Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/10/2006

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({0}) - Drucksache 16/813 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Föderalismusreform-Begleitgesetzes - Drucksache 16/814 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Sportausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Volker Kauder, CDU/CSU-Fraktion. ({3})

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute beginnen wir mit der parlamentarischen Beratung des größten deutschen Reformvorhabens in den letzten Jahren. ({0}) - Ich gehe davon aus, dass sich die Grünen noch daran erinnern, dass sie an den Beratungen zu diesem Reformwerk mit beteiligt waren. ({1}) Wir beginnen mit den Beratungen dieses Reformwerks gleichzeitig in Bundestag und Bundesrat. Denn Bund und Länder haben dieses Reformwerk gemeinsam erarbeitet und auf den Weg gebracht. In der Vergangenheit gab es viele Anläufe zu dieser notwendigen Reform. Sie sind bisher alle gescheitert. Heute aber legen wir ein Ergebnis vor, ein Ergebnis, das die föderale Ordnung unseres Landes zukunftsfähig Redetext macht. Unser Land braucht diese Reform. Wir werden den globalen Wettbewerb nicht bestehen, wenn wir uns weiterhin langwierige und komplizierte Gesetzgebungsverfahren leisten. ({2}) Das Hin und Her zwischen Bundestag und Bundesrat hat uns in der Vergangenheit oft genug blockiert. Es hat uns langsamer und schwerfälliger gemacht. ({3}) Mit der Föderalismusreform befreien wir uns von dieser Selbstblockade. Wir gewinnen an gesetzgeberischer Handlungsfähigkeit; wir gewinnen an Gestaltungskraft. Dies brauchen wir in dieser Zeit. ({4}) Nur mit dieser Reform können wir das Veränderungstempo der Globalisierung mitgehen. Nur mit dieser Reform werden wir von Getriebenen zu Antreibern. ({5}) Bei vielen Entscheidungen, die zwischen Bundestag und Bundesrat mühsam ausgehandelt wurden - ich weiß, wovon ich rede; denn ich war drei Jahre Mitglied des Vermittlungsausschusses -, war nachher oft nicht mehr klar, wer wofür die Verantwortung trägt. ({6}) Wir selbst im Deutschen Bundestag haben uns oft darüber gewundert, wie ein Gesetz ausgesehen hat, das wir im Bundestag verabschiedet haben, nachdem es aus dem Vermittlungsausschuss erneut in den Bundestag gekommen ist. Das wird so nicht mehr stattfinden. ({7}) Die Föderalismusreform schafft wieder mehr Klarheit. Sie weist Kompetenzen eindeutig zu und macht deutlich, wo die Länder und wo der Bund Verantwortung tragen. Deshalb stärkt eine Reform des föderalen Systems, wie sie heute vorgelegt wird, unsere Demokratie. ({8}) Natürlich nehmen damit die Gesetzgebungskompetenzen der Länder zu. Aber ganz entgegen manchen Befürchtungen, die geäußert werden, schwächen wir damit nicht den Bund; wir stärken ihn vielmehr. Viele Entscheidungen können wir nun hier im Deutschen Bundestag endgültig ohne Zustimmung der Länder treffen. Das, was in der Öffentlichkeit und in manchen Kommentaren in den Medien immer wieder als Kuhhandel bezeichnet wird, wird zukünftig nicht mehr stattfinden. Durch die Föderalismusreform entflechten wir unser politisches System und davon profitieren beide: Bund und Länder. ({9}) Wir als Union haben uns schon immer für das Prinzip der Subsidiarität stark gemacht. Das ist keine abstrakte Theorie, sondern ein Grundsatz, der besagt, dass Entscheidungen auf der Ebene gefällt werden sollen, auf der die Sachverhalte am besten beurteilt werden können. Das, was Länder oder Kommunen besser regeln können, soll auch von den Ländern und Kommunen geregelt werden. In der Praxis sind wir diesem Grundsatz nicht mehr ausreichend gerecht geworden. Mit der Föderalismusreform stärken wir den Gedanken der Subsidiarität. Entscheidend ist, sich vom rein theoretischen Ansatz zu verabschieden. Mit der Föderalismusreform und der Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips bringen wir die Politik wieder näher an die Menschen heran. Entscheidungen werden zukünftig dort gefällt, wo die Menschen mitreden können. ({10}) Von der Föderalismusreform, die wir heute einleiten, geht eine Botschaft an Europa, an Brüssel aus. Auch dort muss das Prinzip der Subsidiarität wieder stärker beachtet werden. In Brüssel soll nur das geregelt werden, was wir in den Nationalstaaten nicht selber regeln können. ({11}) Mit der Föderalismusreform fördern wir den Wettbewerb zwischen den Ländern und das ist gut so. Nur für die Zaghaften und Mutlosen ist Wettbewerb etwas Negatives. Nur diejenigen, die sich nichts zutrauen, versuchen, den Wettbewerb zu verhindern. Wir trauen uns aber etwas zu, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({12}) Wettbewerb zwischen den Ländern heißt: Künftig setzt der Beste den Maßstab. Nur so kommt unser Land voran. Wir dürfen unser Heil nicht im Mittelmaß suchen. Unser Land braucht Exzellenz. Wettbewerb ist ein Entdeckungsverfahren für Exzellenz. Eine Stärkung des Wettbewerbs zwischen den Ländern wird mehr zum Bürokratieabbau und zur Vereinfachung von Verwaltungsverfahren beitragen als jede theoretische Ankündigung zu diesem Thema. ({13}) PISA ist kein Schock, sondern ein Weckruf, es den erfolgreichen Ländern gleich zu tun, und zwar im Wettbewerb der Länder innerhalb Deutschlands, aber auch in Europa. Im Korsett des einheitlichen Mittelmaßes hätte sich kein Land erfolgreich profilieren können. ({14}) Für die Freiheit, in bestimmten Fragen eigene Wege zu gehen und eigene Lösungen zu entwickeln, sind die Länder bereit, auf Einfluss im Bund zu verzichten. Die Reform macht daher etwas wahr, was viele nicht mehr für möglich gehalten haben. „Deutschland lässt sich doch reformieren“, titelte die „Neue Zürcher Zeitung“ vor einigen Tagen zur Föderalismusreform. Manchmal müssen wir uns vom Ausland daran erinnern lassen, dass wir nur mit Zuversicht, nicht aber mit Bedenken weiterkommen. Für uns sollte zu Beginn der Debatte im Deutschen Bundestag und in seinen Ausschüssen das Wort von Tucholsky nicht gelten, der einmal gesagt hat: Wenn der Deutsche nichts mehr hat, Bedenken hat er immer noch. ({15}) - Ich glaube, Herr Kollege Westerwelle, dass diesen Hinweis jeder verstanden hat, der ihn verstehen soll. ({16}) Tatsächlich sind wir mit der Reformgesetzgebung einer großen Herausforderung gerecht geworden. Denn es ging nicht darum, eine Position des Bundes zu formulieren; es ging vielmehr darum, gemeinsam mit den Ländern eine von beiden Seiten getragene Lösung zu finden. Auch die Länder waren sich nicht von vornherein in jeder Frage einig. Natürlich handelt es sich bei dem, was wir heute vorlegen, um einen Kompromiss. Was ich immer wieder höre und lese, nämlich dass der Bund einseitig seine Vorstellungen hätte durchsetzen können, zeugt nicht von Realismus. Wenn wir zwischen Bundestag und Bundesrat eine gemeinsame Lösung erarbeiten wollen, sollen und in diesem Fall auch müssen, dann wird sich nicht einer auf Kosten des anderen zu 100 Prozent durchsetzen können. Das hat mit Realität nichts zu tun. ({17}) Bei jeder einzelnen Frage haben wir deshalb das Für und Wider abgewogen. Wir sind zu Ergebnissen gekommen, die sich sehen lassen können und von Bund und Ländern gemeinsam getragen werden. Lassen Sie mich ein paar Hinweise zu dem geben, was die Föderalismusreform ausmacht. Wir reduzieren die Vetorechte der Länder. Gleichzeitig stärken wir ihre Gesetzgebungskompetenz. Den Kommunen dürfen in Bundesgesetzen künftig keine Aufgaben mehr übertragen werden. Damit stärken wir das Prinzip der Konnexität; ganz einfach gesagt: Wer bestellt, bezahlt in Zukunft auch. ({18}) Die Organisations- und die Personalhoheit der Länder werden gestärkt. Ich halte es für einen ganz zentralen Punkt, dass der Bund eine neue Gesetzgebungskompetenz zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus erhält. ({19}) Ein Blick in das Gesetz erleichtert die Rechtsfindung und auch die Tatsachenerkenntnis. Deswegen möchte ich hier sagen: Wer in die Gesetze hineinschaut, wird erkennen, dass das, was wir uns vorgenommen haben, möglich wird. Durch die Föderalismusreform wird nämlich ein Umweltgesetzbuch des Bundes möglich. Das werden wir schaffen. ({20}) - Frau Künast, ({21}) die Wortkaskade „Ha, ha!“ habe ich wohl vernommen. Aber soweit ich mich erinnern kann, ist dieses Umweltgesetzbuch in Ihrer Regierungszeit nicht in Kraft getreten. ({22}) - Frau Künast, Sie sollten einmal zuhören, manchmal kann man etwas lernen. Ein besonderer Stellenwert kommt dem Bereich der Bildung zu. ({23}) Im Bereich Bildung und Hochschulen können die Länder ihre schon bestehenden Kompetenzen - manchmal bekommt man den Eindruck, als ob die Verantwortung für die Bildungspolitik bisher ausschließlich beim Bund gelegen hätte und jetzt auf einmal auf die Länder übertragen werden soll; wir waren noch nie für die Grundschulen in Deutschland zuständig - abrunden. Dass wir hier zu klaren Entscheidungen kommen, ist zwingend notwendig. In keinem Land in Europa gibt es so viel staatliche Einflussnahme auf das Bildungssystem wie in Deutschland. Daran krankt unser System. ({24}) Wir können uns einen lähmenden Streit zwischen Bund und Ländern in diesen Fragen nicht länger leisten. Sie wissen aus Ihrer Regierungszeit: Immer wieder mussten wir Streit vor dem Bundesverfassungsgericht klären. Das wollen wir in Zukunft nicht mehr. ({25}) Jetzt geht es um mehr Wettbewerb und weniger Zentralismus. Die Föderalismusreform muss Wettbewerb möglich machen und dazu führen, dass unsere Universitäten mehr Freiheit erhalten. Bei diesem Wettbewerb geht es nicht nur um einen Vergleich der Länder untereinander; es geht um den Wettbewerb zwischen den einzelnen Universitäten. Bildung und Wissenschaft - das wissen wir - kennen keine Grenzen. Der Wettbewerb, den ich mir vorstelle, besteht zwischen München und Harvard, zwischen Heidelberg und Cambridge, zwischen Aachen und der ETH in Zürich. In diesem Wettbe1752 werb werden unsere Universitäten aber nur bestehen können, wenn wir ihnen die Freiheit dazu geben. ({26}) Der Kompetenzstreit zwischen Bund und Ländern in den vergangenen Jahren hat uns nicht weitergeholfen. Deshalb führt die Föderalismusreform zu einer notwendigen Entflechtung. Die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau wird beendet. Der Bund lässt die Länder aber nicht allein. Das hat die Bundesbildungsministerin Frau Schavan klar und deutlich gesagt. Die gemeinsame Förderung von Forschungsbauten an Hochschulen einschließlich Großgeräten wird in der Gemeinschaftsaufgabe Forschungsförderung fortgeführt. Wenn wir etwas dringend brauchen, um Arbeitsplätze schaffen und die Zukunft unseres Landes sichern zu können, dann ist es Forschungsförderung in großem Umfang. Daran wird der Bund beteiligt werden. ({27}) Deswegen ist diese Föderalismusreform auch eine Konzentration auf Aufgaben. Eine solche Konzentration auf Aufgaben tut in dieser Zeit mehr Not, als mancher glaubt. Das wurde in den Diskussionen über die Frage, ob wir die Gemeinschaftsaufgabe Forschungsförderung von Bund und Ländern weiterhin betreiben, auch nie bestritten. In den vergangenen Tagen ist hier, unter den Kolleginnen und Kollegen, in den Fraktionen, in der Öffentlichkeit und in den Medien viel darüber gesprochen worden, ob das Paket Föderalismusreform noch aufgeschnürt und verändert werden kann. Das Verfahren, in das wir heute mit der ersten Lesung eintreten, ist ein Gesetzgebungsverfahren wie jedes andere auch. ({28}) - Ich bin einigermaßen überrascht, dass das solche Begeisterung auslöst. ({29}) Natürlich sind Änderungen an dem vorliegenden Entwurf denkbar. ({30}) Selbstverständlich werden wir eine ordentliche Expertenanhörung zu diesem großen Reformwerk durchführen. ({31}) - Augenblick, Sie sollten immer erst zuhören. - Das wird keine Schaufensterveranstaltung sein. ({32}) - Herr Gerhardt, davon können Sie von der FDP wahrhaftig ein Lied singen. ({33}) Ihre Fraktion hat vor lauter Experten manchmal Probleme zusammenzufinden. Das wollen wir aber jetzt nicht weiter diskutieren. Klar muss sein: Entscheidungen des Bundestages allein reichen nicht aus. Jede Regelung muss von Bundestag und Bundesrat gemeinsam getragen werden, und zwar mit verfassungsändernder Zweidrittelmehrheit. ({34}) Wer das vergisst, der hat übersehen, dass wir es hierbei mit einem besonderen Verfahren zu tun haben. Zu glauben, es reiche aus, zu sagen, man habe einen Wunsch und dieser könne umgesetzt werden, das hat mit der Realität dieses Verfahrens zwischen Bundestag und Bundesrat überhaupt nichts zu tun. Darin liegt unsere besondere Verantwortung. ({35}) Herr Kollege Westerwelle, ich stelle das, was ich vorhin gesagt habe, ganz bewusst noch in einen anderen Zusammenhang. Wer um die vielen gescheiterten Anläufe zu einer Föderalismusreform weiß - das sage ich auch dem einen oder anderen Kollegen in den Koalitionsfraktionen -, wird das vorliegende Ergebnis umso höher einschätzen und sich darüber bewusst sein, welche Verantwortung in dieser Frage im Gesetzgebungsverfahren auf uns zukommt. ({36}) Die Föderalismusreform ist kein Stückwerk. Sie ist ein Meilenstein in der Gesetzgebung. Sie stärkt unsere bundesstaatliche Ordnung und macht sie zukunftsfähig. Sie ist die richtige Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. Unser Land braucht die Föderalismusreform. Deshalb bitte ich Sie: Helfen Sie alle mit, dass es diesmal gelingt! ({37})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher, FDP-Fraktion.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Kauder, Sie haben gerade gesagt: Wir müssen das Veränderungstempo der Globalisierung mitgehen. Das ist richtig. Dann haben Sie vom größten deutschen Reformvorhaben geredet. Auch das ist richtig. Ein Vorhaben war das. Was aber jetzt auf dem Tisch liegt und was dabei herausgekommen ist, ist eigentlich eine mutlose Reform, die weit hinter den Erwartungen der Fachleute und der staunenden Öffentlichkeit zurückbleibt. ({0}) Wir als FDP haben schon zu Beginn des Verfahrens immer kritisiert, dass bei der Konstruktion der Föderalismuskommission Fehler gemacht wurden. Damals haben wir gesagt: Eine solche Reform aus den eigenen Reihen schultern zu wollen, wird schwierig. Das hat sich bestätigt. Wir haben uns damals für den Konvent ausgesprochen. Denn es ist nun einmal schwierig, die Frösche damit zu beauftragen, den Sumpf trocken zu legen. Ich glaube, das Ergebnis, das jetzt auf dem Tisch liegt, bestätigt diese Einschätzung. ({1}) Auch wir haben über ein Jahr lang konstruktiv an den Beratungen der Föderalismuskommission teilgenommen und versucht, etwas zu bewegen. ({2}) Dort, verehrter Herr Kollege Röttgen, haben wir allerdings auch miterlebt, zu welcher Erbsenzählerei es in den Projektgruppen manchmal kam: Die Beteiligten saßen teilweise mit einem Taschenrechner da und haben gerechnet: „Was kostet es mich und was bringt es mir?“, ohne dabei auch zu fragen: „Was müssen wir eigentlich tun, um den großen Wurf zu erreichen?“ Diesen großen Wurf vermissen wir auch in den Gesetzentwürfen, die heute auf dem Tisch liegen. ({3}) Ich denke, heute kann und muss man feststellen: Es war ein Fehler, wichtige Bereiche auszugrenzen und zu tabuisieren. Hier denke ich zum Beispiel an die Reform der Finanzbeziehungen und an das Thema Länderneugliederung. Es war falsch, diese Bereiche völlig außen vor zu lassen. Wie Sie sich sicherlich erinnern, haben wir in den Beratungen der Kommission den Vorschlag eingebracht, wenigstens den Art. 29 des Grundgesetzes so zu ändern, dass eine Länderneugliederung, wenn sie denn von unten gewollt ist, erleichtert wird. Aber selbst das haben Sie unter Berufung darauf, das gehöre nicht zum Arbeitsauftrag der Kommission, abgelehnt. Das war ein Fehler. Wir hätten diese Themen offensiver angehen müssen. Dann würde heute auch ein anderes Ergebnis vorliegen. ({4}) - Verehrte Frau Künast, das haben wir in der Kommission zweimal beantragt; aber es wurde von ihrer Mehrheit unter Berufung auf ihren Einsetzungsauftrag abgelehnt. ({5}) So sind nun einmal die Tatsachen. Da ich gerade von der Kommission spreche, gestatten Sie mir bitte, mich bei denjenigen zu bedanken, die uns wesentlich unterstützt haben: bei den hervorragenden Experten, die die Arbeit der Kommission mit viel Einsatz begleitet und auch gehofft haben, dass als Ergebnis der Beratungen etwas mehr herauskommt. Diesen Experten möchte ich von dieser Stelle aus für ihre Arbeit ganz herzlich danken. ({6}) Die FDP hat sich von dieser „Mutter aller Reformen“, wie sie der bayerische Ministerpräsident Stoiber genannt hat, wesentlich mehr erwartet - mich wundert übrigens, dass er heute nicht hier ist ({7}) - Entschuldigung, Herr Ramsauer; das war kein Angriff -, nämlich eine deutliche Stärkung der Parlamente sowie eine deutlichere Entflechtung der Zuständigkeiten mit einer sinnvollen Neuordnung der Kompetenzen und vor allem einer stärkeren Einbeziehung des Subsidiaritätsprinzips. Das ist nur ansatzweise, aber viel zu wenig gelungen. Das Grundproblem besteht unserer Meinung nach darin, dass das Ziel, in Deutschland wieder mehr Wettbewerbsföderalismus zu schaffen, wirklich nur ansatzweise erreicht wurde. Dieser Wettbewerb wurde von manchen in einer Weise dargestellt, die mich nur wundern kann. Ich erinnere mich, dass Frau Kollegin Sager immer vom „entfesselten Wettbewerb“ geredet und ihn sehr negativ dargestellt hat. Welche Auffassung von Wettbewerb wurde bei Ihnen eigentlich da deutlich? Gerade durch Wettbewerb ist die Bundesrepublik Deutschland wieder hochgekommen. Durch Wettbewerb sind wir wieder zu Wohlstand gekommen. Unser heutiges Problem ist nicht, dass wir zu viel Wettbewerb hätten, unser Problem ist: Wir haben zu wenig Wettbewerb. Das müssen wir korrigieren. ({8}) Viele haben ein völlig falsches Verständnis von Wettbewerb. Die heute ärmeren Länder zum Beispiel meinen, sie würden unter Wettbewerb prinzipiell leiden. Das ist doch nicht der Fall. Wir wollen einen Wettbewerb, um die besten Möglichkeiten zu finden. Wir wollen Wettbewerb, weil Föderalismus für uns nicht Gleichmacherei, sondern Vielfalt bedeutet, und aus dieser Vielfalt heraus können wir die besten Ergebnisse für unser Land erzielen. Das muss die Richtung sein. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Burgbacher, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sager?

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr gerne.

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Burgbacher, Sie hatten mich nach meinem Verständnis von Wettbewerb gefragt. Ich frage Sie: Stimmen Sie mit mir darin überein, dass Wettbewerb in Deutschland in erster Linie zwischen Unternehmen stattfinden sollte und nicht darin bestehen sollte, für diese Unternehmen möglichst viele unterschiedliche Gesetze zu machen? Stimmen Sie mit mir darin überein, dass in Deutschland ein Wettbewerb zwischen den Bildungseinrichtungen stattfinden muss und nicht darin bestehen sollte, dass die Länder für die Bildungseinrichtungen möglichst viele unterschiedliche Gesetze machen? ({0})

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Kollegin Sager, schon Ihre Fragestellung zeigt den Denkfehler, den Sie machen. Ich will Ihnen an nur einem einzigen Beispiel zeigen, wozu Wettbewerb in der Bildung führen kann: Das Land Baden-Württemberg hat vor vielen Jahren die Berufsakademien eingeführt, das Erfolgsmodell schlechthin bei uns im Land. Das konnte Baden-Württemberg, weil hier Wettbewerb besteht. Wäre der Bund zuständig gewesen, hätten wir noch heute keine Berufsakademien und wären für viele Leute um einiges ärmer. Das ist eine Tatsache. Deshalb will ich Wettbewerb. ({0}) Meine Damen und Herren, wir haben bei dieser Reform zu viele kleine Schritte gemacht. Die Frau Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung gesagt - ich zitiere -: Überraschen wir uns deshalb damit, dass wir die großen Fragen nicht immer aufgegliedert nach Einzelfragen und -interessen angehen, sondern einmal im Zusammenhang. Die Erfüllung dieser Überraschung ist wünschenswert und ich kann nur hoffen, dass dieses Hohe Haus die Kraft findet, aus den vorliegenden Gesetzentwürfen jetzt auch dieses große Ganze zu machen und sich nicht in Einzelfragen zu verheddern. Wir als FDP werden daran sehr konstruktiv mitwirken; da können Sie sicher sein. ({1}) Es gibt aber Punkte, die man wirklich anders hätte angehen und lösen können. Herr Kollege Kauder, Sie haben über Bildung und über Kompetenzverteilung geredet. Warum haben wir immer nur gefragt, wie wir Kompetenzen zwischen Bund und Ländern verteilen? Warum haben wir die Fragestellung nicht erweitert? Wir haben als FDP den Antrag eingebracht, in der Föderalismuskommission zu beschließen, die Autonomie der Hochschulen ins Grundgesetz zu schreiben. ({2}) Damit hätten wir einen deutlichen Schritt nach vorn getan. Denn wenn wir die Hochschulautonomie ins Grundgesetz geschrieben hätten, hätten wir uns einen Teil der Diskussion über die Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern sparen können. Ich habe nicht verstanden, warum die großen Fraktionen nicht den Mut hatten, dem zuzustimmen; wir hätten es uns damit in einigen Punkten wesentlich erleichtert. ({3}) Wir als FDP-Fraktion haben nach wie vor Bedenken, was die Beziehungen zwischen Bund und Kommunen anbetrifft. Nach der aktuellen Formulierung darf der Bund keine Aufgaben an die Kommunen übertragen. Die große Mehrheit hat sich aber geweigert, das Konnexitätsprinzip - wer die Musik bestellt, bezahlt sie auch aufzunehmen. Ich sage wie der Deutsche Städtetag und die kommunalen Spitzenorganisationen: Es gibt große Zweifel an der Praktikabilität der vorgesehenen Regelung. Es kann durchaus Fälle geben, in denen es vernünftig ist, dass der Bund Aufgaben an die Kommunen überträgt. Dann muss er aber auch das Geld dafür bereitstellen. Deswegen werden wir noch einmal beantragen, das Konnexitätsprinzip im Grundgesetz festzuschreiben. Das wäre der sauberste Weg und würde den Kommunen Verlässlichkeit bringen. ({4}) Ich will auch nicht verschweigen, dass es in unserer Fraktion Bedenken bezüglich der Themen Umwelt, öffentliches Dienstrecht und Strafvollzug gibt. Wir hatten das in der Kommission teilweise ja auch ausführlicher diskutiert. Meine Damen und Herren, die Akzeptanz der Föderalismusreform wird sehr stark davon abhängen, ob wir diese Bedenken ausräumen können. Wir können sie nur ausräumen, wenn es ein wirklich sauberes Gesetzgebungsverfahren gibt. Deshalb verstehe ich nicht, dass in dieser Woche zum Beispiel Anhörungen im Umweltausschuss abgelehnt wurden, die bereits beschlossen waren. Das ist kein richtiges Vorgehen, dadurch werden Minderheitenrechte ausgehebelt. Ich kann Sie nur dringend auffordern, jetzt nicht mit der Arroganz der Mehrheit der großen Koalition vorzugehen, sondern die Rechte der Minderheit in diesem Haus sehr sorgsam zu achten. Die Opposition beteiligt sich an dem Verfahren, aber Sie müssen der Opposition auch die Rechte dazu lassen. ({5}) Es ist eine kleine Reform, aber wir haben immer sehr deutlich gemacht, dass wir das konstruktiv angehen. Wir begreifen unsere Oppositionsrolle nicht so, dass wir jetzt plötzlich alles ablehnen, weil wir in der Opposition sind, sondern wir begreifen unsere Rolle so, dass wir konstruktiv handeln. ({6}) - Genau darauf habe ich gewartet. ({7}) Es ist schon faszinierend - wir saßen mit den Grünen ja immer am Tisch -, wie Sie das Ganze begleitet und jetzt vergessen haben, dass Sie einmal in der Regierung waren. ({8}) Jetzt höre ich nur noch Stimmen, die besagen, dass Sie alles ablehnen. Sie haben es doch mitgetragen. Stehen Sie doch endlich auch einmal dazu. ({9}) Meine Damen und Herren, uns liegt jetzt ein Gesetzentwurf vor. Wenn dieser Gesetzentwurf Realität wird, wird er im Lande einiges Positive bewirken. Wir werden den Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze reduzieren. Über die Zahlen kann man streiten, aber die Reduktion wird erfolgen. Das bedeutet eine Stärkung der Parlamente - sowohl eine Stärkung des Deutschen Bundestages als auch eine Stärkung der Landtage - auf Kosten der Ministerpräsidenten. Das begrüßen wir ausdrücklich. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Burgbacher, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Sager?

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber selbstverständlich. ({0})

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Burgbacher kann es ja nicht lassen, uns immer persönlich anzusprechen. Herr Burgbacher, können Sie sich wenigstens noch daran erinnern, ({0}) dass wir, als wir in der Regierung waren, keinesfalls zu allem Ja gesagt haben, dass wir nämlich gesagt haben: Die Regelungen im Bildungs- und Umweltbereich gehen so nicht. - Wir stehen immer noch dazu. Daran hat sich nichts geändert. ({1})

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Sager, ich weiß sehr wohl, wo Sie Bedenken angemeldet hatten und wo auch wir das getan hatten. ({0}) Dass ich jetzt von den Grünen aber nur noch ein Nein höre - andere Kommentare sind nicht mehr vernehmbar -, zeigt, dass Sie sich nicht mehr zu Ihrer Verantwortung bekennen. Sie haben regiert und daran sollten Sie sich noch ein kleines Stück erinnern. Das wäre hilfreich für alle. ({1}) Herr Kollege Kauder, meine Damen und Herren von der großen Koalition, lassen Sie mich noch einmal klarstellen: Wir werden das Verfahren konstruktiv begleiten. Wir haben immer gesagt, wir würden Dinge mitmachen, aber unter zwei Bedingungen: Erstens. Es muss klar sein, dass es vor Abschluss des Gesetzgebungsprozesses eine feste Vereinbarung darüber geben muss, dass die Reform der Finanzverfassung noch in diesem Jahr angegangen wird. Darin muss stehen, in welcher Form, mit welchem Zeitplan und mit welchen Eckpunkten dies geschieht. Dabei darf es keine Tabus geben. - Das ist die eine Bedingung der FDP. Das wissen Sie auch und das müssen wir zu Papier bringen. ({2}) Zweitens. Die Länder erhalten tatsächlich erheblich größere Kompetenzen. Deshalb wollen wir von den Ländern auch wissen, wie sie es bewerkstelligen wollen, dass die Qualität der Bildung erhöht wird. Wir wollen daneben auch wissen, wie sie es bewerkstelligen wollen, dass Bildungsabschlüsse vergleichbar sind und überall anerkannt werden. Die Kultusministerkonferenz hat das nicht geleistet. Sie müssen uns vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens sagen, wie das geschehen soll; denn Mobilität ist in dieser Republik notwendig. Mobilität darf dadurch nicht eingeschränkt, sondern muss befördert werden. ({3}) Ich höre viel Erstaunliches aus dem Lager der großen Koalition. Der Kollege Tauss ({4}) zieht durchs Land und erklärt, das Ganze könne man so nicht machen. Er ist Generalsekretär der baden-württembergischen SPD. Sein Kollege Drexler hingegen, der Fraktionschef der baden-württembergischen SPD, verkündet überall im Land, dass diese Regelungen ganz toll seien und die SPD mitmachen werde. Herr Tauss, Sie müssen den Leuten schon erklären, was jetzt stimmt. ({5}) Wir machen das nicht mit. Wir haben eine klare Linie. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen Koalition, jetzt ist der Ball in Ihrem Feld. Sie müssen uns schon sagen: Wollen Sie auf diesem Weg weitergehen oder stimmen die Meldungen, dass dieser Beschluss in der SPD-Fraktion überhaupt nicht mehrheitsfähig ist? Wir sagen noch einmal ganz klar: Unter den genannten Bedingungen haben Sie unsere konstruktive Unterstützung. Wir haben unsere Bedingungen klar gemacht. Wir wollen die Reform. Wir wären gerne einen größeren Schritt gegangen. Aber wenn der kleinere Schritt der Einstieg in eine gute Reform ist, dann soll er an der FDP nicht scheitern. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich erteile das Wort Kollegen Peter Struck, SPDFraktion. ({0})

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das parlamentarische Verfahren zur Föderalismusreform beginnt heute. Es ist nicht am Ende; das will ich deutlich sagen. Das heißt auch, das Ergebnis ist offen. ({0}) Zu dem Verfahren gehören - Kollege Kauder hat das ausgeführt - ausführliche Anhörungen, Diskussionen und, wenn es sich als notwendig erweist, Änderungen am Gesetzestext. ({1}) Erst wenn der Bundestag und der Bundesrat diese Reform jeweils mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen haben, ist sie in Kraft getreten, aber erst dann. ({2}) Ich halte auch nichts von Äußerungen, dass die Reform dann, wenn man dieses oder jenes ändern würde, nicht mehr in Kraft treten könne. Auch halte ich nichts von Äußerungen aus meiner Fraktion, die ihre Zustimmung von Bedingungen abhängig machen. Das betrifft auch hier im Saal Anwesende. ({3}) Vielmehr müssen wir ausführlich beraten. Wofür ist denn sonst das parlamentarische Verfahren da? ({4}) Ich will vorweg nicht nur einer Pflicht, sondern auch einem Wunsch nachkommen. Wir müssen uns bei denjenigen bedanken, die die Föderalismusreformkommission über eine lange Zeit wirklich erfolgreich geführt haben. Das sind Franz Müntefering und Edmund Stoiber. Beiden gebührt unser Dank für die Vorarbeit für das, was wir heute beraten. ({5}) Dass wir unser Grundgesetz ändern müssen, steht außer Frage; Volker Kauder hat das überzeugend dargelegt. Auch zu Herrn Kollegen Burgbacher von der FDP-Fraktion muss ich sagen: Sie haben überhaupt keine Zweifel daran geäußert, dass Änderungsbedarf besteht. Jetzt reden wir über die Frage, wie das gehen soll. Wir reden auch über die Frage, inwieweit wir das zusammen mit den Ländern machen können. Ich will zunächst einmal darauf hinweisen, dass es ein Fehler wäre, zu glauben, dass der Bund im Gegensatz zu den Ländern eine einheitliche Position vertritt. Natürlich gibt es innerhalb unserer Fraktion und zwischen den Fraktionen im Parlament unterschiedliche Auffassungen. Das haben wir im Vermittlungsausschuss oft genug erlebt. Dass wir Regelungen finden müssen, um die Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze zu reduzieren, steht außer Frage. ({6}) Die Frage ist natürlich: Wie groß ist tatsächlich der Umfang der Gesetze, die dann nicht mehr zustimmungspflichtig wären? Wir haben die Bundestagsverwaltung darum gebeten, uns anhand der letzten Gesetzgebungsvorhaben darzulegen, wie das Verhältnis aussehen würde, wenn die Föderalismusreform schon in Kraft gewesen wäre. Wir werden sehen, dass diese Reform schon etwas bringen wird; daran habe ich gar keinen Zweifel. Wenn man hier im Bundestag über die Länder redet, hat man bei den Debatten den Eindruck, als gehe es nur um die „bösen“ Ministerpräsidenten, betrachtet von der jeweils anderen politischen Seite. Aber wenn wir über die Länder reden, Herr Burgbacher, dann reden wir auch über Landtage. Wir reden dann auch über neue Zuständigkeiten für die Landtage, nicht nur für die Ministerpräsidenten. ({7}) Ich traue den Landtagen einiges zu. Wenn man ihnen eine Zuständigkeit gibt, heißt das für mich nicht automatisch, dass sie dann etwas Verrücktes beschließen. Das ist ganz sicher nicht der Fall. Sie werden vielmehr genauso sorgfältig abwägen, um zum Wohle des Landes zu entscheiden, wie wir das im Bundestag tun. Trotzdem müssen wir über einige Punkte ausführlich sprechen. Ich beginne mit der Bildungspolitik. In dem neuen Art. 104 b Grundgesetz wird vorgeschlagen, dass der Bund in den Bereichen keine Finanzhilfe mehr leisten darf, in denen die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz bei den Ländern liegt. Nicht nur in meiner Fraktion gibt es dagegen ernst zu nehmende Bedenken. ({8}) Diese Regelung würde nämlich konkret bedeuten, dass der Bund generell in der Bildungspolitik keine Akzente mehr setzen darf. Ist das wirklich gewollt? Wird das von allen Ländern gleichermaßen beurteilt? Oder hat man sich in dieser Frage von den Bedenken lediglich eines Landes leiten lassen? Ich kann mir schwer vorstellen, dass Länder erklären, sie wollten kein Geld vom Bund haben. Das war in den vergangenen 15 Jahren immer anders. ({9}) Gerade in diesem Bereich hat das Ganztagsschulprogramm gezeigt, dass der Bund mit seinen Finanzzuweisungen richtige und zukunftsweisende Weichen stellen und vor allem auch Diskussionen auslösen kann. ({10}) Deshalb bin ich sehr dafür, dass im Laufe der Beratungen im Bundestag und Bundesrat die Frage ernsthaft geprüft wird, ob das Kooperationsverbot in der vorgesehenen Fassung sinnvoll ist oder nicht. Ich neige eher zu Letzterem, um das deutlich zu sagen. ({11}) Ich bin den Ländern auch dankbar, dass Bundestag und Bundesrat, wie heute Morgen mitgeteilt wurde, ein gemeinsames Anhörungsverfahren durchführen werden. Ich glaube, damit wird den Bedenken der Opposition einigermaßen Rechnung getragen. Wir müssen auch über das Umweltrecht reden. ({12}) Das ist ein weiterer Punkt, der ausführlich diskutiert werden muss. Wird mit der beabsichtigten Regelung tatsächlich eine klare Rechtssicherheit gewährleistet oder trägt die vorgesehene Lösung nicht vielmehr zur Zersplitterung des Umweltrechts, zur möglichen Absenkung der Umweltstandards und zu einem für die Unternehmen nicht mehr tragbaren bürokratischen Aufwand bei? Auch diese Fragen müssen geprüft werden. ({13}) Auch das Heimrecht ist ein sehr diskussionswürdiger Punkt. Wir haben das Heimrecht erst vor wenigen Jahren novelliert. Die Kompetenz dafür soll auf die Länder übergehen. Das kann - es muss aber nicht - in den Bundesländern zu unterschiedlichen Qualitätsstandards bei der Pflege führen. Es gab bereits eine Bundesratsinitiative, in den Ländern unterschiedliche Regelungen für die Personalausstattung festzulegen, um künftig Personal einzusparen. Die Pflege von Menschen ist aber ein höchst sensibler Punkt, der nicht nur unter finanziellen Aspekten betrachtet werden darf, ({14}) nach dem Motto „In reichen Ländern steht mehr Geld für pflegebedürftige Menschen zur Verfügung, in armen Ländern weniger“. ({15}) Diskussionswürdig ist des Weiteren - das hat der Kollege van Essen bereits gestern in der Geschäftsordnungsdebatte nicht ganz zu Unrecht angesprochen - das Thema Strafvollzug. Nach meiner Kenntnis war nie beabsichtigt, den Strafvollzug in die alleinige Kompetenz der Länder zu übertragen. ({16}) Wenn Sie heute jemanden fragen, wem das eingefallen ist, dann will es keiner gewesen sein. ({17}) - Nein, es ging um die Frage, wie es dazu gekommen ist, die Zuständigkeit übertragen zu wollen. ({18}) Eigentlich passt das auch nicht zu der im Koalitionsvertrag getroffenen Vereinbarung, erstmals ein Untersuchungshaftvollzugsgesetz und ein Jugendstrafvollzugsgesetz zu schaffen. Bei der Übertragung der Kompetenz auf die Länder ist zu befürchten, dass diese Bereiche nicht in allen Ländern geregelt werden. Ich frage Sie: Ist ein Wettbewerb um die härtesten und strengsten Knäste in Deutschland sinnvoll? Wollen wir das wirklich? ({19}) Das sind Punkte, die wir in den Ausschüssen diskutieren müssen. Ich kann sehr gut verstehen, dass unsere Abgeordneten, ich persönlich auch, darauf fundierte Antworten haben wollen. Nur weil etwas eingebracht worden ist, muss es nicht so beschlossen werden. Dieser alte Grundsatz gilt nach wie vor. ({20}) Ich will in diesem Zusammenhang einen weiteren Aspekt nennen. In allen Verfassungen der Bundesländer sind Kultur und Sport als Staatszielbestimmungen definiert. Auch die europäische Verfassung, die wir schon ratifiziert haben, die die Europäische Union in besonderer Weise zur Förderung und zum Schutz von Kultur und Sport verpflichtet, sieht ähnliche Regelungen vor. Wir sollten zumindest ergebnisoffen prüfen, ob eine solche Bestimmung, die Staatszielbestimmung „Förderung der Kultur und des Sports“, nicht auch in das Grundgesetz Eingang finden sollte. ({21}) Ich komme zum Schluss. Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, auch für mich und meine Fraktion nicht, dass die Föderalismusreform beschlossen werden muss. Ich wollte mit meinem Beitrag nur deutlich machen, dass in der Tat für mich das, was eingebracht worden ist, noch nicht das letzte Wort ist. Das kann auch nicht sein. Jeder Abgeordnete würde seine Rechte sozusagen an der Garderobe abgeben, wenn er sagte: Ich muss das alles abnicken. - Das machen wir ja auch nicht. ({22}) Es gibt eine Reihe von Punkten, die wir diskutieren müssen. Das Parlament wird sich dazu die nötige Zeit nehmen; daran besteht überhaupt kein Zweifel. Wir werden alle Sachverständigen, die von den Oppositionsfraktionen und den Koalitionsfraktionen vorgeschlagen werden, bitten, uns Auskunft zu geben. Am Ende werden wir eine Föderalismusreform beschließen, die unser Land zukunftsfähiger macht, die die Entscheidungen hier im Parlament transparenter macht, die von den Bürgern akzeptiert werden wird und die auch von den Abgeordneten des Deutschen Bundestages getragen wird. Vielen Dank. ({23})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Bodo Ramelow, Fraktion Die Linke. ({0})

