermischung von Verantwortung im Ergebnis nur eines bewirkt und bedeutet, nämlich Auflösung von Verantwortung. Darum ist die Föderalismusreform eine Reform, die dort ansetzt, wo es
um die Wiederherstellung der Verantwortung im Staate
geht. Bevor wir auf Einzelheiten zu sprechen kommen,
bevor wir über Gaststättenrecht und viele andere wichtige Themen und Einzelfacetten dieser Reform debattieren - was notwendig ist -, darf aber das Kernanliegen
dieser Reform nicht untergehen. Ich will es deshalb noch
einmal sagen: Der Kern dieses Reformanliegens ist die
Wiederherstellung staatlicher Entscheidungsfähigkeit, die Wiederherstellung der Erkennbarkeit politischer Verantwortung. Das ist das zentrale staatspolitische Anliegen dieser Reform. Das ist der Maßstab.
({4})
Es gibt zwei Lebenselemente einer parlamentarischen Demokratie. Das eine ist Vertrauen, das andere
ist Verantwortung. Wir brauchen wieder Klarheit in der
Verantwortung, Klarheit in der Möglichkeit, zu entscheiden, die dann mit der Möglichkeit der Bürger korrespondiert, sich ihr eigenes Urteil darüber zu bilden, wie die
Politik entschieden hat, und dieses Urteil bei Wahlen auszudrücken. Das ist der Anspruch. Für diesen Anspruch
gibt es ein Leitmotiv. In der Umsetzung des Prinzips Verantwortung heißt dieses Leitmotiv: Verhinderungsmacht
im Staat abbauen, Gestaltungsmacht aufbauen.
({5})
Politik darf nicht mehr verhindern wollen, sondern muss
den Anspruch haben, zu gestalten. Worin drückt sich
dies konkret und in den Schwerpunkten aus? Ich möchte
einige der Punkte benennen.
Zunächst will ich unterstreichen, was das große Ziel
ist, nämlich die Zahl der zustimmungsbedürftigen Gesetze in der Bundesgesetzgebung zu vermindern. Inzwischen ist es so, dass über 60 Prozent der Gesetze, die
hier im Bundestag verabschiedet werden, nicht mehr
ohne die Zustimmung auch des Bundesrates in Kraft treten können. Wir und auch die Bürger können nicht wollen, dass die Mehrheit, die auf Zeit legitimiert wurde, am
Ende nicht entscheiden kann. Das höhlt das Wahlrecht
aus.
({6})
Wir werden mit dieser Reform die Zahl der zustimmungsbedürftigen Gesetze - das ist das Ergebnis einer
Bewertung dieser Reform, bezogen auf die Gesetzgebung der letzten Legislaturperiode; das ist recherchiert
worden - um ein Drittel reduzieren. Ein Drittel weniger
Zustimmungsgesetze, das ist ein enormer Zugewinn für
die legitime Durchsetzungskraft der gewählten Mehrheit. Was dies bedeutet, können wir als Bundestag nicht
hoch genug einschätzen. Wir werden damit in Deutschland die Art, Politik zu machen, verändern. Die Politik
hat dann wieder die Chance, Strukturentscheidungen zu
treffen. Diese sind oft noch nicht getroffen worden.
Stattdessen werden permanent Reparaturentscheidungen getroffen.
({7})
Es ist ein Unding, dass der Vermittlungsausschuss
die Reparaturkammer der deutschen Politik ist.
({8})
Das darf nicht so weitergehen, weil es letztlich alle entmündigt. Es ist ein intransparentes Gremium, durch das
alle Mitglieder des Bundestages entmündigt werden,
weil sie dessen Ergebnisse letztlich nur noch ablehnen
oder ihnen zustimmen können; sie können kein Komma
mehr ändern. Wir alle als Abgeordnete werden entmündigt.
Auch die Bürgerinnen und Bürger werden entmündigt, weil sie bei diesem geheim tagenden Gesetzgebungsorgan - in einem demokratischen Staat wird unter
Ausschluss der Öffentlichkeit Politik gemacht; das muss
man sich einmal vorstellen - nicht mehr erkennen können, wer für die Politik verantwortlich ist. Wenn die Bürger die Verantwortlichkeiten nicht mehr erkennen können, dann entmündigen wir sie. Insofern bedeutet unser
Vorhaben einen riesigen Fortschritt.
Fortschritte gibt es auch an anderer Stelle, etwa bei
der konkurrierenden Gesetzgebung. Nur noch in elf
von 33 Fällen ist der Erforderlichkeitsnachweis für die
Bundesgesetzgebung notwendig. Wir schaffen mit der
Rahmengesetzgebung eine ganze Gesetzgebungskategorie ab. Das ist gut und richtig,
({9})
weil die Rahmengesetzgebung sozusagen als Gesetzgebungstypus auf die Vermischung von Bundes- und Landespolitik angelegt ist. Wir teilen die damit verbundenen
Kompetenzen zwischen Bund und Ländern auf; einiges
geht an den Bund, anderes an die Länder.
Nebenbei bemerkt - die Reform ist noch nicht beschlossen; darum sollte man vorsichtig sein -: Der Bund
ist der eindeutige Gewinner. Denn nach der Grundgesetzänderung 1994 und der anschließenden Rechtsprechung hat der Bund nur noch sehr geringe Gesetzgebungskompetenzen in der Rahmengesetzgebung. Wir
haben auf diesem Gebiet kaum noch Kompetenzen, können also kaum etwas verlieren, gewinnen jetzt aber
Kompetenzen hinzu.
Wir verlieren übrigens nicht die Möglichkeit der
Hochschulförderung, Frau Kollegin Sager.
({10})
- Bitte beschäftigen Sie sich mit den Sachverhalten! Das
ist definitiv falsch. Der Bund wird weiter Hochschulförderprogramme durchführen. Das ist auch nötig.
Wir werden in der Umweltpolitik etwas realisieren,
was seit vielen Jahren gefordert wird. Es wird ein einheitliches Umweltgesetzbuch geben.
({11})
Erstmalig wird die Möglichkeit bestehen, einheitliche
Standards in diesem Bereich zu schaffen.
Es ist eine Legende, dass die Länder von allem abweichen können. Das ist selbstverständlich nicht der Fall.
Der Bund behält ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen in diesem Bereich. Die Länder können insoweit
keine abweichenden Regelungen treffen. Der Bund behält konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeiten. Auch
da ist den Ländern kein Abweichen möglich. Nur in dem
marginalen kleinen Bereich, in dem die Rahmengesetzgebung bisher beim Bund lag - die Gesetzgebungskompetenz war eingeschränkt; er konnte lediglich die Grundsätze bestimmen -, erhält er jetzt die volle Kompetenz.
Die Länder können abweichende Regelungen treffen,
aber nur in den Bereichen, die ihnen vorgegeben werden.
Der Bund ist deshalb der Gewinner der Reform. Wir
können wieder Politik für das ganze Land machen.
({12})
Ich will einen letzten Gesichtspunkt ansprechen. Die
Reform ist ein Kompromiss - darin liegt das Wesen der
Verfassungsgesetzgebung -, der im Konsens entstanden
ist. Dabei gibt es fast nur Gewinner. Der Bundestag ist
ein Gewinner - ich habe bereits versucht, das zu erläutern -, weil er seine durch Wahlen erhaltene Legitimation umsetzen kann. Die Landtage werden Gewinner
sein, weil sie eigene Gestaltungskompetenzen erhalten.
Die Ministerpräsidenten sind keine Gewinner der Reform. Der Bundesrat gibt Kompetenzen an den Bundestag und die Landtage ab. Es ist doch ein demokratischer
Gewinn, wenn Zuständigkeiten von der Exekutive zur
Legislative verlagert werden. Ein solches Vorhaben kann
man doch nur befürworten.
({13})
Auch die Bürger sind die Gewinner, weil der Staat entscheiden kann und sie die entsprechende Politik besser
beurteilen können.
Alle, die das Thema unter dem Gesichtspunkt der
staatspolitischen Verantwortung angehen, werden sich
an den Beratungen im Gesetzungsgebungsverfahren beteiligen; aber letztlich können sie sich der praktischen
Alternative nicht entziehen, die dem schlechten Status
quo vorzuziehen ist.
Die Grünen haben dem Vorhaben schon einmal zugestimmt. Erinnern Sie sich an die Verantwortung, die Sie
damals wahrgenommen haben!
({14})
Dass die Grünen in diesem Land nichts mehr zu sagen
haben, liegt daran, dass die Bürger das in Wahlen so entschieden haben. Je schwächer Ihre taktischen Argumente
werden, meine Damen und Herren von den Grünen,
desto weniger werden Sie in Zukunft in Deutschland zu
sagen haben.
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Guido
Westerwelle, FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich will zunächst einmal eines klarstellen und
dabei an das anknüpfen, was Kollege Röttgen gesagt hat:
Es ist kein Anliegen einer Partei; es ist auch kein Anliegen einer großen Koalition oder einer rot-schwarzen Regierung, vielmehr muss es das Anliegen der gesamten
deutschen Politik sein, dass die Effizienz unseres
Staatswesens wieder besser wird.
({0})
Es handelt sich hier nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Opposition und Regierung, sondern die
Auseinandersetzung geht quer durch alle Fraktionen und
dreht sich um die Frage: Wie kann unser Staatswesen
schneller werden? Wie kann es entflochten werden? Wie
wird es weniger bürokratisch? Wie kann die Qualität unserer Entscheidungen besser werden? Wie kann der Staat
besser werden? Das - und kein parteipolitisches Hin und
Her - muss der Maßstab bei diesen Beratungen sein.
Denn diejenigen, die im Bundestag gegeneinander aufgestellt sind, auf der einen Seite die Regierungsbank und
auf der anderen Seite wir als Teil der Opposition, treffen
sich ja spätestens im Bundesrat wieder. Sie wissen, dass
Sie eine Föderalismusreform nicht durchsetzen können,
ohne dass die von der FDP mit regierten Bundesländer
zustimmen, weil ansonsten keine verfassungsändernde
Mehrheit möglich ist.
Deswegen will ich vorab ausdrücklich würdigen: Es
hat zu allen Zeiten, vor allen Dingen in der Zeit der Regierungsbildung, immer wieder Abstimmungsgespräche
gegeben und die Bundesregierung hat sich immer wieder
bemüht, jedenfalls die FDP als liberale Oppositionspartei in die Gespräche und die Beratungen mit einzubeziehen.
({1})
Nachdem ich das gesagt habe, will ich aber auch das
Folgende anführen: Es ist natürlich notwendig, dass wir,
nachdem wir hier miteinander demokratisch gut und fair
umgegangen sind, das auch in Zukunft tun. Das, was Sie
gestern veranstaltet haben, nämlich die normalen parlamentarischen Beratungen faktisch zu beenden, steht in
großem Widerspruch zu dem, was heute Vormittag hier
von Herrn Kauder und von Herrn Struck gesagt worden
ist. Das muss man an dieser Stelle ganz klar betonen.
({2})
Das Problem dabei ist: Für die Sache, um die es geht,
leisten Sie einen Bärendienst, wenn Sie eine gute, demokratisch faire Beratung in diesem Haus unterdrücken.
Sie wollen eine Massenanhörung durchführen und die
Fachausschüsse ausschalten.
({3})
Damit bewirken Sie in Wahrheit nur eines:
({4})
Sie wiegeln diejenigen, die eigentlich gutwillig sind, auf,
dagegen zu sein. Wir sind konstruktiv; wir wollen mitwirken. Wir kennen unsere Verantwortung: Es geht um
Deutschland als Ganzes, aber es geht auch darum, dass
auch Abgeordnete der Opposition ihre Anliegen vortragen können und nicht nur dann, wenn aus Ihren eigenen
Reihen entsprechende Anregungen kommen.
({5})
Nun sagt Herr Kollege Stoiber, das sei die „Mutter aller Reformen“; Frau Bundeskanzlerin Merkel sagt, so etwas könne nur eine große Koalition zustande bringen.
Warten wir einmal ab, was daraus wird! Wir haben die
Reden heute ja gehört. Herr Kollege Struck hat beispielsweise wörtlich gesagt: Das Ergebnis ist offen. Das ist ja bemerkenswert. Wenn das Ergebnis so offen
ist, dann verstehe ich nicht, warum Sie uns die ganze
Zeit mit der Bemerkung unter Druck setzen wollen, das
Paket sei geschnürt, daran dürfe jetzt auch nicht mehr
gerüttelt werden.
({6})
Entweder ist das Paket geschnürt, Herr Kollege Kauder,
oder, Herr Kollege Struck, das Ergebnis ist offen.
({7})
Wir werden schon miteinander darüber reden müssen.
Jetzt will ich zur Sache selbst kommen. Es ist auch
notwendig, dass man dazu einige Bemerkungen macht.
Gewinner einer Föderalismusreform ist doch nicht der
Bundestag, ist doch nicht die Bundesregierung, ist doch
nicht eine Landesregierung und ist auch nicht ein Landtag; Gewinner einer Föderalismusreform sind die Bürgerinnen und Bürger.
({8})
Das ist der einzige Maßstab, den wir in dieser Debatte
anlegen sollten.
({9})
Es geht nicht darum, ob wir oder andere mehr Rechte haben werden; es geht darum, ob die Deutschen etwas von
dieser Reform haben.
Der Zustand unserer Verfassung heute ergibt sich teilweise aus dem, was von der großen Koalition Mitte der
60er-Jahre fehlerhaft gemacht wurde; das wollen wir dabei kurz festhalten.
({10})
Es ist richtig, dass die heutige große Koalition das wieder in Ordnung bringt, was die andere große Koalition
damals „versaubeutelt“ hat. Das kann man hier auch offen ansprechen.
({11})
- Da ist wohl was dran. Sie stimmen dem ja zu; Sie wissen das als Jurist ja auch.
Das Entscheidende ist aber: Derzeit haben wir eine
völlig verquere Verantwortungslage der Politik. Nur
wenn die Bürger sehen können, dass ihnen diese oder
jene Maßnahme von einer Landesregierung oder von der
Bundesregierung eingebrockt worden ist, können sie die
Regierenden wirklich zur Verantwortung ziehen. Deswegen liegt die Trennung der verschiedenen Ebenen zuallererst im Interesse der Bürger.
({12})
Das zählt für die Freien Demokraten.
({13})
Da meine Redezeit in Kürze zu Ende ist, möchte ich
noch Folgendes sagen: Wir legen Wert darauf, dass das
eingehalten wird, was in dem Gespräch, das in Ihrem
Haus stattgefunden hat, Frau Bundeskanzlerin, zwischen
Ihnen und Herrn Müntefering vereinbart worden ist.
Darauf hat auch Herr Professor Pinkwart als stellvertretender Ministerpräsident hingewiesen. Das, worüber
heute hier diskutiert wird, ist ein kleiner Schritt. Es ist
ein Schritt in die richtige Richtung, soweit es um die
Entflechtung der Staatsverantwortungen geht. Es muss
aber wie vereinbart auch der zweite Schritt gemacht werden. Sie haben zugesagt, dass auch die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern neu geordnet werden. Wir verlangen, dass Sie Ihr Wort halten. Nur dann
können Sie erwarten, dass auch wir, die Opposition, konstruktiv mitwirken. Das muss an dieser Stelle klar gesagt
werden.
({14})
Die Qualität hängt - auch in der Bildungspolitik weniger davon ab, welche staatliche Ebene zuständig ist.
({15})
Sie hängt vielmehr in erster Linie davon ab, welche Politik tatsächlich gemacht wird. Deswegen richtet sich unser Maßstab nicht nach der Frage, welche politische
Ebene zuständig ist, sondern danach, dass die Bildungseinrichtungen wieder mehr Autonomie haben. Die Zuständigkeit des Bundes garantiert noch lange nicht, dass
die Qualität zunimmt, ebenso wenig die KMK, die sich
bislang nicht als Qualitätsgarant erwiesen hat. Entscheidend ist, dass wir Wettbewerb bekommen. Wer den
Wettbewerb fürchtet, der fürchtet in Wahrheit die Qualität. Das ist in meinen Augen falsch.
({16})
Das Wort hat der Kollege Klaus Uwe Benneter, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Herr Westerwelle hat Recht: Es
kommt in erster Linie darauf an, welche Politik gemacht
wird, nicht darauf, wer in welchen Verästelungen dafür
zuständig ist. Aber wir müssen feststellen, dass es dem
Bürger heute nicht mehr ohne weiteres möglich ist, zu
erkennen, wer Verantwortung für welchen Bereich und
für welche Ergebnisse trägt. Der Kollege Röttgen hat
gerade sehr eingehend dargestellt, wie in Geheimdiplomatie und eigentlich entgegen allen Grundsätzen einer
parlamentarischen Demokratie Ergebnisse im Vermittlungsausschuss erzielt werden, die von uns allen hinzunehmen sind, ob wir wollen oder nicht. Das ist die gegenwärtige Situation. Insofern sind wir uns alle darüber
einig: Deutschland braucht neue Verfassungsbestimmungen. In allen Diskussionen, die - seit Ende 2003 konzentriert - über das Thema Föderalismusreform in Deutschland geführt wurden, habe ich niemanden gehört, der
dies infrage stellt. Jeder betont zwar, dass das Grundgesetz die beste Verfassung ist, die wir jemals in der deutschen Geschichte hatten. Jeder sagt aber auch, dass nach
bald 60 Jahren eine Reform des Zusammenspiels zwischen Bund und Ländern dringend notwendig geworden
ist.
Nun haben die Koalitionsfraktionen einen detaillierten Gesetzentwurf eingebracht, den auch die Ministerpräsidenten im Bundesrat auf den weiteren parlamentarischen Weg gebracht haben. Aber nach Ansicht vieler
Kritiker bringt dieser Gesetzentwurf weder das, was
Deutschland bräuchte, noch das, was die Deutschen
wollten. Diesen Kritikern kann ich nur entgegenhalten:
Wir haben bei diesem Reformwerk kein leeres Blatt vor
uns. Wir stehen nicht auf der grünen Wiese, auf der wir
von neuem anfangen könnten.
Wir haben eng beschriebene Seiten, was die bundesstaatliche Ordnung angeht, und können diese nicht,
selbst wenn wir das wollten, mit einem Federstrich wegwischen. Wenn die PDS postuliert, man könne dies einfach wegwischen und neu anfangen, dann habe ich dafür
noch halbwegs Verständnis; aber wenn Sie, Frau Sager,
und die Grünen sich auf diesen Standpunkt stellen, dann
fehlt mir dafür das Verständnis.
Hans Eichel, als ehemaliger hessischer Ministerpräsident und ehemaliger Bundesminister ein ganz profunder
Kenner der Materie, um die es hier geht, hat als angeblichen Geburtsfehler dieser Reform ausgemacht, dass am
Anfang nicht die Frage stand, was Deutschland und die
Menschen im 21. Jahrhundert brauchen, sondern die
Frage: Was gibst du mir, wenn ich dir etwas abgebe? Das war, wenn man so will, die Frage am Anfang. Ich
teile die Einschätzung von Hans Eichel, aber ich muss
diese Erkenntnis als blutleer und blass bezeichnen; denn
wer Deutschlands Verfassung heute handhabbarer und
damit zukunftsfähiger machen will, der muss von dem
ausgehen, was sich mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenspiel von Bund und Ländern
entwickelt hat. Es reicht nicht, immer nur Erwartungen
zu benennen und Befürchtungen zu äußern. Das wird
uns nicht zu Lösungen bringen. Wer gestalten will, darf
sich keine Scheuklappen anlegen und darf sich nicht nur
an dem Wünschbaren orientieren. Wer gestalten will,
muss alle mitwirkenden und einwirkenden Kräfte einbeziehen, auch wenn sie sich heute hier nicht sehen lassen.
Wer gestalten will, der muss auch berücksichtigen, was
denn wäre, wenn alles beim Alten bliebe.
({0})
Was würde denn passieren, wenn man nichts ändern
würde? Sie haben von falschen Weichenstellungen gesprochen. Am Beispiel des Hochschulrahmenrechts
hat das Bundesverfassungsgericht klar entschieden, dass
der Bundestag überhaupt nur noch dann ein Gesetz beschließen darf, wenn durch unterschiedliches Recht in
den Ländern eine Gefahrenlage entsteht und sich die
Lebensverhältnisse zwischen den Ländern in einer unerträglichen Weise auseinander entwickeln. Das ist die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dazu.
Die Beweislast, ob es zu einer unerträglichen Auseinanderentwicklung kommt und Gefahrenlagen geschaffen
werden, trägt der Bundestag. Das betrifft den gesamten
Katalog der konkurrierenden Gesetzgebung in Art. 74
des Grundgesetzes und alles, was zur Rahmengesetzgebung in Art. 75 steht. Das betrifft den Kündigungsschutz
genauso wie den Naturschutz. Das ist der gesamte Katalog. - Herr Ramelow, Sie unterhalten sich gerade.
({1})
Sie befürchten die Atomisierung des Arbeitsrechts. Die
müssen Sie dann befürchten, wenn Sie alles so weiter
laufen lassen wie bisher. Das, was ich gerade gesagt
habe, betrifft nämlich auch das ganze Arbeitsrecht in der
Bundesrepublik.
({2})
Nicht nur alle neuen Gesetze, auch alle Gesetze dieser
Materien, die der Deutsche Bundestag seit 1994, nämlich dem Zeitpunkt der Verfassungsänderung zu
Art. 72 Abs. 2, verabschiedet hat, könnten die Länder
nach geltender Lage vor dem Bundesverfassungsgericht
kippen. Das betrifft auch andere einheitliche Voraussetzungen, zum Beispiel den Schutz von wild lebenden Tieren und Pflanzen in Naturschutzgebieten. Das alles kann
angefochten werden. Das ist bisher nicht erfolgt. Bisher
wissen wir nur, dass die Länder erfolgreich gegen das
Hochschulrahmengesetz des Bundes vorgegangen sind.
Das betraf die Studiengebühren und die Juniorprofessuren. Das ist aber auch bei der Abfallbeseitigung, bei der
Luftreinhaltung, beim Lärmschutz, beim Naturschutz
und bei den Bundeswassergesetzen möglich. Dann
würde von einem bundesweit geltenden Umweltschutz
überhaupt nichts mehr übrig bleiben. Auch das müssen
Sie den Menschen draußen einmal erklären. Das ist die
heutige Rechts- und Verfassungslage!
({3})
Richtig ist, dass in Art. 31 des Grundgesetzes steht:
Bundesrecht bricht Landesrecht.
Aber dort, wo es kein Bundesrecht gibt - auch das muss
sich jeder bewusst machen -, kann kein Landesrecht von
Bundesrecht gebrochen werden. Das war ein Grund dafür, warum wir uns hier etwas Neues einfallen lassen
mussten. Ein Ergebnis ist, dass der Bundestag bis zum
Jahre 2009 endlich das lang ersehnte komplette Umweltgesetzbuch einschließlich einer integrierten Vorhabensgenehmigung für alle Umweltmedien bundesweit vorgeben kann. Dieser große Erfolg wurde gerade im
Umweltbereich erzielt. Ich bitte darum, das einfach einmal zur Kenntnis zu nehmen. Wenn ein Landesparlament davon abweichen will, dann kann es das zwar
grundsätzlich tun, muss es aber landespolitisch verantworten und umsetzen.
Die EU-Umweltrichtlinien verhindern im Übrigen
Ökodumping. Hinzu kommt, dass in den wichtigsten Bereichen des wirtschaftsrelevanten Umweltrechts - dort
ist die Gefahr eines Ökodumpings besonders groß nicht abgewichen werden darf. Auch das sollten Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen. Wer jetzt gegen die
Abweichungsmöglichkeiten der Länder wettert, der
muss wissen: Wenn alles beim Alten bliebe, könnte der
Bundestag in der Zukunft fast im gesamten Umweltbereich gar nichts mehr regeln.
Was Herrn Westerwelle und seinen Hinweis auf die
Finanzverfassung angeht: Das ist der FDP zugesagt.
Die Kanzlerin hat vorhin heftig genickt. Die nächste
Stufe, die Beratung der Finanzbeziehungen von Bund
und Ländern, wird zügig in Angriff genommen. Das geschieht aber nicht, um in der Bundesrepublik Deutschland einen Wettbewerbsföderalismus durchzusetzen,
sondern um gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz
Deutschland zu gewährleisten. Wir möchten diesem
Ziel, auch was die Finanzbeziehungen angeht, näher
kommen.
({4})
Im weiteren Verfahren werden wir für mehr Klärung sorgen.
Wir werden auch klären, was der neue, im Hinblick
auf kostenbelastende Gesetze eingeführte Zustimmungstatbestand bringt. Nach dem Urteil von Verfassungsexperten ist das zumindest unklar, sodass man
noch einmal ganz genau prüfen muss, ob die angestrebte
Reduzierung der Anzahl der zustimmungspflichtigen
Gesetze tatsächlich gelingt.
Der Kollege Röttgen hat natürlich vollkommen
Recht: Eines der wichtigsten Ziele dieser Reform ist es,
für klar getrennte Zuständigkeiten und für klar getrennte
Aufgabenbereiche zu sorgen, sodass wir hier im Bundestag wirklich bundespolitische Entscheidungen treffen
können. Wenn die Reduzierung der Zustimmungstatbestände nicht gelänge, dann verlöre diese Reform mit Sicherheit einen wesentlichen Teil ihrer ursprünglichen
Zielstellung. Herr Röttgen, in der Tat: Der Staat muss
besser werden.
Wir müssen sicher auch über das Kooperationsverbot von Bund und Ländern im Bereich der ausschließlichen Landesgesetzgebung nachdenken. Das ist hier
schon mehrfach angesprochen worden. Wie ist der
Strafvollzug auf die Liste gekommen? Das liegt zum einen daran, dass der Bund keine Gefängnisse hat und
auch in der Zukunft keine braucht. Das hoffe ich jedenfalls. Jetzt geht es aber darum, dass wir beim Strafvollzug keine völlig neuen Orientierungen - weg von der
Resozialisierung - in der Bundesrepublik Deutschland
zulassen. Wir sind das unseren früheren Justizministern
Gustav Heinemann, Hans-Jochen Vogel und wie sie alle
heißen, aber auch der Menschenwürde in Deutschland
schuldig.
({5})
Strafvollzug hat etwas mit Menschenwürde zu tun. Dies
darf also kein Auftakt für einen weiteren Versuch sein,
beim Strafvollzug nicht mehr die Resozialisierung in
den Mittelpunkt zu stellen, sondern den Rachegedanken.
Für uns gilt: Hier gibt es kein Niederbügeln. Frau
Künast, wir schlucken nicht einfach, was uns vorgesetzt
wird, sondern wir schmecken gut ab und achten dabei
auch darauf, dass wir uns nicht die Zunge verbrennen.
Aber wir nehmen unsere Gestaltungsverantwortung
wahr und wir nehmen diese Verantwortung auch als eine
Gestaltungschance ernst.Dies setzt voraus, dass wir eben
nicht nur an das Wünschbare, sondern auch an die erforderlichen Mehrheiten denken.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es fügt sich ganz gut, dass ich im Anschluss an die Kollegen Röttgen und Benneter rede. Herr Röttgen hat die
These vertreten, die klare Zuweisung von Verantwortung
sei der zentrale staatspolitische Anspruch dieser Reform.
Sowohl Herr Röttgen als auch Herr Benneter haben die
geplante Föderalismusreform also mehr oder weniger als
einen Segen für die Umweltpolitik bezeichnet. Ich will
dieser These im Folgenden nachgehen und prüfen, ob sie
zutreffend ist.
Im Bereich des Umweltschutzes klagen wir seit langem darüber - das ist ganz gewiss wahr -, dass das
Recht völlig zersplittert ist. Dieser Flickenteppich ist
nicht mehr zeitgemäß, nicht mehr sachgerecht, nicht
mehr europarechtstauglich und vor allem nicht mehr
überschaubar. Heute besteht im Rahmen des Grundgesetzes folgende Rechtslage: Auf der einen Seite gibt es
den Kompetenztyp der konkurrierenden Gesetzgebung
mit Erforderlichkeitsklausel bei Abfall, Luftreinhaltung
und Lärmbekämpfung. Zum anderen gibt es die Kategorie des Rechts Wasser, Naturschutz, Landschaftspflege,
Jagd und Raumordnung in der Rahmengesetzgebung des
Bundes, die von den Ländern ausgefüllt werden kann.
