Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Grüß Gott, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Bericht zur Deutschen IslamKonferenz.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Bundesminister des Innern, Herr Dr. Wolfgang
Schäuble.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat sich heute mit dem Bericht zur Deutschen Islam-Konferenz 2006 bis 2009 befasst.
Die Bundeskanzlerin hat zu Beginn dieser Legislaturperiode in ihrer Regierungserklärung im November 2005 angekündigt, dass die Bekämpfung von Defiziten bei der Integration von Mitbürgern, die aus unterschiedlichen Teilen der Welt und aus unterschiedlichen
Kulturkreisen zu uns gekommen sind und mit uns leben,
einer der Schwerpunkte dieser Legislaturperiode sein
wird. In diesem Zusammenhang hat die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Frau Kollegin Böhmer,
den Nationalen Integrationsplan und den Integrationsgipfel als Dialogprozess entwickelt. Seit 2006 haben wir
uns im Rahmen unserer Integrationspolitik mit diesen
besonderen Beziehungen und der Tatsache auseinandergesetzt, dass der Islam ein Teil unseres Landes geworden
ist.
Damals haben wir angenommen, dass etwa
3,5 Millionen Muslime in unserem Land leben; heute
wissen wir, dass es über 4 Millionen sind. Sie haben einen Anspruch darauf - dieser Anspruch ist von vielen
Seiten formuliert worden -, zum Beispiel hinsichtlich
des Verhältnisses zwischen Staat und Religionsgemeinschaften so behandelt zu werden, wie es der gewachsenen Tradition in unserem Staatskirchenrecht und unserem Verfassungsrecht entspricht. Das betrifft auch den
Religionsunterricht an staatlichen Schulen. Darauf haben sie einen Anspruch.
Wir haben gesagt, dass wir diesen Prozess beginnen
und als ständigen Dialogprozess fortführen müssen. Wir
müssen miteinander darüber diskutieren, was dieser Anspruch bedeutet. Unser freiheitlich ausgerichteter und
weltanschaulich neutraler Rechtsstaat erteilt keine religiöse Unterweisung, sondern bietet nach Art. 7 unseres
Grundgesetzes Religionsunterricht in partnerschaftlicher
Zusammenarbeit mit den jeweiligen Kirchen und Religionsgemeinschaften an. Die Muslime sagen aber, sie
seien nicht in einer Kirche zusammengeschlossen. Deswegen mussten wir zu dieser Frage einen Dialog beginnen.
Wir sind in diesem Dialog weit gekommen.
15 Vertreter der Vielfalt muslimischen Lebens in unserem Land - das waren Vertreter der Verbände, die einen
Teil der Muslime in unserem Land repräsentieren, aber
auch Einzelpersönlichkeiten, die sich in der öffentlichen,
demokratisch-pluralistischen Debatte hervorgetan haben - haben wir ebenso wie Vertreter von Bund, Ländern
und Kommunen in diese Islam-Konferenz berufen. In
diesen drei Jahren haben wir nicht nur in den Plenarkonferenzen, sondern vor allem in drei Arbeitsgruppen und
einem Gesprächskreis intensiv gearbeitet und eine Fülle
sehr konkreter Ergebnisse erzielt, die wir im Einzelnen
in diesem Bericht darlegen, der Ihnen zur Verfügung gestellt werden kann.
In der Plenarkonferenz der vergangenen Woche haben
wir für diese Legislaturperiode in gewisser Hinsicht
Bilanz gezogen. Natürlich ist im Zusammenhang mit
dieser letzten Plenarkonferenz auch gesagt worden, dass
es noch immer keine einheitliche Meinung der Muslime
und der Verbände gibt. Die soll es auch gar nicht geben.
Wir sind ein pluralistisch verfasstes Land. Wir haben die
Vielfalt des Islam stärker wahrgenommen. Auch die
Muslime haben sich stärker damit auseinandergesetzt
und sie akzeptiert. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Integration.
Redetext
Wir haben Empfehlungen für den Religionsunterricht
an staatlichen Schulen entwickelt. Der Präsident der
Kultusministerkonferenz und der Vorsitzende der Innenministerkonferenz der Länder haben an allen Beratungen
teilgenommen. Die Länder sind dabei - diesbezüglich
besteht völliges Einvernehmen -, diese Empfehlungen
umzusetzen. In einer Reihe von Bundesländern gibt es
bereits entsprechende Ansätze. Wir arbeiten daran - das
haben wir in der vergangenen Woche noch einmal gemeinsam empfohlen -, dass in den Hochschulen in
Deutschland islamische Theologie auch auf wissenschaftlicher Ebene gelehrt wird, um Religionslehrer auszubilden, aber auch, um Theologie zu betreiben. Auch
das wird sicherlich ein wichtiger Schritt in den nächsten
Jahren sein.
Wir haben für die Kommunen praktische Handreichungen, zum Beispiel zu Fragen des Baus von Moscheen und zu Begräbnisriten, entwickelt. Wir haben gemeinsame Empfehlungen für die Lösung möglicher
Konflikte im schulischen Alltag - hinsichtlich des Sportunterrichts für Mädchen bis hin zu vielen anderen Fragen - einvernehmlich erarbeitet. Wir haben einen Gesprächskreis eingesetzt, in dem die Vertreter der
Muslime gemeinsam mit den Sicherheitsorganen zusammenwirken, um unserer gemeinsamen Verantwortung
für die Friedlichkeit und die Toleranz unserer Freiheitsordnung gerecht zu werden.
Wir haben nicht alles erreicht; aber wir haben die
Wahrnehmung der Muslime in unserem Land ein Stück
weit verändert. Sie sollen das Gefühl haben, dass sie
willkommen sind, wenn sie sich in unserer freiheitlichen
Ordnung engagieren. Wir haben die öffentliche Meinung
der Nichtmuslime in unserem Lande ein Stück weit dahin gehend entwickelt, dass wir Muslime nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung empfinden - immer
unter der Voraussetzung, dass sich alle an Recht und Gesetz halten.
Wir alle - Bund, Länder und Kommunen sowie alle
Muslime mit ihren ganz unterschiedlichen Positionen waren uns bei allen Unterschieden im Einzelnen einig,
dass sich die Arbeit der vergangenen drei Jahre gelohnt
hat und dass es wichtig ist, sie fortzusetzen. Deswegen
sind wir nicht am Ende der Bemühungen; aber wir sind
auf einem guten Weg.
Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Minister. - Ich bitte, zunächst Fragen zu dem Themenbereich zu stellen, über den soeben
berichtet wurde.
Bitte schön, Herr Kollege Wolff.
Herr Minister, vielen Dank für den kurzen Bericht. Aus meiner Sicht und seitens der FDP ist klar zu konstatieren, dass die Deutsche Islam-Konferenz notwendig
war und dass der Weg, der begangen worden ist, ein
wichtiger erster Schritt war. Insofern sind die Ausführungen, die Sie gemacht haben, grundsätzlich zu begrüßen.
Sie sprachen an, dass Kontinuität erforderlich ist und
dass wir einen vertieften Dialog führen müssen. Mich
würde interessieren, wie Sie sich diesen Dialog und wie
Sie sich die Beteiligung des Parlaments und der Abgeordneten an diesem Dialog vorstellen. Denn ich halte es für
ein Versäumnis der Deutschen Islam-Konferenz, dass der
Deutsche Bundestag bisher nicht eingebunden war und
die gerade hier bestehende Möglichkeit der Verbreiterung
des Dialogs nicht genutzt worden ist. In der nächsten Legislaturperiode besteht vielleicht die Chance, den Dialog
zu vertiefen.
Ein weiterer Punkt, den Sie ansprachen, ist die Ausbildung von Imamen in Deutschland. Mich würde ganz
konkret interessieren, welche Möglichkeiten Sie sehen,
dass in dieser pluralistischen Welt - auch in der pluralistischen Welt des Islam - die in Deutschland ausgebildeten Imame tatsächlich anerkannt werden. Welche Zeitschiene sehen Sie hier, um auf diesem Weg, den die
FDP-Fraktion durchaus begrüßt, deutlich weiterzukommen?
Vielen Dank. - Herr Minister, bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege Wolff. - Zu Ihrer ersten
Frage: Wir hatten uns, und zwar auf den drei Ebenen
Bund, Länder und Gemeinden, bei der Einberufung der
Islam-Konferenz vorgenommen, mit der Vielfalt muslimischen Lebens einen institutionalisierten, auf eine gewisse Dauer angelegten Dialog zu führen. Das ist eine
klassische Aufgabe der Exekutive. Daher haben wir das
so betrieben. Es ist dem Deutschen Bundestag, dem Hohen Hause, völlig unbenommen, seinerseits jede Form
von Dialog zu führen. Die Geschäftsordnung des Bundestages sieht dafür vielfältige Möglichkeiten vor. Aber
für unseren Ansatz war, glaube ich, dieser Weg richtig.
Ich will noch einmal betonen, dass nicht nur der Bund
beteiligt war. Wir brauchen zum Beispiel für Fragen des
Religionsunterrichts und der Lehre der islamischen Theologie an Hochschulen vor allem die Länder; sie sind hier
verantwortlich. Wir hätten eine unüberschaubare Größe
dieses Gremiums in Kauf nehmen müssen, wenn wir die
Fraktionen des Bundestages einbezogen hätten. Dann
hätten wir genauso die Landtage beteiligen müssen. Ich
weiß nicht, ob Sie an der Föderalismusreformkommission I oder II teilgenommen haben.
Mein Rat lautet, dass wir nach den Wahlen gemeinsam für die nächste Legislaturperiode überlegen, wie wir
dem Anliegen, das Parlament stärker einzubeziehen, gerecht werden können. Ich glaube aber, für diese drei
Jahre war unser Weg richtig.
Sie haben nach der Ausbildung von Imamen in
Deutschland gefragt. Hier besteht eine dringende Notwendigkeit; dies ist der Wunsch vieler Muslime in unserem Land. Deswegen begrüße ich es sehr - auf der
Islam-Konferenz wurden dieser Wunsch und diese Erwartung sehr nachdrücklich geäußert -, dass wir Kapazitäten für die Ausbildung von Imamen in Deutschland
schaffen. Es wird dann also nicht nur um die Ausbildung
von Lehrern für den Religionsunterricht an Schulen gehen, sondern auch um die Ausbildung von Imamen. Das
heißt, es wird an deutschen Hochschulen auch islamische Theologie gelehrt.
Das ist gar keine einfache Frage. Deswegen stehen
wir in Kontakt mit vielen Ländern. Ich war in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder in einer
Reihe von islamisch geprägten Ländern, um dort Gespräche zu führen. Wir stehen übrigens in einem engen
Kontakt mit der Türkei, die weiß, dass DITIB aus der
Verantwortung der türkischen Religionsbehörde Diyanet
entlassen werden muss. Hier gibt es eine Menge positiver Entwicklungen. Die Erklärung des Vertreters von
DITIB in der letzten Sitzung des Plenums der IslamKonferenz hat gezeigt, dass die türkische Regierung
bzw. die türkische Religionsbehörde diesen Weg geht.
Hier gibt es viele spannende Fragen. Ich habe mich
mit dem Großmufti in Syrien unterhalten. Er hat mir gesagt: Sie müssen einen deutschen Islam schaffen. Führen
Sie alle Gruppen zusammen und gründen Sie dann einen
deutschen Islam. - Daraufhin habe ich ihm geantwortet:
Nein, das werden wir nicht tun. Wir sind eine freiheitliche Demokratie. Wir schreiben den Muslimen nicht vor,
ob sie alle einer Glaubensrichtung angehören oder unterschiedliche Glaubensrichtungen verfolgen. Das ist Sache
der Muslime. In unserem Land ist das nicht die Sache
der Regierung oder der Politik. Unsere Regierung ernennt auch keinen Großmufti, wie das in Syrien der Fall
ist. Wir haben hier eine ganz andere Verfassungsordnung.
Gleichwohl ist wahr, dass die Vielfalt muslimischen
Lebens in starkem Maße durch die Herkunftsländer geprägt ist. Vielleicht steckt darin, wenn wir eine islamische Theologie in Deutschland entwickeln, mittelbar
eine Chance für den Islam selbst. Aber das müssen wir
- vor allen Dingen auch die Länder - in Respekt vor der
Religionsfreiheit und in Partnerschaft schrittweise entwickeln.
Herr Kollege Grund, bitte.
Vielen Dank, Herr Minister, dass Sie vor drei Jahren
diese Deutsche Islam-Konferenz ins Leben gerufen und
auch mit Leben erfüllt haben und damit in Deutschland
zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen ein Dialog eingesetzt hat, der dazu dient und dienen kann, Probleme und Vorurteile abzubauen und aufzulösen.
Sie haben es eben erwähnt: Sie waren unter anderem
in Ägypten gewesen und haben dort mit islamischen Gelehrten Gespräche geführt, auch an der Universität in
Kairo. In Zeitungsberichten über diese Reise ist zu lesen,
dass der Eindruck entstanden sei, dass sich diese islamischen Gelehrten - der Islam versteht sich nicht als Kirche; damit gibt es auch keine Hierarchie, die bei Gesprächen des Staates mit Vertretern der Religionen vielleicht
wünschenswert wäre - über das Spannungsverhältnis
des Islam innerhalb einer freien und offenen Gesellschaft viel weniger Gedanken machen, als wir oder Sie
das möglicherweise tun.
Teilen Sie den Eindruck, dass hier Nachholbedarf besteht? Wie schätzen Sie die Situation islamischer Würdenträger in Deutschland ein? Sind wir hier weitergekommen, oder ist das ein Prozess, bei dem wir
gegenseitig voneinander lernen?
Wir sind anders als muslimisch geprägte Länder; das
ist zunächst einmal ein wichtiger Punkt. Ich würde nicht
dazu raten, dass wir in Deutschland oder in Europa etwa
anfangen, zu sagen, wir seien hinsichtlich der Theologie
des Islam weiter als islamische Länder. Das mögen
kluge, aufmerksame journalistische Wegbegleiter schreiben. Aber als Politiker sollten wir uns zurückhalten.
Im Übrigen möchte ich bei dieser Gelegenheit folgende Bemerkung machen: Islamisch geprägte Länder,
nicht nur Ägypten, machen sich über den Missbrauch
der Religion zu fundamentalistischen Zwecken mindestens so viele Sorgen, wie wir dies um der Sicherheit unseres Landes willen tun müssen. Gleichwohl kann und
wird unser Ansatz niemals sein, dass wir staatlicherseits
eine Religion kontrollieren. Wir achten darauf, dass sie
sich in den Grenzen unserer Rechtsordnung bewegt und
gewaltfrei ist. Die Religionsfreiheit entbindet nicht von
der Treue zur Verfassung. Aber das ist bei allen muslimischen Vertretern völlig unstreitig. Es ist dann die Sache
der Muslime selbst, sich auf diesem Weg weiterzuentwickeln.
Ich weiß nicht, ob wirklich alle Muslime Religionsunterricht im Sinne religiöser Unterweisung nach Art. 7
Abs. 3 unseres Grundgesetzes wollen. Auch auf der Islam-Konferenz plädierten manche Vertreter eher für einen Religionskundeunterricht, also für die Vermittlung
von Kenntnissen über den Islam. In einigen Bundesländern ist der Staat dieser Forderung bereits nachgekommen. Aber auch hier gilt: Darüber entscheidet die
demokratische Mehrheit. Religiöse Minderheiten, die
eine Religionsgemeinschaft sind, haben allerdings den
verfassungsrechtlichen Anspruch auf Religionsunterricht im Sinne von Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes. In
den meisten Ländern in Deutschland wird dies so praktiziert. Aufgrund der Bremer Klausel - das sage ich für
die Verfassungsrechtler unter Ihnen - besteht dieser Anspruch zwar nicht in allen Bundesländern, wohl aber in
den allermeisten. Darüber hinaus ist das eine Frage der
demokratischen Entscheidung.
Ich wiederhole: Wenn es uns gelingt, dafür zu sorgen,
dass islamische Theologie an deutschen Hochschulen
gelehrt wird - dafür wäre allerdings ein Austausch mit
anderen Ländern erforderlich -, würde dies zu einer Bereicherung der Theologie in unserem Lande führen, und
zwar über den Islam hinaus. Außerdem wäre dies ein
wichtiger Beitrag zur islamischen Theologie, der über
unser Land hinausgeht.
Frau Kollegin Dağdelen, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Minister
Schäuble, in der Studie „Muslimisches Leben in
Deutschland“, die im Zusammenhang mit dem letzten
Treffen der Deutschen Islam-Konferenz herausgegeben
wurde, hat sich nur ein Viertel der im Rahmen dieser
Studie befragten in Deutschland lebenden Muslime dazu
bekannt, dass es sich ohne Einschränkungen von den an
der Deutschen Islam-Konferenz beteiligten islamischen
Dach- und Spitzenverbänden vertreten fühlt. Je nach
Konfession oder Herkunftsregion variiert ihr Organisationsgrad laut Studie zwischen 10 und 20 Prozent. Ist es
insbesondere vor diesem Hintergrund eigentlich berechtigt, davon zu sprechen, dass im Rahmen der Deutschen
Islam-Konferenz ein Dialog mit den Muslimen in
Deutschland stattfindet?
Frau Kollegin, die Tatsache, dass sich ein großer Teil
der in Deutschland lebenden Muslime nicht von den vier
islamischen Verbänden, die an der Deutschen IslamKonferenz beteiligt waren - wenn Sie die Aleviten hinzuzählen, waren es fünf -, vertreten fühlt, war der Grund
dafür, dass wir bei Einberufung der Islam-Konferenz
trotz vielfältiger Kritik der Verbände gesagt haben:
Wenn es darum geht, wer auf muslimischer Seite an der
Islam-Konferenz teilnimmt, dürfen wir unseren Blick
nicht ausschließlich auf Vertreter der Verbände richten,
sondern müssen auch andere Muslime einbeziehen.
Die von Ihnen erwähnte Studie, die auf Anforderung
der Islam-Konferenz erstellt worden ist, kam zu dem Ergebnis, dass über 4 Millionen Muslime in unserem Land
leben. Grundlage dieser Studie waren übrigens 6 000 Telefoninterviews. Da eine Befragung der Menschen
durchgeführt wurde, verfügen wir jetzt zum ersten Mal
über verlässliche Angaben. Nichtsdestotrotz ist die Aussagekraft von Statistiken immer ein Stück weit begrenzt.
Die mehr als 4 Millionen Muslime, die in Deutschland leben, stammen aus über 40 Ländern; daran zeigt
sich die große Vielfalt, mit der wir es zu tun haben. Da
diese Muslime über keine repräsentative Vertretung verfügen, war es eine richtige Entscheidung, sowohl die
großen Verbände als auch Persönlichkeiten, die öffentlich in Erscheinung getreten sind, einzuladen. Ein solches Vorgehen ist immer ein Stück weit unvollkommen.
Da man allerdings nicht 4 Millionen Muslime einladen
kann, braucht man eine Vertretung. Da die Muslime
keine flächendeckende Vertretung haben, war die Entscheidung, die wir getroffen haben, wie ich glaube, richtig.
Frau Kollegin, die in Deutschland lebenden Muslime
haben in den letzten Jahren in viel stärkerem Maße an
der öffentlichen Debatte hierzulande teilgenommen. Das
ist eine wichtige Voraussetzung, um in diesem Land heimisch zu werden. Man muss sich an der öffentlichen Debatte beteiligen, die von dem Streit zwischen Liberalen,
Nichtreligiösen, Konservativen und allen anderen Strömungen, die es in unserer pluralistischen Gesellschaft
gibt - darin besteht der Reichtum unserer freiheitlichen
Ordnung -, gekennzeichnet ist. Dies tun die Muslime
heute mehr als in der Vergangenheit. Hinzu kommt, dass
sie die Medien in Deutschland in größerem Umfang nutzen, da ihnen diese Vielfalt viel stärker bewusst geworden ist.
Auf der Plenarkonferenz waren wir uns einig, die
Empfehlung auszusprechen, dass sich die Vertretung des
Islam, wenn der Dialog im Rahmen der Islam-Konferenz
in der kommenden Legislaturperiode fortgesetzt wird,
nicht ausschließlich auf Verbände reduziert.
Frau Kollegin Köhler, bitte.
Herr Minister, in dem Bericht wird eindeutig festgestellt, dass die Islam-Konferenz ein Prozess ist und dieser nicht abgeschlossen ist. Sie haben eben gesagt, dass
schon Überlegungen für die kommende Legislaturperiode stattgefunden haben. Wir wissen alle noch nicht,
was da passiert. Aber was sind denn Ihre Überlegungen
bezüglich einer Fortführung der Islam-Konferenz? Was
würden Sie beibehalten, was würden Sie anders machen?
Wir haben alle Teilnehmer eingeladen, den Zeitraum
von der Plenarsitzung, die in der vergangenen Woche
stattgefunden hat, bis zu einer Neukonstituierung der Islam-Konferenz in der nächsten Legislaturperiode zu nutzen, um über die Frage „Gibt es eine andere Repräsentation der muslimischen Seite?“ selber ein Stück weit zu
diskutieren. Wir sind ja jetzt drei Jahre weiter. Auch wir
werden sicherlich darüber diskutieren - der Kollege
Wolff hat diese Frage aufgeworfen -, wer der Vertreter
des Staates sein soll.
Nach meiner Überzeugung wird ein wichtiger inhaltlicher Schwerpunkt in den kommenden Jahren darin bestehen, zunächst einmal weitere Schritte in Richtung
Islamunterricht an staatlichen Schulen zu gehen - sei es
Religionsunterricht im Sinne von Art. 7 Grundgesetz, sei
es Religionskunde; wir haben für beides Modelle.
Ein anderer wichtiger Schritt wird sein, an Hochschulen Ausbildungskapazitäten zu schaffen, damit wir bei
der Lehrerausbildung wie bei der Imamausbildung vorankommen. Da führen wir intensive Gespräche mit den
Ländern. Der Präsident der Kultusministerkonferenz, der
Kollege Tesch, hat in der Plenarsitzung einen sehr präzisen Bericht über die Vielfalt der Bemühungen in vielen
Bundesländern gegeben. Dies ist wirklich ein Fall, wo
sich der Föderalismus als eine leistungsstarke Organisation unseres Gemeinwesens herausstellt. Wir gehen nicht
bundeseinheitlich vor, sondern die Länder stehen in einem gewissen Wettbewerb, in einem BenchmarkingProzess, operieren mit unterschiedlichen Ansätzen; aber
alle sind engagiert.
Die Länder sind übrigens dankbar, dass ihnen über die
Islam-Konferenz - dies ist ein Nebenprodukt der IslamKonferenz - Ansprechpartner bekannt geworden sind.
Jede Kommune, die sich mit diesen Dingen beschäftigt,
kann über die vielfältigen Kontakte und Beziehungen,
die das Netzwerk der Islam-Konferenz geschaffen hat,
Ansprechpartner finden. Wir haben allein in den letzten
Monaten für - wenn ich die Zahl richtig im Kopf habe;
ich sage das also mit einem gewissen Vorbehalt 52 Kommunen mit Unterstützung des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge Integrationsbeauftragte ausgebildet. Das ist ein Stück weit ein selbsttragender Prozess geworden. In diesen Bereichen müssen wir den
Schwerpunkt setzen.
In der Frage der Gestaltung des schulischen Alltags,
des Sportunterrichts, sind die Empfehlungen so, dass
man hoffen muss, dass sie in die Vielfalt der in Deutschland lebenden Muslime noch weiter hineinwirken. Übrigens hat die Untersuchung ergeben - das ist eine Bemerkung wert -, dass lediglich 5 Prozent der muslimischen
Mädchen gelegentlich vom Sportunterricht befreit werden. Wenn man sich manche Medienberichte vergegenwärtigt, muss man glauben, dass der Prozentsatz viel
höher sei. Doch in der großen Mehrzahl der Fälle, in
95 Prozent der Fälle, spielt eine Befreiung keine Rolle. Wenn man das weiß, führt das zu einer entspannteren
Wahrnehmung. Die ist wiederum eine gute Voraussetzung für Toleranz, und zwar auf beiden Seiten.
Herr Kollege Winkler, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Auch ich will auf
die Zusammensetzung der Islam-Konferenz eingehen.
Herr Minister, Sie haben bei der Beantwortung anderer
Fragen gesagt: Die Muslime selbst müssen noch einmal
überlegen, wie sie sich organisieren, jedenfalls der Teil,
der bisher nicht in Verbänden organisiert ist.
Ich muss sagen: Dass die Ergebnisse der Islam-Konferenz doch recht dürftig sind, liegt zum Teil daran, dass
man Einzelpersonen, die sich selber als Islamkritikerinnen verstehen und nicht im Konsens und im Dialog vorankommen wollen, zu Mitgliedern der Islam-Konferenz
berufen hat. Frau Kelek zum Beispiel hat den Moscheebau in Köln in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als
Fortsetzung der Eroberung Konstantinopels - bis in die
Bundesrepublik - dargestellt. Die Beschneidung von
Jungen und das Schächten von Tieren führen nach ihrer
Meinung dazu, dass muslimische Jugendliche gewalttätiger als andere Jugendliche seien. Das sind jetzt nur
zwei von fünf, sechs Klopsen, die sich allein diese Einzelperson geleistet hat. Wenn man das in Betracht zieht,
muss man eigentlich froh sein, dass die Dialogbereitschaft der muslimischen Verbände, die ja zum Teil recht
konservativ sind, überhaupt noch zum Tragen gekommen ist.
Würden Sie Ihrem Nachfolger oder Ihrer Nachfolgerin im Amt in der nächsten Wahlperiode wirklich empfehlen, die Konferenz wieder so zu organisieren?
({0})
- Wenn Sie es selber sind - das wollte ich damit natürlich nicht ausschließen -, würden Sie das dann wirklich
wieder so machen? - Ich kann mir nicht vorstellen, dass
dies zu konstruktiven Fortschritten führt.
Doch, ganz im Gegenteil: Ich würde mir selber und
jedem anderen Nachfolger geradezu dringlich empfehlen, es genauso zu machen, Herr Kollege Winkler.
Ganz am Anfang, vor der ersten Plenarsitzung, habe
ich mich gefragt, wie es werden wird, wenn Frau Kelek,
Frau Ates oder andere bedeutende Persönlichkeiten mit
Herrn Kizilkaya und anderen an einem Tisch zusammensitzen. Auch die Beteiligten konnten sich das vorher
nicht vorstellen. Heute ist das für sie völlig selbstverständlich. Sie streiten natürlich, so wie auch wir streiten.
Aber Demokratie und Toleranz zeichnen sich doch dadurch aus, dass wir unterschiedliche Meinungen haben
und die Diskussion darüber streitig austragen.
({0})
So entsteht Freiheit, und so wird Freiheit nachhaltig;
das ist ganz wichtig.
Frau Kelek, wie viele andere auch, hat doch wichtige
und ernstzunehmende Beiträge - niemand muss sie teilen - in dieser Debatte geleistet. Diese wollen Sie doch
nicht unterdrücken. Auch ich will sie nicht unterdrücken,
sondern ich will, dass wir alle uns damit auseinandersetzen - auch die Muslime.
({1})
Das geleistet zu haben, ist ein ganz wesentlicher Erfolg.
Ich teile Ihre Bewertung übrigens überhaupt nicht,
sondern ich bin genau gegenteiliger Meinung. Die Ergebnisse sind viel besser, viel zahlreicher und viel konkreter, als ich vor drei Jahren zu hoffen gewagt hätte.
Wenn Sie sie als dürftig bezeichnen, dann ist das Ihre
Sache; das ist in Ordnung. Ich bin aber gegenteiliger
Meinung; denn es ist gelungen, die Haltung der Muslime
in unserem Land zu verändern. Wenn sie Teil unseres
Landes werden und in unserem Land heimisch werden
wollen, dann dürfen sie Vielfalt, unterschiedliche Meinungen und Streit nicht als etwas verstehen, was man am
besten verhindert, durch den Staat oder sonst wen kontrolliert oder beseitigt oder durch eine Einheitsvertretung
unterdrückt, sondern das genaue Gegenteil gilt: Unser
Land ist pluralistisch. Das ist doch der Reiz unserer Freiheitsordnung. Jetzt liegt es an ihnen selber. Herr
Kermani wäre nach Ihren Kriterien auch kein Mitglied
der Islam-Konferenz. Sie können nun aber nicht bestreiten, dass Herr Kermani eine ernstzunehmende Stimme
des Islam in unserem Land ist. Er hat in der Plenarsit25562
zung und auch öffentlich gesagt: Es liegt an uns Muslimen, dass wir die Vertretung der Vielfalt muslimischen
Lebens in unserem Land nicht nur den Verbänden überlassen. Auch wir selber müssen uns engagieren. - Das ist
jedermann unbenommen.
Noch einmal: Mit dem von uns gewählten Weg wurde
die Vielfalt muslimischen Lebens in unserem Land repräsentiert. Die Frau Kollegin hat zu Recht darauf hingewiesen: Die Untersuchung ergibt, dass wir, wenn nur die
Verbände beteiligt gewesen wären, vielleicht 10 Prozent
oder 15 Prozent des muslimischen Lebens und nicht die
Wirklichkeit in ihrer großen Reichhaltigkeit erfasst hätten.