Bodo Ramelow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003824, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Man möchte Herrn Fraktionsvorsitzenden Struck direkt Recht geben und sagen: Wenn dem so wäre, dass wir das alles diskutieren würden, und wenn der Prozess so offen wäre, wie Sie ihn eben als notwendig beschrieben haben, dann würden auch wir uns eingeladen fühlen, auf diesem Weg mit Ihnen gemeinsam zu gehen, um dann am Schluss mehr zu erhalten als das, was im Moment von Herrn Stoiber als die „Mutter aller Reformen“ bezeichnet wird. ({0}) Herr Struck, ich hatte aber eher den Eindruck, dass Sie Ihre Fraktion, die ja ein Teil der großen Koalition ist, befrieden wollten und dass Sie nicht für die notwendige Offenheit sorgen, die wir brauchen, wenn wir tatsächlich eine Reform bekommen wollen, die diesen Namen verdient. Zurzeit erleben wir nur, dass die Reform in einer Art und Weise auf den Weg gebracht wird, bei der ganze Bereiche ausgegrenzt werden. Ich darf daran erinnern: Ich gehörte als Fraktionsvorsitzender aus dem Thüringer Landtag dem Lübecker Konvent an. Die Tinte unter dem Papier, das die Basis für die Föderalismusdebatte abgeben sollte - sie ist ja dringend notwendig und ich sage ausdrücklich: Niemand bezweifelt, dass sie geführt und erfolgreich zu Ende gebracht werden muss -, war noch nicht trocken, da wurden alle Fraktionsvorsitzenden und alle Fraktionen der PDS aus den Landtagen einfach aus dem Prozess ausgegrenzt. Man hat uns gar nicht mehr eingeladen; man hat uns nicht einmal mehr mit einem Vertreter in der Kommission mitarbeiten lassen. Das war der erste Punkt. Zweiter Punkt. Herr Struck hat das, was auf den Weg gebracht worden ist, als offenen Prozess dargestellt. Aber gleichzeitig sorgt die SPD im Bundesrat dafür, dass der Prozess nicht mehr offen ist. Herr Beck lässt heute als Wahlkämpfer verlautbaren, die ostdeutschen Bundesländer hätten wohl ein gestörtes Verhältnis zum Zentralstaat oder litten an einer zentralstaatlichen Nostalgie. Deswegen bringt er wohl die gleichen Gesetzentwürfe, die hier als Diskussionsgrundlage eingebracht werden, gleichzeitig in den Bundesrat ein, sodass das Vermittlungsverfahren wesentlich komplizierter wird. Ich habe den Eindruck, dass es angebrachter ist, die Föderalismusreform, die Herr Stoiber als die „Mutter aller Reformen“ bezeichnet, mit dem Wortpaar „Edelstahl und Diebstahl“ zu qualifizieren. Beides hat nichts miteinander zu tun. Von einer Mutter aller Reformen kann ich jedenfalls nicht sonderlich viel erkennen. Ich sehe nur, dass wir eine Rolle rückwärts in die feudale Kleinstaaterei machen, in der Herrn Koch und anderen gedient wird. ({1}) Ich appelliere an alle Vertreterinnen und Vertreter der neuen Bundesländer, über Folgendes einmal parteiübergreifend und kritisch nachzudenken: Sowohl die A-Länder als auch die B-Länder, die im Bundesrat federführend am Verfahren beteiligt sind, sind ausschließlich Westländer. Das heißt, der gesamte Osten Deutschlands wird in dem Verfahren, über das wir hier zurzeit diskutieren, völlig abgemeldet. In einem Punkt gebe ich der FDP ausdrücklich nicht Recht. Wettbewerbsföderalismus ist nicht unser Ziel. ({2}) Wir wollen zwar eine Neuordnung des Föderalismus. Aber Wettbewerbsföderalismus auf dem Rücken der strukturschwächeren Regionen bedeutet, ganze Regionen in Deutschland komplett abzuhängen. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Steuerdeckungsquote der Bundesländer hinweisen. Ihre Bandbreite reicht realiter von 37 bis 73 Prozent. Das heißt, die starken Bundesländer können sich die geplante Föderalismusreform erlauben. Aber die schwachen Bundesländer werden abgehängt. Letztendlich werden wir erleben, dass der Wettbewerbsföderalismus zum Abbau von Standards führt. Das kann aber nicht unser Ziel sein. ({3}) Ich möchte der FDP allerdings ausdrücklich Recht geben, dass alle Fragen betreffend die Finanzbeziehungen in die Reform einbezogen werden müssen. Sie außen vor zu lassen ist schon einmal ein zentraler Fehler. Herr Struck, ich begrüße Ihre Ausführungen über die Kultur. Aber ich wünsche mir, dass wir, wenn wir schon das Grundgesetz mit Zweidrittelmehrheit ändern, Subsidiarität und Konnexität als Prinzipien festschreiben und so die Kommunalparlamente und die Landesparlamente ermutigen. Denn dann wäre endlich klargestellt: Wer die Musik bestellt, bezahlt sie auch. Das bedeutete auch mehr Freiraum für die Kommunen. Diese Prinzipien müssen also im Grundgesetz verankert werden. Dabei dürfen aber die Finanzbeziehungen nicht vergessen werden. Es gibt allerdings einen Unterschied zwischen der FDP und der Linken. ({4}) - Herr Westerwelle, das stimmt. Damit haben Sie Recht. Deswegen bin ich nicht auf Ihrer Seite. Wir unterscheiden uns eindeutig, wenn es um die Steuereinnahmenseite geht. Wir sagen: Damit sich Bund, Länder und Kommunen finanzieren und entschulden können, brauchen wir ein klares Bekenntnis zur Wiedereinführung der Vermögensteuer, der Börsenumsatzsteuer und anderer Steuerarten. ({5}) Wir lehnen Wettbewerbsföderalismus in der Bundesrepublik Deutschland ganz klar ab. Wir wollen vielmehr einen kooperativen Föderalismus, der die Aufgaben neu verteilt. In der gestrigen Sitzung des Vermittlungsausschusses ist ein verehrter Kollege nach vielen Jahren und 60 Sitzungen verabschiedet worden. Der Vorsitzende des Vermittlungsausschusses hat sich bei ihm für die geleistete Arbeit bedankt. Der Kollege hat darauf geantwortet, man habe im Vermittlungsausschuss hervorragend zusammengearbeitet und oft die Probleme lösen müssen, die die Parteivorderen ihnen eingebrockt hätten. Ich glaube, so nehmen das auch die Menschen in diesem Land wahr. Über die Relation zwischen Bundestag und Bundesrat wird nicht im Vermittlungsausschuss entschieden, sondern in erster Linie in den strategischen Abteilungen der Parteizentralen. So hat man seit Jahren und Jahrzehnten Bundestag und Bundesrat in parteipolitische Frontstellung zueinander gebracht. Nun sitzen die Strategen gemeinsam in der großen Koalition und wollen eine große Föderalismusreform auf den Weg bringen. Wir können nur feststellen: Diese Art der Herangehensweise ist mutlos, kraftlos und sogar ziellos. ({6}) Ich will es Ihnen an einem Beispiel deutlich machen, dem Thema Umwelt. Jetzt soll das Umweltgesetzbuch eingeführt werden. Es soll aber gleich wieder von den Ländern außer Kraft gesetzt werden können bzw. die Standards sollen gesenkt werden können. Was ist denn das für ein Unsinn? ({7}) Ich denke auch an den Hochwasserschutz. Erinnern Sie sich doch einmal an das Elbe- bzw. Oderhochwasser! Erinnern Sie sich an die Hamburger Sturmflut! Wollen wir wirklich zulassen, dass es 16 verschiedene Standards bei solchen Katastrophen gibt? Glauben Sie, die Flutwelle wäre in einem Fluss unterschiedlich, nur weil er verschiedene Bundesländer durchfließt? Was soll denn an der Grenze zwischen zwei Bundesländern geschehen, die der Fluss durchquert? Soll es da unterschiedliche Standards und unterschiedliche Deiche geben? Das, was Sie in Sachen Umwelt beabsichtigen, ist ein Schritt in die Kleinstaaterei. Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang eine zweite Anmerkung. Sie verlagern alle Kompetenzen auf die Länder, nur die Atompolitik soll Sache des Bundes bleiben. Alles, was uns umgibt, ist aus Atomen zusammengesetzt, selbst die Luft, die wir atmen. Bleibt also über diesen Umweg alles in der Hoheit des Bundes? Oder wie soll ich diesen Unsinn verstehen, den Sie auf den Weg bringen wollen? ({8}) Kommen wir zum Thema Justiz. Ich bin erstaunt, dass Sie, Herr Struck, sagen, die Kompetenzverlagerung habe niemand vor. Ich frage mich dann allerdings, warum alle Fachleute, die sich bisher mit dem Teil der Föderalismusreform, der die Justiz betrifft, beschäftigt haben, kategorisch ablehnen, dass diese Kompetenzen künftig unter die Länderhoheit fallen sollen. Es muss, was den Justizvollzug betrifft, nationale Standards geben. Es ist ein Skandal, diesen Bereich den Ländern zu überlassen. Ich habe eben auf die Steuerdeckungsquote hingewiesen. Arme Länder können dann darüber nachdenken, ob sie die Knäste privatisieren und es den privaten Betreibern überlassen, die Standards zu setzen. Das halten wir für katastrophal und für den falschen Weg. ({9}) Ich glaube, dass der Kollege Beck beim Thema Bildung vor lauter Wahlkampf in Rheinland-Pfalz die wesentlichen Dinge aus den Augen verloren hat. Er bezichtigt die ostdeutschen Länder, sie hätten ein merkwürdiges Verhältnis zum Zentralstaat. Das mag sich so darstellen, wenn man aus dem Blickwinkel der südlichen Weinstraße oder von Trier aus Mainz betrachtet. Tatsächlich aber ist die Erfahrung der neuen Bundesländer, dass man mit längerem gemeinsamen Lernen und nationalen Bildungsstandards mehr erreicht als durch Kleinstaaterei, die Sie gerade auf den Weg bringen. ({10}) Deswegen wäre es auch hilfreich, in Sachen nationale Bildungsstandards nicht nur nach Finnland, sondern auch einmal in die ehemalige DDR zu schauen. Man könnte dann ein wenig davon finden, was in Finnland erfolgreich umgesetzt worden ist. ({11}) - Sie können einfach nach Finnland schauen, wenn Ihnen das leichter fällt. Es fällt Ihnen ideologisch schwer, die Struktur der DDR-Schule an bestimmten Stellen - ich rede nicht von Margot Honecker und der Ideologie, sondern von den Bildungsstandards - einfach anzuerkennen. ({12}) Die Industrie- und Handelskammer Südthüringen - sie ist nicht verdächtig, uns nahe zu stehen - hat festgestellt, dass polytechnischer Unterricht in den Schulen heute fehlt. Interessant ist doch, dass ausgerechnet Wirtschaftsvertreter diesen Teil der Föderalismusreform für falsch halten. Deswegen ermuntere ich Sie: Schauen Sie sich doch einfach einmal das Bildungssystem genauer an! ({13}) Das Gleiche gilt auch für die Hochschulen. Wenn man Exzellenzstandorte haben will, dann müssen die Hochschulen auch mit den entsprechenden finanziellen Mitteln ausgestattet sein. Darüber hinaus sagen wir kategorisch Nein zu Studiengebühren. ({14}) Eine weitere Bemerkung zum Beamtenrecht. Ich finde es hocherstaunlich, dass der verehrte Ministerpräsident Dieter Althaus am letzten Wochenende die 42-Stunden-Woche gefordert hat, und das trotz des Streiks im öffentlichen Dienst. Er sagte, die 42-Stunden-Woche sei die Lösung für alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Er fordert sie für West- und Ostdeutschland. Es war die CDU in Thüringen, die die 42-Stunden-Woche für Beamte durchgepeitscht hat, und jetzt empfiehlt sie, dass den Angestellten im öffentlichen Dienst dasselbe zugemutet wird. Das tut sie auch noch, obwohl zurzeit gestreikt wird. Diese Form der Solidarität verbitten wir uns. Wenn Sie Mut hätten - deshalb habe ich vorhin von Mutlosigkeit geredet -, dann würden Sie ein einheitliches Dienstrecht für Deutschland schaffen. Keine Trennung mehr zwischen Arbeitern, Angestellten und Beamten. Das wäre ein mutiger Schritt nach vorne, ein einheitliches Arbeitsgesetzbuch. ({15}) Was aber machen Sie? 16 Beamtenrechte auf Länderebene plus ein Bundesbeamtenrecht heißt 17 verschiedene Rechtssituationen. Die kommen zu dem atomisierten Arbeitsrecht hinzu, das wir in Deutschland ohnehin haben. Das ist rückwärtsgewandt. Deswegen wäre es gut, in Analogie zur Überleitung des Bundes-Angestelltentarifvertrages in den TVöD das Dienstrecht in Deutschland insgesamt zu öffnen und damit einen Schritt nach vorne zu kommen. Ich glaube, dass Sie den Beamtenbund auf Ihre Seite ziehen können, wenn sich herausstellt, dass es nicht um formale oder um angebliche Privilegien geht. Es geht vielmehr um die Trennung und Atomisierung von Menschen im öffentlichen Dienst. Es wäre gut, ein einheitliches Dienstrecht zu haben. Die Menschen im Lande haben eh das Gefühl, dass Bundestag und Bundesrat immer nur versuchen, sich gegenseitig auszubremsen. Wir sind sehr gespannt darauf, zu sehen, wie lange die große Koalition das Verhältnis zu den Bundesländern austarieren kann. Ob der Vermittlungsausschuss in dieser Legislatur Arbeit bekommt, wissen wir nicht. Eines darf ich Ihnen sagen: Eine Föderalismusreform, die diesen Namen verdienen möchte, muss die Menschen mitnehmen, muss sie überhaupt erreichen. Wenn wir das Grundgesetz ändern - wir wollen es; Sie haben beschlossen, entsprechende Gesetzesinitiativen auf den Weg zu bringen -, dann lassen Sie uns folgende Punkte im Grundgesetz verankern: Erstens: Kulturförderung, Konnexitätsprinzip und das Prinzip „mehr direkte Demokratie“. Das Verhältnis der Bürger zu ihrem Staat wäre damit ein Stück weit gestärkt. Wir fordern deswegen, mehr direkte Demokratie im Grundgesetz zu verankern. ({16}) Das wäre ein Element der Neuordnung der Strukturen in Deutschland. Zweitens: das Subsidiaritätsprinzip. Drittens: nationale Standards für Bildung. Gemeint sind sämtliche Bildungsstandards, also auch nationale Standards für Hochschulen. Viertens: nationale Umweltstandards. Ziel sollte ein Umweltgesetzbuch sein, das diesen Namen verdient hat und nicht anschließend infrage gestellt wird. Fünftens: ein einheitliches Dienstrecht für ganz Deutschland. Ich empfehle Ihnen einen Blick auf das Arbeitsgesetzbuch der DDR. Sie müssen es nicht übernehmen. ({17}) - Sie können weiter aus ideologischen Gründen aufschreien. Aber es würde sich lohnen, hinzuschauen. Vergleichen Sie das Arbeitsgesetzbuch der DDR einmal mit dem deutschen Arbeitsrecht! Wer entbürokratisieren will, der sollte 30 Formen von Arbeitsrecht beseitigen und durch ein einheitliches Dienstrecht ersetzen. ({18}) - Wenn Sie möchten: Bitte, gerne. Im Gegensatz zu Ihnen übernehmen wir die Verantwortung, auch wenn Sie das immer leugnen. Sechstens: Hände weg von Justiz und Strafvollzug! Siebtens: eine bundeseinheitliche Verwaltungsreform, die diesen Namen verdient hat. Das heißt, es muss zu einer Aufgabentrennung und zu einer Aufgabenzuordnung kommen. Einfließen sollten dabei die Ergebnisse der Diskussion der Bundesländer. Ob die Aufstellung der Bundesländer noch zeitgemäß ist, auch darüber muss diskutiert werden, allerdings von unten. Deswegen wäre es gut, den Weg dafür über eine entsprechende Änderung im Grundgesetz zu ebnen. Achtens: die Stärkung der Staatsfinanzen. Das heißt nicht nur, dass die Finanzbeziehungen neu geordnet werden müssen, sondern auch, dass die Einnahmenseite zu stärken ist. Wenn Sie diese acht Punkte mit auf den Weg bringen, dann können wir gemeinsam eine Föderalismusreform verabschieden. Nach meiner Überzeugung brächte diese Reform den Menschen mehr Gewinn als Verlust. Das, was Sie im Moment machen, ist wieder Gezänk in den parteipolitischen Hinterzimmern. ({19}) Das führt leider nur zur Befriedigung von Herrn Koch und anderen, aber nicht dazu, dass wir Deutschland wirklich zum Wohle der Menschen neu ordnen. Bitte, machen Sie sich in eine andere Richtung auf und verlassen Sie Ihre parteipolitischen Hinterzimmer. Vielen Dank. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Renate Künast, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir brauchen eine Föderalismusreform. Dabei brauchen wir eines: mehr Transparenz, damit die Bevölkerung und wir alle wirklich verstehen, wer eigentlich für welche Bereiche zuständig ist. Wir brauchen mehr politische Handlungsfähigkeit, damit die immer wieder qualvollen Verhandlungen, die sich über ein oder zwei Jahre hinziehen, und die permanenten Blockaden durch den Bundesrat endlich hinter uns liegen. Das ist unser Maßstab. Das war übrigens auch der Maßstab der Föderalismuskommission. Ich muss leider feststellen: Was uns heute hier vorliegt, wird diesem Maßstab nicht gerecht. Dies ist keine große Reform. ({0}) Wir wollten entflechten. Das leistet diese Reform nicht. Wir wollten handlungsfähiger werden in Europa. Das leistet diese Reform nicht. Wir wollten Lösungen der großen Zukunftsaufgaben anbieten. Auch das leistet diese Reform nicht. Diese große Koalition hat behauptet: Nach den ersten 100 Tagen dieser Regierung kommt das Meisterstück. Eines ist ganz klar: Wir haben das in den vergangenen Wochen kritisiert. Nach der Rede des SPDFraktionsvorsitzenden gibt es überhaupt kein Beweisproblem mehr: Dies ist nicht das Meisterstück der großen Koalition, sondern das ist ein Stümperwerk, in das noch viel Arbeit gesteckt werden muss, wenn es Deutschland dienen soll. ({1}) Herr Kauder, Sie haben hier über Wettbewerbsföderalismus geredet. Ich sage Ihnen einmal ganz klar: Wir wollen an der Stelle keinen Wettbewerbsföderalismus, sondern wir wollen einen Föderalismus, der auch noch die gleichwertigen Lebensverhältnisse in dieser Republik im Blick hat. ({2}) Wir müssen den Ausgleich der Waage, die Balance hinbekommen, sodass wir Föderalismus mit einem Stück Wettbewerb, aber auch mit Solidarität haben. Die Bundesrepublik macht es nämlich aus, dass nicht an dem einen Ende des Landes arme Kinder oder Migrantenkinder keine Chancen auf gute Bildung haben und darauf, sich zu entwickeln, Teil der Gesellschaft zu sein, sich beruflich zu verwirklichen und in der Gesellschaft ihren Teil zu leisten, während die reichen Kinder am anderen Ende der Republik so richtig durchziehen, sodass nur sie am Ende die Vorstände in den DAX-Unternehmen stellen. Einen solchen Föderalismus wollen wir nicht, Herr Kauder. Wir wollen auch Solidarität. ({3}) - Nein. Von uns gibt es ein klares Bekenntnis zum Föderalismus, Herr Kauder. Aber man muss auch im Detail wissen, was man wie regelt. Ich will, dass die Länder mehr entscheiden können, aber nicht nur die Ministerpräsidentenbank, nicht nur der Bundesrat, sondern wirklich auch die Landtage. ({4}) Wir haben die Debatte um die Frage, wie hier mit dem Parlament und mit seinen Anhörungsrechten umgegangen wird, schon geführt. Was Sie da gestern und vorgestern hingelegt haben, war, finde ich, demokratietechnisch nun nicht gerade ein Meisterwerk. ({5}) Herr Kauder, Ihnen fehlt noch etwas ganz anderes. Sie haben hier gesagt, jetzt werde es eine wunderbare gemeinsame mehrtägige Anhörung geben. ({6}) - Geht es? Können Sie nicht einmal einen Koalitionsausschuss einberufen? Dann könnten Sie alles besprechen. Wir haben bei diesem so genannten Meisterstück gerade gemerkt, dass die Koalition hoch zerstritten ist. Insofern verstehe ich sozusagen Ihre Debatte jetzt über die grünen Bänke hinweg. Die einen sagen, es sei ein Meisterstück. Herr Struck sagt, man müsse eigentlich in wesentlichen Bereichen noch ändern. Sie sagen, Sie hätten jetzt eine Anhörungsidee mit Bundestag und Bundesrat zusammen. Aber, Herr Kauder, Herr Struck, Sie haben schon wieder die Landtage vergessen. ({7}) Wenn es eine ehrliche Beratung gibt, dann wollen wir, dass auch die Landtage und nicht nur die Ministerpräsidenten und die Mehrheit an dieser Beratung beteiligt werden. Ich würde übrigens auch gern wissen, was eigentlich die Position der FDP ist. Herr Burgbacher, mir ist sie mit Ihren Ausführungen nicht klar geworden. Wenn ich mir das Ganze noch einmal vor Augen führe, dann erinnere ich mich daran, dass Herr Westerwelle im Dezember 2004 gesagt hat, das sei deutlich zu wenig und enttäuschend. Mittlerweile hören wir von Herrn Westerwelle, Sie würden dieser Reform sowieso zustimmen, weil man danach über die Finanzfragen redet. Herr Burgbacher erklärt hier aber, es müsse noch viel geregelt werden. Herr Burgbacher, dann widerrufen Sie doch Ihren Parteivorsitzenden, Herrn Westerwelle; der ist an dieser Stelle längst umgefallen. ({8}) - Ich weiß, was Sie wollen, Herr Gerhardt. Wegen des 26. März wollten Sie sich, weil Sie in Rheinland-Pfalz gern mit den einen und in Baden-Württemberg gern mit den anderen wollen, keinen Ärger mit den beiden einhandeln. Deshalb haben Sie sich hier eigentlich schon zum Steigbügelhalter dieser schlechten Reformvorlage gemacht. ({9}) Ich kann nicht akzeptieren, wenn hier angesagt wird, sogar aus dem Kanzleramt, dass dieses Paket so geschnürt ist und so durchgeht. Ich kann auch nicht akzeptieren, wenn uns Ministerpräsidenten das sagen; denn es geht an dieser Stelle nicht allein darum, ein Paket durchzuwinken. Wir haben vielmehr die Aufgabe, uns zu überlegen: Was sind die Probleme der Republik, der Kinder dieser Republik, der Wirtschaft dieser Republik? Was sind die Probleme von heute, von morgen und von übermorgen? Diese Reform muss eine Lösung für diese Probleme anbieten und das tut sie bisher definitiv nicht; im Gegenteil. ({10}) Ich gehe einmal zwei oder drei Punkte durch, um zu klären, ob diese Reform uns eigentlich genügt. In der Generaleinschätzung wird behauptet, hier finde eine ausreichende Entflechtung statt. Es mag sein, dass hier eine kleine Entflechtung vorgenommen wurde, aber für die Behauptung, die Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze würde von 60 auf circa 40 Prozent reduziert, also selbst für diesen kleinen Sprung, findet sich bei keinem Wissenschaftler ein Beleg. Wir alle hier wissen, dass es sich hierbei schlicht und einfach um eine Schätzung Pi mal Daumen handelt. Es liegt keinerlei Beleg dafür vor, dass es zu einer solchen Reduzierung kommen wird. Ich glaube sogar, dass das Gegenteil der Fall ist. In Ihre Änderungsvorschläge bezüglich des Verfahrensrechtes in Art. 84 und 104 a Grundgesetz bezüglich der geldwerten Sachleistungen haben Sie wieder Regelungen hereingefummelt, die am Ende mindestens in gleichem Umfang dem Bundesrat ein Zustimmungsrecht einräumen, wie es derzeit der Fall ist. ({11}) Auch Sie wissen genau, dass es Papiere von Sachverständigen gibt, in denen das so gesagt wird. Am Ende bleibt alles beim Alten: Sie wollen zwar entflechten, aber mit den von Ihnen vorgesehenen Änderungen bezüglich geldwerter Sachleistungen haben Sie eigentlich wieder einen Nasenring eingeführt, an dem die Landesfürsten, also die Ministerpräsidenten, den Bundestag durch die Republik ziehen können. Ich bin mir sicher, auch in diesem Punkt wird es uns gehen wie nach der schnell durchgezogenen und nicht durchdachten Reform 1994: Wir werden uns in Karlsruhe wiedertreffen. Unsere Vorstellung war eigentlich, eine Reform auf die Beine zu stellen, bei der das nicht der Fall ist. ({12}) Schauen wir uns einmal an, wie Sie die Probleme beim Thema Bildung lösen. Bildungspolitik ist die Sozialpolitik der Zukunft und damit Politik für den Standort Deutschland. Aber Sie geben jede Möglichkeit für eine gemeinsame strategische Bildungsplanung auf. Ich respektiere die Zuständigkeit der Länder für die Bildung und die Erziehung von Kindern im föderalen System, aber zugleich müssen wir uns bewusst machen, dass es einen knallharten internationalen Wettbewerb gibt. Indien bildet jedes Jahr 300 000 Ingenieure aus. Wir können es uns nicht leisten, hier in Vielstaaterei zu verfallen. Wir müssen wenigstens die Möglichkeit zu einer gemeinsamen strategischen Bildungsplanung von Bund und Ländern offen lassen. Davon würden nämlich unsere Kinder profitieren, weil unsere Wirtschaft Fachleute braucht. Das ist damit in doppeltem Sinne die Zukunftsfrage Deutschlands. Deshalb darf es nicht zu solchen Regelungen kommen, wie sie geplant sind. ({13}) Schauen Sie sich einmal an, Herr Kauder, was passierte, wenn Ihre Vorschläge durchkämen: Ganztagsschulprogramme wären nicht mehr möglich. So etwas wie das Sinusprogramm, mit dem Edelgard Bulmahn dazu beigetragen hat, dass dieses Land bei den mathematischen Fähigkeiten weiter nach vorne kommt, dürfRenate Künast ten wir nicht mehr machen. Von Mitteln für den Hochschulbau und von Ihrer Förderung von technischen Großgeräten profitierten am Ende nur die großen Länder; ein Land wie Schleswig-Holstein würde leer ausgehen. ({14}) So kann doch die Zukunft dieses Landes nicht gestaltet werden. ({15}) - Das war wahrscheinlich, Herr Kauder, Ihr Wort zum Frauentag. Es kam zwar ein bisschen spät, aber passte vom Niveau her. ({16}) Herr Kauder, Sie haben gesagt, durch die Föderalismusreform würde der Bund für Bürokratieabbau bei den Ländern sorgen. Ich sage Ihnen, die Bürokratie, unter der im Augenblick die Schulen leiden, liegt nicht in der Verantwortung des Bundes, sondern wurde von den Bundesländern verschuldet, weil sie den Schulen keine Autonomie geben wollen. ({17}) Schauen wir uns das Thema Umwelt an: Mit dem in Ihrer Vorlage enthaltenen Vorschlag für ein Umweltgesetzbuch bauen Sie nichts anderes auf als ein potemkinsches Dorf: vorne eine elegante Fassade, dahinter aber nicht einmal ein fester Kern, der Abweichungen in den verschiedenen Bereichen verhindert, wie es ein UGB tatsächlich ermöglichen könnte. ({18}) - Ja, Herr Röttgen, nur ein Hauch Naturschutz: Ihre Position kenne ich aus der Kommission. ({19}) Ihre hier vorgesehene Abweichungsgesetzgebung ist ein Fehler. Sie wird am Ende nicht die Probleme lösen, die bisher im Zusammenhang mit der Erforderlichkeitsklausel auftraten. ({20}) Wir wollen ein Umweltgesetzbuch, das im Kern gut für die Umwelt und gut für die mittelständische Wirtschaft in dieser Republik ist. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn ein Mittelständler mit einem Antrag ein Genehmigungsverfahren bewältigen könnte. Er hat nämlich nicht die Möglichkeit, drei Juristen einzustellen, um die Gesetzessammlungen von 16 Bundesländern durchschauen zu lassen. ({21}) Herr Struck, ich habe mit einer gewissen Genugtuung wahrgenommen, dass Sie auch auf die Themen Heimrecht und Strafvollzug eingegangen sind. Wir werden mit Ihnen und der SPD-Fraktion da eine intensive Diskussion führen. Ich will Ihnen sagen, warum: Ich meine, dass das Heimrecht nicht nur mit Blick auf die Kinder, sondern gerade mit Blick auf die älteren Menschen - wir alle kennen das Thema des demografischen Wandels einer der Kernpunkte ist, um die wir uns kümmern müssen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass man in dieser Republik in Würde altern und ein entsprechendes Leben führen kann. Deshalb dürfen wir nicht dazu beitragen, dass ältere Menschen in Heimen nur noch gewaschen und gefüttert werden. Wir dürfen nicht dazu beitragen, dass es im wahrsten Sinne des Wortes einen Personaldumpingschlüssel gibt. ({22}) Ich freue mich darüber, dass auch die SPD-Fraktion an dieser Stelle einen Blick auf den Strafvollzug wirft. Ich weiß, warum dieses Thema aufgenommen worden ist. Ich sage Ihnen aber: Im Interesse unser aller Sicherheit in der Bevölkerung ist es wichtig, dass im Strafvollzug nicht gespart wird, sondern dass Resozialisierung stattfindet. ({23}) In diesem Sinne haben wir noch grundsätzliche Beratungen vor uns, damit dies eine Reform wird, die verdient, dass man über sie sagen kann: Das ist ein Meisterstück, das die Probleme des Landes löst. ({24})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Peter Ramsauer, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Ramsauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001772, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Künast, Sie haben gegen Ende Ihrer Rede gesagt: Das ist doch nicht die Zukunft unseres Landes. Ich sage Ihnen dagegen: Mit der Einstellung, die Sie soeben in Ihrer Rede verbreitet haben, sind Sie, Ihre Partei und Ihre Fraktion garantiert nicht die Zukunft unseres Landes. ({0}) Wir sind uns - darüber bin ich froh - im Grunde genommen alle über die Fraktionsgrenzen hinweg darin einig, dass es so wie bisher nicht weitergeht und dass wir - ich bin meinem Kollegen Peter Struck außerordentlich dankbar, dass er dies am Ende seiner Rede noch einmal betont hat ({1}) diese Reform zu einem guten Ende bringen wollen. Deshalb bin ich mir ganz sicher, dass diese Reform des Föderalismus ein Zeichen der Zuversicht für unser Land ist. Die Probleme sind uns seit langem bekannt. Deswegen wissen wir alle, dass es so nicht weitergeht. In den letzten Jahren wurde viel darüber geredet und geschrieben: über die schrittweisen Zuständigkeitsverluste der Länder, über die Verflechtung aller Ebenen, über verwischte Verantwortlichkeiten und über die Blockademacht des Bundesrates. Neu ist: Die große Koalition redet nicht nur, sondern sie handelt auch. ({2}) Deutschland ist nicht mehr Stillstandort. Wir haben das innerhalb der ersten 100 Tage dieser großen Koalition bewiesen. Wir haben bewiesen, dass wir handlungsfähig sind; es wird entschieden, es geht vorwärts und es gibt Zuversicht in unserem Lande. ({3}) Ich schließe mich dem Dank, den der Kollege Peter Struck gerade ausgesprochen hat, für meine Fraktion und für meine Partei ausdrücklich an: dem Dank an die beiden Pioniere der Föderalismusreform in den letzten Jahren, ({4}) nämlich Edmund Stoiber und Franz Müntefering. ({5}) Sie haben an der Spitze der Föderalismuskommission großartige Vorarbeit geleistet. Das verdient Respekt und Dank. ({6}) Ich schließe auch alle anderen in diesen Dank ein: Graf Lambsdorff, wie hier zugerufen wurde, und diejenigen, die viel früher aktiv waren. Gerade deshalb stehen die Liberalen in der Verpflichtung, zielstrebig daran mitzuwirken, dass wir Erfolg haben. ({7}) - Kollege Westerwelle, Sie sprechen nach mir und können dies bestätigen. ({8}) Bundestag und Bundesrat beginnen heute parallel mit den parlamentarischen Beratungen dieser umfassenden Reform des Grundgesetzes. Wie meine beiden Kollegen Volker Kauder und Peter Struck sehe auch ich die Beratung der Vorlagen von zwei Leitgedanken geprägt. Der erste Leitgedanke. Wir Abgeordneten nehmen unsere parlamentarische Verantwortung wahr. Die Änderung des Grundgesetzes, ihre Begründung und die begleitenden Gesetze werden gründlich geprüft. Um die Vorwürfe der Opposition nochmals aufzunehmen: Sie tun so, als befänden wir uns hier in einem Ratifizierungsverfahren. Davon kann aber überhaupt nicht die Rede sein. In einem Ratifizierungsverfahren kann nichts geändert werden; dafür gibt es Beispiele. Wir befinden uns hier aber in einem geordneten Gesetzgebungsverfahren. ({9}) Wenn da und dort Feinschliff erforderlich ist - so hat es der Kollege Volker Kauder mit anderen Worten gesagt -, dann handeln wir entsprechend und machen aus diesem Diamanten sozusagen einen großartigen politischen Brillanten. ({10}) Der zweite Leitgedanke. Die Mehrheiten im Bundestag und im Bundesrat setzen auf Kooperation statt wie bisher auf Konfrontation. Das ist etwas, was unsere Wählerinnen und Wähler nach den vielen Jahren des ständigen Gegeneinanders erwarten. Wir unterstreichen dies mit gemeinsamen Sitzungen: Heute gibt es parallele Sitzungen im Bundesrat und im Bundestag - es findet die erste Lesung statt - und die federführenden Ausschüsse der beiden Häuser tagen gemeinsam. Die große Koalition will eine gute Zusammenarbeit mit den Ländern. Das stimmt optimistisch; denn Bund und Länder müssen gemeinsam anpacken, um Deutschland wieder nach vorne zu bringen. Ich bin sicher, das Reformwerk wird überzeugen. In den Debatten werden seine Stärken hervorgehoben und Fehldeutungen korrigiert werden. ({11}) Die schlimmste Fehldeutung ist, dass der jeweils andere der Verlierer sein müsse, wenn Bund bzw. Länder etwas gewännen. Das ist falsch. Ich sehe das anders. Wenn Verflechtungen aufgelöst werden, dann gewinnen doch beide Ebenen neue Gestaltungsfreiheit. Ausufernde Zustimmungserfordernisse im Bundesrat verwischen doch Verantwortung und sie verzögern Entscheidungen. Die Zahl derjenigen Gesetze wird deshalb reduziert, denen der Bundesrat zustimmen muss. Auf dem Feld der bisherigen Rahmengesetzgebung gewinnt der Bund neue Kompetenzen hinzu. In 22 Gegenständen der konkurrierenden Gesetzgebung entfällt die bisherige verfassungsgerichtliche Prüfung, ob eine bundeseinheitliche Regelung erforderlich ist. Das schafft Rechtsklarheit. Im Gegenzug - darin liegt natürlich auch eine gewisse Ausgewogenheit - wachsen die Kompetenzen der Länder. Vom Presserecht bis zum Ladenschluss kommen neue Kompetenzen hinzu. Schule, Kultur und Rundfunk werden als Sache der Länder bestätigt. Ich will auch hervorheben: Die Föderalismusreform macht endlich Ernst mit dem Grundsatz - er ist für die Kommunen von großer Bedeutung -: Wer anschafft, der bezahlt. Dieser Grundsatz ist gerade für meine Partei sehr wichtig, da sie in den Kommunen tief verwurzelt ist. Der Bund darf Aufgaben künftig nicht mehr direkt auf die Gemeinden, die Städte oder die Landkreise übertragen. Von den bisher getroffenen Behördenregelungen können die Länder nach Abschluss der Reform abweichen. Das ist ein echter Autonomiegewinn für die Länder. Die Länder - ich betone: die Länder - regeln damit künftig das Verhältnis zu den Kommunen. Damit schützt das so genannte Konnexitätsprinzip in den Landesverfassungen die Kommunen künftig auch im Bereich der Bundesgesetze. Deutschland braucht starke Länder. Deutschland braucht starke Kommunen. Vielfalt belebt. Wettbewerb setzt Anreize, nach besseren Lösungen zu suchen. Noch einmal: Beide, das Parlament im Bund und die Parlamente in den Ländern, die Landtage, sind die Gewinner dieser großartigen Reform. Der gesetzgeberische Spielraum der Landesparlamente wächst. Wir Abgeordneten im Deutschen Bundestag sind künftig freier in der Gestaltung unserer Gesetzesbeschlüsse. Ich stimme Volker Kauder zu, der gesagt hat, dass man die Gesetze manchmal nicht mehr erkannt habe, als sie zerrupft aus dem Vermittlungsausschuss zurückgekommen seien. Vielleicht wurden sie auch manchmal verbessert, wenn wir in den letzten sieben Jahren am anderen Ende gezogen haben. ({12}) Es gewinnt derjenige, auf den es in unserem Land letztlich ankommt und dem wir unsere politische Macht und unser politisches Mandat verdanken: Letztlich gewinnen die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Auf Folgendes kommt es an: Erstens. Entscheidungen können schneller getroffen werden. Zweitens. Politische Verantwortung wird klarer. Drittens. Wichtige Kompetenzen rücken näher an die Bürger heran. ({13}) Die Entflechtung der Ebenen lässt die Wahlentscheidung künftig wieder klarer als eindeutige Entscheidung für die eine oder die andere Richtung in der Politik hervortreten. Es gibt kein Herumstochern mehr in einem Einheitsbrei, sondern klare Richtungen und klare Kompetenzzuweisungen. Klare Verantwortlichkeiten stärken das Vertrauen in unseren demokratischen Staat. ({14}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben mit dieser Reform eine ganz großartige Chance in der Hand. Lassen Sie uns diese Chance für unser Land gemeinsam nutzen! ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem stellvertretenden Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Andreas Pinkwart. ({0}) Dr. Andreas Pinkwart, Minister ({1}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bundestag und Bundesrat gehen mit diesem Reformvorhaben einen ersten Schritt in die richtige Richtung. Es ist ein Stück weit ein erster Schritt, um mit dem bisherigen System organisierter Unverantwortlichkeit in unserem demokratischen Gemeinwesen Schluss zu machen. ({2}) Das gilt auch mit Blick auf die gemeinsame Herausforderung, die deutsche Wissenschafts- und Hochschullandschaft wieder an die internationale Spitze heranzuführen. Wir müssen die Hochschulen und Forschungseinrichtungen in unserem Land befähigen, sich im immer härteren internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe, die größten Etats und um exzellente Ergebnisse besser zu behaupten. Sie brauchen dafür im Kern zwei Dinge: erstens, die Freiheit, sich im Wettbewerb strategisch zu entwickeln und zu positionieren, und, zweitens, eine verlässliche und auskömmliche Finanzierung. ({3}) Mehr Freiheit und Verantwortung sollen die Länder im Bereich von Wissenschaft und Forschung bekommen. Das ist ein viel diskutierter und wesentlicher Bestandteil des heutigen Reformvorhabens. Die Länder nehmen diese neue Herausforderung an. Sie sind nach unserer festen Überzeugung gut beraten, die neuen Handlungsspielräume in Form von echter Freiheit und Autonomie an ihre Hochschulen weiterzugeben. ({4}) Wir jedenfalls tun das. Frau Künast, Sie haben eben die Autonomie der Schulen eingefordert. Ich würde mich freuen, wenn Ihre Partei zum Beispiel in meinem Bundesland auch die Autonomie der Hochschulen so nachdrücklich unterstützen würde, wie Sie dies eben hier im Bundestag im Hinblick auf die Schulen gefordert haben. ({5}) Niemand muss Angst vor Kleinstaaterei haben. Ein gesunder Wettbewerbsföderalismus darf nicht mit kleinkarierter Kleinstaaterei gleichgesetzt werden. Es ist ein Irrglaube, dass Probleme umso besser gelöst werden, je zentralistischer die Zuständigkeiten angesiedelt sind. ({6}) Das gilt mit Blick auf die letzte Legislaturperiode auch für die Wissenschaftspolitik. Einheitslösungen wie etwa ein bundesweites Verbot von Studiengebühren - es Dr. Andreas Pinkwart, Minister ({7}) ist beim Versuch geblieben; das ist nur ein Beispiel - haben Deutschland in Europa nicht wettbewerbsfähiger gemacht. ({8}) Freiheit ist aber nur eine Seite der Medaille. Hinreichende Finanzierung, Herr Tauss, ist die andere. Auch wegen unzureichender und durch die Vorgängerregierung abgesenkter Bundesmittel besteht im Hochschulbereich ein enormer Sanierungsstau. ({9}) Hinzu kommen steigende Studierendenzahlen, die wir nicht als Belastung, sondern als Chance für unser Land begreifen sollten. Eine besondere Bedeutung kommt deshalb dem Hochschulbau zu. Dafür ist dreierlei notwendig: Erstens. Wir setzen uns für eine Garantie für eine dauerhafte Zweckbindung der Bundesmittel in den jeweiligen Ländern ein. ({10}) Zweitens. Wir - darum bitte ich das ganze Haus sehr herzlich - müssen im laufenden Gesetzgebungsverfahren darüber diskutieren, ob die bis 2013 vom Bund zur Finanzierung vorgesehenen Baumittel mit Blick auf die steigenden Studierendenzahlen tatsächlich sachgerecht sind. Drittens. Wir sollten noch einmal darüber nachdenken, ob die jetzt vorgesehene Verteilung der Mittel an die Länder sachgerecht ist; ({11}) denn es kann nicht sein, dass die Länder, in denen 50 Prozent der Studierenden in Deutschland eingeschrieben sind, in Zukunft nur 30 Prozent der Bundesmittel erhalten sollen. Diese Regelung sollte man, wenn man den Hochschulen wirklich helfen will, noch einmal überdenken. ({12}) Auf einem anderen Feld, bei der Forschungsförderung und der Finanzierung von Forschungsbauten und Großgeräten von überregionaler Bedeutung, steht der Bund weiter in der Pflicht. Frau Ministerin Schavan hat angekündigt, dass sie die gemeinsamen Aufgaben in einem kollegialen Verhältnis zu den Ländern angehen will. Sie hat den Ländern vorgeschlagen, einen Hochschulpakt 2020 zu schließen, der klären soll, wie Bund und Länder auch künftig gemeinsam Verantwortung tragen können. Die Gespräche dazu haben begonnen. Wir begrüßen dieses Vorgehen. Es ist ein richtiges Signal, wenn wir den Hochschulen einerseits mehr Freiheit geben, sie aber andererseits nicht im Stich lassen, wenn es darum geht, Qualitätssicherung im Studium und bei der Forschung sicherzustellen. ({13}) Lassen Sie mich einen letzten Gedanken formulieren. Eingangs habe ich von einem ersten Schritt in die richtige Richtung gesprochen. Die andere Seite der Medaille der Neuordnung der Aufgaben ist, wenn man die Grundsystematik richtig versteht, die Neuordnung der Finanzbeziehungen. Deswegen begrüßt das Land NordrheinWestfalen ausdrücklich, dass vorgesehen ist, dem ersten Schritt einen zweiten folgen zu lassen. Wir begrüßen es außerordentlich, dass dies jetzt verbindlich und konkret angegangen wird. Nur so kann die Bundesrepublik Deutschland auch an dieser Stelle aus der organisierten Unverantwortlichkeit herausfinden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Fritz Rudolf Körper, SPD-Fraktion. ({0})