Bisher gibt es also zwei Kompetenztypen. Was wir
schon bisher als Kompetenzwirrwarr angesehen haben,
ist so problematisch, dass sich die gesamte umwelt- und
rechtswissenschaftliche Fachwelt darüber einig ist: Wir
brauchen eine Reform dieses Systems. Darüber besteht
ganz klar Einvernehmen.
Woran soll sich die Neugestaltung ausrichten? Sie soll
sich an den Herausforderungen einer modernen Umweltpolitik orientieren, sie soll eine Kompetenzentflechtung
entlang der Sachaufgaben vornehmen, sie soll europarechtstauglich sein und sie soll die Grundlagen für ein
Umweltgesetzbuch schaffen.
Wenn man sich vor diesem Hintergrund das anschaut,
was die große Koalition vorgelegt hat, dann kann man
wirklich sagen - ich werde das gleich auch begründen -:
Es wird nicht besser, sondern es wird schlechter. Es wird
nicht einfacher, sondern es wird komplizierter. Was Sie
vorlegen, ist kein Beitrag zur Konfliktvermeidung, sondern bewirkt zusätzliche Konflikte, die letzten Endes
- das prognostizieren wir - sogar vor dem Verfassungsgericht landen werden.
Die Vorschläge gehen in die Irre. Das will ich an drei
Beispielen ganz besonders deutlich machen:
Erstens. Die vorgesehene Kompetenzordnung ist absolut unsystematisch. Statt zwei werden wir in Zukunft
- Herr Benneter, das wissen Sie - fünf Kompetenzzuordnungstypen haben: die ausschließliche Bundeskompetenz, die konkurrierende Gesetzgebung mit
Erforderlichkeitsklausel, ohne Erforderlichkeitsklausel,
mit Abweichungsbefugnissen für die Länder und die
ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder.
Das sind statt zwei fünf Kategorien.
({0})
Da kann einem schon schwindelig werden. Deswegen
möchte ich Herrn Röttgen gern fragen: Ist das wirklich
ein Beitrag zur Erreichung einer klaren Zuweisung von
Kompetenzen? Ich würde sagen: Das ist eher ein Beschäftigungsprogramm für Juristen und gewiss kein Beitrag zum Abbau von Bürokratie.
({1})
- Nein, keineswegs. Ich kann ja verstehen, dass Herr
Röttgen und Sie für den Berufsstand der Juristen werben; das ist durchaus legitim.
Ich kann noch eine andere Stimme anführen. Der Geschäftsführer Dierk Müller von der Amerikanischen
Handelskammer in Deutschland sagt auf der Grundlage
Ihrer Pläne:
Jeder macht, was er will - und der Investor weiß
nicht, was er tun soll.
Das bringt die Sache ziemlich gut auf den Punkt.
({2})
Der zweite Aspekt. Mit den exzessiven Abweichungsmöglichkeiten, die Sie für die Länder im Naturschutz, im Gewässerschutz und in der Raumordnung
schaffen, leiten Sie - das können Sie definitiv nicht wegreden - einen Wettbewerb um niedrigste Umweltstandards ein. Das wäre fatal und muss deshalb dringend
unterbleiben. Vor allem passt es überhaupt nicht zusammen, wenn die Umweltverwaltungen in den Ländern,
beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen abgebaut werden, für diese aber
jetzt zusätzliche Kompetenzen reklamiert werden. Die
Abweichungsmöglichkeiten der Länder sind also ein fataler Irrweg.
Vor allem ist Ihre Begründung wirklich hanebüchen.
Sie sagen, es gäbe regionale Unterschiede und deswegen
dürfe abgewichen werden. Es ist doch klar, dass Naturschutz im Alpenraum etwas anderes bedeutet als Naturschutz in der Norddeutschen Tiefebene oder dass
Hochwasservorsorge am Rhein etwas anderes ist als
Hochwasservorsorge an der Oder. Man braucht trotzdem
einheitliche Regeln, Prinzipien und Verfahren. Es gibt
doch auch kein unterschiedliches Landwirtschaftsrecht,
nur weil in der Uckermark und in der Magdeburger
Börde unterschiedliche Standortbedingungen vorhanden
sind. Es muss Einheitlichkeit hergestellt werden.
({3})
Herr Kollege Loske, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Benneter?
Gerne.
Herr Kollege Loske, haben Sie denn mitbekommen,
dass im Naturschutzbereich die Grundsätze des Naturschutzes sozusagen abweichungsfrei sind? Zum ersten
Mal in der Geschichte der Bundesrepublik hat der Bund
eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für die
Grundsätze des Naturschutzes. Die gilt es zu formulieren. Sie sollten jetzt Ihr ganzes Gehirnschmalz einbringen, damit wir hier zu guten Ergebnissen kommen. Finden Sie nicht auch, dass das der richtige Weg wäre?
({0})
Theoretisch ist das richtig, aber praktisch besteht das
Problem,
({0})
dass Sie durch Ihre Vorhaben das Umweltgesetzbuch,
das kommen wird und das Sie loben und preisen, im
Prinzip zu einer leeren Hülle machen, indem Sie den
Ländern sehr weit gehende Abweichungsmöglichkeiten
zugestehen. Das wissen Sie auch ganz genau.
({1})
Dass der Sachverständigenrat für Umweltfragen und alle
anderen Umweltexperten diese Möglichkeiten in Bausch
und Bogen verurteilt haben, hat natürlich damit zu tun,
dass die abweichungsresistenten Kerne nur einen geringen Umfang einnehmen. Diese Antwort möchte ich Ihnen gerne auf Ihre Frage geben.
({2})
- Ich würde jetzt gerne fortfahren.
Dritter Punkt. Ihre Vorschläge bezüglich der Abweichungsmöglichkeiten und Erforderlichkeiten machen
das Umweltgesetzbuch zur Farce. Dadurch würde es zu
der Situation kommen, dass es zwar ein Umweltgesetzbuch gibt, man aber, wenn man nachsehen will, was es
mit dem Umweltrecht auf sich hat, nicht sicher sein
kann, ob dieses Recht an dem Ort, wo man lebt oder investieren will, auch tatsächlich gilt, weil die Länder davon abgewichen sein könnten.
Ein Umweltrecht aus einem Guss sieht vollkommen
anders aus. Mit einer solchen Regelung im Umweltbereich machen wir uns in Europa lächerlich und handlungsunfähig. Das muss ich ganz klar sagen.
({3})
Wir wollen einen einheitlichen Kompetenztitel „Umwelt“ mit einer klaren konkurrierenden Gesetzgebung,
ohne Abweichungsmöglichkeiten und Erforderlichkeitsklauseln. Den Interessen der Länder können wir entgegenkommen - das hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen, wie Sie, Herr Benneter, sehr genau wissen,
deutlich beschrieben - durch normierte Öffnungsklauseln.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Ich
weiß, dass das, was ich hier für meine Fraktion vortrage,
auch von sehr vielen Kolleginnen und Kollegen in den
Koalitionsfraktionen so gesehen wird. Im Umweltausschuss herrschte ein schon fast sensationelles Maß an
Einvernehmen. Deshalb fordern wir die Union und die
SPD auf, unsere Bedenken ernst zu nehmen.
Abschließend möchte ich noch ein Zitat bringen. Sie
können nun wirklich nicht behaupten, die Fachleute
stünden auf Ihrer Seite. Eine solche Aussage grenzt an
Realitätsverweigerung. Der Vorsitzende des Sachverständigenrates für Umweltfragen schreibt zusammenfassend,
… dass der SRU in zahlreichen Gesprächen mit
Fachleuten des Umweltschutzes nirgends auf Zustimmung zu dem Koalitionsvorschlag gestoßen ist.
Diese Einhelligkeit der Kritik sei außergewöhnlich und
für die Politik sicher bedenkenswert.
Ich hoffe, der SRU hat Recht; denn das, was Sie hier
vorlegen, ist in Sachen Umweltschutz eine Verschlechterung und ganz gewiss keine Verbesserung.
Danke schön.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Michael GrosseBrömer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Loske, wenn man Ihnen zuhört, bekommt man den Eindruck, in Deutschland existierten zu
wenige Gesetze im Umweltbereich. Wenn Sie den Gesetzentwurf gerade in diesem Punkt richtig lesen, können Sie feststellen, dass erstmalig die Chance der Kodifizierung, der Zusammenfassung und damit aus meiner
Sicht auch der Stärkung des Rechtes im Umweltbereich
gegeben wird. Ich hätte eigentlich gedacht, dass Sie das
Gegenteil dessen vorgetragen hätten, was ich jetzt von
Ihnen gehört habe.
({0})
Meine Damen und Herren, wir debattieren über unser
fundamentalstes Recht. Das Grundgesetz, das wir teilweise ändern wollen, ist die Basis unserer Rechtsordnung und bestimmt die Leitlinien unseres Gemeinwesens. Deshalb schützt es sich im Übrigen in Art. 79 auch
selbst vor zu leichtfertigen Veränderungen. Es wird zu
Recht eine breite Zustimmung in Bundestag und Bundesrat verlangt, um das Verfassungsrecht neuen Entwicklungen und Veränderungen anzupassen.
Die große Koalition will mit dem heute vorliegenden,
gut vorbereiteten Gesetzentwurf diese Herausforderung
annehmen. Die Föderalismuskommission hat mehr als
ein Jahr in zwei Arbeits- und sieben Projektgruppen unter Einbeziehung des Sachverstandes von Bundesregierung, Landesregierungen, Landtagen, kommunalen Spitzenverbänden und Wissenschaft intensiv gearbeitet. Das
Ergebnis war ein detaillierter Kompromissvorschlag, der
jetzt nach Überarbeitung und nach Billigung durch fast
alle Ministerpräsidenten diesem Hohen Hause zur Beratung vorgelegt wurde.
Im Kern geht es um die Frage, ob wir die Dynamik in
unserem Land verbessern, ob wir die Gesetzgebung effektiver und für den Bürger durchschaubarer gestalten
und dadurch Politik- und Staatsverdrossenheit abbauen
sowie Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit steigern können. Ich finde, diese Ziele sind es wert, dass man sich
ernsthaft Gedanken darüber macht, ob man diesen Gesetzentwurf für parlamentarische Machtspiele benutzt
oder bei der Debatte darüber vorrangig das gesamtstaatliche Interesse ins Auge fasst.
({1})
Das gilt erst recht deshalb, weil weite Teile der Opposition an diesem Gesetzentwurf mittelbar als Mitglieder
der Föderalismuskommission mitgearbeitet und mitgestaltet haben. Die FDP erinnert sich wohl an diese Tatsache; aber bei den Grünen habe ich das Gefühl, dass ein
partieller Gedächtnisverlust eingetreten ist, weil man
jetzt nicht mehr Regierung, sondern Opposition ist.
({2})
Damit werden Sie der Bedeutung dieses Gesetzentwurfes nicht gerecht, meine Damen und Herren von der grünen Fraktion. Diesen Schuh darf sich übrigens auch die
linke Fraktion anziehen.
Sie vergessen in diesem Zusammenhang, dass wir alle
als Parlamentarier ebenfalls ein fundamentales Interesse
an dieser Reform der bundesstaatlichen Ordnung haben.
Es geht nämlich im konkreten Fall auch um unsere ureigenen Interessen. Durch dieses Gesetz wird die Anzahl
der zustimmungspflichtigen Gesetze verringert. Dadurch nimmt zwangsläufig die Zahl der Sitzungen des
Vermittlungsausschusses ab. Damit wird es weniger parlamentarische Entscheidungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem kleinen Vermittlungskreis geben.
Folglich steigt die Bedeutung der Abgeordneten, weil sie
nicht nachträglich einen Kompromiss des Vermittlungsausschusses absegnen müssen, sondern im Parlament direkter und intensiver an bedeutenden Gesetzesvorhaben
beteiligt werden; denn unwichtige Entscheidungen hat
der Vermittlungsausschuss meiner Erinnerung nach nicht
besonders häufig auf der Agenda gehabt. Diese grundlegenden, strukturell positiven Wirkungen der Föderalismusreform sollten wir bei allen weitergehenden Beratungswünschen als Parlamentarier nicht vergessen.
Was die weiteren Beratungen betrifft, so bin ich der
Meinung, dass der Rechtsausschuss völlig zu Recht federführend mit diesem Thema betraut wurde. Es ist originäre Aufgabe des Rechtsausschusses, sich dem Verfassungsrecht zuzuwenden. Darum geht es nun einmal bei
dem vorliegenden Gesetzentwurf. Ich bin davon überzeugt, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition,
dass wir in einem sehr geordneten und strukturierten
Verfahren die parlamentarischen Rechte aller Mitglieder
dieses Hauses bei den Beratungen berücksichtigen werden. Jedenfalls war das nach meiner Kenntnis in der Vergangenheit so. Es wird auch in Zukunft so bleiben, wenn
der Rechtsausschuss tätig wird.
({3})
Wir haben es heute schon häufiger gehört: Unser
Staatsaufbau muss dringend verändert werden. Das sagt
jeder Experte, der sich mit dieser Frage in Deutschland
beschäftigt hat. Wir sollten uns deshalb die notwendige
Gelassenheit bewahren und nicht schon bei Verfahrensfragen von „Murks“ reden, wie dies der Kollege Beck
gestern in der Geschäftsordnungsdebatte getan hat. Man
kann nicht jahrelang von der blockierten Republik reden
und dann bei intensiv vorbereiteten Verbesserungsvorschlägen reflexartig mit der gesamten Fraktion in AbMichael Grosse-Brömer
wehrstellung gehen. Ich glaube nicht, dass das ein konstruktiver Weg ist, diesen Gesetzentwurf zu behandeln.
Meine Damen und Herren, wir wollen mit dem vorliegenden Entwurf die alte Tante Föderalismus wieder mit
frischem Schwung versehen. Der dominierende Trend
der letzten Jahrzehnte nach In-Kraft-Treten des Grundgesetzes war eine Vermischung und Verwischung der
politischen Verantwortung bei gleichzeitiger Blockade
der Gesetzgebung.
Wir wollen zurück zu den Stärken des Föderalismus: zur klaren Teilung der Staatlichkeit mit dem damit
verbundenen Schutz vor Machtmissbrauch; zur Stärkung
von demokratischer Teilhabe; zu der Grundidee im Übrigen, dass Wettbewerb in und mit den Ländern dem Gesamtstaat fördernd zugute kommt. Die Subsidiarität ist
hier schon angesprochen worden; die Kommunen werden hier besonders bedacht in Art. 84 neu.
Ein aus meiner Sicht weiterer, sehr bedeutsamer
Punkt ist die Aufhebung von Effizienzschwächen beim
staatlichen Handeln. In der Zeit der Globalisierung und
der extensiven europäischen Rechtsetzung ist es unsere
Pflicht, Defizite in unserer eigenen staatlichen Ordnung
als Erstes zu beheben, bevor wir mit dem Finger auf andere zeigen.
Vor dem beschriebenen Hintergrund wird auch der
Faktor Zeit immer bedeutsamer. Wollen wir in der Welt,
insbesondere in Europa, wirkungsvoller auftreten, so
müssen wir da schneller und besser werden, wo wir erkennbar zu behäbig geworden sind und der Verfassungsmotor ins Stottern gekommen ist.
Meine Damen und Herren, wir werden diesen Entwurf intensiv beraten. Dazu werden wir auch Gelegenheit haben. In Deutschland ist es üblich, dass bei Veränderungen 10 Prozent Unzufriedene lauter klagen, als
90 Prozent Zufriedene sich freuen. Ich würde mich
freuen, wenn das in diesem konkreten Fall anders wäre.
Ganz schlimm wäre aber ein vorgeschobener Änderungsbedarf in Bezug auf diese Reform mit dem Ziel,
der großen Koalition keinen Erfolg zu gönnen. Wer das
vorhat, muss wissen, dass er nationale Interessen zugunsten kurzfristiger Parteiinteressen aufs Spiel setzt.
Uns bringt, denke ich - so viel zum Abschluss -, bei
der vor uns liegenden Aufgabe nur eine Gesamtabwägung weiter. Lassen Sie uns hinterfragen, ob Deutschland durch diese Reform insgesamt schneller, dynamischer, demokratischer und bürgernäher wird. Wenn wir
hier zu einem positiven Ergebnis kommen, dann müssen
wir bereit sein, angesichts der Größe und Bedeutung dieses Vorhabens die bisher gezeigte Kompromissbereitschaft aller Beteiligten auch im Bundestag zu honorieren.
In diesem Sinne freue ich mich auf die anstehenden
Beratungen und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat der Kollege Axel Schäfer, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ein wichtiges Ziel der Föderalismusreform, die Entflechtung der Kompetenzen zwischen dem Bund und
den Ländern, geht einher mit der zunehmenden Verflechtung innerhalb der Europäischen Union. Deshalb ist
die Verbesserung der Europafähigkeit Deutschlands
ein bedeutendes Element, welches in dieser Debatte bisher leider sehr vernachlässigt wurde.
({0})
Wenn wir über den vor uns liegenden Weg der großen
Koalition zur Grundgesetzreform reden, so müssen wir
zugleich an den zurückgelegten Weg in Europa erinnern.
1986 hat der Bundesrat im Ratifikationsprozess zur
Einheitlichen Europäischen Akte sein Zustimmungsrecht genutzt, um die innerstaatlichen Mitwirkungsmöglichkeiten deutlich auszuweiten. Mit der Entscheidung
über die gemeinsame Währung 1992 erhielten die Beteiligungsrechte der Länder erstmals Verfassungsrang. Im
neu gefassten Art. 23 des Grundgesetzes wurde bei der
Willensbildung des Bundes der Bundesrat in außergewöhnlicher Weise mit einbezogen, und zwar durch die
maßgebliche Berücksichtigung seiner Auffassung, sofern Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen
sind, und bei der ausschließlichen Gesetzgebung durch
einen der Plätze am Ratstisch in Brüssel.
Die Informationsbüros der Länder wuchsen in zwei
Jahrzehnten so gewaltig, dass sie heute zum Teil größer
sind als die Botschaften einzelner Mitgliedstaaten. In
neun Fällen erhielten diese Einrichtungen gar den Namen „Ländervertretung bei der Europäischen Union“.
Hinzu kommt noch ein Büro des Bundesrates.
({1})
Während sich in der EU in diesen 20 Jahren die Mitgliederzahl von zwölf auf 25 etwa verdoppelte, ist die
Zahl der deutschen Repräsentanten um das Sechsfache
gestiegen. Allein 400 Landesbeamte und -beamtinnen
sind mittlerweile in den 300 EU-Verhandlungsgremien
beteiligt. Weiterhin wurde vor über zehn Jahren unter
maßgeblicher Beteiligung des Bundesrates der Ausschuss der Regionen gegründet, worin heute von insgesamt 24 unserer Vertreterinnen und Vertreter 21 aus den
Ländern kommen. So viel zum bereits bestehenden Einfluss auf föderaler Ebene.
Jetzt ist es an der Zeit, neben den politischen und repräsentativen Fragen auch die notwendigen Haushaltsfragen zu beantworten. Der Anspruch der Länder, auch
im Rahmen der EU die Politik mitgestalten zu können,
muss durch finanzielle Verantwortung ergänzt werden.
({2})
Axel Schäfer ({3})
Diese Mitverantwortung kommt am deutlichsten durch
die Mithaftung zum Ausdruck, wie sie jetzt - man
müsste sagen: endlich - im Grundgesetz verankert wird.
({4})
Konkret bedeutet dies: Bei legislativem, exekutivem
oder judikativem Fehlverhalten gegenüber der EU wird
klargestellt, dass die Verursacher die Lasten zu tragen
haben. Das heißt, bei übergreifenden Finanzkorrekturen,
wie es so schön in Juristendeutsch heißt, beteiligt sich
die Ländergesamtheit mit 35 Prozent. 50 Prozent wird
von denjenigen getragen, die die Kosten verursacht haben. Der Bund - auch das sei erwähnt - leistet einen solidarischen Beitrag von 15 Prozent. Das ist Inhalt des
neu gefassten Art. 104 a.
Im neuen Art. 109 Abs. 5 des Grundgesetzes wird zur
Einhaltung des nationalen Solidarpaktes erstmals eine
Beteiligung der Länder eingeführt, falls die EU zu Sanktionen greifen sollte. Das entsprechende Sprichwort
kennen wir alle: Haushaltsdisziplin. Der 35-prozentige
Anteil der Länder entspricht zwar nicht dem durchschnittlichen Anteil der Länder, inklusive Gemeinden,
am gesamtstaatlichen Defizit der letzten Jahre. Aber immerhin wurde die Mitverantwortung der Partner im
zweigliedrigen Staatsaufbau grundsätzlich wie grundgesetzlich festgeschrieben.
({5})
Das heißt: Es gibt einen Paradigmenwechsel in der
deutschen Europapolitik. Dieser Wechsel ist richtig und
wichtig. Es ist gut, dass wir jetzt diesen Weg gehen.
({6})
Ich sehe Franz Müntefering hier sitzen. Er weiß sehr
genau: Die Fachleute in der von ihm und Herrn Stoiber
geleiteten Kommission waren sich darin einig, dass die
Ausgestaltung der Länderbeteiligung in unserem
Grundgesetz eher einer Geschäftsordnung denn einer
Verfassung entspricht. Die Frage, ob die deutschen Länder in der EU Motor oder Bremser bei der Durchsetzung
von Interessen sind, war deutlich aufgeworfen worden.
Jawohl, die Länder bleiben in der Verantwortung.
Künftig wird einer ihrer Vertreter sprechen, falls es um
schulische Bildung, Kultur oder Rundfunkfragen geht.
Aus der bisherigen Sollregelung wird also, wenn es nach
unseren Vorstellungen geht, eine Mussregelung, die jedoch - das gehört dazu - auf diese drei Bereiche beschränkt wurde. Das ist auch dringend notwendig. Denn
es kann nicht sein, dass die Länder nach der Föderalismusreform in noch mehr Ratsformationen das Vertretungsrecht beanspruchen.
({7})
Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung bedeutet ein Weiteres: Wir, der Deutsche Bundestag, werden in diesem Jahr mit der Bundesregierung eine Vereinbarung treffen, um die Beteiligung von uns Abgeordneten
in Angelegenheiten der Europäischen Union zu verbessern. Deshalb kann ich jenseits aller taktischen Überlegungen erklären: Im Bereich des tatsächlichen politischen Einflusses muss der Bundestag mit dem Bundesrat
auf gleiche Augenhöhe auf der europäischen Ebene kommen. Da wollen wir hin.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Bundesratsbank, es gibt allerdings einen Unterschied: Wir wollen
nicht das 17. Land in Brüssel werden.
({9})
Wir errichten nur ein Verbindungsbüro, um ungefiltert
und vollständig aktuelle Informationen, die auf die Bedürfnisse unseres Parlamentes ausgerichtet sind, zu erhalten.
({10})
Der Ort der Mitwirkung des Bundestages ist und bleibt
Berlin. Das ist der Geist und der Buchstabe des Art. 23
des Grundgesetzes.
({11})
Ich sage es hier ganz offen: Ob vor, während oder
nach der Föderalismusreform, alle Landesregierungen
sollten sich zukünftig überlegen, ob sie tatsächlich den
Anspruch haben sollten, zuweilen wie Regierungen von
EU-Mitgliedern zu agieren. Der immer wieder gebrauchte Hinweis, viele Länder in Deutschland seien
größer als eine Reihe von Staaten in der EU, ist zahlenmäßig sicherlich korrekt, politisch jedoch Unsinn.
({12})
Weder mein geliebtes Nordrhein-Westfalen noch das
schöne Bayern oder das herrliche Land Rheinland-Pfalz
sind quasi eigenständige EU-Mitglieder.
({13})
Sie sind und bleiben Teil der Bundesrepublik Deutschland.
({14})
Es ist völlig falsch, zu glauben, dass man die Zahl der
deutschen Akteure in Brüssel nur erhöhen muss, um
mehr gemeinsamen Einfluss auszuüben. Bei zahlreichen
Beobachtern der EU-Institutionen entsteht der Eindruck:
je vielstimmiger unser Chor in Brüssel, desto unklarer
der Text, der gesungen wird.
({15})
Hier schließt sich der Kreis: Die Entflechtung von
Kompetenzen zwischen dem Bund und den Ländern bei
gleichzeitiger Verflechtung der Politik in der EuropäiAxel Schäfer ({16})
schen Union wird nur dann die Europafähigkeit
Deutschlands verbessern, wenn auch unsere Länder die
neuen Herausforderungen in einem größer gewordenen Europa solidarisch wahr- und aufnehmen. Die deutsche Position im Rat muss klar sein. Das heißt, wir müssen Ja oder auch Nein sagen können und dürfen nicht auf
das Mittel der Enthaltung ausweichen. Enthaltung bedeutet immer den Verzicht auf die Möglichkeit, in Verhandlungen etwas zu erreichen.
({17})
Bei der von uns allen gewünschten Demokratisierung
und Parlamentarisierung Europas, die in der Regel zu
Mehrheitsentscheidungen im Rat führen, ist die Änderung des Grundgesetzes, die wir gemeinsam anstreben,
die eine Seite. Die andere Seite ist: Wir brauchen vor
dem Hintergrund der Globalisierung ein neues Verständnis von und ein neues Verhältnis zu europäischer Politik.
Wir Deutsche wollen auch künftig in Europa nicht Getriebene sein, sondern Gestalter bleiben.
Vielen Dank.
({18})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter
Friedrich, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Als wir im Jahr 2003 die Föderalismuskommission konstituierten, gab es nur wenige, die an ein umfassendes Reformwerk glaubten. Ich denke, es gab einige
günstige Konstellationen. Eine davon haben Sie, lieber
Kollege Benneter, genannt: die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Erforderlichkeitsklausel. Diese Rechtsprechung hat viele Bundespolitiker aufgeweckt; denn sie hat deutlich gemacht, dass
sich die Bundesgesetzgebung Stück für Stück zugunsten
der Länder verändern wird, wenn nicht gegengesteuert
wird. Von daher gab es in dieser Frage Handlungsbedarf.
Die zweite günstige Konstellation bestand darin, dass
zwei Menschen, nämlich Franz Müntefering und
Edmund Stoiber, mit Herzblut daran gearbeitet haben.
({0})
Da war schon ein Hauch von großer Koalition in der
letzten Wahlperiode zu spüren.
({1})
- Lieber Herr Benneter, es war sozusagen die erste
Schwalbe des großkoalitionären Frühlings, den wir jetzt
erleben.
Darüber hinaus waren Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen und der FDP an der sachlichen Diskussion
in der Kommission beteiligt. Ich erinnere mich an viele
gute und konstruktive Gespräche, beispielsweise mit
Rainder Steenblock von den Grünen und mit Ernst
Burgbacher und Rainer Funke, der jetzt nicht mehr dem
Bundestag angehört und den ich von hier aus grüßen
möchte, von der FDP.
Mit dieser Reform stärken wir den Föderalismus.
Mich hat die Diskussion in der Öffentlichkeit und hier
im Parlament über die Föderalismusreform erstaunt;
denn dort, wo ich erwartet hatte, positive Begriffe wie
Subsidiarität, Vielfalt und passgenaue Möglichkeiten der
Gestaltung zu hören, las und hörte ich nur Wörter wie
Zersplitterung, Kleinstaaterei und Afrikanisierung.
({2})
Was macht uns eigentlich so sicher, dass Einheitsbrei,
dass Zentralismus besser sein soll als Föderalismus?
({3})
Wenn die Lobbyisten und Verbände so reagieren, dann
habe ich Verständnis dafür; denn für Lobbyisten und
Verbände ist es immer gut, zentralistische Entscheidungsinstanzen zu haben, weil man bei ihnen besser lobbyistisch tätig werden kann. Dass sich das aber zu einem
allgemein um sich greifenden Glauben entwickelt hat, ist
verwunderlich.
Ein Kommentar in der „FAZ“ lautete am 6. März
2006:
Wo sind die Freunde des Föderalismus geblieben?
Ich bin der Überzeugung, dass wir mit dieser Reform
Freunde für den Föderalismus gewinnen werden, weil
wir mit dieser Reform beweisen werden, dass Ineffizienz
und Intransparenz, die wir jetzt beklagen, keine Eigenschaften des Föderalismus sind, sondern Eigenschaften
einer unnötigen Verflechtung, die wir jetzt auflösen. Von
daher wird der Föderalismus auch im Bewusstsein der
Bevölkerung gestärkt.