({2})
Frau Kollegin Dağdelen.
Vielen Dank. - Ich glaube kaum, dass man der Meinung sein kann, dass die Grünen, wie die Linken auch,
intolerant sind und andere Meinungen, die von den eigenen abweichen, sozusagen unterdrücken wollen.
({0})
Hier sehen wir uns in der Tradition der französischen
Aufklärung: Auch wenn wir nicht alle Meinungen teilen,
das Recht, andere Meinungen zu vertreten, würden wir
bis zum Lebensende verteidigen.
Herr Minister, Sie haben gesagt, es gebe viele gute
Ergebnisse. Darauf haben Sie auch in Ihrer Eröffnungsrede in der letzten Woche hingewiesen. Mich würde interessieren, welche Ergebnisse dies sind. Sie sind derjenige, der zu dem Spiel, zur Deutschen Islam-Konferenz,
eingeladen und natürlich auch die Spieler und Spielerinnen ausgesucht hat. Dementsprechend konnten Sie den
Verlauf des Spiels schon im Vorfeld erahnen oder vermuten, und Sie konnten auch ein bisschen manövrieren.
Es ist ja schön und gut, wenn der Dialog innerhalb der
Deutschen Islam-Konferenz auf der einen Seite mit
Herrn Kizilkaya und auf der anderen Seite mit Frau
Kelek stattgefunden hat. Aber inwiefern hat das - das ist
ja sozusagen oben, also außerhalb der Gesellschaft wirklich Ergebnisse für das Handeln unten, vor Ort, lokal, also da, wo das Zusammenleben stattfinden muss
und meines Erachtens der Dialog auch stattfindet? Ich
hätte gern, dass Sie mir konkrete Ergebnisse nennen einmal abgesehen von dem Dialog jener zwei Kontrahenten auf der Deutschen Islam-Konferenz.
Es ist doch ein nicht zu bestreitendes Ergebnis dieser
drei Jahre, dass in einer Reihe von Ländern an staatlichen Schulen experimentell Islamunterricht durchgeführt wird.
({0})
Es ist nicht zu bestreiten, dass es in mehreren Bundesländern konkrete Bemühungen gibt, islamische Theologie an Hochschulen zu installieren. Man kann doch nicht
die Wirklichkeit bestreiten und sagen, es gebe kein Ergebnis. Es ist nicht zu bestreiten, dass wir gemeinsam
Richtlinien für den Moscheebau erarbeitet haben, die
über die kommunalen Spitzenverbände allen Kommunen
zur Verfügung gestellt werden. Meine Einschätzung ist,
dass einerseits die Widerstände, die es gelegentlich
- Köln ist hier genannt worden - in Teilen der Bevölkerung im Zusammenhang mit dem Bau von Moscheen gegeben hat, geringer geworden sind; es wird andererseits
besser verstanden, dass man beim Bau auch von Moscheen oder anderen Gotteshäusern ein Stück weit Rücksicht auf andere zu nehmen hat, weil es immer ein Miteinander ist. Toleranz lebt ja von gegenseitiger
Rücksichtnahme.
Wenn Sie sich die Handreichungen für die Lösung
von praktischen Problemen im schulischen Alltag, die
die Arbeitsgruppe 2 erarbeitet hat, genau ansehen, dann
werden Sie feststellen, dass für die meisten Fragen, die
gelegentlich im täglichen Leben konkrete Probleme aufwerfen, gemeinsame Empfehlungen gegeben worden
sind. Werten Sie bitte weder die Vertreter der Verbände
noch die anderen muslimischen Vertreter in der IslamKonferenz in der Weise ab, dass Sie sagen, diese seien
von irgendjemandem manipuliert worden. Das würden
die mit aller Entschiedenheit zurückweisen.
({1})
- Auch ich habe sie nicht manipuliert. - Das Folgende
ist völlig unstreitig - ich habe es bereits gesagt, als wir
im Deutschen Bundestag über die Gründung der IslamKonferenz debattiert haben -: Wir werden uns nicht auf
die Repräsentanten der Verbände beschränken. Wir grenzen sie nicht aus, aber wir geben ihnen kein Monopol,
weil sie nicht flächendeckend vertreten sind. Wir wollen
angesichts der Vielfalt im Islam, die sich durch die Herkunft der Menschen aus unterschiedlich islamisch geprägten Ländern mit ihren verschiedenen Strukturen und
Gewohnheiten ergeben hat, nicht einen deutschen Islam
entwickeln - das habe ich bereits vorher gesagt -; vielmehr müssen wir die Muslime selbst dazu bringen, mit
dieser Vielfalt umzugehen. Denn die sind es, die das tun
müssen; das kann nicht der Staat, die Regierung, der
Bund, die Länder, die Kommunen. Unsere Gesellschaft
ist darauf angewiesen, und sie wird dadurch stärker, dass
dieser Prozess stattfindet. Den haben wir gefördert, und
ich hoffe, dass er weitergeht.
Herr Kollege Wolff, bitte.
Herr Minister, mich interessieren die Vertiefung, Verbreiterung und auch die Akzeptanz des Dialogs und vor
allem die Einbeziehung von Praktikern vor Ort, insbeHartfrid Wolff ({0})
sondere der Imame und Hodschas aus den jeweiligen
Moscheevereinen. Wie kann aus Ihrer Sicht am besten
eine Verbreiterung des Dialogs auch in die einzelnen
Moscheevereine organisiert werden bzw. stattfinden?
Vielfach ist da ja auch der außenpolitische Bereich berührt, da zum Beispiel die Ausbildung vieler Imame im
Ausland stattfindet, die Curricula im Ausland aufgestellt
werden. Hier stellt sich natürlich die Frage der Akzeptanz - ich sagte es bereits am Anfang der Frage - der
Imam-Ausbildung. Von daher ist aus meiner Sicht die
Verbreiterung des Dialogs sehr entscheidend. In diese
Richtung sollte weitergedacht werden. Wie stellen Sie
sich das vor?
Was die Imam-Ausbildung anbetrifft, ist es nicht angezeigt, dass eine Regierung Empfehlungen abgibt,
schon gar nicht die Bundesregierung. Dieser Bereich ist
ja Ländersache. Wir vertrauen darauf, dass man in dieser
Frage die Community der internationalen Wissenschaftler nutzen wird. Diejenigen, die islamische Theologie an
Hochschulen unterrichten, werden sich sicherlich mit
Hochschulen in islamisch geprägten Ländern rückkoppeln. Es gibt eine Vielzahl von Austauschmöglichkeiten,
Begegnungen und Diskussionen. Das ist ein wichtiger
Prozess. Je fundierter die islamische Theologie in
Deutschland wird, desto stärker wird auch der Beitrag
sein, den wir in den islamischen Teil der Welt ausstrahlen können. Das kann man nicht verordnen, aber man
kann darauf vertrauen.
Im Übrigen wird das, was wir mit der Islam-Konferenz in den letzten drei Jahren auf Bundesebene begonnen haben, vermutlich auch auf regionaler und kommunaler Ebene vielfältige Nachfolgeaktivitäten auslösen.
Das ist auch beabsichtigt. In vielen Gemeinden gibt es
das schon. Das haben wir mit der Islam-Konferenz nicht
erfunden; ich will überhaupt nicht den Eindruck erwekken, als wollte ich das behaupten.
({0})
Es gibt unendlich viele Bemühungen in den allermeisten
Städten und Kommunen. Aber wir haben das Thema ein
Stück weit mit befördert und ihm, auch was den Islam
selbst anbetrifft, eine stärkere Dimension gegeben, und
wir haben in Kontakt mit Regierungen islamisch geprägter Länder - insbesondere mit der Türkei - eine Menge
vorangebracht. Ich habe eine Diskussion mit der türkischen Regierung bzw. mit dem Präsidenten der türkischen Religionsbehörde, Herrn Bardakoglu, geführt. Die
Entwicklung stimmt mich sehr zuversichtlich, dass wir
auf diesem Weg weiter vorankommen werden. Das muss
im Übrigen auf Bundesebene geleistet werden.
Solange es an den deutschen Hochschulen keine islamische Theologie gibt, können wir hier schwerlich
Imame ausbilden. Deshalb müssen wir erst Ausbildungskapazitäten schaffen.
Wir haben übrigens mit der Türkei in diesen Jahren
immerhin auch verabredet, dass Imame, die aus der Türkei nach Deutschland entsandt werden, einen Vorbereitungskurs - sozusagen einen kleinen Integrationskurs bis
hin zum Erwerb deutscher Sprachkenntnisse beispielsweise - schon in der Türkei mitmachen oder dass sie in
Deutschland an einem solchen Kurs teilnehmen. Denn
wir haben ein großes Interesse daran - das geht über den
Islam im engeren Sinne hinaus -, dass Imame, die in
Deutschland tätig sind, die deutsche Sprache sprechen
und der Integration dienen und nicht der Segregation.
Ich habe jetzt noch eine Wortmeldung des Kollegen
Montag. Dann sind wir am Ende der Regierungsbefragung.
({0})
Danke schön, Frau Präsidentin. - Ich weiß nicht, ob
es so persönlich wird, wie Sie es wünschen, Herr Kollege Grindel.
Herr Innenminister, ich habe zwei Fragen, und zwar
nach der Zusammensetzung und der Zielsetzung. Ich
verhehle nicht, dass ich eine etwas liberalere Position
zur Zusammensetzung habe als mein Kollege Winkler,
besonders was zum Beispiel Frau Kelek anbelangt. Aber
stellen Sie sich einmal vor, Herr Minister - nur als kurzes Gedankenspiel -, dass wir eine solche Debatte über
ein vielfältiges Christentum zu führen hätten und Sie zu
einer solchen Konferenz Opus Dei, die Piusbruderschaft
und den Bund der Antichristen einladen würden. Dann
würde sich auch die Frage stellen, die ich jetzt in allem
Ernst vorbringe: Gab es für Sie nachvollziehbare Kriterien, wie weit Sie sozusagen die konstruktive Vielfalt bei
der Zusammensetzung berücksichtigen wollten? Dass
die vier oder fünf Verbände nicht ausreichen, ist sicherlich jedem klar - mir jedenfalls ist es klar -, aber wenn
man Einzelpersönlichkeiten einbezieht, braucht man,
weil man ja nicht 4 Millionen Menschen einladen kann,
irgendwie geartete Kriterien. Mich interessiert auch,
welche Kriterien Sie für die Zukunft vorschlagen.
Meine zweite Frage betrifft die Zielsetzung. Wir brauchen zweifelsohne für die Zukunft auch einen oder mehrere organisatorische Zusammenschlüsse auf der muslimischen bzw. islamischen Seite, wenn wir das Verhältnis
zwischen Staat und islamischer Religion in etwa parallel
zu dem des Judentums oder der christlichen Kirchen installieren wollen. Glauben Sie, dass mit der bisherigen
Tätigkeit der Islam-Konferenz bereits Kriterien erarbeitet wurden, oder gibt es eine Zeitschiene, wann und wie
diese Kriterien erarbeitet werden sollen? Sollen wir
dann, wenn die Kriterien feststehen, die muslimische
Gesellschaft in Deutschland bei dem Organisationsprozess alleine lassen, oder soll der Staat diesen Organisationsprozess helfend begleiten? Wie sollte das Ihrer Meinung nach konkret aussehen?
Herr Kollege Montag, wenn ich mit der Beantwortung Ihrer zweiten Frage beginnen darf. Ich möchte nicht
entscheiden - wir können es auch gar nicht -, ob es eine
islamische Religionsgemeinschaft oder mehrere islamische Religionsgemeinschaften gibt. Es gibt übrigens
auch mehrere christliche Kirchen. Wenn Sie sich anschauen, wie viele Kirchen und Freikirchen in den einzelnen Bundesländern - diese sind dafür zuständig - als
Religionsgemeinschaften anerkannt sind, dann sehen Sie
eine große Vielfalt. Das mag auch im Islam so sein oder
anders sein. Aber das entscheiden die Muslime, niemand
sonst.
Damit die Muslime Partner im Sinne unseres Religionsverfassungsrechts, das wir aus der Weimarer Verfassung in das Grundgesetz übernommen haben, sein
können, müssen sie als Religionsgemeinschaft anerkannt
sein. Das war eine der schwierigen Fragen am Anfang.
Die Verbände haben gesagt: Wir machen eine einheitliche Vertretung; dann ist es das. - Wir wollten nicht belehrend wirken. Man wird aber so wahrgenommen,
wenn man sagt: Nein, eine weltliche Organisation ist
noch keine Religionsgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes. - Das muss also eher von den Moscheevereinen her aufbauen. Zudem bedarf eine Anerkennung einer gewissen Kontinuität. Dafür braucht man ein
bisschen Zeit; das geht nicht innerhalb von sechs Monaten. Das ist in der Geschichte der Religionen über Jahrhunderte immer so gewesen. Mir haben übrigens viele
Gesprächspartner in islamischen Ländern gesagt: Drei
Jahre sind überhaupt keine Zeit, wenn es um das Verhältnis des Staates zur Religion geht; das ist eine sehr kurze
Zeitspanne. - Wir sollten nicht zu ungeduldig sein.
Wenn man islamischen Religionsunterricht an staatlichen Schulen durchführen will, braucht man eine gewisse Relevanz. Auch das ist Voraussetzung für eine
Partnerschaft. Darüber, wie die Muslime das machen,
können wir beraten, indem wir als Staat - Bund, Länder
und Kommunen, wer auch immer - für einen Dialog zur
Verfügung stehen. Helfen wir mit, ohne zu bevormunden! Das ist, glaube ich, die richtige Gratwanderung.
Diesen Weg müssen wir weitergehen. Ich bin zuversichtlich. Wir haben trotz aller Unterschiede gemeinsam mit
allen Verbänden und allen Einzelpersönlichkeiten auf
der dritten Plenarkonferenz im vergangenen Jahr völlig
einvernehmlich verabredete Empfehlungen über die Voraussetzungen für Religionsunterricht an staatlichen
Schulen und theologische Fakultäten formuliert.
({0})
Das ist über die Kultusministerkonferenz in alle Länder kommuniziert worden. Die Länder setzen das - vorläufig mit unterschiedlichen Konzepten - sehr kreativ
um. Ich bin für diesen Beitrag der Länder wirklich dankbar.
Nun möchte ich Ihre erste Frage beantworten. Sie ist
sicherlich bedenkenswert. Man muss aber vielleicht hinzufügen: Wir leben in einem Teil der Welt, der über Jahrhunderte durch die christliche Religion bzw. das christlich-jüdische Erbe stärker geprägt ist als durch andere
Religionen, mit allem Guten, aber auch mit vielen Problemen. Wir wissen, dass Religion für Gewalt missbraucht werden kann. Hier müssen wir nicht auf den Islam schauen. Dafür gibt es im Christentum in Europa
und in Deutschland über Jahrhunderte genügend Beispiele, von den Kreuzzügen ganz zu schweigen. Aber
unser Religionsverfassungsrecht ist durch das Miteinander und die Erfahrungen von Jahrhunderten - wenn Sie
wollen: seit der Gründung des Kaiserreichs, des Heiligen
Römischen Reichs Deutscher Nation mit dem Dualismus
zwischen Kaiser und Papst, der dann folgenden Reformation etc. - geprägt. Deswegen kann man nicht einfach
die Frage beantworten: Was geschähe in einem muslimisch geprägten Land mit einer Vielzahl von Christen,
die bisher in diesem Land gar nicht organisatorisch verfasst sind? Das ist zudem eine irreale Annahme, weil die
römisch-katholische Kirche weltweit - ich selber gehöre
nicht der katholischen, sondern der protestantischen Kirche an - in geistlicher Form, institutionell und glaubensmäßig gefestigt ist. Die protestantischen Kirchen sind
ein bisschen vielfältiger. Aber auch sie haben vielfältige
internationale Organisationen.
Immerhin hat Ihr Vorhalt eine gewisse Relevanz.
Aber ich sage noch einmal: Welche Alternative hätten
wir denn haben können? Wir haben gesagt, dass wir
nicht alle Organisationen einladen. Die Debatte ging ja
um Milli Görüs, um es klar zu sagen. Wir haben Milli
Görüs nicht in die Islam-Konferenz eingeladen, aber gesagt, dass es nicht hinderlich sein wird, wenn ein Islamrat einen Vertreter entsendet, der Mitglied von Milli
Görüs ist oder zu dieser Organisation Beziehungen hat.
Wir wollen auch Milli Görüs erreichen, eine Organisation, die weiterhin nach der übereinstimmenden Auffassung der Innenminister von Bund und Ländern durch
den Verfassungsschutz beobachtet werden muss und deshalb auch beobachtet wird. Die Mitarbeit in der IslamKonferenz ist kein Gütezeichen für die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit unter dem Gesichtspunkt des
Verfassungsschutzes. Wir wollen Milli Görüs überzeugen, sich auf den Weg der Verfassungstreue und der Gewaltfreiheit zu begeben. Deswegen verweigern wir nicht
den Dialog. Aber wir haben sie nicht als Organisation in
die Konferenz eingeladen.
Was die Einzelpersönlichkeiten betrifft, so haben wir
zum damaligen Zeitpunkt gefragt, wer bei Debatten, die
für den Islam in unserem Lande relevant sind, besonders
hervorgetreten ist. Auf die meisten Mitglieder der IslamKonferenz wären auch Sie gekommen. Auch Sie wären
auf Navid Kermani gekommen; ich bin ganz sicher. Vermutlich wären auch Sie auf Frau Kelek gekommen, es
sei denn, Sie wollten Kritiker unter keinen Umständen
haben. Das hielte ich für falsch.
({1})
- Ich finde, Frau Kelek hat wirklich anspruchsvolle Beiträge zu der Debatte geleistet, aber Sie vertritt nicht in
allen Punkten eine Position, die Ihrer Meinung entBundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
spricht. Aber das Recht von Frau Kelek, diese Meinung
zu vertreten, verteidige ich.
({2})
Auch ihre wissenschaftliche Qualifikation sollten wir
nicht infrage stellen.
So haben wir versucht, die Kriterien festzulegen. Wer
in der Literatur, der Publizistik oder auch im Bildungssystem - wir haben einen Vertreter aus Berlin, der in einer Bildungsakademie sehr engagiert ist - hervortritt,
der wurde eingeladen. So haben wir eine zugegebenermaßen nicht hundertprozentig repräsentative, aber doch
Pluralismus ermöglichende und daher hinreichend legitime Vertretung gefunden. Die Ergebnisse waren besser,
als die allermeisten am Anfang zu hoffen gewagt hätten.
Vielen Dank, Herr Innenminister, für die Beantwortung der Fragen.
Gibt es Fragen zu anderen Themen der heutigen Kabinettssitzung? - Das ist nicht der Fall. Ich beende deshalb die Befragung zum Themenbereich der heutigen
Kabinettssitzung. Gibt es darüber hinaus sonstige Fragen
an die Bundesregierung? - Das ist nicht der Fall.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 16/13569, 16/13594 Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Nr. 10
Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die dringliche
Frage auf Drucksache 16/13594 der Abgeordneten
Heike Hänsel auf:
In welcher Weise engagiert sich die Bundesregierung dafür, dass in Honduras der rechtmäßige Präsident Manuel
Zelaya wieder in sein Amt eingesetzt wird?
Die dringliche Frage beantwortet Herr Staatsminister
Dr. Gernot Erler. Bitte schön, Herr Staatsminister.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Kollegin
Hänsel, meine Antwort lautet wie folgt: Die Bundesregierung hat sowohl bilateral als auch im Rahmen der Europäischen Union und der Vereinten Nationen die Verhaftung und Exilierung des demokratisch gewählten
Präsidenten von Honduras, Manuel Zelaya Rosales, als
inakzeptable Verletzung der verfassungsmäßigen Ordnung in Honduras verurteilt. Sie fordert alle Beteiligten
dazu auf, auf friedlichem Wege den Dialog zu suchen
und eine Lösung zu finden, die der Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit gerecht wird. Die Bundesregierung
begrüßt die Vermittlungsbemühungen aus der Region,
insbesondere die der Organisation Amerikanischer Staaten, über die Rückkehr des Staatspräsidenten Manuel
Zelaya nach Honduras und seine Wiedereinsetzung zu
verhandeln.
Ihre Zusatzfragen, bitte.
Danke, Herr Staatssekretär. - Ich denke, die nächsten
Tage sind wirklich dafür entscheidend, dass der demokratisch gewählte Präsident wieder in das Amt zurückkommt. Er hat seine Rückkehr angekündigt. Gleichzeitig
gibt es aber auch die Ankündigung der Putschisten, ihn
zu verhaften, wenn er das Land betritt. Es gibt in der Region eine Initiative, ihm Begleitschutz zu gewähren.
Was können Sie über die Verurteilung dieses Putsches
hinaus konkret machen, um den Präsidenten bei seiner
Rückkehr zu schützen? Aus Spanien kommt der Aufruf,
seitens der Europäischen Union mehr Druck auszuüben,
etwa indem Botschafter abgezogen werden. Was könnten Sie konkret tun - außer Verlautbarungen abzugeben -,
um die Rückkehr des Präsidenten zu garantieren?
Frau Kollegin Hänsel, wir stellen fest, dass es eine
sehr breite internationale Unterstützung für den Präsidenten Zelaya gibt. Wie Sie wissen, hat er gestern vor
der Vollversammlung der Vereinten Nationen gesprochen. Dort wurde eine - was nicht häufig vorkommt einstimmige Resolution zu seinen Gunsten verabschiedet. Die regionalen Organisationen von Zentralamerika
und von Südamerika unterstützen dies ebenso wie die
amerikanische Regierung. Sie haben hier eben die Bemühungen der EU angesprochen. Übrigens wird es in
Brüssel heute Nachmittag eine Beratung zu dem spanischen Vorschlag geben, unter Umständen Botschafter
zurückzuziehen.
Was unsere Position angeht, haben wir Druck ausgeübt, indem wir gesagt haben: Wir werden im Augenblick
auf keinen Fall die Assoziationsverhandlungen mit den
Vertretern Zentralamerikas - Honduras ist Mitglied der
entsprechenden Organisationen - fortsetzen. Wir werden
diese Verhandlungen erst fortführen, wenn in Honduras
wieder verfassungsmäßige Zustände herrschen. Auch
was die bilateralen Beziehungen angeht - Sie wissen,
dass Honduras einer der wichtigsten Empfänger deutscher Entwicklungshilfe ist -, werden wir uns auf bereits
angelaufene Programme beschränken, die der Bevölkerung direkt dienen. Wir werden aber keine neuen Projekte verabreden und jeden Kontakt mit den jetzigen Ministerien vermeiden. - Ich glaube, das ist eine
angemessene Reaktion.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Meine zweite Zusatzfrage bezieht sich auf die Unterstützung für bestimmte soziale Gruppen, insbesondere
für die Anhänger und Anhängerinnen von Präsident
Zelaya vor Ort. Es gibt schon jetzt viele Verfolgungen,
auch Verhaftungen. Zum Beispiel sind die Aktivistinnen
und Aktivisten der internationalen Organisation La Via
Campesina mehr oder weniger in den Untergrund gegangen, um sich zu schützen; diese Aktivisten setzen sich
für eine soziale Politik in Honduras ein. Wie können Sie
diesen Menschen konkret vor Ort Schutz anbieten? Wäre
es zum Beispiel möglich, ihnen die deutsche Botschaft
zu öffnen?
Uns liegen sehr unterschiedliche Nachrichten aus
Honduras vor, Frau Kollegin Hänsel, auch darüber, dass
es im Augenblick etwas chaotische Verhältnisse gibt. Es
hat Demonstrationen und auch Gewalt gegen Demonstranten gegeben. Allerdings sind mir persönlich keine
Einzelfälle bekannt, in denen eine direkte Nothilfe oder
Ähnliches notwendig ist. Sie können sicher sein, dass die
Gemeinschaft der diplomatischen Vertretungen in Tegucigalpa alles Notwendige tun wird, um in solchen Notfällen zu helfen.
Frau Kollegin Dağdelen.
Vielen Dank. - Lieber Herr Erler, Sie haben bei der
Beantwortung der dringlichen Frage den Putsch verurteilt und dem demokratisch legitimierten Präsidenten
Zelaya Unterstützung dafür zugesagt, dass er in sein
Land zurückkehren kann. In diesem Zusammenhang
möchte ich gerne wissen, wie es die Bundesregierung
bewertet, dass eine deutsche Stiftung, nämlich die FDPnahe Friedrich-Naumann-Stiftung, dem gestürzten Präsidenten eine Mitschuld an der Situation in Honduras zuschiebt, den Militärputsch verharmlost und ihn auch gerechtfertigt hat.
({0})
Kann die Bundesregierung hinnehmen, dass ein demokratisch legitimierter Präsident gestürzt wird? Inwieweit
gedenkt die Bundesregierung Konsequenzen zu ziehen,
wenn sich eine politische Stiftung, die letztendlich auch
mit Steuergeldern finanziert wird, so äußert?
Frau Kollegin, ich unterstreiche noch einmal die von
mir hier dargelegte Position der Bundesregierung zu diesen unrechtmäßigen Vorgängen in Honduras, die auch in
einer Erklärung des deutschen Außenministers FrankWalter Steinmeier am 29. Juni zum Ausdruck gekommen ist. Mir sind die Äußerungen, die Sie zitiert haben,
nicht bekannt.
({0})
In Deutschland herrscht bezüglich der Bewertung von
aktuellen Vorgängen eine sehr ausgedehnte Meinungsfreiheit, worüber ich wirklich froh bin. Insofern ist es
nicht meine Angelegenheit als Vertreter der Bundesregierung, hier irgendwelche Einzeläußerungen, die ich
auch gar nicht kenne, zu kommentieren.
({1})
Nachdem die dringliche Frage beantwortet worden
ist, rufe ich die Fragen auf Drucksache 16/13569 in der
üblichen Reihenfolge auf.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Die Fragen 1 und 2 der Kollegin Dr. Kirsten
Tackmann werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Die Frage 3 der Kollegin
Dr. Martina Bunge wird ebenfalls schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Die Fragen des Kollegen
Dr. Ilja Seifert - das sind die Fragen 4 und 5 - werden
ebenfalls schriftlich beantwortet.
Deshalb kommen wir nun zum Geschäftsbereich des
Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung der Frage steht,
wie schon bei der dringlichen Frage, der Staatsminister
Dr. Gernot Erler zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 6 der Kollegin Veronika Bellmann
auf:
Welche Schlüsse zieht die Bundesregierung aus dem Sachverhalt, dass der namibische Altpräsident Dr. Sam Nujoma
mit neuerlichen, gleichermaßen streitbaren wie abstoßenden
Aussagen gegen Deutsche - so hat Dr. Sam Nujoma bei einer
Rede in einem Dorf nahe Ongwediva am Sonntag, dem
14. Juni 2009, die Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche,
DELK, angegriffen und ihr unterstellt, „vor der Unabhängigkeit mit dem Feind kollaboriert zu haben und möglicherweise
noch immer ein Feind zu sein“, und hinzugefügt: „Wir tolerieren sie. Aber wenn sie sich nicht benehmen, werden wir sie
angreifen. Und wenn sie dann ihre weißen Freunde aus
Deutschland rufen, dann schießen wir ihnen in die Köpfe.“ negativ aufgefallen ist und sich die regierende SWAPO
- South West Africa People’s Organization - bisher nicht eindeutig von diesen Äußerungen distanziert hat?
Frau Kollegin Bellmann, meine Antwort auf Ihre
Frage lautet so:
Die Bundesregierung hat die in verschiedenen Presseberichten wiedergegebenen angeblichen Äußerungen
des ehemaligen Staatspräsidenten Dr. h. c. Sam Nujoma
mit Besorgnis zur Kenntnis genommen. Deshalb hat der
deutsche Botschafter in Windhuk am 23. Juni 2009
hochrangig Kontakt zur namibischen Regierung aufgenommen und um Aufklärung gebeten. Bei diesem Gespräch hat die namibische Regierung mit Erleichterung
die besonnene Reaktion des namibischen Kirchenrates,
zu dem auch die Evangelisch-Lutherische Kirche in Namibia gehört, und die Tatsache, dass der Kirchenrat das
Gespräch mit Dr. Sam Nujoma sucht, zur Kenntnis genommen.
Auch der namibische Botschafter in Berlin wurde gebeten, seine Regierung von der Besorgnis der Bundesregierung in Kenntnis zu setzen. Die namibische Regierung sagte zu, den Wahrheitsgehalt der Presseberichte zu
prüfen. Diese Prüfung ist bisher nicht abgeschlossen.
Daher hat die namibische Regierung die Äußerung des
früheren Präsidenten Dr. Sam Nujoma weder bestätigt
noch dementiert.
Aus Sicht der Bundesregierung entsprächen die berichteten Äußerungen nicht dem tatsächlichen guten
Stand der bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia.
Ihre Zusatzfragen.
Herr Staatsminister, es ist der Regierung unbenommen, diese Äußerung noch einmal zu prüfen. Aus meiner
Sicht ist es keine Äußerung, die nur angeblich gemacht
worden ist. Sie ist von einem Angehörigen der namibischen Menschenrechtsorganisation, der bei der Veranstaltung anwesend war, auf der Sam Nujoma dies geäußert hat, direkt aufgenommen worden.