Fritz Rudolf Körper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will meinen Ausführungen ein Zitat von Johannes Rau voranstellen. Johannes Rau sagte einmal: Die Demokratie lebt davon, dass für die Bürger klar ist, wem sie auf Zeit welche Verantwortung übertragen haben und wer ihnen nach der Frist Rechenschaft schuldet. Ich denke, dass wir diese Mahnung ganz besonders ernst nehmen sollten, wenn wir über das Thema Föderalismusreform sprechen. ({0}) Bei diesem Reformvorhaben können wir auf Vorarbeiten der Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung zurückgreifen. Diese hatte eine schöne Abkürzung, nämlich KoMbO. Tatsächlich glaube ich, dass es bei diesen Fragen eher wie in einer Bigband zugeht. Denn bei so vielen Beteiligten ist es in der Tat nicht überraschend, dass es hier und da zu Misstönen und Missstimmungen kommt. Diese müssen ausgeräumt werden. ({1}) Deswegen ist die Kritik an unserem jetzt geplanten Anhörungsverfahren unter der Federführung des Rechtsausschusses völlig unangebracht. Diese Anhörung wird so strukturiert und organisiert, dass alle Expertenmeinungen und alle Fachpolitiken einbezogen werden, und steht unter dem Motto: Es ist allemal besser, miteinander zu reden als übereinander; denn nur das bringt gute Ergebnisse. ({2}) Ich appelliere an Sie, diese Beratungen nicht in Konfrontation, sondern im Geiste der Kooperation zwischen der Bundesebene auf der einen Seite und der LänderFritz Rudolf Körper ebene auf der anderen Seite anzugehen. Wenn wir nicht verinnerlichen, dass wir Kooperation brauchen, werden wir scheitern. Das wollen wir nicht und das können wir uns nicht leisten. ({3}) Was bedeutet eigentlich Föderalismusreform? Ich habe festgestellt, dass das von den Menschen im Land häufig nicht richtig nachvollzogen werden kann. Bei der Föderalismusreform geht es darum, dass wir Klarheit und mehr Transparenz im Verhältnis zwischen Bund und Ländern schaffen, und um eine stärkere Kompetenztrennung und -abgrenzung. Dass der eine oder andere Streitpunkt darüber entsteht, hängt mit der unterschiedlichen Interessenvertretung zusammen. Im Moment ist die Situation so, dass 16 Materien auf die Länder übertragen werden. Das betrifft beispielsweise den umstrittenen Hochschulbereich, das Versammlungsrecht, das aus meiner Sicht überhaupt nicht umstritten ist, und das öffentliche Dienstrecht. Auf der anderen Seite werden dem Bund Bereiche übertragen - ob man sich als Bundespolitiker darüber besonders freuen kann, mag dahingestellt sein -, wie zum Beispiel das Waffenrecht und das Atomrecht. Und es kommt - was ganz erstaunlich ist - zu einer Kompetenzerweiterung des Bundeskriminalamtes im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Ich bin sehr froh, dass die Länderebene dem zugestimmt hat. Denn das ist eine Maßnahme, die der Herausforderung, gegen den internationalen Terrorismus effektiv und effizient vorzugehen, gerecht wird. ({4}) Ich komme zur Zustimmung des Bundesrates zu Bundesgesetzen. Es ist ein wichtiges Ziel - und ich hoffe, dass wir uns darin einig sind -, die Zustimmungsquote erheblich zu reduzieren. ({5}) Wenn wir die Zustimmungsquote des Bundesrates um mehr als die Hälfte reduzieren könnten, wäre das hervorragend. ({6}) Dass auch die klare Zuordnung der Finanzverantwortung zwischen Bund und Ländern klar geregelt werden muss, versteht sich von selbst. ({7}) Ich will einen weiteren Punkt ansprechen: Wenn es um Lösungen so genannter großer Probleme in unserem Land geht, dann muss man bedenken, dass sich die Erwartungen der Menschen in unserem Land zuerst an die Bundespolitik richten. Das ist die Gefühlslage. Das ist die Erwartungshaltung. Mehr Arbeitsplätze, sichere Renten oder eine moderne Familienpolitik erhofft man sich zuerst aus Berlin und nicht aus der jeweiligen Landeshauptstadt. ({8}) Das kann man zwar bestreiten, aber ich glaube, die Erwartungshaltung ist so richtig beschrieben. Das ist mit Sicherheit eine Folge der Globalisierung in vielen Lebensbereichen. Diese Erwartungshaltung entspricht aber auch unserem Grundgesetz, das dem Bund eine maßgebliche Gesetzgebungskompetenz zuweist. Allerdings steckt der Bund in einem ähnlichen Dilemma wie der Riese Gulliver: Gefesselt sind seine Kräfte wirkungslos. Die Fessel ist hier und heute das Vetorecht des Bundesrates. Die Reform der bundesstaatlichen Ordnung muss ein klares Ziel verfolgen, nämlich die Zahl der Bundesgesetze, denen der Bundesrat zustimmen muss, deutlich zu reduzieren. ({9}) Ein wichtiger und richtiger Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel ist die Änderung des Art. 84 des Grundgesetzes. Bislang muss sich der Bund entscheiden: Macht er den Ländern Vorgaben für den Vollzug seiner Gesetze, entsteht Zustimmungspflicht. Nur dann, wenn er sich jeder Verfahrensregelung enthält - wir haben in der vergangenen Zeit gesehen, wie man das macht -, kann er ohne den Bundesrat handeln. Dieses Alles-oder-nichtsPrinzip wollen und müssen wir ändern. Abweichungsrecht statt Zustimmungspflicht lautet im Grunde genommen die neue Formel, die hier erfunden worden ist. Künftig soll der Bund den Vollzug seiner Gesetze auch ohne die Zustimmung des Bundesrates regeln können. Allerdings dürfen die Länder von diesen Vorgaben abweichen. Dazu sage ich mit Blick auf die Praxis: Ich bin zuversichtlich, dass auf Bundesebene so gute Gesetze gemacht werden, dass die Länder nur in seltenen Fällen von der Möglichkeit der Abweichungsregelungen Gebrauch machen werden. Davon bin ich überzeugt. ({10}) Allerdings muss der Bund auch den Mut haben, auf die Qualität seiner Regelungen zu vertrauen. Die Möglichkeit, eine Länderabweichung mit Zustimmung des Bundesrates auszuschließen, ist als Ausnahmefall konzipiert. Sie sollte, wenn ich das richtig verstanden habe, nicht zur Regel werden. Wir müssen an einer anderen Stelle aber sehr aufpassen, damit wir unser Anliegen nicht zunichte machen, beispielsweise bei Art. 104 a des Grundgesetzes. Künftig soll der Bundesrat ein Vetorecht bei allen Gesetzen haben, die die Länder zu Geld- oder geldwerten Sachleistungen verpflichten. Das ist eine bedeutsame Ausweitung der gegenwärtigen Regelung, die mir ganz persönlich fast zu weitgehend erscheint. ({11}) Die Länder sollen mitreden, wenn ihnen erhebliche Kosten zu entstehen drohen. Einverstanden. Braucht der Bundesrat aber wirklich ein Vetorecht, wenn 99,9 Prozent einer Geldleistung vom Bund übernommen werden? ({12}) Wir sollten Obacht geben, dass wir hier keine neuen Seile auslegen, mit denen der Bund gefesselt werden kann. ({13}) Ich habe den Eindruck gewonnen, dass bei manch einem noch Unklarheit darüber besteht, welche Konsequenzen praktischer Art sich aus der Föderalismusreform ergeben. Auf Länderseite gibt es zu manchen Punkten ganz unterschiedliche Reaktionen und Kommentierungen. Was die einen freudig herbeisehnen, wird von anderen mit gewisser Sorge betrachtet. Ich nehme auf die Richter- und Beamtenbesoldung Bezug. Das Grundgesetz kennt keinen asymmetrischen Föderalismus, bei dem einige Länder mehr Befugnisse haben als andere. Das Grundgesetz kennt nur ein Entweder-Oder, Bund oder Länder. Deshalb müssen sich alle Länder im Klaren darüber sein, ob sie mehr Verantwortung wollen und ob sie die neuen Lasten auch wirklich schultern können. Das Ergebnis unserer Arbeit darf nicht zu einem Scheinföderalismus führen ({14}) - klatscht doch später -, ({15}) der dazu führt, dass Gesetze in Düsseldorf oder München, also in den großen Bundesländern, gemacht werden und die kleinen Länder ihren Inhalt nur noch abschreiben. ({16}) Einige Länder hoffen zwar, von individuellen Regelungen anderer Länder profitieren zu können. Aber angesichts eines gesetzgeberischen Wettbewerbs, bei dem ungleiche Startbedingungen herrschen, werden mit Sicherheit nicht alle eine faire Chance haben. ({17}) Wir haben die Pflicht und die Verpflichtung, für eine sorgfältige und intensive Beratung im Deutschen Bundestag zu sorgen. ({18}) Das Föderalismuspaket ist nicht geeignet, mit verbundenen Augen und im Schweinsgalopp abgesandt zu werden. Deswegen werden wir es intensiv beraten und letztlich auch eine Reform hinbekommen. Herzlichen Dank. ({19})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Inge Höger-Neuling, Fraktion Die Linke. ({0})

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Föderalismusreform könnte zum Unwort des Jahres werden, ({0}) nicht weil die Menschen im Lande diesen Begriff nicht verstehen, ({1}) sondern weil das, was als Jahrhundertreform und als Befreiung von der Selbstblockade angekündigt wird, in Wahrheit ein Bürokratiemonster ist. Sie verhindert eine einheitliche Bildungspolitik, eine einheitliche Vorschulförderung und eine einheitliche Hochschulpolitik. Es fehlt auch eine einheitliche Antwort auf die PISA-Studie. Sie macht effektiven Naturschutz und vernünftigen Hochwasserschutz unmöglich. Wir brauchen endlich ein einheitliches Umweltrecht statt eines neuen Kompetenzwirrwarrs. Man sollte doch glauben, dass es ihr Ziel war, für Entbürokratisierung und für Verbesserungen für die Menschen zu sorgen. Herausgekommen sind allerdings massive Verschlechterungen für viele. Die Länder und Gemeinden haben sinkende Steuereinnahmen zu verzeichnen. Nun suchen nach Einsparmöglichkeiten und sehen diese erfahrungsgemäß nicht bei Wirtschaftssubventionen oder beim Straßenbau, sondern eher in den Haushalten für Soziales und für Jugend. Die Länder und Gemeinden geben dem Druck von Firmen nach, die mit Arbeitsplatzverlagerungen drohen. Die Zuständigkeit des Bundes stellte bisher häufig eine Grenze dar. In Zukunft wird es einen Wettbewerb zwischen den Ländern - den sie ja alle befürworten - um das schnellste Sozialdumping geben. Das ist der Inhalt dieser Reform. Das wird zum Beispiel die Menschen, die in Heimen leben, betreffen, also Menschen mit Behinderungen, Alte und chronisch Kranke. Das Heimrecht soll nun Ländersache werden. Einzelne Bundesländer haben bereits angekündigt, ihre Pflegestandards zu senken und den Pflegeschlüssel nach unten zu schrauben. Dabei waren es gerade die Missstände in den Heimen, die 1974 dazu geführt haben, dass das Heimrecht auf die Bundesebene übertragen wurde. Die in diesem Bereich tätigen Vereine laufen dagegen Sturm: Die Caritas, sehr geehrte Damen und Herren von der CDU/CSU, die Arbeiterwohlfahrt, liebe Genossinnen und Genossen von der SPD, die VerbraucherzentraInge Höger-Neuling len, werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, und wichtige private Träger von Pflegeheimen - das sage ich an die Liberalen gerichtet -, alle protestieren energisch gegen die Verlagerung der Zuständigkeit für das Heimrecht auf die Länder. ({2}) Worum geht es diesen Verbänden? Wenn Eltern behinderter Kinder umziehen müssen, können sie sich in Zukunft nicht mehr darauf verlassen, dass ihr Kind in einem anderen Bundesland ähnliche Bedingungen vorfindet. Angehörige pflegebedürftiger alter Menschen werden sich nicht mehr darauf verlassen können, dass an der Ostseeküste bei der Heimpflege ähnliche Qualitätsstandards gelten wie in der Rhön. ({3}) Die Menschen, die beruflich Pflege organisieren, müssen demnächst nicht nur vier Ausführungsverordnungen zum Heimgesetz kennen, sondern 4 mal 16, also 64. Die geplante Grundgesetzänderung würde also einen enormen Zuwachs an Bürokratie - ja, einen Zuwachs bedeuten. Alle gegenteiligen Behauptungen sind schlicht unwahr. ({4}) Betroffen sind auch Kinder und Jugendliche, die in sozial benachteiligten Familien aufwachsen, in Familien, die Hilfen von Jugendämtern in Anspruch nehmen müssen. Denn die geplante Grundgesetzänderung trifft auch die Jugendämter. Bisher fungieren die örtlichen und die Landesjugendämter als Berater von Familien, als Ansprechpartner für Frauen mit Unterhaltsproblemen, für missbrauchte Mädchen, für belastete Jugendliche. Demnächst werden diese Ansprechpartner kaum noch ansprechbar sein. Denn wer glaubt im Ernst, dass die armen Kommunen bzw. die Landesfinanzminister weiterhin Jugendämter vorhalten werden, die fachlich fundiert über Hilfebedarf entscheiden können? Auch dies wird der Sparwut und somit dem Sozialdumping zum Opfer fallen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden nicht nur unmittelbar von der jetzt vorgesehenen vollständigen Verlagerung der Zuständigkeit für das Dienstrecht auf die Länder betroffen sein, sondern auch mittelbar. Künftig wird es einen Kostenwettbewerb zwischen den Ländern geben. Im sozialen und im Gesundheitssektor lassen sich Kosten in der Regel aber nur durch Personalabbau sparen. Das betrifft unter anderem die Hochschulkliniken, die nun von den Ländern anerkannt, gefördert, gesteuert werden sollen. Dadurch werden sie noch stärker in den Wettbewerb mit anderen Krankenhäusern geraten. Sie werden in einen Kostenwettbewerb gedrängt, der auf dem Rücken der zurzeit streikenden Pflegekräfte ausgetragen wird. ({5}) Der Wettbewerb, der entsteht, wenn die Zulassung von Arzneimitteln Ländersache wird, wird auch die Beschäftigten in der Pharmaindustrie treffen. Die Globalplayer werden die Länder künftig noch intensiver mit dem Arbeitsplatzargument gegeneinander ausspielen nach dem Motto: Erlaubt mir die Einleitung von Chemikalien in den Rhein oder wir verlagern den Betrieb. Mit der vorgesehenen Grundgesetzänderung soll die Bundeszuständigkeit für den sozialen Wohnungsbau und das Wohngeld quasi abgeschafft werden. Das wird die Leute treffen, die auf Wohngeld oder Sozialwohnungen angewiesen sind. Sie wollen Entscheidungen zu den Menschen bringen? Die Föderalismusreform bringt den Menschen mehr Bürokratie, ein Wirrwarr von Verordnungen und einen Abbau von Sozialstandards. Statt der Lösung dringender Probleme wie Erwerbslosigkeit oder Pflegebedürftigkeit wird auf dem Rücken der Betroffenen ein Kuhhandel abgeschlossen. Als Mitglied der Fraktion Die Linke kann ich diese Grundgesetzänderungen nur ablehnen; sie sind unsozial. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin Höger, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation und alles Gute für Ihre Arbeit. ({0}) Ich erteile nun das Wort Kollegin Krista Sager, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich halte es für ein sehr gutes Signal, dass Herr Struck hier deutlich gemacht hat, dass über diese Reform noch nicht das letzte Wort gesprochen ist und dass es Veränderungen geben wird. Das will ich ausdrücklich sagen. ({0}) Ich hoffe, dass er das heute nicht bloß gesagt hat, um Kritiker in den eigenen Reihen kurzfristig zu beschwichtigen. ({1}) Wie sich andere diese Reform vorstellen, hat der Kollege Dr. Röttgen ja gestern aufgezeigt nach dem Motto: Wir können jetzt nicht auf Einzelanliegen und Einzelinteressen schauen, wir müssen den Blick doch auf das große Ganze richten. Wir können aber nicht einerseits in Sonntagsreden immer wieder erklären, dass Bildung und Wissenschaft zentral für die Zukunft dieses Landes sind, ({2}) und andererseits dann, wenn es um die Reform des Föderalismus geht, so tun, als seien das Eigeninteressen von Einzelpersonen. Das passt einfach nicht zusammen. ({3}) Dass von Bildungs- und Wissenschaftsorganisationen massive Kritik kommt, müssen wir ernst nehmen. Wir können uns falsche Weichenstellungen bei Bildung und Wissenschaft nicht leisten. Das wäre mit dem „großen Ganzen“ vollkommen unvereinbar. ({4}) Es ist ja richtig, dass es schwer ist, eine Mehrheit für eine Verfassungsänderung zusammenzubekommen. Aber gerade wenn das schwer ist, können wir uns eine falsche Weichenstellung für Bildung und Wissenschaft erst recht nicht erlauben; sie würde uns über Jahrzehnte begleiten, wir würden sie nicht wieder los. ({5}) Mit einem Kooperationsverbot für den Bund im Bereich Schulen und Hochschulen würden wir international einen absoluten Sonderweg einschlagen. Es gibt kein föderatives System, in dem das so geregelt ist. Nirgends ist es der Zentralebene verboten, für Schulen und Hochschulen Geld auszugeben. Das gibt es nicht einmal in den USA und wir sollen so etwas einführen. Das ist an Blödsinn kaum noch zu übertreffen. ({6}) Erzählen Sie den Menschen draußen im Lande doch einmal, dass dem Bund durch die Verfassung verboten werden soll, in Zukunft etwas für die Ganztagsschulen in Deutschland zu tun. Das begreift wirklich kein Mensch. ({7}) Es muss einen doch wirklich misstrauisch stimmen, dass die Ministerpräsidenten der großen Länder während der Arbeit der Föderalismuskommission so tun - auch in den letzten Tagen -, als könnten sie vor Kraft kaum noch laufen und in Zukunft alles alleine machen, während der erste Fachminister, der hier auftritt - er kommt nicht aus einem kleinen, schwachen Land -, ({8}) schon einmal den herannahenden Katzenjammer aufscheinen lässt. Das haben wir hier erlebt und das muss uns doch misstrauisch machen. ({9}) Wer den Bund bei der Bildung und der Wissenschaft vor die Tür stellt, der tut das doch nicht nur auf Kosten der schwachen Länder. Er tut das zwar ganz massiv auf Kosten der schwachen Länder, aber er tut das vor allen Dingen auch auf Kosten der jungen Menschen in diesem Lande, einem Lande, in dem der Zusammenhang zwischen Bildung und sozialer Herkunft schon heute unerträglich ist. ({10}) Das würde dadurch noch schlimmer gemacht, was wir nicht akzeptieren können. ({11}) Herr Burgbacher, Sie können es mir abnehmen - das haben Sie auch erlebt -: Es geht nicht darum, den Ländern die Schulkompetenz streitig zu machen. Das hat doch niemand getan. Wir müssen aber doch auch sehen, dass es in anderen Ländern mehr Freiheit der Bildungseinrichtungen, mehr Wettbewerb um Qualität und mehr Autonomie bei einem gemeinsamen Rahmen gibt. Diese sind dabei besser gefahren als wir; denn sie haben bei der PISA-Studie die besseren Ergebnisse erzielt. Das müsste uns doch ein bisschen zum Nachdenken bringen. ({12}) Von vielen Zielen, die Sie in Ihrem Koalitionsvertrag selbst formuliert haben - Sie wollen etwas für junge Leute ohne Schulabschluss tun und die Studierendenquote erhöhen -, hat sich die Bildungsministerin im Grunde doch schon längst verabschiedet. Dort wird sie im Bund keine Rolle mehr spielen. Sie ist nur noch eine Ministerin der warmen Worte für diese jungen Leute. Nach dieser Reform wird sie dort nichts mehr tun können. Deswegen darf diese Reform so nicht kommen. ({13}) Wir als Grüne wollen eine Föderalismusreform. Wir haben aber an den richtigen Stellen Nein gesagt, nämlich bei Bildung, Umwelt und Strafvollzug. Dass der Gesetzentwurf jetzt unverändert vorgelegt wird, zeigt doch, wie schlecht es für dieses Land ist, wenn der Einfluss der Grünen zurückgeht. ({14}) Ich hoffe, dass gerade auch die Kollegen in der SPD das, worüber wir uns im Dezember 2004 einig waren, weiterhin ernst nehmen. Liebe Kollegen, ich sage Ihnen eines: Den Stellenwert Ihrer Partei und den Stellenwert von Gerechtigkeit und Wohlstandssicherung für alle Menschen in diesem Lande wird man am Ende auch daran messen, ob Sie sich durch die Koalitionskarte niederbügeln lassen oder ob Sie hier noch Veränderungen vornehmen. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegen Norbert Röttgen, CDU/CSUFraktion, das Wort. ({0})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am häufigsten diskutieren wir Abgeordnete, wir Politiker hier im Bundestag darüber, auf welche Veränderungen und Reformen sich die Bürger einstellen müssen. Wir sagen den Bürgern: Ihr müsst euch ändern und reformbereit sein. Diese Föderalismusreform ist eine Reform des Staates. Sie wird damit der Erwartung der Bürger gerecht - alle sagen das: Bürger, Fraktionen und Parteien -, dass sich nicht nur die Bürger ändern müssen, sondern dass sich auch der Staat verändern muss. Er muss besser werden. Das ist der Anspruch, der mit dieser Reform verbunden wird. ({0}) Der Staat muss auf einem Gebiet besser werden, das das Entscheidende, das Zentrum eines demokratischen Gemeinwesens ist, nämlich in der Gesetzgebung. Bevor wir wieder auf die Einzelheiten kommen: Was ist der Ausgangspunkt? Was ist denn jahrelang zu Recht beklagt worden? Was ist die Misere? Ich finde es nicht übertrieben, von einer Misere zu sprechen. Die Misere, die wir erleben und erleiden, ist der Verlust an Entscheidungsfähigkeit des Staates. Das ist das Problem. ({1}) Auf dieses Problem richtet sich auch der Vorwurf der Menschen. Wir reden relativ viel über Politikverdrossenheit und ich glaube, dass es dieses Phänomen gibt. Ich bin auch davon überzeugt, dass dieses Phänomen, diese Unzufriedenheit, einen zentralen Vorwurf an die Politik beinhaltet: Ihr tut nicht das, was das Wichtigste ist, das, wozu ihr da seid, nämlich Probleme zu lösen. Dafür seid ihr gewählt und das tut ihr zu wenig. - Dieser Vorwurf stimmt. Darum müssen wir etwas ändern. ({2}) Ich meine das natürlich nicht in quantitativer Hinsicht. Es werden im Bund permanent Entscheidungen getroffen und Gesetze produziert. Aber es geht um den Verlust von Problemlösungsfähigkeit. Mit diesem Vorwurf sind wir alle, die wir hier im Parlament Verantwortung tragen, konfrontiert. Für diese Unzulänglichkeit, für diese Misere - ich will das Kind beim Namen nennen gibt es viele Gründe. Aber es gibt einen ganz wichtigen Grund, und zwar die Frage, wie wir das Verhältnis zwischen Bund und Ländern organisiert haben. Es geht darum, dass wir das Zusammenwirken von Bund und Ländern, die Verantwortung beider Ebenen, in ein System der Vermischung von Verantwortung über fast alle staatlichen Aktivitäten verwandelt haben: Vermischung bei der Gesetzgebung, Vermischung bei der Finanzierung und Vermischung bei der Verwaltung des Staates. ({3}) Wir haben erlebt, dass Vermischung von Verantwortung im Ergebnis nur eines bewirkt und bedeutet, nämlich Auflösung von Verantwortung. Darum ist die Föderalismusreform eine Reform, die dort ansetzt, wo es um die Wiederherstellung der Verantwortung im Staate geht. Bevor wir auf Einzelheiten zu sprechen kommen, bevor wir über Gaststättenrecht und viele andere wichtige Themen und Einzelfacetten dieser Reform debattieren - was notwendig ist -, darf aber das Kernanliegen dieser Reform nicht untergehen. Ich will es deshalb noch einmal sagen: Der Kern dieses Reformanliegens ist die Wiederherstellung staatlicher Entscheidungsfähigkeit, die Wiederherstellung der Erkennbarkeit politischer Verantwortung. Das ist das zentrale staatspolitische Anliegen dieser Reform. Das ist der Maßstab. ({4}) Es gibt zwei Lebenselemente einer parlamentarischen Demokratie. Das eine ist Vertrauen, das andere ist Verantwortung. Wir brauchen wieder Klarheit in der Verantwortung, Klarheit in der Möglichkeit, zu entscheiden, die dann mit der Möglichkeit der Bürger korrespondiert, sich ihr eigenes Urteil darüber zu bilden, wie die Politik entschieden hat, und dieses Urteil bei Wahlen auszudrücken. Das ist der Anspruch. Für diesen Anspruch gibt es ein Leitmotiv. In der Umsetzung des Prinzips Verantwortung heißt dieses Leitmotiv: Verhinderungsmacht im Staat abbauen, Gestaltungsmacht aufbauen. ({5}) Politik darf nicht mehr verhindern wollen, sondern muss den Anspruch haben, zu gestalten. Worin drückt sich dies konkret und in den Schwerpunkten aus? Ich möchte einige der Punkte benennen. Zunächst will ich unterstreichen, was das große Ziel ist, nämlich die Zahl der zustimmungsbedürftigen Gesetze in der Bundesgesetzgebung zu vermindern. Inzwischen ist es so, dass über 60 Prozent der Gesetze, die hier im Bundestag verabschiedet werden, nicht mehr ohne die Zustimmung auch des Bundesrates in Kraft treten können. Wir und auch die Bürger können nicht wollen, dass die Mehrheit, die auf Zeit legitimiert wurde, am Ende nicht entscheiden kann. Das höhlt das Wahlrecht aus. ({6}) Wir werden mit dieser Reform die Zahl der zustimmungsbedürftigen Gesetze - das ist das Ergebnis einer Bewertung dieser Reform, bezogen auf die Gesetzgebung der letzten Legislaturperiode; das ist recherchiert worden - um ein Drittel reduzieren. Ein Drittel weniger Zustimmungsgesetze, das ist ein enormer Zugewinn für die legitime Durchsetzungskraft der gewählten Mehrheit. Was dies bedeutet, können wir als Bundestag nicht hoch genug einschätzen. Wir werden damit in Deutschland die Art, Politik zu machen, verändern. Die Politik hat dann wieder die Chance, Strukturentscheidungen zu treffen. Diese sind oft noch nicht getroffen worden. Stattdessen werden permanent Reparaturentscheidungen getroffen. ({7}) Es ist ein Unding, dass der Vermittlungsausschuss die Reparaturkammer der deutschen Politik ist. ({8}) Das darf nicht so weitergehen, weil es letztlich alle entmündigt. Es ist ein intransparentes Gremium, durch das alle Mitglieder des Bundestages entmündigt werden, weil sie dessen Ergebnisse letztlich nur noch ablehnen oder ihnen zustimmen können; sie können kein Komma mehr ändern. Wir alle als Abgeordnete werden entmündigt. Auch die Bürgerinnen und Bürger werden entmündigt, weil sie bei diesem geheim tagenden Gesetzgebungsorgan - in einem demokratischen Staat wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit Politik gemacht; das muss man sich einmal vorstellen - nicht mehr erkennen können, wer für die Politik verantwortlich ist. Wenn die Bürger die Verantwortlichkeiten nicht mehr erkennen können, dann entmündigen wir sie. Insofern bedeutet unser Vorhaben einen riesigen Fortschritt. Fortschritte gibt es auch an anderer Stelle, etwa bei der konkurrierenden Gesetzgebung. Nur noch in elf von 33 Fällen ist der Erforderlichkeitsnachweis für die Bundesgesetzgebung notwendig. Wir schaffen mit der Rahmengesetzgebung eine ganze Gesetzgebungskategorie ab. Das ist gut und richtig, ({9}) weil die Rahmengesetzgebung sozusagen als Gesetzgebungstypus auf die Vermischung von Bundes- und Landespolitik angelegt ist. Wir teilen die damit verbundenen Kompetenzen zwischen Bund und Ländern auf; einiges geht an den Bund, anderes an die Länder. Nebenbei bemerkt - die Reform ist noch nicht beschlossen; darum sollte man vorsichtig sein -: Der Bund ist der eindeutige Gewinner. Denn nach der Grundgesetzänderung 1994 und der anschließenden Rechtsprechung hat der Bund nur noch sehr geringe Gesetzgebungskompetenzen in der Rahmengesetzgebung. Wir haben auf diesem Gebiet kaum noch Kompetenzen, können also kaum etwas verlieren, gewinnen jetzt aber Kompetenzen hinzu. Wir verlieren übrigens nicht die Möglichkeit der Hochschulförderung, Frau Kollegin Sager. ({10}) - Bitte beschäftigen Sie sich mit den Sachverhalten! Das ist definitiv falsch. Der Bund wird weiter Hochschulförderprogramme durchführen. Das ist auch nötig. Wir werden in der Umweltpolitik etwas realisieren, was seit vielen Jahren gefordert wird. Es wird ein einheitliches Umweltgesetzbuch geben. ({11}) Erstmalig wird die Möglichkeit bestehen, einheitliche Standards in diesem Bereich zu schaffen. Es ist eine Legende, dass die Länder von allem abweichen können. Das ist selbstverständlich nicht der Fall. Der Bund behält ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen in diesem Bereich. Die Länder können insoweit keine abweichenden Regelungen treffen. Der Bund behält konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeiten. Auch da ist den Ländern kein Abweichen möglich. Nur in dem marginalen kleinen Bereich, in dem die Rahmengesetzgebung bisher beim Bund lag - die Gesetzgebungskompetenz war eingeschränkt; er konnte lediglich die Grundsätze bestimmen -, erhält er jetzt die volle Kompetenz. Die Länder können abweichende Regelungen treffen, aber nur in den Bereichen, die ihnen vorgegeben werden. Der Bund ist deshalb der Gewinner der Reform. Wir können wieder Politik für das ganze Land machen. ({12}) Ich will einen letzten Gesichtspunkt ansprechen. Die Reform ist ein Kompromiss - darin liegt das Wesen der Verfassungsgesetzgebung -, der im Konsens entstanden ist. Dabei gibt es fast nur Gewinner. Der Bundestag ist ein Gewinner - ich habe bereits versucht, das zu erläutern -, weil er seine durch Wahlen erhaltene Legitimation umsetzen kann. Die Landtage werden Gewinner sein, weil sie eigene Gestaltungskompetenzen erhalten. Die Ministerpräsidenten sind keine Gewinner der Reform. Der Bundesrat gibt Kompetenzen an den Bundestag und die Landtage ab. Es ist doch ein demokratischer Gewinn, wenn Zuständigkeiten von der Exekutive zur Legislative verlagert werden. Ein solches Vorhaben kann man doch nur befürworten. ({13}) Auch die Bürger sind die Gewinner, weil der Staat entscheiden kann und sie die entsprechende Politik besser beurteilen können. Alle, die das Thema unter dem Gesichtspunkt der staatspolitischen Verantwortung angehen, werden sich an den Beratungen im Gesetzungsgebungsverfahren beteiligen; aber letztlich können sie sich der praktischen Alternative nicht entziehen, die dem schlechten Status quo vorzuziehen ist. Die Grünen haben dem Vorhaben schon einmal zugestimmt. Erinnern Sie sich an die Verantwortung, die Sie damals wahrgenommen haben! ({14}) Dass die Grünen in diesem Land nichts mehr zu sagen haben, liegt daran, dass die Bürger das in Wahlen so entschieden haben. Je schwächer Ihre taktischen Argumente werden, meine Damen und Herren von den Grünen, desto weniger werden Sie in Zukunft in Deutschland zu sagen haben. ({15})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Guido Westerwelle, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will zunächst einmal eines klarstellen und dabei an das anknüpfen, was Kollege Röttgen gesagt hat: Es ist kein Anliegen einer Partei; es ist auch kein Anliegen einer großen Koalition oder einer rot-schwarzen Regierung, vielmehr muss es das Anliegen der gesamten deutschen Politik sein, dass die Effizienz unseres Staatswesens wieder besser wird. ({0}) Es handelt sich hier nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Opposition und Regierung, sondern die Auseinandersetzung geht quer durch alle Fraktionen und dreht sich um die Frage: Wie kann unser Staatswesen schneller werden? Wie kann es entflochten werden? Wie wird es weniger bürokratisch? Wie kann die Qualität unserer Entscheidungen besser werden? Wie kann der Staat besser werden? Das - und kein parteipolitisches Hin und Her - muss der Maßstab bei diesen Beratungen sein. Denn diejenigen, die im Bundestag gegeneinander aufgestellt sind, auf der einen Seite die Regierungsbank und auf der anderen Seite wir als Teil der Opposition, treffen sich ja spätestens im Bundesrat wieder. Sie wissen, dass Sie eine Föderalismusreform nicht durchsetzen können, ohne dass die von der FDP mit regierten Bundesländer zustimmen, weil ansonsten keine verfassungsändernde Mehrheit möglich ist. Deswegen will ich vorab ausdrücklich würdigen: Es hat zu allen Zeiten, vor allen Dingen in der Zeit der Regierungsbildung, immer wieder Abstimmungsgespräche gegeben und die Bundesregierung hat sich immer wieder bemüht, jedenfalls die FDP als liberale Oppositionspartei in die Gespräche und die Beratungen mit einzubeziehen. ({1}) Nachdem ich das gesagt habe, will ich aber auch das Folgende anführen: Es ist natürlich notwendig, dass wir, nachdem wir hier miteinander demokratisch gut und fair umgegangen sind, das auch in Zukunft tun. Das, was Sie gestern veranstaltet haben, nämlich die normalen parlamentarischen Beratungen faktisch zu beenden, steht in großem Widerspruch zu dem, was heute Vormittag hier von Herrn Kauder und von Herrn Struck gesagt worden ist. Das muss man an dieser Stelle ganz klar betonen. ({2}) Das Problem dabei ist: Für die Sache, um die es geht, leisten Sie einen Bärendienst, wenn Sie eine gute, demokratisch faire Beratung in diesem Haus unterdrücken. Sie wollen eine Massenanhörung durchführen und die Fachausschüsse ausschalten. ({3}) Damit bewirken Sie in Wahrheit nur eines: ({4}) Sie wiegeln diejenigen, die eigentlich gutwillig sind, auf, dagegen zu sein. Wir sind konstruktiv; wir wollen mitwirken. Wir kennen unsere Verantwortung: Es geht um Deutschland als Ganzes, aber es geht auch darum, dass auch Abgeordnete der Opposition ihre Anliegen vortragen können und nicht nur dann, wenn aus Ihren eigenen Reihen entsprechende Anregungen kommen. ({5}) Nun sagt Herr Kollege Stoiber, das sei die „Mutter aller Reformen“; Frau Bundeskanzlerin Merkel sagt, so etwas könne nur eine große Koalition zustande bringen. Warten wir einmal ab, was daraus wird! Wir haben die Reden heute ja gehört. Herr Kollege Struck hat beispielsweise wörtlich gesagt: Das Ergebnis ist offen. Das ist ja bemerkenswert. Wenn das Ergebnis so offen ist, dann verstehe ich nicht, warum Sie uns die ganze Zeit mit der Bemerkung unter Druck setzen wollen, das Paket sei geschnürt, daran dürfe jetzt auch nicht mehr gerüttelt werden. ({6}) Entweder ist das Paket geschnürt, Herr Kollege Kauder, oder, Herr Kollege Struck, das Ergebnis ist offen. ({7}) Wir werden schon miteinander darüber reden müssen. Jetzt will ich zur Sache selbst kommen. Es ist auch notwendig, dass man dazu einige Bemerkungen macht. Gewinner einer Föderalismusreform ist doch nicht der Bundestag, ist doch nicht die Bundesregierung, ist doch nicht eine Landesregierung und ist auch nicht ein Landtag; Gewinner einer Föderalismusreform sind die Bürgerinnen und Bürger. ({8}) Das ist der einzige Maßstab, den wir in dieser Debatte anlegen sollten. ({9}) Es geht nicht darum, ob wir oder andere mehr Rechte haben werden; es geht darum, ob die Deutschen etwas von dieser Reform haben. Der Zustand unserer Verfassung heute ergibt sich teilweise aus dem, was von der großen Koalition Mitte der 60er-Jahre fehlerhaft gemacht wurde; das wollen wir dabei kurz festhalten. ({10}) Es ist richtig, dass die heutige große Koalition das wieder in Ordnung bringt, was die andere große Koalition damals „versaubeutelt“ hat. Das kann man hier auch offen ansprechen. ({11}) - Da ist wohl was dran. Sie stimmen dem ja zu; Sie wissen das als Jurist ja auch. Das Entscheidende ist aber: Derzeit haben wir eine völlig verquere Verantwortungslage der Politik. Nur wenn die Bürger sehen können, dass ihnen diese oder jene Maßnahme von einer Landesregierung oder von der Bundesregierung eingebrockt worden ist, können sie die Regierenden wirklich zur Verantwortung ziehen. Deswegen liegt die Trennung der verschiedenen Ebenen zuallererst im Interesse der Bürger. ({12}) Das zählt für die Freien Demokraten. ({13}) Da meine Redezeit in Kürze zu Ende ist, möchte ich noch Folgendes sagen: Wir legen Wert darauf, dass das eingehalten wird, was in dem Gespräch, das in Ihrem Haus stattgefunden hat, Frau Bundeskanzlerin, zwischen Ihnen und Herrn Müntefering vereinbart worden ist. Darauf hat auch Herr Professor Pinkwart als stellvertretender Ministerpräsident hingewiesen. Das, worüber heute hier diskutiert wird, ist ein kleiner Schritt. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, soweit es um die Entflechtung der Staatsverantwortungen geht. Es muss aber wie vereinbart auch der zweite Schritt gemacht werden. Sie haben zugesagt, dass auch die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern neu geordnet werden. Wir verlangen, dass Sie Ihr Wort halten. Nur dann können Sie erwarten, dass auch wir, die Opposition, konstruktiv mitwirken. Das muss an dieser Stelle klar gesagt werden. ({14}) Die Qualität hängt - auch in der Bildungspolitik weniger davon ab, welche staatliche Ebene zuständig ist. ({15}) Sie hängt vielmehr in erster Linie davon ab, welche Politik tatsächlich gemacht wird. Deswegen richtet sich unser Maßstab nicht nach der Frage, welche politische Ebene zuständig ist, sondern danach, dass die Bildungseinrichtungen wieder mehr Autonomie haben. Die Zuständigkeit des Bundes garantiert noch lange nicht, dass die Qualität zunimmt, ebenso wenig die KMK, die sich bislang nicht als Qualitätsgarant erwiesen hat. Entscheidend ist, dass wir Wettbewerb bekommen. Wer den Wettbewerb fürchtet, der fürchtet in Wahrheit die Qualität. Das ist in meinen Augen falsch. ({16})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Klaus Uwe Benneter, SPDFraktion. ({0})