Es ist richtig, wenn das Gaststättenrecht in die Zuständigkeit der Länder fällt. Es ist aber auch richtig, dass
wir den Bund da stärken, wo bundesstaatlicher Zusammenhalt notwendig ist, beispielsweise bei der Terrorismusabwehr. Genau das ist Bestandteil der Reform.
({4})
Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb am 7. März 2006:
Eine wirkliche Föderalismusreform muss den Ländern mehr nehmen als geben.
Ich bestreite das ausdrücklich. Die Antwort auf unsere
Probleme ist nicht zentralistische Vereinheitlichung. Die
Reaktion der deutschen Bevölkerung auf den Zentralismus in Europa, nämlich eine spürbar werdende Abneigung der Bevölkerung ihm gegenüber, beweist doch,
dass die These, der Zentralismus sei der richtige Weg,
falsch ist. Dezentralisierung und Subsidiarität an den
Stellen, wo sie möglich sind, sind der richtige Weg.
({5})
Dr. Hans-Peter Friedrich ({6})
Ich halte auch die Kritik an der Abweichungsgesetzgebung für falsch. Manchmal ist dabei von Pingpong
usw. die Rede. Gesetzgebung ist keine Rechthaberei,
sondern das Bemühen von Parlamenten, ob auf Bundesoder Länderebene, sachgerechte Lösungen für die Menschen zu finden. Das sollten wir im Auge behalten. Deswegen halte ich auch jedes Misstrauen gegenüber den
Ländern für völlig verfehlt und für den falschen Ansatz.
Ich kann allen Umweltpolitikern nur dringend empfehlen, sich das, was Kollege Benneter zur Erforderlichkeitsrechtsprechung ausgeführt hat, genau anzusehen. Wenn Sie die Urteile, die existieren, auf die
Umweltgesetzgebung fortschreiben, dann werden Sie erleben, dass der Bund bei der jetzigen Konstellation viel
mehr Kompetenzen im Umweltbereich verlieren wird,
als uns recht sein kann. Deswegen rate ich uns dringend,
diese Reform umzusetzen und nicht scheitern zu lassen.
Der Föderalismus entspricht der kulturellen Vielfalt
unseres Landes. Natürlich wird die Reform weitergehen.
Wenn die große Koalition zusagt - ich sage das auch in
Richtung FDP -, dass es weitere Schritte geben wird,
wird das auch geschehen; wir werden das einhalten.
Wichtig ist, dass wir mit dieser Reform den Beweis
erbringen, dass dieses Land und seine politischen Akteure in der Lage sind, entschlossen und geschlossen den
Bundesstaat zu modernisieren. Es ist der Anfang eines
guten Weges. Ich bin der Überzeugung, dass sich in den
nächsten Wochen und Monaten in allen Fraktionen jeder
seiner Verantwortung für die Zukunft dieses Landes bewusst sein wird.
Vielen Dank.
({7})
Herzlichen Glückwunsch, Herr Kollege Friedrich, im
Namen aller Kolleginnen und Kollegen zu Ihrem heutigen Geburtstag.
({0})
Das Wort hat der Kollege Volker Kröning, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wer drei Jahre an der Föderalismusreform mitgearbeitet hat und nun schon drei Stunden dieser Debatte
zuhört, wer die Texte und Begründungen gelesen hat,
was wir sicher alle bei diesem verantwortungsvollen
Werk tun sollten, und wer weiß, was von uns erwartet
wird, der darf nach diesen Stunden mit Optimismus in
die nächsten drei Monate schauen. Wer abwechselnd am
Kartentisch und im Maschinenraum gearbeitet hat, der
weiß auch, welche Verantwortung wir alle gemeinsam
für den vor uns liegenden Prozess haben - ein parlamentarisches Verfahren, das zusammen mit dem Bundesrat,
anders als ein Vermittlungsverfahren, nämlich vor der
ganzen Öffentlichkeit zu bewältigen ist -, und der setzt
auf die Verantwortung der heutigen Dioskuren Volker
Kauder und Peter Struck.
Ich stehe nach wie vor zu dem Paket, das heute vorgelegt wird, auch wenn ich mir einzelner schmerzhafter
Kompromisse bewusst bin und nach wie vor in der einen
oder anderen Frage meine Meinung nicht unterdrücke.
Ich erlaube mir auch nicht, die Aussagen des Fraktionsvorsitzenden der SPD zu interpretieren. Denn er hat
nicht nur formal, sondern auch inhaltlich deutlich gemacht, welche Informations- und Überzeugungsarbeit
noch vor uns liegt. Es zeigt zugleich, wie wir nach meinem Dafürhalten die Anhörung aufzäumen sollten, nämlich von den Juckepunkten aus.
Ich möchte an alle, gerade auch an die Oppositionsfraktionen, appellieren, ihre Alternativen deutlich zu
machen. Ich messe heutiges Tun nicht an vergangenem
Tun. Darüber kann man geteilter Meinung sein. Ich bitte
Sie alle, Ihre Alternativen so deutlich zu machen, wie es
heute schon bei FDP und PDS erkennbar war. Es müssen
klare Alternativen sein. Ich hoffe, unser früherer Koalitionspartner findet dazu zurück.
Zum Charakter einer Anhörung muss gesagt werden,
dass es sich nicht um die Lesung der Gesetzestexte und
-begründungen handelt; das bleibt dem federführenden
Ausschuss und den mitberatenden Ausschüssen vorbehalten. Eine Anhörung ist auch keine Auswertung. Die
Auswertung muss nach der Anhörung stattfinden, und
zwar von allen Beteiligten, nämlich Bund und Ländern,
den Koalitionsfraktionen und sicher auch dem stillen Beteiligten an diesem Projekt, der sein Mitspracherecht
heute wieder deutlich angemahnt hat.
Zur Erleichterung der parlamentarischen Arbeit habe
ich einige Bitten. Der Begleittext und die Einzelbegründungen zur Bildungspolitik sollten sorgfältig ausgewertet werden. Der Streitstoff wird sich nach meinem Dafürhalten fast auf Null reduzieren, weil wir schon in der
Vergangenheit intensiv darum bemüht waren, Verfassungs- und Fachpolitik aneinander anzudocken. Am
Ende wird zu entscheiden sein, ob der Kompromiss vertretbar ist oder nicht. Ich lebe nach der Devise „Das Bessere ist der Feind des Guten“. Vielleicht fällt uns an der
Stelle noch etwas Besseres ein.
({0})
Bei der Verfassungsreform werden die kleinen und
großen Parteien lernen, dass Bildungspolitik - zu der
alle ihre Argumente voller Leidenschaft vortragen - auf
allen Ebenen - nicht nur im Deutschen Bundestag, auch
wenn er die erste Gewalt der oberen Ebene ist - stattfindet. Uns ist aufgegeben, eine Bildungspolitik zu konzipieren und auszuführen, die auf allen Ebenen funktioniert, von Europa bis zu den Kommunen. Ich glaube, auf
diesem Gebiet haben nicht zuletzt die großen Parteien
eine Aufgabe vor sich.
Dieses Thema lässt sich - das sage ich an die Adresse
der FDP - nicht nach dem einfachen Schema „Wettbewerbsföderalismus - ja oder nein?“ abhandeln.
({1})
Die Zukunftsfähigkeit unserer Staatspraxis und des
rechtlichen Rahmens wird sich darin erweisen, ob wir zu
einer horizontalen und vertikalen Koordinierung der Bildungspolitik in der Lage sind.
({2})
Zur Umweltpolitik. Die heutige Bundeskanzlerin und
ihr Vorgänger im Amt des Umweltministers haben den
Versuch unternommen, ein bundeseinheitliches Umweltgesetzbuch auf den Weg zu bringen. Der Vorgänger des
heutigen Umweltministers musste lernen, dass das an
der geltenden Kompetenzordnung scheitert. Herr Kollege Dr. Friedrich hat zu Recht hinzugefügt, dass ein solches Vorhaben angesichts der Tendenz in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung mehr denn je
vom Scheitern bedroht ist. Angesichts dieser Umstände
sollte sich die Bundesregierung bemühen, Klarheit in die
nicht nur von Sachverständigen, sondern auch von Umwelt- und Wirtschaftsverbänden geführte Debatte zu
bringen, und bald Eckpunkte - ich sage sogar: eine Blaupause - eines zeitgemäßen Umweltgesetzbuches vorlegen.
({3})
Die Vorschläge der Sachverständigen sind bereits zehn
Jahre alt. Die Europäisierung dieses Rechtsgebietes ist
stark fortgeschritten. Also brauchen wir, wenn wir Fachund Verfassungspolitik verantwortungsbewusst koordinieren wollen, eine Messgröße, die materielles Recht
und Verfahrensrecht umfasst.
Ich freue mich, dass das Bundeskabinett mit seiner
Entscheidung vom Montag auch an dieser Stelle, auf
dem Gebiet der besonders schwierigen Herausforderung
der Umwelt- und Wirtschaftspolitik, Flagge gezeigt hat.
Nun erwarten wir nicht nur Loyalität gegenüber unserem
Tun, sondern auch Mittun, um den Beweis dafür führen
zu können, dass die neue Kompetenzordnung besser ist
als die alte.
({4})
Zu Strafvollzug und Heimrecht. Wenn man, wie
vorgeschlagen, auf diesen beiden Gebieten die Regelungskompetenz vom Bund auf die Länder überträgt,
sorgt Art. 125 a Grundgesetz in der neuen wie in der alten Fassung dafür - es ist gar nicht schlecht, die allgemeinen Geschäftsbedingungen zu lesen; im Grundgesetz
ist das der Teil mit den Übergangs- und Schlussbestimmungen -, dass das geltende Bundesrecht weiterhin gilt.
Kein Land stolpert in ein schwarzes Loch. Jedes Land
bleibt frei in der Entscheidung, das Bundesrecht weiterhin gelten zu lassen oder - die Möglichkeit besteht schon
jetzt - abzuweichen, das heißt, durch Landesrecht zu ersetzen.
Ich rechne damit, dass gar nicht so viele Länder Alleingänge unternehmen werden - Stichwort: mehr Vielfalt in der Einheit -, sondern dass es regionale Abstimmungen geben wird. Das kann dem praktischen
Föderalismus weiterhelfen. Im Übrigen wird das für die
Ländergliederung in der derzeitigen Form in den nächsten zehn bis 15 Jahren eine Bestandsprobe sein. Nur
wenn die Länder untereinander wieder stärker Wettbewerb und Koordination miteinander vereinbaren, wird
der Föderalismus in seiner heutigen regionalen, territorialen Gestalt überleben.
({5})
Zu Kultur und Sport - das passt fast zu Ihrem Stichwort: Man mag dieses Thema in der Bundesverfassung
verankern wollen.
({6})
Ich muss aber darauf hinweisen, dass es zwischen Bundesverfassung und Landesverfassungen einen Unterschied gibt. Dieser Unterschied kommt im Grundgesetz,
das zugleich eine gesamtstaatliche Verfassung ist, zum
Ausdruck. In Art. 30 des Grundgesetzes heißt es, dass
nur die Bereiche in die Kompetenz des Bundes fallen,
die im Grundgesetz ausdrücklich geregelt sind. Das
heißt im Umkehrschluss: Für Kultur und Sport sind die
Länder zuständig. Wenn das Landesverfassungsrecht
dies ausdrücklich vorsieht, ist das das eine. Ob der Bundesgesetzgeber das für das Bundesverfassungsrecht aber
auch tut, ist etwas ganz anderes.
Ehrlich gesagt, hätte ich es auch nicht gern, wenn der
Grundsatz des Art. 20 des Grundgesetzes verunklart
oder relativiert würde. Dort heißt es, dass die Bundesrepublik Deutschland „ein demokratischer und sozialer
Bundesstaat“ ist. Dabei sollte es auch in vollem Umfang
bleiben - nicht mehr, aber auch nicht weniger.
({7})
Zum Schluss komme ich auf Stufe zwei der Bundesstaatsreform zu sprechen. Das, was die Kollegen
Benneter und Friedrich dazu gesagt haben, trifft zu.
Auch ich bin der Auffassung - damit bin ich zwar in
meinem Laden in der Minderheit; ich sage es aber trotzdem -, dass der Bundesstaat, was unsere obersten Politikziele betrifft, so lange asymmetrisch und sogar unproduktiv ist, wie die Länder an dem Doppelmangel leiden,
dass sie weder hinreichende Ausgabenautonomie - das
soll jetzt geändert werden - noch hinreichende Einnahmenautonomie besitzen.
Als es darum ging, das zu ändern, haben sie sich
merkwürdigerweise geweigert. Darüber führen sie untereinander auch noch gar keinen Dialog. Umso mehr freue
ich mich, dass schon im letzten Sommer mit dem Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz in Aachen die
Bereitschaft des Bundesrates und der Länder zum Ausdruck gekommen ist, sich einem Angebot des Bundes zu
öffnen und darüber zu diskutieren.
Auch die Koalitionsvereinbarung ist in diesem Punkt
besonders interessant. In ihr wird nämlich etwas angesprochen, was wir im Rahmen der zuletzt durchgeführten Runden zur Neuordnung des Finanzausgleichs nicht
erlebt haben; denn diese Runden waren von der Rechtsprechung induziert und normativ-juristisch ausgerichtet. In der Koalitionsvereinbarung heißt es ganz klar,
dass wir dazu beitragen wollen, dass auch der Bundesstaat der Zielsetzung, für Wachstum und Beschäftigung
zu sorgen, gerechter wird, als es gegenwärtig der Fall ist.
Dieses Ziel der Koalitionsvereinbarung wollen wir nach
Abschluss der ersten Stufe der Bundesstaatsreform in
Angriff nehmen.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Friedbert Pflüger,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Föderalismusreform ist für Berlin ein historisches Ereignis. Denn Berlin wird im Grundgesetz erstmals als Hauptstadt festgeschrieben.
({0})
Damit erreicht ein Prozess seinen Höhepunkt, der am
9. November 1989 mit dem Fall der Mauer begonnen hat
und der sich am 3. Oktober 1990 mit der Vereinigung
Deutschlands und am 20. Juni 1991 mit der Entscheidung des Bundestages für Berlin als Hauptstadt fortsetzte.
({1})
Wir alle leben und arbeiten heute gerne in Berlin. Der
Deutsche Bundestag im Reichstagsgebäude wird jährlich
von über 2,5 Millionen Menschen besucht. Er ist schon
längst zum Symbol des freien, vereinten Deutschlands
geworden. Die Berliner freuen sich darüber und sind
stolz darauf.
({2})
Ich möchte zum Thema „Föderalismusreform und
Hauptstadt“ drei Punkte ansprechen:
Erstens. Mit dem zweiten Satz des neuen Art. 22 des
Grundgesetzes - er soll heißen: „Die Repräsentation …
in der Hauptstadt ist Aufgabe des Bundes“ - normieren
wir erstmals die bislang ungeschriebene Zuständigkeit
des Bundes für die Repräsentation des Gesamtstaates
in der Hauptstadt. Das ist gut, ruft aber auch nach Konsequenzen. Dass der Bund dieser Aufgabe trotz umfangreicher Zahlungen bisher nicht in vollem Umfang nachgekommen ist - das gilt auch für den direkten Vergleich
mit den nach Bonn geflossenen Bundesmitteln -, wird in
einem aktuellen Gutachten des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung deutlich. Demnach beteiligt sich
der Bund zum Beispiel mit nur 38 Millionen Euro an
hauptstadtbedingten Sicherheitsmaßnahmen. Das entspricht nur 35 Prozent der Kosten, die dafür tatsächlich
aufgebracht werden.
({3})
Auch der Anteil des Bundes an der Finanzierung kultureller Einrichtungen in Berlin ist, so das DIW, deutlich
geringer, als nach der Bonn-Berlin-Vereinbarung vorgesehen. Geht man von dieser Feststellung aus, so fallen
die mit Berlin geschlossenen Hauptstadtverträge deutlich restriktiver als die mit Bonn geschlossenen Vereinbarungen aus.
({4})
Zweitens. Ich möchte hier ausdrücklich betonen: Der
in die Begründung des Entwurfs des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes aufgenommene Rückgriff auf
die Formulierung des Koalitionsvertrages, dass das
Bonn-Berlin-Gesetz unberührt bleibt, ändert die Rechtsqualität des Bonn-Berlin-Gesetzes von 1994 nicht; dies
bestätigt ein im Auftrag des Abgeordneten Peter Rzepka
erstelltes Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des
Deutschen Bundestages vom 12. Januar 2006. Der Gesetzgeber kann die Bonn-Berlin-Vereinbarungen auch
künftig jederzeit mit einfacher Mehrheit ändern, um zukünftigen Entwicklungen Rechnung zu tragen und um
die Effizienz von Parlament und Regierung in der
Hauptstadt zu stärken.
({5})
Ich danke der Bundesregierung, dass Versuche, die
unsinnige Teilung der Ministerien festzuschreiben, abgewehrt wurden. Die Verteilung der Regierungsfunktionen auf zwei Standorte, nämlich Bonn und Berlin, ist
teuer und ineffizient, beispielsweise weil Bundesbeamte
regelmäßig für kurze Termine bei den Ministerien und
im Parlament nach Berlin reisen müssen.
({6})
Wir haben Deutschland und Berlin geeint. Wir sollten
nicht die Regierungsfunktionen dauerhaft getrennt lassen.
({7})
Ich habe schon am 3. Juni 1991 gesagt: Wenn der Bundestag sich mit knapper Mehrheit für Berlin entscheiden
sollte, gehe ich lieber nach Berlin, als einem Kompromiss über die Teilung der Hauptstadtfunktionen zuzustimmen.
({8})
Drittens. Art. 20 des Grundgesetzes sieht als Ausdruck der bundesstaatlichen Ordnung eine Einstandspflicht des Bundes und der Länder vor. Föderalismus
bedeutet eben nicht nur Länderhoheit, sondern auch
Länderverantwortung. Die enorme Schuldenlast Berlins
ist nicht alleine hausgemacht. Sie ist vor allem teilungsbedingt und beruht in hohem Maße auf dem zu schnellen
Rückzug des Bundes aus der Finanzierung Berlins.
({9})
Es ist wenig bekannt, dass die Berlinförderung bis 2002
um rund 40 Milliarden Euro gekürzt wurde ({10})
der größte und vor allem schnellste Subventionsabbau in
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
({11})
Es wird vielleicht die entscheidende Aufgabe Berliner
Politik im nächsten Jahrzehnt sein, Verständnis dafür zu
wecken, das alle Deutschen, alle Bundesländer und die
Bundesregierung eine Mitverantwortung für ihre Hauptstadt haben. Berlin soll ein Leuchtturm für das gesamte
Land sein. Die Hauptstadt ist eine nationale Aufgabe.
({12})
Nein, Frau Lötzsch, ich lasse keine Zwischenfrage
mehr zu, weil Herr Pflüger seine Redezeit bereits überzogen hat, und zwar massiv. Herr Kollege Pflüger, ich
bitte Sie, zum Ende zu kommen.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Die Berliner Politik darf allerdings nicht nur die Hand
aufhalten. Sie muss auch nachweisen, dass sie eigene,
nachhaltige Anstrengungen unternimmt und mit konzeptionellen Beiträgen wieder ein Motor und Vorreiter der
deutschen Politik sein kann.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich gebe das Wort zu einer Kurzintervention der Kollegin Lötzsch.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Damen und
Herren! Da ich keine Zwischenfrage mehr stellen
konnte, muss ich zum Mittel der Kurzintervention greifen.
Natürlich freuen wir Berlinerinnen und Berliner uns
über jeden, der für die Interessen der Hauptstadt eintritt.
Mich würde aber einmal interessieren, ob es gelungen
ist, von der Finanznot Berlins, die Sie hier vorgetragen
haben und über die ich mit Ihnen völlig übereinstimme,
zumindest 50 Prozent Ihrer eigenen Fraktion zu überzeugen.
({0})
Vielleicht könnten wir eine Aussage der CDU/CSUFraktion dazu erhalten.
Ich hoffe sehr, dass wir in den Haushaltsberatungen
auch haushaltswirksame Vorschläge von der Koalition
erhalten, wie die Finanzierung Berlins gestaltet werden
kann.
({1})
Herr Kollege Pflüger, bitte.
Frau Kollegin, das ist eine nationale Aufgabe. Wir
alle müssen daran mitarbeiten, das Verständnis dafür zu
wecken und zu stärken. Allerdings kommt es dafür sehr
auf die Töne und die Politik in Berlin selbst an. Die Berliner können eben nicht bloß die Hand aufhalten, wie es
der Senat tut und wie es zum Beispiel Herr Wowereit getan hat.
({0})
- Sie haben mich herausgefordert mit dieser Kurzintervention. Dann müssen Sie auch erdulden, wenn ich
meine Meinung dazu sage. ({1})
Herr Wowereit hat gesagt: Im Jahr 2015 werden alle unsere Finanzprobleme beseitigt sein; denn der Bund muss
ja bezahlen laut dem Bundesverfassungsgerichtsurteil.
Ich unterstütze ausdrücklich, dass das Bundesverfassungsgericht angerufen worden ist, um ein Normenkontrollverfahren durchzuführen.
({2})
Ich glaube, dass vom Bund mehr für Berlin getan
werden muss. Frau Kollegin, ich glaube aber auch, dass
es dringend notwendig ist, dass Berlin auch seine Beiträge leistet. Solange Rot-Rot die Stadt regiert, wird die
Bereitschaft anderer, Berlin zu helfen, relativ gering ausfallen.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Tillmann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der einen Gruppe von Rednern geht das Föderalismusgesetz zu weit, der anderen Gruppe, der Opposition, geht es nicht weit genug, was bei mir klar den
Eindruck erweckt, dass wir mit dieser Reform genau
richtig liegen, nämlich exakt in der Mitte dessen, was
hinsichtlich der Zuständigkeitsverteilung zwischen dem
Bund und den Ländern machbar war.
({0})
Bei dem Punkt, die Kommunen vor kostenträchtigen
Gesetzen zu schützen, indem wir dem Bund durch
Art. 84 GG versagen, dass er Aufgaben an die Kommunen übergeben kann, liegen wir absolut richtig. Lieber
Kollege Burgbacher, er konnte das auch bisher nicht
ohne die Zustimmung der Länder. Bisher war es aber so,
dass die Länder dem Bund finanzielle Erstattungen abgehandelt und diese nicht in jedem Fall an die Kommunen weitergeleitet haben. So wird es künftig nicht mehr
gehen. Über die Landesverfassung wird das Konnexitätsprinzip für die Kommunen eingeführt. Diesen entscheidenden Schritt können wir mit dieser Föderalismuskommission erreichen, wenn wir dem zustimmen.
({1})
Wir liegen mit unseren Regelungen bezüglich des
nationalen Stabilitätspakts absolut richtig, indem wir
die Verantwortung für die Verschuldung des Gesamtstaatshaushaltes auf den Bund und die Länder verteilen.
Erstmalig können wir die Verantwortung der Länder, die
sich bereit erklärt haben, bei Nichteinhaltung des Defizitkriteriums einen Teil der Haftungssumme zu bezahlen, mit in die Verfassung aufnehmen. Das ist ein guter
Schritt hin zur Haushaltskonsolidierung. Liebe Kollegen
der Linken, das nützt gerade den neuen Ländern, die sich
Mühe geben, ihre eigenen Landeshaushalte in Ordnung
zu bringen, weil sie die Solidarität der anderen ansonsten
überstrapazieren und die Kosten, die andere verursachen, mittragen müssten.
Wir sind absolut auf dem richtigen Weg, wenn wir die
Finanzverwaltungen vereinheitlichen. Allein 15 Milliarden Euro Umsatzsteuer können wir heben, wenn es
uns gelingen würde, ein bundeseinheitliches Verfahren
bei der Finanzverwaltung einzuführen. Wir werden das
mit dem Föderalismusreform-Begleitgesetz und der Änderung des Finanzverwaltungsgesetzes tun. Ich bin mir
sicher, dass diese 15 Milliarden Euro, die uns durch den
Umsatzsteuerbetrug verloren gehen, erheblich besser in
Bildung oder Forschung eingesetzt werden könnten. Mit
diesem Gesetz haben wir die Möglichkeit dazu.
({2})
Wir übertragen die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau zum Teil in die Kompetenz der Länder. Hinsichtlich der überregionalen Mittel bleibt der Bund zuständig. Diese 700 Millionen Euro übertragen wir an die
Landtage. Liebe Kollegen, ich bin etwas erschrocken
darüber, wie Sie mit den Kollegen in den Landtagen umgehen. Die Aussage, dass all das, was wir tun, von Weisheit geprägt ist, mag ich ja noch unterstützen,
({3})
dass Sie die Landtagskollegen aber so behandeln, als
seien das alles unverantwortliche Deppen, kann ich nicht
mittragen.
({4})
Ich glaube, dass die Landtagsabgeordneten sehr verantwortungsbewusst mit ihren Bürgerinnen und Bürgern
umgehen.
({5})
- Auch die der FDP.
({6})
Aufgrund der Erfahrungen mit dem Solidarpakt II haben wir natürlich dafür gesorgt, dass uns für den Fall,
dass diese Mittel nicht ordnungsgemäß eingesetzt werden, diesmal Sanktionen zur Verfügung stehen. Bis
2013 ist die investive Zweckbindung im Bereich des
Hochschulbaus sichergestellt und auch nach 2013 besteht die Verpflichtung, diese Mittel für investive Maßnahmen zur Verfügung zu stellen. Wir werden das selbstverständlich kontrollieren.
An dieser Stelle hätte ich Frau Sager sehr gerne erklärt, warum sie Unrecht hat, wenn sie sagt, dass es nicht
mehr möglich ist, dass der Bund die Länder in der Bildung unterstützt. Sie sagt, durch die Streichung der Finanzhilfen sei es nicht mehr möglich, dass sich der Bund
an Länderaufgaben beteiligt. - Das stimmt so einfach
nicht; denn in unserer Verfassung ist vorgesehen, dass
die Aufgaben von Bund und Ländern mit den erforderlichen finanziellen Einnahmen unterlegt werden. Es ist
überhaupt kein Problem, das Finanzausgleichsgesetz zu
verändern und den Ländern mehr Umsatzsteuerpunkte
zukommen zu lassen. Aber damit sind wir als Bundestagsabgeordnete in der Verpflichtung, zu überprüfen, ob
es wirklich stimmt, dass der Bund für seine Aufgaben
viel zu viel Geld erhält und die Länder für ihre Aufgaben
zu wenig Geld bekommen. Wir als Bundespolitiker tragen die Verantwortung für den Bundeshaushalt. Ihr sollten wir uns stellen.
Das Einzige, was durch die Streichung im Art. 104 a
des Grundgesetzes bei den Finanzhilfen nicht mehr möglich ist, sind kurzfristige Programme, die der Bildungspolitik gar nicht angemessen sind; denn wir sind uns einig, dass Bildungspolitik eine langfristige Aufgabe ist.
Beim Finanzausgleichsgesetz sollten wir gemeinsam
überprüfen, wer tatsächlich zu viel Steuereinnahmen aus
dem Umsatzsteueraufkommen erhält: die Länder oder
wir.
({7})
Gegebenenfalls muss man bei beiden auf Haushaltsdisziplin und vielleicht auch auf die richtige Schwerpunktsetzung achten.
({8})
Der Blick auf den Haushalt und die Haushaltsdisziplin hilft gerade den neuen Ländern. Ich bin sehr froh,
dass sich die Föderalismuskommission ausdrücklich
zum Solidarpakt II bekannt hat. Aber ich sage auch: Je
schlechter die Haushaltssituation des Bundes wird, umso
größer ist natürlich die Gefahr, dass wir als Bund die
51 Milliarden Euro, die bis 2019 fließen sollen, nicht zur
Verfügung stellen können. Deshalb ist es im eindeutigen
Interesse der neuen Länder, auf die Haushaltsdisziplin
des Bundes zu achten. Wir brauchen den Solidarpakt II.
Wir brauchen diese Sicherheit. Deshalb brauchen wir
konsolidierte Haushalte, sowohl im Bund als auch bei
den Ländern.
({9})
Gegen diese Reform sind mehrfach Bedenken geäußert worden. Wer an den Beratungen der letzten Jahre
teilgenommen hat, der weiß, dass dies ein sehr ausgeklüngeltes System ({10})
- ausgeklügelt - der Berücksichtigung der Interessen
von Bund, Ländern, Kommunen und Bürgern ist. Jeder,
der Änderungswünsche hat, soll diese selbstverständlich
vortragen. Wir nicken diese Reform nicht einfach ab.