Wenn man hört, dass man Vertreter der Deutschen
Evangelisch-Lutherischen Kirche dort bei Nichtbenehmen angreifen werde und Deutschen, die ihnen zu Hilfe
kämen, in die Köpfe schießen werde, ist man schon erschüttert. Wir haben eine umfangreiche Partnerschaft
zwischen der Universität in Freiberg und der Universität
in Windhuk, die sich, wie ich aus meinem Wahlkreis
weiß, möglicherweise auch noch auf Kirchengemeinden
Sportverbände und dergleichen erstrecken könnte. Den
Menschen, die das wollen, aber das jetzt hören, macht
das schon Angst.
Hinzu kommt, dass diese Äußerung von Altpräsident
Sam Nujoma, die sich gegen Deutsche gerichtet hat,
nicht die einzige dieser Art ist. Er hat in der Vergangenheit auch gegen Ausländer, gegen Juden, selbst gegen
die Opposition menschenverachtende Äußerungen gemacht, die durchaus unter Menschenrechtsaspekten zu
bewerten wären.
Nun haben Sie gesagt, dass die deutsche Botschaft
eine Art Protestnote abgegeben hat und dass auch das
Auswärtige Amt seine Besorgnis zum Ausdruck gebracht hat. Nun frage ich Sie: Ist das an dieser Stelle tatsächlich genug?
Hier schließt sich - ähnlich wie bei dem Thema Honduras - noch eine Frage an. Wir geben einen nicht unerheblichen Teil unserer Entwicklungshilfegelder nach
Namibia - Entwicklungshilfegelder sind auch Steuergelder von Deutschen -, nicht nur für Deutsche, sondern für
das namibische Volk. Kann man es im Hinblick darauf
hinnehmen oder auch nur akzeptieren, dass man es bei
der Protestnote belässt?
Dazu noch die Frage: Wie gehen Sie nach Prüfung
dieser Äußerung damit um, auch im Hinblick auf die
Praxis bei der Entwicklungshilfe?
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Die Bundesregierung
hat, wie ich ausgeführt habe, das getan, was man in solchen Fällen international üblicherweise tut: Sie ist in
Windhuk vorstellig geworden wie auch beim namibischen Botschafter hier in Berlin. Wir haben die Zusage,
dass die Äußerungen geprüft werden. Sie persönlich haben keinen Zweifel daran, dass sie so gefallen sind. Das
deckt sich aber noch nicht mit den Erkenntnissen der
Untersuchungen, da noch keine abschließende Klärung
des Vorgangs stattgefunden hat.
Zunächst einmal ist es natürlich Angelegenheit der
namibischen Regierung, eine Erklärung abzugeben.
Diese müssen wir jetzt erst einmal abwarten. Insofern
wäre es vorschnell, schon jetzt über irgendwelche Konsequenzen nachzudenken. Bei einem solchen Vorgang ist
es international üblich, erst einmal die Aufklärung abzuwarten. Erst dann kann man entscheiden, welche
Schlüsse zu ziehen sind.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Ich möchte in diesem Zusammenhang nachfragen,
wie lange nach Ihren Vorstellungen der Zeitraum ist, den
Sie abwarten wollen. Wer die afrikanischen Verhältnisse
kennt, der weiß, dass in Afrika gilt: Alles verzögert sich,
vor allen Dingen, wenn es sich um solche sehr diffizilen
Tatbestände handelt. Wird die deutsche Bundesregierung
darauf dringen, dass dieser Vorgang zügig abgearbeitet
wird, und zwar nicht nur unter dem Aspekt des Schutzes
der Deutschen, sondern auch unter dem Aspekt des
Schutzes der Menschenrechte?
Frau Kollegin Bellmann, ich habe viel Verständnis für
Ihre Ungeduld. Es ist aber in solch einem Fall nicht üblich, von unserer Seite einen Zeitpunkt festzulegen.
Selbstverständlich erwarten wir eine Aufklärung zu den
möglichen Äußerungen von Herrn Nujoma. Das liegt
aber jetzt in der Hand der namibischen Regierung, die
nach unserer Auffassung - ich habe auf den guten bilateralen Status hingewiesen - auch ein Eigeninteresse an
der Aufklärung dieses Vorgangs haben sollte. Wie Sie
wissen - Sie haben das selber angesprochen -, haben wir
nicht nur gute bilaterale Beziehungen, sondern Namibia
bekommt auch pro Kopf die höchste Entwicklungshilfe,
die Deutschland leistet. Ich bin ganz sicher, dass sich
alle Verantwortlichen dort darüber bewusst sind, dass
diese guten Beziehungen ein Gut sind, das man erhalten
sollte, und zwar auf beiden Seiten: Wir wollen das und
die namibische Regierung nach unserer Auffassung
auch. Insofern rechnen wir damit, dass der Aufklärungsprozess erfolgreich sein wird.
Ich schließe diesen Themenbereich. Vielen Dank,
Herr Staatsminister, für die Beantwortung der Fragen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern auf. Die Frage 7 der Kollegin
Dr. Martina Bunge, die Frage 8 der Kollegin Dr. Gesine
Lötzsch und die Frage 9 des Kollegen Omid Nouripour
werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen auf. Die Fragen 10 und 11 der Kollegin Gudrun Kopp werden ebenso wie die Fragen 12
und 13 des Kollegen Dr. Hakki Keskin sowie die Fragen 14 und 15 der Kollegin Marieluise Beck schriftlich
beantwortet.
Jetzt rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie auf. Die Fragen
beantwortet Herr Parlamentarischer Staatssekretär Peter
Hintze.
Ich rufe die Frage 16 der Kollegin Dorothée Menzner
auf:
Ist die Bundesregierung bereit, vor dem Hintergrund der
dramatischen wirtschaftlichen und finanziellen Situation der
insolventen Wilhelm Karmann GmbH in Osnabrück, einem
Autobauer und Zulieferer, der in den letzten fünf Jahren bereits 5 000 Arbeitsplätze abgebaut hat und der eine mit der
Adam Opel GmbH vergleichbare Bedeutung für die Region
besitzt, die Karmann GmbH und deren Insolvenzverwalter
ähnlich wie die Adam Opel GmbH bei der Suche nach einem
Investor zu unterstützen und die Finanzkraft der Karmann
GmbH mit öffentlichen Mitteln zu stärken?
Danke schön, Frau Präsidentin. - Zu der Frage von
Frau Kollegin Menzner nach möglichen staatlichen Hilfen für die Karmann GmbH ist zu sagen: Die Bundesregierung hat neben dem bereits bestehenden Bürgschaftsinstrumentarium des Bundes mit dem „Wirtschaftsfonds
Deutschland“ ein Instrument zur Verfügung gestellt, um
sowohl mittelständischen als auch großen Unternehmen,
die infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise in Schwierigkeiten geraten sind, die Finanzierung von Investitionen bzw. von Betriebsmitteln zu erleichtern. Diese Unternehmen dürfen zum 1. Juli 2008 keine Unternehmen
in Schwierigkeiten im Sinne der Rettungs- und Umstrukturierungsleitlinien der Europäischen Kommission gewesen sein.
Es steht allen interessierten Unternehmen frei, die angebotenen Möglichkeiten zu prüfen und gegebenenfalls
im vorgesehenen Verfahren einen Antrag auf Kredite
oder Bürgschaften zu stellen.
Ihre Zusatzfragen.
Danke, Herr Kollege Hintze. - Ich habe die Nachfrage: Wie konkret ist der Stand bei der Karmann GmbH?
Ist Ihrer Kenntnis nach ein Antrag gestellt worden? Gibt
es einen Kontakt des Ministeriums zu dem Betrieb, bzw.
gibt es Gespräche Ihres Hauses mit dem Land Niedersachsen über mögliche gemeinsame Maßnahmen, um
den Betrieb und vor allem die Arbeitsplätze, die für die
Region Osnabrück elementar sind, zu erhalten?
Ich bitte um Verständnis dafür, dass die Bundesregierung aus Gründen der Vertraulichkeit nicht befugt ist,
Fragen zu Kredit- oder Bürgschaftsanträgen einzelner
Unternehmen zu beantworten. Die Bundesregierung
weiß, dass sich das Land Niedersachsen in diesen Fragen
sehr engagiert bemüht.
Frau Präsidentin, darf ich vielleicht noch die Frage 17, die mit Frage 16 in engem Zusammenhang steht,
beantworten, damit das noch deutlicher wird?
Ja, bitte schön. - Ich rufe die Frage 17 der Kollegin
Menzner auf:
Wurden bereits Schritte in diese Richtung eingeleitet, und
worin sollte nach Auffassung der Bundesregierung die mögliche und notwendige Mitwirkung der niedersächsischen Landesregierung bestehen?
Der Insolvenzverwalter hat seine Tätigkeit bereits
aufgenommen. Seine Aufgabe ist es auch, soweit wie
möglich dafür zu sorgen, dass das Unternehmen weitergeführt werden kann. Dazu kann beispielsweise die Suche nach einem neuen Investor für eine übertragende
Sanierung oder die Erstellung eines Sanierungsplans in
Absprache mit den Gläubigern für ein Insolvenzplanverfahren gehören. Je nach Ausgang dieser Prüfung kann
der Insolvenzverwalter gegebenenfalls auch beurteilen,
ob und in welcher Form staatliche Hilfe in Anspruch genommen werden kann.
Hinsichtlich der Frage nach der Mitwirkung eines
Bundeslandes weise ich darauf hin, dass sich das Land
Niedersachsen konkret bemüht und dass das Land, in
dem ein Unternehmen, das beispielsweise einen Bürgschaftsantrag stellt, seinen Sitz hat, im Rahmen des
Bürgschaftsausschusses immer mit hinzugezogen wird.
Im Falle eines Bürgschaftsantrages werden darüber hinaus alle Bundesländer beteiligt, in denen mehr als
10 Prozent der gesamten Mitarbeiter des Unternehmens
beschäftigt sind.
Wie ich schon in der Antwort auf die Zusatzfrage zu
Frage 16 ausgeführt habe, weise ich noch einmal darauf
hin, dass die Bundesregierung aus Gründen der Vertraulichkeit keine Auskünfte zu Kredit- oder Bürgschaftsanträgen einzelner Unternehmen erteilt. Außerdem möchte
ich - wie schon bei meiner ersten Antwort - noch einmal
darauf hinweisen, dass es ein wichtiges Prüfkriterium ist,
ob das Unternehmen zum 1. Juli 2008 ein Unternehmen
war, das nicht in Schwierigkeiten war; denn dies ist eine
europarechtliche Voraussetzung für die Gewährung von
Staatshilfen. Im Hinblick darauf muss bei Karmann geschaut werden, was geschehen kann, damit Arbeitsplätze
und Unternehmen erhalten werden können.
Sie haben keine weiteren Fragen mehr?
Nein.
Vielen Dank. - Ich rufe die Frage 18 des Kollegen
Manfred Kolbe auf:
Wie rechtfertigt die Bundesregierung den Verkauf von
circa 48 Prozent der Verbundnetz Gas AG Leipzig, VNG, an
einen der vier großen deutschen Energiekonzerne, und sieht
die Bundesregierung hier keine Gefahr, dass die Eigenständigkeit der VNG Leipzig beeinträchtigt wird?
Frau Präsidentin, mit Ihrer Genehmigung würde ich
gerne die Fragen 18 und 19, die inhaltlich in einem engen Zusammenhang stehen, gemeinsam beantworten.
Dann rufe ich jetzt außerdem die Frage 19 des Kollegen Manfred Kolbe auf:
Widerspräche ein solcher Verkauf gemäß Frage 18 nicht
der Aussage des ehemaligen Staatssekretärs im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Alfred Tacke, dass mit
der VNG Leipzig die fünfte Kraft auf dem deutschen Energiemarkt etabliert werden sollte und deshalb eine Beeinträchtigung der Eigenständigkeit der VNG Leipzig eine erhebliche
Einschränkung des Wettbewerbs zur Folge hätte?
Herr Kollege Kolbe, die Frage des Kaufs oder Verkaufs von Unternehmensanteilen liegt grundsätzlich in
der Kompetenz der Anteilseigner sowie der Kaufinteressenten. Die Bundesregierung hat keine rechtliche Möglichkeit, auf die Aktionärsstruktur bzw. das Verhalten der
Anteilseigner einzuwirken. Das gilt auch im Hinblick
auf den angekündigten Anteilserwerb der Energie BadenWürttemberg, der EnBW AG, an der VNG, der selbstverständlich der kartellrechtlichen Fusionskontrolle unterliegt.
Nachdem sich die EWE AG und die EnBW AG über
den Transaktionswunsch im Hinblick auf 47,89 Prozent
der VNG-Anteile geeinigt hatten, wurde dieser dem
Bundeskartellamt angemeldet. Das Bundeskartellamt hat
angekündigt, den beabsichtigten Verkauf an die EnBWAG
bis September dieses Jahres zu prüfen. Außer einer Erlaubnis des Bundeskartellamtes bedarf die Umsetzung
der Transaktion der Zustimmung der Aktionäre auf einer
Hauptversammlung der VNG AG.
Ihre Zusatzfragen bitte, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, ich habe mit Frage 18 nicht gefragt, ob die Bundesregierung Möglichkeiten hat, etwas
zu verhindern, sondern wie die Bundesregierung eine
solche Transaktion sehen würde, insbesondere ob sie in
dem Verkauf von knapp 48 Prozent der Anteile eine Gefährdung der Eigenständigkeit der VNG AG sehen
würde.
Herr Kollege, das fragen Sie jetzt. Laut Ihrer Frage
wollten Sie aber wissen, wie die Bundesregierung den
Verkauf rechtfertigt. Eine Rechtfertigungssituation kann
aber logischerweise nicht entstehen, weil der Bund keine
Anteile besitzt und die Bundesregierung keine rechtlichen Einwirkungsmöglichkeiten hat.
({0})
- Man hat mir aufgeschrieben - Manfred Kolbe ({1}):
In Frage 18 heißt es:
… und sieht die Bundesregierung hier keine Gefahr, dass die Eigenständigkeit der VNG Leipzig
beeinträchtigt wird?
Das war der zweite Teil der Frage. Im ersten Teil der
Frage ging es darum, wie wir den Verkauf rechtfertigen.
Darauf habe ich unter anderem geantwortet, dass die
Prüfung durch das Bundeskartellamt und die Entscheidung der Hauptversammlung, ob der Verkauf überhaupt
genehmigt wird, ausstehen. Jetzt fragen Sie mich eher
nach einer politischen Bewertung. Darauf will ich wie
folgt positiv antworten: Die Bundesregierung hat ein
großes Interesse an einer starken, in Sachsen verwurzelten, eigenständigen VNG AG. Im Rahmen unserer Möglichkeiten begleiten wir den Prozess in diesem Sinne.
Rechtliche Einwirkungsmöglichkeiten haben wir nicht.
Sie haben keine weiteren Fragen.
Die Frage 20 der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch wird
schriftlich beantwortet.
Jetzt rufe ich die Frage 21 des Kollegen HansChristian Ströbele auf:
Für welche Empfängerstaaten wie etwa Iran oder China
haben die Nokia Siemens Networks oder verbundene Unternehmen wie die Münchener „Perusa Partners Fund 1 LP“
Ausfuhrgenehmigungen gemäß dem Außenwirtschaftsgesetz
beim Bundesausfuhramt beantragt bzw. beantragen müssen
und erhalten für Technik zur Überwachung von Stimm- und
Datenkommunikation in jeglichen Netzwerken wie die 2008
an den staatlichen iranischen Provider TCI gelieferten sogenannten Monitoring-Center zum millisekundenschnellen Scannen mit Suchbegriffen ({0}), die nun gegen die iranische Opposition eingesetzt wird, und welche Schritte wird die Bundesregierung unternehmen, um künftig sicherzustellen, dass solche Überwachungstechnik zumal einst deutscher Unternehmen nicht in
den Zugriff repressiver Regime gelangt?
Frau Präsidentin! Herr Kollege Ströbele, die Antwort
lautet: Genehmigungen für die Ausfuhr derartiger Abhörtechnik, das heißt für sogenannte Lawful-Interception-Management-Systeme, in den Iran bzw. nach
China wurden nicht beantragt und nicht erteilt. Ein von
Nokia Siemens Networks gestellter Antrag zur Ausfuhr
von Betriebs- und Verschlüsselungssoftware zum Betrieb solcher Monitoring-Center in den Iran wurde abgelehnt.
Ihre Zusatzfragen.
Herr Staatssekretär, können Sie sagen, wann das gewesen ist und welche Art Kontrollanlagen das betraf?
Sie müssen nicht die Firma nennen.
Das war im November 2008. Die Firma habe ich gerade genannt. Sie hatten ja nur nach einer Technik gefragt; dazu hat es keinen Antrag gegeben und insofern
auch keine Anerkennung oder Ablehnung.
Dann habe ich, obwohl Sie nicht danach gefragt haben, versucht, dem Sinn Ihrer Frage noch tiefer auf den
Grund zu gehen, wie es meinem parlamentarischen Verständnis entspricht, und etwas zur Betriebs- und Verschlüsselungssoftware ausgeführt. Dazu hat es im November 2008 einen Antrag gegeben. Diesen hat das
BAFA abgelehnt. Die Ausfuhrgenehmigung für diese
Software ist also nicht erteilt worden.
Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, kann es sein, dass Lieferungen
für Teile von Anlagen erfolgten, sogenannte auch in diesem Bereich existierende Dual-Use-Gegenstände, die
dann für solche Kontrolltechniken Verwendung finden
können?
Es können sogar ganze Anlagen geliefert worden
sein. Die Frage ist, ob ausfuhrrechtlich genehmigungspflichtige Anlagen geliefert wurden. Diese Frage habe
ich mit Nein beantwortet. Dazu hat es auch keinen Antrag gegeben. Den Medien haben wir entnommen, dass
nicht genehmigungspflichtige Anlagen geliefert wurden.
Ich nehme an, dass das zutrifft. Auch danach hatten Sie
zwar nicht gefragt; aber ich sage Ihnen dennoch, wie unser Erkenntnisstand dazu ist. Nach unserem Erkenntnisstand sind das nicht genehmigungspflichtige Anlagen,
die mit dem Thema Telefonie zusammenhängen. Sie hatten in Ihrer Frage auch noch das Thema Internet angesprochen. Hierzu sagt das Unternehmen - weil ein entsprechender Vorwurf in der Presse erhoben wurde -,
Anlagen, die sich auf Kontrollüberwachungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit dem Internet beziehen, seien
nicht geliefert worden. Anträge dazu haben uns nicht
vorgelegen und sind deswegen auch nicht genehmigt
oder abgelehnt worden.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen. Ich schließe diesen Geschäftsbereich.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales auf. Die Frage 22 der Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk wird schriftlich beantwortet, ebenso die Fragen 23 und 24 der Kollegin
Dr. Dagmar Enkelmann.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf. Die
Fragen 25 und 26 des Kollegen Dr. Anton Hofreiter werden schriftlich beantwortet, ebenso die Fragen 27 und 28
des Kollegen Peter Hettlich.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Die Fragen beantwortet Frau Parlamentarische Staatssekretärin Astrid Klug. Die Frage 29 der
Kollegin Sylvia Kotting-Uhl wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 30 des Kollegen Hans-Josef Fell
auf:
Reichen die Sicherheitsbestimmungen und vor Ort getroffenen Maßnahmen aus, um bei allen deutschen Atomkraftwerken, AKW, ausschließen zu können, dass Terroristen Zutritt zur Hülle von Atomkraftwerken oder zu anderen
wichtigen AKW-Komponenten wie zum Beispiel Transformatoren erlangen und dort Sprengkörper anbringen können, und
wie stellt die Bundesregierung sicher, dass es zukünftig tatsächlich nur durch das Sicherheitspersonal sicherheitsüberprüften Greenpeace-Aktivisten - und damit nicht getarnten
Terroristen - gelingen kann, auf das Atomkraftwerksgelände
und auf die sicherheitsrelevanten Gebäudeteile von Atomkraftwerken vorzudringen?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrter Herr
Kollege Fell, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Die
für alle Kernkraftwerke in Deutschland erforderlichen
Maßnahmen gegen terroristische Angriffe sind zwischen
den maßgeblichen atomrechtlichen Behörden und den
Sicherheitsbehörden abgestimmt. Ziel der Maßnahmen
ist es insbesondere, das vorsätzliche Eindringen unberechtigter Personen in die besonders geschützten inneren
Sicherungsbereiche zu verhindern. Nur dort befinden
sich die sicherheitsrelevanten Einrichtungen.
Durch die technischen, baulichen und administrativen
Maßnahmen wird sichergestellt, dass das Vordringen unberechtigter Personen auf das Gelände sofort erkannt
wird, lageangepasste Gegenmaßnahmen eingeleitet werden und die inneren Sicherungsbereiche intakt bleiben.
Die Bundesregierung hält dieses gestaffelte Konzept für
geeignet, den erforderlichen Schutz gegen Einwirkungen
Dritter zu gewährleisten.
Ihre Zusatzfragen.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin Klug, für diese
Antwort. Sie ist nicht ganz zufriedenstellend; denn es
bleibt eine ganze Reihe von Fragen offen. Dazu gehören
zum Beispiel die Fragen: Wie kann es einer Umweltschutzorganisation wie Greenpeace gelingen, zwar nicht
in den inneren, aber in den äußeren Sicherheitsbereich
eines Atomkraftwerkes einzudringen? Kann man daraus
den Rückschluss ziehen, man brauche sich nur als Umweltschutzorganisation zu tarnen, um als Terrorist in die
Anlage zu kommen? Anschließend stellt ein Anwalt
noch Regressforderungen, indem er damit droht, wegen
der Unverhältnismäßigkeit der Gegenmaßnahmen an die
Öffentlichkeit zu treten. - So ist es geschehen. Es kann
also sein, dass eine Umweltschutzorganisation plötzlich
Zugang zur Kuppel eines Atomreaktors hat.
Sehr geehrter Herr Kollege Fell, es werden natürlich
regelmäßig Analysen zur Gefährdung durch terroristische Angriffe erstellt. Nach den Ergebnissen dieser Analysen werden die Maßnahmen zur Anlagensicherung
ausgelegt. Greenpeace gehört ausdrücklich nicht zu dem
Bereich der Gefährder.
Der äußere Anlagensicherungszaun, der von Greenpeace überwunden wurde, dient zur Unterstützung der
Polizei, die auf die zu erwartenden Demonstrationen reagieren muss. Mit dem zweiten Sicherungszaun, der
ebenfalls überwunden wurde, soll es ermöglicht werden,
ein unberechtigtes Eindringen zu erkennen. Dieser dient
aber nicht dazu, ein Eindringen zu verhindern. In diesem
Fall hat das Erkennen eines unberechtigten Eindringens
die entsprechenden Sicherheitsbehörden unmittelbar auf
den Plan gerufen. Greenpeace ist es daher nicht gelungen, in die sicherheitsrelevanten Bereiche einzudringen.
Das gestaffelte Sicherheitskonzept hat also an dieser
Stelle funktioniert.
Die sicherheitsrelevanten Bereiche jeder Anlage sind
durch massive bauliche Maßnahmen, durch eigene Zutrittskontrollsysteme und eine ständige Überwachung
besonders geschützt. Der Objektsicherungsdienst hat,
nachdem der zweite Zaun überwunden worden war, lageangepasst reagiert und diese Aktion als eine Aktion
von Greenpeace identifiziert. Daher hat er nicht von den
Maßnahmen Gebrauch gemacht, wie es bei einem terroristischen Angriff der Fall gewesen wäre.
Gestatten Sie eine zweite Nachfrage. - Immerhin ist
es Greenpeace gelungen, auf die Kuppel zu gelangen.
Das ist nicht im Sinne der Sicherheitsmaßnahmen. Auf
die Kuppel könnten nach unserem Dafürhalten auch Terroristen gelangen. Sie könnten dort eine Bombe zünden.
Umweltminister Sander aus Niedersachsen hat zwar gesagt, das Containment würde das Zünden einer normalen
Bombe aushalten. Ich frage mich aber: Was wäre - das
ist denkbar -, wenn die Terroristen eine stärkere Bombe
oder einen stärkeren Sprengsatz zünden würden? Wir
kennen die schlimmen Machenschaften von islamistischen Terroristen. Man kann nicht von der Hand weisen,
dass sie durchaus im Bereich des Möglichen liegen. Ich
halte das für eine besondere Gefährdung. Wie will die
Bundesregierung ausschließen, dass über solche Attacken tatsächlich die Kuppel durchstoßen werden könnte?
Ich will hier nichts beschönigen. Es wird natürlich
niemals eine hundertprozentige Sicherheit geben, sowohl was den Betrieb der Atomkraftwerke als auch was
Angriffe von außen angeht. Einer der Gründe für den
Atomausstiegsbeschluss in Deutschland war, dass diese
hundertprozentige Sicherheit eben nicht gewährleistet
werden kann. Es gibt natürlich ein größtmögliches Maß
an Sicherheit. Dafür brauchen wir die entsprechenden
Maßnahmen.
In diesem Fall wurde die Aktion als eine Aktion von
Greenpeace identifiziert. Deshalb waren keine weiteren
Maßnahmen an dieser Stelle notwendig.
Ich rufe die Frage 31 des Kollegen Hans-Josef Fell
auf:
Bedeutet die Aussage der Bundesministerin der Justiz,
Brigitte Zypries, dass es aus Gründen der nationalen Sicherheit unverantwortlich sei, die Laufzeiten von Atomkraftwerken zu verlängern ({0}), dass die nationale Sicherheit
so lange gefährdet ist, wie die sieben ältesten Atomkraftwerke
in Betrieb sind, und auf welcher Grundlage basiert die Einschätzung der Bundesministerin der Justiz?
Das ist eine Frage zum gleichen Themenkomplex, die
ich wie folgt beantworte: Mit dem Atomausstiegsgesetz
vom 22. April 2002 hat der Gesetzgeber entschieden, die
Nutzung der Kernenergie zur gewerblichen Elektrizitätserzeugung aufgrund der mit ihr verbundenen Risiken nur
noch für einen begrenzten Zeitraum hinzunehmen. Der
Deutsche Bundestag hat in seiner Entschließung dazu
hervorgehoben, dass die Ausstiegsnovelle geeignet ist,
auch auf allgemeine Risiken wie terroristische Bedrohungen sicherheitsgerichtet zu reagieren, indem insbesondere ältere Anlagen noch vor Ablauf ihrer Restlaufzeit vom Netz genommen und ihre Restlaufzeiten auf
andere Anlagen übertragen werden.
Berücksichtigt man, dass gerade die alten Anlagen
den geringsten Schutz gegen Flugzeugabstürze oder terroristische Angriffe aus der Luft bieten und weniger Sicherheitsreserven als neuere Atomkraftwerke haben, ist
es aus Gründen der inneren Sicherheit und zum Schutz
der Bürgerinnen und Bürger geboten, dass die Betreiber
die Möglichkeit des Atomgesetzes nutzen, die Restlaufzeiten auf neuere, sicherere Reaktoren zu übertragen.
Ihre Zusatzfragen.
Frau Staatssekretärin, Sie wissen, dass sich meine
Frage auf die Aussage der Justizministerin Brigitte
Zypries bezieht. In einer dpa-Meldung wurde sie dahin
gehend zitiert, dass alte Reaktoren abzuschalten seien,
weil die nationale Sicherheit gefährdet sei, solange sie
noch in Betrieb seien. Ist die Bundesregierung gemeinsam der Auffassung, dass es unverantwortlich ist, die älteren Reaktoren mit einer Laufzeitverlängerung zu belegen, was die Reaktorbetreiber vorhaben?
Diese Frage hat der Gesetzgeber mit dem Atomausstiegsgesetz beantwortet, mit dem bewusst entschieden
wurde, dass Restlaufzeiten für Atomkraftwerke zur Verfügung stehen und Atomkraftwerke noch eine gewisse
Zeit in Deutschland am Netz bleiben, Atomkraftwerke
aber gerade unter Sicherheitsgesichtspunkten abgeschaltet werden sollen, und zwar ältere Atomkraftwerke
schneller als jüngere. Das spiegelt sich in dem Atomausstiegsgesetz wider.
Ihre zweite Zusatzfrage.
Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass es
besser wäre, die sieben älteren Atomkraftwerke frühzeitiger vom Netz zu nehmen und die entsprechenden Reststrommengen auf jüngere Atomreaktoren zu übertragen?
Das Bundesumweltministerium hat dies immer ausdrücklich bejaht und die Betreiber dazu aufgefordert, genau so zu reagieren und die Möglichkeit zu nutzen, die
ihnen das Atomausstiegsgesetz bietet.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, für die Beantwortung der Fragen.
Ich schließe diesen Geschäftsbereich und rufe den
Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung
und Forschung auf. Die Fragen 32 und 33 des Kollegen
Kai Gehring werden ebenso wie die Fragen 34 und 35
der Kollegin Cornelia Hirsch schriftlich beantwortet.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde. Ich unterbreche die Sitzung bis zum Beginn der vereinbarten Debatte zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
zum Vertrag von Lissabon um 15.05 Uhr.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Vereinbarte Debatte
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
zum Vertrag von Lissabon
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Axel Schäfer für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der gestrige Tag vor dem Bundesverfassungsgericht in
Karlsruhe war ein wichtiger Tag für Deutschland, für
Deutschland in Europa, für den Deutschen Bundestag
wie für den Bundesrat. Es ist gut, dass wir uns hier heute
direkt mit den Konsequenzen dieses Urteils befassen.