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Herr Westerwelle hat Recht: Es kommt in erster Linie darauf an, welche Politik gemacht wird, nicht darauf, wer in welchen Verästelungen dafür zuständig ist. Aber wir müssen feststellen, dass es dem Bürger heute nicht mehr ohne weiteres möglich ist, zu erkennen, wer Verantwortung für welchen Bereich und für welche Ergebnisse trägt. Der Kollege Röttgen hat gerade sehr eingehend dargestellt, wie in Geheimdiplomatie und eigentlich entgegen allen Grundsätzen einer parlamentarischen Demokratie Ergebnisse im Vermittlungsausschuss erzielt werden, die von uns allen hinzunehmen sind, ob wir wollen oder nicht. Das ist die gegenwärtige Situation. Insofern sind wir uns alle darüber einig: Deutschland braucht neue Verfassungsbestimmungen. In allen Diskussionen, die - seit Ende 2003 konzentriert - über das Thema Föderalismusreform in Deutschland geführt wurden, habe ich niemanden gehört, der dies infrage stellt. Jeder betont zwar, dass das Grundgesetz die beste Verfassung ist, die wir jemals in der deutschen Geschichte hatten. Jeder sagt aber auch, dass nach bald 60 Jahren eine Reform des Zusammenspiels zwischen Bund und Ländern dringend notwendig geworden ist. Nun haben die Koalitionsfraktionen einen detaillierten Gesetzentwurf eingebracht, den auch die Ministerpräsidenten im Bundesrat auf den weiteren parlamentarischen Weg gebracht haben. Aber nach Ansicht vieler Kritiker bringt dieser Gesetzentwurf weder das, was Deutschland bräuchte, noch das, was die Deutschen wollten. Diesen Kritikern kann ich nur entgegenhalten: Wir haben bei diesem Reformwerk kein leeres Blatt vor uns. Wir stehen nicht auf der grünen Wiese, auf der wir von neuem anfangen könnten. Wir haben eng beschriebene Seiten, was die bundesstaatliche Ordnung angeht, und können diese nicht, selbst wenn wir das wollten, mit einem Federstrich wegwischen. Wenn die PDS postuliert, man könne dies einfach wegwischen und neu anfangen, dann habe ich dafür noch halbwegs Verständnis; aber wenn Sie, Frau Sager, und die Grünen sich auf diesen Standpunkt stellen, dann fehlt mir dafür das Verständnis. Hans Eichel, als ehemaliger hessischer Ministerpräsident und ehemaliger Bundesminister ein ganz profunder Kenner der Materie, um die es hier geht, hat als angeblichen Geburtsfehler dieser Reform ausgemacht, dass am Anfang nicht die Frage stand, was Deutschland und die Menschen im 21. Jahrhundert brauchen, sondern die Frage: Was gibst du mir, wenn ich dir etwas abgebe? Das war, wenn man so will, die Frage am Anfang. Ich teile die Einschätzung von Hans Eichel, aber ich muss diese Erkenntnis als blutleer und blass bezeichnen; denn wer Deutschlands Verfassung heute handhabbarer und damit zukunftsfähiger machen will, der muss von dem ausgehen, was sich mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenspiel von Bund und Ländern entwickelt hat. Es reicht nicht, immer nur Erwartungen zu benennen und Befürchtungen zu äußern. Das wird uns nicht zu Lösungen bringen. Wer gestalten will, darf sich keine Scheuklappen anlegen und darf sich nicht nur an dem Wünschbaren orientieren. Wer gestalten will, muss alle mitwirkenden und einwirkenden Kräfte einbeziehen, auch wenn sie sich heute hier nicht sehen lassen. Wer gestalten will, der muss auch berücksichtigen, was denn wäre, wenn alles beim Alten bliebe. ({0}) Was würde denn passieren, wenn man nichts ändern würde? Sie haben von falschen Weichenstellungen gesprochen. Am Beispiel des Hochschulrahmenrechts hat das Bundesverfassungsgericht klar entschieden, dass der Bundestag überhaupt nur noch dann ein Gesetz beschließen darf, wenn durch unterschiedliches Recht in den Ländern eine Gefahrenlage entsteht und sich die Lebensverhältnisse zwischen den Ländern in einer unerträglichen Weise auseinander entwickeln. Das ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dazu. Die Beweislast, ob es zu einer unerträglichen Auseinanderentwicklung kommt und Gefahrenlagen geschaffen werden, trägt der Bundestag. Das betrifft den gesamten Katalog der konkurrierenden Gesetzgebung in Art. 74 des Grundgesetzes und alles, was zur Rahmengesetzgebung in Art. 75 steht. Das betrifft den Kündigungsschutz genauso wie den Naturschutz. Das ist der gesamte Katalog. - Herr Ramelow, Sie unterhalten sich gerade. ({1}) Sie befürchten die Atomisierung des Arbeitsrechts. Die müssen Sie dann befürchten, wenn Sie alles so weiter laufen lassen wie bisher. Das, was ich gerade gesagt habe, betrifft nämlich auch das ganze Arbeitsrecht in der Bundesrepublik. ({2}) Nicht nur alle neuen Gesetze, auch alle Gesetze dieser Materien, die der Deutsche Bundestag seit 1994, nämlich dem Zeitpunkt der Verfassungsänderung zu Art. 72 Abs. 2, verabschiedet hat, könnten die Länder nach geltender Lage vor dem Bundesverfassungsgericht kippen. Das betrifft auch andere einheitliche Voraussetzungen, zum Beispiel den Schutz von wild lebenden Tieren und Pflanzen in Naturschutzgebieten. Das alles kann angefochten werden. Das ist bisher nicht erfolgt. Bisher wissen wir nur, dass die Länder erfolgreich gegen das Hochschulrahmengesetz des Bundes vorgegangen sind. Das betraf die Studiengebühren und die Juniorprofessuren. Das ist aber auch bei der Abfallbeseitigung, bei der Luftreinhaltung, beim Lärmschutz, beim Naturschutz und bei den Bundeswassergesetzen möglich. Dann würde von einem bundesweit geltenden Umweltschutz überhaupt nichts mehr übrig bleiben. Auch das müssen Sie den Menschen draußen einmal erklären. Das ist die heutige Rechts- und Verfassungslage! ({3}) Richtig ist, dass in Art. 31 des Grundgesetzes steht: Bundesrecht bricht Landesrecht. Aber dort, wo es kein Bundesrecht gibt - auch das muss sich jeder bewusst machen -, kann kein Landesrecht von Bundesrecht gebrochen werden. Das war ein Grund dafür, warum wir uns hier etwas Neues einfallen lassen mussten. Ein Ergebnis ist, dass der Bundestag bis zum Jahre 2009 endlich das lang ersehnte komplette Umweltgesetzbuch einschließlich einer integrierten Vorhabensgenehmigung für alle Umweltmedien bundesweit vorgeben kann. Dieser große Erfolg wurde gerade im Umweltbereich erzielt. Ich bitte darum, das einfach einmal zur Kenntnis zu nehmen. Wenn ein Landesparlament davon abweichen will, dann kann es das zwar grundsätzlich tun, muss es aber landespolitisch verantworten und umsetzen. Die EU-Umweltrichtlinien verhindern im Übrigen Ökodumping. Hinzu kommt, dass in den wichtigsten Bereichen des wirtschaftsrelevanten Umweltrechts - dort ist die Gefahr eines Ökodumpings besonders groß nicht abgewichen werden darf. Auch das sollten Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen. Wer jetzt gegen die Abweichungsmöglichkeiten der Länder wettert, der muss wissen: Wenn alles beim Alten bliebe, könnte der Bundestag in der Zukunft fast im gesamten Umweltbereich gar nichts mehr regeln. Was Herrn Westerwelle und seinen Hinweis auf die Finanzverfassung angeht: Das ist der FDP zugesagt. Die Kanzlerin hat vorhin heftig genickt. Die nächste Stufe, die Beratung der Finanzbeziehungen von Bund und Ländern, wird zügig in Angriff genommen. Das geschieht aber nicht, um in der Bundesrepublik Deutschland einen Wettbewerbsföderalismus durchzusetzen, sondern um gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu gewährleisten. Wir möchten diesem Ziel, auch was die Finanzbeziehungen angeht, näher kommen. ({4}) Im weiteren Verfahren werden wir für mehr Klärung sorgen. Wir werden auch klären, was der neue, im Hinblick auf kostenbelastende Gesetze eingeführte Zustimmungstatbestand bringt. Nach dem Urteil von Verfassungsexperten ist das zumindest unklar, sodass man noch einmal ganz genau prüfen muss, ob die angestrebte Reduzierung der Anzahl der zustimmungspflichtigen Gesetze tatsächlich gelingt. Der Kollege Röttgen hat natürlich vollkommen Recht: Eines der wichtigsten Ziele dieser Reform ist es, für klar getrennte Zuständigkeiten und für klar getrennte Aufgabenbereiche zu sorgen, sodass wir hier im Bundestag wirklich bundespolitische Entscheidungen treffen können. Wenn die Reduzierung der Zustimmungstatbestände nicht gelänge, dann verlöre diese Reform mit Sicherheit einen wesentlichen Teil ihrer ursprünglichen Zielstellung. Herr Röttgen, in der Tat: Der Staat muss besser werden. Wir müssen sicher auch über das Kooperationsverbot von Bund und Ländern im Bereich der ausschließlichen Landesgesetzgebung nachdenken. Das ist hier schon mehrfach angesprochen worden. Wie ist der Strafvollzug auf die Liste gekommen? Das liegt zum einen daran, dass der Bund keine Gefängnisse hat und auch in der Zukunft keine braucht. Das hoffe ich jedenfalls. Jetzt geht es aber darum, dass wir beim Strafvollzug keine völlig neuen Orientierungen - weg von der Resozialisierung - in der Bundesrepublik Deutschland zulassen. Wir sind das unseren früheren Justizministern Gustav Heinemann, Hans-Jochen Vogel und wie sie alle heißen, aber auch der Menschenwürde in Deutschland schuldig. ({5}) Strafvollzug hat etwas mit Menschenwürde zu tun. Dies darf also kein Auftakt für einen weiteren Versuch sein, beim Strafvollzug nicht mehr die Resozialisierung in den Mittelpunkt zu stellen, sondern den Rachegedanken. Für uns gilt: Hier gibt es kein Niederbügeln. Frau Künast, wir schlucken nicht einfach, was uns vorgesetzt wird, sondern wir schmecken gut ab und achten dabei auch darauf, dass wir uns nicht die Zunge verbrennen. Aber wir nehmen unsere Gestaltungsverantwortung wahr und wir nehmen diese Verantwortung auch als eine Gestaltungschance ernst.Dies setzt voraus, dass wir eben nicht nur an das Wünschbare, sondern auch an die erforderlichen Mehrheiten denken. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es fügt sich ganz gut, dass ich im Anschluss an die Kollegen Röttgen und Benneter rede. Herr Röttgen hat die These vertreten, die klare Zuweisung von Verantwortung sei der zentrale staatspolitische Anspruch dieser Reform. Sowohl Herr Röttgen als auch Herr Benneter haben die geplante Föderalismusreform also mehr oder weniger als einen Segen für die Umweltpolitik bezeichnet. Ich will dieser These im Folgenden nachgehen und prüfen, ob sie zutreffend ist. Im Bereich des Umweltschutzes klagen wir seit langem darüber - das ist ganz gewiss wahr -, dass das Recht völlig zersplittert ist. Dieser Flickenteppich ist nicht mehr zeitgemäß, nicht mehr sachgerecht, nicht mehr europarechtstauglich und vor allem nicht mehr überschaubar. Heute besteht im Rahmen des Grundgesetzes folgende Rechtslage: Auf der einen Seite gibt es den Kompetenztyp der konkurrierenden Gesetzgebung mit Erforderlichkeitsklausel bei Abfall, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung. Zum anderen gibt es die Kategorie des Rechts Wasser, Naturschutz, Landschaftspflege, Jagd und Raumordnung in der Rahmengesetzgebung des Bundes, die von den Ländern ausgefüllt werden kann. Bisher gibt es also zwei Kompetenztypen. Was wir schon bisher als Kompetenzwirrwarr angesehen haben, ist so problematisch, dass sich die gesamte umwelt- und rechtswissenschaftliche Fachwelt darüber einig ist: Wir brauchen eine Reform dieses Systems. Darüber besteht ganz klar Einvernehmen. Woran soll sich die Neugestaltung ausrichten? Sie soll sich an den Herausforderungen einer modernen Umweltpolitik orientieren, sie soll eine Kompetenzentflechtung entlang der Sachaufgaben vornehmen, sie soll europarechtstauglich sein und sie soll die Grundlagen für ein Umweltgesetzbuch schaffen. Wenn man sich vor diesem Hintergrund das anschaut, was die große Koalition vorgelegt hat, dann kann man wirklich sagen - ich werde das gleich auch begründen -: Es wird nicht besser, sondern es wird schlechter. Es wird nicht einfacher, sondern es wird komplizierter. Was Sie vorlegen, ist kein Beitrag zur Konfliktvermeidung, sondern bewirkt zusätzliche Konflikte, die letzten Endes - das prognostizieren wir - sogar vor dem Verfassungsgericht landen werden. Die Vorschläge gehen in die Irre. Das will ich an drei Beispielen ganz besonders deutlich machen: Erstens. Die vorgesehene Kompetenzordnung ist absolut unsystematisch. Statt zwei werden wir in Zukunft - Herr Benneter, das wissen Sie - fünf Kompetenzzuordnungstypen haben: die ausschließliche Bundeskompetenz, die konkurrierende Gesetzgebung mit Erforderlichkeitsklausel, ohne Erforderlichkeitsklausel, mit Abweichungsbefugnissen für die Länder und die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz der Länder. Das sind statt zwei fünf Kategorien. ({0}) Da kann einem schon schwindelig werden. Deswegen möchte ich Herrn Röttgen gern fragen: Ist das wirklich ein Beitrag zur Erreichung einer klaren Zuweisung von Kompetenzen? Ich würde sagen: Das ist eher ein Beschäftigungsprogramm für Juristen und gewiss kein Beitrag zum Abbau von Bürokratie. ({1}) - Nein, keineswegs. Ich kann ja verstehen, dass Herr Röttgen und Sie für den Berufsstand der Juristen werben; das ist durchaus legitim. Ich kann noch eine andere Stimme anführen. Der Geschäftsführer Dierk Müller von der Amerikanischen Handelskammer in Deutschland sagt auf der Grundlage Ihrer Pläne: Jeder macht, was er will - und der Investor weiß nicht, was er tun soll. Das bringt die Sache ziemlich gut auf den Punkt. ({2}) Der zweite Aspekt. Mit den exzessiven Abweichungsmöglichkeiten, die Sie für die Länder im Naturschutz, im Gewässerschutz und in der Raumordnung schaffen, leiten Sie - das können Sie definitiv nicht wegreden - einen Wettbewerb um niedrigste Umweltstandards ein. Das wäre fatal und muss deshalb dringend unterbleiben. Vor allem passt es überhaupt nicht zusammen, wenn die Umweltverwaltungen in den Ländern, beispielsweise in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen abgebaut werden, für diese aber jetzt zusätzliche Kompetenzen reklamiert werden. Die Abweichungsmöglichkeiten der Länder sind also ein fataler Irrweg. Vor allem ist Ihre Begründung wirklich hanebüchen. Sie sagen, es gäbe regionale Unterschiede und deswegen dürfe abgewichen werden. Es ist doch klar, dass Naturschutz im Alpenraum etwas anderes bedeutet als Naturschutz in der Norddeutschen Tiefebene oder dass Hochwasservorsorge am Rhein etwas anderes ist als Hochwasservorsorge an der Oder. Man braucht trotzdem einheitliche Regeln, Prinzipien und Verfahren. Es gibt doch auch kein unterschiedliches Landwirtschaftsrecht, nur weil in der Uckermark und in der Magdeburger Börde unterschiedliche Standortbedingungen vorhanden sind. Es muss Einheitlichkeit hergestellt werden. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Loske, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Benneter?

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Loske, haben Sie denn mitbekommen, dass im Naturschutzbereich die Grundsätze des Naturschutzes sozusagen abweichungsfrei sind? Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik hat der Bund eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für die Grundsätze des Naturschutzes. Die gilt es zu formulieren. Sie sollten jetzt Ihr ganzes Gehirnschmalz einbringen, damit wir hier zu guten Ergebnissen kommen. Finden Sie nicht auch, dass das der richtige Weg wäre? ({0})

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Theoretisch ist das richtig, aber praktisch besteht das Problem, ({0}) dass Sie durch Ihre Vorhaben das Umweltgesetzbuch, das kommen wird und das Sie loben und preisen, im Prinzip zu einer leeren Hülle machen, indem Sie den Ländern sehr weit gehende Abweichungsmöglichkeiten zugestehen. Das wissen Sie auch ganz genau. ({1}) Dass der Sachverständigenrat für Umweltfragen und alle anderen Umweltexperten diese Möglichkeiten in Bausch und Bogen verurteilt haben, hat natürlich damit zu tun, dass die abweichungsresistenten Kerne nur einen geringen Umfang einnehmen. Diese Antwort möchte ich Ihnen gerne auf Ihre Frage geben. ({2}) - Ich würde jetzt gerne fortfahren. Dritter Punkt. Ihre Vorschläge bezüglich der Abweichungsmöglichkeiten und Erforderlichkeiten machen das Umweltgesetzbuch zur Farce. Dadurch würde es zu der Situation kommen, dass es zwar ein Umweltgesetzbuch gibt, man aber, wenn man nachsehen will, was es mit dem Umweltrecht auf sich hat, nicht sicher sein kann, ob dieses Recht an dem Ort, wo man lebt oder investieren will, auch tatsächlich gilt, weil die Länder davon abgewichen sein könnten. Ein Umweltrecht aus einem Guss sieht vollkommen anders aus. Mit einer solchen Regelung im Umweltbereich machen wir uns in Europa lächerlich und handlungsunfähig. Das muss ich ganz klar sagen. ({3}) Wir wollen einen einheitlichen Kompetenztitel „Umwelt“ mit einer klaren konkurrierenden Gesetzgebung, ohne Abweichungsmöglichkeiten und Erforderlichkeitsklauseln. Den Interessen der Länder können wir entgegenkommen - das hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen, wie Sie, Herr Benneter, sehr genau wissen, deutlich beschrieben - durch normierte Öffnungsklauseln. Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Ich weiß, dass das, was ich hier für meine Fraktion vortrage, auch von sehr vielen Kolleginnen und Kollegen in den Koalitionsfraktionen so gesehen wird. Im Umweltausschuss herrschte ein schon fast sensationelles Maß an Einvernehmen. Deshalb fordern wir die Union und die SPD auf, unsere Bedenken ernst zu nehmen. Abschließend möchte ich noch ein Zitat bringen. Sie können nun wirklich nicht behaupten, die Fachleute stünden auf Ihrer Seite. Eine solche Aussage grenzt an Realitätsverweigerung. Der Vorsitzende des Sachverständigenrates für Umweltfragen schreibt zusammenfassend, … dass der SRU in zahlreichen Gesprächen mit Fachleuten des Umweltschutzes nirgends auf Zustimmung zu dem Koalitionsvorschlag gestoßen ist. Diese Einhelligkeit der Kritik sei außergewöhnlich und für die Politik sicher bedenkenswert. Ich hoffe, der SRU hat Recht; denn das, was Sie hier vorlegen, ist in Sachen Umweltschutz eine Verschlechterung und ganz gewiss keine Verbesserung. Danke schön. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Michael GrosseBrömer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Loske, wenn man Ihnen zuhört, bekommt man den Eindruck, in Deutschland existierten zu wenige Gesetze im Umweltbereich. Wenn Sie den Gesetzentwurf gerade in diesem Punkt richtig lesen, können Sie feststellen, dass erstmalig die Chance der Kodifizierung, der Zusammenfassung und damit aus meiner Sicht auch der Stärkung des Rechtes im Umweltbereich gegeben wird. Ich hätte eigentlich gedacht, dass Sie das Gegenteil dessen vorgetragen hätten, was ich jetzt von Ihnen gehört habe. ({0}) Meine Damen und Herren, wir debattieren über unser fundamentalstes Recht. Das Grundgesetz, das wir teilweise ändern wollen, ist die Basis unserer Rechtsordnung und bestimmt die Leitlinien unseres Gemeinwesens. Deshalb schützt es sich im Übrigen in Art. 79 auch selbst vor zu leichtfertigen Veränderungen. Es wird zu Recht eine breite Zustimmung in Bundestag und Bundesrat verlangt, um das Verfassungsrecht neuen Entwicklungen und Veränderungen anzupassen. Die große Koalition will mit dem heute vorliegenden, gut vorbereiteten Gesetzentwurf diese Herausforderung annehmen. Die Föderalismuskommission hat mehr als ein Jahr in zwei Arbeits- und sieben Projektgruppen unter Einbeziehung des Sachverstandes von Bundesregierung, Landesregierungen, Landtagen, kommunalen Spitzenverbänden und Wissenschaft intensiv gearbeitet. Das Ergebnis war ein detaillierter Kompromissvorschlag, der jetzt nach Überarbeitung und nach Billigung durch fast alle Ministerpräsidenten diesem Hohen Hause zur Beratung vorgelegt wurde. Im Kern geht es um die Frage, ob wir die Dynamik in unserem Land verbessern, ob wir die Gesetzgebung effektiver und für den Bürger durchschaubarer gestalten und dadurch Politik- und Staatsverdrossenheit abbauen sowie Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit steigern können. Ich finde, diese Ziele sind es wert, dass man sich ernsthaft Gedanken darüber macht, ob man diesen Gesetzentwurf für parlamentarische Machtspiele benutzt oder bei der Debatte darüber vorrangig das gesamtstaatliche Interesse ins Auge fasst. ({1}) Das gilt erst recht deshalb, weil weite Teile der Opposition an diesem Gesetzentwurf mittelbar als Mitglieder der Föderalismuskommission mitgearbeitet und mitgestaltet haben. Die FDP erinnert sich wohl an diese Tatsache; aber bei den Grünen habe ich das Gefühl, dass ein partieller Gedächtnisverlust eingetreten ist, weil man jetzt nicht mehr Regierung, sondern Opposition ist. ({2}) Damit werden Sie der Bedeutung dieses Gesetzentwurfes nicht gerecht, meine Damen und Herren von der grünen Fraktion. Diesen Schuh darf sich übrigens auch die linke Fraktion anziehen. Sie vergessen in diesem Zusammenhang, dass wir alle als Parlamentarier ebenfalls ein fundamentales Interesse an dieser Reform der bundesstaatlichen Ordnung haben. Es geht nämlich im konkreten Fall auch um unsere ureigenen Interessen. Durch dieses Gesetz wird die Anzahl der zustimmungspflichtigen Gesetze verringert. Dadurch nimmt zwangsläufig die Zahl der Sitzungen des Vermittlungsausschusses ab. Damit wird es weniger parlamentarische Entscheidungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einem kleinen Vermittlungskreis geben. Folglich steigt die Bedeutung der Abgeordneten, weil sie nicht nachträglich einen Kompromiss des Vermittlungsausschusses absegnen müssen, sondern im Parlament direkter und intensiver an bedeutenden Gesetzesvorhaben beteiligt werden; denn unwichtige Entscheidungen hat der Vermittlungsausschuss meiner Erinnerung nach nicht besonders häufig auf der Agenda gehabt. Diese grundlegenden, strukturell positiven Wirkungen der Föderalismusreform sollten wir bei allen weitergehenden Beratungswünschen als Parlamentarier nicht vergessen. Was die weiteren Beratungen betrifft, so bin ich der Meinung, dass der Rechtsausschuss völlig zu Recht federführend mit diesem Thema betraut wurde. Es ist originäre Aufgabe des Rechtsausschusses, sich dem Verfassungsrecht zuzuwenden. Darum geht es nun einmal bei dem vorliegenden Gesetzentwurf. Ich bin davon überzeugt, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, dass wir in einem sehr geordneten und strukturierten Verfahren die parlamentarischen Rechte aller Mitglieder dieses Hauses bei den Beratungen berücksichtigen werden. Jedenfalls war das nach meiner Kenntnis in der Vergangenheit so. Es wird auch in Zukunft so bleiben, wenn der Rechtsausschuss tätig wird. ({3}) Wir haben es heute schon häufiger gehört: Unser Staatsaufbau muss dringend verändert werden. Das sagt jeder Experte, der sich mit dieser Frage in Deutschland beschäftigt hat. Wir sollten uns deshalb die notwendige Gelassenheit bewahren und nicht schon bei Verfahrensfragen von „Murks“ reden, wie dies der Kollege Beck gestern in der Geschäftsordnungsdebatte getan hat. Man kann nicht jahrelang von der blockierten Republik reden und dann bei intensiv vorbereiteten Verbesserungsvorschlägen reflexartig mit der gesamten Fraktion in AbMichael Grosse-Brömer wehrstellung gehen. Ich glaube nicht, dass das ein konstruktiver Weg ist, diesen Gesetzentwurf zu behandeln. Meine Damen und Herren, wir wollen mit dem vorliegenden Entwurf die alte Tante Föderalismus wieder mit frischem Schwung versehen. Der dominierende Trend der letzten Jahrzehnte nach In-Kraft-Treten des Grundgesetzes war eine Vermischung und Verwischung der politischen Verantwortung bei gleichzeitiger Blockade der Gesetzgebung. Wir wollen zurück zu den Stärken des Föderalismus: zur klaren Teilung der Staatlichkeit mit dem damit verbundenen Schutz vor Machtmissbrauch; zur Stärkung von demokratischer Teilhabe; zu der Grundidee im Übrigen, dass Wettbewerb in und mit den Ländern dem Gesamtstaat fördernd zugute kommt. Die Subsidiarität ist hier schon angesprochen worden; die Kommunen werden hier besonders bedacht in Art. 84 neu. Ein aus meiner Sicht weiterer, sehr bedeutsamer Punkt ist die Aufhebung von Effizienzschwächen beim staatlichen Handeln. In der Zeit der Globalisierung und der extensiven europäischen Rechtsetzung ist es unsere Pflicht, Defizite in unserer eigenen staatlichen Ordnung als Erstes zu beheben, bevor wir mit dem Finger auf andere zeigen. Vor dem beschriebenen Hintergrund wird auch der Faktor Zeit immer bedeutsamer. Wollen wir in der Welt, insbesondere in Europa, wirkungsvoller auftreten, so müssen wir da schneller und besser werden, wo wir erkennbar zu behäbig geworden sind und der Verfassungsmotor ins Stottern gekommen ist. Meine Damen und Herren, wir werden diesen Entwurf intensiv beraten. Dazu werden wir auch Gelegenheit haben. In Deutschland ist es üblich, dass bei Veränderungen 10 Prozent Unzufriedene lauter klagen, als 90 Prozent Zufriedene sich freuen. Ich würde mich freuen, wenn das in diesem konkreten Fall anders wäre. Ganz schlimm wäre aber ein vorgeschobener Änderungsbedarf in Bezug auf diese Reform mit dem Ziel, der großen Koalition keinen Erfolg zu gönnen. Wer das vorhat, muss wissen, dass er nationale Interessen zugunsten kurzfristiger Parteiinteressen aufs Spiel setzt. Uns bringt, denke ich - so viel zum Abschluss -, bei der vor uns liegenden Aufgabe nur eine Gesamtabwägung weiter. Lassen Sie uns hinterfragen, ob Deutschland durch diese Reform insgesamt schneller, dynamischer, demokratischer und bürgernäher wird. Wenn wir hier zu einem positiven Ergebnis kommen, dann müssen wir bereit sein, angesichts der Größe und Bedeutung dieses Vorhabens die bisher gezeigte Kompromissbereitschaft aller Beteiligten auch im Bundestag zu honorieren. In diesem Sinne freue ich mich auf die anstehenden Beratungen und danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Axel Schäfer, SPD-Fraktion.

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein wichtiges Ziel der Föderalismusreform, die Entflechtung der Kompetenzen zwischen dem Bund und den Ländern, geht einher mit der zunehmenden Verflechtung innerhalb der Europäischen Union. Deshalb ist die Verbesserung der Europafähigkeit Deutschlands ein bedeutendes Element, welches in dieser Debatte bisher leider sehr vernachlässigt wurde. ({0}) Wenn wir über den vor uns liegenden Weg der großen Koalition zur Grundgesetzreform reden, so müssen wir zugleich an den zurückgelegten Weg in Europa erinnern. 1986 hat der Bundesrat im Ratifikationsprozess zur Einheitlichen Europäischen Akte sein Zustimmungsrecht genutzt, um die innerstaatlichen Mitwirkungsmöglichkeiten deutlich auszuweiten. Mit der Entscheidung über die gemeinsame Währung 1992 erhielten die Beteiligungsrechte der Länder erstmals Verfassungsrang. Im neu gefassten Art. 23 des Grundgesetzes wurde bei der Willensbildung des Bundes der Bundesrat in außergewöhnlicher Weise mit einbezogen, und zwar durch die maßgebliche Berücksichtigung seiner Auffassung, sofern Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind, und bei der ausschließlichen Gesetzgebung durch einen der Plätze am Ratstisch in Brüssel. Die Informationsbüros der Länder wuchsen in zwei Jahrzehnten so gewaltig, dass sie heute zum Teil größer sind als die Botschaften einzelner Mitgliedstaaten. In neun Fällen erhielten diese Einrichtungen gar den Namen „Ländervertretung bei der Europäischen Union“. Hinzu kommt noch ein Büro des Bundesrates. ({1}) Während sich in der EU in diesen 20 Jahren die Mitgliederzahl von zwölf auf 25 etwa verdoppelte, ist die Zahl der deutschen Repräsentanten um das Sechsfache gestiegen. Allein 400 Landesbeamte und -beamtinnen sind mittlerweile in den 300 EU-Verhandlungsgremien beteiligt. Weiterhin wurde vor über zehn Jahren unter maßgeblicher Beteiligung des Bundesrates der Ausschuss der Regionen gegründet, worin heute von insgesamt 24 unserer Vertreterinnen und Vertreter 21 aus den Ländern kommen. So viel zum bereits bestehenden Einfluss auf föderaler Ebene. Jetzt ist es an der Zeit, neben den politischen und repräsentativen Fragen auch die notwendigen Haushaltsfragen zu beantworten. Der Anspruch der Länder, auch im Rahmen der EU die Politik mitgestalten zu können, muss durch finanzielle Verantwortung ergänzt werden. ({2}) Axel Schäfer ({3}) Diese Mitverantwortung kommt am deutlichsten durch die Mithaftung zum Ausdruck, wie sie jetzt - man müsste sagen: endlich - im Grundgesetz verankert wird. ({4}) Konkret bedeutet dies: Bei legislativem, exekutivem oder judikativem Fehlverhalten gegenüber der EU wird klargestellt, dass die Verursacher die Lasten zu tragen haben. Das heißt, bei übergreifenden Finanzkorrekturen, wie es so schön in Juristendeutsch heißt, beteiligt sich die Ländergesamtheit mit 35 Prozent. 50 Prozent wird von denjenigen getragen, die die Kosten verursacht haben. Der Bund - auch das sei erwähnt - leistet einen solidarischen Beitrag von 15 Prozent. Das ist Inhalt des neu gefassten Art. 104 a. Im neuen Art. 109 Abs. 5 des Grundgesetzes wird zur Einhaltung des nationalen Solidarpaktes erstmals eine Beteiligung der Länder eingeführt, falls die EU zu Sanktionen greifen sollte. Das entsprechende Sprichwort kennen wir alle: Haushaltsdisziplin. Der 35-prozentige Anteil der Länder entspricht zwar nicht dem durchschnittlichen Anteil der Länder, inklusive Gemeinden, am gesamtstaatlichen Defizit der letzten Jahre. Aber immerhin wurde die Mitverantwortung der Partner im zweigliedrigen Staatsaufbau grundsätzlich wie grundgesetzlich festgeschrieben. ({5}) Das heißt: Es gibt einen Paradigmenwechsel in der deutschen Europapolitik. Dieser Wechsel ist richtig und wichtig. Es ist gut, dass wir jetzt diesen Weg gehen. ({6}) Ich sehe Franz Müntefering hier sitzen. Er weiß sehr genau: Die Fachleute in der von ihm und Herrn Stoiber geleiteten Kommission waren sich darin einig, dass die Ausgestaltung der Länderbeteiligung in unserem Grundgesetz eher einer Geschäftsordnung denn einer Verfassung entspricht. Die Frage, ob die deutschen Länder in der EU Motor oder Bremser bei der Durchsetzung von Interessen sind, war deutlich aufgeworfen worden. Jawohl, die Länder bleiben in der Verantwortung. Künftig wird einer ihrer Vertreter sprechen, falls es um schulische Bildung, Kultur oder Rundfunkfragen geht. Aus der bisherigen Sollregelung wird also, wenn es nach unseren Vorstellungen geht, eine Mussregelung, die jedoch - das gehört dazu - auf diese drei Bereiche beschränkt wurde. Das ist auch dringend notwendig. Denn es kann nicht sein, dass die Länder nach der Föderalismusreform in noch mehr Ratsformationen das Vertretungsrecht beanspruchen. ({7}) Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung bedeutet ein Weiteres: Wir, der Deutsche Bundestag, werden in diesem Jahr mit der Bundesregierung eine Vereinbarung treffen, um die Beteiligung von uns Abgeordneten in Angelegenheiten der Europäischen Union zu verbessern. Deshalb kann ich jenseits aller taktischen Überlegungen erklären: Im Bereich des tatsächlichen politischen Einflusses muss der Bundestag mit dem Bundesrat auf gleiche Augenhöhe auf der europäischen Ebene kommen. Da wollen wir hin. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Bundesratsbank, es gibt allerdings einen Unterschied: Wir wollen nicht das 17. Land in Brüssel werden. ({9}) Wir errichten nur ein Verbindungsbüro, um ungefiltert und vollständig aktuelle Informationen, die auf die Bedürfnisse unseres Parlamentes ausgerichtet sind, zu erhalten. ({10}) Der Ort der Mitwirkung des Bundestages ist und bleibt Berlin. Das ist der Geist und der Buchstabe des Art. 23 des Grundgesetzes. ({11}) Ich sage es hier ganz offen: Ob vor, während oder nach der Föderalismusreform, alle Landesregierungen sollten sich zukünftig überlegen, ob sie tatsächlich den Anspruch haben sollten, zuweilen wie Regierungen von EU-Mitgliedern zu agieren. Der immer wieder gebrauchte Hinweis, viele Länder in Deutschland seien größer als eine Reihe von Staaten in der EU, ist zahlenmäßig sicherlich korrekt, politisch jedoch Unsinn. ({12}) Weder mein geliebtes Nordrhein-Westfalen noch das schöne Bayern oder das herrliche Land Rheinland-Pfalz sind quasi eigenständige EU-Mitglieder. ({13}) Sie sind und bleiben Teil der Bundesrepublik Deutschland. ({14}) Es ist völlig falsch, zu glauben, dass man die Zahl der deutschen Akteure in Brüssel nur erhöhen muss, um mehr gemeinsamen Einfluss auszuüben. Bei zahlreichen Beobachtern der EU-Institutionen entsteht der Eindruck: je vielstimmiger unser Chor in Brüssel, desto unklarer der Text, der gesungen wird. ({15}) Hier schließt sich der Kreis: Die Entflechtung von Kompetenzen zwischen dem Bund und den Ländern bei gleichzeitiger Verflechtung der Politik in der EuropäiAxel Schäfer ({16}) schen Union wird nur dann die Europafähigkeit Deutschlands verbessern, wenn auch unsere Länder die neuen Herausforderungen in einem größer gewordenen Europa solidarisch wahr- und aufnehmen. Die deutsche Position im Rat muss klar sein. Das heißt, wir müssen Ja oder auch Nein sagen können und dürfen nicht auf das Mittel der Enthaltung ausweichen. Enthaltung bedeutet immer den Verzicht auf die Möglichkeit, in Verhandlungen etwas zu erreichen. ({17}) Bei der von uns allen gewünschten Demokratisierung und Parlamentarisierung Europas, die in der Regel zu Mehrheitsentscheidungen im Rat führen, ist die Änderung des Grundgesetzes, die wir gemeinsam anstreben, die eine Seite. Die andere Seite ist: Wir brauchen vor dem Hintergrund der Globalisierung ein neues Verständnis von und ein neues Verhältnis zu europäischer Politik. Wir Deutsche wollen auch künftig in Europa nicht Getriebene sein, sondern Gestalter bleiben. Vielen Dank. ({18})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003124, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Als wir im Jahr 2003 die Föderalismuskommission konstituierten, gab es nur wenige, die an ein umfassendes Reformwerk glaubten. Ich denke, es gab einige günstige Konstellationen. Eine davon haben Sie, lieber Kollege Benneter, genannt: die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Erforderlichkeitsklausel. Diese Rechtsprechung hat viele Bundespolitiker aufgeweckt; denn sie hat deutlich gemacht, dass sich die Bundesgesetzgebung Stück für Stück zugunsten der Länder verändern wird, wenn nicht gegengesteuert wird. Von daher gab es in dieser Frage Handlungsbedarf. Die zweite günstige Konstellation bestand darin, dass zwei Menschen, nämlich Franz Müntefering und Edmund Stoiber, mit Herzblut daran gearbeitet haben. ({0}) Da war schon ein Hauch von großer Koalition in der letzten Wahlperiode zu spüren. ({1}) - Lieber Herr Benneter, es war sozusagen die erste Schwalbe des großkoalitionären Frühlings, den wir jetzt erleben. Darüber hinaus waren Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und der FDP an der sachlichen Diskussion in der Kommission beteiligt. Ich erinnere mich an viele gute und konstruktive Gespräche, beispielsweise mit Rainder Steenblock von den Grünen und mit Ernst Burgbacher und Rainer Funke, der jetzt nicht mehr dem Bundestag angehört und den ich von hier aus grüßen möchte, von der FDP. Mit dieser Reform stärken wir den Föderalismus. Mich hat die Diskussion in der Öffentlichkeit und hier im Parlament über die Föderalismusreform erstaunt; denn dort, wo ich erwartet hatte, positive Begriffe wie Subsidiarität, Vielfalt und passgenaue Möglichkeiten der Gestaltung zu hören, las und hörte ich nur Wörter wie Zersplitterung, Kleinstaaterei und Afrikanisierung. ({2}) Was macht uns eigentlich so sicher, dass Einheitsbrei, dass Zentralismus besser sein soll als Föderalismus? ({3}) Wenn die Lobbyisten und Verbände so reagieren, dann habe ich Verständnis dafür; denn für Lobbyisten und Verbände ist es immer gut, zentralistische Entscheidungsinstanzen zu haben, weil man bei ihnen besser lobbyistisch tätig werden kann. Dass sich das aber zu einem allgemein um sich greifenden Glauben entwickelt hat, ist verwunderlich. Ein Kommentar in der „FAZ“ lautete am 6. März 2006: Wo sind die Freunde des Föderalismus geblieben? Ich bin der Überzeugung, dass wir mit dieser Reform Freunde für den Föderalismus gewinnen werden, weil wir mit dieser Reform beweisen werden, dass Ineffizienz und Intransparenz, die wir jetzt beklagen, keine Eigenschaften des Föderalismus sind, sondern Eigenschaften einer unnötigen Verflechtung, die wir jetzt auflösen. Von daher wird der Föderalismus auch im Bewusstsein der Bevölkerung gestärkt. Es ist richtig, wenn das Gaststättenrecht in die Zuständigkeit der Länder fällt. Es ist aber auch richtig, dass wir den Bund da stärken, wo bundesstaatlicher Zusammenhalt notwendig ist, beispielsweise bei der Terrorismusabwehr. Genau das ist Bestandteil der Reform. ({4}) Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb am 7. März 2006: Eine wirkliche Föderalismusreform muss den Ländern mehr nehmen als geben. Ich bestreite das ausdrücklich. Die Antwort auf unsere Probleme ist nicht zentralistische Vereinheitlichung. Die Reaktion der deutschen Bevölkerung auf den Zentralismus in Europa, nämlich eine spürbar werdende Abneigung der Bevölkerung ihm gegenüber, beweist doch, dass die These, der Zentralismus sei der richtige Weg, falsch ist. Dezentralisierung und Subsidiarität an den Stellen, wo sie möglich sind, sind der richtige Weg. ({5}) Dr. Hans-Peter Friedrich ({6}) Ich halte auch die Kritik an der Abweichungsgesetzgebung für falsch. Manchmal ist dabei von Pingpong usw. die Rede. Gesetzgebung ist keine Rechthaberei, sondern das Bemühen von Parlamenten, ob auf Bundesoder Länderebene, sachgerechte Lösungen für die Menschen zu finden. Das sollten wir im Auge behalten. Deswegen halte ich auch jedes Misstrauen gegenüber den Ländern für völlig verfehlt und für den falschen Ansatz. Ich kann allen Umweltpolitikern nur dringend empfehlen, sich das, was Kollege Benneter zur Erforderlichkeitsrechtsprechung ausgeführt hat, genau anzusehen. Wenn Sie die Urteile, die existieren, auf die Umweltgesetzgebung fortschreiben, dann werden Sie erleben, dass der Bund bei der jetzigen Konstellation viel mehr Kompetenzen im Umweltbereich verlieren wird, als uns recht sein kann. Deswegen rate ich uns dringend, diese Reform umzusetzen und nicht scheitern zu lassen. Der Föderalismus entspricht der kulturellen Vielfalt unseres Landes. Natürlich wird die Reform weitergehen. Wenn die große Koalition zusagt - ich sage das auch in Richtung FDP -, dass es weitere Schritte geben wird, wird das auch geschehen; wir werden das einhalten. Wichtig ist, dass wir mit dieser Reform den Beweis erbringen, dass dieses Land und seine politischen Akteure in der Lage sind, entschlossen und geschlossen den Bundesstaat zu modernisieren. Es ist der Anfang eines guten Weges. Ich bin der Überzeugung, dass sich in den nächsten Wochen und Monaten in allen Fraktionen jeder seiner Verantwortung für die Zukunft dieses Landes bewusst sein wird. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herzlichen Glückwunsch, Herr Kollege Friedrich, im Namen aller Kolleginnen und Kollegen zu Ihrem heutigen Geburtstag. ({0}) Das Wort hat der Kollege Volker Kröning, SPD-Fraktion.