Aber jeder muss sich auch die Frage stellen, ob sein persönliches Anliegen, das er zu Recht vorbringt, tatsächlich dazu geeignet ist, die Gesamtreform scheitern zu
lassen. Wir werden das aus den genannten Gründen nicht
tun.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/813 und 16/814 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rückgewinnungshilfe und der Vermögensabschöpfung bei Straftaten
- Drucksache 16/700 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin für Justiz, Brigitte Zypries.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Nach diesen hehren Diskussionen über die Föderalismusreform kommen wir wieder zu konkreten Gesetzgebungsvorhaben zurück. Ich will gleich am Anfang
ein Stichwort nennen, das auch im Zusammenhang mit
der Föderalismusdiskussion gefallen ist, den Fleischskandal.
Sie erinnern sich: Kriminelle Unternehmer haben verdorbenes oder unverkäufliches Fleisch umetikettiert,
dann verkauft und dadurch hohe Gewinne erzielt. Das ist
schlichter Betrug zulasten der Verbraucher, der strafrechtlich zu ahnden ist. Die Gewinne, die die Täter damit
erzielt haben, können aber in vielen Fällen nicht rückabgewickelt werden. Wenn das so bleibt, dann heißt das:
Verbrechen lohnt sich wirklich. Das darf nicht sein.
Der Grund dafür, dass das derzeit noch so ist, ist eine
Regelung im Strafgesetzbuch, die die Möglichkeit der
Gerichte einschränkt, Gewinne aus Straftaten für verfallen zu erklären, also dem Täter das Geld wegzunehmen und das Eigentum daran auf den Staat zu übertragen. Bisher hat der Staat nur dann Zugriff auf
Vermögenswerte aus Straftaten, wenn eine geschädigte
Privatperson keinen Anspruch geltend macht. Stellt der
Geschädigte Ersatzansprüche gegen den Betrüger, so
kann ein Verfall des erlangten Geldes zugunsten des
Staates nicht angeordnet werden, weil zunächst die Privatperson die Hand auf dem Geld hat. Das ist grundsätzlich richtig so, weil sich der Staat nicht auf Kosten der
Opfer bereichern soll.
Wenn aber derjenige, der betrogen wurde, seine Ansprüche gar nicht geltend macht, dann muss man die sichergestellten Gewinne an den Täter zurückgeben. Das
kann erforderlich sein, weil der Schaden zu gering ist
oder weil die Geschädigten nicht wissen, dass der Täter
gefasst wurde. Es kann aber auch sein, dass die
Geschädigten ihre Ansprüche deshalb nicht geltend machen, weil sie selbst vielleicht Schwarzgeld gewinnbringend anlegen wollten und um ihren Gewinn geprellt
wurden. In dem Fall verzichtet der Betrogene aus nachvollziehbaren Gründen auf seine Ansprüche.
Wir wissen aus der Praxis, dass das leider kein Ausnahmefall ist. Im Jahr 2004 haben die Strafverfolgungsbehörden zum Zweck der Rückgewinnung Vermögenswerte in Höhe von rund 145 Millionen Euro
sichergestellt. Diese konnten nicht zugunsten des Staates
für verfallen erklärt werden, weil noch Ansprüche der
Geschädigten bestanden. Wenn diese ihre Ansprüche
nicht geltend machen, fällt das Geld an die Täter zurück.
Diese Regelung wollen wir ändern.
({0})
Wir wollen sicherstellen, dass die Täter solche Vermögenswerte in keinem Fall mehr zurückerhalten können.
({1})
Denn es ist völlig widersinnig, dass der Betrüger einen
Anspruch auf Rückübertragung des durch Betrug erlangten Geldes hat.
Um den Geschädigten künftig genug Zeit zu geben,
ihre Rückgabeansprüche auch durchzusetzen, wollen wir
die hierfür maßgebliche Frist verlängern. Zurzeit müssen die Opfer innerhalb von drei Monaten erklären, dass
sie ihre Ansprüche geltend machen wollen; künftig soll
diese Frist drei Jahre - gerechnet ab der Verurteilung des
Angeklagten - betragen. Auch bei längerer Verfahrensdauer vor den Zivilgerichten erhalten damit die Opfer
die Möglichkeit, einen - notfalls vorläufigen - Titel gegen den Verurteilten zu erwirken.
({2})
Verstreicht diese dreijährige Frist, ohne dass die Geschädigten ihre Ansprüche geltend gemacht haben, so
fallen die sichergestellten Vermögenswerte künftig an
den Staat und müssen nicht wieder an den Verurteilten
herausgegeben werden.
Ich glaube, wir haben eine gute Regelung gefunden,
die sowohl den Interessen der Opfer - weil wir die Frist
verlängern - als auch der Gerechtigkeit und damit dem
Rechtsbewusstsein insgesamt dient. Die einzigen, die
sich nicht freuen werden, sind die verurteilten Straftäter.
({3})
Aber denen wollen wir damit auch keine Freude machen.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Jörg van Essen, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Opposition hat zu kritisieren, wenn die Regierung
und die Koalition etwas falsch machen. Die Opposition
hat aber auch Unterstützung zu leisten, wenn richtige
Schritte unternommen werden.
({0})
Im Falle des vorliegenden Gesetzentwurfs kann aus unserer Sicht klar und eindeutig festgestellt werden, dass
die richtigen Schritte vorgesehen sind.
Für uns als FDP hat der Opferschutz immer im Mittelpunkt unserer Strafrechtspolitik gestanden.
({1})
Wir haben ein weiteres sehr wichtiges Ziel, nämlich bestehende bürokratische Hürden abzubauen. Wir haben bereits eine Fülle entsprechender Vorschläge im
Deutschen Bundestag eingebracht.
Das Vorhaben, die Hürden im Ablauf des Verfahrens
zu reduzieren und damit die Rechtsstellung von Opfern
zu verbessern, begrüßen wir außerordentlich. Wer erlebt,
welche Auswirkungen eine Straftat auf die Opfer hat,
weiß, dass alle Folgen, die eine Straftat nach sich zieht,
bei ihnen ohnehin zu Problemen führen. Deshalb sollten
wir es ihnen möglichst leicht machen, ihre Ansprüche
geltend zu machen.
({2})
Außerordentlich gut gefällt uns auch ein weiterer Vorschlag. Es ist allgemein bekannt, dass in den meisten
Fällen der erhoffte finanzielle Gewinn der Anlass zu einer Straftat ist. Die Täter wollen richtig abkassieren. Es
geht aber nicht an, dass Vermögenswerte aus einer Straftat, die übrig geblieben sind, dem Täter selbst zufallen.
Wenn sich kein Opfer gemeldet hat oder kein Opfer ermittelt werden kann, dann sollte besser der Staat die Vermögenswerte erhalten als der Täter selbst. Denn der
Staat hat schließlich sehr viele Aufwendungen zu leisten, beispielsweise für die Strafverfolgung und die
Finanzierung polizeilicher Aufgaben zur Aufklärung der
Straftaten. Die dafür nötigen Mittel werden vom Steuerzahler aufgebracht. Deshalb begrüße ich es, dass das
Geld letztlich wieder dem Steuerzahler zugute kommen
soll, indem beispielsweise Verbesserungen bei der Strafverfolgung finanziert werden können.
({3})
Ich bitte Sie allerdings, zwei Anregungen zu berücksichtigen. Wenn das Geld nicht an den Täter zurückfallen soll, dann sollten wir überlegen, ob es nicht sinnvoll
ist, wenigstens einen Teil davon für die Opferschutzorganisationen abzuzweigen. Der Weiße Ring beispielsweise - wer ihn kennt, weiß, wie wichtig die Arbeit ist,
Opfer zu unterstützen und zu betreuen und viele andere
Dinge zu tun - leidet, wie andere solcher Organisationen
auch, immer an Geldnot. Ich fände es gut, wenn wir prüfen könnten, ob der Weiße Ring beispielsweise besser
unterstützt werden kann.
({4}) und Josef Philip Winkler ({5}))
Nach den vielen positiven Bemerkungen zum Schluss
noch Folgendes: Wir haben ja in der 13. Legislaturperiode, damals noch unter der Federführung eines FDPgeführten Justizministeriums, den Versuch unternommen, die zum Teil sehr komplizierten Vorschriften in Bezug auf Verfall und Einziehung - ich gestehe, dass selbst
ich als Oberstaatsanwalt bei dieser Problematik immer
noch mal sicherheitshalber in die Kommentare geschaut
habe,
({6})
weil das Ganze ziemlich kompliziert ist - zu vereinheitlichen und zu vereinfachen. Wir sollten bei den anstehenden Beratungen überlegen, ob wir diesen Weg nicht
erneut beschreiten sollten. Wir würden der Praxis der
Justiz damit ganz wesentlich helfen.
Noch einmal zusammengefasst: Ich glaube, das sind
gute und richtige Ansätze. Wir werden das unterstützen.
Wir sollten in den Beratungen versuchen, das eine oder
andere zu verbessern.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
Bundeskriminalamt hat im Bundeslagebild über Wirtschaftskriminalität des Jahres 2004 einen Schaden in der
Bundesrepublik Deutschland aus Straftaten in Höhe von
10,4 Milliarden Euro festgestellt. In diesen Straftaten
sind nicht Vergehen gegen die Abgabenordnung oder
Zollvergehen enthalten. Wir können also mit Recht von
hohen Schadenssummen sprechen. Wo bleibt das Geld?
Würde dieses illegale Vermögen beim Täter verbleiben, entstünde in der Bevölkerung schnell der Eindruck,
Straftaten lohnten sich. Deswegen ist es wichtig, dieses
Vermögen schnell einzufrieren und im Wege der Vermögensabschöpfung dem Staat zuzuführen. Dies ist insbesondere im Bereich der organisierten Kriminalität erwünscht. Wenn das Geld bei den Tätern verbleibt,
werden damit neue Straftaten geplant und durchgeführt
und werden kriminelle Strukturen aufrechterhalten. Im
Vergleich dazu ist der Vermögensverfall zugunsten des
Staates die bessere Lösung.
Aber muss es immer der Staat sein, der Zugriff auf
dieses Geld haben soll? Nein. Die Lösung, die der Gesetzgeber gefunden hat, ist opferorientiert und nobel.
Dort, wo Ansprüche des Opfers, der Geschädigten entstanden sind, soll das Geld nicht dem Staat zugeführt
werden, sondern im Wege der so genannten Rückgewinnungshilfe dem Geschädigten zur Verfügung gestellt
werden. Nun haben wir es aber oftmals mit Massendelikten zu tun, bei denen der Schaden des Einzelnen
außerordentlich gering ist, die Schadenshöhe insgesamt
aber außerordentlich hoch. Der Einzelne macht wegen
5,70 Euro Schadensersatzansprüche nicht geltend. Das
führt in der Tat zu einem völlig frappanten Ergebnis. Die
Geschädigten erheben keinen Anspruch auf ihr Geld und
jeder von uns würde spontan sagen: In diesem Fall soll
im Wege des nachgelagerten Verfalls das Geld an den
Staat gehen. - Das ist nicht so. Der Bundesgerichtshof
hat in einer Entscheidung aus dem Jahre 1984 - nachzulesen in der „NStZ“ 1984, Seite 409 - entschieden, dass
es nämlich nicht darauf an komme, ob Geschädigte konkrete Ansprüche geltend machten, es genüge
({0})
- „Neue Zeitschrift für Strafrecht“ -,
({1})
wenn ein genereller Anspruch Geschädigter bestehe.
Das führt zu dem unerwünschten Ergebnis, dass dann
die beschlagnahmten und eingefrorenen Millionen- oder
Milliardenbeträge an den Täter ausgezahlt werden müssen. Das soll mit diesem Gesetzentwurf zu Recht geändert werden.
Der Weg, der mit diesem Gesetzentwurf eingeschlagen wird, ist richtig. Er dient dem Opferschutz und merzt
verfahrenstechnische Schwierigkeiten aus. Dieses Gesetz stößt insbesondere auch bei der Richterschaft nicht
auf Widerspruch; vielmehr wird es in all seinen Regelungen begrüßt. Kritik wird nur in zurückhaltender
Weise angemeldet. Allerdings gibt es in einem Punkt berechtigte Kritik aus den Reihen der Strafverteidiger.
Ich habe darüber gesprochen, dass das Vermögen bei
Straftätern beschlagnahmt wird. Die vorgelagerte Beschlagnahme im Ermittlungsverfahren erfolgt aber nicht
gegenüber einem Straftäter, sondern gegenüber einem
Tatverdächtigen. Ein Tatverdächtiger ist noch nicht verurteilt. Hin und wieder enden Strafverfahren auch mit
einem Freispruch. Für denjenigen, gegen den ein Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, spricht die Unschuldsvermutung. Nun ist es aber so, dass die Vermögensbeschlagnahme manchen mindestens genauso hart trifft
wie eine lange Untersuchungshaft. Eine Vermögensbeschlagnahme kann sich für einen Unternehmer existenzvernichtend auswirken.
Vergleichen wir einmal das Recht der Untersuchungshaft mit dem der Vermögensbeschlagnahme. Gegen die
Untersuchungshaft gibt es ein filigran ausgearbeitetes
Tableau von Rechtsmitteln durch zwei Instanzen. Dies
ist bei der Vermögensbeschlagnahme nicht so. Wird Vermögen beschlagnahmt, steht demjenigen, der davon betroffen ist, das Recht der einfachen Beschwerde nach
§ 304 StPO - in Klammern für den Kollegen Benneter:
Strafprozessordnung - zu,
({2})
während es dort, wo es um die Untersuchungshaft geht,
die weitere Beschwerde nach § 310 StPO gibt. Das
heißt, das Beschwerderecht ist im Untersuchungshaftrecht deutlich besser ausgebaut als im Bereich der Vermögensbeschlagnahme. Deswegen sollten wir uns Gedanken darüber machen, ob wir nicht im Bereich der
Vermögensbeschlagnahme die weitere Beschwerde zulassen wollen.
Außerordentlich erfreut hat mich die Rede des Kollegen van Essen. Natürlich mache auch ich mich dafür
Siegfried Kauder ({3})
stark, dass beschlagnahmtes Vermögen, das nicht an die
Geschädigten zurückgezahlt werden kann, an Opferschutzorganisationen geht. Sie haben sicherlich bemerkt, dass ich leuchtende Augen bekam, als der Weiße
Ring als eine solche Institution erwähnt worden ist.
Wir sollten aber im Rechtsausschuss zur Abrundung
der Sache auch andere anstehende Probleme erörtern. Es
gibt das Recht der Gewinnabschöpfung nach § 10 UWG.
Dieser Paragraf lässt sich in das System des Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung nicht einfügen. Hier
gibt es Wertungswidersprüche, die wir lösen sollten.
Zudem gibt es eine enorme Unklarheit dadurch, dass der
Staat zwar auf fest eingefrorenes Vermögen nicht zurückgreifen darf, wenn Geschädigte da sind, dass er aber
nach der Entwurfsfassung des § 111 i Abs. 5 der Strafprozessordnung dann, wenn sich die Geschädigten nicht
melden, das Vermögen nachgelagert einziehen kann. Im
Strafgesetzbuch, im materiellen Recht, steht also, dass
kein Zugriff auf Vermögen möglich ist, wenn Geschädigte da sind. Aber in der Strafprozessordnung steht genau das Gegenteil: Melden sich die Geschädigten nicht,
dann dürfen wir das Vermögen im Wege des nachgelagerten Verfalls dem Staat zuordnen. Das sind noch Unebenheiten, über die wir im Rechtsausschuss diskutieren
sollten.
Zusammenfassend kann man aber sagen: Es handelt
sich um den von Praktikern erarbeiteten Entwurf eines
Gesetzes, das Unebenheiten in der praktischen Anwendung ausmerzt und deswegen begrüßenswert ist.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Sevim Dagdelen, die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Werte
Kolleginnen und Kollegen! Mit der Vorlage, die wir
heute behandeln, wird der Versuch unternommen, in der
Praxis von Gewinnabschöpfung und Verfall Erleichterungen einzuführen und damit die Rechte der Verletzten
zu stärken. Gleichzeitig geht es darum, dem Staat ein
Auffangrecht hinsichtlich illegal erlangter Vermögen zu
gewähren. Gerade den Opfern von Straftaten Möglichkeiten zu geben, den finanziellen Verlust zu minimieren,
findet unsere Zustimmung. Wir sind gern bereit, mit Ihnen im Ausschuss über die Vor- und Nachteile der vorgesehenen Regelungen, bei denen es sich im Wesentlichen
um Verfahrensfragen handelt, zu debattieren.
Ich will jedoch aus Sicht meiner Fraktion auf ein Problem aufmerksam machen, welches von der Bundesregierung selbst im Gesetzentwurf angesprochen wird.
Auf Seite 11 des Gesetzentwurfs heißt es:
Gerade in Wirtschaftsstrafsachen mit hohen Schadenssummen oder einer Vielzahl von Geschädigten
gestalten sich die Ermittlungen häufig kompliziert
und umfangreich.
Die Bundesregierung steht mit dieser Erkenntnis offensichtlich nicht allein. Der Bundesgerichtshof hat in
seinem Urteil vom 2. Dezember 2005 zum Aktenzeichen 5 StR 119/05 auf Seite 20 ausgeführt:
Nach der Erfahrung des Senats kommt es bei einer
Vielzahl von großen Wirtschaftsstrafverfahren
dazu, dass eine dem Unrechtsgehalt schwerwiegender Korruptions- und Steuerhinterziehungsdelikte
adäquate Bestrafung allein deshalb nicht erfolgen
kann, weil für die gebotene Aufklärung derart komplexer Sachverhalte keine ausreichenden justiziellen Ressourcen zur Verfügung stehen.
Weiter argumentiert der Bundesgerichtshof, dass diesem
Fakt nur durch eine spürbare Stärkung der Justiz in diesem Bereich Rechnung getragen werden kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es uns nicht
gelingt, im gesamten Bereich der Justiz Voraussetzungen
zu schaffen, dass die so genannte Weiße-Kragen-Kriminalität wirksam bekämpft wird, wenn wir nicht sicherstellen können, dass Gerichte einigermaßen vernünftig ausgestattet sind, dann werden wir immer wieder
über den kleinen, prozessualen Lösungsansatz reden
müssen, den Sie hier präsentieren, nämlich über die Verlängerung von Fristen, wie in § 111 b Abs. 3 StPO vorgesehen. Angesichts der Ausstattung der Gerichte und
der von der Praxis wahrgenommenen Unzulänglichkeiten der derzeitigen gesetzlichen Regelung werden eine
Novellierung und Ergänzung der Vorschriften diese ganzen Probleme leider nicht beseitigen können.
Wenn den Opfern von Wirtschaftsstraftaten wirklich
geholfen werden soll und Wirtschaftsstraftaten angemessen verfolgt werden sollen, dann ist mehr nötig als eine
Detailverbesserung im Verfahrensrecht. Damit die Vermögensabschöpfung tatsächlich einmal zu einer scharfen
Waffe des Rechtsstaates und ein wichtiger Beitrag zur
Bekämpfung der organisierten Kriminalität werden
kann, möchte ich dringend auffordern, neben dem jetzt
vorgelegten Gesetzentwurf wirksame Mittel zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität oder Weiße-Kragen-Kriminalität zu ergreifen und nicht zuletzt die Justiz
zu stärken.
({0})
- Darauf werden wir im Rechtsausschuss eingehen.
Abschließend möchte ich zusammenfassen: Einer
Reihe von Änderungen in den §§ 111 b ff. StPO, die die
Sicherstellung von Vermögen effektivieren und erleichtern sollen, kann uneingeschränkt zugestimmt werden.
({1})
Mit dem Ziel verbesserten Opferschutzes ist die Verstärkung der Zurückgewinnungshilfe durch Erweiterung des
Zulassungsverfahrens in § 111 g StPO gut vertretbar.
Insgesamt bleibt jedoch das Recht der Vermögensabschöpfung - das hat mein Kollege Kauder ganz gut dargelegt - auch nach diesen vereinzelten Änderungen des
Prozessrechts kompliziert und anwenderunfreundlich
und das bisherige gesetzliche Regelungskonzept im
Grundsatz unverändert.
Ich danke.
({2})
Der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen,
hat seine Rede zu Protokoll gegeben1). Deswegen gebe
ich das Wort dem Kollegen Dr. Peter Danckert, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Ich bedanke mich dafür, dass ich
hier als Letzter reden darf.
({0})
Ich hatte beinahe gehofft, dass wir das Thema ein biss-
chen kontroverser behandeln könnten, aber ich vermute,
dass wir einschließlich des Kollegen Jerzy Montag alle
einer Meinung sind.
Wenn man überhaupt eine kritische Anmerkung wa-
gen darf, dann müsste man Sie, Frau Bundesministerin,
fragen, warum diese Gesetzesinitiative erst jetzt gekom-
men ist. Das Problem ist seit geraumer Zeit bekannt. Wir
haben das Phänomen über Jahre gehabt, dass beschlag-
nahmtes Vermögen, das dem Geschädigten nicht über-
eignet werden konnte, weil er sich nicht gemeldet hat
oder weil er Fristen verpasst hat, wieder dem Täter zuge-
fallen ist. Das ist also kein ganz neues Phänomen. Aber
nun liegt der Entwurf auf dem Tisch und wir werden si-
cherlich im Rahmen der Beratungen im Ausschuss das
eine oder andere miteinander besprechen können. Es
sind durchaus - Herr Kollege van Essen ist leider schon
weg - interessante Anregungen gekommen.
Ich will aus meiner Sicht auf zwei Punkte aufmerk-
sam machen, von denen ich glaube, dass man an ihnen
im Rahmen der Ausschussberatungen arbeiten muss.
Es ist durchaus positiv, dass wir diese Fristverlänge-
rung auf drei Jahre haben. Für den Fall, dass die Rechts-
kraft erst danach eintritt, verlängert sich diese Frist noch
einmal. Das sind aber letztlich Steine statt Brot für den
Geschädigten, den wir bei solchen Massendelikten im
Auge haben. Es geschieht nämlich häufig, dass solche
Urteile erster Instanz in Revision gehen, aufgehoben
werden und wiederverhandelt werden.
Ich schlage einfach einmal vor, dass wir darüber
nachdenken, ob nicht die Rechtskraft der Punkt sein
müsste, an dem für den Beginn der Frist angesetzt wird.
Damit entstünde für den Geschädigten kein Nachteil,
sondern nur ein Vorteil; denn das ist eine sichere Marke.
Ich könnte mir Folgendes vorstellen: Jemand liest in der
Zeitung von einem solchen Fall, von dem entsprechen-
den Urteil, stellt fest, dass er selbst Betroffener ist, und
fragt sich, ob er seine Ansprüche geltend machen soll;
1) Anlage 2
außerdem liest er, dass der Angeklagte Revision oder
Berufung eingelegt hat. Der Zeitpunkt, an den angeknüpft wird, ist meines Erachtens ungeeignet. Ich
glaube, dass die Rechtskraft ein besserer Zeitpunkt ist.
Hier ist eben auch angesprochen worden, dass es sich
häufig um Massenverfahren handelt. Das heißt, es gibt
viele Geschädigte. Ich wage noch nicht, mir so richtig
vorzustellen, was das für die Feststellung im Urteil bedeutet. Da gibt es sicherlich ein gewisses Problem.
Schließlich muss man irgendeinen Anknüpfungspunkt
für denjenigen haben, der Ansprüche geltend macht.
Vielleicht ist es zweckmäßiger, eine Art Pfleger für
die betroffenen Geschädigten einzusetzen, der das außerhalb des eigentlichen Justizbereiches regelt und sich nur
mit der Abwicklung dieser vermögensrechtlichen Ansprüche befasst, anstatt Heerscharen von Rechtspflegern
zu beschäftigen. Ich bin durchaus der Meinung, dass die
Gerichte und die Rechtspfleger anders als dadurch beschäftigt werden müssten. Es besteht Bedarf, darüber
nachzudenken, was das geeignete Instrumentarium ist.
Wir sind hier jedenfalls auf dem richtigen Wege. Uns
liegt endlich ein Gesetzentwurf vor. Ich hoffe, dass die
Beratungen im Rechtsausschuss sehr schnell zum Abschluss kommen,
({1})
damit wir auch im Plenum in der zweiten und dritten Beratung zu einem Ergebnis kommen. Angesichts der Einigkeit, die zwischen uns herrscht, besteht nur noch
Raum für einige diskussionswürdige Änderungen oder
Ergänzungen. Wenn dieses Gesetz verabschiedet wird,
haben wir das erreicht, was wir erreichen wollen, nämlich eine Verbesserung der Rechtslage der Geschädigten.
Außerdem haben wir dann endlich sichergestellt, dass
die Täter nicht im Nachhinein von ihren Straftaten profitieren.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/700 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten HansJoachim Otto ({0}), Christoph Waitz,
Dr. Claudia Winterstein, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({1})
- Drucksache 16/387 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Rechtsausschuss ({3})
Federführung strittig
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hans-Joachim Otto, FDP-Fraktion.
({4})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Mittel der öffentlichen Hand für Kulturförderung sind in den
vergangenen Jahren drastisch weiter gekürzt worden.
Nach einer soeben veröffentlichten Antwort der Bundesregierung ist die Gesamtsumme aller öffentlichen Kulturausgaben von 2001 bis 2004, also in nur drei Jahren,
von 8,4 Milliarden Euro auf 7,8 Milliarden Euro zurückgeführt worden. Das ist weniger als der Etat der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Ich halte das für ein
Armutszeugnis für die Kulturnation Deutschland.
({0})
Wenn man sich die Zahlen genauer anschaut, stellt
man fest, dass vor allen Dingen die Länder - minus
250 Millionen Euro - und die Kommunen - minus
230 Millionen Euro innerhalb von nur drei Jahren - für
die Kürzungen verantwortlich sind. Dass dies aber nicht
allein auf die angespannte Haushaltslage und die allgemeinen Sparzwänge zurückzuführen ist, zeigt die Entwicklung des Anteils der Kulturförderung am Bruttoinlandsprodukt. Von 2001 bis 2004 ist er von 0,41 Prozent
auf 0,36 Prozent abgerutscht. Meine Damen und Herren,
gerade einmal ein Drittel Prozent für die Kultur!
Einen deutlicheren Beleg für die Notwendigkeit des
Staatsziels Kultur kann man sich wohl kaum vorstellen.
Mehr denn je ist es erforderlich, ein klar vernehmbares
Zeichen für die Kultur zu setzen. Mir, uns allen ist dabei völlig klar, dass auch ein Staatsziel Kultur im Grundgesetz keinen einklagbaren Anspruch auf eine konkrete
Förderung beinhaltet. Die Anhörung der bedeutendsten
Verfassungsrechtler in der Kultur-Enquete hat aber ergeben, dass das Staatsziel Kultur durchaus in doppelter
Hinsicht Wirkung entfaltet. Dieses Staatsziel wird - wie
alle übrigen Staatsziele - Ermessens- und Beurteilungsspielräume bei Gerichten und bei der Finanzverwaltung
eröffnen. Diese Ermessensspielräume wären für jeden
Kulturdezernenten zumindest eine große Hilfe bei der
Abwehr weiterer Kürzungen; Kultur ist bekanntermaßen
keine kommunale Pflichtaufgabe. Vor allem aber wäre
ein solches klares Bekenntnis des Staates zu seiner Kultur ein ganz bedeutsames politisches Signal, ein Signal,
dass Kultur nicht nur ein Sahnehäubchen in guten Zeiten
ist, sondern gerade auch in schlechten Zeiten die Gesellschaft im Kern zusammenhält.
({1})
Auch verfassungssystematische Gründe sprechen
für das Staatsziel Kultur. Wenn die natürlichen Lebensgrundlagen in Art. 20 a Grundgesetz geschützt sind,
müssen wir konsequenterweise auch die geistigen und
ideellen Grundlagen unserer Gesellschaft schützen. Die
beiden Staatsziele „Schutz der Kultur“ und „Schutz der
natürlichen Lebensgrundlagen“ sind zwei Seiten einer
Medaille.
Dies könnte man - jetzt schaue ich zu den Sozialdemokraten - von einem etwaigen Staatsziel Sport nicht
sagen, zumal der Sport finanziell viel besser dasteht; da
brauche ich nur an die Fußball-WM oder die Olympiade
zu denken.
({2})
Nach dem einstimmigen und abschließenden Votum
der Kultur-Enquete - jetzt schaue ich zur Union - muss
das Plenum Farbe bekennen: Wie halten wir es mit der
Kultur? Die FDP geht dabei mit gutem Beispiel voran.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Börnsen?