Lassen Sie mich drei einleitende Punkte nennen.
Erstens. Der Vertrag von Lissabon ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Das ist ein großer Erfolg für die große
Mehrheit dieses Hauses.
({0})
Zweitens. Das Zustimmungsgesetz mit den Änderungen des Grundgesetzes zum Lissabon-Vertrag ist mit
dem Grundgesetz vereinbar. Auch das ist ein großer Erfolg für die große Mehrheit dieses Hauses.
({1})
Drittens. Im Begleitgesetz haben wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier unsere Beteiligung und
unsere Möglichkeiten zur Mitwirkung nicht in vollem
Umfange genutzt. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle Nein gesagt und uns bestimmte
Aufgaben auferlegt, die wir erfüllen wollen und die wir,
wie ich glaube, auch erfüllen können und werden. Deshalb diskutieren wir heute.
({2})
Lassen Sie uns hier die Maßstäbe zurechtrücken. Wer
heute Zeitung liest, hat manchmal den Eindruck, es gehe
allein um die Beteiligungsrechte von Bundestag und
Bundesrat und weniger um den großen Erfolg der europäischen Integrationsgeschichte. Dieser Erfolg aber ist
gleichzeitig ein Signal des Deutschen Bundestages und
des Bundesrates zum Beispiel Richtung Irland, wo das
künftige Referendum, also die zweite Runde, erfolgreich
verlaufen soll. Gleichzeitig ist es auch ein Signal an die
Präsidenten Kaczynski und Klaus - auch nachdem das
tschechische Verfassungsgericht so votiert hat -: Es gibt
jetzt keine rechtlichen Hindernisse mehr, die Verfassung
in Form des Reformvertrages von Lissabon zu unterAxel Schäfer ({3})
zeichnen. Auch das sollten wir heute an dieser Stelle
ganz deutlich machen.
({4})
Es kommt jetzt sowohl darauf an, was wir diskutieren, als auch darauf, wie wir es diskutieren. Zum Thema,
wie wir es diskutieren, ist es aus meiner Sicht besonders
wichtig, zu sagen: Nein, die Regierungsfraktionen haben
nicht immer nur recht.
({5})
Nein, die Oppositionsfraktionen haben nicht immer nur
unrecht. Nein, das Bundesverfassungsgericht weiß nicht
immer alles besser. Auch diese drei Dinge sollten wir in
die Diskussion mitnehmen.
Wir wollen jetzt - das ist unser Anspruch, den ich
gerne für die SPD-Fraktion zum Ausdruck bringen
möchte - zügig, aber solide und gründlich mit allen
Fraktionen dieses Hauses zu einer fairen Regelung kommen, die ermöglicht, dass erstens der Deutsche Bundestag das Begleitgesetz noch in dieser Legislaturperiode
ändert, dass sich zweitens auch der Bundesrat noch in
dieser Legislaturperiode damit befasst und dass drittens
die Ratifikationsurkunde bis Anfang Oktober dieses Jahres in Rom hinterlegt wird; das wäre auch mit Blick auf
die dann in Irland stattfindende Volksabstimmung ein
wichtiges Signal. Ich glaube, darauf sollten wir alle uns
hier und heute verständigen.
({6})
Das deutsche Parlament hat eine außergewöhnliche
Stärkung seiner Rechte erfahren, nicht nur insofern, als
deutlich gemacht wurde, welche Rechte ein Parlament
hat, sondern auch, weil deutlich gemacht wurde, welche
Rechte sich ein Parlament nehmen - manchmal könnte
man auch sagen: was es sich herausnehmen - kann.
Hier zeigt sich ein grundlegendes Problem jeder parlamentarischen Regierungsform - auch der Regierungsform, die wir haben und die wir wollen -: Ein Parlament
steht, unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen, ein
Stück weit im Konflikt mit jedweder Regierung. Ein
Parlament hat nämlich immer ein Interesse daran, mehr
gestalterische Möglichkeiten zu bekommen - das gilt
insbesondere für die europäische Ebene -, während eine
Regierung immer darauf bedacht ist, ihre Handlungsmöglichkeiten zu behalten, sodass sie genügend Verhandlungsmöglichkeiten hat. Aus unserer Sicht darf
nicht der Eindruck entstehen, dass das Parlament störend
ist. Vielmehr ist das Parlament ein wichtiger Faktor der
Gestaltung und der Kontrolle der Regierung. Auch das
sollten wir heute betonen.
({7})
Wenn wir diese Aussage selbstkritisch hinterfragen
- es ist wichtig, selbstkritisch zu sein; denn man kann
nur selbstbewusst sein, wenn man auch selbstkritisch
ist -, stellen wir fest, dass wir die Arbeitsweise unseres
Parlaments in Zukunft ein Stück weit werden ändern
müssen. Außerdem muss sich - das Haus ist nicht gerade
übervoll - die Mentalität, also die Einstellung zur Debatte über die Europäisierung auch unserer Politik verändern. Das ist nicht nur die Aufgabe der sogenannten
Europaspezialisten, sondern auch eine Aufgabe, der wir
uns in der Alltagsarbeit in allen 22 Ausschüssen des
Deutschen Bundestages stellen müssen. Wir müssen
ganz ehrlich zugeben: In diesem Parlament haben wir in
dieser Hinsicht noch eine ganze Menge Überzeugungsarbeit zu leisten.
Weil die große Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages europäische Föderalisten sind, erlaube ich mir, an dieser Stelle einen deutlichen Beurteilungsunterschied im Vergleich zur Auffassung des
Bundesverfassungsgerichts herauszustellen. Jawohl, das
Bundesverfassungsgericht hat den Deutschen Bundestag
gestärkt. Es hat aber argumentativ - nicht rechtlich, sondern argumentativ - das Europäische Parlament geschwächt.
({8})
Die Aussage - so steht es in einem Satz der Begründung
des Urteils -, dass der Lissabon-Vertrag im Hinblick auf
das Europäische Parlament keinen Zugewinn an Demokratie zur Folge hat
({9})
- „keinen“ steht da, nicht „nicht genügend“, sondern
„keinen“ -, ist falsch. Das sollten wir deutlich sagen.
({10})
Wenn man das Maastricht-Urteil zur Grundlage
nimmt, darf nicht so getan werden, als hätte sich von
1992 bis 2009 nichts geändert. 1992 gab es keine Form
von gleichberechtigter Mitentscheidung des Europäischen Parlaments. Durch Lissabon haben wir das in ungefähr 90 Prozent der Fälle. So wie der Lissabon-Vertrag
angelegt ist, nämlich auf eine repräsentative Demokratie,
ist das Europäische Parlament ein zentraler Ort. Es ist
gleichberechtigt mit dem Rat.
Die Begründung, die von Karlsruhe angeführt wurde,
lautet: Gesetzgeber ist insbesondere der Rat, die nationalen Parlamente haben eine wichtige Stellung, und das
Europäische Parlament tritt hinzu oder hat ein Vetorecht. - Von einem Vetorecht des Parlaments ist in keinem Vertrag die Rede, wohl aber von gleichberechtigter
Mitentscheidung. Dies sollten wir unterstreichen.
({11})
Das spielt nicht nur aufgrund der solidarischen Zusammenarbeit mit dem EP, sondern auch in Anbetracht
der Tradition unseres Hauses eine wichtige Rolle. Es waren Generationen von Abgeordneten, von 1952 bis 1976,
die eine Direktwahl des Europäischen Parlaments eingefordert haben. Die SPD stand hierbei Gott sei Dank immer mit an der Spitze; aber dieses Anliegen wurde auch
von allen anderen - von der FDP, von der CDU/CSU
und später auch von den Grünen - getragen. Auch um
diese Frage geht es heute. Es geht heute nicht nur um
eine Stärkung der Rechte von Bundestag und Bundesrat
Axel Schäfer ({12})
in Europafragen, sondern auch um eine Anerkennung,
eine Würdigung, eine Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort für die FDP-Fraktion hat der Kollege
Markus Löning.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
FDP-Fraktion begrüßt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in seinen verschiedenen Aspekten. Wir begrüßen aber zuallererst, dass das Bundesverfassungsgericht den Vertrag von Lissabon für verfassungskonform
erklärt hat. Karlsruhe sendet damit ein ganz wichtiges
Signal, auch über Deutschland hinaus.
({0})
Wir begrüßen auch, dass alle Verfassungsbeschwerden und -klagen zurückgewiesen wurden.
({1})
Wir halten es für wichtig, dass in der politischen Argumentation, die sich gegen den Lissabon-Vertrag an sich
gerichtet hat, nun die Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts angelegt werden. Ich bin sehr gespannt auf die
politische Debatte, insbesondere von denjenigen, die gegen den Vertrag an sich argumentiert haben.
({2})
Es wird jetzt darauf ankommen, dass der Deutsche
Bundestag ein weiteres Signal für die europäische Integration sendet, und zwar in Richtung Irland. Ich denke,
es ist richtig, dass wir das Begleitgesetz noch in dieser
Legislaturperiode - wir sollten den 4. Oktober, den Tag
der Volksabstimmung in Irland, im Auge haben - überarbeiten, neu schreiben, auf den Stand bringen, den uns
das Bundesverfassungsgericht aufgetragen hat.
An Deutschland wird der Vertrag von Lissabon nicht
scheitern. Das ist ein wichtiges Signal, das wir nach Irland senden, aber auch in die Tschechische Republik und
nach Polen; gerade für diese beiden Länder spielt ein anderer Aspekt eine wichtige Rolle.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns für die weitere
Integration eine Reihe von Leitplanken gegeben. Der eine
oder andere hat in der Debatte gesagt: Was wir da bekommen haben, ist ein integrationsfeindliches Urteil. - Ich
sehe es anders: Es ist im Gegenteil ein integrationsfreundliches Urteil. Denn Karlsruhe hat sich in der Begründung nicht etwa von Integrationseuphorie, sondern
von der Ratio, von der Vernunft, und von demokratischen Grundsätzen leiten lassen.
Das haben gerade wir als FDP oft genug angemahnt.
Das Demokratiedefizit in der Europäischen Union kann
nicht dadurch geheilt werden, dass dem Europäischen
Parlament mehr Rechte gegeben werden. Es muss dadurch geheilt werden, dass der Deutsche Bundestag und
die anderen nationalen Parlamente ihre Aufgabe der demokratischen Kontrolle der Gesetzgebung endlich wahrnehmen.
({3})
Was das angeht, kann ich es mir nicht ersparen, die
Koalitionsfraktionen noch einmal anzuschauen. Eine
ganze Reihe von Entscheidungen, die in den letzten Monaten getroffen worden sind, wären im Lichte dieses
Urteils anders ausgefallen. Ich erinnere an die Grundrechteagentur der Europäischen Union, basierend auf
Art. 308 EGV: Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wäre es nicht mehr möglich, dass die Regierung
so etwas ohne Ansehen der Meinung der breiten Mehrheit des Bundestages durchwinkt.
({4})
Lassen Sie mich im Zusammenhang mit der Debatte
über den Vertrag von Lissabon daran erinnern, dass Bundesregierung und Bundestag über das Mandat zur
Verhandlung von Vertragsänderungen Einvernehmen
herzustellen haben. Nach dieser Entscheidung hätte der
Bundestag auch hier ganz anders eingebunden werden
müssen. Der Bundestag hätte dem Mandat zustimmen
müssen. Das ist ein wichtiger Unterschied. Hierdurch
werden die Fehler, die von der Großen Koalition in dieser Legislaturperiode gemacht worden sind, deutlich
aufgezeigt.
({5})
Der Bundestag ist nach diesem Urteil nicht mehr ein
Parlament, das das Recht zur Mitwirkung hat, sondern
nach diesem Urteil hat der Bundestag die Pflicht zur
Mitwirkung. Wir können nicht durch bloßes Zuhören
oder durch Weghören Dinge auf europäischer Ebene
passieren lassen. Nach diesem Urteil sind wir als Vertreter des deutschen Volkes in der Pflicht, das, was in Brüssel und in den Ministerräten geschieht, rechtzeitig hier
im Deutschen Bundestag zu behandeln, und zwar gerade
nicht nur - Herr Kollege Schäfer, das haben Sie richtig
gesagt - im Europaausschuss. Ganz besonders in den
einzelnen Fachausschüssen des Deutschen Bundestages
muss der nächste Bundestag mit europäischen Rechtsetzungsakten und damit, was die Bundesregierung in den
Räten entscheidet, ganz anders umgehen. Der Bundestag
ist hier in der Pflicht, sich frühzeitig zu informieren,
frühzeitig Entscheidungen zu treffen und frühzeitig der
Regierung einen Auftrag mit auf den Weg zu geben.
({6})
Ich glaube, dass wir die Auswirkungen des Urteils auf
die Verschiebungen zwischen den Verfassungsorganen
so kurz nach dem Urteil noch gar nicht richtig überMarkus Löning
blicken. Es wird zu einer Stärkung gerade derjenigen
Abgeordneten führen müssen, die den Koalitionsfraktionen angehören. Es wird gerade bei den Kolleginnen und
Kollegen zu einem stärkeren Selbstbewusstsein gegenüber der eigenen Regierung führen müssen, die in den
Koalitionsfraktionen sitzen. Sie müssen hier anders und
mit deutlich mehr Selbstbewusstsein auftreten, als das in
der Vergangenheit der Fall gewesen ist.
({7})
Ich wage die Prognose, dass sich das nicht auf die Europapolitik oder auf das, was auf europäischer Ebene passiert, begrenzen lassen wird.
Wir brauchen hier - das werden wir auch bekommen ein anderes Rollenverständnis des Bundestags im Vergleich zum Verfassungsorgan Bundesregierung. Dieses
Rollenverständnis wird sich selbstverständlich auch auf
alle anderen Bereiche der Politik ausdehnen - auch auf
das Verhältnis zum Europäischen Parlament -, und es
wird sich auch auf unser Verhältnis zu anderen nationalen Parlamenten ausdehnen müssen.
Weit über die Kooperationsmöglichkeiten hinaus, die
wir jetzt über die COSAC haben, in der die Europaausschüsse miteinander kooperieren, brauchen wir ein Netzwerk der Kooperation zwischen den nationalen Parlamenten. Wir müssen bei jeder einzelnen Sachfrage in der
Lage sein - bei der Kontrolle der Subsidiarität, aber auch
bei anderen Sachfragen -, sehr viel schneller zu politischen Vereinbarungen und politischen Abstimmungen
mit anderen nationalen Parlamenten zu kommen. Aus
meiner Sicht ist die Stärkung des Bundestages und der
anderen nationalen Parlamente die eigentliche Stärkung
der Demokratie in Europa, die mit diesem Urteil verbunden ist.
Lassen Sie mich zu guter Letzt eines noch anfügen:
Die FDP-Fraktion wird sich an der Ausarbeitung eines
neuen Begleitgesetzes beteiligen, wie das von den Koalitionsfraktionen angeboten worden ist. Wir werden darauf dringen, dass die BBV in Gesetzesform gegossen
wird. Wir sollten hier keinerlei Risiken eingehen, sondern wir sollten uns sehr klar darüber sein, was wir wollen. Wir sollten keine komischen Zwitterpositionen einnehmen, sondern gesetzlich regeln, was gesetzlich zu
regeln ist.
({8})
Eines sage ich hier aber auch ganz klar: Für unsere
Kooperation und unsere Zustimmung am Ende werden
wir strengste Maßstäbe an die Inhalte anlegen. Es darf
hier nicht versucht werden, weichzuwaschen. Das, was
wir heute in den Medien von Vertretern der Bundesregierung teilweise schon vernommen haben, nämlich Versuche, das Urteil herunterzuinterpretieren, ist nicht akzeptabel.
Es geht hier um die Rechte des Parlamentes und darum, dass dieses Begleitgesetz verfassungsfest ist. Da
wird es keine Kompromissbereitschaft auf unserer Seite
geben. Wir brauchen ein klares Begleitgesetz, das unzweideutig verfassungsfest ist.
({9})
Zu guter Letzt wiederhole ich das, was ich an dieser
Stelle schon oft gesagt habe: Die beste gesetzliche Regelung wird nicht helfen, wenn der politische Wille, sie zu
nutzen, nicht da ist. Man muss mehr Demokratie auch
wollen, und man muss mehr Demokratie auch wagen.
Die eigentliche Aufgabe und Herausforderung für dieses
Haus besteht aus meiner Sicht darin, eine Änderung des
Selbstverständnisses zu finden und mehr Demokratie zu
wagen, auch was Europa angeht.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts enthält für die Bundesregierung, den Deutschen Bundestag
und den Bundesrat zwei zentrale Botschaften.
Erstens. Das Grundgesetz - das kann man gar nicht
oft genug wiederholen - sagt Ja zum Vertrag von Lissabon. Mit dieser sehr klaren Aussage des Vorsitzenden
Richters des Zweiten Senates, Professor Dr. Voßkuhle,
werden die Anträge der Kläger im Organstreitverfahren
verworfen und zurückgewiesen, ebenso die Verfassungsbeschwerden, soweit sie das Ratifikationsgesetz und die
Grundgesetzänderung betreffen.
Der Vertrag von Lissabon verstößt nicht gegen das
Grundgesetz; er führt nicht zu einer Entstaatlichung der
Bundesrepublik Deutschland; Art. 20 des Grundgesetzes, in dem die Bundesrepublik Deutschland als demokratischer und sozialer Bundesstaat definiert wird, ist
nicht verletzt; auch die Entscheidungshoheit des Deutschen Bundestages beim Einsatz der Streitkräfte wird
durch die Bestimmungen des Vertrages von Lissabon
nicht ausgehöhlt - um die wesentlichen Klageinhalte zu
wiederholen. Das Bundesverfassungsgericht hat damit
die Verfassungsbeschwerden der Kläger in ihren zentralen Punkten als unbegründet zurückgewiesen.
({0})
Die zweite zentrale Botschaft lautet: Der Deutsche
Bundestag und der Bundesrat müssen mit den ihnen
nach dem Grundgesetz zustehenden Ausgestaltungsmöglichkeiten bei der Umsetzung des Vertrages im innerstaatlichen Recht selbstbewusster umgehen und ihre
Beteiligungsrechte aktiver und umfassender wahrnehmen. In dem 147 Seiten umfassenden Urteil erläutert das
Gericht auf den letzten Seiten sehr genau, welche Beteiligungsrechte des Bundestages und des Bundesrates
nicht in dem erforderlichen Umfang ausgestaltet worden
sind. Gemeint sind in dem Kontext nicht nur die vereinfachten Verfahren zur Änderung der EU-Verträge, die
nach der Auffassung des Verfassungsgerichts ein aktives
Handeln des Deutschen Bundestages erfordern und einer
ordentlichen Vertragsänderung im Wege eines Ratifikationsverfahrens gleichkommen müssen. Gemeint sind
auch diejenigen Politikbereiche, die sich in einem dynamischen europäischen Prozess weiterentwickeln, ohne
dass bereits heute ausreichend erkennbar wäre, in welche Richtung der Weg geht. Dies betrifft zum Beispiel
die Entwicklungsklauseln im europäischen Strafrecht.
Bei der Weiterentwicklung des EU-Primärrechts darf
es keine Lücken in der demokratischen Legitimation geben. Dies würde auch dem Prinzip der begrenzten
Einzelermächtigung zuwiderlaufen. Der Deutsche Bundestag muss also das Begleitgesetz zum Vertrag von Lissabon ändern, bevor die Ratifikationsurkunde in Rom
hinterlegt werden kann. Die Koalitionsfraktionen von
CDU/CSU und SPD haben hierfür bereits einen Fahrplan beschlossen, der sicherstellt, dass die erforderlichen
Änderungen nach der Maßgabe der Entscheidung des
Verfassungsgerichts noch vor der Bundestagswahl ins
Gesetz geschrieben werden. Wir drängen in dieser Frage
auf Eile, nicht nur deshalb, weil wir davon überzeugt
sind, dass der Vertrag von Lissabon für die weitere Gestaltung der Europäischen Union absolut notwendig ist.
Wir drängen auch auf Eile, weil wir eine europäische
Mitverantwortung für die rechtzeitige Inkraftsetzung des
Vertrages von Lissabon in der Europäischen Union tragen und vom Verhalten des Deutschen Bundestages und
des Bundesrates eine Signalwirkung für die noch ausstehenden Unterschriften unter das Ratifikationsgesetz in
Polen, Tschechien und Irland ausgeht. Wir werden diese
Verantwortung wahrnehmen, ohne dass wir dabei die
notwendige Sorgfalt außer Acht lassen.
Wer das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im
Ganzen liest, kommt zu dem Ergebnis, dass der Deutsche Bundestag als Gesetzgeber gestärkt aus dem Verfahren herausgekommen ist, nicht zuletzt deshalb, weil
das Bundesverfassungsgericht Nachbesserungen beim
Begleitgesetz verlangt hat, mit denen eine aktive Beteiligung des Bundestages in allen europapolitischen Fragen
verlangt wird, besonders aber bei jenen Fragen, bei denen der Integrationsweg nicht hinreichend bestimmt ist.
Es reicht nicht, wenn der Bundestag Vertragsänderungen
stillschweigend passieren lässt. Er ist durch das Grundgesetz zur aktiven Verantwortungswahrnehmung verpflichtet.
Das Bundesverfassungsgericht stärkt den Deutschen
Bundestag auch im Verhältnis zur Bundesregierung. Wir
haben uns in den vergangenen Jahren bei der Zusammenarbeit in EU-Angelegenheiten auf die Zusammenarbeitsvereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung stützen können und erst vor wenigen Wochen
einen Antrag dazu im Deutschen Bundestag verabschiedet, in dem Meinungsverschiedenheiten und Auslegungsdefizite ausgeräumt werden sollten. Das Bundesverfassungsgericht hat gestern klargestellt, dass dieser
Vertrag mit der Bundesregierung schon wegen seiner unklaren Rechtsnatur für die Ausgestaltung der Mitwirkungsrechte nach dem Grundgesetz nicht ausreicht. Wir
werden deshalb nicht umhinkommen, wesentliche Elemente aus der Vereinbarung in das Gesetz hineinzuschreiben, zum Beispiel die notwendige Herstellung des
Einvernehmens vor der Aufnahme neuer Mitglieder
bzw. dem Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen oder
vor der Aufnahme von Verhandlungen über Vertragsänderungen.
Im Duktus des Urteils sind dies wesentliche EU-Entscheidungen bzw. EU-Rechtsetzungsakte. Diese bedürfen eines Zustimmungsvorbehaltes durch den Deutschen
Bundestag und - soweit betroffen - auch vom Bundesrat. Wir werden uns sehr eng an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts halten.
Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung in eigener
Sache. Die Zusammenarbeitsvereinbarung besteht seit
über zwei Jahren. Wir haben gerade vor wenigen Wochen eine Debatte darüber geführt. Aber gerade das Verfahren zum zweiten Monitoring-Bericht dieser Vereinbarung und das Ergebnis zum Beispiel des Briefes der
beiden Parlamentarischen Staatssekretäre an den Ausschussvorsitzenden haben in mir schon damals die Überzeugung wachsen lassen, dass es grundsätzlich besser
wäre - wie es das Bundesverfassungsgericht jetzt entschieden hat -, die grundlegenden Normen der Zusammenarbeitsvereinbarung in einem Gesetz zu regeln. Diesen Auftrag haben wir jetzt.
({1})
Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch auch darauf
hingewiesen, dass ungeachtet der Stärkung der nationalen Parlamente im Vertrag von Lissabon die Europäische
Union zu ihrer Legitimation weiterhin auf die Rückkopplung mit den nationalen Parlamenten angewiesen
ist. Der supranationale Charakter der Europäischen
Union hat nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts keine staatliche Identität. Er wird sie auch in
Zukunft nicht bekommen, es sei denn - das ergibt sich
aus dem Urteil -, dass unsere Nachfolger im Sinne des
Art. 146 des Grundgesetzes einen echten europäischen
Bundesstaat gründen wollen, und zwar mit einem Referendum über eine echte europäische Verfassung. Ich
denke aber, diese Fragen können wir getrost unseren
nachfolgenden Generationen überlassen.
Die gestrige Entscheidung definiert eine Grenze der
europäischen Integration nach dem jetzigen Staatenbundmodell, die gerade von uns als Bundestag bei der
weiteren Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union beachtet werden muss.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch einmal darauf hinweisen, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Vertrag von Lissabon nachhaltig unterstützt
und alles daransetzen wird, dass er so früh wie möglich
in Kraft gesetzt werden kann. Der Vertrag von Lissabon
erweitert die Zuständigkeiten der Europäischen Union;
er macht die Europäische Union jedoch zugleich demokratischer, indem er die Mitentscheidung des Europäischen Parlamentes und der nationalen Parlamente verbessert und diesen zum Beispiel ein Klagerecht
gegenüber dem Europäischen Gerichtshof gegen GesetzMichael Stübgen
gebungsakte einräumt, die nach ihrer Auffassung gegen
das Subsidiaritätsprinzip verstoßen.
Auch andere institutionelle Neuerungen - zum Beispiel die Abschaffung der Rotation bei der EU-Ratspräsidentschaft und die Zusammenführung des Amtes des
Hohen Beauftragten mit dem des EU-Außenkommissars sind aus unserer Sicht notwendig und stärken die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union in ihren auswärtigen Beziehungen. Europa soll künftig seine Interessen
noch wirkungsvoller vertreten können. Dass dies notwendig ist, zeigt sich beispielhaft an den Themen weltweiter Klimaschutz und Bewältigung der globalen Finanzkrise.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner Entscheidung kein Urteil gegen die europäische Integration
gefällt. Ganz im Gegenteil: Es hat auf die Europafreundlichkeit des Grundgesetzes hingewiesen und die Notwendigkeit unterstrichen, dass die Legimitation europäischen Handelns vor allem von den Nationalstaaten
ausgehen muss. Sie bleiben die Herren der europäischen
Verträge. Die Europäische Union hat eben keine Kompetenzkompetenz. Diese darf ihr nach dem Grundgesetz
auch nicht übertragen werden. Natürlich ist die Europäische Union eine Rechtsgemeinschaft. Aber sie kann vollen demokratischen Standards nur zusammen mit dem
Grundgesetz genügen.
Wir haben in den nächsten Wochen eine ganze Menge
zu tun. Wir alle wissen, was wir wollen und was möglich
ist; denn wir alle haben darüber in den letzten Jahren diskutiert. Deswegen habe ich die große Hoffnung, dass wir
es schaffen, mit großer Mehrheit das Begleitgesetz demokratischer zu machen - wie es das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat - und es noch im September abzuschließen. Ich hoffe, dass der Bundesrat - die
Zusammenarbeit mit ihm wird von besonderer Bedeutung sein - diesen Weg mitgeht und wir noch vor dem
Referendum in Irland am 4. Oktober unsere Urkunde in
Rom zur Ratifikation des Lissabon-Vertrages hinterlegen
werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, die wenigsten haben über Nacht die
147 Seiten des Urteils gelesen. Wer nicht dabei war und
nicht zugehört hat und trotzdem so redet, als ob er es
wirklich gelesen hätte, sagt deshalb falsche Sätze, zum
Beispiel den Satz, es sei wunderbar, dass das Bundesverfassungsgericht den Vertrag von Lissabon als grundgesetzgemäß angesehen habe. Dazu muss man zwei Dinge
sagen: Erstens. Noch nie hat das Bundesverfassungsgericht einen internationalen Vertrag für grundgesetzwidrig
erklärt.
({0})
- Herr Trittin, warten Sie! Zu Ihnen komme ich noch.
Sie haben schon während der Verkündung alles besser
gewusst. Die Richter hatten es noch nicht vorgelesen, da
waren Sie schon wieder oberschlau, lieber Herr Trittin.
Das habe ich mitbekommen.
({1})
Zweitens. Entscheidend ist, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichts den Lissabon-Vertrag völlig neu
interpretiert haben
({2})
und mit ihrer Interpretation Bundestag, Bundesrat und
Bundesregierung gebunden haben. Dadurch hat der Vertrag zum Teil einen neuen Inhalt. Lassen Sie mich zwei
Sachen herausgreifen. Zum Beispiel bleibt die Bundeswehr eine Parlamentsarmee.
({3})
- Entschuldigung, im Vertrag ist es anders geregelt.
({4})
- Das kann ich Ihnen sagen: im Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Aber das haben Sie nicht gelesen. Dort
steht, dass man die Bestimmung auch so verstehen
könne, dass man das aber für Deutschland anders interpretiere; das gehe nur, wenn der Bundestag zuvor zugestimmt habe.
({5})
Dort steht ebenfalls, dass man die Bestimmung zur
Sozialstaatlichkeit zwar auch so verstehen könne, dass
es aber für die Bundesrepublik Deutschland nur eine Interpretation gebe; sie müsse in der Zuständigkeit dieses
Parlaments bleiben. Das alles wollen Sie nicht zur
Kenntnis nehmen. Der Lissabon-Vertrag ist durch Interpretation des Bundesverfassungsgerichts deutlich verändert. Das ist Tatsache.