Volker Kröning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002707, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer drei Jahre an der Föderalismusreform mitgearbeitet hat und nun schon drei Stunden dieser Debatte zuhört, wer die Texte und Begründungen gelesen hat, was wir sicher alle bei diesem verantwortungsvollen Werk tun sollten, und wer weiß, was von uns erwartet wird, der darf nach diesen Stunden mit Optimismus in die nächsten drei Monate schauen. Wer abwechselnd am Kartentisch und im Maschinenraum gearbeitet hat, der weiß auch, welche Verantwortung wir alle gemeinsam für den vor uns liegenden Prozess haben - ein parlamentarisches Verfahren, das zusammen mit dem Bundesrat, anders als ein Vermittlungsverfahren, nämlich vor der ganzen Öffentlichkeit zu bewältigen ist -, und der setzt auf die Verantwortung der heutigen Dioskuren Volker Kauder und Peter Struck. Ich stehe nach wie vor zu dem Paket, das heute vorgelegt wird, auch wenn ich mir einzelner schmerzhafter Kompromisse bewusst bin und nach wie vor in der einen oder anderen Frage meine Meinung nicht unterdrücke. Ich erlaube mir auch nicht, die Aussagen des Fraktionsvorsitzenden der SPD zu interpretieren. Denn er hat nicht nur formal, sondern auch inhaltlich deutlich gemacht, welche Informations- und Überzeugungsarbeit noch vor uns liegt. Es zeigt zugleich, wie wir nach meinem Dafürhalten die Anhörung aufzäumen sollten, nämlich von den Juckepunkten aus. Ich möchte an alle, gerade auch an die Oppositionsfraktionen, appellieren, ihre Alternativen deutlich zu machen. Ich messe heutiges Tun nicht an vergangenem Tun. Darüber kann man geteilter Meinung sein. Ich bitte Sie alle, Ihre Alternativen so deutlich zu machen, wie es heute schon bei FDP und PDS erkennbar war. Es müssen klare Alternativen sein. Ich hoffe, unser früherer Koalitionspartner findet dazu zurück. Zum Charakter einer Anhörung muss gesagt werden, dass es sich nicht um die Lesung der Gesetzestexte und -begründungen handelt; das bleibt dem federführenden Ausschuss und den mitberatenden Ausschüssen vorbehalten. Eine Anhörung ist auch keine Auswertung. Die Auswertung muss nach der Anhörung stattfinden, und zwar von allen Beteiligten, nämlich Bund und Ländern, den Koalitionsfraktionen und sicher auch dem stillen Beteiligten an diesem Projekt, der sein Mitspracherecht heute wieder deutlich angemahnt hat. Zur Erleichterung der parlamentarischen Arbeit habe ich einige Bitten. Der Begleittext und die Einzelbegründungen zur Bildungspolitik sollten sorgfältig ausgewertet werden. Der Streitstoff wird sich nach meinem Dafürhalten fast auf Null reduzieren, weil wir schon in der Vergangenheit intensiv darum bemüht waren, Verfassungs- und Fachpolitik aneinander anzudocken. Am Ende wird zu entscheiden sein, ob der Kompromiss vertretbar ist oder nicht. Ich lebe nach der Devise „Das Bessere ist der Feind des Guten“. Vielleicht fällt uns an der Stelle noch etwas Besseres ein. ({0}) Bei der Verfassungsreform werden die kleinen und großen Parteien lernen, dass Bildungspolitik - zu der alle ihre Argumente voller Leidenschaft vortragen - auf allen Ebenen - nicht nur im Deutschen Bundestag, auch wenn er die erste Gewalt der oberen Ebene ist - stattfindet. Uns ist aufgegeben, eine Bildungspolitik zu konzipieren und auszuführen, die auf allen Ebenen funktioniert, von Europa bis zu den Kommunen. Ich glaube, auf diesem Gebiet haben nicht zuletzt die großen Parteien eine Aufgabe vor sich. Dieses Thema lässt sich - das sage ich an die Adresse der FDP - nicht nach dem einfachen Schema „Wettbewerbsföderalismus - ja oder nein?“ abhandeln. ({1}) Die Zukunftsfähigkeit unserer Staatspraxis und des rechtlichen Rahmens wird sich darin erweisen, ob wir zu einer horizontalen und vertikalen Koordinierung der Bildungspolitik in der Lage sind. ({2}) Zur Umweltpolitik. Die heutige Bundeskanzlerin und ihr Vorgänger im Amt des Umweltministers haben den Versuch unternommen, ein bundeseinheitliches Umweltgesetzbuch auf den Weg zu bringen. Der Vorgänger des heutigen Umweltministers musste lernen, dass das an der geltenden Kompetenzordnung scheitert. Herr Kollege Dr. Friedrich hat zu Recht hinzugefügt, dass ein solches Vorhaben angesichts der Tendenz in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung mehr denn je vom Scheitern bedroht ist. Angesichts dieser Umstände sollte sich die Bundesregierung bemühen, Klarheit in die nicht nur von Sachverständigen, sondern auch von Umwelt- und Wirtschaftsverbänden geführte Debatte zu bringen, und bald Eckpunkte - ich sage sogar: eine Blaupause - eines zeitgemäßen Umweltgesetzbuches vorlegen. ({3}) Die Vorschläge der Sachverständigen sind bereits zehn Jahre alt. Die Europäisierung dieses Rechtsgebietes ist stark fortgeschritten. Also brauchen wir, wenn wir Fachund Verfassungspolitik verantwortungsbewusst koordinieren wollen, eine Messgröße, die materielles Recht und Verfahrensrecht umfasst. Ich freue mich, dass das Bundeskabinett mit seiner Entscheidung vom Montag auch an dieser Stelle, auf dem Gebiet der besonders schwierigen Herausforderung der Umwelt- und Wirtschaftspolitik, Flagge gezeigt hat. Nun erwarten wir nicht nur Loyalität gegenüber unserem Tun, sondern auch Mittun, um den Beweis dafür führen zu können, dass die neue Kompetenzordnung besser ist als die alte. ({4}) Zu Strafvollzug und Heimrecht. Wenn man, wie vorgeschlagen, auf diesen beiden Gebieten die Regelungskompetenz vom Bund auf die Länder überträgt, sorgt Art. 125 a Grundgesetz in der neuen wie in der alten Fassung dafür - es ist gar nicht schlecht, die allgemeinen Geschäftsbedingungen zu lesen; im Grundgesetz ist das der Teil mit den Übergangs- und Schlussbestimmungen -, dass das geltende Bundesrecht weiterhin gilt. Kein Land stolpert in ein schwarzes Loch. Jedes Land bleibt frei in der Entscheidung, das Bundesrecht weiterhin gelten zu lassen oder - die Möglichkeit besteht schon jetzt - abzuweichen, das heißt, durch Landesrecht zu ersetzen. Ich rechne damit, dass gar nicht so viele Länder Alleingänge unternehmen werden - Stichwort: mehr Vielfalt in der Einheit -, sondern dass es regionale Abstimmungen geben wird. Das kann dem praktischen Föderalismus weiterhelfen. Im Übrigen wird das für die Ländergliederung in der derzeitigen Form in den nächsten zehn bis 15 Jahren eine Bestandsprobe sein. Nur wenn die Länder untereinander wieder stärker Wettbewerb und Koordination miteinander vereinbaren, wird der Föderalismus in seiner heutigen regionalen, territorialen Gestalt überleben. ({5}) Zu Kultur und Sport - das passt fast zu Ihrem Stichwort: Man mag dieses Thema in der Bundesverfassung verankern wollen. ({6}) Ich muss aber darauf hinweisen, dass es zwischen Bundesverfassung und Landesverfassungen einen Unterschied gibt. Dieser Unterschied kommt im Grundgesetz, das zugleich eine gesamtstaatliche Verfassung ist, zum Ausdruck. In Art. 30 des Grundgesetzes heißt es, dass nur die Bereiche in die Kompetenz des Bundes fallen, die im Grundgesetz ausdrücklich geregelt sind. Das heißt im Umkehrschluss: Für Kultur und Sport sind die Länder zuständig. Wenn das Landesverfassungsrecht dies ausdrücklich vorsieht, ist das das eine. Ob der Bundesgesetzgeber das für das Bundesverfassungsrecht aber auch tut, ist etwas ganz anderes. Ehrlich gesagt, hätte ich es auch nicht gern, wenn der Grundsatz des Art. 20 des Grundgesetzes verunklart oder relativiert würde. Dort heißt es, dass die Bundesrepublik Deutschland „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ ist. Dabei sollte es auch in vollem Umfang bleiben - nicht mehr, aber auch nicht weniger. ({7}) Zum Schluss komme ich auf Stufe zwei der Bundesstaatsreform zu sprechen. Das, was die Kollegen Benneter und Friedrich dazu gesagt haben, trifft zu. Auch ich bin der Auffassung - damit bin ich zwar in meinem Laden in der Minderheit; ich sage es aber trotzdem -, dass der Bundesstaat, was unsere obersten Politikziele betrifft, so lange asymmetrisch und sogar unproduktiv ist, wie die Länder an dem Doppelmangel leiden, dass sie weder hinreichende Ausgabenautonomie - das soll jetzt geändert werden - noch hinreichende Einnahmenautonomie besitzen. Als es darum ging, das zu ändern, haben sie sich merkwürdigerweise geweigert. Darüber führen sie untereinander auch noch gar keinen Dialog. Umso mehr freue ich mich, dass schon im letzten Sommer mit dem Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz in Aachen die Bereitschaft des Bundesrates und der Länder zum Ausdruck gekommen ist, sich einem Angebot des Bundes zu öffnen und darüber zu diskutieren. Auch die Koalitionsvereinbarung ist in diesem Punkt besonders interessant. In ihr wird nämlich etwas angesprochen, was wir im Rahmen der zuletzt durchgeführten Runden zur Neuordnung des Finanzausgleichs nicht erlebt haben; denn diese Runden waren von der Rechtsprechung induziert und normativ-juristisch ausgerichtet. In der Koalitionsvereinbarung heißt es ganz klar, dass wir dazu beitragen wollen, dass auch der Bundesstaat der Zielsetzung, für Wachstum und Beschäftigung zu sorgen, gerechter wird, als es gegenwärtig der Fall ist. Dieses Ziel der Koalitionsvereinbarung wollen wir nach Abschluss der ersten Stufe der Bundesstaatsreform in Angriff nehmen. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Friedbert Pflüger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Föderalismusreform ist für Berlin ein historisches Ereignis. Denn Berlin wird im Grundgesetz erstmals als Hauptstadt festgeschrieben. ({0}) Damit erreicht ein Prozess seinen Höhepunkt, der am 9. November 1989 mit dem Fall der Mauer begonnen hat und der sich am 3. Oktober 1990 mit der Vereinigung Deutschlands und am 20. Juni 1991 mit der Entscheidung des Bundestages für Berlin als Hauptstadt fortsetzte. ({1}) Wir alle leben und arbeiten heute gerne in Berlin. Der Deutsche Bundestag im Reichstagsgebäude wird jährlich von über 2,5 Millionen Menschen besucht. Er ist schon längst zum Symbol des freien, vereinten Deutschlands geworden. Die Berliner freuen sich darüber und sind stolz darauf. ({2}) Ich möchte zum Thema „Föderalismusreform und Hauptstadt“ drei Punkte ansprechen: Erstens. Mit dem zweiten Satz des neuen Art. 22 des Grundgesetzes - er soll heißen: „Die Repräsentation … in der Hauptstadt ist Aufgabe des Bundes“ - normieren wir erstmals die bislang ungeschriebene Zuständigkeit des Bundes für die Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt. Das ist gut, ruft aber auch nach Konsequenzen. Dass der Bund dieser Aufgabe trotz umfangreicher Zahlungen bisher nicht in vollem Umfang nachgekommen ist - das gilt auch für den direkten Vergleich mit den nach Bonn geflossenen Bundesmitteln -, wird in einem aktuellen Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung deutlich. Demnach beteiligt sich der Bund zum Beispiel mit nur 38 Millionen Euro an hauptstadtbedingten Sicherheitsmaßnahmen. Das entspricht nur 35 Prozent der Kosten, die dafür tatsächlich aufgebracht werden. ({3}) Auch der Anteil des Bundes an der Finanzierung kultureller Einrichtungen in Berlin ist, so das DIW, deutlich geringer, als nach der Bonn-Berlin-Vereinbarung vorgesehen. Geht man von dieser Feststellung aus, so fallen die mit Berlin geschlossenen Hauptstadtverträge deutlich restriktiver als die mit Bonn geschlossenen Vereinbarungen aus. ({4}) Zweitens. Ich möchte hier ausdrücklich betonen: Der in die Begründung des Entwurfs des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes aufgenommene Rückgriff auf die Formulierung des Koalitionsvertrages, dass das Bonn-Berlin-Gesetz unberührt bleibt, ändert die Rechtsqualität des Bonn-Berlin-Gesetzes von 1994 nicht; dies bestätigt ein im Auftrag des Abgeordneten Peter Rzepka erstelltes Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages vom 12. Januar 2006. Der Gesetzgeber kann die Bonn-Berlin-Vereinbarungen auch künftig jederzeit mit einfacher Mehrheit ändern, um zukünftigen Entwicklungen Rechnung zu tragen und um die Effizienz von Parlament und Regierung in der Hauptstadt zu stärken. ({5}) Ich danke der Bundesregierung, dass Versuche, die unsinnige Teilung der Ministerien festzuschreiben, abgewehrt wurden. Die Verteilung der Regierungsfunktionen auf zwei Standorte, nämlich Bonn und Berlin, ist teuer und ineffizient, beispielsweise weil Bundesbeamte regelmäßig für kurze Termine bei den Ministerien und im Parlament nach Berlin reisen müssen. ({6}) Wir haben Deutschland und Berlin geeint. Wir sollten nicht die Regierungsfunktionen dauerhaft getrennt lassen. ({7}) Ich habe schon am 3. Juni 1991 gesagt: Wenn der Bundestag sich mit knapper Mehrheit für Berlin entscheiden sollte, gehe ich lieber nach Berlin, als einem Kompromiss über die Teilung der Hauptstadtfunktionen zuzustimmen. ({8}) Drittens. Art. 20 des Grundgesetzes sieht als Ausdruck der bundesstaatlichen Ordnung eine Einstandspflicht des Bundes und der Länder vor. Föderalismus bedeutet eben nicht nur Länderhoheit, sondern auch Länderverantwortung. Die enorme Schuldenlast Berlins ist nicht alleine hausgemacht. Sie ist vor allem teilungsbedingt und beruht in hohem Maße auf dem zu schnellen Rückzug des Bundes aus der Finanzierung Berlins. ({9}) Es ist wenig bekannt, dass die Berlinförderung bis 2002 um rund 40 Milliarden Euro gekürzt wurde ({10}) der größte und vor allem schnellste Subventionsabbau in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. ({11}) Es wird vielleicht die entscheidende Aufgabe Berliner Politik im nächsten Jahrzehnt sein, Verständnis dafür zu wecken, das alle Deutschen, alle Bundesländer und die Bundesregierung eine Mitverantwortung für ihre Hauptstadt haben. Berlin soll ein Leuchtturm für das gesamte Land sein. Die Hauptstadt ist eine nationale Aufgabe. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nein, Frau Lötzsch, ich lasse keine Zwischenfrage mehr zu, weil Herr Pflüger seine Redezeit bereits überzogen hat, und zwar massiv. Herr Kollege Pflüger, ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Die Berliner Politik darf allerdings nicht nur die Hand aufhalten. Sie muss auch nachweisen, dass sie eigene, nachhaltige Anstrengungen unternimmt und mit konzeptionellen Beiträgen wieder ein Motor und Vorreiter der deutschen Politik sein kann. Danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort zu einer Kurzintervention der Kollegin Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Damen und Herren! Da ich keine Zwischenfrage mehr stellen konnte, muss ich zum Mittel der Kurzintervention greifen. Natürlich freuen wir Berlinerinnen und Berliner uns über jeden, der für die Interessen der Hauptstadt eintritt. Mich würde aber einmal interessieren, ob es gelungen ist, von der Finanznot Berlins, die Sie hier vorgetragen haben und über die ich mit Ihnen völlig übereinstimme, zumindest 50 Prozent Ihrer eigenen Fraktion zu überzeugen. ({0}) Vielleicht könnten wir eine Aussage der CDU/CSUFraktion dazu erhalten. Ich hoffe sehr, dass wir in den Haushaltsberatungen auch haushaltswirksame Vorschläge von der Koalition erhalten, wie die Finanzierung Berlins gestaltet werden kann. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Pflüger, bitte.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, das ist eine nationale Aufgabe. Wir alle müssen daran mitarbeiten, das Verständnis dafür zu wecken und zu stärken. Allerdings kommt es dafür sehr auf die Töne und die Politik in Berlin selbst an. Die Berliner können eben nicht bloß die Hand aufhalten, wie es der Senat tut und wie es zum Beispiel Herr Wowereit getan hat. ({0}) - Sie haben mich herausgefordert mit dieser Kurzintervention. Dann müssen Sie auch erdulden, wenn ich meine Meinung dazu sage. ({1}) Herr Wowereit hat gesagt: Im Jahr 2015 werden alle unsere Finanzprobleme beseitigt sein; denn der Bund muss ja bezahlen laut dem Bundesverfassungsgerichtsurteil. Ich unterstütze ausdrücklich, dass das Bundesverfassungsgericht angerufen worden ist, um ein Normenkontrollverfahren durchzuführen. ({2}) Ich glaube, dass vom Bund mehr für Berlin getan werden muss. Frau Kollegin, ich glaube aber auch, dass es dringend notwendig ist, dass Berlin auch seine Beiträge leistet. Solange Rot-Rot die Stadt regiert, wird die Bereitschaft anderer, Berlin zu helfen, relativ gering ausfallen. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Tillmann, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der einen Gruppe von Rednern geht das Föderalismusgesetz zu weit, der anderen Gruppe, der Opposition, geht es nicht weit genug, was bei mir klar den Eindruck erweckt, dass wir mit dieser Reform genau richtig liegen, nämlich exakt in der Mitte dessen, was hinsichtlich der Zuständigkeitsverteilung zwischen dem Bund und den Ländern machbar war. ({0}) Bei dem Punkt, die Kommunen vor kostenträchtigen Gesetzen zu schützen, indem wir dem Bund durch Art. 84 GG versagen, dass er Aufgaben an die Kommunen übergeben kann, liegen wir absolut richtig. Lieber Kollege Burgbacher, er konnte das auch bisher nicht ohne die Zustimmung der Länder. Bisher war es aber so, dass die Länder dem Bund finanzielle Erstattungen abgehandelt und diese nicht in jedem Fall an die Kommunen weitergeleitet haben. So wird es künftig nicht mehr gehen. Über die Landesverfassung wird das Konnexitätsprinzip für die Kommunen eingeführt. Diesen entscheidenden Schritt können wir mit dieser Föderalismuskommission erreichen, wenn wir dem zustimmen. ({1}) Wir liegen mit unseren Regelungen bezüglich des nationalen Stabilitätspakts absolut richtig, indem wir die Verantwortung für die Verschuldung des Gesamtstaatshaushaltes auf den Bund und die Länder verteilen. Erstmalig können wir die Verantwortung der Länder, die sich bereit erklärt haben, bei Nichteinhaltung des Defizitkriteriums einen Teil der Haftungssumme zu bezahlen, mit in die Verfassung aufnehmen. Das ist ein guter Schritt hin zur Haushaltskonsolidierung. Liebe Kollegen der Linken, das nützt gerade den neuen Ländern, die sich Mühe geben, ihre eigenen Landeshaushalte in Ordnung zu bringen, weil sie die Solidarität der anderen ansonsten überstrapazieren und die Kosten, die andere verursachen, mittragen müssten. Wir sind absolut auf dem richtigen Weg, wenn wir die Finanzverwaltungen vereinheitlichen. Allein 15 Milliarden Euro Umsatzsteuer können wir heben, wenn es uns gelingen würde, ein bundeseinheitliches Verfahren bei der Finanzverwaltung einzuführen. Wir werden das mit dem Föderalismusreform-Begleitgesetz und der Änderung des Finanzverwaltungsgesetzes tun. Ich bin mir sicher, dass diese 15 Milliarden Euro, die uns durch den Umsatzsteuerbetrug verloren gehen, erheblich besser in Bildung oder Forschung eingesetzt werden könnten. Mit diesem Gesetz haben wir die Möglichkeit dazu. ({2}) Wir übertragen die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau zum Teil in die Kompetenz der Länder. Hinsichtlich der überregionalen Mittel bleibt der Bund zuständig. Diese 700 Millionen Euro übertragen wir an die Landtage. Liebe Kollegen, ich bin etwas erschrocken darüber, wie Sie mit den Kollegen in den Landtagen umgehen. Die Aussage, dass all das, was wir tun, von Weisheit geprägt ist, mag ich ja noch unterstützen, ({3}) dass Sie die Landtagskollegen aber so behandeln, als seien das alles unverantwortliche Deppen, kann ich nicht mittragen. ({4}) Ich glaube, dass die Landtagsabgeordneten sehr verantwortungsbewusst mit ihren Bürgerinnen und Bürgern umgehen. ({5}) - Auch die der FDP. ({6}) Aufgrund der Erfahrungen mit dem Solidarpakt II haben wir natürlich dafür gesorgt, dass uns für den Fall, dass diese Mittel nicht ordnungsgemäß eingesetzt werden, diesmal Sanktionen zur Verfügung stehen. Bis 2013 ist die investive Zweckbindung im Bereich des Hochschulbaus sichergestellt und auch nach 2013 besteht die Verpflichtung, diese Mittel für investive Maßnahmen zur Verfügung zu stellen. Wir werden das selbstverständlich kontrollieren. An dieser Stelle hätte ich Frau Sager sehr gerne erklärt, warum sie Unrecht hat, wenn sie sagt, dass es nicht mehr möglich ist, dass der Bund die Länder in der Bildung unterstützt. Sie sagt, durch die Streichung der Finanzhilfen sei es nicht mehr möglich, dass sich der Bund an Länderaufgaben beteiligt. - Das stimmt so einfach nicht; denn in unserer Verfassung ist vorgesehen, dass die Aufgaben von Bund und Ländern mit den erforderlichen finanziellen Einnahmen unterlegt werden. Es ist überhaupt kein Problem, das Finanzausgleichsgesetz zu verändern und den Ländern mehr Umsatzsteuerpunkte zukommen zu lassen. Aber damit sind wir als Bundestagsabgeordnete in der Verpflichtung, zu überprüfen, ob es wirklich stimmt, dass der Bund für seine Aufgaben viel zu viel Geld erhält und die Länder für ihre Aufgaben zu wenig Geld bekommen. Wir als Bundespolitiker tragen die Verantwortung für den Bundeshaushalt. Ihr sollten wir uns stellen. Das Einzige, was durch die Streichung im Art. 104 a des Grundgesetzes bei den Finanzhilfen nicht mehr möglich ist, sind kurzfristige Programme, die der Bildungspolitik gar nicht angemessen sind; denn wir sind uns einig, dass Bildungspolitik eine langfristige Aufgabe ist. Beim Finanzausgleichsgesetz sollten wir gemeinsam überprüfen, wer tatsächlich zu viel Steuereinnahmen aus dem Umsatzsteueraufkommen erhält: die Länder oder wir. ({7}) Gegebenenfalls muss man bei beiden auf Haushaltsdisziplin und vielleicht auch auf die richtige Schwerpunktsetzung achten. ({8}) Der Blick auf den Haushalt und die Haushaltsdisziplin hilft gerade den neuen Ländern. Ich bin sehr froh, dass sich die Föderalismuskommission ausdrücklich zum Solidarpakt II bekannt hat. Aber ich sage auch: Je schlechter die Haushaltssituation des Bundes wird, umso größer ist natürlich die Gefahr, dass wir als Bund die 51 Milliarden Euro, die bis 2019 fließen sollen, nicht zur Verfügung stellen können. Deshalb ist es im eindeutigen Interesse der neuen Länder, auf die Haushaltsdisziplin des Bundes zu achten. Wir brauchen den Solidarpakt II. Wir brauchen diese Sicherheit. Deshalb brauchen wir konsolidierte Haushalte, sowohl im Bund als auch bei den Ländern. ({9}) Gegen diese Reform sind mehrfach Bedenken geäußert worden. Wer an den Beratungen der letzten Jahre teilgenommen hat, der weiß, dass dies ein sehr ausgeklüngeltes System ({10}) - ausgeklügelt - der Berücksichtigung der Interessen von Bund, Ländern, Kommunen und Bürgern ist. Jeder, der Änderungswünsche hat, soll diese selbstverständlich vortragen. Wir nicken diese Reform nicht einfach ab. Aber jeder muss sich auch die Frage stellen, ob sein persönliches Anliegen, das er zu Recht vorbringt, tatsächlich dazu geeignet ist, die Gesamtreform scheitern zu lassen. Wir werden das aus den genannten Gründen nicht tun. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/813 und 16/814 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rückgewinnungshilfe und der Vermögensabschöpfung bei Straftaten - Drucksache 16/700 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Innenausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin für Justiz, Brigitte Zypries.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach diesen hehren Diskussionen über die Föderalismusreform kommen wir wieder zu konkreten Gesetzgebungsvorhaben zurück. Ich will gleich am Anfang ein Stichwort nennen, das auch im Zusammenhang mit der Föderalismusdiskussion gefallen ist, den Fleischskandal. Sie erinnern sich: Kriminelle Unternehmer haben verdorbenes oder unverkäufliches Fleisch umetikettiert, dann verkauft und dadurch hohe Gewinne erzielt. Das ist schlichter Betrug zulasten der Verbraucher, der strafrechtlich zu ahnden ist. Die Gewinne, die die Täter damit erzielt haben, können aber in vielen Fällen nicht rückabgewickelt werden. Wenn das so bleibt, dann heißt das: Verbrechen lohnt sich wirklich. Das darf nicht sein. Der Grund dafür, dass das derzeit noch so ist, ist eine Regelung im Strafgesetzbuch, die die Möglichkeit der Gerichte einschränkt, Gewinne aus Straftaten für verfallen zu erklären, also dem Täter das Geld wegzunehmen und das Eigentum daran auf den Staat zu übertragen. Bisher hat der Staat nur dann Zugriff auf Vermögenswerte aus Straftaten, wenn eine geschädigte Privatperson keinen Anspruch geltend macht. Stellt der Geschädigte Ersatzansprüche gegen den Betrüger, so kann ein Verfall des erlangten Geldes zugunsten des Staates nicht angeordnet werden, weil zunächst die Privatperson die Hand auf dem Geld hat. Das ist grundsätzlich richtig so, weil sich der Staat nicht auf Kosten der Opfer bereichern soll. Wenn aber derjenige, der betrogen wurde, seine Ansprüche gar nicht geltend macht, dann muss man die sichergestellten Gewinne an den Täter zurückgeben. Das kann erforderlich sein, weil der Schaden zu gering ist oder weil die Geschädigten nicht wissen, dass der Täter gefasst wurde. Es kann aber auch sein, dass die Geschädigten ihre Ansprüche deshalb nicht geltend machen, weil sie selbst vielleicht Schwarzgeld gewinnbringend anlegen wollten und um ihren Gewinn geprellt wurden. In dem Fall verzichtet der Betrogene aus nachvollziehbaren Gründen auf seine Ansprüche. Wir wissen aus der Praxis, dass das leider kein Ausnahmefall ist. Im Jahr 2004 haben die Strafverfolgungsbehörden zum Zweck der Rückgewinnung Vermögenswerte in Höhe von rund 145 Millionen Euro sichergestellt. Diese konnten nicht zugunsten des Staates für verfallen erklärt werden, weil noch Ansprüche der Geschädigten bestanden. Wenn diese ihre Ansprüche nicht geltend machen, fällt das Geld an die Täter zurück. Diese Regelung wollen wir ändern. ({0}) Wir wollen sicherstellen, dass die Täter solche Vermögenswerte in keinem Fall mehr zurückerhalten können. ({1}) Denn es ist völlig widersinnig, dass der Betrüger einen Anspruch auf Rückübertragung des durch Betrug erlangten Geldes hat. Um den Geschädigten künftig genug Zeit zu geben, ihre Rückgabeansprüche auch durchzusetzen, wollen wir die hierfür maßgebliche Frist verlängern. Zurzeit müssen die Opfer innerhalb von drei Monaten erklären, dass sie ihre Ansprüche geltend machen wollen; künftig soll diese Frist drei Jahre - gerechnet ab der Verurteilung des Angeklagten - betragen. Auch bei längerer Verfahrensdauer vor den Zivilgerichten erhalten damit die Opfer die Möglichkeit, einen - notfalls vorläufigen - Titel gegen den Verurteilten zu erwirken. ({2}) Verstreicht diese dreijährige Frist, ohne dass die Geschädigten ihre Ansprüche geltend gemacht haben, so fallen die sichergestellten Vermögenswerte künftig an den Staat und müssen nicht wieder an den Verurteilten herausgegeben werden. Ich glaube, wir haben eine gute Regelung gefunden, die sowohl den Interessen der Opfer - weil wir die Frist verlängern - als auch der Gerechtigkeit und damit dem Rechtsbewusstsein insgesamt dient. Die einzigen, die sich nicht freuen werden, sind die verurteilten Straftäter. ({3}) Aber denen wollen wir damit auch keine Freude machen. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Jörg van Essen, FDPFraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Opposition hat zu kritisieren, wenn die Regierung und die Koalition etwas falsch machen. Die Opposition hat aber auch Unterstützung zu leisten, wenn richtige Schritte unternommen werden. ({0}) Im Falle des vorliegenden Gesetzentwurfs kann aus unserer Sicht klar und eindeutig festgestellt werden, dass die richtigen Schritte vorgesehen sind. Für uns als FDP hat der Opferschutz immer im Mittelpunkt unserer Strafrechtspolitik gestanden. ({1}) Wir haben ein weiteres sehr wichtiges Ziel, nämlich bestehende bürokratische Hürden abzubauen. Wir haben bereits eine Fülle entsprechender Vorschläge im Deutschen Bundestag eingebracht. Das Vorhaben, die Hürden im Ablauf des Verfahrens zu reduzieren und damit die Rechtsstellung von Opfern zu verbessern, begrüßen wir außerordentlich. Wer erlebt, welche Auswirkungen eine Straftat auf die Opfer hat, weiß, dass alle Folgen, die eine Straftat nach sich zieht, bei ihnen ohnehin zu Problemen führen. Deshalb sollten wir es ihnen möglichst leicht machen, ihre Ansprüche geltend zu machen. ({2}) Außerordentlich gut gefällt uns auch ein weiterer Vorschlag. Es ist allgemein bekannt, dass in den meisten Fällen der erhoffte finanzielle Gewinn der Anlass zu einer Straftat ist. Die Täter wollen richtig abkassieren. Es geht aber nicht an, dass Vermögenswerte aus einer Straftat, die übrig geblieben sind, dem Täter selbst zufallen. Wenn sich kein Opfer gemeldet hat oder kein Opfer ermittelt werden kann, dann sollte besser der Staat die Vermögenswerte erhalten als der Täter selbst. Denn der Staat hat schließlich sehr viele Aufwendungen zu leisten, beispielsweise für die Strafverfolgung und die Finanzierung polizeilicher Aufgaben zur Aufklärung der Straftaten. Die dafür nötigen Mittel werden vom Steuerzahler aufgebracht. Deshalb begrüße ich es, dass das Geld letztlich wieder dem Steuerzahler zugute kommen soll, indem beispielsweise Verbesserungen bei der Strafverfolgung finanziert werden können. ({3}) Ich bitte Sie allerdings, zwei Anregungen zu berücksichtigen. Wenn das Geld nicht an den Täter zurückfallen soll, dann sollten wir überlegen, ob es nicht sinnvoll ist, wenigstens einen Teil davon für die Opferschutzorganisationen abzuzweigen. Der Weiße Ring beispielsweise - wer ihn kennt, weiß, wie wichtig die Arbeit ist, Opfer zu unterstützen und zu betreuen und viele andere Dinge zu tun - leidet, wie andere solcher Organisationen auch, immer an Geldnot. Ich fände es gut, wenn wir prüfen könnten, ob der Weiße Ring beispielsweise besser unterstützt werden kann. ({4}) und Josef Philip Winkler ({5})) Nach den vielen positiven Bemerkungen zum Schluss noch Folgendes: Wir haben ja in der 13. Legislaturperiode, damals noch unter der Federführung eines FDPgeführten Justizministeriums, den Versuch unternommen, die zum Teil sehr komplizierten Vorschriften in Bezug auf Verfall und Einziehung - ich gestehe, dass selbst ich als Oberstaatsanwalt bei dieser Problematik immer noch mal sicherheitshalber in die Kommentare geschaut habe, ({6}) weil das Ganze ziemlich kompliziert ist - zu vereinheitlichen und zu vereinfachen. Wir sollten bei den anstehenden Beratungen überlegen, ob wir diesen Weg nicht erneut beschreiten sollten. Wir würden der Praxis der Justiz damit ganz wesentlich helfen. Noch einmal zusammengefasst: Ich glaube, das sind gute und richtige Ansätze. Wir werden das unterstützen. Wir sollten in den Beratungen versuchen, das eine oder andere zu verbessern. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder, CDU/CSU-Fraktion.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Bundeskriminalamt hat im Bundeslagebild über Wirtschaftskriminalität des Jahres 2004 einen Schaden in der Bundesrepublik Deutschland aus Straftaten in Höhe von 10,4 Milliarden Euro festgestellt. In diesen Straftaten sind nicht Vergehen gegen die Abgabenordnung oder Zollvergehen enthalten. Wir können also mit Recht von hohen Schadenssummen sprechen. Wo bleibt das Geld? Würde dieses illegale Vermögen beim Täter verbleiben, entstünde in der Bevölkerung schnell der Eindruck, Straftaten lohnten sich. Deswegen ist es wichtig, dieses Vermögen schnell einzufrieren und im Wege der Vermögensabschöpfung dem Staat zuzuführen. Dies ist insbesondere im Bereich der organisierten Kriminalität erwünscht. Wenn das Geld bei den Tätern verbleibt, werden damit neue Straftaten geplant und durchgeführt und werden kriminelle Strukturen aufrechterhalten. Im Vergleich dazu ist der Vermögensverfall zugunsten des Staates die bessere Lösung. Aber muss es immer der Staat sein, der Zugriff auf dieses Geld haben soll? Nein. Die Lösung, die der Gesetzgeber gefunden hat, ist opferorientiert und nobel. Dort, wo Ansprüche des Opfers, der Geschädigten entstanden sind, soll das Geld nicht dem Staat zugeführt werden, sondern im Wege der so genannten Rückgewinnungshilfe dem Geschädigten zur Verfügung gestellt werden. Nun haben wir es aber oftmals mit Massendelikten zu tun, bei denen der Schaden des Einzelnen außerordentlich gering ist, die Schadenshöhe insgesamt aber außerordentlich hoch. Der Einzelne macht wegen 5,70 Euro Schadensersatzansprüche nicht geltend. Das führt in der Tat zu einem völlig frappanten Ergebnis. Die Geschädigten erheben keinen Anspruch auf ihr Geld und jeder von uns würde spontan sagen: In diesem Fall soll im Wege des nachgelagerten Verfalls das Geld an den Staat gehen. - Das ist nicht so. Der Bundesgerichtshof hat in einer Entscheidung aus dem Jahre 1984 - nachzulesen in der „NStZ“ 1984, Seite 409 - entschieden, dass es nämlich nicht darauf an komme, ob Geschädigte konkrete Ansprüche geltend machten, es genüge ({0}) - „Neue Zeitschrift für Strafrecht“ -, ({1}) wenn ein genereller Anspruch Geschädigter bestehe. Das führt zu dem unerwünschten Ergebnis, dass dann die beschlagnahmten und eingefrorenen Millionen- oder Milliardenbeträge an den Täter ausgezahlt werden müssen. Das soll mit diesem Gesetzentwurf zu Recht geändert werden. Der Weg, der mit diesem Gesetzentwurf eingeschlagen wird, ist richtig. Er dient dem Opferschutz und merzt verfahrenstechnische Schwierigkeiten aus. Dieses Gesetz stößt insbesondere auch bei der Richterschaft nicht auf Widerspruch; vielmehr wird es in all seinen Regelungen begrüßt. Kritik wird nur in zurückhaltender Weise angemeldet. Allerdings gibt es in einem Punkt berechtigte Kritik aus den Reihen der Strafverteidiger. Ich habe darüber gesprochen, dass das Vermögen bei Straftätern beschlagnahmt wird. Die vorgelagerte Beschlagnahme im Ermittlungsverfahren erfolgt aber nicht gegenüber einem Straftäter, sondern gegenüber einem Tatverdächtigen. Ein Tatverdächtiger ist noch nicht verurteilt. Hin und wieder enden Strafverfahren auch mit einem Freispruch. Für denjenigen, gegen den ein Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, spricht die Unschuldsvermutung. Nun ist es aber so, dass die Vermögensbeschlagnahme manchen mindestens genauso hart trifft wie eine lange Untersuchungshaft. Eine Vermögensbeschlagnahme kann sich für einen Unternehmer existenzvernichtend auswirken. Vergleichen wir einmal das Recht der Untersuchungshaft mit dem der Vermögensbeschlagnahme. Gegen die Untersuchungshaft gibt es ein filigran ausgearbeitetes Tableau von Rechtsmitteln durch zwei Instanzen. Dies ist bei der Vermögensbeschlagnahme nicht so. Wird Vermögen beschlagnahmt, steht demjenigen, der davon betroffen ist, das Recht der einfachen Beschwerde nach § 304 StPO - in Klammern für den Kollegen Benneter: Strafprozessordnung - zu, ({2}) während es dort, wo es um die Untersuchungshaft geht, die weitere Beschwerde nach § 310 StPO gibt. Das heißt, das Beschwerderecht ist im Untersuchungshaftrecht deutlich besser ausgebaut als im Bereich der Vermögensbeschlagnahme. Deswegen sollten wir uns Gedanken darüber machen, ob wir nicht im Bereich der Vermögensbeschlagnahme die weitere Beschwerde zulassen wollen. Außerordentlich erfreut hat mich die Rede des Kollegen van Essen. Natürlich mache auch ich mich dafür Siegfried Kauder ({3}) stark, dass beschlagnahmtes Vermögen, das nicht an die Geschädigten zurückgezahlt werden kann, an Opferschutzorganisationen geht. Sie haben sicherlich bemerkt, dass ich leuchtende Augen bekam, als der Weiße Ring als eine solche Institution erwähnt worden ist. Wir sollten aber im Rechtsausschuss zur Abrundung der Sache auch andere anstehende Probleme erörtern. Es gibt das Recht der Gewinnabschöpfung nach § 10 UWG. Dieser Paragraf lässt sich in das System des Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung nicht einfügen. Hier gibt es Wertungswidersprüche, die wir lösen sollten. Zudem gibt es eine enorme Unklarheit dadurch, dass der Staat zwar auf fest eingefrorenes Vermögen nicht zurückgreifen darf, wenn Geschädigte da sind, dass er aber nach der Entwurfsfassung des § 111 i Abs. 5 der Strafprozessordnung dann, wenn sich die Geschädigten nicht melden, das Vermögen nachgelagert einziehen kann. Im Strafgesetzbuch, im materiellen Recht, steht also, dass kein Zugriff auf Vermögen möglich ist, wenn Geschädigte da sind. Aber in der Strafprozessordnung steht genau das Gegenteil: Melden sich die Geschädigten nicht, dann dürfen wir das Vermögen im Wege des nachgelagerten Verfalls dem Staat zuordnen. Das sind noch Unebenheiten, über die wir im Rechtsausschuss diskutieren sollten. Zusammenfassend kann man aber sagen: Es handelt sich um den von Praktikern erarbeiteten Entwurf eines Gesetzes, das Unebenheiten in der praktischen Anwendung ausmerzt und deswegen begrüßenswert ist. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Sevim Dagdelen, die Fraktion Die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit der Vorlage, die wir heute behandeln, wird der Versuch unternommen, in der Praxis von Gewinnabschöpfung und Verfall Erleichterungen einzuführen und damit die Rechte der Verletzten zu stärken. Gleichzeitig geht es darum, dem Staat ein Auffangrecht hinsichtlich illegal erlangter Vermögen zu gewähren. Gerade den Opfern von Straftaten Möglichkeiten zu geben, den finanziellen Verlust zu minimieren, findet unsere Zustimmung. Wir sind gern bereit, mit Ihnen im Ausschuss über die Vor- und Nachteile der vorgesehenen Regelungen, bei denen es sich im Wesentlichen um Verfahrensfragen handelt, zu debattieren. Ich will jedoch aus Sicht meiner Fraktion auf ein Problem aufmerksam machen, welches von der Bundesregierung selbst im Gesetzentwurf angesprochen wird. Auf Seite 11 des Gesetzentwurfs heißt es: Gerade in Wirtschaftsstrafsachen mit hohen Schadenssummen oder einer Vielzahl von Geschädigten gestalten sich die Ermittlungen häufig kompliziert und umfangreich. Die Bundesregierung steht mit dieser Erkenntnis offensichtlich nicht allein. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 2. Dezember 2005 zum Aktenzeichen 5 StR 119/05 auf Seite 20 ausgeführt: Nach der Erfahrung des Senats kommt es bei einer Vielzahl von großen Wirtschaftsstrafverfahren dazu, dass eine dem Unrechtsgehalt schwerwiegender Korruptions- und Steuerhinterziehungsdelikte adäquate Bestrafung allein deshalb nicht erfolgen kann, weil für die gebotene Aufklärung derart komplexer Sachverhalte keine ausreichenden justiziellen Ressourcen zur Verfügung stehen. Weiter argumentiert der Bundesgerichtshof, dass diesem Fakt nur durch eine spürbare Stärkung der Justiz in diesem Bereich Rechnung getragen werden kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es uns nicht gelingt, im gesamten Bereich der Justiz Voraussetzungen zu schaffen, dass die so genannte Weiße-Kragen-Kriminalität wirksam bekämpft wird, wenn wir nicht sicherstellen können, dass Gerichte einigermaßen vernünftig ausgestattet sind, dann werden wir immer wieder über den kleinen, prozessualen Lösungsansatz reden müssen, den Sie hier präsentieren, nämlich über die Verlängerung von Fristen, wie in § 111 b Abs. 3 StPO vorgesehen. Angesichts der Ausstattung der Gerichte und der von der Praxis wahrgenommenen Unzulänglichkeiten der derzeitigen gesetzlichen Regelung werden eine Novellierung und Ergänzung der Vorschriften diese ganzen Probleme leider nicht beseitigen können. Wenn den Opfern von Wirtschaftsstraftaten wirklich geholfen werden soll und Wirtschaftsstraftaten angemessen verfolgt werden sollen, dann ist mehr nötig als eine Detailverbesserung im Verfahrensrecht. Damit die Vermögensabschöpfung tatsächlich einmal zu einer scharfen Waffe des Rechtsstaates und ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität werden kann, möchte ich dringend auffordern, neben dem jetzt vorgelegten Gesetzentwurf wirksame Mittel zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität oder Weiße-Kragen-Kriminalität zu ergreifen und nicht zuletzt die Justiz zu stärken. ({0}) - Darauf werden wir im Rechtsausschuss eingehen. Abschließend möchte ich zusammenfassen: Einer Reihe von Änderungen in den §§ 111 b ff. StPO, die die Sicherstellung von Vermögen effektivieren und erleichtern sollen, kann uneingeschränkt zugestimmt werden. ({1}) Mit dem Ziel verbesserten Opferschutzes ist die Verstärkung der Zurückgewinnungshilfe durch Erweiterung des Zulassungsverfahrens in § 111 g StPO gut vertretbar. Insgesamt bleibt jedoch das Recht der Vermögensabschöpfung - das hat mein Kollege Kauder ganz gut dargelegt - auch nach diesen vereinzelten Änderungen des Prozessrechts kompliziert und anwenderunfreundlich und das bisherige gesetzliche Regelungskonzept im Grundsatz unverändert. Ich danke. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen, hat seine Rede zu Protokoll gegeben1). Deswegen gebe ich das Wort dem Kollegen Dr. Peter Danckert, SPDFraktion.