Beim Kollegen Börnsen immer.
({0})
Wir gehen ja fair miteinander um.
Herr Kollege, Sie haben eben den bedeutungsvollen
Satz gesagt: Die FDP geht mit gutem Beispiel voran. Das hören wir gern. Hier sitzen Kulturpolitiker, die alle
im Grundsatz Ihrer Auffassung sind. Wenn die FDP mit
gutem Beispiel vorangeht, frage ich Sie: Wo sind bisher
die Signale aus den fünf Bundesländern, in denen die
FDP mitregiert? Aus keinem dieser Bundesländer gibt es
bisher ein Beispiel dafür, dass man sich in der langjährigen Diskussion zum Thema Staatsziel öffentlich dazu
geäußert hat. Sie wissen darüber hinaus, dass eine Verfassungsänderung nur mit Zweidrittelmehrheit erreicht
werden kann und die FDP im Bundesrat die entscheidenden Stimmen hat. Wo ist da der Vorbildcharakter der
FDP, Herr Kollege?
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Börnsen, für diese
Frage. - Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass die FDP
bisher - wir werden das ändern - noch keinen Ministerpräsidenten und keinen einzigen Kulturminister in den
Ländern stellt.
({0})
Es gibt bisher nur öffentliche Äußerungen von Ministerpräsidenten, interessanterweise auch von solchen aus
unionsregierten Ländern, aber keine öffentliche ÄußeHans-Joachim Otto ({1})
rung eines Kulturpolitikers der FDP gegen das Staatsziel
Kultur.
({2})
Nennen Sie mir eine solche öffentliche Äußerung! Wenn
Sie das können, dann würde ich das ernst nehmen.
Ich möchte Ihnen noch etwas sagen, Herr Kollege
Börnsen: Die Voten, die einzelne Ministerpräsidenten
ohne Rücksprache mit ihrem Koalitionspartner vorschnell abgegeben haben, müssen nicht das letzte Votum
sein. Wenn Sie dabei mithelfen, dass hier vom Bundestag ein klares Signal gesendet wird, dann möchte ich den
Ministerpräsidenten oder den Landtag sehen, der bei der
Verankerung eines Staatsziels Kultur nicht mitmacht!
({3})
Meine Damen und Herren, der Kollege Börnsen hat
mit Recht festgestellt: Die FDP geht mit gutem Beispiel
voran.
({4})
Dabei werde ich immer wieder gefragt, warum ausgerechnet die FDP, die sich doch sonst immer für weniger
Staat und für eine Stärkung der Zivilgesellschaft einsetzt, so vehement für das Staatsziel Kultur kämpft. Die
Antwort ist einfach: Die Ziele bedingen einander. Internationale Erfahrungen belegen: Die Zivilgesellschaft
lässt sich nur dann für die Kultur begeistern, wenn sich
der Staat nicht gleichzeitig zurückzieht; denn kein Förderer, kein Mäzen will seine Spende dem Finanzminister
oder dem Stadtkämmerer geben, sondern er will, dass sie
der Kultur zugute kommt.
({5})
Daher brauchen wir - das sage ich ganz bewusst auch
als Liberaler - eine verlässliche und stetige Grundfinanzierung der Kultur durch den Staat, auf deren Fundament
eine hoffentlich wachsende private Förderung aufsetzen
kann.
({6})
({7})
Diese Zusammenhänge gebieten es auch - jetzt schaue
ich in Richtung der beiden großen Fraktionen -, dem
Kulturausschuss und nicht dem ohnehin völlig überlasteten Rechtsausschuss die Federführung für diesen Gesetzesantrag zu übertragen.
({8})
Abschließend, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, möchte ich aus der klugen „FAZ“ zitieren, die dieser Tage auf der ersten Seite kommentierte,
({9})
„politische Klugheit, ökonomische Vernunft und intellektuelle Selbstachtung“ geböten es, Kultur auch
ohne Staatsziel großzügig zu fördern. Umgekehrt
wird ein Schuh daraus: Die immer wieder gemachten Erfahrungen mit desaströsen Kulturetats der
Länder und Kommunen rufen nach einer verfassungsrechtlichen Absicherung des Staatsziels Kultur ({10})
aus politischer Klugheit, aus ökonomischer Vernunft und
vor allem auch aus intellektueller Selbstachtung.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland, das Land der Dichter und Denker, die Heimat von
Beethoven und Bach, ohne ein staatliches Bekenntnis
zur Kultur - undenkbar? Nein! Die Mütter und Väter
unserer Verfassung haben dem Staat viele Ziele ins
Grundgesetz geschrieben; zuletzt wurde der Schutz der
Tiere und der Natur aufgenommen. Aber Schutz und
Förderung von Kultur als unserer ideellen Lebensgrundlage sind nicht positiv verankert, und das, obwohl
Deutschland sich immer als Kulturstaat verstanden hat.
Zu Recht, denn Kunst und Kultur sind Teile unserer
Identität.
Unsere gemeinsame Kultur hat die Deutschen in den
Zeiten der Teilung über Mauer und Stacheldraht hinweg
als Einheit verbunden. Wir begreifen Kunst und Kultur
als unverzichtbar für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
({0})
Sollten wir dann nicht das Bekenntnis, ein Kulturstaat zu
sein, in unserer Verfassung zum Ausdruck bringen,
meine Damen und Herren? Diese Frage wird seit 1981
debattiert. Die Mitglieder der letzten Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ haben sie mit Ja beantwortet. Sie empfahlen nach langer Beratung einstimmig, das
Grundgesetz um einen Artikel 20 b „Der Staat schützt
und fördert die Kultur“ zu ergänzen.
({1})
Über diese Empfehlung debattieren wir heute, auch kontrovers. Schließlich geht es um die Änderung unserer
Verfassung. Deshalb finde ich auch, dass das Vorpreschen der FDP dem Anliegen schadet.
({2})
Es bedarf Zeit, Mehrheiten für eine Verfassungsänderung zu gewinnen. Auch aus den Bundesländern - darauf hat der Kollege Börnsen zutreffend hingewiesen -,
in denen die FDP mitregiert, gibt es noch keine Signale
dafür. Kultur ist ein besonderes Gut und eignet sich nicht
für Wahlkämpfe.
({3})
Lassen Sie uns deshalb die Zeit nehmen, Zweifler gemeinsam zu überzeugen.
Es gibt auch grundsätzliche Bedenken, die ich respektiere, so das Argument der Ordnungspolitik. Unsere
Verfassung zeichnet sich aus durch Purismus, durch
Zeitlosigkeit. Sie ist eben gerade kein Warenhauskatalog, der sein Angebot von Saison zu Saison ändert.
({4})
Bedarf es da wirklich einer Kulturstaatsklausel? Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht doch wiederholt
Deutschland als Kulturstaat bezeichnet. Selbstverständliches zu regeln, sei eben überflüssig, ja sogar schädlich
im Hinblick auf nicht zu erfüllende Erwartungen, und
schließlich liege ja die Kulturhoheit bei den Ländern. So
die Argumente gegen die Verankerung der Kulturstaatsklausel.
Aus meiner Sicht greifen aber diese Argumente zu
kurz. Allein das Bekenntnis des Bundesverfassungsgerichts reicht nicht; denn es gibt nicht nur dogmatische
Kritik gegen die Herleitung aus Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes. Es kann auch nicht in der Hand eines Gerichtes
liegen, ob und wie wir uns definieren.
({5})
Hier besteht eine Lücke. Es liegt in der Entscheidung des
Gesetzgebers und damit an uns, ob und wie wir sie
schließen wollen. Eine Kulturstaatsklausel würde auch
nicht in die Kulturhoheit der Länder eingreifen; sie ist
föderalismusneutral.
({6})
Für das Kompetenzgefüge von Bund und Ländern ergäben sich dadurch keine Änderungen. Ich verweise dabei
immer gerne auf Art. 7 Abs. 1, nach dem das Schulwesen unter die Aufsicht des Staates gestellt ist. Niemand
würde das als Angriff auf die Bildungshoheit der Länder
verstehen.
Es ist richtig, dass Staatszielbestimmungen keine
konkreten individuellen Ansprüche begründen. Aber ein
Staatsziel Kultur würde nicht nur jedem Gericht als Auslegungs- und Anwendungsmaßstab für einfaches
Recht gelten. Es könnte auch vor dem Bundesverfassungsgericht gegenüber Gesetzen in Ansatz gebracht
werden.
({7})
Es würde auch die Gemeinden binden, dass Freiwilligkeit nicht mehr als Beliebigkeit verstanden werden
dürfte.
({8})
Der Kollege Otto hat die Zahlen erwähnt.
({9})
Ich habe Ihnen dargelegt, dass es keine juristischen
Gründe gegen die Aufnahme einer Kulturstaatszielbestimmung gibt, sondern sogar rechtliche, die dafür sprechen. Damit ist das Feld des demokratischen Prozesses
und der politischen Entscheidung eröffnet.
Wenn ich mich persönlich heute hier für die Verankerung von Kultur ausspreche, dann hat das im Wesentlichen einen Grund: Kultur ist kein Ornament. Sie ist das
Fundament, auf dem unsere Gesellschaft steht und auf
das sie baut. Ich frage Sie alle: Was wären wir ohne Kultur? Eine gesichtslose, sprachlose Masse - ohne Vergangenheit, ohne Zukunft.
({10})
Kindern versuche ich die Bedeutung des Begriffs
Kultur immer mit einem Bild deutlich zu machen. Ich
frage sie: Stellt euch vor, ihr lauft in 100 Jahren, im
Jahre 2106, durch Berlin. Was wird euch an das
Jahr 2006 erinnern, was wird vom Jahre 2006 bleiben? Natürlich auch diese Parlamentsdebatte; sie wird abgeheftet sein. Sicherlich wird sich auch der eine oder andere von uns in Geschichtsbüchern wiederfinden, aber
eben in der Geschichte als kultureller Fähigkeit. Kinder
begreifen das. Sie antworten mir immer dasselbe: Wir
werden uns erinnern an die Gebäude unserer Zeit, die
Architektur. Wir werden uns erinnern an die bildende
Kunst dieser Zeit, vielleicht eine Bildhauerarbeit, an die
Gemälde, die in Galerien hängen. Wir werden uns erinnern an die Musik dieser Zeit, nicht Daniel Küblböck,
aber an die Beatles oder eine Komposition, die aufgenommen worden ist von einem Klangkörper dieser Zeit.
Meine Damen und Herren, das Einzige, was von einer
Gesellschaft bleibt, ist ihre Kultur. Sollte sie uns deshalb
nicht eines besonderen Schutzes wert sein? Ich glaube,
ja. Deshalb bitte ich Sie inständig - die Kollegen, die
heute hier sind, aber auch die Kollegen, die nicht da sein
können, und die Bevölkerung, die uns zusieht -: Lassen
Sie uns gemeinsam überzeugen, lassen Sie uns gemeinsam beraten, und zwar für die Aufnahme von Kultur als
Staatsziel in das Grundgesetz.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Luc Jochimsen
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatsminister! „Der Staat schützt und fördert die
Kultur.“ Dieser Satz als Grundgesetzartikel ist mehr als
nur eine schön klingende Formulierung. Die europäische
Kulturnation Deutschland stellt mit dieser Verpflichtung
für sich einen Grundsatz auf; man könnte auch sagen: einen guten Vorsatz der Republik.
In einer Zeit, da Kultur sich als globales Thema und
auch als globaler Konfliktstoff erweist, halten wir, die
Fraktion der Linken, es für sehr wichtig, uns zum Staatsziel Kultur zu bekennen, selbstbewusst einerseits, andererseits auch aus Sorge, dass ein fundamentales Erbe unseres Landes bedroht ist.
Denn machen wir uns nichts vor: Die reiche Kulturlandschaft Deutschlands - ihre Theater, Museen, Opernhäuser, Konzertsäle, Bibliotheken, ihre Festspiele, auch
ihre Abertausende lokalen und regionalen Projekte und
vor allem ihre bisherigen Bildungseinrichtungen für
Kinder und Jugendliche - steht auf der Kippe. Dabei
geht es nicht allein um die dramatischen Kürzungen der
Kulturhaushalte von Kommunen und Ländern, die zu
Beginn dieser Debatte erwähnt wurden. Es geht auch um
das Infragestellen von Kultur überhaupt angesichts einer
aggressiv operierenden globalen Unterhaltungs- und
Werbeindustrie, die die totale Sinnfreiheit feiert und
sonst gar nichts.
Ja, es geht um die Stärkung des Gewichts der Kultur
in Konkurrenz mit anderen mächtigen Interessen, wenn
wir dafür eintreten, das Staatsziel Kultur in unserem
Grundgesetz zu verankern. Der Hinweis, dass man sich
für einen Artikel im Grundgesetz nichts kaufen kann,
verfängt nicht.
Natürlich sind die Verfassung und die Verfassungswirklichkeit ein weites Feld. Aber glauben Sie mir, die
ich als Mädchen, junge Frau und berufstätige Mutter die
Geschichte der Bundesrepublik erlebt habe, dass die
schrittweisen Veränderungen zur Gleichberechtigung
nur möglich waren, weil die Gleichberechtigung im
Grundgesetz stand und wir uns immer darauf berufen
konnten, gerade auch in den vielen Jahren der offenkundigen Diskriminierung.
Staatsziel Kultur als Versprechen für ein vielfältiges,
reiches, auch alle unsere Minderheiten einbeziehendes
Kulturleben, dafür sind wir sehr. Deshalb unterstützen
wir auch den Gesetzentwurf der FDP. Mehr noch hätten
wir eine große fraktionsübergreifende Initiative in dieser
Sache begrüßt.
Damit schließlich auch das klar ist: Wir sprechen uns
nicht für eine Inflation von weiteren Staatszielen aus.
Das Staatsziel Fußball brauchen wir meiner Meinung
nach nicht. Kultur ist da ein besonderes Ding.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Siegmund Ehrmann
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorrednerinnen und
mein Vorredner haben dargestellt, vor welchem Hintergrund dieser Gesetzentwurf eingebracht wurde. In der
Tat hat die Enquete-Kommission eine einstimmige Empfehlung ausgesprochen. Aber der Blick zurück zeigt,
dass es ein mühsamer Prozess ist, eine solche Initiative
zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen.
Es sind schon ein paar Etappen genannt worden. Bereits 1981 hat sich eine Regierungskommission mit diesem Thema auseinander gesetzt. Als Ausfluss des Einigungsvertrages gab es Anfang der 90er-Jahre eine
Debatte über die grundsätzliche Sinnhaftigkeit der
Staatsziele. Die Verfassungskommission ist in diesem
Punkt aktiv geworden. Auch das Parlament hat sich damit beschäftigt und einige Staatsziele in die Verfassung
aufgenommen. Das Parlament hat aber seinerzeit - das
ist Fakt - mit Zweidrittelmehrheit abgelehnt, das Staatsziel Kultur in der Verfassung zu verankern.
Es ist also ein streitiges Thema. Darüber wird unter
Verfassungsrechtlern, aber auch hier im Plenum kontrovers diskutiert. Umso wichtiger war es, dass sich die
Enquete-Kommission nicht auf alte Arbeitsergebnisse
gestützt hat, sondern sich selbst die Mühe gemacht hat,
im Rahmen einer sehr breit angelegten Expertenanhörung den - ich erlaube mir, das so zu formulieren - heutigen Stand der Technik abzufragen, die vorgetragenen
Argumente für das Pro und Kontra gegenüberzustellen
und nach sorgfältiger Abwägung letztendlich dieses einmütige Votum abzugeben.
Der Kern des Anliegens ist von meinen Vorrednerinnen und meinem Vorredner schon herausgearbeitet worden. Natürlich entstehen durch eine solche Grundgesetzänderung keine Ansprüche von einzelnen öffentlichrechtlichen Institutionen. Mit einem derart angelegten
Staatsziel hat beispielsweise kein Theaterintendant einen
Anspruch darauf, dass ein Schutzwall um seine Institution errichtet wird. Gleichwohl handelt es sich um ein
qualifiziertes Abwägungsgebot für alle staatlichen Ebenen und muss von denen - auch das ist schon erwähnt
worden -, die die Entscheidungskompetenz haben, angewendet werden. Damit wäre die Ergänzung des Grundgesetzes auf indirektem Wege sehr wohl ein ganz wichtiger kulturpolitischer Akzent.
({0})
Das war auch Auffassung der Enquete-Kommission.
Die kritischen Einwände darf man natürlich nicht beiseite schieben. Es wird gesagt, es handele sich um einen
Eingriff in den Föderalismus und um einen wirkungslosen Placeboeffekt. Es wird auch das Argument vorgetragen, dies widerspreche dem Charakter unserer Verfassung. Im Vergleich zur Weimarer Reichsverfassung sei
das Grundgesetz anders angelegt. Es wird auch eingewandt, der Kulturbegriff sei zu unbestimmt und stelle
für das Abwägungsgebot überhaupt keine Hilfe dar.
Ich will einmal auf das letzte Argument eingehen. In
der Enquete-Kommission ist unstreitig gewesen, dass
der Kulturbegriff im öffentlich-rechtlichen Schrifttum
gesichert ist.
Ich glaube, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, dieses
Thema anzugehen. Insofern, Herr Otto, machen Sie uns
allen trotz anfänglicher Bedenken mit Ihrem Gesetzentwurf Feuer.
({1})
Wir sind nun in der Situation, zu Klärungen kommen
und Bekenntnisse ablegen zu müssen. Insofern sind wir
aus den großen Fraktionen aufgefordert, unsere internen
Klärungsprozesse sorgfältig durchzuführen.
Zumindest für die SPD-Fraktion kann ich an dieser
Stelle sagen: Wir sind noch nicht an einem endgültigen
Punkt angekommen. Aber unser Fraktionsvorsitzender
hat heute Morgen in seiner grundlegenden Rede die
Unterstützung dafür erbeten, im Rahmen der Föderalismusdebatte auch dieses Thema zu erörtern und anzusprechen.
Ich finde, unter diesem Aspekt wäre es ein guter Beschluss, dass der Rechtsausschuss federführend ist. Es
liegt dann an uns, den Kulturpolitikern, das Thema in der
zu organisierenden Anhörung so zu unterfüttern, dass
wir allen Kolleginnen und Kollegen im Hause Argumente für ihre persönliche Abwägung anbieten können,
in der Hoffnung, dass es, anders als Anfang der 90erJahre, die nötige verfassungsändernde Mehrheit hierzu
gibt.
Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre
Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Kai Gehring von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir diskutieren über einen Gesetzentwurf, mit
dem das Staatsziel Kultur in das Grundgesetz aufgenommen werden soll. Die Anstöße dazu kamen aus dem Umkreis der Enquete-Kommission „Kultur“ in der letzten
Legislaturperiode. Dieser Gedanke wurde zusammen
mit dem Kulturausschuss weiter verfolgt.
Wir freuen uns, dass Herr Otto und die FDP diese Initiative aufgreifen.
({0})
Wir sollten sie interfraktionell vorantreiben, und zwar
auch im Kulturausschuss.
({1})
Rechts- und Kulturausschuss müssen die entscheidenden
Orte der Debatte sein. Wir brauchen also eine intensive
Mitberatung im Kulturausschuss.
Staatszielbestimmungen sind Richtlinien für staatliches Handeln auf allen Ebenen sowie für die Auslegung
von Gesetzen und sonstigen Rechtsvorschriften. Das ist
viel und wenig zugleich. Mit dem Staatsziel Kultur haben wir wenig Konkretes gewonnen. Das ist, glaube ich,
allen klar.
Trotzdem geht es nicht bloß um eine symbolische
Aktion. Wir betonen mit einer solchen Staatszielbestimmung den Stellenwert von Kultur in juristischen und
politischen Entscheidungsprozessen.
({2})
Das kann das Gewicht von Kultur steigern.
({3})
Wenn wir es schaffen, Kultur als Staatsziel zu verankern,
fängt die Arbeit übrigens erst an. Dann gilt es, dieses
Ziel mit Leben zu füllen.
Wir wissen, wie hart die wirtschaftliche und soziale
Situation für viele Künstlerinnen und Künstler ist und in
welch harten Abwehrkämpfen die Kultur gegenwärtig
steht. In Zeiten knapper Kassen stehen die Ausgaben
für Kultur unter einem starken Rechtfertigungsdruck.
Offensichtlich ist bei uns immer noch die Ansicht verbreitet, dass Kultur nettes, schmückendes Beiwerk ist,
das im Zweifelsfall auch wegfallen kann.
Mit der Bestimmung eines Staatsziels Kultur können
wir einem solchen Denken ein Stück weit entgegentreten. Kultur ist nicht Beiwerk, sondern Lebenselixier; davon bin ich überzeugt.
({4})
Der Mensch als soziokulturelles Wesen ist angehalten,
die kulturellen Bedingungen seiner Existenz ebenso zu
schützen wie die natürlichen Lebensgrundlagen.
({5})
Eine Bestimmung, nach der der Staat die Kultur schützt
und fördert, wäre eine logische Ergänzung des Art. 20 a,
der ja den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen festschreibt.
({6})
Eine solche Bestimmung wahrt auch die notwendige
Allgemeinheit. Es geht nicht um irgendeine Staats- oder
Leitkultur, die hier verordnet wird. Es geht um den
Schutz des lebendigen und pluralen Prozesses der Kultur, der sehr elementar für unser Leben ist.
Bei der näheren Begründung des Staatsziels Kultur
sollten wir nicht nur den Erhalt der bereits bestehenden
Kultur in ihrer Vielfalt und Breite betonen, sondern auch
die Bedingungen ihrer Entwicklung und Vermittlung. Es
geht um die Freiräume, in denen Neues entsteht. Es geht
auch um faire Chancen des Zugangs zu Kultur.
Der UN-Sonderberichterstatter für Bildung, Muñoz,
hat der Bundesrepublik für die Gerechtigkeitsdefizite ihres Bildungssystems sehr schlechte Noten ausgestellt.
Ich bin mir sicher: Diese Kritik ließe sich auch mit Blick
auf den Zugang zu kultureller Bildung formulieren.
Gerade hier, bei der kulturellen Bildung, brauchen wir
große Anstrengungen. Kultur ist kein schmückendes
Beiwerk, sondern ein Raum der Begegnung, der ästhetischen Kommunikation.
({7})
Ein Gemeinwesen, das sich um die lebensweltlichen
Fundamente von Demokratie sorgt, das soziale Integration und nicht Ausgrenzung anstrebt, muss Kultur fördern und schützen. Eine Staatszielbestimmung Kultur
wäre ein angemessener Ausdruck eines solchen Anspruchs.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Bär von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Staatsminister!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin enttäuscht,
Herr Kollege Otto,
({0})
dass Sie zwei Wochen vor drei Landtagswahlen dieses
Thema hier aufgreifen. Ich bin nämlich der Überzeugung, dass die Art und Weise Ihrer Rede diesem wichtigen Thema nicht gerecht wird.
({1})
Wir debattieren heute über eine Frage, die nicht einfach mit Ja oder Nein beantwortet werden kann. Das haben wir schon in den vorangegangenen Reden gehört.
Dennoch tendiere ich heute Bezug nehmend auf Ihren
Gesetzentwurf bei einer 51-zu-49-Prozent-Abwägung
eher zu einer Ablehnung des Gesetzentwurfs der FDP.
({2})
Ich möchte das nicht ausschließlich an inhaltlichen
Punkten festmachen, sondern auch an der Art und Weise,
wie die FDP mit diesem Thema umgeht. Darauf komme
ich aber später noch zu sprechen.
Es gibt für uns alle sehr gute Gründe, die Kultur als
Staatsziel in unser Grundgesetz aufzunehmen. Meine
Kollegin Frau Connemann hat bereits viele davon genannt. Es wurde schon mehrfach darauf hingewiesen,
dass wir den Schutz der Natur als Staatsziel - darüber
kann man streiten - in unser Grundgesetz aufgenommen
haben. Nachdem der Schutz der Natur als Staatsziel festgeschrieben wurde, kann man sich natürlich die Frage
stellen, ob die Kultur nicht ebenfalls als Staatsziel gefördert
({3})
und geschützt werden sollte.
({4})
Ein Staatsziel Kultur würde Entscheidungsträgern auf
allen politischen Ebenen angesichts knapper Kassen ein
gewichtiges Argument an die Hand geben, wenn sie über
den Kulturetat debattieren.
({5})
Damit wäre der Schutz unserer Kultur besser gewährleistet.
({6})
Trotzdem gibt es auch Gründe, die gegen eine Aufnahme des Staatszieles Kultur ins Grundgesetz sprechen.
Ich denke, man darf bei einer Debatte über eine Grundgesetzänderung sowohl den Befürwortern als auch den
Gegnern nicht die Ernsthaftigkeit ihrer Argumente absprechen. Ich habe lange an Vorschlägen zur Entbürokratisierung mitgearbeitet und mir dabei immer wieder einen Grundsatz von Montesquieu vor Augen gehalten:
Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen,
dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.
Die Frage, ob in diesem Fall ein Gesetz notwendig ist,
haben sich viele unserer Kollegen gestellt. Ich bin mir sicher, dass alle Kulturpolitiker sich darin einig sind, dass
die Kulturstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland von keiner Seite angezweifelt wird.
Zudem haben wir in Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz als
Grundrecht - nicht nur als Staatsziel - die Freiheit von
Wissenschaft, Forschung, Lehre und Kunst garantiert.
Darin drückt sich bereits aus, dass unser Staat Verantwortung für die Kultur übernimmt.
Außerdem enthalten viele Landesverfassungen, beispielsweise die bayerische, Aussagen zum Schutz und
zur Förderung der Kultur. Dass unser Staat Verantwortung für die Kultur übernimmt, zeigt sich auch in finanzieller Hinsicht. Bereits jetzt werden über 90 Prozent der
Mittel für Kultur aus staatlichen Haushalten aufgebracht.
Die Frage „Ist Kultur ein Staatsziel?“ stellt sich weiter. Das möchte ich an dieser Stelle betonen. Darüber hinaus möchte ich, dass wir uns sachlich und fair mit diesem Thema auseinandersetzen. Wir dürfen nicht nur die
Argumente der Befürworter gelten lassen und ihnen
Recht geben, wir müssen auch die Argumente der Gegner bewerten. Das ist ein sehr enger Abwägungsprozess.
Wir haben uns in der Enquete-Kommission „Kultur“
sehr intensiv mit dem Thema befasst. Deswegen möchte
ich, dass wir die Zeit, bis die Enquete-Kommission
„Kultur“ zu einem Ergebnis gekommen ist, nutzen, um
sowohl die Kräfte auf der einen als auch auf der anderen
Seite zu mobilisieren. Diese Diskussion muss aber immer ergebnisoffen geführt werden, weil die Überlegungen mit Blick auf eine Grundgesetzänderung sehr wichtig sind. In der Enquete-Kommission wurde sehr lange
darüber debattiert; darauf hat der Kollege Ehrmann bereits hingewiesen.
Abschließend möchte ich sagen: Ich finde es einfach
schofel von der FDP, dass sie das jetzt vor den Landtagswahlen machen will.
({7})
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?
Bitte.
Bitte schön, Herr Otto.
Ich verlängere Ihre Redezeit. - Liebe Frau Kollegin
Bär, darf ich Ihnen mitteilen - hoffentlich mit Unterstützung der Obleute des Kulturausschusses -, dass die
FDP-Fraktion monatelang versucht hat, einen gemeinsamen, fraktionsübergreifenden Antrag in dieser Frage geradezu wie sauer Bier anzupreisen, und dass Ihre Fraktion sich nicht in der Lage gesehen hat, diesen Antrag
gemeinsam mit uns zu tragen?
({0})
- Das stimmt absolut und ist im Protokoll festgehalten,
lieber Herr Börnsen.
({1})
Moment bitte. Herr Börnsen, Sie haben nicht das
Wort. Herr Otto stellt gerade eine Frage.
Ich ergänze meine Frage: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich hier wie auch schon zuvor immer erklärt habe, dass die FDP-Fraktion ihren Antrag sofort zurückziehen wird, wenn es einen Gruppenantrag
oder einen fraktionsübergreifenden Antrag gibt? Wenn
Sie sich in Ihrer Fraktion klar darüber werden, sind wir
bereit, unseren Antrag zurückzunehmen. Was daran
schofel ist, müssen Sie mir bitte erklären.
({0})
Herr Kollege Otto, dann bitte auch ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass man sich interfraktionell darauf geeinigt hat, erst einmal die Ergebnisse der Enquete-Kommission abzuwarten.