({6})
- Das finden Sie wohl amüsant. Aber das ist gar nicht
amüsant. Das hat das Bundesverfassungsgericht übrigens schon oft gemacht, Herr Trittin. Zum Beispiel
wurde die Organklage im Zusammenhang mit dem
Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR abgewiesen. Aber Bayern hat das als Erfolg gefeiert, weil
die Interpretation des Vertrages völlig anders war als zuvor. Auch das haben Sie nicht mitbekommen.
({7})
Nun gebe ich Ihnen einen Beweis. Wissen Sie, wie
der vorletzte Satz des Urteils lautet? Dort steht: Mit
Rücksicht darauf, dass das Zustimmungsgesetz zum Ver25578
trag von Lissabon - Sie sind stolz darauf, dass die Beschwerde dagegen abgewiesen wurde - nur nach Maßgabe der Gründe dieser Entscheidung mit dem
Grundgesetz vereinbar und die Begleitgesetzgebung teilweise verfassungswidrig ist, wurden Bundestag und
Bundesregierung verpflichtet, uns ein Drittel der Kosten
zu erstatten; das haben Sie völlig übersehen. Ich finde
das völlig richtig.
({8})
Ein weiterer Hinweis: Das 147 Seiten umfassende Urteil ist von grundlegender Bedeutung; denn die Richter
des Bundesverfassungsgerichts haben Stellung zur Europäischen Union, zum europäischen Recht, zum Europäischen Gerichtshof, zu Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung sowie übrigens auch zu den Kompetenzen
des Bundesverfassungsgerichts genommen. Selten ist in
einem Urteil so häufig zu diesen Kompetenzen Stellung
genommen worden wie in diesem. Ich glaube, dass wir
alle das Urteil noch sehr gründlich studieren und auswerten müssen, weil es von großer Relevanz für unsere
künftige Politik ist. Es hat eine Sache festgestellt, die Sie
auch nicht gesagt haben, nämlich dass die 27 souveränen
Staaten Verträge schließen dürfen, die aber nicht so verwirklicht werden dürfen, „dass in den Mitgliedstaaten
kein ausreichender Raum“ - alles wörtlich - „zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und
sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt“. Das ist ein
ganz wichtiger Grundsatz, der hier aufgestellt wird.
Ich komme zu einer weiteren Sache, nämlich dass das
Begleitgesetz für grundgesetzwidrig erklärt worden ist.
({9})
Was mich schon erstaunt - auch bei Ihnen, Herr Trittin,
bei Ihnen allen -, ist, dass keiner von Ihren Fraktionen
auch nur einen selbstkritischen Satz sagt, zum Beispiel:
Ja, wir haben etwas Grundgesetzwidriges beschlossen. ({10})
Das hat keiner von Ihnen gesagt. Das ist das Mindeste,
was ich hier erwartet hätte.
({11})
- Ich wusste, dass Sie sich gleich aufregen, aber wahr ist
es trotzdem. Das hat nun einmal das Bundesverfassungsgericht festgestellt. ({12})
Das Nächste ist: Was hat das Bundesverfassungsgericht
entschieden? Es hat erstens Europa in den Bundestag geholt. Das ist wichtig. Es stimmt, was gesagt wurde: Wir
müssen über neue Bedingungen nachdenken. Das ist
wahr. Es wird übrigens auch höchste Zeit, wenn wir die
Akzeptanz der Europäischen Union in der Bevölkerung
erhöhen wollen.
({13})
Zweitens hat es das Verhältnis von Legislative und Exekutive geklärt. Jetzt sage ich es Ihnen einmal ganz deutlich: Es wird keine Änderung des Vertrages, wie Sie es
wollten - alle vier Fraktionen wollten das -, ohne Zustimmung des Bundestages geben. Das hat das Bundesverfassungsgericht festgelegt. Sie wollten, dass Brüssel
ohne Zustimmung des Bundestages Strafrechtsnormen
beschließen kann. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, dass genau das nicht gehen wird.
({14})
Sie haben keine Rechte des Bundestages und keine
Rechte des Bundesrates im Begleitgesetz festgelegt. Genau deshalb ist es für grundgesetzwidrig erklärt worden.
Das ginge doch auch nicht. Es geht doch nicht, dass sich
Brüssel überlegt, was hier eine Straftat sein könnte, und
der Bundestag noch nicht einmal darüber mitentscheidet.
Sie können doch einmal selbstkritisch sagen, dass Sie
die Rechte des Bundestags in dieser Hinsicht verletzt haben.
({15})
Es wird auch keine wichtigen zivil- und familienrechtlichen Vorschriften aus Brüssel ohne vorhergehende Zustimmung des Parlaments geben.
Nun müssen wir also ein neues Begleitgesetz schaffen. Wir werden dabei zusammenarbeiten. Ich stimme
dem Vertreter der FDP zu: Auch mit uns wird es kein
Gesetz geben, das versucht, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu umgehen. Aber das ist nicht das
Einzige. Das Bundesverfassungsgericht hat noch etwas
anderes vorgeschlagen, und ich bitte Sie, das gründlich
zu lesen. Es gibt Fälle, in denen die Europäische Union
kompetenzüberschreitend oder identitätsverletzend wirkt.
Es wurde vorgeschlagen, über ein neues Verfahren nachzudenken, wie man diesbezüglich eine Feststellung des
Bundesverfassungsgerichts einholen kann. Das verlangt
eine Änderung des Grundgesetzes. Ich bitte Sie, diese
Stelle genau zu lesen und uns dann in dem Gremium
gleichzeitig beraten zu lassen, ob wir dieses Gesetz nicht
einbringen, das Grundgesetz ändern und die Möglichkeiten des Weges zum Bundesverfassungsgericht erweitern.
Letztlich kommen Sie um eines nicht herum - Sie
können hier alle reden, was Sie wollen -:
({16})
Durch Gauweiler, durch Graf Stauffenberg und durch die
Fraktion Die Linke sind die Rechte des Bundestages und
des Bundesrates gestärkt worden.
({17})
Sie hätten sie geschwächt. Ein Satz von Ihnen hätte fallen müssen: Danke, Graf Stauffenberg, danke, Herr
Gauweiler, danke, Fraktion Die Linke. Danke.
({18})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Rainder Steenblock das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern war ein wichtiger, ein großer Tag für die Demokratie, für die Demokratie in Deutschland und für die
Demokratie in Europa. Dieses Ereignis wird uns - da haben alle recht - noch sehr lange beschäftigen: die Menschen, die ihre Hoffnungen auf Europa setzen, und uns,
die wir das vermitteln müssen und die in den Kontakt
mit den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes treten
müssen, um Europa dichter an die Menschen zu bringen.
Lieber Kollege Gysi, die Menschen in diesem Lande
ärgert immer besonders, dass sich nach Wahlen alle zum
Sieger erklären, selbst die Verlierer; auch ich finde das
äußerst ärgerlich, selbst wenn es Vertreter meiner Partei
machen. Ich meine, es ist für die politische Kultur ausgesprochen wichtig, dass diejenigen, die aus einem Entscheidungsprozess als Verlierer hervorgegangen sind,
ihre Niederlage akzeptieren.
({0})
In den letzten Monaten hat mich wirklich begeistert,
wie die politische Figur John McCain seine Niederlage
gegen Barack Obama akzeptiert hat; wie er darauf reagiert hat, war für mich vorbildlich. Die Größe von Politikern und Parteien zeigt sich nicht beim Feiern von Erfolgen, sondern insbesondere in der Niederlage. Was Sie
allerdings an den Tag legen, das ist bitter.
Herr Gysi, Sie haben recht - ich bin an dieser Stelle
völlig bei Ihnen -: Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist für die Demokratie in Deutschland ein großer
Erfolg. Das, was Sie mit dieser Klage erreichen wollten,
ist aber etwas völlig anderes als das, was das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat.
({1})
Sie sind jahrelang durch dieses Land gezogen und haben
den Vertrag von Lissabon schlechtgeredet.
({2})
Das war sozusagen der Kernpunkt Ihrer Klage, also das,
worauf Sie hingesteuert haben. Sie sind grandios gescheitert!
({3})
All Ihre Kritik am Vertrag ist vom Verfassungsgericht
zurückgewiesen worden.
Lieber Kollege Gysi, lassen Sie uns das, was Sie verbockt haben, nicht schönreden.
({4})
Zusammen mit dem Kollegen Gauweiler haben Sie uns
die Chance gegeben, die Demokratie in Deutschland
weiterzuentwickeln. Das ist gut so, und das unterstützen
wir. Ihr Tun sollte sich nicht darin erschöpfen, hier den
Vertrag von Lissabon zu kritisieren. Wir, der Deutsche
Bundestag und damit die Volksvertretung, also die Vertretung der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, sind
diejenigen, die durch dieses Urteil neue Kraft bekommen haben. Wir haben neue Kompetenzen bekommen,
und - Markus Löning hat darauf hingewiesen - diese
Kompetenzen müssen wir auch nutzen. Das ist unsere
große Chance.
Daraus ergibt sich eine Reihe von zusätzlichen Fragen, die wir klären müssen. Eine zentrale Frage ist, wie
die Verfassungsorgane in dieser Republik zueinander
stehen. Eine Antwort, die wir bekommen haben, betrifft
das Verhältnis von Bundesregierung und Parlament. Dieses Verhältnis wird sich ändern, und das wird erhebliche
Konsequenzen haben.
Ich finde, der Bundesinnenminister hat heute eine
schlechte Erklärung abgegeben, als er gesagt hat: Eigentlich wird sich gar nichts ändern; es müssen lediglich
einige Änderungen an den Gesetzesformulierungen vorgenommen werden. Das ist falsch: Wenn wir dieses Urteil ernst nehmen, wird sich in diesem Hause viel ändern.
Wir alle, die Parlamentarier, werden mehr Verantwortung bekommen. Diese Verantwortung müssen wir annehmen.
({5})
Das ist wichtig.
Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen.
Wenn wir in Zukunft das Verhältnis der Verfassungsorgane untereinander neu gestalten, geht es auch darum,
die Rolle des Verfassungsgerichtes neu zu gestalten. Das
Urteil des Verfassungsgerichtes enthält auch darauf Hinweise; ich verweise auf bestimmte Fragestellungen bezüglich des Verhältnisses zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH. Dieses Thema wird Sie in der
nächsten Legislaturperiode beschäftigen müssen; ich
werde dem Parlament leider nicht mehr angehören.
({6})
- Das ist kein Grund zum Klatschen.
({7})
Ich selber habe mich dazu entschieden; das ist auch gut
so.
Gerade was die europapolitischen Fragen angeht,
wird es nicht nur eine Herausforderung sein, den Prozess
europäischer Gesetzgebung zu begleiten, sondern auch,
im Parlament selber entsprechende Arbeitsstrukturen zu
entwickeln; das ist nicht einfach. Darüber hinaus wird es
Arbeitsstrukturen auf europäischer Ebene - Stichwort
„Zusammenarbeit zwischen den nationalen Parlamenten“ - geben müssen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts besagt sehr deutlich, dass die nationalen Staaten
den Staatenverbund Europa gestalten. Das ist eine integrationsfreundliche Gestaltung. Das Verfassungsgericht
hat noch einmal sehr klar gesagt: Dieses Grundgesetz
will - erlaubt also nicht nur - die europäische Integration
im Staatenverbund.
({8})
Das ist wichtig. Das ist eine ganz deutliche Ansage in
Richtung der Nationalisten, von welcher Seite auch immer sie kommen.
Wir wollen als deutsche Bundesrepublik mit dem
Grundgesetz die europäische Integration. - Das ist ein
sehr wichtiger Satz in dem Urteil.
Deshalb müssen wir die Nationalstaaten in die Lage
versetzen, zu kooperieren. Ich will jetzt gar nicht die Debatte um die zweite Kammer noch einmal aufmachen,
aber: Wir müssen als Parlamentarier solche Strukturen
schaffen, dass wir nicht nur unsere Regierungen kontrollieren, sondern auch diesen europäischen Prozess auf der
Ebene der europäischen Parlamente miteinander besser
diskutieren können - die COSAC ist dazu nach meiner
Kenntnis nicht in der Lage -; das steht an.
({9})
Natürlich müssen wir auch mit den Parlamentariern
aus dem Europäischen Parlament - Axel Schäfer hat darauf hingewiesen - anders und besser zusammenarbeiten.
Ich interpretiere das Urteil nicht als Schwächung der
europäischen Parlamentarier, sondern als Stärkung der
nationalen Parlamentarier. Auch die europäischen Parlamentarier sind gut beraten, glaube ich, von ihrer Seite
aus aktives Engagement in diese Kooperation mit den
nationalen Parlamenten zu investieren.
In fast allen europäischen Ländern gibt es zum Teil
Unverständnis, Misstrauen in europäische Entscheidungsstrukturen. Als Parlamentarier, als diejenigen, die
auf nationaler Ebene vom Volk oder auf europäischer
Ebene gewählt worden sind, müssen wir die Verantwortung annehmen, das heißt kooperieren. Es geht nicht an,
dass jeder in seinem eigenen Pott oder in seiner eigenen
Partei rührt; wir müssen zusammenarbeiten.
Zum Schluss möchte ich gern noch Folgendes ansprechen: Wir werden diesen Prozess nur dann hinbekommen, wenn wir unsere Rolle als Parlamentarier tatsächlich mit mehr Rückgrat spielen, als wir das bisher
gemacht haben; das meine ich jetzt nicht als individuellen, persönlichen Vorwurf.
({10})
Wir haben in diesem Land eine politische Kultur, die
eher auf Parlamentarier-Bashing ausgerichtet ist. Wir arbeiten für das Volk, weil wir vom Volk gewählt sind und
die Verantwortung annehmen. Natürlich sind auch wir
mit Fehlern behaftet, wie alle. Aber wenn ich an all die
Debatten denke, in denen es um die Bezahlung der Politiker, um die Ausstattung der Politiker, um die Reisen
der Politiker geht, komme ich zu dem Schluss: Wir müssen sehr selbstbewusst sagen: Wir arbeiten. Wir können
die Regierung kontrollieren. Wir können die Entscheidung auf europäischer Ebene mitgestalten; das kommt
jetzt dazu. Dahinter stehen muss das Selbstbewusstsein,
zu sagen: Wir stehen hier als diejenigen, die gewählt
worden sind - mit Rechten und Pflichten. Wenn das in
populistischer Manier kleingeredet wird, sollten wir das
parteiübergreifend bekämpfen; denn wir sind diejenigen,
die das Mandat haben, über dieses Land zu entscheiden.
Vielen Dank.
({11})
Kollege Steenblock, die Wünsche des gesamten Hauses, denke ich, begleiten Sie in Ihren neuen Lebensabschnitt.
({0})
Das Wort hat der Kollege Michael Roth für die SPDFraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was ist dem Vertrag von Lissabon in den vergangenen
Monaten und Jahren nicht alles entgegengeschleudert
worden? Hydra! Camouflage! Marktradikales Monster!
- Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts besagt eindeutig: Er ist weder ein asoziales Subjekt noch ein militaristischer Moloch.
({0})
Ich erlaube mir, aus dem Urteil zu zitieren:
Der konstitutive Parlamentsvorbehalt für den Auslandseinsatz der Streitkräfte besteht auch nach einem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon fort.
Der Vertrag von Lissabon überträgt der Europäischen Union keine Zuständigkeit, auf die Streitkräfte der Mitgliedstaaten ohne Zustimmung des jeweils betroffenen Mitgliedstaates oder seines
Parlaments zurückzugreifen.
Außerdem heißt es darin:
Der Vertrag von Lissabon beschränkt die sozialpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten des Deutschen
Bundestages nicht in einem solchen Umfang, dass
das Sozialstaatsprinzip ... in verfassungsrechtlich
bedenklicher Weise beeinträchtigt und insoweit
Michael Roth ({1})
notwendige demokratische Entscheidungsspielräume unzulässig vermindert wären.
Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist dieses
Urteil eine Ermutigung für alle Europapolitikerinnen
und Europapolitiker in den Fraktionen, die sich tagtäglich darum bemühen, dieses europäische Einigungswerk
demokratischer, transparenter und handlungsfähiger zu
gestalten.
({2})
Es ist aber auch ein Weckruf für alle anderen Abgeordneten, auch hier in diesem Hause, die sich mitunter etwas arrogant oder desinteressiert über diejenigen äußern,
die im Europaausschuss sitzen und tagtäglich versuchen,
ihre Arbeit zu leisten - nicht um ihrer selbst willen, sondern damit dieses Integrationsprojekt auch weiterhin in
eine gute Zukunft geführt werden kann. Es ist, liebe Mitglieder der Bundesregierung, natürlich auch ein Stoppsignal für alle Exekutiven, sei es in Brüssel, sei es in
Berlin, die der Auffassung sind, dass der Parlamentarismus bzw. seine Stärkung Sand im Getriebe des europäischen Räderwerks sind. Auch das muss man so klar und
deutlich benennen.
({3})
Dennoch hat mich das Urteil - das sage ich unumwunden - enttäuscht. Ich frage mich, ob der Deutsche
Bundestag die Rolle eines Europaparlamentes zu übernehmen in der Lage ist, wie wir es heute in der Überschrift einer respektablen Zeitung haben lesen dürfen.
Wir alle wissen - das ist jetzt auch schon mehrfach gesagt worden -: Allein die Änderung des Begleitgesetzes,
auch wenn alle Fraktionen daran mitwirken sollen, müssen und dürfen, reicht nicht aus.
Ich befürchte auch, dass wir bis zum Ende dieser Legislaturperiode nicht alle Fragen, deren Beantwortung
uns das Verfassungsgericht aufgetragen hat, klären können. Deswegen erwarte ich von uns allen, ob wir diesem
Parlament dann noch angehören oder nicht, dass wir die
Inhalte dieses Urteils auch als Arbeitsauftrag für die
nächste Legislaturperiode verstehen und dann grundsätzlicher, in aller Ruhe und Sorgfalt noch einmal darüber
nachdenken, was das für den Europaausschuss heißt,
was das für die Zusammenarbeit der Fachausschüsse
heißt, was das im Einzelnen für die Fraktionen heißt und
was das für die Zusammenarbeit zwischen den Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament und den
Abgeordneten des Deutschen Bundestages heißt. Ich
meine, hier sind keine Schnellschüsse gefragt.
Wir müssen aber anerkennen - das hat uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben -: Europa ist Innenpolitik. Heribert Prantl hat heute so schön geschrieben wir haben uns hier im Plenum und im Ausschuss so oft
darüber beklagt, dass dies nicht geschieht -:
Europa muss... ins Deutsche übersetzt werden.
Ich meine, das gilt auch im übertragenen Sinne. Wir
müssen es den Bürgerinnen und Bürgern erklären. Wir
müssen auf die Defizite, aber gleichzeitig auch auf die
Chancen hinweisen. Hier setzt meine Kritik am Urteil
des Bundesverfassungsgerichtes an.
Es ist selbstverständlich, dass für das Bundesverfassungsgericht das Konzept der nationalen Souveränität
verpflichtend ist. Ich frage mich aber, ob sich so im
21. Jahrhundert die Globalisierung politisch gestalten
lässt. Wir reden tagtäglich über den Klimaschutz. Wir reden darüber, dass die Welt friedlicher werden soll. Können wir das wirklich allein nationalstaatlich regeln? Die
überwiegende Mehrheit von uns wollte die Möglichkeiten zu Mehrheitsentscheidungen auf europäischer Ebene
ausweiten, weil wir uns ein handlungsfähiges Europa gewünscht haben, das sich nicht klein macht, sondern sich
seiner internationalen Verantwortung bewusst ist und
auch diese Verantwortung übernehmen kann. Dafür
braucht es aber auch eine entsprechende Entscheidungsfähigkeit, die ich derzeit noch nicht zu sehen vermag.
Für mich galt immer ein Satz: Die Europäische Union
ist selbstverständlich eine Union von Staaten, sie ist aber
auch eine Union der Bürgerinnen und Bürger. Dies hat
sich ja bei den Direktwahlen zum Europäischen Parlament immer wieder manifestiert.
Das Bundesverfassungsgericht bemisst die Frage, wie
die Zukunft Europas gestaltet werden soll, allein am
Maßstab des Grundgesetzes. Dazu ist es verpflichtet.
Wir alle wissen aber auch, dass jeder Vertrag von den
27 nationalen Kulturen und Traditionen jedes Mitgliedstaates geprägt ist und in einem überwölbenden Kompromiss zustande gebracht werden muss. Deswegen
weiß natürlich jeder Europapolitiker zuallererst und zuvörderst: Es ist immer ein wenig Demut, Toleranz und
Respekt gegenüber den 26 anderen Partnern - möglicherweise werden es, wie einige hoffen, noch mehr - in
der Europäischen Union nötig.
Ich frage mich: Wie kann man das alles unter einen
Hut bringen? Das Bundesverfassungsgericht bleibt ein
wichtiger Akteur. Aber es kann uns nicht alles im Kleinen vorgeben. Vielmehr müssen wir als Parlament diese
Aufgaben selbstbewusst wahrnehmen und dürfen uns
dabei nicht alles vorschreiben lassen.
({4})
Ja, das ist eine Stärkung der Demokratie auf nationaler Ebene. Ich finde es schade, dass Rainder Steenblock,
der sich diesbezüglich immer durch Kompetenz und Engagement ausgezeichnet hat, im nächsten Bundestag
nicht mehr dabei sein wird. Kolleginnen und Kollegen
wie ihn brauchen wir in den nächsten Legislaturperioden
noch viel mehr, als es in den vergangenen Jahren der Fall
war. Es ist schade, dass Kolleginnen und Kollegen, die
sich der europäischen Idee verpflichtet fühlen, in der
nächsten Legislaturperiode nicht mehr dabei sein werden.
Dazu, wie wir die Demokratiedefizite auf der EUEbene beheben können, sagt das Bundesverfassungsgericht nichts. Ich habe meine Zweifel, ob die Frage allein
damit beantwortet ist, dass wir das Europäische Parlament schlechter reden, als es aus meiner ganz persönlichen Sicht realiter ist.
({5})
Michael Roth ({6})
Bei allem Respekt sind weder Herr Gauweiler noch
die Fraktion Die Linke die Helden des gestrigen Tages.
Die Helden sind für mich die Europapolitikerinnen und
Europapolitiker des Alltags, die sich tagtäglich darum
bemühen, europapolitischen Themen Aufmerksamkeit
zu verschaffen, die der Regierung Beine machen, die
sich selbstbewusst in das komplizierte und komplexe europäische Räderwerk einbringen und damit die demokratische Legitimation des europäischen Gesetzgebungsprozesses stärken. Ich wünsche mir viel mehr solcher
Kolleginnen und Kollegen im nächsten Deutschen Bundestag. Dann könnte manches gelingen, was uns das
Bundesverfassungsgericht bislang noch nicht zutraut.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Gauweiler aus der
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Steenblock hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass die heutige Debatte an einen Wahlabend erinnert, an dem es lauter Sieger gibt. Nachdem
das Bundesverfassungsgericht gestern entschieden hat,
dass der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung
mir nicht 30 Prozent, sondern 50 Prozent meiner Kosten
erstatten müssen, fühle ich mich zur Hälfte als Sieger.
Die andere Hälfte als Verlierer nehme ich gerne in Kauf,
weil es sich um ein sehr gutes Urteil handelt, das da erstritten worden ist.
Ich möchte Ihnen zunächst ein paar Punkte zu dem
Vorwurf vortragen, dass das Europaparlament schlechtgeredet worden ist. Das ist nicht der Fall. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zum Europaparlament
überhaupt nicht politisch geäußert. Es hat rechtlich festgestellt, dass das Europaparlament nicht gleichheitsgerecht gewählt ist.
({0})
Es hat weiter erklärt, dass es deshalb nicht geeignet
ist, politische Leitentscheidungen zu treffen, die in einer
Demokratie repräsentativ und zurechenbar sein müssen.
Das Bundesverfassungsgericht hat damit gleichzeitig
Ihre Kompetenzen gestärkt, meine Damen und Herren.
Das sollte einen Bundestagsabgeordneten ermuntern,
statt ihm Anlass zur Kritik zu geben.
({1})
Ich möchte Ihnen sieben Punkte darstellen, die mir im
Hinblick auf das Urteil wesentlich erscheinen. Erstens.
Das Bundesverfassungsgericht stellt ausdrücklich klar,
dass das Prinzip der souveränen Staatlichkeit eine
Schranke der Integrationsermächtigung ist.
({2})
Die Bundesregierung und der Bundestag haben dies
in ihren Schriftsätzen ausdrücklich bestritten. Insofern
führt das Bundesverfassungsgerichtsurteil zu einer Klärung dieser verfassungsrechtlichen Streitfrage.
Zweitens. Einer der wesentlichen Streitpunkte war die
Frage - das wissen Sie, Herr Schäfer -, ob es richtig ist,
dass im vereinfachten Vertragsänderungsverfahren bei
Anwendung der sogenannten Brückenklauseln eine Vielzahl von Bestimmungen der EU-Verträge ohne Befassung des Bundestages und der anderen nationalen Parlamente geändert werden kann. Das ist von anderer Seite
als „Selbstkastrierung des Parlaments“ bezeichnet worden. Diese Selbstkastrierung des Parlaments ist durch
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts verhindert
worden, weil das von diesem Hause mit riesiger Mehrheit beschlossene Begleitgesetz in wesentlichen Punkten
geändert und unter vielen Aspekten ergänzt werden
muss, um den Anforderungen des Grundgesetzes bei der
Anwendung des Vertrags Geltung zu verschaffen.
Der dritte Punkt. Die Flexibilitätsklausel des Art. 352
AEUV - auch das war ein Einwand der Kritiker - birgt
die Gefahr in sich, dass die EU die Kompetenzkompetenz für die Gesetzgebungszuständigkeit und damit letzten Endes faktisch die Souveränität von unserem eigenen
Souverän an sich zieht. Das Bundesverfassungsgericht
hat ausdrücklich bestätigt, dass diese Bedenken zu Recht
bestehen. Es ist mir völlig unbegreiflich, wie Sie darüber
hinwegreden können.
({3})
Es verlangt deshalb, dass die Inanspruchnahme dieser
Klausel - und zwar entgegen den Regelungen des Vertrags, nach denen die Zustimmung der nationalen Parlamente nicht nötig ist - in Deutschland der Ratifikation
durch Bundestag und Bundesrat bedarf. Das ist ein gewaltiger Sieg. Damit ist das, was Sie hier beschlossen
haben, ins Gegenteil verkehrt worden.
({4})
Viertens. Das Bundesverfassungsgericht hat - das
stimmt; da haben Sie recht - zwar das Zustimmungsgesetz
zum Vertrag von Lissabon als verfassungsmäßig angesehen, allerdings ausdrücklich - darauf haben Sie schon
hingewiesen - nur nach Maßgabe der vom Gericht formulierten Entscheidungsgründe. Das Gericht hat an vielen Stellen zu jedem Vertragspassus - das zieht sich
durch das ganze Urteil - einschränkende Interpretationen vorgenommen und Auslegungsmöglichkeiten, die
der Wortlaut des Vertrags zulässt und die mit dem
Grundgesetz unvereinbar wären, ausgeschlossen.
({5})
Es hat fünf besondere Gebiete genannt, in denen die Zuständigkeit - schütteln Sie nicht den Kopf, sondern lesen
Sie das Urteil - unter keinen Umständen, höchstens in
einem sehr eng begrenzten Bereich, weitergegeben werden darf. Es hat insbesondere das Strafrecht, das staatliDr. Peter Gauweiler
che Gewaltmonopol, die Staatsausgaben und die Prinzipien des Sozialstaates genannt. Es ist gut für den
Deutschen Bundestag, dass das - erstmals - in dieser
Klarheit festgestellt werden konnte.
Fünftens. Das Bundesverfassungsgericht hat betont,
dass - das war uns besonders wichtig - das Prinzip der
begrenzten Einzelermächtigung nach wie vor zentral für
den Staatenverbund ist. Nur weil dieses Prinzip nach wie
vor gilt, ist der Vertrag überhaupt mit dem Grundgesetz
- mehrfach heißt es: „noch“ - vereinbar.
({6})
Das Bundesverfassungsgericht hat auch darauf hingewiesen, dass die Fülle von Einzelermächtigungen, die es
nach dem Vertrag von Lissabon geben wird, die Gefahr
in sich birgt, dass hier eine flächendeckende Kompetenz
geschaffen wird. Dem hat das Bundesverfassungsgericht
jetzt erstmalig in dieser Form einen Riegel vorgeschoben.
({7})
Es verteidigt nämlich gegen eine mögliche Auslegung
des Vertrags seine Kompetenz, ultra vires gehenden, also
die Grenzen der Ermächtigung überschreitenden, EURechtsakten in Deutschland die Gefolgschaft zu verweigern.
({8})
Den Vorrang des EU-Rechts und die Zuständigkeit
des Bundesverfassungsgerichts durch einen völkerrechtlichen Vorbehalt abzusichern, wird die Aufgabe der
nächsten Wochen und Monate sein. Ich bitte die Bundesregierung herzlich, uns allen hier Klarheit zu verschaffen.