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Ich bedanke mich dafür, dass ich hier als Letzter reden darf. ({0}) Ich hatte beinahe gehofft, dass wir das Thema ein biss- chen kontroverser behandeln könnten, aber ich vermute, dass wir einschließlich des Kollegen Jerzy Montag alle einer Meinung sind. Wenn man überhaupt eine kritische Anmerkung wa- gen darf, dann müsste man Sie, Frau Bundesministerin, fragen, warum diese Gesetzesinitiative erst jetzt gekom- men ist. Das Problem ist seit geraumer Zeit bekannt. Wir haben das Phänomen über Jahre gehabt, dass beschlag- nahmtes Vermögen, das dem Geschädigten nicht über- eignet werden konnte, weil er sich nicht gemeldet hat oder weil er Fristen verpasst hat, wieder dem Täter zuge- fallen ist. Das ist also kein ganz neues Phänomen. Aber nun liegt der Entwurf auf dem Tisch und wir werden si- cherlich im Rahmen der Beratungen im Ausschuss das eine oder andere miteinander besprechen können. Es sind durchaus - Herr Kollege van Essen ist leider schon weg - interessante Anregungen gekommen. Ich will aus meiner Sicht auf zwei Punkte aufmerk- sam machen, von denen ich glaube, dass man an ihnen im Rahmen der Ausschussberatungen arbeiten muss. Es ist durchaus positiv, dass wir diese Fristverlänge- rung auf drei Jahre haben. Für den Fall, dass die Rechts- kraft erst danach eintritt, verlängert sich diese Frist noch einmal. Das sind aber letztlich Steine statt Brot für den Geschädigten, den wir bei solchen Massendelikten im Auge haben. Es geschieht nämlich häufig, dass solche Urteile erster Instanz in Revision gehen, aufgehoben werden und wiederverhandelt werden. Ich schlage einfach einmal vor, dass wir darüber nachdenken, ob nicht die Rechtskraft der Punkt sein müsste, an dem für den Beginn der Frist angesetzt wird. Damit entstünde für den Geschädigten kein Nachteil, sondern nur ein Vorteil; denn das ist eine sichere Marke. Ich könnte mir Folgendes vorstellen: Jemand liest in der Zeitung von einem solchen Fall, von dem entsprechen- den Urteil, stellt fest, dass er selbst Betroffener ist, und fragt sich, ob er seine Ansprüche geltend machen soll; 1) Anlage 2 außerdem liest er, dass der Angeklagte Revision oder Berufung eingelegt hat. Der Zeitpunkt, an den angeknüpft wird, ist meines Erachtens ungeeignet. Ich glaube, dass die Rechtskraft ein besserer Zeitpunkt ist. Hier ist eben auch angesprochen worden, dass es sich häufig um Massenverfahren handelt. Das heißt, es gibt viele Geschädigte. Ich wage noch nicht, mir so richtig vorzustellen, was das für die Feststellung im Urteil bedeutet. Da gibt es sicherlich ein gewisses Problem. Schließlich muss man irgendeinen Anknüpfungspunkt für denjenigen haben, der Ansprüche geltend macht. Vielleicht ist es zweckmäßiger, eine Art Pfleger für die betroffenen Geschädigten einzusetzen, der das außerhalb des eigentlichen Justizbereiches regelt und sich nur mit der Abwicklung dieser vermögensrechtlichen Ansprüche befasst, anstatt Heerscharen von Rechtspflegern zu beschäftigen. Ich bin durchaus der Meinung, dass die Gerichte und die Rechtspfleger anders als dadurch beschäftigt werden müssten. Es besteht Bedarf, darüber nachzudenken, was das geeignete Instrumentarium ist. Wir sind hier jedenfalls auf dem richtigen Wege. Uns liegt endlich ein Gesetzentwurf vor. Ich hoffe, dass die Beratungen im Rechtsausschuss sehr schnell zum Abschluss kommen, ({1}) damit wir auch im Plenum in der zweiten und dritten Beratung zu einem Ergebnis kommen. Angesichts der Einigkeit, die zwischen uns herrscht, besteht nur noch Raum für einige diskussionswürdige Änderungen oder Ergänzungen. Wenn dieses Gesetz verabschiedet wird, haben wir das erreicht, was wir erreichen wollen, nämlich eine Verbesserung der Rechtslage der Geschädigten. Außerdem haben wir dann endlich sichergestellt, dass die Täter nicht im Nachhinein von ihren Straftaten profitieren. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/700 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten HansJoachim Otto ({0}), Christoph Waitz, Dr. Claudia Winterstein, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({1}) - Drucksache 16/387 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({2}) Rechtsausschuss ({3}) Federführung strittig Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Otto, FDP-Fraktion. ({4})

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Mittel der öffentlichen Hand für Kulturförderung sind in den vergangenen Jahren drastisch weiter gekürzt worden. Nach einer soeben veröffentlichten Antwort der Bundesregierung ist die Gesamtsumme aller öffentlichen Kulturausgaben von 2001 bis 2004, also in nur drei Jahren, von 8,4 Milliarden Euro auf 7,8 Milliarden Euro zurückgeführt worden. Das ist weniger als der Etat der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Ich halte das für ein Armutszeugnis für die Kulturnation Deutschland. ({0}) Wenn man sich die Zahlen genauer anschaut, stellt man fest, dass vor allen Dingen die Länder - minus 250 Millionen Euro - und die Kommunen - minus 230 Millionen Euro innerhalb von nur drei Jahren - für die Kürzungen verantwortlich sind. Dass dies aber nicht allein auf die angespannte Haushaltslage und die allgemeinen Sparzwänge zurückzuführen ist, zeigt die Entwicklung des Anteils der Kulturförderung am Bruttoinlandsprodukt. Von 2001 bis 2004 ist er von 0,41 Prozent auf 0,36 Prozent abgerutscht. Meine Damen und Herren, gerade einmal ein Drittel Prozent für die Kultur! Einen deutlicheren Beleg für die Notwendigkeit des Staatsziels Kultur kann man sich wohl kaum vorstellen. Mehr denn je ist es erforderlich, ein klar vernehmbares Zeichen für die Kultur zu setzen. Mir, uns allen ist dabei völlig klar, dass auch ein Staatsziel Kultur im Grundgesetz keinen einklagbaren Anspruch auf eine konkrete Förderung beinhaltet. Die Anhörung der bedeutendsten Verfassungsrechtler in der Kultur-Enquete hat aber ergeben, dass das Staatsziel Kultur durchaus in doppelter Hinsicht Wirkung entfaltet. Dieses Staatsziel wird - wie alle übrigen Staatsziele - Ermessens- und Beurteilungsspielräume bei Gerichten und bei der Finanzverwaltung eröffnen. Diese Ermessensspielräume wären für jeden Kulturdezernenten zumindest eine große Hilfe bei der Abwehr weiterer Kürzungen; Kultur ist bekanntermaßen keine kommunale Pflichtaufgabe. Vor allem aber wäre ein solches klares Bekenntnis des Staates zu seiner Kultur ein ganz bedeutsames politisches Signal, ein Signal, dass Kultur nicht nur ein Sahnehäubchen in guten Zeiten ist, sondern gerade auch in schlechten Zeiten die Gesellschaft im Kern zusammenhält. ({1}) Auch verfassungssystematische Gründe sprechen für das Staatsziel Kultur. Wenn die natürlichen Lebensgrundlagen in Art. 20 a Grundgesetz geschützt sind, müssen wir konsequenterweise auch die geistigen und ideellen Grundlagen unserer Gesellschaft schützen. Die beiden Staatsziele „Schutz der Kultur“ und „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen“ sind zwei Seiten einer Medaille. Dies könnte man - jetzt schaue ich zu den Sozialdemokraten - von einem etwaigen Staatsziel Sport nicht sagen, zumal der Sport finanziell viel besser dasteht; da brauche ich nur an die Fußball-WM oder die Olympiade zu denken. ({2}) Nach dem einstimmigen und abschließenden Votum der Kultur-Enquete - jetzt schaue ich zur Union - muss das Plenum Farbe bekennen: Wie halten wir es mit der Kultur? Die FDP geht dabei mit gutem Beispiel voran.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Börnsen?

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Beim Kollegen Börnsen immer. ({0})

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir gehen ja fair miteinander um. Herr Kollege, Sie haben eben den bedeutungsvollen Satz gesagt: Die FDP geht mit gutem Beispiel voran. Das hören wir gern. Hier sitzen Kulturpolitiker, die alle im Grundsatz Ihrer Auffassung sind. Wenn die FDP mit gutem Beispiel vorangeht, frage ich Sie: Wo sind bisher die Signale aus den fünf Bundesländern, in denen die FDP mitregiert? Aus keinem dieser Bundesländer gibt es bisher ein Beispiel dafür, dass man sich in der langjährigen Diskussion zum Thema Staatsziel öffentlich dazu geäußert hat. Sie wissen darüber hinaus, dass eine Verfassungsänderung nur mit Zweidrittelmehrheit erreicht werden kann und die FDP im Bundesrat die entscheidenden Stimmen hat. Wo ist da der Vorbildcharakter der FDP, Herr Kollege? ({0})

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Börnsen, für diese Frage. - Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass die FDP bisher - wir werden das ändern - noch keinen Ministerpräsidenten und keinen einzigen Kulturminister in den Ländern stellt. ({0}) Es gibt bisher nur öffentliche Äußerungen von Ministerpräsidenten, interessanterweise auch von solchen aus unionsregierten Ländern, aber keine öffentliche ÄußeHans-Joachim Otto ({1}) rung eines Kulturpolitikers der FDP gegen das Staatsziel Kultur. ({2}) Nennen Sie mir eine solche öffentliche Äußerung! Wenn Sie das können, dann würde ich das ernst nehmen. Ich möchte Ihnen noch etwas sagen, Herr Kollege Börnsen: Die Voten, die einzelne Ministerpräsidenten ohne Rücksprache mit ihrem Koalitionspartner vorschnell abgegeben haben, müssen nicht das letzte Votum sein. Wenn Sie dabei mithelfen, dass hier vom Bundestag ein klares Signal gesendet wird, dann möchte ich den Ministerpräsidenten oder den Landtag sehen, der bei der Verankerung eines Staatsziels Kultur nicht mitmacht! ({3}) Meine Damen und Herren, der Kollege Börnsen hat mit Recht festgestellt: Die FDP geht mit gutem Beispiel voran. ({4}) Dabei werde ich immer wieder gefragt, warum ausgerechnet die FDP, die sich doch sonst immer für weniger Staat und für eine Stärkung der Zivilgesellschaft einsetzt, so vehement für das Staatsziel Kultur kämpft. Die Antwort ist einfach: Die Ziele bedingen einander. Internationale Erfahrungen belegen: Die Zivilgesellschaft lässt sich nur dann für die Kultur begeistern, wenn sich der Staat nicht gleichzeitig zurückzieht; denn kein Förderer, kein Mäzen will seine Spende dem Finanzminister oder dem Stadtkämmerer geben, sondern er will, dass sie der Kultur zugute kommt. ({5}) Daher brauchen wir - das sage ich ganz bewusst auch als Liberaler - eine verlässliche und stetige Grundfinanzierung der Kultur durch den Staat, auf deren Fundament eine hoffentlich wachsende private Förderung aufsetzen kann. ({6}) ({7}) Diese Zusammenhänge gebieten es auch - jetzt schaue ich in Richtung der beiden großen Fraktionen -, dem Kulturausschuss und nicht dem ohnehin völlig überlasteten Rechtsausschuss die Federführung für diesen Gesetzesantrag zu übertragen. ({8}) Abschließend, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, möchte ich aus der klugen „FAZ“ zitieren, die dieser Tage auf der ersten Seite kommentierte, ({9}) „politische Klugheit, ökonomische Vernunft und intellektuelle Selbstachtung“ geböten es, Kultur auch ohne Staatsziel großzügig zu fördern. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die immer wieder gemachten Erfahrungen mit desaströsen Kulturetats der Länder und Kommunen rufen nach einer verfassungsrechtlichen Absicherung des Staatsziels Kultur ({10}) aus politischer Klugheit, aus ökonomischer Vernunft und vor allem auch aus intellektueller Selbstachtung. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann von der CDU/CSU-Fraktion.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland, das Land der Dichter und Denker, die Heimat von Beethoven und Bach, ohne ein staatliches Bekenntnis zur Kultur - undenkbar? Nein! Die Mütter und Väter unserer Verfassung haben dem Staat viele Ziele ins Grundgesetz geschrieben; zuletzt wurde der Schutz der Tiere und der Natur aufgenommen. Aber Schutz und Förderung von Kultur als unserer ideellen Lebensgrundlage sind nicht positiv verankert, und das, obwohl Deutschland sich immer als Kulturstaat verstanden hat. Zu Recht, denn Kunst und Kultur sind Teile unserer Identität. Unsere gemeinsame Kultur hat die Deutschen in den Zeiten der Teilung über Mauer und Stacheldraht hinweg als Einheit verbunden. Wir begreifen Kunst und Kultur als unverzichtbar für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. ({0}) Sollten wir dann nicht das Bekenntnis, ein Kulturstaat zu sein, in unserer Verfassung zum Ausdruck bringen, meine Damen und Herren? Diese Frage wird seit 1981 debattiert. Die Mitglieder der letzten Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ haben sie mit Ja beantwortet. Sie empfahlen nach langer Beratung einstimmig, das Grundgesetz um einen Artikel 20 b „Der Staat schützt und fördert die Kultur“ zu ergänzen. ({1}) Über diese Empfehlung debattieren wir heute, auch kontrovers. Schließlich geht es um die Änderung unserer Verfassung. Deshalb finde ich auch, dass das Vorpreschen der FDP dem Anliegen schadet. ({2}) Es bedarf Zeit, Mehrheiten für eine Verfassungsänderung zu gewinnen. Auch aus den Bundesländern - darauf hat der Kollege Börnsen zutreffend hingewiesen -, in denen die FDP mitregiert, gibt es noch keine Signale dafür. Kultur ist ein besonderes Gut und eignet sich nicht für Wahlkämpfe. ({3}) Lassen Sie uns deshalb die Zeit nehmen, Zweifler gemeinsam zu überzeugen. Es gibt auch grundsätzliche Bedenken, die ich respektiere, so das Argument der Ordnungspolitik. Unsere Verfassung zeichnet sich aus durch Purismus, durch Zeitlosigkeit. Sie ist eben gerade kein Warenhauskatalog, der sein Angebot von Saison zu Saison ändert. ({4}) Bedarf es da wirklich einer Kulturstaatsklausel? Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht doch wiederholt Deutschland als Kulturstaat bezeichnet. Selbstverständliches zu regeln, sei eben überflüssig, ja sogar schädlich im Hinblick auf nicht zu erfüllende Erwartungen, und schließlich liege ja die Kulturhoheit bei den Ländern. So die Argumente gegen die Verankerung der Kulturstaatsklausel. Aus meiner Sicht greifen aber diese Argumente zu kurz. Allein das Bekenntnis des Bundesverfassungsgerichts reicht nicht; denn es gibt nicht nur dogmatische Kritik gegen die Herleitung aus Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes. Es kann auch nicht in der Hand eines Gerichtes liegen, ob und wie wir uns definieren. ({5}) Hier besteht eine Lücke. Es liegt in der Entscheidung des Gesetzgebers und damit an uns, ob und wie wir sie schließen wollen. Eine Kulturstaatsklausel würde auch nicht in die Kulturhoheit der Länder eingreifen; sie ist föderalismusneutral. ({6}) Für das Kompetenzgefüge von Bund und Ländern ergäben sich dadurch keine Änderungen. Ich verweise dabei immer gerne auf Art. 7 Abs. 1, nach dem das Schulwesen unter die Aufsicht des Staates gestellt ist. Niemand würde das als Angriff auf die Bildungshoheit der Länder verstehen. Es ist richtig, dass Staatszielbestimmungen keine konkreten individuellen Ansprüche begründen. Aber ein Staatsziel Kultur würde nicht nur jedem Gericht als Auslegungs- und Anwendungsmaßstab für einfaches Recht gelten. Es könnte auch vor dem Bundesverfassungsgericht gegenüber Gesetzen in Ansatz gebracht werden. ({7}) Es würde auch die Gemeinden binden, dass Freiwilligkeit nicht mehr als Beliebigkeit verstanden werden dürfte. ({8}) Der Kollege Otto hat die Zahlen erwähnt. ({9}) Ich habe Ihnen dargelegt, dass es keine juristischen Gründe gegen die Aufnahme einer Kulturstaatszielbestimmung gibt, sondern sogar rechtliche, die dafür sprechen. Damit ist das Feld des demokratischen Prozesses und der politischen Entscheidung eröffnet. Wenn ich mich persönlich heute hier für die Verankerung von Kultur ausspreche, dann hat das im Wesentlichen einen Grund: Kultur ist kein Ornament. Sie ist das Fundament, auf dem unsere Gesellschaft steht und auf das sie baut. Ich frage Sie alle: Was wären wir ohne Kultur? Eine gesichtslose, sprachlose Masse - ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. ({10}) Kindern versuche ich die Bedeutung des Begriffs Kultur immer mit einem Bild deutlich zu machen. Ich frage sie: Stellt euch vor, ihr lauft in 100 Jahren, im Jahre 2106, durch Berlin. Was wird euch an das Jahr 2006 erinnern, was wird vom Jahre 2006 bleiben? Natürlich auch diese Parlamentsdebatte; sie wird abgeheftet sein. Sicherlich wird sich auch der eine oder andere von uns in Geschichtsbüchern wiederfinden, aber eben in der Geschichte als kultureller Fähigkeit. Kinder begreifen das. Sie antworten mir immer dasselbe: Wir werden uns erinnern an die Gebäude unserer Zeit, die Architektur. Wir werden uns erinnern an die bildende Kunst dieser Zeit, vielleicht eine Bildhauerarbeit, an die Gemälde, die in Galerien hängen. Wir werden uns erinnern an die Musik dieser Zeit, nicht Daniel Küblböck, aber an die Beatles oder eine Komposition, die aufgenommen worden ist von einem Klangkörper dieser Zeit. Meine Damen und Herren, das Einzige, was von einer Gesellschaft bleibt, ist ihre Kultur. Sollte sie uns deshalb nicht eines besonderen Schutzes wert sein? Ich glaube, ja. Deshalb bitte ich Sie inständig - die Kollegen, die heute hier sind, aber auch die Kollegen, die nicht da sein können, und die Bevölkerung, die uns zusieht -: Lassen Sie uns gemeinsam überzeugen, lassen Sie uns gemeinsam beraten, und zwar für die Aufnahme von Kultur als Staatsziel in das Grundgesetz. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Luc Jochimsen von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatsminister! „Der Staat schützt und fördert die Kultur.“ Dieser Satz als Grundgesetzartikel ist mehr als nur eine schön klingende Formulierung. Die europäische Kulturnation Deutschland stellt mit dieser Verpflichtung für sich einen Grundsatz auf; man könnte auch sagen: einen guten Vorsatz der Republik. In einer Zeit, da Kultur sich als globales Thema und auch als globaler Konfliktstoff erweist, halten wir, die Fraktion der Linken, es für sehr wichtig, uns zum Staatsziel Kultur zu bekennen, selbstbewusst einerseits, andererseits auch aus Sorge, dass ein fundamentales Erbe unseres Landes bedroht ist. Denn machen wir uns nichts vor: Die reiche Kulturlandschaft Deutschlands - ihre Theater, Museen, Opernhäuser, Konzertsäle, Bibliotheken, ihre Festspiele, auch ihre Abertausende lokalen und regionalen Projekte und vor allem ihre bisherigen Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche - steht auf der Kippe. Dabei geht es nicht allein um die dramatischen Kürzungen der Kulturhaushalte von Kommunen und Ländern, die zu Beginn dieser Debatte erwähnt wurden. Es geht auch um das Infragestellen von Kultur überhaupt angesichts einer aggressiv operierenden globalen Unterhaltungs- und Werbeindustrie, die die totale Sinnfreiheit feiert und sonst gar nichts. Ja, es geht um die Stärkung des Gewichts der Kultur in Konkurrenz mit anderen mächtigen Interessen, wenn wir dafür eintreten, das Staatsziel Kultur in unserem Grundgesetz zu verankern. Der Hinweis, dass man sich für einen Artikel im Grundgesetz nichts kaufen kann, verfängt nicht. Natürlich sind die Verfassung und die Verfassungswirklichkeit ein weites Feld. Aber glauben Sie mir, die ich als Mädchen, junge Frau und berufstätige Mutter die Geschichte der Bundesrepublik erlebt habe, dass die schrittweisen Veränderungen zur Gleichberechtigung nur möglich waren, weil die Gleichberechtigung im Grundgesetz stand und wir uns immer darauf berufen konnten, gerade auch in den vielen Jahren der offenkundigen Diskriminierung. Staatsziel Kultur als Versprechen für ein vielfältiges, reiches, auch alle unsere Minderheiten einbeziehendes Kulturleben, dafür sind wir sehr. Deshalb unterstützen wir auch den Gesetzentwurf der FDP. Mehr noch hätten wir eine große fraktionsübergreifende Initiative in dieser Sache begrüßt. Damit schließlich auch das klar ist: Wir sprechen uns nicht für eine Inflation von weiteren Staatszielen aus. Das Staatsziel Fußball brauchen wir meiner Meinung nach nicht. Kultur ist da ein besonderes Ding. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Siegmund Ehrmann von der SPD-Fraktion.

Siegmund Ehrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003521, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorrednerinnen und mein Vorredner haben dargestellt, vor welchem Hintergrund dieser Gesetzentwurf eingebracht wurde. In der Tat hat die Enquete-Kommission eine einstimmige Empfehlung ausgesprochen. Aber der Blick zurück zeigt, dass es ein mühsamer Prozess ist, eine solche Initiative zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. Es sind schon ein paar Etappen genannt worden. Bereits 1981 hat sich eine Regierungskommission mit diesem Thema auseinander gesetzt. Als Ausfluss des Einigungsvertrages gab es Anfang der 90er-Jahre eine Debatte über die grundsätzliche Sinnhaftigkeit der Staatsziele. Die Verfassungskommission ist in diesem Punkt aktiv geworden. Auch das Parlament hat sich damit beschäftigt und einige Staatsziele in die Verfassung aufgenommen. Das Parlament hat aber seinerzeit - das ist Fakt - mit Zweidrittelmehrheit abgelehnt, das Staatsziel Kultur in der Verfassung zu verankern. Es ist also ein streitiges Thema. Darüber wird unter Verfassungsrechtlern, aber auch hier im Plenum kontrovers diskutiert. Umso wichtiger war es, dass sich die Enquete-Kommission nicht auf alte Arbeitsergebnisse gestützt hat, sondern sich selbst die Mühe gemacht hat, im Rahmen einer sehr breit angelegten Expertenanhörung den - ich erlaube mir, das so zu formulieren - heutigen Stand der Technik abzufragen, die vorgetragenen Argumente für das Pro und Kontra gegenüberzustellen und nach sorgfältiger Abwägung letztendlich dieses einmütige Votum abzugeben. Der Kern des Anliegens ist von meinen Vorrednerinnen und meinem Vorredner schon herausgearbeitet worden. Natürlich entstehen durch eine solche Grundgesetzänderung keine Ansprüche von einzelnen öffentlichrechtlichen Institutionen. Mit einem derart angelegten Staatsziel hat beispielsweise kein Theaterintendant einen Anspruch darauf, dass ein Schutzwall um seine Institution errichtet wird. Gleichwohl handelt es sich um ein qualifiziertes Abwägungsgebot für alle staatlichen Ebenen und muss von denen - auch das ist schon erwähnt worden -, die die Entscheidungskompetenz haben, angewendet werden. Damit wäre die Ergänzung des Grundgesetzes auf indirektem Wege sehr wohl ein ganz wichtiger kulturpolitischer Akzent. ({0}) Das war auch Auffassung der Enquete-Kommission. Die kritischen Einwände darf man natürlich nicht beiseite schieben. Es wird gesagt, es handele sich um einen Eingriff in den Föderalismus und um einen wirkungslosen Placeboeffekt. Es wird auch das Argument vorgetragen, dies widerspreche dem Charakter unserer Verfassung. Im Vergleich zur Weimarer Reichsverfassung sei das Grundgesetz anders angelegt. Es wird auch eingewandt, der Kulturbegriff sei zu unbestimmt und stelle für das Abwägungsgebot überhaupt keine Hilfe dar. Ich will einmal auf das letzte Argument eingehen. In der Enquete-Kommission ist unstreitig gewesen, dass der Kulturbegriff im öffentlich-rechtlichen Schrifttum gesichert ist. Ich glaube, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, dieses Thema anzugehen. Insofern, Herr Otto, machen Sie uns allen trotz anfänglicher Bedenken mit Ihrem Gesetzentwurf Feuer. ({1}) Wir sind nun in der Situation, zu Klärungen kommen und Bekenntnisse ablegen zu müssen. Insofern sind wir aus den großen Fraktionen aufgefordert, unsere internen Klärungsprozesse sorgfältig durchzuführen. Zumindest für die SPD-Fraktion kann ich an dieser Stelle sagen: Wir sind noch nicht an einem endgültigen Punkt angekommen. Aber unser Fraktionsvorsitzender hat heute Morgen in seiner grundlegenden Rede die Unterstützung dafür erbeten, im Rahmen der Föderalismusdebatte auch dieses Thema zu erörtern und anzusprechen. Ich finde, unter diesem Aspekt wäre es ein guter Beschluss, dass der Rechtsausschuss federführend ist. Es liegt dann an uns, den Kulturpolitikern, das Thema in der zu organisierenden Anhörung so zu unterfüttern, dass wir allen Kolleginnen und Kollegen im Hause Argumente für ihre persönliche Abwägung anbieten können, in der Hoffnung, dass es, anders als Anfang der 90erJahre, die nötige verfassungsändernde Mehrheit hierzu gibt. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Kai Gehring von Bündnis 90/Die Grünen.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren über einen Gesetzentwurf, mit dem das Staatsziel Kultur in das Grundgesetz aufgenommen werden soll. Die Anstöße dazu kamen aus dem Umkreis der Enquete-Kommission „Kultur“ in der letzten Legislaturperiode. Dieser Gedanke wurde zusammen mit dem Kulturausschuss weiter verfolgt. Wir freuen uns, dass Herr Otto und die FDP diese Initiative aufgreifen. ({0}) Wir sollten sie interfraktionell vorantreiben, und zwar auch im Kulturausschuss. ({1}) Rechts- und Kulturausschuss müssen die entscheidenden Orte der Debatte sein. Wir brauchen also eine intensive Mitberatung im Kulturausschuss. Staatszielbestimmungen sind Richtlinien für staatliches Handeln auf allen Ebenen sowie für die Auslegung von Gesetzen und sonstigen Rechtsvorschriften. Das ist viel und wenig zugleich. Mit dem Staatsziel Kultur haben wir wenig Konkretes gewonnen. Das ist, glaube ich, allen klar. Trotzdem geht es nicht bloß um eine symbolische Aktion. Wir betonen mit einer solchen Staatszielbestimmung den Stellenwert von Kultur in juristischen und politischen Entscheidungsprozessen. ({2}) Das kann das Gewicht von Kultur steigern. ({3}) Wenn wir es schaffen, Kultur als Staatsziel zu verankern, fängt die Arbeit übrigens erst an. Dann gilt es, dieses Ziel mit Leben zu füllen. Wir wissen, wie hart die wirtschaftliche und soziale Situation für viele Künstlerinnen und Künstler ist und in welch harten Abwehrkämpfen die Kultur gegenwärtig steht. In Zeiten knapper Kassen stehen die Ausgaben für Kultur unter einem starken Rechtfertigungsdruck. Offensichtlich ist bei uns immer noch die Ansicht verbreitet, dass Kultur nettes, schmückendes Beiwerk ist, das im Zweifelsfall auch wegfallen kann. Mit der Bestimmung eines Staatsziels Kultur können wir einem solchen Denken ein Stück weit entgegentreten. Kultur ist nicht Beiwerk, sondern Lebenselixier; davon bin ich überzeugt. ({4}) Der Mensch als soziokulturelles Wesen ist angehalten, die kulturellen Bedingungen seiner Existenz ebenso zu schützen wie die natürlichen Lebensgrundlagen. ({5}) Eine Bestimmung, nach der der Staat die Kultur schützt und fördert, wäre eine logische Ergänzung des Art. 20 a, der ja den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen festschreibt. ({6}) Eine solche Bestimmung wahrt auch die notwendige Allgemeinheit. Es geht nicht um irgendeine Staats- oder Leitkultur, die hier verordnet wird. Es geht um den Schutz des lebendigen und pluralen Prozesses der Kultur, der sehr elementar für unser Leben ist. Bei der näheren Begründung des Staatsziels Kultur sollten wir nicht nur den Erhalt der bereits bestehenden Kultur in ihrer Vielfalt und Breite betonen, sondern auch die Bedingungen ihrer Entwicklung und Vermittlung. Es geht um die Freiräume, in denen Neues entsteht. Es geht auch um faire Chancen des Zugangs zu Kultur. Der UN-Sonderberichterstatter für Bildung, Muñoz, hat der Bundesrepublik für die Gerechtigkeitsdefizite ihres Bildungssystems sehr schlechte Noten ausgestellt. Ich bin mir sicher: Diese Kritik ließe sich auch mit Blick auf den Zugang zu kultureller Bildung formulieren. Gerade hier, bei der kulturellen Bildung, brauchen wir große Anstrengungen. Kultur ist kein schmückendes Beiwerk, sondern ein Raum der Begegnung, der ästhetischen Kommunikation. ({7}) Ein Gemeinwesen, das sich um die lebensweltlichen Fundamente von Demokratie sorgt, das soziale Integration und nicht Ausgrenzung anstrebt, muss Kultur fördern und schützen. Eine Staatszielbestimmung Kultur wäre ein angemessener Ausdruck eines solchen Anspruchs. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Bär von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Staatsminister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin enttäuscht, Herr Kollege Otto, ({0}) dass Sie zwei Wochen vor drei Landtagswahlen dieses Thema hier aufgreifen. Ich bin nämlich der Überzeugung, dass die Art und Weise Ihrer Rede diesem wichtigen Thema nicht gerecht wird. ({1}) Wir debattieren heute über eine Frage, die nicht einfach mit Ja oder Nein beantwortet werden kann. Das haben wir schon in den vorangegangenen Reden gehört. Dennoch tendiere ich heute Bezug nehmend auf Ihren Gesetzentwurf bei einer 51-zu-49-Prozent-Abwägung eher zu einer Ablehnung des Gesetzentwurfs der FDP. ({2}) Ich möchte das nicht ausschließlich an inhaltlichen Punkten festmachen, sondern auch an der Art und Weise, wie die FDP mit diesem Thema umgeht. Darauf komme ich aber später noch zu sprechen. Es gibt für uns alle sehr gute Gründe, die Kultur als Staatsziel in unser Grundgesetz aufzunehmen. Meine Kollegin Frau Connemann hat bereits viele davon genannt. Es wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, dass wir den Schutz der Natur als Staatsziel - darüber kann man streiten - in unser Grundgesetz aufgenommen haben. Nachdem der Schutz der Natur als Staatsziel festgeschrieben wurde, kann man sich natürlich die Frage stellen, ob die Kultur nicht ebenfalls als Staatsziel gefördert ({3}) und geschützt werden sollte. ({4}) Ein Staatsziel Kultur würde Entscheidungsträgern auf allen politischen Ebenen angesichts knapper Kassen ein gewichtiges Argument an die Hand geben, wenn sie über den Kulturetat debattieren. ({5}) Damit wäre der Schutz unserer Kultur besser gewährleistet. ({6}) Trotzdem gibt es auch Gründe, die gegen eine Aufnahme des Staatszieles Kultur ins Grundgesetz sprechen. Ich denke, man darf bei einer Debatte über eine Grundgesetzänderung sowohl den Befürwortern als auch den Gegnern nicht die Ernsthaftigkeit ihrer Argumente absprechen. Ich habe lange an Vorschlägen zur Entbürokratisierung mitgearbeitet und mir dabei immer wieder einen Grundsatz von Montesquieu vor Augen gehalten: Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen. Die Frage, ob in diesem Fall ein Gesetz notwendig ist, haben sich viele unserer Kollegen gestellt. Ich bin mir sicher, dass alle Kulturpolitiker sich darin einig sind, dass die Kulturstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland von keiner Seite angezweifelt wird. Zudem haben wir in Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz als Grundrecht - nicht nur als Staatsziel - die Freiheit von Wissenschaft, Forschung, Lehre und Kunst garantiert. Darin drückt sich bereits aus, dass unser Staat Verantwortung für die Kultur übernimmt. Außerdem enthalten viele Landesverfassungen, beispielsweise die bayerische, Aussagen zum Schutz und zur Förderung der Kultur. Dass unser Staat Verantwortung für die Kultur übernimmt, zeigt sich auch in finanzieller Hinsicht. Bereits jetzt werden über 90 Prozent der Mittel für Kultur aus staatlichen Haushalten aufgebracht. Die Frage „Ist Kultur ein Staatsziel?“ stellt sich weiter. Das möchte ich an dieser Stelle betonen. Darüber hinaus möchte ich, dass wir uns sachlich und fair mit diesem Thema auseinandersetzen. Wir dürfen nicht nur die Argumente der Befürworter gelten lassen und ihnen Recht geben, wir müssen auch die Argumente der Gegner bewerten. Das ist ein sehr enger Abwägungsprozess. Wir haben uns in der Enquete-Kommission „Kultur“ sehr intensiv mit dem Thema befasst. Deswegen möchte ich, dass wir die Zeit, bis die Enquete-Kommission „Kultur“ zu einem Ergebnis gekommen ist, nutzen, um sowohl die Kräfte auf der einen als auch auf der anderen Seite zu mobilisieren. Diese Diskussion muss aber immer ergebnisoffen geführt werden, weil die Überlegungen mit Blick auf eine Grundgesetzänderung sehr wichtig sind. In der Enquete-Kommission wurde sehr lange darüber debattiert; darauf hat der Kollege Ehrmann bereits hingewiesen. Abschließend möchte ich sagen: Ich finde es einfach schofel von der FDP, dass sie das jetzt vor den Landtagswahlen machen will. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Otto.

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich verlängere Ihre Redezeit. - Liebe Frau Kollegin Bär, darf ich Ihnen mitteilen - hoffentlich mit Unterstützung der Obleute des Kulturausschusses -, dass die FDP-Fraktion monatelang versucht hat, einen gemeinsamen, fraktionsübergreifenden Antrag in dieser Frage geradezu wie sauer Bier anzupreisen, und dass Ihre Fraktion sich nicht in der Lage gesehen hat, diesen Antrag gemeinsam mit uns zu tragen? ({0}) - Das stimmt absolut und ist im Protokoll festgehalten, lieber Herr Börnsen. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Moment bitte. Herr Börnsen, Sie haben nicht das Wort. Herr Otto stellt gerade eine Frage.

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich ergänze meine Frage: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich hier wie auch schon zuvor immer erklärt habe, dass die FDP-Fraktion ihren Antrag sofort zurückziehen wird, wenn es einen Gruppenantrag oder einen fraktionsübergreifenden Antrag gibt? Wenn Sie sich in Ihrer Fraktion klar darüber werden, sind wir bereit, unseren Antrag zurückzunehmen. Was daran schofel ist, müssen Sie mir bitte erklären. ({0})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Otto, dann bitte auch ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass man sich interfraktionell darauf geeinigt hat, erst einmal die Ergebnisse der Enquete-Kommission abzuwarten. ({0}) - Nein, die sind nicht endgültig abgeschlossen, weil wir, wie Sie wissen, in der 16. Legislaturperiode sind und nicht mehr in der 15. ({1}) Wir haben in diesem Haus einstimmig beschlossen, in der 16. Legislaturperiode den Abschlussbericht abzuwarten; der ist noch vorzulegen. Dann können wir sehr gern noch einmal über einen Gruppenantrag diskutieren. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Griefahn von der SPD-Fraktion.