({0})
- Nein, die sind nicht endgültig abgeschlossen, weil wir,
wie Sie wissen, in der 16. Legislaturperiode sind und
nicht mehr in der 15.
({1})
Wir haben in diesem Haus einstimmig beschlossen, in
der 16. Legislaturperiode den Abschlussbericht abzuwarten; der ist noch vorzulegen. Dann können wir sehr
gern noch einmal über einen Gruppenantrag diskutieren.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Griefahn von
der SPD-Fraktion.
Lieber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Wir haben schon diverse geschichtliche
Hintergründe als Begründung dafür gehört, warum wir
überhaupt über Kultur als Staatsziel diskutieren. Ausgangspunkt war die Enquete-Kommission und deren
Empfehlung nach verschiedenen ausführlichen und auch
kontrovers geführten Diskussionen. Dabei ist die
Enquete-Kommission zu einer einstimmigen Empfehlung gekommen. Die Fraktionen im Deutschen Bundestag haben diese aufgegriffen und intensiv darüber diskutiert.
Herr Otto, bei Ihren Gesprächen mit den Fraktionen
haben wir alle Ihnen signalisiert - ich glaube, Frau
Connemann und Herr Ehrmann haben das sehr deutlich
gemacht -, dass wir große Sympathie für Ihren Antrag
als solchen haben. Aber große Fraktionen brauchen für
so ein Vorhaben ein bisschen länger als kleine Fraktionen. Ich glaube, Herr Börnsen hat verdeutlicht, dass man
auch mit den Ländern übereinkommen muss. Das ist
keine Sache, die man einmal eben so erledigt.
Ich weiß nicht, wer von Ihnen letzte Woche die
Freude hatte, sich auf Arte noch einmal den Film
„Rhythm is it!“ anzusehen, dieses sehr bemerkenswerte
Projekt, das Simon Rattle mit Schülern aus benachteiligten Gebieten in Berlin gemacht hat. Sie sind zu einer
wunderbaren Aufführung in der Treptower Arena zusammengekommen und viele, die vielleicht nie gedacht
hatten, dass sie etwas mit Kultur zu tun haben, haben dadurch Selbstbewusstsein gewonnen. Ich war selber in
der Treptower Arena und kann mich daran erinnern, dass
die Besucher und auch die Eltern dieser Schüler, die sich
noch nie klassische Musik angehört haben, wirklich begeistert mitgemacht haben. Simon Rattle hat daraus die
Konsequenz gezogen: Kultur ist wie die Luft zum Atmen und wie das Wasser zum Trinken. Ich kann daraus
nur schließen - so heißt es in der SPD-Fraktion -: Kultur
ist Lebensmittel.
({0})
Dass die Enquete-Kommission nach der kontroversen
Diskussion diese Empfehlung ausgesprochen hat, ist, so
denke ich, ein Zeichen für die Überzeugungskraft von
Argumenten. Für mich persönlich als Kulturpolitikerin
als auch als überzeugte Demokratin und Sozialdemokratin bietet unsere Verfassung, das Grundgesetz, ein Gerüst
für unser Zusammenleben. Dieses Gerüst ist nicht nur
auf die unverzichtbare Formulierung von Grundrechten,
auf die Beschreibung von politischen Spielregeln und
die Organisation des Zusammenspiels im föderalen System Deutschlands beschränkt, sondern es beschreibt
eben auch Strukturprinzipien. Diese machen Deutschland zu dem, was es ist: ein Staat, der beispielsweise das
Recht auf freie Meinungsäußerung, den Schutz und die
Förderung von Kindern und Familien, Demokratie und
Sozialstaatlichkeit zu obersten Verfassungsprinzipien erhebt. Was bisher vielleicht noch fehlt, ist die geistigideelle Dimension unseres Zusammenlebens. Manche
denken, eine Leitkulturdebatte könnte das leisten. Das
glaube ich kaum. Ich denke, dass das Grundgesetz unseren gemeinsamen kulturellen Nenner darstellt. Hier haben wir unsere Werte und unsere Kultur auf ein für uns
alle geltendes Fundament gestellt. Deswegen ist es auch
höchste Eisenbahn, im Grundgesetz Kultur als Staatsziel
zu verankern. Eine starke Position der Kultur schafft
Identität und politische Integration.
Die europäische Verfassung leistet das bereits. Der
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
enthält - das wurde schon gesagt - mit Art. 151 bereits
einen Kulturartikel, der das europäische kulturelle Verständnis hervorhebt. Außerdem haben fast alle Bundesländer eine Kulturstaatsklausel in ihren Verfassungen. In
Sachsen wird Kultur explizit zur Pflichtaufgabe erklärt.
Vor meinen Augen täte sich eine eklatante Lücke auf,
wenn wir Kultur als Basis unseres Zusammenlebens
nicht auch im Grundgesetz verankern würden.
({1})
Neben der in Art. 5 definierten Kunst- und Wissenschaftsfreiheit könnte die Verankerung von Kultur als
Staatsziel im Grundgesetz dem Selbstverständnis
Deutschlands als Kulturnation in Europa Ausdruck verleihen. Das ist das Entscheidende des Kulturbegriffs, wie
er sich in der deutschen Nation seit der Zeit der Aufklärung entwickelt hat. Der Begriff hat sich seit der Zeit der
Aufklärung entwickelt und die feudale Rückständigkeit
in vielen kleinen Fürstentümern überwunden. Diesen
geistigen Fortschritt müssen wir verankern.
({2})
Das ist gewissermaßen die Befreiung des Menschen.
Mit dem Ausdruck „Kulturnation“ gehen wir in andere Länder und gestalten unsere auswärtige Kulturpolitik. Damit treten wir in den Dialog über Demokratie ein.
Ich glaube, dass wir unser eigenes Bewusstsein für Kultur in Situationen wie dem Karikaturenstreit deutlich
machen müssen. Kultur gehört zu unserem Selbstverständnis. Das müssen wir an prominenter Stelle festschreiben.
Es ist gut, dass die Anhörung der Verfassungsrechtler,
die der Enquete-Kommission zur Seite standen, in die
große Föderalismusdebatte einfließen soll. Über das
Staatsziel Kultur soll mit den Verfassungsrechtlern debattiert werden. Ich hoffe auf die Kraft der Argumente.
Ich hoffe, dass wir auf diesem Weg viele Kolleginnen
und Kollegen erreichen können; denn wenn die Verfassungsrechtler die Kolleginnen und Kollegen in der Enquete-Kommission erreicht haben, können sie vielleicht
auch die anderen Kollegen im Bundestag erreichen. Ich
hoffe auf eine positive Debatte.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/387 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD wünschen Federführung beim Rechtsausschuss. Die Fraktion der FDP wünscht Federführung
beim Ausschuss für Kultur und Medien.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der FDP, Federführung beim Ausschuss für
Kultur und Medien, abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der FDP-Fraktion, die für diesen Überweisungsvorschlag gestimmt
hat, abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Federführung beim
Rechtsausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen
aller Fraktionen bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion
angenommen. Damit liegt die Federführung beim
Rechtsausschuss.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 sowie die Zusatzpunkte 10 und 11 auf:
17 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Norman Paech, Alexander Ulrich, Paul
Schäfer ({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der LINKEN
Abzug der Atomwaffen aus Deutschland
- Drucksache 16/448 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Jürgen Trittin, Marieluise Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Abrüstung der taktischen Atomwaffen vorantreiben - US-Atomwaffen aus Deutschland
und Europa vollständig abziehen
- Drucksache 16/819 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Winfried Nachtwei, Volker Beck ({4}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Nuklearen Dammbruch verhindern - Indien an
das Regime zur nuklearen Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtweiterverbreitung
heranführen
- Drucksache 16/834 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Alexander Ulrich von der Fraktion
Die Linke das Wort.
({6})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt viele Gründe, warum es gut ist, dass wieder eine
linke Kraft im Bundestag vertreten ist. Heute kommt ein
weiterer hinzu: Mit ihrem heutigen Antrag verfolgt die
Linke als einzige Fraktion im Bundestag eine glaubwürdige Friedenspolitik.
({0})
61 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki und 16 Jahre
nach dem Ende des Kalten Krieges ist Rheinland-Pfalz
ein riesiges Atomwaffenlager. Auch angesichts des gegenwärtigen Irankonflikts gilt es, klarzustellen: Kein
Land auf der Welt hat ein Recht auf den Besitz von Massenvernichtungswaffen.
({1})
Dennoch werden nach Schätzungen von US-Experten
allein im rheinland-pfälzischen Büchel weiterhin
20 Atombomben stationiert. Das Atomwaffenlager in
Ramstein wurde im Frühjahr 2005 angeblich zeitweise
geräumt. Wo die dort bis dahin stationierten 130 Bomben derzeit lagern, ist unbekannt. Die Bundesregierung
hat sich in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der
Fraktion Die Linke geweigert, dazu auch nur ein Wort zu
sagen. Wahrscheinlich weiß sie, dass eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung gegen die weitere Stationierung dieser Waffen ist. Die Stationierung von
Atomwaffen in Deutschland trägt nicht zum Schutz der
Bevölkerung vor militärischen Angriffen oder Anschlägen bei - ganz im Gegenteil.
({2})
Sie stellen eine permanente Bedrohung für die Bevölkerung dar. Das US-Militär selbst hat in internen Dokumenten immer wieder Zweifel an der Sicherheit der in
Europa gelagerten Atomwaffen geäußert. Daraus folgt:
Katastrophen und Unfälle sind jederzeit möglich und
Atomwaffenlager sind immer ein potenzielles Ziel für
militärische oder terroristische Anschläge.
Trotzdem hält es die Bundesregierung nicht für nötig,
die deutsche Bevölkerung über die Anzahl, Art und Lagerung der Atomwaffen zu informieren. Begründet wird
dies zynischerweise auch noch damit, möglichen Risiken für Bevölkerung und Umwelt vorbeugen zu wollen.
Auch wenn Deutschland formell keine Atomwaffen besitzt, ist die Bundeswehr über die nukleare Teilhabe in
Atomkriegsplanungen verstrickt. In Büchel stehen deutsche Piloten mit den Tornado-Kampfjets der Bundeswehr für Einsätze bereit. Diese Kampfjets können mit
Atombomben ausgestattet werden, vorausgesetzt, der
US-Präsident hat diese vorher freigegeben.
An die Grünen gerichtet möchte ich sagen: Dieses
Problem erledigt sich nicht automatisch im Jahr 2015,
wie Sie in Ihrem Antrag suggerieren, weil bis dahin alle
atomwaffenfähigen Tornados vollständig durch die
neuen Eurofighter ersetzt worden sind.
({3})
Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf unsere
Kleine Anfrage mitgeteilt, dass sogar über das Jahr 2020
hinaus an einer kleinen Stückzahl von Tornados festgehalten wird. Die Bundeswehr soll also weiterhin für den
Einsatz von Atomwaffen gerüstet sein. Mit der nuklearen Teilhabe bricht die Bundesregierung ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen in einer Art, wie sie es bei
Nicht-NATO-Staaten zu Recht nie akzeptieren würde.
Der rheinland-pfälzische Landtag hat sich bereits im
vergangenen Jahr für einen Atomwaffenabzug ausgesprochen. Allerdings hat der dortige Ministerpräsident
und SPD-Vize mit hervorgehobener Stellung, Kurt
Beck, ebenso wie die komplette rot-gelbe Landesregierung diesen Beschluss ignoriert und die Bundesregierung bisher nicht aufgefordert, auf einen Abzug der
Atomwaffen hinzuarbeiten. Auch das können Sie in der
Antwort auf unsere Kleine Anfrage nachlesen.
Kurt Beck hat dieses Thema bei seinem USA-Besuch,
wie man Medienberichten entnehmen konnte, bewusst
nicht zur Sprache gebracht, da er - das muss man sich
einmal überlegen - nicht die Gastfreundschaft verletzen
wollte. Wo kommen wir denn hin, wenn ein Ministerpräsident nicht in der Lage ist, einer befreundeten Nation zu
sagen, dass der Landtag von Rheinland-Pfalz einen BeAlexander Ulrich
schluss zum Atomwaffenabzug gefasst hat? Es ist eben
leichter, Weinfeste zu eröffnen oder Lottoscheine entgegenzunehmen, als mit Freunden unangenehme Themen
zu besprechen.
({4})
Altkanzler Kohl hat in dieser Woche in Trier gesagt, dass
dieser Ministerpräsident ein Opportunist ist. Recht hat
er!
Wir fordern, dass der Bundestag von der Bundesregierung den Abzug jeglicher Atomwaffen verlangt, die
sich auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland
befinden, und dass keine Piloten und Flugzeuge der
Bundeswehr mehr für Atomwaffeneinsätze bereitgehalten werden. Würden die anderen hier vertretenen Fraktionen den Beschlüssen ihrer Landesparteien folgen,
müssten wir unseren Antrag mit großer Mehrheit verabschieden können. Ihre Glaubwürdigkeit steht also auf
dem Spiel.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Ulrich, was eine derart unreflektierte und einseitige Haltung mit effektiver Friedenspolitik zu tun haben soll, das müssen Sie uns einmal erklären.
({0})
Sie haben die Antwort der Bundesregierung auf Ihre
Kleine Anfrage angesprochen. Dennoch hätten Sie nicht
unbedingt verschweigen müssen, dass es auch innerhalb
des Bündnisses Geheimhaltungsregelungen gibt, die
man nicht so leicht vom Tisch wischen kann, wie Sie es
gerade getan haben.
Wir diskutieren heute zwei Themenkreise, die ohne
Frage in einem gewissen Zusammenhang stehen. Der
eine ist der Abzug möglicher auf deutschem Boden stationierter Atomwaffen. Der andere, nach einem Antrag
der Fraktion der Grünen, betrifft die Folgen des indischamerikanischen Abkommens. Hier bestehen gewisse Zusammenhänge und diese sollen in der Debatte auch nicht
zu kurz kommen.
Über die grundsätzliche Zielsetzung, die weltweite
Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen, werden wir uns in diesem Hause einig sein.
({1})
Dazu hat sich Deutschland völkerrechtlich verbindlich
verpflichtet - das ist völlig richtig - und dies liegt in unserem wohlverstandenen, fundamentalen Interesse.
({2})
Hieran hält offensichtlich auch die Bundesregierung fest,
Herr Staatsminister, wie aus der Antwort auf die entsprechende Anfrage deutlich wird.
Der Nichtverbreitungsvertrag, den wir heute in sehr
unterschiedlichem Kontext debattieren, hat bekanntlich
die Abschaffung sämtlicher Kernwaffen zum Ziel. Diesem Ziel sind auch wir als Bundesrepublik Deutschland
verpflichtet; das ist richtig. Man wird dieses Ziel allerdings nur mit einem schrittweisen Ansatz verwirklichen
können, wenn man nicht in Träumereien verfallen will
und sich nicht Illusionen hingegeben will. Auch wenn
Sie Ihre Forderungen jetzt in einem brachialen Stil, wie
er in Ihrem Antrag durchscheint, erheben, müssen Sie
sich am real Machbaren messen lassen. Auch das gehört
zu einem abgewogenen Vorgehen.
Ohne Frage gibt es noch viele Stellen, an denen es
hakt. Es gibt in den letzten Jahren aber auch Fortschritte
zu konstatieren. Neben allem, was noch wünschenswert
ist, darf auch einmal positiv angemerkt werden, dass seit
den Spitzenzeiten des Kalten Krieges die Anzahl der nuklearen Arsenale der NATO in Europa bereits um mehr
als 95 Prozent reduziert wurde, und das auf der Grundlage der geltenden Strategie des Bündnisses. Das reicht
zwar nicht und diese Dinge müssen wir weiterhin vorantreiben, doch einige Punkte sind im Kontext zu sehen:
Die notwendige Reduzierung nuklearer Arsenale ist nur
in engster Abstimmung mit unseren Bündnispartnern
zum Erfolg zu führen und nicht, indem wir gezielt und
wiederkehrend einseitig - gelegentlich geschieht dies
auch wechselseitig - unsere Bündnispartner brüskieren.
Das ist ein völlig falscher Ansatz, um unser Ziel zu erreichen.
({3})
Von daher werden Sie dieses Ziel auf die Art und Weise,
wie Sie vorgehen, mit Sicherheit nicht erreichen, Herr
Ulrich.
Des Weiteren sind die in Deutschland stationierten
Nuklearwaffen der NATO unterstellt. Demzufolge ist die
Frage, ob und wann diese abgezogen werden, eine
Frage, die die NATO zu beantworten hat. Sie machen es
sich zu leicht, wenn Sie, nur um Ihre Tradition antiamerikanischer Reflexe aufrechtzuerhalten
({4})
- so ist es doch! Es ist immer wieder dasselbe; lesen Sie
doch einmal Ihren Antrag! -,
({5})
isoliert die USA auffordern, ihre Waffen abzuziehen. Sie
scheinen die Zusammenhänge noch nicht ganz erkannt
zu haben. Andernfalls hätten Sie in Ihrem Antrag einen
Beitrag dazu geleistet, wie eine strategische Neuausrichtung der NATO aussehen könnte. Doch darüber liest
man nichts bei Ihnen. Besonders bemerkenswert ist, dass
Sie sich auf Verteidigungsminister Rumsfeld beziehen.
Das hat schon eine besondere Note. Nur sollte dann auch
der entsprechende Kontext genannt werden.
In die Erwägungen sollte die abgewogene Beurteilung einiger Punkte zumindest einbezogen werden: Mit
der Verringerung der Zahl der Atomwaffen auf ein, wie
es so schön heißt, allianzpolitisches Minimum ist weiterhin die nukleare Teilhabe der europäischen Bündnispartner verbunden; das haben Sie richtig angemerkt. Solange
wir eine nukleare Planung und ein gewisses Maß an Nuklearwaffen innerhalb des Bündnisses haben, ist damit
natürlich auch der Einfluss auf diese Planungen gewährleistet. Übrigens ist diese Strategie der NATO, wenn ich
das richtig in Erinnerung habe, erst im Jahre 1999 noch
einmal fortentwickelt und bestätigt worden und die Fraktion der Grünen hat ihr zumindest nicht widersprochen;
auch das ist anzumerken.
Einen weiteren Aspekt, der damit im Zusammenhang
steht, will ich eher in Frageform bringen: Kommt es aufgrund einer überhasteten Abkopplung - wenn wir also
eine Abkopplung von dieser Strategie betreiben
würden - möglicherweise zu einer Desolidarisierung innerhalb des Bündnisses? Dazu liest man in Ihrem Antrag
nur ein wenig, während die Grünen auf Griechenland
und Kanada verweisen. Das ist aber natürlich ein bisschen dürr. Die Frage ist, wie man dem kreativ begegnen
kann. Ich glaube, das Letzte, was wir wollen - mit einer
Ausnahme wahrscheinlich -, ist eine Destabilisierung
und Desolidarisierung innerhalb des Bündnisses. Hier ist
schon etwas mehr als nur das zu leisten, was in den Anträgen zu lesen ist.
({6})
Solange wir uns in einem schrittweisen Vorgehen befinden, ist es doch auch in unserem Interesse, sich noch
ein gewisses Mitspracherecht für diese genannten Fälle
zu bewahren. Ja, meine Damen und Herren, man darf
durchaus auch kritisch hinterfragen, ob die Stationierung
von Waffen, die erst einmal an einen Ort verbracht werden müssten, an dem sie zum Einsatz kommen könnten,
aufgrund der Erweiterung der NATO und der Europäischen Union sowie aufgrund der veränderten Sicherheitslage noch zeitgemäß ist. Diese Frage darf gestellt
werden. Wenn man diese Frage aber stellt, dann sollte
man sie auch mit aktuellen Entwicklungen auf dieser
Erde koppeln und nicht isoliert behandeln. Man sollte sie
dann auch in den Kontext stellen, wie sich die gesamte
Sicherheitslage darstellt. Stichwort „Iran“: Man muss
sich dabei auch fragen, wo neue nukleare Potenziale entstehen. Sie werden Ihrer Verantwortung nicht gerecht,
wenn Sie hier so isoliert vorgehen.
Um einmal einen einseitigen Zungenschlag von Ihrer
Seite herauszuarbeiten: Herr Ulrich, wo benennen Sie
- die Grünen tun das; man sollte sie auch einmal loben ({7})
beispielsweise die angekündigten Reduzierungen russischer substrategischer Nuklearwaffen? Davon liest man
bei Ihnen überhaupt nichts. Es ist auch erwartungsgemäß, dass das nicht der Fall ist. Bezüglich der Amerikaner machen Sie wieder mal Tabula rasa. Bei Ihnen steht
nichts davon. Das ist bei weitem zu wenig. Es wäre Ihnen vielleicht einmal zu empfehlen, hier den Gesamtkontext herzustellen
({8})
- Herr Kollege Trittin, ein Schelm, der hier irgendwelche wahltaktischen Erwägungen vermutet, wenn man
auch an Rheinland-Pfalz denkt.
Zur indisch-amerikanischen Vereinbarung, deren
Charakter mit Sicherheit ambivalent ist.
({9})
Diese Ambivalenz sollten wir auch herausstellen. Kollege Trittin, zu den jeweiligen Punkten in Ihrem Antrag,
die Sie im Hinblick auf diese Vereinbarung genannt haben, kann man nur sagen: Sie sind schwer von der Hand
zu weisen. Ich glaube, trotzdem bleibt es für uns eine
ernsthafte und gewichtige Wertungsfrage, ob man, wie
Sie, darin im Wesentlichen eine Erschütterung des
Nichtverbreitungsvertrages sehen will oder ob man das
Abkommen trotz aller negativen Implikationen zumindest auch als partielle Heranführung Indiens an den
Nichtverbreitungsvertrag erachten kann. Das sollten wir
nicht vergessen, wenn wir diese Bewertung vornehmen.
Das eigentliche Problem ist doch weniger, dass der
Nichtverbreitungsvertrag durch das Abkommen als solches geschwächt würde; denn Indien hat ihn nie unterzeichnet. Durch die Vereinbarung werden vielmehr die
bekannten Schwächen wieder offensichtlich, Schwächen, für die viele Verantwortung tragen - auch die Vereinigten Staaten. Das wollen wir hier nicht ausklammern. Viele tragen hierfür Verantwortung. Diese
Schwächen liegen aber insbesondere auch in der mangelnden Universalität. Das ist eine der Grundschwächen
in diesem Zusammenhang.
Wird der Beitritt Indiens zum Nichtverbreitungsvertrag damit unwahrscheinlicher? Für mich ist zunächst
einmal nicht erkennbar, dass der Beitritt vorher wahrscheinlicher gewesen ist. Noch einmal: Lassen Sie uns
positiv hervorheben, dass im Kontext dieses Abkommens zukünftig zumindest in einem begrenzten Bereich
Inspektionen der IAEO stattfinden. Das ist ein Zwischenschritt hin zu einem zu fordernden Gesamtschritt,
den wir politisch dann auch zu flankieren und zu unterstützen haben.
Herr Präsident, ich schließe mit den Fragen - das dürfen wir auch einmal selbstkritisch anmerken -: Wo waren in dem Gesamtkontext des letzten Punktes - Amerika, Indien - eigentlich wir, die Europäer? Wo war die
Europäische Union? Wo findet hier eine europäische
Außenpolitik im Kontext sich verändernder strategischer
Neuausrichtungen und Umstände in der Welt statt?
Ich glaube, das ist bei weitem wichtiger, als dass wir,
wie auf der linken Seite dieses Hauses, nur auf BündnisKarl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
partner einprügeln. Wir müssen uns über unsere Rolle
als solche wieder klar werden und wir müssen uns wieder bewusst werden, dass wir in diesem Zusammenhang
eine weitergehende Aufgabe haben.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Elke Hoff von der FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Drei eng miteinander verknüpfte Themen
stehen im Zentrum der heutigen Debatte: die nuklearen
Ambitionen des Iran, das jüngste Nuklearabkommen
zwischen Indien und den USA sowie der Abzug der taktischen Nuklearwaffen aus Deutschland.
Die Verhandlungen mit dem Iran über dessen mögliche Ambitionen, Nuklearwaffen herzustellen, stecken
nach dem Scheitern der russischen Kompromisslösung
in der diplomatischen Sackgasse. Die internationale
Staatengemeinschaft ist sich ausnahmslos bewusst, dass
hier eine sicherheitspolitische Zeitbombe mit gefährlichen Auswirkungen auf die Stabilität im Nahen und
Mittleren Osten und auch darüber hinaus tickt. Wir wissen, dass die Chancen der internationalen Gemeinschaft,
den Iran von seinem Vorhaben abzubringen, überhaupt
nur dann vorhanden sind, wenn ein breiter Konsens zwischen den Staaten erkennbar ist. Vor allem die Geschlossenheit der P 5 ist hier entscheidend, wenn der Iran eine
Angelegenheit des UN-Sicherheitsrates wird.
({0})
In dieser Situation ist es mehr als unglücklich, dass
die Regierung Bush gerade jetzt mit Indien ein Abkommen über zivile Nuklearkooperation abschließen will.
Indien gehört neben Pakistan und Israel zu den Atommächten, die sich seit langem weigern, dem nuklearen
Nichtverbreitungsvertrag beizutreten und die darin festgelegten Verpflichtungen zu erfüllen. Wenn dieser beklagenswerte Zustand jetzt in Form einer nuklearen Partnerschaft sozusagen ein internationales Gütesiegel erhält,
untergräbt und schwächt dies das nukleare Nichtverbreitungsregime nachhaltig. Der Eindruck, der Besitz von eigenen Nuklearwaffen auch außerhalb des Vertragswerkes erhöhe das internationale Profil und sichere Macht,
Einfluss und Anerkennung eines Staates, wäre für so
manche potenzielle Nuklearmacht ein geradezu unwiderstehlicher Anreiz.
({1})
Natürlich ist Indien die größte Demokratie weltweit,
aber das ist nach den Prinzipien des nuklearen Nichtverbreitungsregimes nicht das ausschlaggebende Kriterium.
Seine substanzielle Glaubwürdigkeit wird durch die Anwendung von zweierlei Maßstäben - auf der einen Seite
die Forderung an den Iran nach Verzicht und auf der anderen Seite die Privilegien für Indien ohne gravierende
Auflagen - ohne Not aufs Spiel gesetzt.
Vor allem aber schwächt dieser Nukleardeal die Verhandlungsposition gegenüber dem Iran, hintertreibt die
diplomatischen Bemühungen der EU 3 und gefährdet
den weltweiten Konsens gegenüber Teheran, und zwar
nicht nur, weil die Iraner selbst neue Argumente auf dem
silbernen Tablett serviert bekommen. Wir alle wissen,
dass die Mitwirkung und Zustimmung Chinas in der
Iranfrage kritisch ist. Peking hat einerseits wegen seines
enormen Energiebedarfs ein zwingendes Interesse an guten Wirtschaftsbeziehungen zum Iran. Andererseits wissen die Chinesen aber auch, dass sie als größter regionaler Rivale einer der Adressaten des indischen
Nuklearwaffenprogramms sind. Ich bezweifle, dass das
amerikanisch-indische Nuklearabkommen die konstruktive Mitwirkung Pekings in der Iranfrage befördern
wird.
Noch ist dieses Abkommen nicht endgültig ratifiziert.
Der amerikanische Kongress wird sich dazu äußern müssen. Über die Nuclear Suppliers Group hat Deutschland
gemeinsam mit den EU-Partnern Mitverantwortung und
Einwirkungsmöglichkeiten. Ich bin mir durchaus bewusst, dass dies, folgte man dabei alten Reflexen, eine
erneute Belastung der transatlantischen Beziehungen
darstellen könnte. Die Bundesregierung muss aber an
dieser Stelle ebenso wie es alle anderen Beteiligten auch
tun, das nationale Interesse in den Mittelpunkt ihres
Handelns stellen und mit einer klaren sicherheitspolitischen Position, die mir bisher allerdings noch nicht aufgefallen ist, in dieser Frage aufwarten.
Das amerikanisch-indische Abkommen ist ein schwerer Schlag für den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag,
der sich seit dem Scheitern der Überprüfungskonferenz
im vergangenen Jahr ohnehin in einer Glaubwürdigkeitskrise befindet. Wir werden die Glaubwürdigkeit des
Nichtverbreitungsregimes nur dann stärken können,
wenn wir weltweit endlich wieder zu einer stringenten
nuklearen Abrüstungspolitik zurückfinden.