({9})
- Die Bundesregierung kann das durch einen entsprechenden Vorbehalt, der erklärt werden muss, absichern.
Das sollten Sie eigentlich wissen. Das steht am Anfang
der Debatte.
Sechstens - ich komme gleich zum Schluss, Frau Präsidentin - hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt, dass die demokratische Legitimation der
EU-Organe unzulänglich ist und demokratischen Anforderungen nicht genügt.
({10})
Deswegen ist immer von „noch verfassungsgemäß“ die
Rede.
Siebtens und letztens. Das Urteil macht bedeutende
Vorgaben für die weitere Entwicklung der europäischen
Integration. Das gilt insbesondere für die Notwendigkeit
einer verfassungsgebenden Volksabstimmung.
Herr Kollege Steenblock, Sie haben in Ihrer Abschiedsrede die Befugnisse und das Recht des Parlaments
betont. Ich danke Ihnen. Aber dieses Urteil bedeutet für
dieses und das nächste Parlament einen Kompetenzschub. Es dient uns nicht zum Ruhme, dass es dazu eines
Urteils des Bundesverfassungsgerichts bedurfte.
({11})
Ich möchte Ihnen herzlich mit auf den Weg geben, auch
als Staatsbürger, der Sie ja sind: Ein Parlament, das seine
Kompetenzen aufgibt, gibt sich selber auf. Dies zu verhindern, sind wir da.
({12})
Das Wort hat der Kollege Dr. Diether Dehm für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Meine Damen und Herren! Ich kann es Ihnen nicht ersparen: Die Medien vom heutigen Tage wie Süddeutsche
Zeitung, Handelsblatt und Welt sind eine einzige Ohrfeige für die Bundesregierung und für die Mehrheit des
Bundestages. Ich zitiere aus der FAZ von heute:
Ein deutlicheres Attest ihrer Selbstentmündigung
hätten die Parlamentarier kaum ausgestellt bekommen können.
Vom gespielten Jubel der Regierung ist die Rede. Sie
hätte einen starken Stier kaufen wollen und von Karlsruhe eine kleine Kuh geliefert bekommen; jetzt jubiliere
sie: Immerhin ein Rindvieh.
Hätte die Koalition die Rechte des Bundestages nicht
abgewertet, Karlsruhe hätte die Rechte nicht aufwerten
müssen. Das ist doch die Wahrheit.
({0})
Sie beschließen ein grundgesetzwidriges Gesetz, werden
ertappt und ernennen sich zum Sieger.
Die Medien haben naturgemäß versucht, den Erfolg
der Linken so klein wie möglich zu halten.
({1})
Hinter den Medien stehen ja meist CDU/CSU, FDP und
ein paar Finanzhaie. Aber immerhin hat Herr Professor
Mayer, der Prozessbevollmächtigte der Gegenseite und
damit unser Gegner, heute Morgen im Ausschuss gesagt,
künftige Oppositionsfraktionen müssten der Linken
dankbar sein; denn unsere Klage habe die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag gestärkt, was gänzlich
neu sei. Lieber Rainder, sollen wir uns jetzt darüber ärgern oder sollen wir uns darüber freuen, dass der gegne25584
rische Prozessbevollmächtigte uns gesagt hat, durch uns
seien die Minderheitenrechte gestärkt worden?
({2})
Aufrüstung und Kriege ums Öl wurden zwar gestern
nicht gestoppt, aber der widerwärtige Versuch - so steht
es im Lissabon-Vertrag -, über den Einsatz der Bundeswehr in Brüssel zu entscheiden statt allein im Deutschen
Bundestag.
({3})
Das ist durch den Vorbehalt des Bundesverfassungsgerichtes gestoppt worden.
Der Neoliberalismus, der die Finanzkrise bewirkt hat,
wurde nicht gestoppt. Aber das Gericht hat deutlich das
Sozialstaatsprinzip betont, ausdrücklich gegen EUBürokratie und Europäischen Gerichtshof. Das Bundesverfassungsgericht betont: Wir sind und bleiben zuständig für den Schutz der Verfassungsidentität, zu der der
Sozialstaat gehört. Auch diese soziale Würde des Menschen ist also nicht verhandelbar. Darüber ist jetzt klar
entschieden worden.
({4})
Also passen Sie nicht mehr im vorauseilenden Gehorsam Ihre Gesetze an den Neoliberalismus der EU an! Ich
erwähne in diesem Zusammenhang das niedersächsische
Vergabegesetz hinsichtlich öffentlicher Bauaufträge und
nenne nur das Stichwort Rüffert-Urteil. Lassen Sie
EuGH-Angriffe auf Volkswagen und auf die Tariflöhne
nicht mehr zu, sondern streiten Sie mit den Gewerkschaften und klagen Sie vor dem Bundesverfassungsgericht! Seit gestern bietet sich die Gelegenheit förmlich
an, dagegen zu klagen. Das sollte auch wahrgenommen
werden.
({5})
Der Bundestag ist nach dem Urteil zudem gehalten,
sich mehr um internationale Verträge zu kümmern, die
die Lebenssituation der Menschen unmittelbar betreffen.
Das gilt vor allem für die neoliberalen Angriffe über die
WTO auf die ärmsten Menschen auf allen Kontinenten.
Sollten die Menschen draußen erschrocken sein über
die monströsen Schwächen, die der Bundesregierung
und der Mehrheit des Bundestages attestiert worden
sind, dann können sie in dieser Beziehung beruhigt sein:
Sie haben eine starke Linke in den Deutschen Bundestag
gewählt.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Carl-Christian Dressel
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es
kommt einem schon merkwürdig vor, nach einer nationalkonservativen Allianz aus PDS und anderen Europaskeptikern und Europagegnern hier reden zu können. Es
gilt für uns nach wie vor das, was die Präambel des
Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland beinhaltet, nämlich dass das deutsche Volk von dem Willen
beseelt ist, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.
({0})
Diese Äußerung hat das Bundesverfassungsgericht in
den Mittelpunkt seiner gestrigen Argumentation gestellt.
Ich sage: Darüber können wir alle froh sein.
Ich darf den heute schon wiederholt erwähnten
Heribert Prantl zitieren, der die richtige Schlussfolgerung gezogen hat:
Diesem spektakulären, glänzenden und klugen
Karlsruher Urteil gelingt die Kunst, den europäischen Integrationsprozess nicht aufzuhalten, sondern ihn - bei einem deutschen Zwischenstopp demokratisch zu befruchten.
Ich denke, das ist die zentrale Botschaft. Das ist auch
eine Botschaft an diejenigen, die sich hier gerne als Gewinner feiern lassen; denn von Gewinnen kann man nur
reden, wenn man mit seinen Zielen durchkommt. Wenn
man das Urteil nicht von hinten zu lesen beginnt, sondern von vorne, dann sieht man, was Sie zum Gegenstand Ihrer Anträge beim Bundesverfassungsgericht gemacht haben, dann stellt man fest, dass Sie sich allein
gegen das Zustimmungsgesetz und nicht gegen das Begleitgesetz gewendet haben. Also Gewinner? Fehlanzeige, nur herbeigeredete Gewinner.
({1})
Es ist wichtig, dass wir uns darüber klar werden, was
mit dem Urteil gesagt wurde. Wenn Sie noch mehr aus
dem Urteil hören möchten, kann ich Ihnen noch mehr
vorlesen. Auch wenn es Ihnen nicht recht ist, trage ich
vor - Seite 91 -:
Das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon
ist mit den Anforderungen des Grundgesetzes, insbesondere mit dem Demokratieprinzip, vereinbar.
Das Wahlrecht … ist nicht verletzt.
Oder auf Seite 93:
Die Europäische Union entspricht demokratischen
Grundsätzen.
Oder:
Die mit den Antrags- und Beschwerdeschriften vorgetragene, im Mittelpunkt der Angriffe stehende
Behauptung, mit dem Vertrag von Lissabon werde
das demokratische Legitimationssubjekt ausgetauscht, ist unzutreffend.
Anderes brauchen wir nicht zu sagen. Jeden dieser
Sätze, die ich verlesen habe, sehe ich als einen knallenden Schlag ins Gesicht derjenigen auf der linken Seite
dieses Hauses, die sich als Sieger fühlen.
({2})
Wichtig ist auch, dass im Deutschen Bundestag einmal vorgetragen wird, was der Vorsitzende des Zweiten
Senats, Vizepräsident Voßkuhle, zu Beginn der Urteilsverkündung gesagt hat. Er sprach von Vorurteilen und
eindeutigen Vorverständnissen, über die das Bundesverfassungsgericht nicht gerichtet hat. Welche Vorurteile
und Vorverständnisse sind das? Das ist das, was ich am
Anfang schon herausgearbeitet habe: Das sind die Europafeindlichkeit und die überzogene Europaskepsis, die
es leider auch in diesem Hause gibt. Wenn wir die Akzeptanz in der Bevölkerung erhöhen wollen, müssen
auch wir uns klar zu Europa und zur europäischen Einigung bekennen, und diejenigen, die Probleme mit Europa und der europäischen Einigung haben, dürfen nicht
weiter versuchen, sich als Sieger des gestrigen Tages
darzustellen.
({3})
Ein kleines Detail, Herr Dehm, wenn ich Sie beim Telefonieren stören darf: Der Prozessbevollmächtigte des
Deutschen Bundestages, Professor Mayer, hat im Ausschuss gesagt, dass man sich bei Ihnen bedanken kann.
Dazu sage ich: Interessant ist, dass sich Professor Mayer
auf die Frage der Zulässigkeit bezogen hat, auf die
Frage, wann sich eine Oppositionsfraktion an das Bundesverfassungsgericht wenden kann. Das hatte mit dem
Inhalt, mit der materiellen Frage oder der Begründetheitsfrage nicht das Geringste zu tun.
({4})
So viel zum selbsternannten, gefühlten Gewinner.
({5})
Ich sehe ein Handeln der Bundesregierung - darüber
sind wir uns in diesem Hause einig - nicht als veranlasst
an, Kollege Gauweiler.
({6})
Für uns ist und bleibt es wichtig, dass wir das Begleitgesetz ändern und dass wir unsere Geschäftsordnung ändern; darauf hat noch niemand Bezug genommen.
({7})
Ich halte es für zentral, dass wir wichtige Änderungen in
der Geschäftsordnung vornehmen, damit wir unseren
Aufgaben, die uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat, im Rahmen unserer Möglichkeiten nachkommen können. Das ist für mich die wichtige Botschaft.
({8})
Ich halte es für ebenso wichtig und für ein bedeutendes Signal an die übrigen Mitgliedstaaten, dass Folgendes zum Ausdruck gebracht wurde: Wir in Deutschland
wollen nach wie vor die europäische Einigung, und wir
möchten, dass unsere befreundeten Mitgliedstaaten mit
uns an der europäischen Einigung arbeiten. Deswegen
ist es unser Ziel, trotz der Wahlen zum 17. Deutschen
Bundestag Ende September dieses Jahres noch im Laufe
dieser Wahlperiode schnell die notwendigen Änderungen durchzuführen, um dieses Signal, das über unsere
Grenzen hinaus wirkt, zu geben, ein Signal zugunsten
der Einheit Europas und zugunsten dessen, was in der
Präambel des Grundgesetzes schon festgestellt wird:
dem Ziel, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.
Wir sprechen auf der einen Seite über das Urteil; auf
der anderen Seite sollten wir das, was angegriffen worden ist, nicht vergessen: den Vertrag von Lissabon. Es
steht uns zu, nochmals darauf hinzuweisen, dass der Reformvertrag von Lissabon der Europäischen Union die
Fähigkeit verleihen wird, sich den Herausforderungen
des 21. Jahrhunderts zu stellen und im Sinne der Bürgerinnen und Bürger auf der Basis unserer europäischen
Werte die Europäische Union fortzuentwickeln.
Ich wage eine Prognose, die uns alle betrifft: Wir werden noch im Laufe der 16. Wahlperiode das Begleitgesetz und unsere Geschäftsordnung ändern. Aber wir
müssen uns darüber im Klaren sein, dass dies kein statisches System sein kann, sondern dass wir - das sehe ich
gemäß dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts an
uns alle - darauf Acht geben müssen, dass in der Praxis,
die wir hier im Deutschen Bundestag, aber auch Sie im
Bundesrat dann an den Tag legen, der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts Rechnung getragen wird, sodass wir dem Demokratieprinzip immer und unangreifbar Rechnung tragen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Das Wort hat der Kollege Gunther Krichbaum für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kollege Steenblock hat recht: Gestern war ein
guter Tag für die Demokratie. Wenn man den Ausführungen so mancher Kollegen hier folgt, dann muss man
sich die Frage stellen: Über was streiten wir eigentlich?
Jeder fühlt sich als Sieger. Wenn sich jeder als Sieger
fühlt, dann bin ich für den weiteren Gang der vor uns liegenden parlamentarischen Beratungen sehr optimistisch.
Denn das kann ja dann alles sehr gut über die Bühne ge25586
hen, wenn wir uns in diesen wesentlichen Punkten schon
einig sind.
Herr Kollege Gysi, gestatten Sie mir bitte folgenden
Hinweis: Es wäre zum ersten Mal in der Geschichte des
Bundesverfassungsgerichts, dass ein Sieger auf zwei
Drittel seiner Verfahrenskosten sitzen bleibt.
({0})
Die Kostenteilung ist hier ein sehr sicheres Indiz; bei
Kollege Gauweiler waren es immerhin 50 Prozent. Diese
Quote zeigt, wie das Bundesverfassungsgericht es sieht.
Derjenige, der sich dafür interessiert, sollte sich einfach
einmal die Kostenverteilung ansehen.
({1})
Das erleichtert, glaube ich, den Überblick.
Es war ein guter Tag für die Demokratie. Warum?
Weil der Vertrag von Lissabon seitens des Bundesverfassungsgerichts als verfassungskonform angesehen wird.
({2})
Wir als Parlamentarier haben schon deshalb Vorteile,
weil der Vertrag von Lissabon unsere Rolle, die Rolle
der nationalen Parlamente aufwertet.
({3})
Das Begleitgesetz müssen wir in der Tat neu aufrollen, aber mit sehr konkreten Vorgaben, die uns Parlamentariern den Rücken stärken. Deswegen haben wir,
wenn man es so nennen möchte, eine Win-win-Situation:
Die Parlamente sind die Gewinner des gesamten Verfahrens. Damit meine ich nicht nur das Verfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht.
Weil wir hier in einer öffentlichen Debatte sind und so
manches, was man den Berichterstattungen der Medien
entnehmen durfte, eher zur Begriffsverwirrung der Bürger beigetragen hat, möchte ich Folgendes ausführen:
Warum fühlen sich die meisten als Sieger? Ich glaube, es
lohnt sich, einen Blick auf das bisherige Verfahren zu
werfen. Traditionell ist die Außenpolitik der Europäischen Union stets sehr regierungsgeprägt gewesen. Seit
dem Maastricht-Urteil hat der Deutsche Bundestag seine
Europatauglichkeit aber kontinuierlich verbessert.
Wir haben heute einen Europaausschuss, der sich
nicht nur aus Mitgliedern des Deutschen Bundestages,
sondern auch - und zwar aus guten Gründen - aus Kollegen des Europäischen Parlaments zusammensetzt. Wir
haben einen Unterausschuss Europarecht. Wir haben die
COSAC-Konferenz, eine Kooperation der nationalen
Europaausschüsse. Wir haben mittlerweile ein Verbindungsbüro mit Mitarbeitern der Fraktionen und der Bundestagsverwaltung in Brüssel. Seit zwei Jahren besteht
außerdem eine Zusammenarbeitsvereinbarung zwischen
Bundestag und Bundesregierung. Dieses Parlament hat
kontinuierlich für mehr Rechte gekämpft und diese auch
bekommen. Deswegen betrachten wir die gestrige Entscheidung als einen Katalysator, der uns hilft, auf diesem
Weg weiterzumachen. Sie können daher sicherlich nachempfinden, dass wir uns über dieses Urteil freuen.
Es geht aber noch um etwas anderes, das bei dieser
Debatte nicht ganz in Vergessenheit geraten sollte. Bei
aller Betonung der Parlamentsrechte: Wir haben ein großes Interesse daran, dass unsere Regierung, egal welcher
Couleur, in Brüssel handlungsfähig bleibt. Wir müssen
in Brüssel, in Europa sprechfähig bleiben. Uns wäre
nicht geholfen, wenn Regierungsmitglieder bei jeder
Entscheidung, die von der ursprünglichen Vorgabe abweicht, in die Maschine steigen und nach Berlin zurückfliegen müssten, um sich das neuerliche Votum des Parlaments einzuholen. Das würde die Europapolitik
lähmen.
Wir wollen die Europapolitik und Europa gerade mit
dem Vertrag von Lissabon handlungsfähiger machen.
Deswegen wird es bei der Neufassung des Begleitgesetzes im Kern darum gehen, eine Balance zu finden. Wir
möchten ein austariertes Verhältnis finden zwischen den
berechtigten Interessen der Parlamentarier des Bundestages und unserem Wunsch nach einer handlungsfähigen
und sprechfähigen Regierung in Brüssel.
({4})
Ich komme zu den einzelnen Punkten, die Kollege
Gauweiler angesprochen hat. Ja, die Brückenklausel
ging dem Bundesverfassungsgericht zu weit, auch die
Einschränkung beim Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, wobei es von Beginn an bei diesem Prinzip
bleiben sollte. In der Summe kann man aber feststellen,
dass das Bundesverfassungsgericht damit aussagen
möchte: Fahrt bitte auf Sicht, gleichsam mit angezogener Handbremse, auch bei der europäischen Integration,
wenngleich die europäische Integration erstmals als ausdrückliches Verfassungsziel postuliert wurde.
Man muss allerdings auch einen Blick auf das Bundesverfassungsgericht selbst werfen, das sich in einem
ständigen Konkurrenzverhältnis zum EuGH sieht. Deswegen haben auch ein Bundesverfassungsgericht und die
dortigen Richter ein elementares Interesse daran, dass
ihre eigenen Rechte gewahrt bleiben. In diesem Zusammenspiel ist das Urteil sicherlich auch zu sehen. Es ist
ein Grundsatzurteil und wird weit über den gestrigen Tag
hinaus wirken. Es ist vielleicht noch bedeutender als das
Maastricht-Urteil.
Ich möchte noch eines aufgreifen, was Kollege
Gauweiler in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel gesagt hat. Ich zitiere -
Kollege Krichbaum, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Dr. Gysi?
Danach.
Sie holten keine Luft. Ich hatte keine Möglichkeit,
zwischen Ihren Sätzen etwas zu sagen.
Sie wundern sich, für wie viel frischen Wind wir hier
sorgen können.
Das Zitat des Kollegen Gauweiler lautet:
Das Urteil werde die „europäische Gesinnung“ der
Bürger stärken und damit eine „proeuropäische,
volkspädagogische Wirkung“ haben.
Mit dem Wort Volkspädagogik, das der Kollege
Gauweiler benutzt hat, tue ich mich etwas schwer. Aber
wenn das Urteil zu einem dient, dann mit Sicherheit
dazu, dass die Akzeptanz der Bürger in Bezug auf die
europäische Integration nach dem gestrigen Urteil und
dem Ausspruch, dass der Vertrag von Lissabon der Verfassung entspricht, steigen wird. Die Bürger können sich
fortan darauf verlassen, dass die Verfassungstauglichkeit
und die Verfassungsgemäßheit dieses Vertrages - gleichsam wie durch den TÜV - bestätigt wurden. Das fördert
die Akzeptanz der Bürger auch in die europäische Integration.
({0})
Bitte.
Herr Kollege, da hier immer wieder darüber diskutiert
wird, ob es seitens des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Frage eines Einsatzes der Bundeswehr irgendeine Art von Korrektur gegeben hat, möchte ich Sie
fragen, ob Sie mir bestätigen können, dass auf den
Seiten 135 und 136 des Urteils ausgeführt wurde, dass es
eine Bestimmung gibt, nach der, falls ein Mitgliedsland
überfallen wird, die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in
ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung im Einklang mit Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen
schulden, und dass dann dargelegt wird, warum diese
Regelung für Deutschland nicht ohne einen Beschluss
des Bundestages gilt.
({0})
- Lassen Sie mich doch einmal zu Ende reden! - Können Sie mir also bestätigen, dass das Bundesverfassungsgericht durchaus akzeptiert hat, dass es eine Bestimmung gibt, die man auch anders hätte verstehen
können
({1})
- es gab übrigens auch den Willen, sie anders zu verstehen -, dass man dem aber einen Riegel vorgeschoben
hat?
({2})
Herr Kollege Gysi, ich habe das Urteil, das 147 Seiten
umfasst, nicht über Nacht auswendig gelernt. Ich habe es
aber gelesen. Wenn Sie das Urteil genau lesen, werden
Sie auf eine Passage stoßen, in der das Bundesverfassungsgericht darauf hinweist, dass die im Vertrag von
Lissabon vorgesehene gegenseitige Beistandspflicht
über die Regelungen, die wir ohnehin schon haben, nicht
hinausgeht.
({0})
In genau diesem Kontext und in diesem Licht ist das
Ganze zu sehen. Parlamentsvorbehalte gab es schon in
der Vergangenheit. Insofern wird durch den Vertrag von
Lissabon keine neue Situation geschaffen.
({1})
Infolgedessen gelangt das Bundesverfassungsgericht in
diesem Punkt völlig zu Recht zu dem Schluss, dass der
Vertrag von Lissabon der Verfassung entspricht.
({2})
Wie wird es nun weitergehen? Der Europaausschuss
wird mehrere Sondersitzungen durchführen, und wir
werden das weitere Verfahren konkret ausgestalten.
Ende August dieses Jahres wird dann die erste Lesung
im Deutschen Bundestag anstehen. Es ist eine reine
Selbstverständlichkeit, dass dieses Gesetz dann aus der
Mitte des Bundestages eingebracht werden sollte. Alles
andere widerspräche dem Geist des gestrigen Urteils.
Natürlich wird es immer gerne gesehen, wenn, wie es
auch heute geschehen ist, seitens der Bundesregierung
Formulierungshilfe angeboten wird.
({3})
Aber dieser konkrete Fall ist die Stunde des Parlaments,
und es geht um die Rechte des Parlaments. Ich glaube,
wir tun sehr gut daran, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu berücksichtigen und die Maßgaben
im neuen Begleitgesetz eins zu eins abzubilden.
Unbestritten ist, dass wir unter Zeitdruck stehen. Deswegen muss das Ganze jetzt zügig über die Bühne gehen.
Wenn wir das nicht mehr in dieser Legislaturperiode
schaffen, können wir im Hinblick auf das Referendum,
das in Irland noch durchgeführt werden muss, keinen
positiven Impuls mehr geben. Hinzu kommt, dass wir
nicht wissen, wie sich die Situation in Großbritannien
weiterentwickeln wird. Es gibt übrigens auch Zeiten, in
denen ein Christdemokrat für die Gesundheit eines Labour-Ministerpräsidenten in Großbritannien betet.
({4})
In diesem Sinne sage ich zum Schluss: Ich bin zuversichtlich, dass es uns, wenn wir zügige Beratungen
durchführen, gelingt, das notwendige Begleitgesetz und
den Vertrag von Lissabon auf den Weg zu bringen, damit
Europa erfolgreich in seine Zukunft gehen kann.
Danke.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD
Kritik der Bundesbank an überhöhten Kreditzinsen der deutschen Banken
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Das Thema unserer heutigen Aktuellen Stunde
lautet „Kritik der Bundesbank an überhöhten Kreditzinsen der deutschen Banken“. Sicherlich haben es die
meisten von uns in der letzten Woche gelesen: Bundesbankpräsident Axel Weber war über das seiner Meinung
nach schlimme Verhalten der Banken erbost und hat sogar gedroht, die Banken zu übergehen und selber Kreditgeschäfte durchzuführen, um die Zinsweitergabe, die die
Banken seiner Meinung nach nicht vollziehen, selber zu
gewährleisten.
Wie ist die Situation? Die EZB hat den Banken ein
Angebot gemacht, das folgendermaßen lautet: Für
371 Tage - das bedeutet Planungssicherheit für die Institute - gibt es für einen Zinssatz von 1 Prozent unbegrenzt Geld. Bisher fragten insgesamt 1 121 Finanzinstitute bei der EZB 442,2 Milliarden Euro nach. Das
Angebot scheint also zu wirken. Wie das Handelsblatt
letzte Woche jedoch berichtete, sind die Banken sowohl
reich als auch arm. Einerseits gibt es eine Geldschwemme, andererseits - dies betrifft die Unternehmen anscheinend aber eine Kreditklemme.
Wie kann das sein? Es gibt einen Unterschied zwischen Liquidität, also Geld für den Moment, und Kapital, also Geld, das der Bank für unbegrenzte Zeit zur Verfügung steht. Die EZB kann Liquidität zur Verfügung
stellen, nicht aber Kapital. Wenn Firmen, nachdem sie
Auftragspolster abgearbeitet haben, weniger Umsatz und
damit auch weniger Gewinn machen, sinkt ihre Kreditwürdigkeit. Dann - so argumentieren die Banken - müssen die Firmen Kredite mit mehr Kapital unterlegen. Das
aber fehlt trotz der Großzügigkeit der EZB.
Was ist zu tun? Aktiengesellschaften können an der
Börse Kapital aufnehmen. Wenn die finanzielle Situation
der Firma allerdings nicht stabil ist oder sie keine Aktiengesellschaft ist, bleibt als Helfer nur der Staat. Da
soll unser Bad-Bank-Konzept, über das wir im Finanzausschuss heute abschließend beraten werden, Hilfe leisten. Wir appellieren an die Banken, dass sie dieses Angebot nutzen, und hoffen, dass sie es tun.
Unternehmen und Verbände der deutschen Wirtschaft
sehen die deutsche Wirtschaft vor einer Kreditklemme,
weil Unternehmen, die Kredite nachfragen, vonseiten
der Banken immer häufiger härtere Bedingungen auferlegt werden oder ihnen Ablehnung entgegenschlägt. Die
Banken argumentieren: Es handelt sich um normales Rezessionsverhalten. Man schaut genauer hin, wenn man
Kredite vergibt, und die Bonität der Schuldner hat sich
- Stichwort Basel II - in der letzten Zeit verschlechtert.
Da möchte man gerne Sicherheiten haben; das alles haben wir beschlossen und gewollt. Das ist das, was sich
augenblicklich abspielt.
So weit ist alles noch nachvollziehbar. Es ist in unser
aller Interesse, wenn sich die Banken verhalten, wie wir
es mit Basel II ursprünglich beabsichtigt haben: dass sie
mit dem Geld anderer Leute verantwortungsvoll umgehen. Nicht nachvollziehbar ist jedoch, dass es Anzeichen
gibt, dass auf den Finanzmärkten wieder spekuliert wird:
Es gibt Institute, die sich günstig Geld bei der EZB holen
und dann in anderen Ländern in Anlagen investieren.
({0})
- Auch in Deutschland, gut. - Diese Spekulationen müssen, denke ich, kritisiert werden.
Laut Bundesverband deutscher Banken lag das Volumen der Kreditvergabe in Deutschland im ersten Quartal
trotz negativer Ausnahmen immer noch 7 Prozent über
dem des Vorjahres. Das ist eine Tendenz, die mir - ich
habe in meinem ländlichen Wahlkreis eher wenig mit
Großbanken und Großunternehmen zu tun - meine heimischen Sparkassen und Volksbanken bestätigt haben:
Man schaut genauer hin; aber man gibt mehr als früher.
Für die Unternehmen stellt sich die Situation etwas
anders dar: Sie bestätigen, dass es mehr Nachfrage gibt;
aber es müssen mehr Sicherheiten aufgelistet werden, es
werden nicht mehr so leicht Kredite vergeben. Auf mein
Argument, dass wir alle wollten, dass bei der Kreditvergabe mehr Vorsicht gezeigt wird, wird mir immer wieder
entgegnet: Wenn keine Zwischenfinanzierungen mehr
gemacht werden, drohen Insolvenzen. Das ist die Situation.
Natürlich brauchen wir einen Ausgleich zwischen
vorsichtigem Handeln der Banken und genug Krediten
für die Unternehmen. Als ich vor circa 30 Jahren mein
BWL-Studium begonnen habe
Kollegin Arndt-Brauer, achten Sie bitte auf die Zeit!
mein letzter Satz -, hieß es: Oberstes Ziel eines Unternehmens ist Gewinnmaximierung. - Ich denke, in
Zeiten der Krise sollte gesamtgesellschaftliche Verantwortung hinzukommen.
Danke schön.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege CarlLudwig Thiele das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Aus Sicht der FDP gibt es
für die deutsche Wirtschaft schon jetzt eine Kreditklemme. Viele Firmen sind auf Fremdkapital angewiesen; denn die Eigenkapitalausstattung deutscher Unternehmen ist im Vergleich zu der in anderen Ländern
ausgesprochen gering. Viele Unternehmen sind insbesondere in schwierigen Zeiten, wie jetzt, darauf angewiesen, das Kapital zu haben.