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben schon diverse geschichtliche Hintergründe als Begründung dafür gehört, warum wir überhaupt über Kultur als Staatsziel diskutieren. Ausgangspunkt war die Enquete-Kommission und deren Empfehlung nach verschiedenen ausführlichen und auch kontrovers geführten Diskussionen. Dabei ist die Enquete-Kommission zu einer einstimmigen Empfehlung gekommen. Die Fraktionen im Deutschen Bundestag haben diese aufgegriffen und intensiv darüber diskutiert. Herr Otto, bei Ihren Gesprächen mit den Fraktionen haben wir alle Ihnen signalisiert - ich glaube, Frau Connemann und Herr Ehrmann haben das sehr deutlich gemacht -, dass wir große Sympathie für Ihren Antrag als solchen haben. Aber große Fraktionen brauchen für so ein Vorhaben ein bisschen länger als kleine Fraktionen. Ich glaube, Herr Börnsen hat verdeutlicht, dass man auch mit den Ländern übereinkommen muss. Das ist keine Sache, die man einmal eben so erledigt. Ich weiß nicht, wer von Ihnen letzte Woche die Freude hatte, sich auf Arte noch einmal den Film „Rhythm is it!“ anzusehen, dieses sehr bemerkenswerte Projekt, das Simon Rattle mit Schülern aus benachteiligten Gebieten in Berlin gemacht hat. Sie sind zu einer wunderbaren Aufführung in der Treptower Arena zusammengekommen und viele, die vielleicht nie gedacht hatten, dass sie etwas mit Kultur zu tun haben, haben dadurch Selbstbewusstsein gewonnen. Ich war selber in der Treptower Arena und kann mich daran erinnern, dass die Besucher und auch die Eltern dieser Schüler, die sich noch nie klassische Musik angehört haben, wirklich begeistert mitgemacht haben. Simon Rattle hat daraus die Konsequenz gezogen: Kultur ist wie die Luft zum Atmen und wie das Wasser zum Trinken. Ich kann daraus nur schließen - so heißt es in der SPD-Fraktion -: Kultur ist Lebensmittel. ({0}) Dass die Enquete-Kommission nach der kontroversen Diskussion diese Empfehlung ausgesprochen hat, ist, so denke ich, ein Zeichen für die Überzeugungskraft von Argumenten. Für mich persönlich als Kulturpolitikerin als auch als überzeugte Demokratin und Sozialdemokratin bietet unsere Verfassung, das Grundgesetz, ein Gerüst für unser Zusammenleben. Dieses Gerüst ist nicht nur auf die unverzichtbare Formulierung von Grundrechten, auf die Beschreibung von politischen Spielregeln und die Organisation des Zusammenspiels im föderalen System Deutschlands beschränkt, sondern es beschreibt eben auch Strukturprinzipien. Diese machen Deutschland zu dem, was es ist: ein Staat, der beispielsweise das Recht auf freie Meinungsäußerung, den Schutz und die Förderung von Kindern und Familien, Demokratie und Sozialstaatlichkeit zu obersten Verfassungsprinzipien erhebt. Was bisher vielleicht noch fehlt, ist die geistigideelle Dimension unseres Zusammenlebens. Manche denken, eine Leitkulturdebatte könnte das leisten. Das glaube ich kaum. Ich denke, dass das Grundgesetz unseren gemeinsamen kulturellen Nenner darstellt. Hier haben wir unsere Werte und unsere Kultur auf ein für uns alle geltendes Fundament gestellt. Deswegen ist es auch höchste Eisenbahn, im Grundgesetz Kultur als Staatsziel zu verankern. Eine starke Position der Kultur schafft Identität und politische Integration. Die europäische Verfassung leistet das bereits. Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft enthält - das wurde schon gesagt - mit Art. 151 bereits einen Kulturartikel, der das europäische kulturelle Verständnis hervorhebt. Außerdem haben fast alle Bundesländer eine Kulturstaatsklausel in ihren Verfassungen. In Sachsen wird Kultur explizit zur Pflichtaufgabe erklärt. Vor meinen Augen täte sich eine eklatante Lücke auf, wenn wir Kultur als Basis unseres Zusammenlebens nicht auch im Grundgesetz verankern würden. ({1}) Neben der in Art. 5 definierten Kunst- und Wissenschaftsfreiheit könnte die Verankerung von Kultur als Staatsziel im Grundgesetz dem Selbstverständnis Deutschlands als Kulturnation in Europa Ausdruck verleihen. Das ist das Entscheidende des Kulturbegriffs, wie er sich in der deutschen Nation seit der Zeit der Aufklärung entwickelt hat. Der Begriff hat sich seit der Zeit der Aufklärung entwickelt und die feudale Rückständigkeit in vielen kleinen Fürstentümern überwunden. Diesen geistigen Fortschritt müssen wir verankern. ({2}) Das ist gewissermaßen die Befreiung des Menschen. Mit dem Ausdruck „Kulturnation“ gehen wir in andere Länder und gestalten unsere auswärtige Kulturpolitik. Damit treten wir in den Dialog über Demokratie ein. Ich glaube, dass wir unser eigenes Bewusstsein für Kultur in Situationen wie dem Karikaturenstreit deutlich machen müssen. Kultur gehört zu unserem Selbstverständnis. Das müssen wir an prominenter Stelle festschreiben. Es ist gut, dass die Anhörung der Verfassungsrechtler, die der Enquete-Kommission zur Seite standen, in die große Föderalismusdebatte einfließen soll. Über das Staatsziel Kultur soll mit den Verfassungsrechtlern debattiert werden. Ich hoffe auf die Kraft der Argumente. Ich hoffe, dass wir auf diesem Weg viele Kolleginnen und Kollegen erreichen können; denn wenn die Verfassungsrechtler die Kolleginnen und Kollegen in der Enquete-Kommission erreicht haben, können sie vielleicht auch die anderen Kollegen im Bundestag erreichen. Ich hoffe auf eine positive Debatte. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/387 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD wünschen Federführung beim Rechtsausschuss. Die Fraktion der FDP wünscht Federführung beim Ausschuss für Kultur und Medien. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der FDP, Federführung beim Ausschuss für Kultur und Medien, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der FDP-Fraktion, die für diesen Überweisungsvorschlag gestimmt hat, abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Federführung beim Rechtsausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion angenommen. Damit liegt die Federführung beim Rechtsausschuss. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 sowie die Zusatzpunkte 10 und 11 auf: 17 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Norman Paech, Alexander Ulrich, Paul Schäfer ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Abzug der Atomwaffen aus Deutschland - Drucksache 16/448 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({1}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, Marieluise Beck ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Abrüstung der taktischen Atomwaffen vorantreiben - US-Atomwaffen aus Deutschland und Europa vollständig abziehen - Drucksache 16/819 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Volker Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Nuklearen Dammbruch verhindern - Indien an das Regime zur nuklearen Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtweiterverbreitung heranführen - Drucksache 16/834 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Alexander Ulrich von der Fraktion Die Linke das Wort. ({6})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt viele Gründe, warum es gut ist, dass wieder eine linke Kraft im Bundestag vertreten ist. Heute kommt ein weiterer hinzu: Mit ihrem heutigen Antrag verfolgt die Linke als einzige Fraktion im Bundestag eine glaubwürdige Friedenspolitik. ({0}) 61 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki und 16 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges ist Rheinland-Pfalz ein riesiges Atomwaffenlager. Auch angesichts des gegenwärtigen Irankonflikts gilt es, klarzustellen: Kein Land auf der Welt hat ein Recht auf den Besitz von Massenvernichtungswaffen. ({1}) Dennoch werden nach Schätzungen von US-Experten allein im rheinland-pfälzischen Büchel weiterhin 20 Atombomben stationiert. Das Atomwaffenlager in Ramstein wurde im Frühjahr 2005 angeblich zeitweise geräumt. Wo die dort bis dahin stationierten 130 Bomben derzeit lagern, ist unbekannt. Die Bundesregierung hat sich in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke geweigert, dazu auch nur ein Wort zu sagen. Wahrscheinlich weiß sie, dass eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung gegen die weitere Stationierung dieser Waffen ist. Die Stationierung von Atomwaffen in Deutschland trägt nicht zum Schutz der Bevölkerung vor militärischen Angriffen oder Anschlägen bei - ganz im Gegenteil. ({2}) Sie stellen eine permanente Bedrohung für die Bevölkerung dar. Das US-Militär selbst hat in internen Dokumenten immer wieder Zweifel an der Sicherheit der in Europa gelagerten Atomwaffen geäußert. Daraus folgt: Katastrophen und Unfälle sind jederzeit möglich und Atomwaffenlager sind immer ein potenzielles Ziel für militärische oder terroristische Anschläge. Trotzdem hält es die Bundesregierung nicht für nötig, die deutsche Bevölkerung über die Anzahl, Art und Lagerung der Atomwaffen zu informieren. Begründet wird dies zynischerweise auch noch damit, möglichen Risiken für Bevölkerung und Umwelt vorbeugen zu wollen. Auch wenn Deutschland formell keine Atomwaffen besitzt, ist die Bundeswehr über die nukleare Teilhabe in Atomkriegsplanungen verstrickt. In Büchel stehen deutsche Piloten mit den Tornado-Kampfjets der Bundeswehr für Einsätze bereit. Diese Kampfjets können mit Atombomben ausgestattet werden, vorausgesetzt, der US-Präsident hat diese vorher freigegeben. An die Grünen gerichtet möchte ich sagen: Dieses Problem erledigt sich nicht automatisch im Jahr 2015, wie Sie in Ihrem Antrag suggerieren, weil bis dahin alle atomwaffenfähigen Tornados vollständig durch die neuen Eurofighter ersetzt worden sind. ({3}) Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage mitgeteilt, dass sogar über das Jahr 2020 hinaus an einer kleinen Stückzahl von Tornados festgehalten wird. Die Bundeswehr soll also weiterhin für den Einsatz von Atomwaffen gerüstet sein. Mit der nuklearen Teilhabe bricht die Bundesregierung ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen in einer Art, wie sie es bei Nicht-NATO-Staaten zu Recht nie akzeptieren würde. Der rheinland-pfälzische Landtag hat sich bereits im vergangenen Jahr für einen Atomwaffenabzug ausgesprochen. Allerdings hat der dortige Ministerpräsident und SPD-Vize mit hervorgehobener Stellung, Kurt Beck, ebenso wie die komplette rot-gelbe Landesregierung diesen Beschluss ignoriert und die Bundesregierung bisher nicht aufgefordert, auf einen Abzug der Atomwaffen hinzuarbeiten. Auch das können Sie in der Antwort auf unsere Kleine Anfrage nachlesen. Kurt Beck hat dieses Thema bei seinem USA-Besuch, wie man Medienberichten entnehmen konnte, bewusst nicht zur Sprache gebracht, da er - das muss man sich einmal überlegen - nicht die Gastfreundschaft verletzen wollte. Wo kommen wir denn hin, wenn ein Ministerpräsident nicht in der Lage ist, einer befreundeten Nation zu sagen, dass der Landtag von Rheinland-Pfalz einen BeAlexander Ulrich schluss zum Atomwaffenabzug gefasst hat? Es ist eben leichter, Weinfeste zu eröffnen oder Lottoscheine entgegenzunehmen, als mit Freunden unangenehme Themen zu besprechen. ({4}) Altkanzler Kohl hat in dieser Woche in Trier gesagt, dass dieser Ministerpräsident ein Opportunist ist. Recht hat er! Wir fordern, dass der Bundestag von der Bundesregierung den Abzug jeglicher Atomwaffen verlangt, die sich auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland befinden, und dass keine Piloten und Flugzeuge der Bundeswehr mehr für Atomwaffeneinsätze bereitgehalten werden. Würden die anderen hier vertretenen Fraktionen den Beschlüssen ihrer Landesparteien folgen, müssten wir unseren Antrag mit großer Mehrheit verabschieden können. Ihre Glaubwürdigkeit steht also auf dem Spiel. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg von der CDU/CSU-Fraktion.

Karl Theodor Guttenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003543, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Ulrich, was eine derart unreflektierte und einseitige Haltung mit effektiver Friedenspolitik zu tun haben soll, das müssen Sie uns einmal erklären. ({0}) Sie haben die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Kleine Anfrage angesprochen. Dennoch hätten Sie nicht unbedingt verschweigen müssen, dass es auch innerhalb des Bündnisses Geheimhaltungsregelungen gibt, die man nicht so leicht vom Tisch wischen kann, wie Sie es gerade getan haben. Wir diskutieren heute zwei Themenkreise, die ohne Frage in einem gewissen Zusammenhang stehen. Der eine ist der Abzug möglicher auf deutschem Boden stationierter Atomwaffen. Der andere, nach einem Antrag der Fraktion der Grünen, betrifft die Folgen des indischamerikanischen Abkommens. Hier bestehen gewisse Zusammenhänge und diese sollen in der Debatte auch nicht zu kurz kommen. Über die grundsätzliche Zielsetzung, die weltweite Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen, werden wir uns in diesem Hause einig sein. ({1}) Dazu hat sich Deutschland völkerrechtlich verbindlich verpflichtet - das ist völlig richtig - und dies liegt in unserem wohlverstandenen, fundamentalen Interesse. ({2}) Hieran hält offensichtlich auch die Bundesregierung fest, Herr Staatsminister, wie aus der Antwort auf die entsprechende Anfrage deutlich wird. Der Nichtverbreitungsvertrag, den wir heute in sehr unterschiedlichem Kontext debattieren, hat bekanntlich die Abschaffung sämtlicher Kernwaffen zum Ziel. Diesem Ziel sind auch wir als Bundesrepublik Deutschland verpflichtet; das ist richtig. Man wird dieses Ziel allerdings nur mit einem schrittweisen Ansatz verwirklichen können, wenn man nicht in Träumereien verfallen will und sich nicht Illusionen hingegeben will. Auch wenn Sie Ihre Forderungen jetzt in einem brachialen Stil, wie er in Ihrem Antrag durchscheint, erheben, müssen Sie sich am real Machbaren messen lassen. Auch das gehört zu einem abgewogenen Vorgehen. Ohne Frage gibt es noch viele Stellen, an denen es hakt. Es gibt in den letzten Jahren aber auch Fortschritte zu konstatieren. Neben allem, was noch wünschenswert ist, darf auch einmal positiv angemerkt werden, dass seit den Spitzenzeiten des Kalten Krieges die Anzahl der nuklearen Arsenale der NATO in Europa bereits um mehr als 95 Prozent reduziert wurde, und das auf der Grundlage der geltenden Strategie des Bündnisses. Das reicht zwar nicht und diese Dinge müssen wir weiterhin vorantreiben, doch einige Punkte sind im Kontext zu sehen: Die notwendige Reduzierung nuklearer Arsenale ist nur in engster Abstimmung mit unseren Bündnispartnern zum Erfolg zu führen und nicht, indem wir gezielt und wiederkehrend einseitig - gelegentlich geschieht dies auch wechselseitig - unsere Bündnispartner brüskieren. Das ist ein völlig falscher Ansatz, um unser Ziel zu erreichen. ({3}) Von daher werden Sie dieses Ziel auf die Art und Weise, wie Sie vorgehen, mit Sicherheit nicht erreichen, Herr Ulrich. Des Weiteren sind die in Deutschland stationierten Nuklearwaffen der NATO unterstellt. Demzufolge ist die Frage, ob und wann diese abgezogen werden, eine Frage, die die NATO zu beantworten hat. Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie, nur um Ihre Tradition antiamerikanischer Reflexe aufrechtzuerhalten ({4}) - so ist es doch! Es ist immer wieder dasselbe; lesen Sie doch einmal Ihren Antrag! -, ({5}) isoliert die USA auffordern, ihre Waffen abzuziehen. Sie scheinen die Zusammenhänge noch nicht ganz erkannt zu haben. Andernfalls hätten Sie in Ihrem Antrag einen Beitrag dazu geleistet, wie eine strategische Neuausrichtung der NATO aussehen könnte. Doch darüber liest man nichts bei Ihnen. Besonders bemerkenswert ist, dass Sie sich auf Verteidigungsminister Rumsfeld beziehen. Das hat schon eine besondere Note. Nur sollte dann auch der entsprechende Kontext genannt werden. In die Erwägungen sollte die abgewogene Beurteilung einiger Punkte zumindest einbezogen werden: Mit der Verringerung der Zahl der Atomwaffen auf ein, wie es so schön heißt, allianzpolitisches Minimum ist weiterhin die nukleare Teilhabe der europäischen Bündnispartner verbunden; das haben Sie richtig angemerkt. Solange wir eine nukleare Planung und ein gewisses Maß an Nuklearwaffen innerhalb des Bündnisses haben, ist damit natürlich auch der Einfluss auf diese Planungen gewährleistet. Übrigens ist diese Strategie der NATO, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, erst im Jahre 1999 noch einmal fortentwickelt und bestätigt worden und die Fraktion der Grünen hat ihr zumindest nicht widersprochen; auch das ist anzumerken. Einen weiteren Aspekt, der damit im Zusammenhang steht, will ich eher in Frageform bringen: Kommt es aufgrund einer überhasteten Abkopplung - wenn wir also eine Abkopplung von dieser Strategie betreiben würden - möglicherweise zu einer Desolidarisierung innerhalb des Bündnisses? Dazu liest man in Ihrem Antrag nur ein wenig, während die Grünen auf Griechenland und Kanada verweisen. Das ist aber natürlich ein bisschen dürr. Die Frage ist, wie man dem kreativ begegnen kann. Ich glaube, das Letzte, was wir wollen - mit einer Ausnahme wahrscheinlich -, ist eine Destabilisierung und Desolidarisierung innerhalb des Bündnisses. Hier ist schon etwas mehr als nur das zu leisten, was in den Anträgen zu lesen ist. ({6}) Solange wir uns in einem schrittweisen Vorgehen befinden, ist es doch auch in unserem Interesse, sich noch ein gewisses Mitspracherecht für diese genannten Fälle zu bewahren. Ja, meine Damen und Herren, man darf durchaus auch kritisch hinterfragen, ob die Stationierung von Waffen, die erst einmal an einen Ort verbracht werden müssten, an dem sie zum Einsatz kommen könnten, aufgrund der Erweiterung der NATO und der Europäischen Union sowie aufgrund der veränderten Sicherheitslage noch zeitgemäß ist. Diese Frage darf gestellt werden. Wenn man diese Frage aber stellt, dann sollte man sie auch mit aktuellen Entwicklungen auf dieser Erde koppeln und nicht isoliert behandeln. Man sollte sie dann auch in den Kontext stellen, wie sich die gesamte Sicherheitslage darstellt. Stichwort „Iran“: Man muss sich dabei auch fragen, wo neue nukleare Potenziale entstehen. Sie werden Ihrer Verantwortung nicht gerecht, wenn Sie hier so isoliert vorgehen. Um einmal einen einseitigen Zungenschlag von Ihrer Seite herauszuarbeiten: Herr Ulrich, wo benennen Sie - die Grünen tun das; man sollte sie auch einmal loben ({7}) beispielsweise die angekündigten Reduzierungen russischer substrategischer Nuklearwaffen? Davon liest man bei Ihnen überhaupt nichts. Es ist auch erwartungsgemäß, dass das nicht der Fall ist. Bezüglich der Amerikaner machen Sie wieder mal Tabula rasa. Bei Ihnen steht nichts davon. Das ist bei weitem zu wenig. Es wäre Ihnen vielleicht einmal zu empfehlen, hier den Gesamtkontext herzustellen ({8}) - Herr Kollege Trittin, ein Schelm, der hier irgendwelche wahltaktischen Erwägungen vermutet, wenn man auch an Rheinland-Pfalz denkt. Zur indisch-amerikanischen Vereinbarung, deren Charakter mit Sicherheit ambivalent ist. ({9}) Diese Ambivalenz sollten wir auch herausstellen. Kollege Trittin, zu den jeweiligen Punkten in Ihrem Antrag, die Sie im Hinblick auf diese Vereinbarung genannt haben, kann man nur sagen: Sie sind schwer von der Hand zu weisen. Ich glaube, trotzdem bleibt es für uns eine ernsthafte und gewichtige Wertungsfrage, ob man, wie Sie, darin im Wesentlichen eine Erschütterung des Nichtverbreitungsvertrages sehen will oder ob man das Abkommen trotz aller negativen Implikationen zumindest auch als partielle Heranführung Indiens an den Nichtverbreitungsvertrag erachten kann. Das sollten wir nicht vergessen, wenn wir diese Bewertung vornehmen. Das eigentliche Problem ist doch weniger, dass der Nichtverbreitungsvertrag durch das Abkommen als solches geschwächt würde; denn Indien hat ihn nie unterzeichnet. Durch die Vereinbarung werden vielmehr die bekannten Schwächen wieder offensichtlich, Schwächen, für die viele Verantwortung tragen - auch die Vereinigten Staaten. Das wollen wir hier nicht ausklammern. Viele tragen hierfür Verantwortung. Diese Schwächen liegen aber insbesondere auch in der mangelnden Universalität. Das ist eine der Grundschwächen in diesem Zusammenhang. Wird der Beitritt Indiens zum Nichtverbreitungsvertrag damit unwahrscheinlicher? Für mich ist zunächst einmal nicht erkennbar, dass der Beitritt vorher wahrscheinlicher gewesen ist. Noch einmal: Lassen Sie uns positiv hervorheben, dass im Kontext dieses Abkommens zukünftig zumindest in einem begrenzten Bereich Inspektionen der IAEO stattfinden. Das ist ein Zwischenschritt hin zu einem zu fordernden Gesamtschritt, den wir politisch dann auch zu flankieren und zu unterstützen haben. Herr Präsident, ich schließe mit den Fragen - das dürfen wir auch einmal selbstkritisch anmerken -: Wo waren in dem Gesamtkontext des letzten Punktes - Amerika, Indien - eigentlich wir, die Europäer? Wo war die Europäische Union? Wo findet hier eine europäische Außenpolitik im Kontext sich verändernder strategischer Neuausrichtungen und Umstände in der Welt statt? Ich glaube, das ist bei weitem wichtiger, als dass wir, wie auf der linken Seite dieses Hauses, nur auf BündnisKarl-Theodor Freiherr zu Guttenberg partner einprügeln. Wir müssen uns über unsere Rolle als solche wieder klar werden und wir müssen uns wieder bewusst werden, dass wir in diesem Zusammenhang eine weitergehende Aufgabe haben. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Elke Hoff von der FDPFraktion. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Drei eng miteinander verknüpfte Themen stehen im Zentrum der heutigen Debatte: die nuklearen Ambitionen des Iran, das jüngste Nuklearabkommen zwischen Indien und den USA sowie der Abzug der taktischen Nuklearwaffen aus Deutschland. Die Verhandlungen mit dem Iran über dessen mögliche Ambitionen, Nuklearwaffen herzustellen, stecken nach dem Scheitern der russischen Kompromisslösung in der diplomatischen Sackgasse. Die internationale Staatengemeinschaft ist sich ausnahmslos bewusst, dass hier eine sicherheitspolitische Zeitbombe mit gefährlichen Auswirkungen auf die Stabilität im Nahen und Mittleren Osten und auch darüber hinaus tickt. Wir wissen, dass die Chancen der internationalen Gemeinschaft, den Iran von seinem Vorhaben abzubringen, überhaupt nur dann vorhanden sind, wenn ein breiter Konsens zwischen den Staaten erkennbar ist. Vor allem die Geschlossenheit der P 5 ist hier entscheidend, wenn der Iran eine Angelegenheit des UN-Sicherheitsrates wird. ({0}) In dieser Situation ist es mehr als unglücklich, dass die Regierung Bush gerade jetzt mit Indien ein Abkommen über zivile Nuklearkooperation abschließen will. Indien gehört neben Pakistan und Israel zu den Atommächten, die sich seit langem weigern, dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag beizutreten und die darin festgelegten Verpflichtungen zu erfüllen. Wenn dieser beklagenswerte Zustand jetzt in Form einer nuklearen Partnerschaft sozusagen ein internationales Gütesiegel erhält, untergräbt und schwächt dies das nukleare Nichtverbreitungsregime nachhaltig. Der Eindruck, der Besitz von eigenen Nuklearwaffen auch außerhalb des Vertragswerkes erhöhe das internationale Profil und sichere Macht, Einfluss und Anerkennung eines Staates, wäre für so manche potenzielle Nuklearmacht ein geradezu unwiderstehlicher Anreiz. ({1}) Natürlich ist Indien die größte Demokratie weltweit, aber das ist nach den Prinzipien des nuklearen Nichtverbreitungsregimes nicht das ausschlaggebende Kriterium. Seine substanzielle Glaubwürdigkeit wird durch die Anwendung von zweierlei Maßstäben - auf der einen Seite die Forderung an den Iran nach Verzicht und auf der anderen Seite die Privilegien für Indien ohne gravierende Auflagen - ohne Not aufs Spiel gesetzt. Vor allem aber schwächt dieser Nukleardeal die Verhandlungsposition gegenüber dem Iran, hintertreibt die diplomatischen Bemühungen der EU 3 und gefährdet den weltweiten Konsens gegenüber Teheran, und zwar nicht nur, weil die Iraner selbst neue Argumente auf dem silbernen Tablett serviert bekommen. Wir alle wissen, dass die Mitwirkung und Zustimmung Chinas in der Iranfrage kritisch ist. Peking hat einerseits wegen seines enormen Energiebedarfs ein zwingendes Interesse an guten Wirtschaftsbeziehungen zum Iran. Andererseits wissen die Chinesen aber auch, dass sie als größter regionaler Rivale einer der Adressaten des indischen Nuklearwaffenprogramms sind. Ich bezweifle, dass das amerikanisch-indische Nuklearabkommen die konstruktive Mitwirkung Pekings in der Iranfrage befördern wird. Noch ist dieses Abkommen nicht endgültig ratifiziert. Der amerikanische Kongress wird sich dazu äußern müssen. Über die Nuclear Suppliers Group hat Deutschland gemeinsam mit den EU-Partnern Mitverantwortung und Einwirkungsmöglichkeiten. Ich bin mir durchaus bewusst, dass dies, folgte man dabei alten Reflexen, eine erneute Belastung der transatlantischen Beziehungen darstellen könnte. Die Bundesregierung muss aber an dieser Stelle ebenso wie es alle anderen Beteiligten auch tun, das nationale Interesse in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen und mit einer klaren sicherheitspolitischen Position, die mir bisher allerdings noch nicht aufgefallen ist, in dieser Frage aufwarten. Das amerikanisch-indische Abkommen ist ein schwerer Schlag für den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag, der sich seit dem Scheitern der Überprüfungskonferenz im vergangenen Jahr ohnehin in einer Glaubwürdigkeitskrise befindet. Wir werden die Glaubwürdigkeit des Nichtverbreitungsregimes nur dann stärken können, wenn wir weltweit endlich wieder zu einer stringenten nuklearen Abrüstungspolitik zurückfinden. ({2}) Verehrter Kollege Ulrich, es bedarf nicht des Erscheinens der Fraktion der Linken im Deutschen Bundestag; denn die FDP hat bereits vor knapp einem Jahr hier im Bundestag einen abrüstungspolitischen Antrag eingebracht, in dem als wichtiges Abrüstungssignal unter anderem ein Abzug der amerikanischen taktischen Nuklearwaffen aus Deutschland gefordert wurde. ({3}) Die FDP hat damit eine Diskussion angestoßen, die seit langem überfällig war und mit den jetzt vorliegenden Anträgen wieder aufgegriffen wird. Die bis heute in Deutschland stationierten taktischen Nuklearwaffen sind ein Relikt des Kalten Krieges und haben angesichts der sicherheitspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts keine strategische Funktion mehr. ({4}) Potenzielle Adressaten nuklearer Abschreckung in Staaten, die den atomaren Einsatz zu einem legitimen politischen Mittel erklären, wären mit diesen Waffen theoretisch nicht zu erreichen. Der russische Außenminister hat im Sommer 2005 verkündet, Moskau sei zu neuen Abrüstungsverhandlungen bereit. Der amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld hat erklärt, dass er bereit sei, Deutschland und der NATO die Entscheidung zu überlassen. Wir wollen, dass beide hier beim Wort genommen werden. Zum Schluss darf ich feststellen: Die alte Bundesregierung hat zwar als Reaktion auf unseren Antrag im vergangenen Jahr zugesagt, das Thema in der NATO zur Sprache zu bringen. In den zuständigen NATO-Gremien ist dieser Punkt aber bisher noch nicht auf der Tagesordnung erschienen. Ich frage die neue Bundesregierung: Macht die Stationierung von taktischen Nuklearwaffen in Deutschland noch Sinn und ist die nukleare Teilhabe nach dem Ende des Kalten Krieges in dieser Form noch begründet? Das Forum, in dem über diese Frage nüchtern und sachlich diskutiert werden muss, sind - das hat mein Vorredner richtigerweise gesagt - die Gremien der NATO. Wir hoffen sehr, dass in absehbarer Zeit ein klares Signal zur Abrüstung, das den Prozess weiter befördern kann, zu erwarten ist. Wir als FDP stehen nach wie vor zu dem Antrag, den wir im letzten Jahr eingebracht haben. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rolf Mützenich von der SPD-Fraktion.

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen Wochen haben wir häufig über die Rolle der Atomwaffen, die Krise der nuklearen Rüstungskontrolle und die Folgen für die internationale Politik gesprochen. Dies war richtig; denn es gab leider genügend Anlässe dafür. Kollege Ulrich, die Lagerung von Atomwaffen in Deutschland ist ein weiterer Aspekt in diesem Zusammenhang. Ich finde aber, dass Sie mit Ihrem Antrag zu kurz gesprungen sind. Der Kollege Guttenberg hat bereits einige Zusammenhänge dargestellt. Ich möchte dem noch einiges hinzufügen. Lassen Sie mich begründen, warum Sie mit dem Antrag zu kurz gesprungen und damit den Herausforderungen, die Deutschland im Zusammenhang mit Atomwaffen hat, nicht gerecht geworden sind: Sie agieren bewusst einseitig und innenpolitisch motiviert und verkürzen die Zusammenhänge. ({0}) Anders kann ich mir diesen Antrag nicht erklären. Wenn Sie sich ernsthaft mit den Problemen beschäftigt hätten, dann hätten Sie einige Punkte besser gewichten müssen. Ich habe mich gefragt, warum Sie nicht die Atomwaffen in anderen europäischen Staaten wie Belgien oder Großbritannien thematisieren. Sind sie besser? Wenn wir als deutsches Parlament im europäischen Kontext agieren wollen, dann muss man das doch benennen. Warum soll das nicht in den Antrag mit hineingehören? Sie haben die Forderung des Kollegen Guttenberg belächelt, auch die russischen taktischen Nuklearwaffen zu benennen. Natürlich stehen sie im Zusammenhang mit dem Thema. Das hätten Sie in Ihrem Antrag mit aufnehmen können. ({1}) Deswegen wiederhole ich: Ihr Antrag ist nur innenpolitisch motiviert. Er wird den internationalen Herausforderungen nicht gerecht. Ich komme zu einem weiteren Punkt, den Sie in Ihrem Antrag angesprochen haben. Ich war damals dabei, als die von Ihnen zitierte Studie vorgestellt wurde. Es ging darum, dass bei einer weiteren Krise im Nahen und Mittleren Osten möglicherweise europäische Atomwaffen eingesetzt werden könnten. Das ist meiner Meinung nach in keiner Weise herzuleiten; ich halte es auch nicht für belegbar. Wenn es dazu kommen sollte, dann werden keine Atomwaffen von hier aus eingesetzt; es wäre vielmehr eine Situation, der wir gemeinsam begegnen müssten, und zwar nicht mit Alarmismus und solchen Anträgen, sondern durch eine kluge Politik, mit der Sie die Bundesregierung unterstützen könnten. ({2}) Es gibt einen weiteren Grund, weshalb Sie mit Ihrem Antrag viel zu kurz gesprungen sind. Sie beziehen sich darin auf die Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag. Dabei benennen Sie nur die USA, als ob das der einzige Akteur wäre, durch den die Konferenz gescheitert ist. Bei der Überprüfungskonferenz im Mai 2005 in New York haben auch der Iran, Frankreich und Ägypten eine Rolle gespielt. Das war nicht so einseitig, wie Sie es darstellen. Es bringt allerdings nichts, nur über verkürzte Zusammenhänge in Anträgen zu sprechen. Erlauben Sie mir deshalb einen Hinweis. Ich habe nichts dagegen, wenn Verteidigungsminister Jung in den zuständigen Gremien auf das Thema eingehen wird, aber in dem Fall sollten auch die Zusammenhänge berücksichtigt werden, wie es der frühere Verteidigungsminister Struck getan hat. Ich glaube, es lohnt sich, an dieser Stelle die Zusammenhänge zu benennen. ({3}) Ich möchte auch auf den Antrag der Grünen eingehen. Sie haben zu Recht auf den Antrag unserer damaligen rot-grünen Koalition hingewiesen, weil darin die Gesamtzusammenhänge beschrieben worden sind. Ich glaube, es lohnt sich, über beide Anträge eine intensive Debatte im Auswärtigen Ausschuss, aber auch im Unterausschuss für Abrüstung und Rüstungskontrolle zu führen. Der eigentliche Kern, über den wir diskutieren müssen, wenn es um Atomwaffen geht, besteht auch in Folgendem: Ich selbst habe nach dem Ende des Ost-WestKonflikts gedacht, es gebe eine Chance für Abrüstung, es gebe eine Chance für die Friedensdividende. Leider ist das nicht eingetreten. Wir erleben seit Mitte der 90erJahre in diesen Dingen einen Rückfall. Bisher sind es nur die europäischen Länder gewesen, die versucht haben, Regelwerke in die Diskussion einzubringen, die dem Thema der nuklearen Rüstungskontrolle gerecht werden. Wir haben diese Krise der nuklearen Rüstungskontrolle, weil Initiativen scheitern. Der umfassende Teststoppvertrag ist nicht unterzeichnet worden; das festzustellen, ist im Zusammenhang mit Indien und den USA ganz interessant. Ferner gab es in jüngster Zeit Krisen in Bezug auf Nordkorea und den Iran. Wir haben es aber auch mit Ländern zu tun, die sich in diesen Fragen sozusagen ein besonderes Recht herausnehmen, wie beispielsweise Brasilien im Zusammenhang mit der Urananreicherung. Die Rolle, die Kernwaffen und militärische Gewalt spielen können, wird in vielen Ländern neu definiert, nicht nur in den USA, sondern auch in Russland und der Volksrepublik China. Wenn Sie das Thema wirklich ernst nehmen würden, hätten Sie diese Entwicklungen in Ihrem Antrag aufgreifen müssen. ({4}) Ich möchte jetzt zu dem Themenkomplex Indien kommen. Ich glaube, dass die jüngsten Entwicklungen - wir haben am Mittwoch im Ausschuss darüber diskutiert - leider einen weiteren Schritt darstellen, der in den nächsten zehn oder 20 Jahren die internationale Nuklearordnung verändern wird. Ich gebe zu: Gut ist, dass es der Internationalen Atomenergiebehörde in Zukunft möglicherweise erlaubt werden soll, 50 oder 60 Prozent der dortigen Anlagen zu inspizieren. Ein abschließendes Urteil kann man sich heute noch nicht bilden, weil uns, sowohl der Öffentlichkeit als auch - wenn ich das richtig verstanden habe - der Bundesregierung, der Text des Abkommens nicht vorliegt. Wir sollten darüber diskutieren, wenn wir den Text kennen. Aber eines ist bereits jetzt klar - das hat die Kollegin vorhin sehr deutlich gemacht -: Es wird ein Prinzip des Nichtverbreitungsvertrages infrage gestellt, ein Prinzip, das darin besteht: Wir belohnen die Staaten, die auf Atomwaffen verzichten, in Form von Unterstützung. Ob wir das nun aus innenpolitischer Sicht für gut halten oder nicht: Dieses Prinzip war wichtig und richtig, um Staaten an den Atomwaffensperrvertrag heranzuführen. Jetzt ist es das erste Mal, dass dieses Prinzip einseitig - so muss man schon sagen - hintertrieben wurde. Besonders hinterfragen möchte ich die Einseitigkeit dieser Handlungen. Wenn ich es richtig verstanden habe, haben die USA niemanden, insbesondere niemanden aus der Nuclear Suppliers Group, an dieser Diskussion beteiligt. Ferner glaube ich, dass der Zeitpunkt, zu dem diese Vereinbarung unterzeichnet wurde, schlecht gewesen ist, weil wir, besonders mit Blick auf den Iran, niemandem erklären können, warum dieser Vertrag die nukleare Rüstungskontrolle stärken soll. Darüber hinaus ist die Chance vertan worden, Indien zu verpflichten, dem Problem der Rüstungskontrolle in Südasien seine Aufmerksamkeit zu widmen. Es gibt in Südasien bisher keine Vereinbarung, die der Frage der nuklearen Rüstungskontrolle dort gerecht würde, im Gegenteil: Diese Vereinbarung zwischen den USA und Indien ist zum Anlass genommen worden, neue Waffenverkäufe anzubieten. Wir tun dieser Region mit Sicherheit keinen Gefallen, wenn wir sie in einen neuen Rüstungswettlauf stürzen. ({5}) Auch Folgendes möchte ich noch anführen: Ich hätte es verstanden, wenn wir über eine Alternative zum Nichtverbreitungsvertrag, zum Atomwaffensperrvertrag verfügen würden. Aber die haben wir überhaupt nicht. Keiner bietet aktuell eine Alternative dazu an, weder die ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates noch andere Staaten. Deswegen ist es ja so wichtig, dass wir an dem Atomwaffensperrvertrag weiterarbeiten. Deswegen war es gut, dass die 25 Staaten der Europäischen Union im Mai auf der Überprüfungskonferenz gemeinsam agiert haben. Man muss auch sehen, dass der Atomwaffensperrvertrag in den letzten zehn, 20 Jahren Vorteile gebracht hat. Denn Südafrika, Brasilien und Argentinien haben sich zu diesem Vertrag bekannt, ebenso wie einige Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Deswegen lohnt es sich, diesen Vertrag zu stärken. ({6}) Dazu rufe ich die Bundesregierung von dieser Stelle aus auf. Ich glaube, dass es notwendig ist, im Rahmen der Europäischen Union neue Initiativen mit auf den Weg zu bringen, mit denen der Atomwaffensperrvertrag, aber auch die Rüstungskontrolle insgesamt gestärkt werden. Wir sollten in diesem Zusammenhang darüber nachdenken, ob möglicherweise die Ansätze betreffend Abrüstung und Rüstungskontrolle, die die USA in letzter Zeit verfolgen - sie sind zwar sehr einseitig, aber immerhin gibt es welche, wie die PSI-Initiative -, in ein Regelsystem überführt und institutionalisiert werden sollten. Wir brauchen auf jeden Fall ein Regelsystem, das verhindert, dass Mittelstreckenraketen in die Hände von Staaten gelangen, die sie möglicherweise missbrauchen. Dazu sind die Ansätze geeignet. Aber es muss einen völkerrechtlichen Vertrag geben. Ich glaube jedenfalls, dass es in den USA relevante Ansätze gibt. Ich finde, es ist hochinteressant, dass Senator Lugar in der „Süddeutschen Zeitung“ darauf hingewiesen hat, er könne sich vorstellen, dass die USA direkt mit dem Iran verhandeln. Das Parlament und die Bundesregierung sollten das aufnehmen. Die Rüstungskontrolle hat mitgeholfen, den OstWest-Konflikt zu überwinden. Dieses Instrument könnte auch bei anderen Rüstungskonflikten und Regionalkonflikten helfen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Trittin vom Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Abrüstung und Nichtverbreitung sind aktuelle, aber auch globale Themen. Global bedeutet ein bisschen mehr als Hunsrück und Eifel, lieber Kollege Ulrich. Sie haben zwar Recht, dass wir die taktischen Waffen abziehen müssen; wir haben dazu entsprechende Vorschläge vorgelegt. Aber die eigentliche Herausforderung ist in der Tat die globale Infragestellung des Nichtverbreitungsvertrages. Der Kern dessen, worüber wir heute diskutieren, ist die Frage: Gelingt es uns, das Regime der nuklearen Rüstungskontrolle und Abrüstung zu erhalten, oder bewegen wir uns in eine Richtung, die dazu führt, dass dieses System durchlöchert und schließlich aufgelöst wird? Das ist gerade vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um den Iran von zentraler Bedeutung. Wir sind klar dagegen, dass sich der Iran unter dem Deckmantel der zivilen Nutzung der Atomenergie Atomwaffen verschafft. Wir wollen ihn mit friedlichen, zivilen Mitteln daran hindern. ({0}) Aber in einer solchen Situation muss man alles vermeiden, was anschließend nach nachträglicher Legitimation der Argumentation der iranischen Führung aussieht nach dem Motto „Hier soll ein Sonderrecht allein gegen den Iran als ein muslimisches Land geschaffen werden“. Genau das ist die subkutane Botschaft des Abkommens zwischen den USA und Indien. ({1}) Damit ich mich nicht dem Verdacht des Antiamerikanismus aussetze, ({2}) will ich an dieser Stelle zwei Zitate anführen. Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ schreibt, dass mit dem USA-Indien-Deal ein „schlechtes Beispiel schlechte Schule mache und den internationalen Bemühungen zur Nichtproliferation einen Bärendienst erweise. Indien wird im Nachhinein belohnt für seine nukleare Aufrüstungspolitik; die Bereitschaft, einen Teil seiner zivilen Nuklearanlagen unter internationale Kontrolle zu stellen, gilt erstens nur für einen Teil und schließt zweitens die militärische Seite vollkommen aus“. Sie schließt also all das aus, was für die Fragen betreffend die Nichtproliferation, die Anreicherung und den Prozess der Separierung von Plutonium in Wiederaufarbeitungsanlagen relevant ist. Dem, was Edward Markey, ein demokratischer Abgeordneter im US-amerikanischen Repräsentantenhaus, gesagt hat, ist zuzustimmen: Das Abkommen „untergräbt die Sicherheit nicht nur der Vereinigten Staaten, sondern des Rests der Welt … Der Präsident hat mit einem einzigen Schlag ein Loch in das nukleare Regelwerk gesprengt.“ Diese Form praktizierter Doppelstandards können wir uns gerade angesichts der Auseinandersetzung um den Iran nicht erlauben. Hier kommt es in sehr starkem Maße auf die Haltung der Bundesregierung an. Wollen Sie den für Indien geltenden Lieferstopp hinsichtlich nuklearen Materials und entsprechender Technologie nun aufheben? Oder beharren Sie auf dem Prinzip der Einstimmigkeit in der Nuclear Suppliers Group? Ich glaube, dass die Aufrechterhaltung des Lieferstopps der richtige Weg gewesen wäre, Indien an das nukleare Kontrollregime heranzuführen. ({3}) Jeder muss doch wissen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Indien nicht mehr über hinreichende Mengen an Uran verfügt, um seine Anlagen zu betreiben. Hier konsequent geblieben zu sein, wäre der richtige Weg gewesen, Herr von Guttenberg, wenn man das hätte erreichen wollen, was man zu Recht begrüßt, nämlich dass es ein kleines Stück mehr Kontrolle gibt. Wenn man hartnäckig und konsequent geblieben wäre, dann wäre man auf dem richtigen Weg gewesen. ({4}) Hier ist vom Scheitern des letzten Nichtverbreitungsvertrages gesprochen worden. Damals hat Kofi Annan ein bitteres Fazit gezogen. Er hat gesagt: Das große Thema, das fehlt, ist Abrüstung und Nichtverbreitung. Dies ist eine echte Schande. Wir haben in diesem Jahr zweimal versagt. Wir versagten bei der NPT-Konferenz und wir versagten jetzt. - Ich finde, mit dem Versagen muss es ein Ende haben. Es ist Zeit, zu handeln, und wir müssen zu dem großen Konsens zurückkehren, den wir einmal hatten, nämlich mit dafür zu sorgen, dass es keine Atomwaffen mehr auf diesem Globus gibt. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/448, 16/819 und 16/834 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista Sager, Hans-Josef Fell, Kai Boris Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Zukunftsfähige Forschung in Europa stärken - Drucksache 16/710 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Krista Sager vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir die Ziele der Lissabonagenda erreichen wollen, dann brauchen wir zweifelsohne sowohl auf der Ebene der Mitgliedstaaten als auch auf der europäischen Ebene eine deutliche Steigerung der Mittel für die Forschung. Ich denke, darüber sind wir uns alle einig. Jetzt wissen wir - das ist positiv -: Es wird auch auf der europäischen Ebene im Zusammenhang mit dem 7. Forschungsrahmenprogramm mehr Mittel für Forschung geben. Wir wissen aber auch: Es wird nicht so viele Mittel für Forschung geben, wie die Kommission in ihrem Vorschlag vorgesehen hat, wenn wir das zugrunde legen, was die Staats- und Regierungschefs im Dezember auf dem Gipfel über den mehrjährigen Finanzrahmen vereinbart haben. Wir wissen zwar noch nicht endgültig, was Parlament und Rat über diesen mehrjährigen Finanzrahmen vereinbaren werden, wir müssen uns aber darauf einstellen, dass die Bundesregierung die Frage beantworten muss, wie sie angesichts der Situation, dass wir weniger Geld haben werden, als im Kommissionsvorschlag vorgesehen war, auf der europäischen Ebene agiert. ({0}) Da haben wir einige Bitten und Forderungen. Erstens. Wir möchten Sie auffordern, sich dafür einzusetzen, dass in jedem Fall mögliche Kürzungen nicht über alle Bereiche gleichmäßig verteilt werden, sondern dass in jedem Fall der Forschungsbereich gegenüber anderen Bereichen ein stärkeres Gewicht bekommt. Das brauchen wir. ({1}) Zweitens. Wenn es innerhalb des 7. Forschungsrahmenplans gegenüber der Vorlage zu Einschränkungen kommen muss, dann dürfen diese Kürzungen nicht gleichmäßig über alle Forschungsbereiche verteilt werden. Es darf schon gar nicht sein, dass bestimmte Megaprojekte wie zum Beispiel ITER einen besonderen Schutz genießen. Wir wollen vielmehr einen Vorrang für die zukunftsrelevanten Bereiche, und zwar vor allem für die Bereiche, die unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit zukunftsrelevant sind und im Einklang mit den Umweltzielen der Lissabonstrategie stehen. Diese gehören nämlich unweigerlich und notwendig zur Lissabonstrategie. ({2}) Wir sehen dabei natürlich nicht nur die regenerativen Energien, nicht nur die Einsparungseffekte aufgrund der Energieforschung, sondern auch die Nachhaltigkeitspotenziale in der Nanotechnologie, in der Materialforschung, in der Weißen Biotechnologie, im Verkehrs- und Umweltbereich und bei den nachwachsenden Rohstoffen. Wir treten ganz klar dafür ein, dass Sie sich für diese eindeutigen Prioritäten einsetzen. ({3}) Wir haben im Ausschuss schon festgestellt, dass diejenigen Programme im Bildungs- und Wissenschaftsbereich, bei denen es um die Förderung von Personen geht, von der Steigerung der Mittel nicht so sehr wie die Forschungsrahmenprogramme profitiert haben. Wir möchten, dass in das 7. Forschungsrahmenprogramm die individuelle Förderung unseres wissenschaftlichen Nachwuchses, unserer jungen Forscherinnen und Forscher, integriert wird; denn unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten ist das zwingend notwendig. ({4}) Wir wollen auch, dass kleine und mittlere Unternehmen und nicht nur die große Industrie Zugang zu diesen Programmen haben. Das heißt, wir wollen administrative Hürden abbauen. Denn gerade unsere kleinen und mittleren Unternehmen verfügen über ein großes Innovationspotenzial im Forschungsbereich. ({5}) Wir brauchen auch starke Geisteswissenschaften. Wenn wir uns gesellschaftliche Transformationsprozesse anschauen - große Veränderungen durch die Globalisierung und durch den demografischen Wandel -, dann erkennen wir, dass die Geisteswissenschaften eben nicht nur Beiwerk sind und dass wir einen Schwerpunkt auf entsprechende Forschungsprogramme setzen müssen. ({6}) Aus meiner Sicht ist das Thema „Europäisches Technologieinstitut“ noch nicht ausdiskutiert. Die vorhandenen Modelle werfen mehr Fragen auf, als sie heute beantworten. Es darf keinen Widerspruch zu dem Ansatz geben, die europäische Grundlagenforschung zu stärken, unter anderem durch einen gemeinsamen Forschungsrat. Es muss von Anfang an Sorge dafür getragen werden, dass der gemeinsame Forschungsrat kein Instrument von Interessengruppen wird, schon gar nicht von nationalen; vielmehr muss er wirklich ein Instrument der europäischen Grundlagenforschung werden. Wenn das der Fall ist, können wir uns damit einverstanden erklären. Wir gehen davon aus, dass die Bundesregierung uns laufend über die weitere Entwicklung auf der europäischen Ebene informiert, damit wir vom Parlament aus weiter zeitnah verfolgen können, wie die Weichen gestellt werden. Danke schön. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Carsten Müller von der CDU/CSU-Fraktion.