({2})
Verehrter Kollege Ulrich, es bedarf nicht des Erscheinens der Fraktion der Linken im Deutschen Bundestag;
denn die FDP hat bereits vor knapp einem Jahr hier im
Bundestag einen abrüstungspolitischen Antrag eingebracht, in dem als wichtiges Abrüstungssignal unter anderem ein Abzug der amerikanischen taktischen Nuklearwaffen aus Deutschland gefordert wurde.
({3})
Die FDP hat damit eine Diskussion angestoßen, die seit
langem überfällig war und mit den jetzt vorliegenden
Anträgen wieder aufgegriffen wird.
Die bis heute in Deutschland stationierten taktischen
Nuklearwaffen sind ein Relikt des Kalten Krieges und
haben angesichts der sicherheitspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts keine strategische Funktion
mehr.
({4})
Potenzielle Adressaten nuklearer Abschreckung in Staaten, die den atomaren Einsatz zu einem legitimen politischen Mittel erklären, wären mit diesen Waffen theoretisch nicht zu erreichen.
Der russische Außenminister hat im Sommer 2005
verkündet, Moskau sei zu neuen Abrüstungsverhandlungen bereit. Der amerikanische Verteidigungsminister
Rumsfeld hat erklärt, dass er bereit sei, Deutschland und
der NATO die Entscheidung zu überlassen. Wir wollen,
dass beide hier beim Wort genommen werden.
Zum Schluss darf ich feststellen: Die alte Bundesregierung hat zwar als Reaktion auf unseren Antrag im
vergangenen Jahr zugesagt, das Thema in der NATO zur
Sprache zu bringen. In den zuständigen NATO-Gremien
ist dieser Punkt aber bisher noch nicht auf der Tagesordnung erschienen.
Ich frage die neue Bundesregierung: Macht die Stationierung von taktischen Nuklearwaffen in Deutschland
noch Sinn und ist die nukleare Teilhabe nach dem Ende
des Kalten Krieges in dieser Form noch begründet? Das
Forum, in dem über diese Frage nüchtern und sachlich
diskutiert werden muss, sind - das hat mein Vorredner
richtigerweise gesagt - die Gremien der NATO.
Wir hoffen sehr, dass in absehbarer Zeit ein klares Signal zur Abrüstung, das den Prozess weiter befördern
kann, zu erwarten ist. Wir als FDP stehen nach wie vor
zu dem Antrag, den wir im letzten Jahr eingebracht haben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rolf Mützenich
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
den vergangenen Wochen haben wir häufig über die
Rolle der Atomwaffen, die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle und die Folgen für die internationale Politik gesprochen. Dies war richtig; denn es gab leider genügend Anlässe dafür.
Kollege Ulrich, die Lagerung von Atomwaffen in
Deutschland ist ein weiterer Aspekt in diesem Zusammenhang. Ich finde aber, dass Sie mit Ihrem Antrag zu
kurz gesprungen sind. Der Kollege Guttenberg hat bereits einige Zusammenhänge dargestellt. Ich möchte dem
noch einiges hinzufügen.
Lassen Sie mich begründen, warum Sie mit dem Antrag zu kurz gesprungen und damit den Herausforderungen, die Deutschland im Zusammenhang mit Atomwaffen hat, nicht gerecht geworden sind: Sie agieren
bewusst einseitig und innenpolitisch motiviert und verkürzen die Zusammenhänge.
({0})
Anders kann ich mir diesen Antrag nicht erklären.
Wenn Sie sich ernsthaft mit den Problemen beschäftigt hätten, dann hätten Sie einige Punkte besser gewichten müssen. Ich habe mich gefragt, warum Sie nicht die
Atomwaffen in anderen europäischen Staaten wie Belgien oder Großbritannien thematisieren. Sind sie besser?
Wenn wir als deutsches Parlament im europäischen Kontext agieren wollen, dann muss man das doch benennen.
Warum soll das nicht in den Antrag mit hineingehören?
Sie haben die Forderung des Kollegen Guttenberg belächelt, auch die russischen taktischen Nuklearwaffen zu
benennen. Natürlich stehen sie im Zusammenhang mit
dem Thema. Das hätten Sie in Ihrem Antrag mit aufnehmen können.
({1})
Deswegen wiederhole ich: Ihr Antrag ist nur innenpolitisch motiviert. Er wird den internationalen Herausforderungen nicht gerecht.
Ich komme zu einem weiteren Punkt, den Sie in Ihrem Antrag angesprochen haben. Ich war damals dabei,
als die von Ihnen zitierte Studie vorgestellt wurde. Es
ging darum, dass bei einer weiteren Krise im Nahen und
Mittleren Osten möglicherweise europäische Atomwaffen eingesetzt werden könnten. Das ist meiner Meinung
nach in keiner Weise herzuleiten; ich halte es auch nicht
für belegbar. Wenn es dazu kommen sollte, dann werden
keine Atomwaffen von hier aus eingesetzt; es wäre vielmehr eine Situation, der wir gemeinsam begegnen müssten, und zwar nicht mit Alarmismus und solchen Anträgen, sondern durch eine kluge Politik, mit der Sie die
Bundesregierung unterstützen könnten.
({2})
Es gibt einen weiteren Grund, weshalb Sie mit Ihrem
Antrag viel zu kurz gesprungen sind. Sie beziehen sich
darin auf die Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag. Dabei benennen Sie nur die USA, als ob
das der einzige Akteur wäre, durch den die Konferenz
gescheitert ist. Bei der Überprüfungskonferenz im
Mai 2005 in New York haben auch der Iran, Frankreich
und Ägypten eine Rolle gespielt. Das war nicht so einseitig, wie Sie es darstellen.
Es bringt allerdings nichts, nur über verkürzte Zusammenhänge in Anträgen zu sprechen. Erlauben Sie mir
deshalb einen Hinweis. Ich habe nichts dagegen, wenn
Verteidigungsminister Jung in den zuständigen Gremien
auf das Thema eingehen wird, aber in dem Fall sollten
auch die Zusammenhänge berücksichtigt werden, wie es
der frühere Verteidigungsminister Struck getan hat. Ich
glaube, es lohnt sich, an dieser Stelle die Zusammenhänge zu benennen.
({3})
Ich möchte auch auf den Antrag der Grünen eingehen.
Sie haben zu Recht auf den Antrag unserer damaligen
rot-grünen Koalition hingewiesen, weil darin die Gesamtzusammenhänge beschrieben worden sind. Ich
glaube, es lohnt sich, über beide Anträge eine intensive
Debatte im Auswärtigen Ausschuss, aber auch im Unterausschuss für Abrüstung und Rüstungskontrolle zu führen.
Der eigentliche Kern, über den wir diskutieren müssen, wenn es um Atomwaffen geht, besteht auch in Folgendem: Ich selbst habe nach dem Ende des Ost-WestKonflikts gedacht, es gebe eine Chance für Abrüstung,
es gebe eine Chance für die Friedensdividende. Leider
ist das nicht eingetreten. Wir erleben seit Mitte der 90erJahre in diesen Dingen einen Rückfall. Bisher sind es
nur die europäischen Länder gewesen, die versucht haben, Regelwerke in die Diskussion einzubringen, die
dem Thema der nuklearen Rüstungskontrolle gerecht
werden.
Wir haben diese Krise der nuklearen Rüstungskontrolle, weil Initiativen scheitern. Der umfassende Teststoppvertrag ist nicht unterzeichnet worden; das festzustellen, ist im Zusammenhang mit Indien und den USA
ganz interessant. Ferner gab es in jüngster Zeit Krisen in
Bezug auf Nordkorea und den Iran. Wir haben es aber
auch mit Ländern zu tun, die sich in diesen Fragen
sozusagen ein besonderes Recht herausnehmen, wie beispielsweise Brasilien im Zusammenhang mit der Urananreicherung. Die Rolle, die Kernwaffen und militärische Gewalt spielen können, wird in vielen Ländern neu
definiert, nicht nur in den USA, sondern auch in Russland und der Volksrepublik China. Wenn Sie das Thema
wirklich ernst nehmen würden, hätten Sie diese Entwicklungen in Ihrem Antrag aufgreifen müssen.
({4})
Ich möchte jetzt zu dem Themenkomplex Indien
kommen. Ich glaube, dass die jüngsten Entwicklungen
- wir haben am Mittwoch im Ausschuss darüber diskutiert - leider einen weiteren Schritt darstellen, der in den
nächsten zehn oder 20 Jahren die internationale Nuklearordnung verändern wird. Ich gebe zu: Gut ist, dass es der
Internationalen Atomenergiebehörde in Zukunft möglicherweise erlaubt werden soll, 50 oder 60 Prozent der
dortigen Anlagen zu inspizieren. Ein abschließendes Urteil kann man sich heute noch nicht bilden, weil uns, sowohl der Öffentlichkeit als auch - wenn ich das richtig
verstanden habe - der Bundesregierung, der Text des
Abkommens nicht vorliegt. Wir sollten darüber diskutieren, wenn wir den Text kennen.
Aber eines ist bereits jetzt klar - das hat die Kollegin
vorhin sehr deutlich gemacht -: Es wird ein Prinzip des
Nichtverbreitungsvertrages infrage gestellt, ein Prinzip,
das darin besteht: Wir belohnen die Staaten, die auf
Atomwaffen verzichten, in Form von Unterstützung. Ob
wir das nun aus innenpolitischer Sicht für gut halten oder
nicht: Dieses Prinzip war wichtig und richtig, um Staaten an den Atomwaffensperrvertrag heranzuführen. Jetzt
ist es das erste Mal, dass dieses Prinzip einseitig - so
muss man schon sagen - hintertrieben wurde.
Besonders hinterfragen möchte ich die Einseitigkeit
dieser Handlungen. Wenn ich es richtig verstanden habe,
haben die USA niemanden, insbesondere niemanden aus
der Nuclear Suppliers Group, an dieser Diskussion beteiligt. Ferner glaube ich, dass der Zeitpunkt, zu dem diese
Vereinbarung unterzeichnet wurde, schlecht gewesen ist,
weil wir, besonders mit Blick auf den Iran, niemandem
erklären können, warum dieser Vertrag die nukleare
Rüstungskontrolle stärken soll. Darüber hinaus ist die
Chance vertan worden, Indien zu verpflichten, dem Problem der Rüstungskontrolle in Südasien seine Aufmerksamkeit zu widmen. Es gibt in Südasien bisher keine
Vereinbarung, die der Frage der nuklearen Rüstungskontrolle dort gerecht würde, im Gegenteil: Diese Vereinbarung zwischen den USA und Indien ist zum Anlass genommen worden, neue Waffenverkäufe anzubieten. Wir
tun dieser Region mit Sicherheit keinen Gefallen, wenn
wir sie in einen neuen Rüstungswettlauf stürzen.
({5})
Auch Folgendes möchte ich noch anführen: Ich hätte
es verstanden, wenn wir über eine Alternative zum
Nichtverbreitungsvertrag, zum Atomwaffensperrvertrag verfügen würden. Aber die haben wir überhaupt
nicht. Keiner bietet aktuell eine Alternative dazu an, weder die ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates
noch andere Staaten. Deswegen ist es ja so wichtig, dass
wir an dem Atomwaffensperrvertrag weiterarbeiten.
Deswegen war es gut, dass die 25 Staaten der Europäischen Union im Mai auf der Überprüfungskonferenz gemeinsam agiert haben. Man muss auch sehen, dass der
Atomwaffensperrvertrag in den letzten zehn, 20 Jahren
Vorteile gebracht hat. Denn Südafrika, Brasilien und Argentinien haben sich zu diesem Vertrag bekannt, ebenso
wie einige Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Deswegen lohnt es sich, diesen Vertrag zu stärken.
({6})
Dazu rufe ich die Bundesregierung von dieser Stelle
aus auf. Ich glaube, dass es notwendig ist, im Rahmen
der Europäischen Union neue Initiativen mit auf den
Weg zu bringen, mit denen der Atomwaffensperrvertrag,
aber auch die Rüstungskontrolle insgesamt gestärkt werden. Wir sollten in diesem Zusammenhang darüber
nachdenken, ob möglicherweise die Ansätze betreffend
Abrüstung und Rüstungskontrolle, die die USA in letzter
Zeit verfolgen - sie sind zwar sehr einseitig, aber immerhin gibt es welche, wie die PSI-Initiative -, in ein Regelsystem überführt und institutionalisiert werden sollten.
Wir brauchen auf jeden Fall ein Regelsystem, das verhindert, dass Mittelstreckenraketen in die Hände von
Staaten gelangen, die sie möglicherweise missbrauchen.
Dazu sind die Ansätze geeignet. Aber es muss einen völkerrechtlichen Vertrag geben. Ich glaube jedenfalls, dass
es in den USA relevante Ansätze gibt. Ich finde, es ist
hochinteressant, dass Senator Lugar in der „Süddeutschen Zeitung“ darauf hingewiesen hat, er könne sich
vorstellen, dass die USA direkt mit dem Iran verhandeln.
Das Parlament und die Bundesregierung sollten das aufnehmen.
Die Rüstungskontrolle hat mitgeholfen, den OstWest-Konflikt zu überwinden. Dieses Instrument könnte
auch bei anderen Rüstungskonflikten und Regionalkonflikten helfen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Trittin vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Abrüstung
und Nichtverbreitung sind aktuelle, aber auch globale
Themen. Global bedeutet ein bisschen mehr als Hunsrück und Eifel, lieber Kollege Ulrich. Sie haben zwar
Recht, dass wir die taktischen Waffen abziehen müssen;
wir haben dazu entsprechende Vorschläge vorgelegt.
Aber die eigentliche Herausforderung ist in der Tat die
globale Infragestellung des Nichtverbreitungsvertrages.
Der Kern dessen, worüber wir heute diskutieren, ist die
Frage: Gelingt es uns, das Regime der nuklearen Rüstungskontrolle und Abrüstung zu erhalten, oder bewegen
wir uns in eine Richtung, die dazu führt, dass dieses System durchlöchert und schließlich aufgelöst wird? Das ist
gerade vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um
den Iran von zentraler Bedeutung.
Wir sind klar dagegen, dass sich der Iran unter dem
Deckmantel der zivilen Nutzung der Atomenergie
Atomwaffen verschafft. Wir wollen ihn mit friedlichen,
zivilen Mitteln daran hindern.
({0})
Aber in einer solchen Situation muss man alles vermeiden, was anschließend nach nachträglicher Legitimation
der Argumentation der iranischen Führung aussieht nach
dem Motto „Hier soll ein Sonderrecht allein gegen den
Iran als ein muslimisches Land geschaffen werden“. Genau das ist die subkutane Botschaft des Abkommens
zwischen den USA und Indien.
({1})
Damit ich mich nicht dem Verdacht des Antiamerikanismus aussetze,
({2})
will ich an dieser Stelle zwei Zitate anführen. Die
„Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ schreibt,
dass mit dem USA-Indien-Deal ein „schlechtes Beispiel
schlechte Schule mache und den internationalen Bemühungen zur Nichtproliferation einen Bärendienst erweise.
Indien wird im Nachhinein belohnt für seine nukleare
Aufrüstungspolitik; die Bereitschaft, einen Teil seiner zivilen Nuklearanlagen unter internationale Kontrolle zu
stellen, gilt erstens nur für einen Teil und schließt zweitens die militärische Seite vollkommen aus“. Sie schließt
also all das aus, was für die Fragen betreffend die Nichtproliferation, die Anreicherung und den Prozess der Separierung von Plutonium in Wiederaufarbeitungsanlagen
relevant ist.
Dem, was Edward Markey, ein demokratischer Abgeordneter im US-amerikanischen Repräsentantenhaus,
gesagt hat, ist zuzustimmen: Das Abkommen „untergräbt die Sicherheit nicht nur der Vereinigten Staaten,
sondern des Rests der Welt … Der Präsident hat mit
einem einzigen Schlag ein Loch in das nukleare Regelwerk gesprengt.“ Diese Form praktizierter Doppelstandards können wir uns gerade angesichts der Auseinandersetzung um den Iran nicht erlauben. Hier kommt es in
sehr starkem Maße auf die Haltung der Bundesregierung
an. Wollen Sie den für Indien geltenden Lieferstopp
hinsichtlich nuklearen Materials und entsprechender
Technologie nun aufheben? Oder beharren Sie auf dem
Prinzip der Einstimmigkeit in der Nuclear Suppliers
Group? Ich glaube, dass die Aufrechterhaltung des Lieferstopps der richtige Weg gewesen wäre, Indien an das
nukleare Kontrollregime heranzuführen.
({3})
Jeder muss doch wissen, dass es nur eine Frage der
Zeit ist, bis Indien nicht mehr über hinreichende Mengen
an Uran verfügt, um seine Anlagen zu betreiben. Hier
konsequent geblieben zu sein, wäre der richtige Weg gewesen, Herr von Guttenberg, wenn man das hätte erreichen wollen, was man zu Recht begrüßt, nämlich dass es
ein kleines Stück mehr Kontrolle gibt. Wenn man hartnäckig und konsequent geblieben wäre, dann wäre man
auf dem richtigen Weg gewesen.
({4})
Hier ist vom Scheitern des letzten Nichtverbreitungsvertrages gesprochen worden. Damals hat Kofi
Annan ein bitteres Fazit gezogen. Er hat gesagt: Das
große Thema, das fehlt, ist Abrüstung und Nichtverbreitung. Dies ist eine echte Schande. Wir haben in diesem
Jahr zweimal versagt. Wir versagten bei der NPT-Konferenz und wir versagten jetzt. - Ich finde, mit dem Versagen muss es ein Ende haben. Es ist Zeit, zu handeln, und
wir müssen zu dem großen Konsens zurückkehren, den
wir einmal hatten, nämlich mit dafür zu sorgen, dass es
keine Atomwaffen mehr auf diesem Globus gibt.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/448, 16/819 und 16/834 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Hans-Josef Fell, Kai Boris Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Zukunftsfähige Forschung in Europa stärken
- Drucksache 16/710 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Krista Sager vom Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir
die Ziele der Lissabonagenda erreichen wollen, dann
brauchen wir zweifelsohne sowohl auf der Ebene der
Mitgliedstaaten als auch auf der europäischen Ebene
eine deutliche Steigerung der Mittel für die Forschung.
Ich denke, darüber sind wir uns alle einig. Jetzt wissen
wir - das ist positiv -: Es wird auch auf der europäischen
Ebene im Zusammenhang mit dem 7. Forschungsrahmenprogramm mehr Mittel für Forschung geben. Wir
wissen aber auch: Es wird nicht so viele Mittel für Forschung geben, wie die Kommission in ihrem Vorschlag
vorgesehen hat, wenn wir das zugrunde legen, was die
Staats- und Regierungschefs im Dezember auf dem Gipfel über den mehrjährigen Finanzrahmen vereinbart haben. Wir wissen zwar noch nicht endgültig, was Parlament und Rat über diesen mehrjährigen Finanzrahmen
vereinbaren werden, wir müssen uns aber darauf einstellen, dass die Bundesregierung die Frage beantworten
muss, wie sie angesichts der Situation, dass wir weniger
Geld haben werden, als im Kommissionsvorschlag vorgesehen war, auf der europäischen Ebene agiert.
({0})
Da haben wir einige Bitten und Forderungen. Erstens.
Wir möchten Sie auffordern, sich dafür einzusetzen, dass
in jedem Fall mögliche Kürzungen nicht über alle Bereiche gleichmäßig verteilt werden, sondern dass in jedem
Fall der Forschungsbereich gegenüber anderen Bereichen ein stärkeres Gewicht bekommt. Das brauchen wir.
({1})
Zweitens. Wenn es innerhalb des 7. Forschungsrahmenplans gegenüber der Vorlage zu Einschränkungen
kommen muss, dann dürfen diese Kürzungen nicht
gleichmäßig über alle Forschungsbereiche verteilt werden. Es darf schon gar nicht sein, dass bestimmte Megaprojekte wie zum Beispiel ITER einen besonderen
Schutz genießen. Wir wollen vielmehr einen Vorrang für
die zukunftsrelevanten Bereiche, und zwar vor allem für
die Bereiche, die unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit zukunftsrelevant sind und im Einklang mit den
Umweltzielen der Lissabonstrategie stehen. Diese gehören nämlich unweigerlich und notwendig zur Lissabonstrategie.
({2})
Wir sehen dabei natürlich nicht nur die regenerativen
Energien, nicht nur die Einsparungseffekte aufgrund der
Energieforschung, sondern auch die Nachhaltigkeitspotenziale in der Nanotechnologie, in der Materialforschung, in der Weißen Biotechnologie, im Verkehrs- und
Umweltbereich und bei den nachwachsenden Rohstoffen. Wir treten ganz klar dafür ein, dass Sie sich für diese
eindeutigen Prioritäten einsetzen.
({3})
Wir haben im Ausschuss schon festgestellt, dass diejenigen Programme im Bildungs- und Wissenschaftsbereich, bei denen es um die Förderung von Personen
geht, von der Steigerung der Mittel nicht so sehr wie die
Forschungsrahmenprogramme profitiert haben. Wir
möchten, dass in das 7. Forschungsrahmenprogramm die
individuelle Förderung unseres wissenschaftlichen
Nachwuchses, unserer jungen Forscherinnen und Forscher, integriert wird; denn unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten ist das zwingend notwendig.
({4})
Wir wollen auch, dass kleine und mittlere Unternehmen und nicht nur die große Industrie Zugang zu diesen
Programmen haben. Das heißt, wir wollen administrative Hürden abbauen. Denn gerade unsere kleinen und
mittleren Unternehmen verfügen über ein großes Innovationspotenzial im Forschungsbereich.
({5})
Wir brauchen auch starke Geisteswissenschaften.
Wenn wir uns gesellschaftliche Transformationsprozesse
anschauen - große Veränderungen durch die Globalisierung und durch den demografischen Wandel -, dann erkennen wir, dass die Geisteswissenschaften eben nicht
nur Beiwerk sind und dass wir einen Schwerpunkt auf
entsprechende Forschungsprogramme setzen müssen.
({6})
Aus meiner Sicht ist das Thema „Europäisches
Technologieinstitut“ noch nicht ausdiskutiert. Die vorhandenen Modelle werfen mehr Fragen auf, als sie heute
beantworten. Es darf keinen Widerspruch zu dem Ansatz
geben, die europäische Grundlagenforschung zu stärken,
unter anderem durch einen gemeinsamen Forschungsrat.
Es muss von Anfang an Sorge dafür getragen werden,
dass der gemeinsame Forschungsrat kein Instrument von
Interessengruppen wird, schon gar nicht von nationalen;
vielmehr muss er wirklich ein Instrument der europäischen Grundlagenforschung werden. Wenn das der Fall
ist, können wir uns damit einverstanden erklären. Wir
gehen davon aus, dass die Bundesregierung uns laufend
über die weitere Entwicklung auf der europäischen
Ebene informiert, damit wir vom Parlament aus weiter
zeitnah verfolgen können, wie die Weichen gestellt werden.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat der Kollege Carsten Müller von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wissenschaft und Forschung haben
für Deutschland und auch für die Europäische Union
eine ganz herausragende Bedeutung. Innovationen sind
für eine dauerhaft wachsende Volkswirtschaft lebensnotwendig. Das war zwar bisher schon so; dieser Aspekt
wird in Zukunft aber eine noch größere Bedeutung bekommen.
Sowohl die EU als auch Deutschland liegen im Vergleich der Forschungsaufwendungen hinter den USA
und Japan zurück. Nur durch eine Steigerung der Anstrengungen ist es möglich, den uns bevorstehenden Herausforderungen zu begegnen und gesetzte Ziele zu erreichen.
Die neue Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt,
Forschung und Wissenschaft voranzutreiben.
({0})
Der hohe Stellenwert der Forschung geht aus dem Koalitionsvertrag ganz deutlich hervor. Die Bundesregierung
hat sich dort bezüglich der Bereiche Forschung und Entwicklung auf wichtige zusätzliche Maßnahmen geeinigt.
Bis zum Jahr 2009 werden zusätzlich 6 Milliarden Euro
für besonders zukunftsträchtige Forschungs- und Entwicklungsvorhaben zur Verfügung gestellt. Dadurch
werden Querschnitts- und Spitzentechnologien unterstützt und verbesserte Rahmenbedingungen für die deutschen Forschungseinrichtungen und Unternehmen
geschaffen. Ziel dieser Innovationspolitik ist es, die Verbindung zwischen Forschung und Zukunftsmärkten
auszubauen.
Deutsche Unternehmen gehören auf wichtigen Technologiefeldern, zum Beispiel auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien, bereits heute zur internationalen
Spitze. Die damit verbundenen Marktchancen werden
bislang leider noch nicht in vollem Umfang genutzt. Das
muss sich dringend ändern.
({1})
Auch die EU muss auf die Herausforderungen angemessen reagieren. Wir müssen deswegen in europäischen Dimensionen denken. Wichtige Forschungsvorhaben sind heute technisch und finanziell praktisch nur
noch im europäischen Maßstab durchführbar. Dabei
denken Sie, Frau Sager, wie ich zum Beispiel an Galileo
oder auch an ITER.
Ein weiterer nicht zu unterschätzender Ansatz in der
europäischen Forschungsförderung ist der Wissenschaftlernachwuchs. Dieser ist die Grundlage für den
Weg zu unseren Zielen. Einige Forschungsbereiche sind
jedoch entweder gar nicht oder nur unzureichend bekannt. So erreichen wir den wissenschaftlichen Nachwuchs leider nicht. Faszination und Neugier müssen der
jungen Generation vermittelt werden. Deswegen ist es
wichtig, dass der Nachwuchs nicht nur national, sondern
auch auf europäischer Ebene gefördert und unterstützt
wird und so Motivation erfährt.
({2})
Bei den Bemühungen der EU müssen wir darauf achten, dass neue europäische Forschungsinfrastrukturen nur in den Bereichen gefördert werden, in denen
bereits vorhandene nationale Einrichtungen diese Aufgaben nicht ausfüllen können. Hierbei sollen bestehende
Forschungseinrichtungen stärker an die gemeinschaftliche Forschungsinfrastruktur angebunden werden. Im
Rahmen der europäischen Forschungspolitik ist es dabei
besonders wichtig, dass das Forschungsrahmenprogramm einen europäischen Mehrwert generieren muss.
Es darf nicht zulasten der nationalen Forschungsförderung gehen. Ein europäischer Forschungszentralismus
muss unbedingt vermieden werden.
({3})
Die Unionsfraktion und auch die Fraktion der SPD sind
ganz froh darüber, dass die neue Bundesregierung das
offensichtlich auch so sieht.
Mit der Erklärung von Lissabon hat sich die EU das
Ziel gesetzt, Europa an die Spitze der Wissensgesellschaften zu führen. Mit dem Forschungsrahmenprogramm soll Europa zur stärksten Forschungs- und Innovationsregion werden. Dieses Ziel wird in diesem Haus
wohl von allen Fraktionen gemeinsam getragen. Die
Laufzeit des 7. Programms ab dem 1. Januar 2007
wurde sinnvollerweise der finanziellen Vorausschau von
2007 bis 2013 angepasst. Das bietet den Forschungseinrichtungen eine wesentlich größere Planungssicherheit.
Leider - darauf ist Frau Sager schon eingegangen konnte auf europäischer Ebene nicht alles wie gewünscht im 7. Programm verankert werden. Die vorgesehene finanzielle Ausstattung wurde nicht erreicht. Es
ist jedoch dem großen Einsatz der Bundesregierung und
insbesondere der Bundeskanzlerin zu verdanken, dass
am Ende ein tragfähiger und auch finanzierbarer Kompromiss steht. Im Jahr 2013 werden die EU-Forschungsmittel 75 Prozent über denen des Jahres 2006 liegen. Das
ist ein unbestreitbar großer Erfolg.
({4})
Die nächste Stufe bei der notwendigen Einigung bezüglich der finanziellen Vorausschau ist die Einigung
mit dem Europäischen Parlament. Der Start des Programms kann dann am 1. Januar 2007 zeitlich parallel
mit der deutschen Ratspräsidentschaft erfolgen und erfolgreich vollzogen werden.
Carsten Müller ({5})
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir, dass ich
drei für die Union wichtige Gesichtspunkte hier noch
einmal genauer benenne:
Erstens. Eine Verfahrensverbesserung im Vergleich
zum 6. Programm ist bei der Programmbeteiligung
kleiner und mittelständischer Unternehmen zu erreichen. Insbesondere das derzeitige Antragsverfahren hat
sich als zu kompliziert erwiesen. Es kann tatsächlich
nicht angehen, dass kleine und mittelständische Unternehmen eigene Experten beschäftigen müssen, um die
Antragsformulare bearbeiten zu können. Das muss geändert werden.