Dieses Problem für den deutschen Mittelstand lässt
sich kurzfristig überhaupt nicht lösen. Viele Firmen sind
auf Kredite angewiesen. Einige der bisher bereits eingeräumten Kredite laufen aus und müssen neu verhandelt
werden. Andere Firmen benötigen auch in der heutigen
Zeit Kredite, um zu investieren und neue Arbeitsplätze
zu schaffen. Daher sind ein funktionierender Geldkreislauf und die Versorgung mit Krediten für die Wirtschaft
selbst und für jeden einzelnen Arbeitsplatz in unserer
Wirtschaft von überragender Bedeutung.
({0})
Angesichts der derzeitigen Krise ist festzustellen,
dass gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten viele
Unternehmen schlechter eingestuft oder schlechter geratet werden, wie das heute heißt. Aus diesem Grunde erhalten die Unternehmen Kredite häufig nur zu deutlich
verschlechterten Bedingungen. Hier ist aus Sicht der
FDP zu prüfen, ob die entsprechenden Vorschriften im
Regelwerk Basel II aus heutiger Sicht noch richtig und
zielführend sind. Insofern muss Basel II aus unserer
Sicht auf den Prüfstand gestellt werden, um zu sehen, ob
damit in der heutigen Situation noch der richtige Kern
getroffen wird, um auf der einen Seite die Versorgung
der Firmen sicherzustellen und um auf der anderen Seite
den Banken die Möglichkeit zu geben, Kredite zu vergeben. Es stellt sich aber eben auch die Frage, wie viel Kapital die Banken dafür binden müssen; denn gerade dieses Kapital ist erforderlich, damit die Unternehmen es
erhalten.
({1})
Aber auch der Finanzsektor selbst leidet darunter,
dass in ihm trotz aller gesetzlichen Regelungen zu wenig
Eigenkapital vorgehalten wird. Gerade in wirtschaftlich
schwierigen Zeiten müssen auch die Kreditinstitute wetterfest sein, um entsprechende Stürme bestehen zu können. Insofern halten wir von der FDP es für richtig, das
Leitbild des HGB, das Leitbild eines vorsichtigen Kaufmannes, zum Maßstab des wirtschaftlichen Handelns in
unserem Lande zu machen.
({2})
Der wesentliche Unterschied zwischen börsennotierten Kapitalgesellschaften und privaten mittelständischen
Unternehmen besteht darin, dass im Mittelstand der Eigentümer selbst für sein Unternehmen haftet.
({3})
Verantwortung in der Wirtschaft muss eben immer mit
Haftung einhergehen. Wer persönlich haftet, der geht
völlig anders mit Risiken um als jemand, der für seine
Entscheidungen nicht selbst haften muss. Insofern ist die
Haftung der Unternehmen und auch des Unternehmers
zentraler Bestandteil unserer sozialen Marktwirtschaft.
({4})
Seitens der FDP-Fraktion begrüßen wir die Finanzspritze der Europäischen Zentralbank von gut 440 Milliarden Euro über eine Laufzeit von 12 Monaten grundsätzlich. Mit diesem Geld wird den Banken geholfen, der
Realwirtschaft wird es voraussichtlich aber nur zu einem
begrenzten Teil zugutekommen.
Die FDP unterstützt die Forderung des Bundesbankpräsidenten Axel Weber, die Zinssenkungen der Europäischen Zentralbank an ihre Kunden weiterzugeben.
Präsident Weber fordert allerdings im Weiteren, dass die
Notenbanken die Banken umgehen und die Wirtschaft
direkt stützen können sollten, was er derzeit noch nicht
für nötig hält. Dies könnte wohl nur durch den Kauf von
Unternehmensanleihen geschehen; denn dass die EZB
selbst dazu übergeht, Kredite zu vergeben, ist, so glaube
ich, auch vom Bundesbankpräsidenten gar nicht angedacht. Sollten aber Unternehmensanleihen erworben
werden, dann würden dies nur Anleihen größerer Firmen
sein, die tatsächlich in der Lage sind, entsprechende Anleihen zu platzieren.
Das Problem der mangelnden Kreditversorgung haben aber nicht nur die großen börsennotierten Unternehmen, sondern insbesondere auch der deutsche Mittelstand.
({5})
Der deutsche Mittelstand ist das Rückgrat unserer Wirtschaft und wesentlich für die Arbeitsplätze in unserem
Lande. Deshalb möchte ich für die FDP nochmals an die
Banken appellieren, ihre Kreditkonditionen auch im Interesse der Kunden und der Wirtschaft zu überprüfen.
Denn die Banken sollten bei der Festlegung ihrer Kreditkonditionen trotz aller Vorgaben daran denken, dass die
Versorgung der Wirtschaft mit Kapital auch in ihrem ureigensten Interesse liegt. Eine mangelhafte Versorgung
der Unternehmen, aber auch der Bürger mit Kapital wird
sich letztlich auch auf das Geschäft der Banken schädlich auswirken. Deshalb sollten die Banken die günstigen Konditionen so weit wie möglich an ihre Kunden
weitergeben. Diesen Appell können wir hier an sie richten.
Auf der anderen Seite müssen aber sowohl die Firmen
als auch die Kreditinstitute in unserem Land wetterfester
werden. Wir als FDP werden weiter unseren Beitrag
dazu erbringen, dass genau dies geschieht. Denn gerade
in wirtschaftlich schwierigen Zeiten und bei Stürmen
gilt: Wer sicherer und fester steht, der wird nicht so
schnell umgehauen. Das muss bekannt werden. Insofern
können weder die Bürger noch die Unternehmen in unserem Land immer nur als Melkkühe des Staates gesehen werden. Dort wird das erwirtschaftet, was erforderlich ist, um die Existenz der Bürger zu sichern, um die
Einnahmen der Sozialversicherungen sicherzustellen
und um dem Staat die Finanzierungsmöglichkeiten zu
geben, die er für seine Aufgaben braucht.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Ursula Heinen-Esser.
Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin bei der
Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz:
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es besteht ja in der heutigen Debatte
über die Kritik an der Zinspolitik der deutschen Banken
und Sparkassen eine erstaunliche Übereinstimmung, die
wir aber auch in weiteren Kreisen finden: Ich nenne die
Wirtschaftsverbände, die Gewerkschaften, die Verbraucherzentralen, die Fraktionen hier und eben auch die
Deutsche Bundesbank. Es geht um zwei Themen, zum
einen - meine beiden Vorredner haben es bereits angesprochen - um die Versorgung der Wirtschaft mit Krediten, die eben immer noch unzureichend stattfindet, und
zum anderen - das wird heute mein Thema sein - um die
Weitergabe der günstigen Leitzinsen an die Verbraucherinnen und Verbraucher.
Der Herr Bundesbankpräsident hat damit gedroht
- Herr Thiele hat es gerade erwähnt -, notfalls das Bankensystem zu umgehen, um sicherzustellen, dass der
Wirtschaft genügend zinsgünstige Kredite zur Verfügung stehen. Lassen Sie mich seine Forderung ergänzen:
Die deutschen Banken müssen die ihnen gegebenen
günstigen Zinskonditionen nicht nur an die Wirtschaft,
sondern auch an die Verbraucherinnen und Verbraucher
weitergeben.
Schon vor Wochen hat Ministerin Ilse Aigner die
Banken aufgefordert, die niedrigen Refinanzierungszinsen an die Kunden weiterzugeben. Der Leitzins ist seitdem weiter gesunken, er liegt mittlerweile bei 1 Prozent.
Wir wissen aber, die Verbraucher profitieren davon
nicht, jedenfalls nicht in vollem Umfang, und wenn sie
etwas davon profitieren, dann nur zeitverzögert. Es mag
vielleicht Ausnahmen geben, wo Banken ihre gesunkenen Kosten voll und ganz an die Verbraucher weitergegeben haben. Das sind aber eben Ausnahmen. Denn es
gibt eine Reihe von Kreditinstituten, die ihre Zinsen für
Dispokredite erhöht haben. Im April/Mai waren es
24 Banken, die ihre Zinssätze noch erhöht haben. Traurige Spitzenreiter sind leider die Berliner Sparkasse und
die Sparkasse Köln/Bonn mit 14,5 Prozent. Das muss
man sich einmal vorstellen!
({0})
Es kommt dann der Hinweis der Kreditwirtschaft, dass
sich die Banken nur zu einem Teil mit Zentralbankgeld
finanzieren. Das ist meines Erachtens ein vorgeschobenes Argument.
({1})
Denn auch die Geldmarktsätze im Interbankenverkehr
sind drastisch gesunken, egal ob es sich um EURIBOR,
EONIA oder die Geldmarktsätze am Frankfurter Bankenplatz handelt. Für kurzfristiges Geld lagen diese
Zinssätze letzten Sommer noch deutlich über 4 Prozent,
inzwischen liegen sie sogar unter 1 Prozent. Da liegt der
Verdacht nahe, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass
hier von Bankenseite aus nicht ehrlich argumentiert
wird, sondern dass es hier auch um die Erhöhung der
Margen geht.
({2})
Was können wir tun? - Zum einen müssen die Verbraucher ein Stück weit ihre Marktmacht aktivieren. Sie
müssen Dispozinsen vergleichen, sollten Dispositionskredite vermeiden und auf deutlich günstigere Verbraucherdarlehen umsteigen. Zum anderen sind wir natürlich
politisch gefordert. Es geht darum, die Kreditwirtschaft,
der zum Teil mit erheblichen Rettungspaketen geholfen
wird, an ihre gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu
erinnern. Appelle, wie wir sie auszusprechen pflegen,
scheinen absolut nicht zu fruchten.
({3})
Wir müssen - das ist der entscheidende Punkt - die
rechtlichen Schranken, die von der Rechtsprechung zur
Anpassung der Zinsen entwickelt wurden, stärker in den
Vordergrund rücken. Die Zinsanpassung liegt eben nicht
im freien Ermessen der Banken, sondern hat sich an klar
definierten Maßstäben zu orientieren. Im Hinblick auf
die Sparzinsen funktioniert das bereits. Auf Grundlage
zweier Zinsurteile des Bundesgerichtshofes, in denen er
ausdrücklich die Angaben von Kriterien für die Kalkulierbarkeit von Zinsänderungen fordert, haben mittlerweile die ersten Sparer mit Unterstützung der Verbraucherzentralen sogar Nachzahlungen ihrer Geldinstitute
in teilweise vierstelliger Höhe erhalten.
Im April dieses Jahres hat der Bundesgerichtshof in
einem Krediturteil entschieden, dass Zinsanpassungen in
bestehenden Geschäftsbeziehungen keine Einbahnstraße sein dürfen. Wenn Banken gestiegene Refinanzierungskosten an ihre Kunden weitergereicht haben, sind
sie verpflichtet, nach den gleichen Maßstäben auch sinkende Refinanzierungskosten weiterzugeben, und ich
füge hinzu: Sie müssen es auch im gleichen Tempo machen. Dieser Rechtsprechung hat die Kreditwirtschaft
Rechnung zu tragen und die erforderlichen Zinsanpassungen unverzüglich vorzunehmen. Wenn sie jedoch
weiterhin unzulässige Zinsklauseln verwendet und das
geltende Recht missachtet, ist ganz klar die Finanzaufsicht gefordert.
Parl. Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser
Die Kreditwirtschaft ist verpflichtet, ihrer Verantwortung heute gerecht zu werden, und zwar ihrer Verantwortung gegenüber ihren Kunden, den Unternehmen, den
Verbraucherinnen und Verbrauchern und ihrer Verantwortung im Hinblick auf ihren Beitrag zur Wiedererstarkung der Gesamtwirtschaft.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Die Europäische Zentralbank - das
ist schon angesprochen worden - hat unglaubliche
442 Milliarden Euro in den Finanzmarkt gepumpt. Das
ist eine Rekordsumme. Die Banken und Sparkassen können sich für ein Jahr bei der Notenbank Geld zu 1 Prozent leihen. Dieses Traumangebot haben bereits über
1 100 Banken aus der Eurozone genutzt. Damit wollte
die EZB die Bürger und Unternehmen ermuntern, Kredite zu günstigen Konditionen aufzunehmen. Diese
Maßnahme sollte die Binnenkonjunktur beleben.
Doch die Rechnung der Europäischen Zentralbank
geht nicht auf, zumindest nicht in Deutschland. Denn die
deutschen Banken verhalten sich wie mittelalterliche
Wegelagerer. Sie geben die Zinssenkung der Zentralbank
nicht an die Kunden weiter. Der Zinssatz für Dispokredite liegt aktuell deutlich höher als in der letzten Wirtschaftskrise. Am Ende des Krisenjahres 2003 verlangten
die Banken knapp 1 Prozent weniger Zinsen auf Dispokredite als Anfang 2009. Die Banken verdienen sich
- ohne einen einzigen Handschlag gemacht zu haben mit der üppigen Zinsdifferenz weiterhin eine goldene
Nase, und die Bankenaktien steigen.
Das ist ein Skandal,
({0})
aber kein wirklich aktuelles Problem für eine Aktuelle
Stunde des Deutschen Bundestages. Bereits am 17. März
dieses Jahres - wir haben heute den 1. Juli - wurde in
der FAZ über den Verdruss des Bundesbankpräsidenten
Axel Weber über die deutschen Banken und ihre Zinspolitik berichtet. Jürgen Stark, Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank, erinnerte an die
Verantwortung der Banken und forderte sie auf, die Zinsen zu senken: ohne Erfolg.
Nur einen Tag später brachte unsere Fraktion, die
Fraktion Die Linke, einen Gesetzentwurf in den Bundestag ein, der eine Begrenzung des Zinssatzes bei Überziehungskrediten fordert. Wir wollen ein Verbot des Zinswuchers.
({1})
Für Dispositionskredite soll eine Höchstgrenze des Jahreszinssatzes festgeschrieben werden. Der Zinssatz soll
auf maximal 5 Prozentpunkte über dem Basiszins begrenzt werden.
({2})
- Ich höre schon Zwischenrufe von der FDP. Bevor Sie
wieder Staatssozialismus wittern, gebe ich Ihnen zur
Kenntnis, dass es diese gesetzliche Regelung bei Verbraucherdarlehensverträgen bereits gibt. Es gibt also keinen vernünftigen Grund, unseren Vorschlag, diese Regelung auch auf Dispositionskredite anzuwenden, nicht
umzusetzen.
Meine Damen und Herren von der SPD und der CDU/
CSU, Sie alle haben das Verhalten der Banken beklagt.
Wenn Sie Ihre parlamentarische Arbeit ordentlich gemacht hätten, dann hätten wir schon im März dieses Jahres eine Lösung gehabt. Leider haben Sie sich bisher
standhaft geweigert, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. Hätten Sie damals zugestimmt, hätten wir heute
eine Aktuelle Stunde über die positiven Wirkungen der
gesetzlichen Regelung des Überziehungskredits haben
und darüber diskutieren können, wie gut der Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke gewirkt hat.
({3})
Aber Sie lassen sich lieber von den Bankmanagern weiter auf der Nase herumtanzen. Es ist doch unglaublich,
dass diese Bundesregierung immer nur an die Vernunft
der Bankmanager appelliert, aber niemals klare gesetzliche Vorgaben macht. Dass es mit der Vernunft der Bankmanager nicht weit her ist, haben wir in den letzten Monaten überdeutlich erlebt.
Unser Vorschlag ist sinnvoll und leicht umsetzbar. Er
setzt allerdings voraus, dass sich diese Bundesregierung
mit den deutschen Banken anlegt. Doch dazu fehlte ihr
bisher der Mut. Wir, die Linke, fordern die Bundesregierung auf, ihre wirkungslosen Appelle an die Vernunft der
Bankmanager einzustellen und schnell klare gesetzliche
Regelungen zu verabschieden, damit die Bürger nicht
weiter von den Banken geschröpft werden können. Wir
fordern sie auf, einen Beitrag zu leisten, die Umverteilung von unten nach oben endlich zu beenden.
Vielen Dank.
({4})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Manfred
Zöllmer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die erhebliche Absenkung der Leitzinsen durch die Europäische Zentralbank ist eine der vielen Maßnahmen,
die Banken wieder in die Lage zu versetzen bzw. sie zu
ermuntern, sich erneut zu vertrauen, Geld zu leihen und
zu verleihen, damit investiert wird. Es ist offensichtlich,
dass dieser für die Wirtschaft überlebenswichtige Pro25592
zess noch nicht funktioniert. Die Banken haben sich
rund 445 Milliarden Euro von der Europäischen Zentralbank geliehen. Doch ein Großteil des Geldes ist wieder
angelegt worden. Vertrauen sieht anders aus.
Es geht hier aber nicht nur um die Unternehmensinvestitionen. Die größte Komponente der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage ist die Konsumgüternachfrage
der privaten Haushalte. Dabei spielt auch der Teil der
Konsumgüternachfrage eine wichtige Rolle, der kreditfinanziert ist. Leider müssen wir feststellen, dass bei den
derzeitigen Zinssenkungszyklen in den letzten Monaten
nur die Habenzinsen schnell nach unten angepasst wurden, die Sollzinsen entweder gar nicht oder nur mit
zeitlicher Verzögerung. Die Verbraucherinnen und Verbraucher sind offensichtlich die neuen Melkkühe der
Banken, da andere Profitquellen versiegt sind. Dies geht
eindeutig zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Was ist zu tun? Seit der Aufhebung der Zinsverordnung vor über 40 Jahren, am 1. April 1967, können die
Zinssätze zwischen Kreditinstitut und Kunden frei vereinbart werden. Liebe Kollegin Lötzsch, ich halte es für
sinnvoll, nicht wieder zur Praxis in den 70er-Jahren zurückzukehren. Für die Linkspartei ist ja das Programm.
({0})
Bei Girokonten behalten sich die Kreditinstitute zumeist
die Änderung des Zinssatzes in Zinsanpassungsklauseln
vor. Diese Klauseln unterliegen dem Recht betreffend
die AGBs. Der BGH hat hierzu entschieden - Frau
Staatssekretärin Heinen hat eben darauf hingewiesen -,
dass diese Klauseln eine Anpassungssymmetrie haben
müssen. Das heißt, dass die Institute die Verpflichtung
haben, Zinssätze nicht willkürlich zu erhöhen. Im Umkehrschluss gilt, dass daraus auch eine Verpflichtung zur
Herabsetzung des Vertragszinses in Relation zur Marktzinsentwicklung resultiert. Ich erlaube mir hier den
Hinweis, dass die Banken der Wettbewerbsaufsicht des
Bundeskartellamtes unterliegen, aber auch die Verbraucherorganisationen die Möglichkeit haben, mögliche gesetzwidrige Praktiken im Zusammenhang mit den AGBs
mit einer Unterlassungsklage zu verfolgen. Wir sollten
sie ermutigen, das auch zu tun.
Was erwarten die Verbraucherinnen und Verbraucher?
Erstens. Wir haben aus der Finanzkrise mit den unzähligen geschädigten privaten Kleinanlegern eines gelernt:
Wir müssen die Nachfrageseite des Finanzmarktes stärken. Wir brauchen eine außerhalb der BaFin existierende
Aufsicht - eine Art Finanz-TÜV -, die den Markt systematisch und verbraucherorientiert beobachtet, auch den
Bereich der Kreditzinsen.
({1})
- Erzählen Sie doch keinen Unsinn. ({2})
- Schauen Sie sich doch einfach die Anträge an, die auf
dem Tisch liegen. - Es ist sinnvoll, dass etablierte Verbraucherorganisationen kooperieren und wir diese staatlicherseits stärken und unterstützen. Mit der Stiftung
Warentest und den Verbraucherzentralen bestehen Institutionen, die dies leisten können. Barack Obama in den
USA gibt ebenfalls ein Beispiel, wie das Ganze zu machen ist.
Zweitens. Es gibt im Privatkreditgeschäft offensichtlich zu wenig Konkurrenz unter den Instituten. Der Wettbewerb muss gestärkt werden; die Existenz von mehr
und auch kleineren Anbietern wird zu niedrigeren Zinssätzen führen. Vielleicht sollte man wirklich einmal
überlegen, wie groß Banken eigentlich werden dürfen.
Warum müssen sie systemisch sein? Warum können sie
nicht kleiner sein und den normalen Untergangszyklen
in einer Marktwirtschaft unterliegen?
Drittens. Schließlich müssen sich die Verbraucherinnen und Verbraucher auch im Kreditmarkt so verhalten,
wie es beim Konsumgüterkauf üblich ist: Preise vergleichen, mit den Instituten verhandeln oder den Anbieter
wechseln. Auch ein Girokonto kann gewechselt werden.
Es ist allerdings Fakt, dass die Kreditinstitute in vielen
Fällen mit Lockvogelangeboten werben. Kaum jemand
kommt in den Genuss des niedrigsten Zinssatzes. Da
verschleiern und tricksen die Banken.
Es darf nicht sein, dass die Banken von der Krise, die
sie selbst verursacht haben, auch noch profitieren. Deshalb fordern wir: Herunter mit den Kreditzinsen! Dies ist
gut für die Verbraucherinnen und Verbraucher und auch
für die Konjunktur.
Herzlichen Dank.
({3})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Christine Scheel das Wort.
Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Frage, welche Privatkredite Verbraucher und Verbraucherinnen bekommen, ist das eine; das andere ist
unsere wirtschaftliche Lage und die Überlegung, wie
kleine und mittlere Unternehmen an die notwendigen
Kredite kommen. Letzteres ist das, was uns eigentlich
am meisten umtreibt. Die Bedingungen für diese Unternehmen sind schlechter geworden. Das bedeutet, dass
wir nachweislich eine Kreditklemme haben. Wenn man
einmal Revue passieren lässt, was in den letzten Monaten passiert ist und welche Hausaufgaben die Bundesregierung in diesem Kontext hätte machen können, dann
wird klar, dass die Bankenrettung auf freiwilliger Basis
gescheitert ist.
({0})
Die EZB und andere Notenbanken haben Geld in die
Märkte gepumpt. Die Märkte wurden regelrecht geflutet.
Das Geld versackt bei den Banken. Wir fragen uns, warum die Banken bei der Kreditvergabe knausern und die
Zinsen erhöhen. Die Antwort liegt seit Monaten auf dem
Tisch: Die Banken haben auf der einen Seite zu wenig
Eigenkapital für neue Risiken, weil sie immer noch auf
einem Berg von Schrottpapieren sitzen. Gleichzeitig haben sie kein Vertrauen in andere Banken, weil sie die
Sorge haben, dass diese noch Leichen im Keller haben.
Auch Ihr bombastisches Bankenrettungspaket von
480 Milliarden Euro hat nichts daran geändert. Dieses
Trauerspiel müssen wir zur Kenntnis nehmen.
({1})
Auf der anderen Seite ist es klar, dass Banken Eigenkapital bilden müssen. Dazu müssen sie Gewinne erzielen. Diese Polster werden sie - die Insolvenzwelle
kommt leider - dringend brauchen. Deswegen horten die
Banken die Liquidität und heben die Kreditzinsen an;
denn nur so können sie Geld verdienen. Das ist die Logik in dieser ganzen Angelegenheit. Es bringt nichts,
wenn Finanzminister Steinbrück und Bundesbankpräsident Weber die Rufer in der Wüste spielen und an die
Banken appellieren, mehr Kredite zu vergeben. Die Politik ist hier gefragt, und die Politik muss einen Strategiewechsel bei der Bankenrettung vollziehen. Andere Länder machen uns das vor.
({2})
Was ist zu tun?
Erstens. Wir brauchen einen Stresstest nach US-Vorbild. Banken, die bei einem solchen Test schlecht abschneiden, sollen Rekapitalisierungsmaßnahmen nicht
mehr ablehnen können.
Zweitens. Notwendig ist, dass diese Banken ihre
Schrottpapiere verbindlich und zu transparenten Bedingungen auslagern; denn nur so kann überhaupt Vertrauen
in ein Neugeschäft entstehen.
({3})
Drittens. Es muss offengelegt werden, wohin die
Steuermilliarden fließen. In den USA wird im Internet
veröffentlicht, welche Bank von welchen Maßnahmen
profitiert. Das Geld der Steuerzahler und der Steuerzahlerinnen, der Bürger und der Bürgerinnen hat den Totalcrash verhindert. Deswegen werden zu Recht mehr
Transparenz und mehr parlamentarische Kontrolle eingefordert.
({4})
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik konnten so wenige Menschen so viel Geld vergeben, ohne einer effektiven Kontrolle zu unterliegen. Das halten wir
für skandalös. Auch hier muss mehr Transparenz geschaffen werden. Dazu braucht es eben diesen Strategiewechsel. Um diesen Strategiewechsel herbeizuführen,
muss diese Regierung aber erst einmal zugeben, dass sie
die Bankenrettung falsch angepackt hat. Hier sehen wir
leider keine Einsicht. Aber wir können dazu gern verhelfen.
({5})
Der Kreditfluss stockt auch, weil die Banken nicht an
einen baldigen Aufschwung glauben. Sie haben kein
Vertrauen in die Konjunkturprogramme der Bundesregierung und sind deswegen sehr vorsichtig mit der Vergabe neuer Kredite. Tatsächlich kann von einem konjunkturellen Impuls durch die milliardenschweren
Programme, die Sie aufgelegt haben - 80 Milliarden
Euro! -, bisher keine Rede sein. Der gesamte Bereich
der kommunalen Investitionen - Infrastruktur, energetische Sanierung, Instandsetzung - liegt noch brach. Sie
müssen sich einmal klarmachen: Von den zur Verfügung
gestellten Mitteln in Milliardenhöhe sind bisher nur
12 Millionen Euro abgeflossen. Das heißt, dass diese
Konjunkturhilfe bei den kleinen Unternehmen und
Handwerksbetrieben in den Kommunen noch gar nicht
angekommen ist. Das muss sich dringend ändern. Die
Kommunen müssen jetzt schnell Aufträge vergeben, und
sie müssen - das gehört dazu - schnell zahlen können,
damit das Geld in den Unternehmen ankommt. Unternehmen mit vollen Auftragsbüchern bekommen auch
Kredite. Wir brauchen kein bürokratisches Monster, wie
Sie es mit der Vergabe der Kommunalkredite durch
Bund und Länder kreiert haben, sondern ein zügiges
Vorgehen, vor allem im Bereich der energetischen Sanierung.
Danke schön.
({6})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Olav
Gutting das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Die Europäische Zentralbank hat im Zuge der Finanzkrise seit Oktober 2008 die Zinsen um insgesamt
325 Basispunkte gesenkt - ein richtiger Schritt. Nun
muss auch dafür gesorgt werden, dass der Wirtschaft,
dem Mittelstand, aber auch den Verbrauchern weiterhin
genügend Kapital für Investitionen zur Verfügung steht.
Es wäre deshalb wünschenswert, wenn alle Kreditinstitute die Leitzinssenkungen schnellstmöglich an die Verbraucher und die Wirtschaft weiterreichen würden.
({0})
Ich glaube, insoweit sind wir uns hier im Hause alle einig.
Warum wird diese Zinssenkung von den Instituten
nun nicht eins zu eins weitergegeben? Es gibt zwar Auswirkungen auf den Markt; sie sind aber gering, weil die
Zinssenkungen der EZB nur bei denjenigen Banken wirken, bei denen das Kreditgeschäft durch Refinanzierungsmittel bei der EZB finanziert ist. Das zeigt sich vor
allem bei den Volksbanken, den Raiffeisenbanken und
den Sparkassen. Sie finanzieren ihre Kreditmittel oftmals nicht bei der EZB, sondern überwiegend am Markt,
und die Mittel auf dem Markt sind wiederum größtenteils Kundeneinlagen. Diese Kundeneinlagen sind mit
unterschiedlichen Fristigkeiten versehen, auf die sich
eine Zinssenkung frühestens bei der Fälligkeit auswirken
kann. Hinzu kommt, dass die flüssigen Mittel zum Beispiel bei den Volksbanken, die diese mit kurzen Laufzeiten bei ihrer Zentralbank angelegt haben, durch die Zinssenkungen ebenfalls sofort weniger Erträge erzielen.
Das heißt, bei sinkenden Zinsen bekommen die Banken
für ihre eigenen Einlagen bei anderen Instituten auch
weniger Zinsen. Deshalb ist es unredlich, wenn wir jetzt
alle Banken pauschal beschimpfen und ihnen vorwerfen,
dass sie die Zinssenkung nicht eins zu eins weitergeben.
Wir müssen schon genauer hinsehen. Entscheidend ist
dabei immer auch die Bilanzstruktur des jeweiligen
Geldhauses. Wenn ein Großteil der Einlagen von Kunden wegen vereinbarter Fristigkeiten sozusagen gar nicht
an den aktuellen Märkten hängt, dann verbilligen sich
die Refi-Mittel durch die Senkung des Hauptrefinanzierungssatzes so gut wie gar nicht oder eben nur mit einer
entsprechenden zeitlichen Verzögerung. Vor diesem Hintergrund würde eine erzwungene Weitergabe der Zinssenkung nicht nur die Ertragslage vieler Banken erheblich beeinträchtigen, sondern diese Banken nahezu in
den Ruin treiben. Das können wir nicht wollen.
Bei der Anpassung der variablen Zinsen bei Darlehen
und Kontokorrentkrediten sind immer die Bilanzstruktur
und damit auch die Entwicklung der Refinanzierungskosten der Bank über alle Produkte hinweg maßgeblich.