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wissenschaft und Forschung haben für Deutschland und auch für die Europäische Union eine ganz herausragende Bedeutung. Innovationen sind für eine dauerhaft wachsende Volkswirtschaft lebensnotwendig. Das war zwar bisher schon so; dieser Aspekt wird in Zukunft aber eine noch größere Bedeutung bekommen. Sowohl die EU als auch Deutschland liegen im Vergleich der Forschungsaufwendungen hinter den USA und Japan zurück. Nur durch eine Steigerung der Anstrengungen ist es möglich, den uns bevorstehenden Herausforderungen zu begegnen und gesetzte Ziele zu erreichen. Die neue Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, Forschung und Wissenschaft voranzutreiben. ({0}) Der hohe Stellenwert der Forschung geht aus dem Koalitionsvertrag ganz deutlich hervor. Die Bundesregierung hat sich dort bezüglich der Bereiche Forschung und Entwicklung auf wichtige zusätzliche Maßnahmen geeinigt. Bis zum Jahr 2009 werden zusätzlich 6 Milliarden Euro für besonders zukunftsträchtige Forschungs- und Entwicklungsvorhaben zur Verfügung gestellt. Dadurch werden Querschnitts- und Spitzentechnologien unterstützt und verbesserte Rahmenbedingungen für die deutschen Forschungseinrichtungen und Unternehmen geschaffen. Ziel dieser Innovationspolitik ist es, die Verbindung zwischen Forschung und Zukunftsmärkten auszubauen. Deutsche Unternehmen gehören auf wichtigen Technologiefeldern, zum Beispiel auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien, bereits heute zur internationalen Spitze. Die damit verbundenen Marktchancen werden bislang leider noch nicht in vollem Umfang genutzt. Das muss sich dringend ändern. ({1}) Auch die EU muss auf die Herausforderungen angemessen reagieren. Wir müssen deswegen in europäischen Dimensionen denken. Wichtige Forschungsvorhaben sind heute technisch und finanziell praktisch nur noch im europäischen Maßstab durchführbar. Dabei denken Sie, Frau Sager, wie ich zum Beispiel an Galileo oder auch an ITER. Ein weiterer nicht zu unterschätzender Ansatz in der europäischen Forschungsförderung ist der Wissenschaftlernachwuchs. Dieser ist die Grundlage für den Weg zu unseren Zielen. Einige Forschungsbereiche sind jedoch entweder gar nicht oder nur unzureichend bekannt. So erreichen wir den wissenschaftlichen Nachwuchs leider nicht. Faszination und Neugier müssen der jungen Generation vermittelt werden. Deswegen ist es wichtig, dass der Nachwuchs nicht nur national, sondern auch auf europäischer Ebene gefördert und unterstützt wird und so Motivation erfährt. ({2}) Bei den Bemühungen der EU müssen wir darauf achten, dass neue europäische Forschungsinfrastrukturen nur in den Bereichen gefördert werden, in denen bereits vorhandene nationale Einrichtungen diese Aufgaben nicht ausfüllen können. Hierbei sollen bestehende Forschungseinrichtungen stärker an die gemeinschaftliche Forschungsinfrastruktur angebunden werden. Im Rahmen der europäischen Forschungspolitik ist es dabei besonders wichtig, dass das Forschungsrahmenprogramm einen europäischen Mehrwert generieren muss. Es darf nicht zulasten der nationalen Forschungsförderung gehen. Ein europäischer Forschungszentralismus muss unbedingt vermieden werden. ({3}) Die Unionsfraktion und auch die Fraktion der SPD sind ganz froh darüber, dass die neue Bundesregierung das offensichtlich auch so sieht. Mit der Erklärung von Lissabon hat sich die EU das Ziel gesetzt, Europa an die Spitze der Wissensgesellschaften zu führen. Mit dem Forschungsrahmenprogramm soll Europa zur stärksten Forschungs- und Innovationsregion werden. Dieses Ziel wird in diesem Haus wohl von allen Fraktionen gemeinsam getragen. Die Laufzeit des 7. Programms ab dem 1. Januar 2007 wurde sinnvollerweise der finanziellen Vorausschau von 2007 bis 2013 angepasst. Das bietet den Forschungseinrichtungen eine wesentlich größere Planungssicherheit. Leider - darauf ist Frau Sager schon eingegangen konnte auf europäischer Ebene nicht alles wie gewünscht im 7. Programm verankert werden. Die vorgesehene finanzielle Ausstattung wurde nicht erreicht. Es ist jedoch dem großen Einsatz der Bundesregierung und insbesondere der Bundeskanzlerin zu verdanken, dass am Ende ein tragfähiger und auch finanzierbarer Kompromiss steht. Im Jahr 2013 werden die EU-Forschungsmittel 75 Prozent über denen des Jahres 2006 liegen. Das ist ein unbestreitbar großer Erfolg. ({4}) Die nächste Stufe bei der notwendigen Einigung bezüglich der finanziellen Vorausschau ist die Einigung mit dem Europäischen Parlament. Der Start des Programms kann dann am 1. Januar 2007 zeitlich parallel mit der deutschen Ratspräsidentschaft erfolgen und erfolgreich vollzogen werden. Carsten Müller ({5}) Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir, dass ich drei für die Union wichtige Gesichtspunkte hier noch einmal genauer benenne: Erstens. Eine Verfahrensverbesserung im Vergleich zum 6. Programm ist bei der Programmbeteiligung kleiner und mittelständischer Unternehmen zu erreichen. Insbesondere das derzeitige Antragsverfahren hat sich als zu kompliziert erwiesen. Es kann tatsächlich nicht angehen, dass kleine und mittelständische Unternehmen eigene Experten beschäftigen müssen, um die Antragsformulare bearbeiten zu können. Das muss geändert werden. ({6}) Zweitens. Neu ist der Bereich der Sicherheitsforschung. Dieser muss weit gefasst werden. Der Schutz vor Unterdrückung, Krankheit und Hunger wie auch der Schutz vor Katastrophen durch Terror oder Naturereignisse ist einzubeziehen. Europa muss vor dem Hintergrund wachsender terroristischer Gefahren und zunehmender Umweltkatastrophen Antworten auf die veränderte Sicherheitslage finden. Ich halte es für falsch - das sage ich mit Blick auf den Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen -, dass sinnvolle Forschung nur aufgrund eines eventuell möglichen Dual-Use-Charakters aus ideologischen Gründen abgelehnt wird. Der vorliegende Antrag trägt zudem leider nicht dazu bei, eine praktikable Abgrenzung zwischen Sicherheits- und Militärforschung zu finden. Angesichts der veränderten Bedingungen im alltäglichen Leben durch die Gefahren von Terrorismus und Kriminalität ist es wichtig, dass der Bereich der Sicherheitsforschung auch eine Entsprechung auf europäischer Ebene findet. Ihnen ist der Bereich der Sicherheitsforschung leider nur eine kurze Erwähnung wert. Drittens. Ein weiterer grundlegender Bereich ist die Energieforschung. Vor dem Hintergrund der Verknappung fossiler Brennstoffe sowie der notwendigen Versorgungssicherheit des europäischen Wirtschaftsraums muss ein bezahlbarer und vernünftiger Energiemix das klare Ziel sein. Um das zu erreichen, müssen die Forschungsanstrengungen in diesen Bereichen enorm verstärkt werden. ({7}) Die Aufnahme der Energieforschung als spezielles Themenfeld in das 7. Programm ist deshalb ausdrücklich zu begrüßen. In diesem Zusammenhang ist es von vorrangiger Bedeutung, dass diesbezügliche Forschungsprojekte zunächst einmal ohne ideologische Scheuklappen geprüft werden; ihre Potenziale müssen gesehen werden. Ich möchte Ihren Blick hier besonders auf langfristige Projekte richten und erwähne in diesem Zusammenhang noch einmal ITER. Unerlässlich ist es jedoch, dass das gesamte 7. Forschungsrahmenprogramm unter allen Umständen unter der Maßgabe des Exzellenzprinzips aufgebaut und durchgeführt wird. Nur durch eine nach wissenschaftlichen Kriterien ausgerichtete Forschungsförderung können die Lissabonziele tatsächlich erreicht werden. ({8}) Bündnis 90/Die Grünen haben zum 7. Forschungsrahmenprogramm einen sehr wortreichen Antrag vorgelegt. Bemerkenswert ist, wie Sie Ihre Schwerpunkte setzen. An der einen oder anderen Stelle scheinen tatsächlich noch sehr stark Ideologie und Dogmatik durch. Sie ziehen dadurch Grenzen, die gerade für die dynamischen Bereiche Forschung und Wissenschaft kaum hilfreich sind. Ich will Ihnen einige wenige Beispiele nennen: Nehmen wir den Bereich „Ökologischer Landbau“. ({9}) - Gerne, es gibt genügend, Herr Barth. - Unbestritten ein wichtiger Bereich, aber es kann nicht ernsthaft ein besonders herauszustellender Aspekt des 7. Forschungsrahmenprogramms sein. ({10}) Ein weiteres Beispiel für außerordentliche Themenspreizung liefern Sie in Ihrem Antrag im Kapitel „Verkehr“. Sie erwähnen dort außergewöhnlich ausführlich den Bereich Carsharing. Man könnte beim Lesen den Eindruck bekommen, dass Ihnen die Untersuchung von Carsharing genauso wichtig ist wie die Nanotechnologie. ({11}) Ich glaube tatsächlich, dass wir das auf ein gesundes Maß zurückführen sollten. Insgesamt fällt auf, dass die thematische Schwerpunktbildung und der Blick für die großen Dimensionen des 7. Forschungsrahmenprogramms nicht unbedingt die Stärke von Bündnis 90/Die Grünen ist. Alles in allem kann leider so dem vorliegenden Antrag nicht zugestimmt werden. Meine Damen und Herren, Sie gestatten mir eine letzte Ausführung: Für Wissenschaft und Wirtschaft geht es in nächster Zeit vor allem darum, sich auf die neuen Managementregeln des 7. Forschungsrahmenprogramms einzustellen. Wir müssen uns darum kümmern, dass es einen möglichst reibungslosen und fließenden Übergang vom sechsten zum siebten Programm gibt. Dazu sind die endgültigen Regelungen frühzeitig zu veröffentlichen. Wir rechnen insofern auch auf die Kooperation der Bundesregierung. Wir glauben, dass das 7. Forschungsrahmenprogramm ein großer Erfolg wird. Das wird nicht zuletzt dadurch gewährleistet, dass es parallel mit dem Beginn der deutschen Präsidentschaft auf EU-Ebene gestartet wird. Carsten Müller ({12}) ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Müller, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen im Namen des Hauses dazu sehr herzlich. ({0}) Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Barth von der FDP-Fraktion.

Uwe Barth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003735, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lassen Sie mich zunächst auf das Positive eingehen. Der vorliegende Antrag führt eine Reihe richtiger Ansätze auf: die europäische Sicherheitsforschung, den Europäischen Forschungsrat, die Wasserstoffforschung und die Energiespeicherforschung. In ganz wesentlichen Teilen ist der Antrag aber eine nochmalige Zurschaustellung vermeintlicher Erfolge einer in Wahrheit verfehlten rotgrünen Forschungspolitik in Deutschland. ({0}) Das, was Sie, Frau Sager, hier als Prioritätensetzung bezeichnet haben, ist in Wahrheit der Versuch, über das 7. Forschungsrahmenprogramm trotz nicht mehr vorhandener Mehrheit Ihre Forschungspolitik fortzusetzen. Schon die einleitenden Feststellungen rücken die Bedeutung der Brüsseler Forschungspolitik in ein völlig falsches Licht. ({1}) Mehr Geld für Brüssel zu fordern, damit die EU-Administration mehr Geld für Forschung aufwenden kann, führt in eine Sackgasse. Auf der einen Seite reden wir uns hier im Hohen Hause die Köpfe über eine Föderalismusreform und die damit verbundene Reform der Finanzverfassung heiß, auf der anderen Seite wird aber mit diesem Antrag der Versuch unternommen, das in der EU geltende Subsidiaritätsprinzip zulasten der Mitgliedstaaten zu unterwandern. ({2}) Das ist nicht der richtige Weg. ({3}) Ebenso ist der Verweis darauf, dass die EU-Mitgliedstaaten im Durchschnitt nur knapp 2 Prozent ihres BIP in Forschung und Entwicklung investieren, noch lange keine ausreichende Begründung dafür, das Budget der EU zu erhöhen. Europa kann nicht all das reparieren, was in den Ländern versäumt wird. ({4}) Hier herrscht die Vorstellung: Gebt der EU mehr Geld, dann wird sie schon alles richten. ({5}) So geht es nicht. Auch Deutschland ist mit seinen knapp 2,5 Prozent im Jahr 2004 nicht in der Spitzengruppe der europäischen Länder zu finden. Aber bei steigenden F-und-E-Ausgaben in der Wirtschaft hat sich der Anteil der öffentlichen Hand deutlich verringert. Der Bericht des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft hat uns diese Entwicklung deutlich vor Augen geführt. Das zeigt: Jedes Mitgliedsland muss seine Hausaufgaben machen und klare Zielsetzungen im eigenen Land haben, um die Lissabonstrategie bis 2010 zu verwirklichen. ({6}) Uns bleiben dafür noch viereinhalb Jahre. Das 7. Forschungsrahmenprogramm startet aber erst 2007 und geht bis 2013. Stellen wir uns doch einmal selbst die Frage, ob wir daran glauben, dass Deutschland im Jahr 2010 mit dem Transrapid die Ziellinie überfährt. Hier sind doch deutliche Zweifel angebracht. Gingen wir den Feststellungen in diesem Antrag auf den Leim, dann würden wir nachträglich auch Ja sagen zu einer aus unserer Sicht katastrophalen und verfehlten Energieforschungspolitik von Rot-Grün. Herr Müller hat das Beispiel ITER schon angesprochen. Wenn wir diesem Antrag zustimmten, würden wir uns auch der Auffassung anschließen, dass ein Forschungsverbot in einem Land automatisch die Forschungsförderung in allen anderen Ländern verbietet. ({7}) Ich denke da an die biotechnologische Forschung und besonders an die Stammzellforschung. Warum drehen wir diese Forderung nicht um? Was in einem Land erlaubt ist, soll in den anderen Ländern ebenfalls erlaubt sein. ({8}) Zumindest sollte die Kriminalisierung der Forschung im Ausland beendet werden. Das wäre ein freiheitlicher Ansatz; so entstünde Wettbewerb. ({9}) Aber das ist mit Ihrer Regelungswut und vor allem mit Ihrem Anspruch, quasi die letzte Instanz in allen moralischen Fragen in diesem Universum zu sein, natürlich nicht zu vereinbaren. ({10}) Meine Damen und Herren, die Grünen haben es geschafft, dass Deutschland seine Führungsposition in der kerntechnischen Forschung verloren hat. Nun wollen sie an Euratom heran. Ich sage: Achtung! Das hat langfristig negative Konsequenzen für die Sicherheit der Kernreaktoren in Europa und stellt letztlich eine Gefahr für alle Europäer dar. Die Grünen wollen nicht wahrhaben, dass die Kernenergie in Europa wieder auf dem Vormarsch ist ({11}) und von den Menschen wieder als Bestandteil einer sicheren Energieversorgung angesehen wird. Deshalb - und damit wir die größtmögliche Sicherheit erreichen - brauchen wir auch in diesem Bereich eine leistungsfähige Forschung in Europa. Ergebnis der Betrachtung: Den Geist dieses Antrages können wir nicht mittragen. Wir müssen ihn daher ablehnen. ({12}) Vielen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege René Röspel von der SPDFraktion. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist immer wieder gut und schön, über Forschung und Wissenschaft, Bildung und Entwicklung in diesem Hause sprechen zu können, vor allen Dingen freitags nachmittags vor „vollem“ Haus, wenn man schon überlegen muss, wie man gleich nach Hause kommt. Es macht Spaß, hier über Forschung zu sprechen, vor allen Dingen weil es ein Bereich ist, in dem wir in den letzten Jahren auch von dieser Stelle als Bund eine Menge haben bewegen können. Ich glaube, dass wir auch in den nächsten Jahren gemeinsam eine Menge bewegen können. ({0}) Bildung und Forschung sind von zentraler Bedeutung für die Zukunft unserer Gesellschaft. Deswegen ist es gut, dass dieses Thema immer wieder Eingang in dieses Haus findet. ({1}) Die Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben auf ihrem Gipfeltreffen im März 2000 in Lissabon die so genannte Lissabonstrategie beschlossen. Danach soll Europa - ich zitiere - „bis zum Jahr 2010 der wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt“ werden. ({2}) Deutschland war in diesem Fall sogar ein bisschen schneller. Wir haben in einem Kraftakt seit 1998 die Bedingungen für Forschung und Entwicklung in diesem Land deutlich verbessert. Die Bruttoinlandsausgaben für Forschung und Entwicklung lagen 1998 bei 45 Milliarden Euro und im vorletzten Jahr bei 55 Milliarden Euro. Das bedeutet eine Steigerung um 21 Prozent. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat 1998 für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologieentwicklung 7,2 Milliarden Euro ausgegeben; 2005 lagen die Ausgaben bei 9,9 Milliarden Euro. Das ist eine Steigerung von 37,5 Prozent. ({3}) Wenn Sie mir diesen Diskurs erlauben - Herr Barth, Sie sind ja noch neu in diesem Haus -: Das sind Zahlen, die sich jede FDP-Regierung erträumt hätte. Das haben Sie in den letzten Jahren Ihrer Regierungszeit für dieses Land leider nicht erreicht. ({4}) - Die FDP hat noch nie regiert? Dann schauen Sie einmal nach. Die FDP ist die Partei, die am längsten in diesem Land an der Regierung gewesen ist. ({5}) Mit den Folgen müssen wir seit 1998 umgehen. Wenn Sie sich einmal anschauen, wie sich die Wissenschaftsorganisationen äußern - die Helmholtz-Gemeinschaft lobt die Aktivitäten der letzten Jahre, die Fraunhofer-Gesellschaft und die Max-Planck-Gesellschaft äußern sich sehr zufrieden über die Zuwächse in den letzten Jahren -, dann würden Sie diese Situation anders darstellen, als Sie es vorhin getan haben. ({6}) In diesem Zusammenhang bietet es sich an, einmal deutlich zu machen, welche zentrale Rolle Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten dabei spielen, diese Gesellschaft moderner und zukunftsfähiger zu machen. Wir haben mit unserem alten Koalitionspartner Bündnis 90/ Die Grünen die Trendwende 1998 eingeleitet und Bildung und Forschung wieder zu einem Toppthema gemacht. Wir sind froh, dass wir diese Politik mit dem neuen Koalitionspartner CDU/CSU gleichermaßen erfolgreich in der Zukunft gestalten können. Diese Kontinuität ist wichtig für das Land. ({7}) Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung. Sie haben relativ polemisch - das ist für einen Physiker überraschend - in Sachen Energietechnologie argumentiert. Wir sind in Sachen Kernfusion sicherlich näher bei den Grünen. Das ist gar keine Frage. ({8}) Schauen Sie sich einmal an, welche Bedeutung die Kernenergie noch hat, obwohl es am 26. April vor 20 Jahren die Katastrophe von Tschernobyl gab. Aus diesem Anlass werden wir uns sicherlich mit den Menschen beschäftigen müssen, die in Belarus leben und von dieser Katastrophe betroffen waren und sind. ({9}) Wir müssen unter diesem Gesichtspunkt die Diskussion über die Atomkraft führen. Wenn Sie betrachten, was wir in den letzten Jahren im Bereich der erneuerbaren Energien mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz geschaffen haben - damit sind wir Weltmeister auf diesem Gebiet; andere Länder nehmen sich ein Beispiel daran -, wenn Sie bedenken, dass wir in Sachen Windkraftenergie mittlerweile führend sind ({10}) - das sage ich als Abgeordneter eines Wahlkreises im Ruhrgebiet, wo die Stahlindustrie eine große Rolle gespielt hat, wo jetzt aber die Windenergie und die erneuerbaren Energien zugunsten des Umweltschutzes und der Zukunftstechnologien einen großen Anteil haben -, dann hätten Sie vielleicht eine andere Rede gehalten. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Röspel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fell?

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, wenn ich meinen Zug noch erreiche.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte eine kurze Zwischenfrage, Herr Kollege Fell.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Röspel, Sie haben gerade dargestellt, wie stark die Aufwendungen für erneuerbare Energien sein sollten und wie problematisch die Aufwendungen für die Kernenergie sind. Ich teile diese Aussage. Können Sie eigentlich mittragen, was im Entwurf des 7. Forschungsrahmenprogrammes und des Euratom-Programmes vorgesehen ist? Danach sollen etwa 3 Milliarden Euro für die Kernenergie ausgegeben werden. Für die erneuerbaren Energien hingegen sollen - man kann es noch nicht endgültig sagen - schätzungsweise 300 bis 400 Millionen Euro, also etwa nur ein Zehntel der Aufwendungen für die Kernenergie, ausgegeben werden. Halten Sie dieses Verhältnis für richtig?

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich würde mir ein anderes Verhältnis wünschen. ({0}) Aus den letzten Jahren, lieber Herr Kollege Fell, wissen Sie allerdings auch, dass wir es auf europäischer Ebene immer sehr schwer gehabt haben, dieses Verhältnis zu ändern. Aus zukunfts- und umweltorientierter Sicht gibt es keine Alternative zu den erneuerbaren Energien. Man muss also auch auf europäischer Ebene für diesbezügliche Veränderungen sorgen. ({1}) Wir diskutieren heute über den Antrag der Grünen zum 7. Forschungsrahmenprogramm. Dabei ist eine insgesamt erfreuliche Entwicklung festzustellen, wenngleich wir vom 3-Prozent-Ziel, das sich die Regierungen gesetzt haben, auf deutscher wie auch auf europäischer Ebene noch weit entfernt sind. Der Antrag der Grünen - um auf das eigentliche Thema zu sprechen zu kommen - enthält viele positive Elemente. Dort werden viele Gemeinsamkeiten dargestellt, die vom gesamten Haus getragen werden können. Allerdings gibt es eine ganze Reihe von Punkten, zu denen wir Fragen haben. Es ist Aufgabe der Opposition - das wurde auch in der Zwischenfrage deutlich -, mehr Geld zu fordern. Aber wir konnten in unserer gemeinsamen siebenjährigen Regierungszeit auf europäischer Ebene feststellen, dass das nicht immer einfach zu realisieren ist. Ich gestehe Ihnen also zu, diese Forderung im Antrag zu stellen, wenngleich sie nicht einfach zu erfüllen ist. Offenere und flexiblere Strukturen zu fordern, damit bin ich einverstanden. Es hat auch niemand etwas dagegen, die Effizienz der eingesetzten Mittel zu erhöhen. Über den Abbau von Bürokratie hat der Kollege Müller von der CDU/CSU-Fraktion schon eine ganze Menge gesagt. ({2}) Jeder wird dazu Ja sagen. Im 6. Forschungsrahmenprogramm war die Ausrichtung darauf angelegt, gerade für kleine und mittlere Unternehmen eine Verbesserung hinzubekommen. Dies ist nicht erreicht worden. Also bleibt dies eine Aufgabe für die Zukunft und für uns. Das ist dringend notwendig. Aber es scheitert an der Realität. Wenn Sie von den Grünen allerdings die Bundesregierung auffordern - wie zum Beispiel auf Seite 5 Ihres Antrages -, dafür Sorge zu tragen, „dass KMUs an den Programmen des Bereichs Zusammenarbeit mindestens die 15 Prozent aus dem 6. FRP erreichen“, so kann man das zwar formulieren. Ich glaube aber, dass man dann, wenn man für die Antragstellung ein offenes, nach bestimmten Kriterien festgelegtes Verfahren einführen will, nicht von vornherein Quoten festsetzen kann. Man wird vielmehr erst im Nachhinein feststellen, wie hoch der Anteil war. Es liegt außerhalb der Möglichkeiten der Bundesregierung - diese ist ja der Adressat Ihres Antrages -, Einfluss zu nehmen. Wenn Sie auf Seite 5 die Bundesregierung auffordern, „dass neben dem Auswahlkriterium der Exzellenz bei der Förderung auch das Anwendungspotenzial der Innovationen berücksichtigt wird“, dann hört sich das auf den ersten Blick gut an. Aber bei genauerem Nachdenken - das ist zumindest mir so gegangen; das soll ja hin und wieder vorkommen - stellt sich die Frage, ob es in der Tat sinnvoll und möglich ist, Exzellenz und Anwendungspotenzial gleichermaßen als Anforderung zu postulieren. Gerade im Bereich der Grundlagenforschung ist das Anwendungspotenzial in der Regel nicht absehbar. Wilhelm Conrad Röntgen hätte nie gedacht, dass er eine anwendungsorientierte Forschung betreiben würde, als er sich mit Röntgenstrahlen befasste. In der Tat stellen sich folgende Fragen: Was ist, wenn das Vorhaben zwar exzellent ist, aber kein Anwendungspotenzial hat? Scheidet es deswegen aus? ({3}) Oder umgekehrt: Was ist, wenn das Anwendungspotenzial offensichtlich und groß ist, aber keinerlei Exzellenz vorhanden ist, weil dies nicht notwendig ist? Scheidet dieses Vorhaben dann ebenfalls aus? Ich finde, über diesen Bereich sollten wir noch nachdenken. Nebenbei offenbart sich da eine Schwachstelle der gesamten Exzellenzdiskussion, die wir seit einigen Jahren führen. Sie sollten sich in Erinnerung rufen, dass wir vor zwei Jahren eine Diskussion über SARS, über eine Seuche, die von China ausging und durch Viren übertragen wurde, geführt haben. Es waren in der Tat deutsche Forscher, die als Erste das Genom des SARS-Erregers entschlüsselten. Herr Barth, dieser Erfolg kam übrigens daher, dass die Genomforschung durch die rot-grüne Regierung sinnvollerweise extrem gefördert wurde. Am Ende waren deutsche Forscher bei der Analyse und der Behandlung der Erkrankung durch den SARS-Virus führend. Warum war das so? Schlicht und einfach deshalb, weil Deutschland es sich erlaubt hat, eine Nischenforschung weiter zu fördern, die es in anderen Ländern nicht mehr gab oder die es, wenn es die SARS-Fälle nicht gegeben hätte, nicht mehr geben würde, weil sie zu uninteressant war. Für SARS- oder ähnliche Viren hat sich niemand interessiert. Weil unabhängig von dem Kriterium Exzellenz die Wirkung dieser Forschung wegen der Größe der Forschergruppen überhaupt nicht messbar war, haben wir es uns erlaubt, dieses Gebiet zu fördern. Dies ist vielleicht ein Grund dafür, noch einmal darüber nachzudenken, ob wir nicht außerhalb der Exzellenzdiskussion auch andere Bereiche betrachten sollten. ({4}) Was den Europäischen Forschungsrat anbelangt, fordern Sie, technologische, naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Projekte gleichermaßen zu fördern. Ich sage aus meiner Sicht: Die Stärke des Konzepts des Europäischen Forschungsrats ist gerade die Autonomie. Wir unterstützen ausdrücklich Ihre Aussage, dass der Europäische Forschungsrat kein Instrument von Interessengruppen sein darf und autonom entscheidet, welche wissenschaftlichen Vorhaben er unterstützt. Wenn man von vornherein sagt, ihr müsst dieses und jenes gleichermaßen berücksichtigen, dann, glaube ich, stellt man eine Leitplanke auf, die nicht sinnvoll ist. Die Stärke des ERC ist es eben, unbürokratisch und autonom zu entscheiden. Es gibt noch eine Menge zu beraten. Wir werden heute einer Überweisung Ihres Antrages an die Ausschüsse zustimmen. Unseren Antrag, den von CDU/CSU und SPD, werden wir in den Beratungen daneben legen. Vielleicht gelingt es im Interesse der europäischen Forschungsförderung, die Gemeinsamkeiten zu betonen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt und an diesem Tag hat das Wort die Kollegin Dr. Petra Sitte von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Röspel, Sie beklagen, dass Sie am Freitagnachmittag reden müssen. ({0}) Ich muss als Letzte reden und habe nur vier Minuten Redezeit. Wer in vier Minuten angemessen über dieses Thema reden will, muss ein kleines Wunder vollbringen. Wunder - das wissen Sie - ersetzen im Allgemeinen Forschung und Wissen ohnehin. ({1}) Deshalb kann ich nur ein paar wenige grundsätzliche Bemerkungen machen. Dass es so ein komplexes Programm wie das Forschungsrahmenprogramm gibt, ist natürlich eine der wichtigsten Leistungen auf der EU-Ebene; das ist völlig klar. Es ist schon angedeutet worden, dass es trotzdem nicht kompensieren kann, was auf nationaler Ebene unterlassen wird. So sind die Ausgaben für Forschung und Entwicklung in den letzten Jahren - um es wohlmeinend zu formulieren - als stagnierend zu bezeichnen. Die Verantwortung dafür liegt wechselseitig sowohl bei der staatlichen Ebene als auch bei der Wirtschaft. Die EU-Vorgabe besagt ausdrücklich, dass der Staat ein Drittel für diesen Bereich ausgeben soll. Insofern ist es durchaus richtig, wenn der Bund in den nächsten vier Jahren 6 Milliarden Euro zusätzlich für Forschung und Entwicklung ausgeben will. Allerdings - das ist vorhin kurz erwähnt worden - bedürfte es eigentlich Ausgaben in Höhe von 3 Milliarden Euro pro Jahr und nicht von 1,5 Milliarden Euro, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Ich will ein zweites Problem erwähnen. Im Rahmen der Föderalismusreform wird es relativ wenige strukturelle Veränderungen für den Bereich Forschung und Entwicklung geben. Damit bleibt auch die direkte Anknüpfung an die EU-Politik erhalten. Wenn man sich aber andererseits aus der Gestaltung der Rahmenbedingungen der Hochschulen heraushält, dann ignoriert man, dass die deutschen Hochschulen seit vielen Jahren sehr erfolgreich die Einheit von Forschung und Lehre praktizieren. ({2}) Unter diesem Gesichtspunkt halte ich es für kritikwürdig - man kann auch an die Worte von Herrn Struck heute Morgen anknüpfen -, wenn wir hier darüber reden, weil wir alle ganz genau wissen, was am Ende passiert. Die einzelnen Bundesländer sprechen alle brav bei der EU vor, um aus den einzelnen Fördertöpfen des 7. Forschungsrahmenprogramms zu schöpfen. Schauen Sie sich die Präsenz der einzelnen Bundesländer in Brüssel oder Straßburg an! Sie sind ganz unterschiedlich ausgestattet, was auch mit dem Reichtum der Länder zu tun hat. Diese Disparitäten werden noch stärker zutage treten. Bayern kann zum Beispiel ganz anders agieren als andere Bundesländer. Vielleicht ist Bayern ein schlechtes Beispiel und ich ziehe lieber Baden-Württemberg heran. Baden-Württemberg kann ganz anders als andere Bundesländer auf die Fördertöpfe des Forschungsrahmenprogramms zugreifen. Ich meine, dass wir mit unseren Entscheidungen diese Disparitäten vertiefen. Insofern muss es um Entscheidungsstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland gehen, die der europäischen Organisation Rechnung tragen. Ebenso problematisch ist der Umgang mit den Forschungsgegenständen und -inhalten, die sich hinter den spezifischen Programmen und ihren thematischen Prioritäten verbergen. Zu den Schwerpunktsetzungen - das ist völlig klar - gibt es natürlich unterschiedliche Meinungen. Das macht auch der Antrag deutlich. Auch unsererseits gibt es durchaus Zustimmung und Differenzen. Das ist völlig klar. In diesem Punkt wird der Antrag der Bündnisgrünen besonders interessant und diskussionswürdig. Ich halte es für ein wenig problematisch, wenn man versucht, nur seine eigenen Positionen in den Antrag aufzunehmen, und hofft, dass diese beschlossen werden. Man kann den Versuch natürlich unternehmen, aber die Chancen sind nicht besonders groß. Ich erwähne beispielsweise, dass es im Bereich der Weltraumforschung erheblichen Diskussionsbedarf gibt. Ich erwähne darüber hinaus die neueren Diskussionen über die Stammzellproblematik. Über einige Punkte in Ihrem Antrag besteht durchaus noch Diskussionsbedarf. Bei anderen Punkten sind Sie relativ vage geblieben, beispielsweise beim Europäischen Technologieinstitut. Hier habe ich mir an den Rand „sehr mutig“ geschrieben. Hier spricht man sich für eine Prüfung aus. Ich meine allerdings, dass man aufgrund der Vorgeschichte eine eindeutig ablehnende Haltung zur Logik Ihrer Gedanken formulieren müsste. Abschließend möchte ich sagen, dass die Kommuniquésprache des Antrags das Lesen zu einer mühseligen Disziplinübung gemacht hat. Wenn man sich aber in die einzelnen Abschnitte vertieft, bleibt es eine spannende Angelegenheit. Danke schön. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 16/710 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 15. März 2006, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.