({6})
Zweitens. Neu ist der Bereich der Sicherheitsforschung. Dieser muss weit gefasst werden. Der Schutz
vor Unterdrückung, Krankheit und Hunger wie auch der
Schutz vor Katastrophen durch Terror oder Naturereignisse ist einzubeziehen. Europa muss vor dem Hintergrund wachsender terroristischer Gefahren und zunehmender Umweltkatastrophen Antworten auf die
veränderte Sicherheitslage finden. Ich halte es für falsch
- das sage ich mit Blick auf den Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen -, dass sinnvolle Forschung nur aufgrund eines eventuell möglichen Dual-Use-Charakters aus ideologischen Gründen abgelehnt wird. Der vorliegende Antrag trägt zudem leider nicht dazu bei, eine praktikable
Abgrenzung zwischen Sicherheits- und Militärforschung
zu finden.
Angesichts der veränderten Bedingungen im alltäglichen Leben durch die Gefahren von Terrorismus und
Kriminalität ist es wichtig, dass der Bereich der Sicherheitsforschung auch eine Entsprechung auf europäischer
Ebene findet. Ihnen ist der Bereich der Sicherheitsforschung leider nur eine kurze Erwähnung wert.
Drittens. Ein weiterer grundlegender Bereich ist die
Energieforschung. Vor dem Hintergrund der Verknappung fossiler Brennstoffe sowie der notwendigen Versorgungssicherheit des europäischen Wirtschaftsraums
muss ein bezahlbarer und vernünftiger Energiemix das
klare Ziel sein. Um das zu erreichen, müssen die Forschungsanstrengungen in diesen Bereichen enorm verstärkt werden.
({7})
Die Aufnahme der Energieforschung als spezielles
Themenfeld in das 7. Programm ist deshalb ausdrücklich
zu begrüßen. In diesem Zusammenhang ist es von vorrangiger Bedeutung, dass diesbezügliche Forschungsprojekte zunächst einmal ohne ideologische Scheuklappen geprüft werden; ihre Potenziale müssen gesehen
werden. Ich möchte Ihren Blick hier besonders auf langfristige Projekte richten und erwähne in diesem Zusammenhang noch einmal ITER.
Unerlässlich ist es jedoch, dass das gesamte
7. Forschungsrahmenprogramm unter allen Umständen
unter der Maßgabe des Exzellenzprinzips aufgebaut
und durchgeführt wird. Nur durch eine nach wissenschaftlichen Kriterien ausgerichtete Forschungsförderung können die Lissabonziele tatsächlich erreicht werden.
({8})
Bündnis 90/Die Grünen haben zum 7. Forschungsrahmenprogramm einen sehr wortreichen Antrag vorgelegt.
Bemerkenswert ist, wie Sie Ihre Schwerpunkte setzen.
An der einen oder anderen Stelle scheinen tatsächlich
noch sehr stark Ideologie und Dogmatik durch. Sie ziehen dadurch Grenzen, die gerade für die dynamischen
Bereiche Forschung und Wissenschaft kaum hilfreich
sind. Ich will Ihnen einige wenige Beispiele nennen:
Nehmen wir den Bereich „Ökologischer Landbau“.
({9})
- Gerne, es gibt genügend, Herr Barth. - Unbestritten
ein wichtiger Bereich, aber es kann nicht ernsthaft ein
besonders herauszustellender Aspekt des 7. Forschungsrahmenprogramms sein.
({10})
Ein weiteres Beispiel für außerordentliche Themenspreizung liefern Sie in Ihrem Antrag im Kapitel „Verkehr“. Sie erwähnen dort außergewöhnlich ausführlich
den Bereich Carsharing. Man könnte beim Lesen den
Eindruck bekommen, dass Ihnen die Untersuchung von
Carsharing genauso wichtig ist wie die Nanotechnologie.
({11})
Ich glaube tatsächlich, dass wir das auf ein gesundes
Maß zurückführen sollten.
Insgesamt fällt auf, dass die thematische Schwerpunktbildung und der Blick für die großen Dimensionen
des 7. Forschungsrahmenprogramms nicht unbedingt die
Stärke von Bündnis 90/Die Grünen ist. Alles in allem
kann leider so dem vorliegenden Antrag nicht zugestimmt werden.
Meine Damen und Herren, Sie gestatten mir eine
letzte Ausführung: Für Wissenschaft und Wirtschaft geht
es in nächster Zeit vor allem darum, sich auf die neuen
Managementregeln des 7. Forschungsrahmenprogramms einzustellen. Wir müssen uns darum kümmern,
dass es einen möglichst reibungslosen und fließenden
Übergang vom sechsten zum siebten Programm gibt.
Dazu sind die endgültigen Regelungen frühzeitig zu veröffentlichen. Wir rechnen insofern auch auf die Kooperation der Bundesregierung.
Wir glauben, dass das 7. Forschungsrahmenprogramm ein großer Erfolg wird. Das wird nicht zuletzt dadurch gewährleistet, dass es parallel mit dem Beginn der
deutschen Präsidentschaft auf EU-Ebene gestartet wird.
Carsten Müller ({12})
({13})
Herr Kollege Müller, das war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen im Namen
des Hauses dazu sehr herzlich.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Barth von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Lassen Sie mich zunächst auf das Positive eingehen. Der
vorliegende Antrag führt eine Reihe richtiger Ansätze
auf: die europäische Sicherheitsforschung, den Europäischen Forschungsrat, die Wasserstoffforschung und die
Energiespeicherforschung. In ganz wesentlichen Teilen
ist der Antrag aber eine nochmalige Zurschaustellung
vermeintlicher Erfolge einer in Wahrheit verfehlten rotgrünen Forschungspolitik in Deutschland.
({0})
Das, was Sie, Frau Sager, hier als Prioritätensetzung bezeichnet haben, ist in Wahrheit der Versuch, über das
7. Forschungsrahmenprogramm trotz nicht mehr vorhandener Mehrheit Ihre Forschungspolitik fortzusetzen.
Schon die einleitenden Feststellungen rücken die Bedeutung der Brüsseler Forschungspolitik in ein völlig
falsches Licht.
({1})
Mehr Geld für Brüssel zu fordern, damit die EU-Administration mehr Geld für Forschung aufwenden kann,
führt in eine Sackgasse. Auf der einen Seite reden wir
uns hier im Hohen Hause die Köpfe über eine Föderalismusreform und die damit verbundene Reform der
Finanzverfassung heiß, auf der anderen Seite wird aber
mit diesem Antrag der Versuch unternommen, das in der
EU geltende Subsidiaritätsprinzip zulasten der Mitgliedstaaten zu unterwandern.
({2})
Das ist nicht der richtige Weg.
({3})
Ebenso ist der Verweis darauf, dass die EU-Mitgliedstaaten im Durchschnitt nur knapp 2 Prozent ihres BIP in
Forschung und Entwicklung investieren, noch lange
keine ausreichende Begründung dafür, das Budget der
EU zu erhöhen. Europa kann nicht all das reparieren,
was in den Ländern versäumt wird.
({4})
Hier herrscht die Vorstellung: Gebt der EU mehr Geld,
dann wird sie schon alles richten.
({5})
So geht es nicht.
Auch Deutschland ist mit seinen knapp 2,5 Prozent
im Jahr 2004 nicht in der Spitzengruppe der europäischen Länder zu finden. Aber bei steigenden
F-und-E-Ausgaben in der Wirtschaft hat sich der Anteil
der öffentlichen Hand deutlich verringert. Der Bericht
des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft hat
uns diese Entwicklung deutlich vor Augen geführt.
Das zeigt: Jedes Mitgliedsland muss seine Hausaufgaben machen und klare Zielsetzungen im eigenen Land
haben, um die Lissabonstrategie bis 2010 zu verwirklichen.
({6})
Uns bleiben dafür noch viereinhalb Jahre. Das 7. Forschungsrahmenprogramm startet aber erst 2007 und geht
bis 2013. Stellen wir uns doch einmal selbst die Frage,
ob wir daran glauben, dass Deutschland im Jahr 2010
mit dem Transrapid die Ziellinie überfährt. Hier sind
doch deutliche Zweifel angebracht.
Gingen wir den Feststellungen in diesem Antrag auf
den Leim, dann würden wir nachträglich auch Ja sagen
zu einer aus unserer Sicht katastrophalen und verfehlten
Energieforschungspolitik von Rot-Grün. Herr Müller hat
das Beispiel ITER schon angesprochen.
Wenn wir diesem Antrag zustimmten, würden wir uns
auch der Auffassung anschließen, dass ein Forschungsverbot in einem Land automatisch die Forschungsförderung in allen anderen Ländern verbietet.
({7})
Ich denke da an die biotechnologische Forschung und
besonders an die Stammzellforschung. Warum drehen
wir diese Forderung nicht um? Was in einem Land erlaubt ist, soll in den anderen Ländern ebenfalls erlaubt
sein.
({8})
Zumindest sollte die Kriminalisierung der Forschung im
Ausland beendet werden. Das wäre ein freiheitlicher Ansatz; so entstünde Wettbewerb.
({9})
Aber das ist mit Ihrer Regelungswut und vor allem mit
Ihrem Anspruch, quasi die letzte Instanz in allen moralischen Fragen in diesem Universum zu sein, natürlich
nicht zu vereinbaren.
({10})
Meine Damen und Herren, die Grünen haben es geschafft, dass Deutschland seine Führungsposition in der
kerntechnischen Forschung verloren hat. Nun wollen
sie an Euratom heran. Ich sage: Achtung! Das hat langfristig negative Konsequenzen für die Sicherheit der
Kernreaktoren in Europa und stellt letztlich eine Gefahr
für alle Europäer dar. Die Grünen wollen nicht wahrhaben, dass die Kernenergie in Europa wieder auf dem
Vormarsch ist
({11})
und von den Menschen wieder als Bestandteil einer sicheren Energieversorgung angesehen wird. Deshalb
- und damit wir die größtmögliche Sicherheit erreichen - brauchen wir auch in diesem Bereich eine leistungsfähige Forschung in Europa.
Ergebnis der Betrachtung: Den Geist dieses Antrages
können wir nicht mittragen. Wir müssen ihn daher ablehnen.
({12})
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat der Kollege René Röspel von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist immer wieder gut und schön, über Forschung und Wissenschaft, Bildung und Entwicklung in
diesem Hause sprechen zu können, vor allen Dingen
freitags nachmittags vor „vollem“ Haus, wenn man
schon überlegen muss, wie man gleich nach Hause
kommt. Es macht Spaß, hier über Forschung zu sprechen, vor allen Dingen weil es ein Bereich ist, in dem
wir in den letzten Jahren auch von dieser Stelle als Bund
eine Menge haben bewegen können. Ich glaube, dass wir
auch in den nächsten Jahren gemeinsam eine Menge bewegen können.
({0})
Bildung und Forschung sind von zentraler Bedeutung für
die Zukunft unserer Gesellschaft. Deswegen ist es gut,
dass dieses Thema immer wieder Eingang in dieses Haus
findet.
({1})
Die Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben auf ihrem Gipfeltreffen im
März 2000 in Lissabon die so genannte Lissabonstrategie beschlossen. Danach soll Europa - ich zitiere - „bis
zum Jahr 2010 der wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt“
werden.
({2})
Deutschland war in diesem Fall sogar ein bisschen
schneller. Wir haben in einem Kraftakt seit 1998 die Bedingungen für Forschung und Entwicklung in diesem
Land deutlich verbessert. Die Bruttoinlandsausgaben für
Forschung und Entwicklung lagen 1998 bei 45 Milliarden Euro und im vorletzten Jahr bei 55 Milliarden Euro. Das bedeutet eine Steigerung um 21 Prozent.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat
1998 für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologieentwicklung 7,2 Milliarden Euro ausgegeben; 2005
lagen die Ausgaben bei 9,9 Milliarden Euro. Das ist eine
Steigerung von 37,5 Prozent.
({3})
Wenn Sie mir diesen Diskurs erlauben - Herr Barth,
Sie sind ja noch neu in diesem Haus -: Das sind Zahlen,
die sich jede FDP-Regierung erträumt hätte. Das haben
Sie in den letzten Jahren Ihrer Regierungszeit für dieses
Land leider nicht erreicht.
({4})
- Die FDP hat noch nie regiert? Dann schauen Sie einmal nach. Die FDP ist die Partei, die am längsten in diesem Land an der Regierung gewesen ist.
({5})
Mit den Folgen müssen wir seit 1998 umgehen.
Wenn Sie sich einmal anschauen, wie sich die Wissenschaftsorganisationen äußern - die Helmholtz-Gemeinschaft lobt die Aktivitäten der letzten Jahre, die
Fraunhofer-Gesellschaft und die Max-Planck-Gesellschaft äußern sich sehr zufrieden über die Zuwächse in
den letzten Jahren -, dann würden Sie diese Situation anders darstellen, als Sie es vorhin getan haben.
({6})
In diesem Zusammenhang bietet es sich an, einmal
deutlich zu machen, welche zentrale Rolle Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten dabei spielen, diese Gesellschaft moderner und zukunftsfähiger zu machen. Wir
haben mit unserem alten Koalitionspartner Bündnis 90/
Die Grünen die Trendwende 1998 eingeleitet und Bildung und Forschung wieder zu einem Toppthema gemacht. Wir sind froh, dass wir diese Politik mit dem
neuen Koalitionspartner CDU/CSU gleichermaßen erfolgreich in der Zukunft gestalten können. Diese Kontinuität ist wichtig für das Land.
({7})
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung. Sie haben relativ polemisch - das ist für einen Physiker überraschend - in Sachen Energietechnologie argumentiert.
Wir sind in Sachen Kernfusion sicherlich näher bei den
Grünen. Das ist gar keine Frage.
({8})
Schauen Sie sich einmal an, welche Bedeutung die
Kernenergie noch hat, obwohl es am 26. April vor
20 Jahren die Katastrophe von Tschernobyl gab. Aus
diesem Anlass werden wir uns sicherlich mit den Menschen beschäftigen müssen, die in Belarus leben und von
dieser Katastrophe betroffen waren und sind.
({9})
Wir müssen unter diesem Gesichtspunkt die Diskussion
über die Atomkraft führen.
Wenn Sie betrachten, was wir in den letzten Jahren im
Bereich der erneuerbaren Energien mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz geschaffen haben - damit sind wir
Weltmeister auf diesem Gebiet; andere Länder nehmen
sich ein Beispiel daran -, wenn Sie bedenken, dass wir
in Sachen Windkraftenergie mittlerweile führend sind
({10})
- das sage ich als Abgeordneter eines Wahlkreises im
Ruhrgebiet, wo die Stahlindustrie eine große Rolle gespielt hat, wo jetzt aber die Windenergie und die erneuerbaren Energien zugunsten des Umweltschutzes und
der Zukunftstechnologien einen großen Anteil haben -,
dann hätten Sie vielleicht eine andere Rede gehalten.
({11})
Herr Kollege Röspel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fell?
Ja, wenn ich meinen Zug noch erreiche.
Bitte eine kurze Zwischenfrage, Herr Kollege Fell.
Herr Kollege Röspel, Sie haben gerade dargestellt,
wie stark die Aufwendungen für erneuerbare Energien
sein sollten und wie problematisch die Aufwendungen
für die Kernenergie sind. Ich teile diese Aussage. Können Sie eigentlich mittragen, was im Entwurf des 7. Forschungsrahmenprogrammes und des Euratom-Programmes vorgesehen ist? Danach sollen etwa 3 Milliarden Euro für die Kernenergie ausgegeben werden. Für
die erneuerbaren Energien hingegen sollen - man
kann es noch nicht endgültig sagen - schätzungsweise
300 bis 400 Millionen Euro, also etwa nur ein Zehntel
der Aufwendungen für die Kernenergie, ausgegeben
werden. Halten Sie dieses Verhältnis für richtig?
Ich würde mir ein anderes Verhältnis wünschen.
({0})
Aus den letzten Jahren, lieber Herr Kollege Fell, wissen
Sie allerdings auch, dass wir es auf europäischer Ebene
immer sehr schwer gehabt haben, dieses Verhältnis zu
ändern. Aus zukunfts- und umweltorientierter Sicht gibt
es keine Alternative zu den erneuerbaren Energien. Man
muss also auch auf europäischer Ebene für diesbezügliche Veränderungen sorgen.
({1})
Wir diskutieren heute über den Antrag der Grünen
zum 7. Forschungsrahmenprogramm. Dabei ist eine insgesamt erfreuliche Entwicklung festzustellen, wenngleich wir vom 3-Prozent-Ziel, das sich die Regierungen
gesetzt haben, auf deutscher wie auch auf europäischer
Ebene noch weit entfernt sind.
Der Antrag der Grünen - um auf das eigentliche
Thema zu sprechen zu kommen - enthält viele positive
Elemente. Dort werden viele Gemeinsamkeiten dargestellt, die vom gesamten Haus getragen werden können.
Allerdings gibt es eine ganze Reihe von Punkten, zu denen wir Fragen haben.
Es ist Aufgabe der Opposition - das wurde auch in
der Zwischenfrage deutlich -, mehr Geld zu fordern.
Aber wir konnten in unserer gemeinsamen siebenjährigen Regierungszeit auf europäischer Ebene feststellen,
dass das nicht immer einfach zu realisieren ist. Ich gestehe Ihnen also zu, diese Forderung im Antrag zu stellen, wenngleich sie nicht einfach zu erfüllen ist.
Offenere und flexiblere Strukturen zu fordern, damit
bin ich einverstanden. Es hat auch niemand etwas dagegen, die Effizienz der eingesetzten Mittel zu erhöhen.
Über den Abbau von Bürokratie hat der Kollege Müller
von der CDU/CSU-Fraktion schon eine ganze Menge
gesagt.
({2})
Jeder wird dazu Ja sagen.
Im 6. Forschungsrahmenprogramm war die Ausrichtung darauf angelegt, gerade für kleine und mittlere
Unternehmen eine Verbesserung hinzubekommen. Dies
ist nicht erreicht worden. Also bleibt dies eine Aufgabe
für die Zukunft und für uns. Das ist dringend notwendig.
Aber es scheitert an der Realität.
Wenn Sie von den Grünen allerdings die Bundesregierung auffordern - wie zum Beispiel auf Seite 5 Ihres
Antrages -, dafür Sorge zu tragen, „dass KMUs an den
Programmen des Bereichs Zusammenarbeit mindestens
die 15 Prozent aus dem 6. FRP erreichen“, so kann man
das zwar formulieren. Ich glaube aber, dass man dann,
wenn man für die Antragstellung ein offenes, nach bestimmten Kriterien festgelegtes Verfahren einführen
will, nicht von vornherein Quoten festsetzen kann. Man
wird vielmehr erst im Nachhinein feststellen, wie hoch
der Anteil war. Es liegt außerhalb der Möglichkeiten der
Bundesregierung - diese ist ja der Adressat Ihres Antrages -, Einfluss zu nehmen.
Wenn Sie auf Seite 5 die Bundesregierung auffordern,
„dass neben dem Auswahlkriterium der Exzellenz bei
der Förderung auch das Anwendungspotenzial der Innovationen berücksichtigt wird“, dann hört sich das auf den
ersten Blick gut an. Aber bei genauerem Nachdenken
- das ist zumindest mir so gegangen; das soll ja hin und
wieder vorkommen - stellt sich die Frage, ob es in der
Tat sinnvoll und möglich ist, Exzellenz und Anwendungspotenzial gleichermaßen als Anforderung zu postulieren. Gerade im Bereich der Grundlagenforschung ist
das Anwendungspotenzial in der Regel nicht absehbar.
Wilhelm Conrad Röntgen hätte nie gedacht, dass er eine
anwendungsorientierte Forschung betreiben würde, als
er sich mit Röntgenstrahlen befasste.
In der Tat stellen sich folgende Fragen: Was ist, wenn
das Vorhaben zwar exzellent ist, aber kein Anwendungspotenzial hat? Scheidet es deswegen aus?
({3})
Oder umgekehrt: Was ist, wenn das Anwendungspotenzial offensichtlich und groß ist, aber keinerlei Exzellenz
vorhanden ist, weil dies nicht notwendig ist? Scheidet
dieses Vorhaben dann ebenfalls aus? Ich finde, über diesen Bereich sollten wir noch nachdenken.
Nebenbei offenbart sich da eine Schwachstelle der gesamten Exzellenzdiskussion, die wir seit einigen Jahren
führen. Sie sollten sich in Erinnerung rufen, dass wir vor
zwei Jahren eine Diskussion über SARS, über eine Seuche, die von China ausging und durch Viren übertragen
wurde, geführt haben. Es waren in der Tat deutsche Forscher, die als Erste das Genom des SARS-Erregers entschlüsselten. Herr Barth, dieser Erfolg kam übrigens daher, dass die Genomforschung durch die rot-grüne
Regierung sinnvollerweise extrem gefördert wurde. Am
Ende waren deutsche Forscher bei der Analyse und der
Behandlung der Erkrankung durch den SARS-Virus führend.
Warum war das so? Schlicht und einfach deshalb,
weil Deutschland es sich erlaubt hat, eine Nischenforschung weiter zu fördern, die es in anderen Ländern
nicht mehr gab oder die es, wenn es die SARS-Fälle
nicht gegeben hätte, nicht mehr geben würde, weil sie zu
uninteressant war. Für SARS- oder ähnliche Viren hat
sich niemand interessiert. Weil unabhängig von dem Kriterium Exzellenz die Wirkung dieser Forschung wegen
der Größe der Forschergruppen überhaupt nicht messbar
war, haben wir es uns erlaubt, dieses Gebiet zu fördern.
Dies ist vielleicht ein Grund dafür, noch einmal darüber
nachzudenken, ob wir nicht außerhalb der Exzellenzdiskussion auch andere Bereiche betrachten sollten.
({4})
Was den Europäischen Forschungsrat anbelangt,
fordern Sie, technologische, naturwissenschaftliche und
geisteswissenschaftliche Projekte gleichermaßen zu fördern. Ich sage aus meiner Sicht: Die Stärke des Konzepts
des Europäischen Forschungsrats ist gerade die Autonomie. Wir unterstützen ausdrücklich Ihre Aussage, dass
der Europäische Forschungsrat kein Instrument von Interessengruppen sein darf und autonom entscheidet, welche wissenschaftlichen Vorhaben er unterstützt. Wenn
man von vornherein sagt, ihr müsst dieses und jenes
gleichermaßen berücksichtigen, dann, glaube ich, stellt
man eine Leitplanke auf, die nicht sinnvoll ist. Die
Stärke des ERC ist es eben, unbürokratisch und autonom
zu entscheiden.
Es gibt noch eine Menge zu beraten. Wir werden
heute einer Überweisung Ihres Antrages an die Ausschüsse zustimmen. Unseren Antrag, den von CDU/CSU
und SPD, werden wir in den Beratungen daneben legen.
Vielleicht gelingt es im Interesse der europäischen Forschungsförderung, die Gemeinsamkeiten zu betonen.
Vielen Dank.
({5})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
und an diesem Tag hat das Wort die Kollegin Dr. Petra
Sitte von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Röspel, Sie beklagen, dass Sie am Freitagnachmittag reden müssen.
({0})
Ich muss als Letzte reden und habe nur vier Minuten Redezeit. Wer in vier Minuten angemessen über dieses
Thema reden will, muss ein kleines Wunder vollbringen.
Wunder - das wissen Sie - ersetzen im Allgemeinen
Forschung und Wissen ohnehin.
({1})
Deshalb kann ich nur ein paar wenige grundsätzliche Bemerkungen machen.
Dass es so ein komplexes Programm wie das Forschungsrahmenprogramm gibt, ist natürlich eine der
wichtigsten Leistungen auf der EU-Ebene; das ist völlig
klar. Es ist schon angedeutet worden, dass es trotzdem
nicht kompensieren kann, was auf nationaler Ebene unterlassen wird. So sind die Ausgaben für Forschung und
Entwicklung in den letzten Jahren - um es wohlmeinend
zu formulieren - als stagnierend zu bezeichnen. Die Verantwortung dafür liegt wechselseitig sowohl bei der
staatlichen Ebene als auch bei der Wirtschaft.
Die EU-Vorgabe besagt ausdrücklich, dass der Staat
ein Drittel für diesen Bereich ausgeben soll. Insofern ist
es durchaus richtig, wenn der Bund in den nächsten vier
Jahren 6 Milliarden Euro zusätzlich für Forschung und
Entwicklung ausgeben will. Allerdings - das ist vorhin
kurz erwähnt worden - bedürfte es eigentlich Ausgaben
in Höhe von 3 Milliarden Euro pro Jahr und nicht von
1,5 Milliarden Euro, um das angestrebte Ziel zu erreichen.
Ich will ein zweites Problem erwähnen. Im Rahmen
der Föderalismusreform wird es relativ wenige strukturelle Veränderungen für den Bereich Forschung und Entwicklung geben. Damit bleibt auch die direkte Anknüpfung an die EU-Politik erhalten. Wenn man sich aber
andererseits aus der Gestaltung der Rahmenbedingungen
der Hochschulen heraushält, dann ignoriert man, dass
die deutschen Hochschulen seit vielen Jahren sehr erfolgreich die Einheit von Forschung und Lehre praktizieren.
({2})
Unter diesem Gesichtspunkt halte ich es für kritikwürdig - man kann auch an die Worte von Herrn Struck
heute Morgen anknüpfen -, wenn wir hier darüber reden,
weil wir alle ganz genau wissen, was am Ende passiert.
Die einzelnen Bundesländer sprechen alle brav bei der
EU vor, um aus den einzelnen Fördertöpfen des 7. Forschungsrahmenprogramms zu schöpfen. Schauen Sie
sich die Präsenz der einzelnen Bundesländer in Brüssel
oder Straßburg an! Sie sind ganz unterschiedlich ausgestattet, was auch mit dem Reichtum der Länder zu tun
hat. Diese Disparitäten werden noch stärker zutage treten. Bayern kann zum Beispiel ganz anders agieren als
andere Bundesländer. Vielleicht ist Bayern ein schlechtes Beispiel und ich ziehe lieber Baden-Württemberg heran. Baden-Württemberg kann ganz anders als andere
Bundesländer auf die Fördertöpfe des Forschungsrahmenprogramms zugreifen. Ich meine, dass wir mit
unseren Entscheidungen diese Disparitäten vertiefen. Insofern muss es um Entscheidungsstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland gehen, die der europäischen
Organisation Rechnung tragen.
Ebenso problematisch ist der Umgang mit den Forschungsgegenständen und -inhalten, die sich hinter den
spezifischen Programmen und ihren thematischen Prioritäten verbergen. Zu den Schwerpunktsetzungen - das ist
völlig klar - gibt es natürlich unterschiedliche Meinungen. Das macht auch der Antrag deutlich. Auch unsererseits gibt es durchaus Zustimmung und Differenzen. Das
ist völlig klar. In diesem Punkt wird der Antrag der
Bündnisgrünen besonders interessant und diskussionswürdig.
Ich halte es für ein wenig problematisch, wenn man
versucht, nur seine eigenen Positionen in den Antrag
aufzunehmen, und hofft, dass diese beschlossen werden.
Man kann den Versuch natürlich unternehmen, aber die
Chancen sind nicht besonders groß. Ich erwähne beispielsweise, dass es im Bereich der Weltraumforschung
erheblichen Diskussionsbedarf gibt. Ich erwähne darüber hinaus die neueren Diskussionen über die Stammzellproblematik.
Über einige Punkte in Ihrem Antrag besteht durchaus
noch Diskussionsbedarf. Bei anderen Punkten sind Sie
relativ vage geblieben, beispielsweise beim Europäischen Technologieinstitut. Hier habe ich mir an den
Rand „sehr mutig“ geschrieben. Hier spricht man sich
für eine Prüfung aus. Ich meine allerdings, dass man aufgrund der Vorgeschichte eine eindeutig ablehnende Haltung zur Logik Ihrer Gedanken formulieren müsste.
Abschließend möchte ich sagen, dass die Kommuniquésprache des Antrags das Lesen zu einer mühseligen
Disziplinübung gemacht hat. Wenn man sich aber in die
einzelnen Abschnitte vertieft, bleibt es eine spannende
Angelegenheit.
Danke schön.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 16/710 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 15. März 2006, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.