Sicherlich: Es gibt Institute in diesem Land, die die Zinssenkungen der EZB nicht in dem Umfang weitergeben,
wie sie es eigentlich könnten, weil es ihre Bilanzstruktur
zuließe. Diese Institute versuchen, aus der Situation Profit zu schlagen. Ich glaube, das ist nur vorübergehend
möglich; denn wer in diesem Bereich die Schraube überdreht, wird früher oder später vom Markt abgestraft.
Im Übrigen ist es doch so: Die Kunden haben die
Möglichkeit, von dem aktuell günstigen Zinsniveau bei
Konsumenten- und Wohnungsbaukrediten mit fester
Zinsvereinbarung zu profitieren. Wer seinen Dispositionskredit langfristig in Anspruch nimmt, kann seine
Zinsbelastung über eine Umschuldung in einen Konsumentenkredit merklich senken. Aber hier ist der Verbraucher gefordert, sich zu informieren und den Wettbewerb unter den Instituten zu seinen Gunsten zu nutzen.
Nun mag es in Krisenzeiten, wie wir sie haben, schmerzen, aber wir sollten es bei diesem Thema wirklich dabei
belassen, an die Banken zu appellieren; denn die schwarzen Schafe, die es in diesem Bereich gibt, wird der Wettbewerb früher oder später vom Markt drängen.
Dass dieser Wettbewerb funktioniert, zeigt sich auch
auf der anderen Seite: bei den Guthabenzinsen. Auch die
Zinssätze bei den Tagesgeldkonten sind nicht im gleichen Umfang zurückgegangen, wie der Leitzins gesunken ist.
Deshalb kann man abschließend sagen: Weniger Aufregung und mehr Aufklärung würden dieser Debatte sehr
guttun.
({1})
Das Wort hat der Kollege Bernd Scheelen für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ehe ich zum Thema der Aktuellen Stunde komme, will
ich doch noch eine Anmerkung zu dem Rundumschlag
der Kollegin Christine Scheel machen; sie hat das ja sehr
engagiert vorgetragen und sich dabei ziemlich in Rage
geredet.
({0})
- Es klang ein bisschen so, als wenn du dich in Rage geredet hättest; egal.
({1})
Das Thema „Konjunkturpaket II“ ist keines, bei dem
man sich in Rage reden muss, sondern ganz im Gegenteil: Es ist ein Thema, bei dem Applaus angesagt ist.
({2})
Das Konjunkturpaket II ist eine tolle Sache. Es hilft den
Kommunen. Wenn man mit Vertretern der Kommunen
spricht, dann hört man eigentlich nur Lob für dieses
Konjunkturpaket II. Den Kommunen werden Mittel zur
Verfügung gestellt, die der Bund alleine schultert. Das
finden die Kommunen gut, und das kann man auch verstehen.
({3})
Mit den Geldern können, wollen und müssen die
Kommunen die energetische Sanierung insbesondere ihrer Schulen finanzieren. In den Schulen führt man solche
Maßnahmen in der Regel in den Sommerferien durch.
Da die Sommerferien gerade erst vor der Tür stehen, ist
klar, dass noch nicht sehr viele Mittel abgeflossen sein
können. Das wird sich dramatisch ändern. Im Gesetz haben wir auch vorgesehen, dass die Hälfte der gesamten
Programmmittel, wenn es eben geht, bis Ende des Jahres
zu investieren ist. Ich bin zuversichtlich, dass das klappt.
Übrigens, die Bild-Zeitung hat vor kurzem eine Untersuchung zu genau dieser Frage in Auftrag gegeben.
Vor zwei Wochen ist man in dieser Untersuchung zu dem
Ergebnis gekommen: Das Paket beginnt zu wirken. - Man
hat uns - das ist bei der Bild-Zeitung schon etwas Besonderes - für dieses Paket gelobt; das sollte man einmal
festhalten.
Jetzt aber zum Thema der Aktuellen Stunde - ich
muss mich ein wenig beeilen; denn die Zeit läuft -: „Kritik der Bundesbank an überhöhten Kreditzinsen der
deutschen Banken“. Heute Morgen hat der Vorsitzende
des Finanzausschusses zu Beginn der letzten Sitzung
dieser Legislaturperiode eine kurze Bilanz gezogen und
festgestellt: Es war viel Arbeit in den letzten vier Jahren. Das war immer schon so, auch in den vorherigen Legislaturperioden, aber insbesondere natürlich im letzten
Jahr bedingt durch die Finanzkrise. Wir alle gemeinsam
haben im Finanzausschuss, im Haushaltsausschuss und
auch hier im Plenum mit dem Bankenrettungsschirm
eine Menge Arbeit gehabt. Diesen haben wir nicht aufgespannt, weil es uns Spaß gemacht hat, sondern weil
das die einzige Möglichkeit war, das Bankensystem vor
dem Kollaps zu bewahren und damit auch die Einlagen
der Sparerinnen und Sparer, die Einlagen von Versicherungen, von Lebensversicherungen, von Krankenversicherungen und anderen, zu sichern. Das hat, wie ich
glaube, ganz gut funktioniert.
Wir gehen in dieser Woche einen weiteren Schritt,
und zwar am Freitag mit dem Bad-Bank-Gesetz, um den
Banken nun wirklich auch jede Möglichkeit zu geben,
ihrer eigentlichen Aufgabe nachzukommen, nämlich
Kredite zu vergeben. Die EZB hat diese Politik der Bundesregierung, aber auch vergleichbare Politiken anderer
europäischer Regierungen durch eine Zinssenkungspolitik begleitet: Der Leitzins wurde von 3,75 Prozent im
Oktober letzten Jahres in mehreren Stufen bis heute auf
1 Prozent gesenkt. Außerdem hat sie in der letzten Woche die Märkte sozusagen mit Geld überschwemmt und
geflutet. Geld ist also da; Liquidität ist vorhanden. Das
heißt, die Bundesregierung, das Parlament und die EZB
haben ihre Hausaufgaben gemacht. Es liegt jetzt an den
Banken, ihrer Verantwortung auch gerecht zu werden.
Die Aufgabe von Banken ist, Kredite zu vergeben. Wenn
sie das nicht tun, haben sie ihre Existenzberechtigung
verloren. Ihre einzige Aufgabe ist, Kredite zu vergeben.
({4})
Wir haben ihnen dazu das Instrumentarium an die Hand
gegeben.
Zu dem Problem, das unter dem Stichwort „Kreditklemme“ diskutiert wird, gibt es zwei Meinungen: Die
eine lautet, es gibt sie. Die andere lautet, es gibt sie
nicht. Ich glaube, die Wahrheit liegt dazwischen. Es gibt
keine allgemeine Kreditklemme. Kollegin Arndt-Brauer
hat ja vorhin darauf hingewiesen, dass viele Banken,
Sparkassen, aber auch Genossenschaftsbanken, in diesem ersten Halbjahr mehr Kredite als im Vergleichszeitraum des vorigen Jahres ausgereicht haben. Wir hören
aber umgekehrt aus der Wirtschaft, dass dort das Empfinden vorherrscht, dass Kreditlinien gekürzt werden,
dass es schwieriger ist, an Kredite zu kommen, und dass
höhere Zinsen verlangt werden. Ich glaube, beides ist
richtig. Dass im Einzelfall höhere Zinsen verlangt werden, will ich gar nicht kritisieren. Da muss man genau
hinschauen. Wir haben mit Basel II ja beschlossen, dass
Kreditrisiken bewertet werden müssen und eine risikoadäquate Bepreisung der Kredite erfolgen muss. Das
will ich also nicht kritisieren.
Darüber hinaus muss man aber feststellen, dass die
Banken insgesamt viel zu vorsichtig bei Kreditvergaben
sind. Man muss auch festhalten, dass die Wirtschaftskrise gleichsam ein Kollateralschaden der Bankenkrise
ist. Ohne Bankenkrise hätten wir keine Wirtschaftskrise.
Also stehen die Banken aus meiner Sicht in einer ganz
besonderen Verantwortung; denn von ihnen ging die
Krise aus, und sie müssen nun auch dabei mithelfen,
dass diese Krise überwunden wird.
Dass die jetzige Lage für die Wirtschaft noch nicht
dramatisch ist - nichtsdestotrotz kann sie noch dramatisch werden -, hängt möglicherweise damit zusammen,
dass die Fremdfinanzierungsquoten, Herr Kollege Thiele
- damit komme ich auf Ihre Ausführungen zurück -,
heute deutlich besser als in den 80er-Jahren sind, als Sie
regierten. Damals lagen die Fremdfinanzierungsquoten
der deutschen Industrie im Durchschnitt bei etwa
85 Prozent, heute liegen sie im Durchschnitt bei etwa
60 Prozent. Das ist im Vergleich zwar immer noch hoch,
aber die Situation insgesamt hat sich deutlich verbessert.
({5})
Das hat dazu beigetragen, dass die Unternehmen jetzt
ganz gut durch die Krise kommen. Dafür hat sicherlich
auch - der Zuruf von Staatssekretär Diller ist völlig richtig - das Steuerrecht gesorgt. Früher war es günstiger,
sich hoch zu verschulden. Heute ist es günstiger, sich
nicht so hoch zu verschulden. Wir sind hier also gemeinsam wohl auf dem richtigen Weg.
({6})
Kollege Scheelen, ich kann jetzt leider keine Zeitkredite ausreichen. Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ja, ich komme sofort zum Schluss. Ich bin eigentlich
am Schluss meiner Rede. Ich will zum Ende nur noch sagen: Wir appellieren heute an die Banken. Ich glaube,
der Weckruf des Bundesbankpräsidenten Weber ist zur
rechten Zeit gekommen.
({0})
- Er hat es jetzt noch einmal deutlich gemacht. - Der
Bundesfinanzminister und die Verbraucherministerin haben in dieselbe Kerbe geschlagen. Es liegt jetzt an den
Banken, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Dabei
wollen wir sie gerne unterstützen.
Vielen Dank.
({1})
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Julia
Klöckner das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die derzeitige Arbeitsteilung, wonach die
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die Bürgerinnen
und Bürger, für die solidarische Beschaffung des Geldes
und die Banken für die individuelle Verwaltung der
Schatztruhe zuständig sind, funktioniert nicht. Das führt
zu erheblichen Unruhen. Jeder von Ihnen, der im Wahlkreis unterwegs ist, kennt sicherlich folgende Situation:
Man kommt mit Unternehmerinnen und Unternehmern
oder Verbraucherinnen und Verbrauchern ins Gespräch,
die sich darüber ärgern, dass sie recht niedrige Zinsen
bekommen, wenn sie Geld bei einer Bank anlegen, aber
ein Vielfaches dieser Zinsen zahlen müssen, wenn sie zu
derselben Bank gehen und Geld leihen wollen.
({0})
Natürlich liegt zwischen Spar- und Kreditzinsen eine
Marge, aber die Frage ist, ob diese angemessen ist.
Dass es, wenn die Leitzinsen gesenkt werden, sehr
lange dauert, bis die Kreditzinsen der Banken, wenn
überhaupt, angepasst werden - Frau Heinen hat eben erwähnt, dass diese bei der Berliner Sparkasse sogar noch
erhöht wurden -, dass aber, wenn die Leitzinsen angehoben werden, diese Erhöhung sofort weitergegeben wird,
erinnert mich sehr an die Kopplung des Gaspreises an
den Ölpreis: Herauf geht es schnell, herunter aber nur
langsam und selten.
Wir werden uns in dieser Woche noch mit vielen Themen beschäftigen, bei denen es um das Verhältnis zwischen Verbraucherinnen und Verbrauchern und Banken
geht. Im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz wurde heute die Verbraucherkreditrichtlinie behandelt. In Zukunft darf in Zeitungsanzeigen
oder anderen Werbebotschaften für Kredite nicht mehr
mit Lockzinsen geworben werden, die eigentlich für
kaum einen Antragsteller gelten. Die meisten haben
nicht einen Zins von 2 Prozent, sondern von 12 Prozent
oder 14 Prozent zu zahlen. Dies werden wir ändern. Derartige Lockvogelangebote darf es zukünftig nicht mehr
geben. Vielmehr muss der versprochene Zinssatz in zwei
Dritteln der Fälle auch tatsächlich verfügbar sein. Über
das Schuldverschreibungsgesetz werden wir am Freitag
diskutieren; darauf möchte ich jetzt nicht eingehen.
Die Verbraucher, die Unternehmer und wir Politiker
sehen es nicht länger ein, an der Nase herumgeführt zu
werden. Es darf nicht sein, dass just diejenigen die Sieger in der Finanzkrise sind, die in erheblichem Maße zu
ihrer Verursachung beigetragen haben. Es ärgert mich
sehr, wenn diese jetzt die größten Profiteure der Krise
sind. Deswegen freue ich mich über die klaren Worte
von Herrn Weber; Kollege Otto Bernhardt wird später
darauf noch eingehen.
Ich bin sehr erstaunt darüber, dass die Commerzbank
jetzt einen Sprechzettel mit Argumenten vorbereitet hat,
mit denen man auf diese Debatte antworten kann; denn
an Argumenten fehlt es doch gerade.
Ich finde, dass die Kritik gerechtfertigt ist. Da die
Banken für die Kreditvergabe untereinander noch günstigere Konditionen als den Leitzins haben, kann es nicht
sein, dass uns immer wieder gesagt wird, dass die überhöhten Zinsen daran liegen, dass sie nicht günstig Geld
beschaffen könnten.
Mir drängt sich der Verdacht auf, dass die Banken das
billige Geld lieber irgendwo sicher anlegen, als es in
Verkehr zu bringen. Ich bin dankbar für die Arbeit der
Stiftung Warentest, die folgende Rechnung aufgemacht
hat: Zwischen Juni 2008 und April 2009 haben das billige Leihen von Geld und die Weitergabe zu nicht so
günstigen Bedingungen dazu geführt, dass die Banken
über zusätzliche 1,3 Milliarden Euro verfügen. Das ist
nicht im Sinne des Erfinders; denn das Geld kommt
nicht da an, wo es ankommen soll.
({1})
Letztlich geht es darum, dass wir alle etwas für das
Allgemeinwohl tun müssen. Es darf nicht sein, dass nach
dem Steuerzahler und dem Staat gerufen wird, wenn etwas in Schieflage gerät, und dass, sobald es besser wird,
die Gebührenkeule zuschlägt - hier wird die Asymmetrie erkennbar -, wenn ein Kleinkunde seinen Kredit abbezahlen muss und die Bank nicht wechseln kann. Das
ist weder fair noch vorausschauend, und es führt auch
nicht dazu, dass wir in Ruhe und solidarisch miteinander
agieren können. Es kann meiner Meinung nach nicht
sein, dass sich diejenigen, die Hilfe vom Staat bekommen, so verhalten, als seien sie die Herren der Schatztruhe. Ich finde es richtig, dass unsere Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner das Gebaren der Banken
jetzt in ihrem Haus untersuchen und dokumentieren
lässt. Denn die Union steht dafür, dass das Geld bei denen ankommt, für die wir es vorgesehen haben.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Doris Barnett für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben es gehört: Die Europäische Zentralbank hat
die Leitzinsen seit Oktober 2008 von 4,25 auf 1 Prozent
gesenkt, also in neun Monaten um 325 Basispunkte. Die
Banken im Euroraum können sich jetzt zum Hauptrefinanzierungssatz in jeder beliebigen Kredithöhe refinanzieren. Ziel ist, dass solvente Banken in die Lage versetzt werden, Kredite zu marktgerechten Konditionen an
Unternehmen und auch an private Haushalte zu vergeben. Das Kreditvergabeverhalten der Banken soll also
positiv beeinflusst werden.
Die Senkung der Leitzinsen durch die EZB muss an
den Kunden weitergegeben werden. Es ist sicherzustellen, dass die Wirtschaft genügend zinsgünstige Kredite
für notwendige Investitionen zur Verfügung hat. Eine
Kreditklemme - das wurde schon angesprochen - ist zu
verhindern; denn sie führt nur zu mehr Firmenpleiten
und Arbeitsplatzverlust.
Die Liquiditätsspritze hat also nicht in erster Linie das
Ziel, die Banken aus der von ihr mitverursachten Krise
zu retten oder sogar deren Gewinn zu erhöhen, sondern
sie dient der Realwirtschaft mit kostengünstigen Krediten, um die Konjunktur wieder zum Laufen zu bringen
bzw. am Laufen zu halten. Nicht ohne Grund überlegt
jetzt Bundesbankpräsident Weber, dass in dem Fall, dass
die niedrigen Zinsen nicht weitergegeben werden, die
Wirtschaft direkt gestützt werden muss, wie es auch in
den USA jetzt geschieht. Die dortige Notenbank kauft
die Papiere der Unternehmen direkt, um so unmittelbar
in das Marktgeschehen einzugreifen. Selbst der ifo-Chef,
Herr Sinn, bemerkt, dass seiner Meinung nach die Banken darauf hinsteuern, das Geld eher zu horten und anzulegen, als es in den Wirtschaftskreislauf zu pumpen. Dagegen verweist der Präsident des Bundesverbands
deutscher Banken, Andreas Schmitz, darauf, dass die
Bonität der Kunden während der Rezession sinkt und
deswegen die Banken zögerlich bei der Kreditvergabe
sind.
Daraus erwächst aber die Gefahr, dass eine Spirale in
Gang gesetzt wird: Wenn die Außenstände der Unternehmen hoch sind, weil die Zahlungsmoral ihrer Kunden, von denen sie abhängig sind, schlecht ist, da diese
sich durch längere Zahlungsziele Vorteile verschaffen
wollen, dann haben die Unternehmen oft nur sehr
knappe Betriebsmittel und brauchen, um ihrerseits Rechnungen bezahlen und Investitionen tätigen zu können,
Geld von der Bank. Aber weil ihnen plötzlich die Luft
ausgegangen ist, werden sie von den Banken heruntergestuft und kommen noch schwerer an Kredite, was bis zur
Insolvenz führen kann.
Noch schlimmer sieht es derzeit bei Existenzgründern
aus. Sie haben oft keine gute Bonität, weil ihr Unternehmen erst kürzlich gegründet wurde bzw. sie viel zu kurz
am Markt sind. Dabei bemängeln wir doch ständig, dass
die Gefahr besteht, dass Deutschland zu einer Gründungswüste wird.
Die Politik hat ihre Hausaufgaben gemacht. Wir haben mit dem Konjunkturpaket I die Stabilisierung des
Bankensystems erreicht, und das Gesetz zur Bad Bank
werden wir wahrscheinlich noch in dieser Woche verabschieden. Ich weiß, dass die Mittel, die wir in den Kreislauf gegeben haben, eine erhebliche Belastung für die
öffentlichen Haushalte sind, weshalb wir für die Banken,
die Geld von uns bekommen, entsprechende Auflagen
und eine Aufsicht vorgesehen haben.
Durch das Konjunkturpaket II - darüber wurde ebenfalls schon gesprochen - werden der Arbeitsmarkt, die
Privathaushalte und, nicht zu vergessen, auch die Kommunen stabilisiert. Was wir jetzt brauchen, ist ein Mitmachen der Banken; denn sie sind Teil des Systems und
können sich nicht aus der Verantwortung stehlen.
Die günstigen Bedingungen, die die Europäische Zentralbank für die Banken schafft, müssen - ich sage es
noch einmal - von diesen weitergegeben werden. Denn
gerade die Banken haben jetzt die Verpflichtung, mitzuhelfen, den Wirtschaftsmotor zum Laufen zu bringen
bzw. am Laufen zu halten; sie dürfen ihn nicht abwürgen. Vorsicht, wie Sie vorhin gesagt haben, ist für Banken sicherlich angeraten. Aber wer sie als Monstranz, als
Grund für Kreditversagung vor sich herträgt, schadet
letztendlich sich selbst.
({0})
Genauso ist es auch unangemessen, wenn Banken
jetzt von zweistelligen Renditen reden, die sie wahrscheinlich teilweise dank des EZB-Geldes erwirtschaften. Sie sollten die Zinssenkungen der EZB an ihre Kunden weitergeben. Nur das ist gerecht und in dieser Krise
ein wichtiges Mittel, um die private Nachfrage anzukurbeln.
Ich frage mich deshalb: Wie lange gibt es noch hohe
Renditen in der Finanzwirtschaft, in dieser irrealen, virtuellen und nicht existierenden Wirtschaft, während die
Realwirtschaft in die Knie geht, weil ihr die Mittel für
Investitionen ausgehen?
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Eckhardt Rehberg für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Die Wahrnehmung von Kredithürden und Kreditklemmen ist natürlich sehr unterschiedlich. Die letzten
Untersuchungen des Ifo-Instituts von Ende Juni zeigen,
dass 54 Prozent der Unternehmen mit über 1 000 Beschäftigten - es sind nicht so sehr die kleinen und mittelständischen Unternehmen, Kollege Thiele - eine Kredithürde beklagen. Die letzte Umfrage von den Industrieund Handelskammern kommt im Prinzip zu dem gleichen Ergebnis.
Auf dem Geldmarktsektor gibt es drei Säulen: Privatbanken, Sparkassen und Volksbanken. Die Privatbanken
refinanzieren sich überwiegend auf dem Interbankenmarkt. Auf diese trifft der Vorwurf des Bundesbankpräsidenten Weber ohne Wenn und Aber zu. Die Sparkassen
und die Volksbanken refinanzieren sich überwiegend
nicht am Interbankenmarkt. Aber auch sie müssen Fragen beantworten; denn auch bei den Sparkassen sind die
Einlagenzinsen überwiegend nicht höher als 1 Prozent.
Es gibt keine wesentlichen Unterschiede bei Zinsen für
Ratenkredite, Überziehungs- oder Dispokredite im Vergleich zu denen der Privatbanken. Die Sparkassen haben
allein 111 Milliarden Euro mehr an Einlagen, als sie an
Krediten ausgereicht haben. Ich hebe hier deswegen auf
die Sparkassen ab, weil wir ja ihre besondere Bedeutung
für den Mittelstand sehen müssen. Die Sparkassen haben
schon wegen ihrer regionalen Verankerung eine deutlich
andere Funktion als Privatbanken. Außerdem gilt: Nicht
jede Sparkasse kann das Thema Landesbank als Problem
anführen.
Besonders spannend ist, was heute die Commerzbank
herausgegeben hat. Die Commerzbank, die unter den
staatlichen Schutzschirm gekommen ist, hat am 8. Mai
in einer Pressemitteilung geäußert, dass sie Schiffsfinanzierungen - dies betrifft unter anderem auch meinen
Wahlkreis - nur selektiv bzw. gar nicht mehr machen will.
Die Commerzbank sollte sich einmal genau das Finanzmarktstabilisierungsgesetz durchlesen. Was nun heute von
der Commerzbank herausgegeben worden ist, halte ich in
Teilen schlichtweg für Verdummung. Es wird davon gesprochen, der harte Wettbewerb um Spareinlagen von
Privaten habe dazu geführt, dass deren Zinssätze nach
dem Zusammenbruch von Lehman Brothers nicht gesunken seien und sie daher inzwischen über dem EZB-Leitzins lägen. Von Oktober 2008 bis Dezember 2008 lagen
die Zinsen für Festgeld noch bei 4 bis 5 Prozent. Wie
hoch sind sie heute?
Weiter heißt es dort, die Zentralbankzinsen würden
von den Banken derzeit genauso wirksam in Kreditzinsen übersetzt wie in der Vergangenheit. Der Kreditkanal
der Geldpolitik funktioniere also. Wer sich die Spreizung
zwischen dem EZB-Zinssatz in Höhe von 4,25 Prozent
zu den Hypothekenkreditzinsen vor einem Jahr anschaut, der erkennt einen Unterschied von 150 Basispunkten. Heute liegen die EZB-Leitzinsen bei 1 Prozent,
und die Zinsen für Kredite sind eher auf dem gleichen
Niveau geblieben. Deswegen kann ich nur an die Bank
appellieren, mit dieser Verdummung - ich nehme diesen
Begriff bewusst in den Mund - endlich aufzuhören.
Frau Kollegin Scheel, noch eine Bemerkung zum
Konjunkturpaket II. Die Baubetriebe bei mir vor Ort sagen mittlerweile: Macht nicht so schnell mit der Umsetzung. Wir haben im Augenblick noch genug Aufträge.
Es ist besser, wenn noch etwas für das nächste Jahr übrig
bleibt. - Insoweit glaube ich, dass man auch dieses Problem realistisch betrachten muss. Außerdem sagen sie:
An den Ausschreibungen merkt man, dass das Konjunkturpaket II vor Ort wirkt. - Hieran wird deutlich, dass
wir zielorientiert handeln.
Ich möchte einen weiteren Bereich ansprechen: die
Warenkreditversicherung. Hier handelt die Bundesregierung schnell. Sie hat heute im Wirtschaftsausschuss
vorgetragen, dass der Bund, weil sich die privaten Kreditversicherer aus dem Akkreditivbereich fast völlig zurückgezogen haben, eine Lösung finden wolle. Denn
wenn die Zulieferer keine Kreditversicherung mehr bekommen, dann ist Vorkasse sehr schnell ein Thema für
den Hauptauftraggeber.
Eine Abschlussbemerkung. Sicher gibt es eine weit
wahrnehmbare Kredithürde, aber noch keine flächendeckende Kreditklemme. Gleichwohl ist das gewichtige
Wort des Bundesbankpräsidenten richtig, dass sich die
Banken - so übersetze ich das - ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung stellen müssen. In diesem Sinne
verstehe ich auch diese Aktuelle Stunde.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Otto Bernhardt für die
Unionsfraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Deutsche Bundestag hat im Oktober des
vergangenen Jahres in einem Kraftakt einen 480-Milliarden-Euro-Schirm für die Banken gespannt. Wir haben
das nicht aus Liebe zu den Banken gemacht - das haben
wir damals alle erklärt -, sondern wir haben dieses Paket
beschlossen, damit die Banken weiterhin ihrer zentralen
Aufgabe, die deutsche Wirtschaft mit Krediten zu versorgen, nachkommen können. Einen kleinen Teil der
Aufgabe haben wir noch nicht gelöst. Das werden wir
am Freitag tun, indem wir den Banken die Möglichkeit
geben, sich von ihren schlechten Papieren zu trennen
und gegebenenfalls ganze Geschäftsbereiche auszusondern. Damit haben wir unsere Aufgabe erfüllt.
Die Europäische Zentralbank hat ihre Aufgabe auch
erfüllt. Sie hat zum einen die Zinsen deutlich gesenkt
und zum anderen in erheblichem Umfang neue Liquidität zur Verfügung gestellt. Außerdem hat sie sich bereit
erklärt - das ist fast ein wenig untergegangen -, die
442 Milliarden Euro, die jetzt in der Diskussion stehen,
den Banken für zwölf Monate zu geben. Bisher waren
das nur sechs Monate.
Trotz all dieser Anstrengungen stellen wir fest, dass
immer mehr Betriebe Probleme haben. Jeder kennt das
aus seinem Wahlkreis: Da kommt jemand in die Sprechstunde oder ruft an und sagt: Ich habe Probleme, Kredite
zu bekommen. - Alle drei Bankenverbände haben auf
die Kritik, die wir an die Bankenverbände gerichtet hatten, mit konkreten Zahlen geantwortet. Alle drei Bankenverbände haben gesagt, dass die von ihnen vertretenen Banken im ersten Quartal dieses Jahres Kredite in
einem etwas höheren Umfang vergeben haben als im
ersten Quartal des vergangenen Jahres. Trotzdem sage
ich: Es gibt zwar keine generelle Kreditklemme, aber in
vielen Bereichen gibt es sie dennoch.
Zwei Dinge muss man bei diesen Zahlen berücksichtigen: Der eine Punkt ist, dass sich fast alle ausländischen Banken von der Kreditvergabe in Deutschland
verabschiedet haben, zum Teil haben sie sich davon verabschieden müssen. Dadurch ist ein großes Loch entstanden. Der zweite Punkt ist, dass ich in schwierigeren
Zeiten, in Zeiten, in denen meine Kunden nicht so
schnell zahlen, die Kreditversicherer sich zurückziehen
und meine Umsätze zurückgehen, natürlich mehr Kredite brauche. Wenn Sie das zusammenfügen, kommen
Sie zu dem Ergebnis: Wir haben in einigen Bereichen
Probleme.
Nun ist mir klar, dass der Chef einer Sparkasse oder
einer Volksbank nicht volkswirtschaftlich entscheiden
kann und wird. In den Jahren, in denen ich Banken geleitet habe, ging es auch mir im Wesentlichen darum, sicherzustellen, dass mein Institut vernünftige Zahlen
schreibt. Der Chef einer Sparkasse oder einer Volksbank
kann nur betriebswirtschaftlich denken. Vor diesem Hintergrund haben wir ja KfW-Programme geschaffen, die
15 Milliarden Euro bzw. 100 Milliarden Euro umfassen.
Ich glaube nicht, dass es Sinn hat, jetzt zu Zwangsmaßnahmen überzugehen. Meiner Meinung nach ist der
Appell des Präsidenten der Deutschen Bundesbank zum
richtigen Zeitpunkt gekommen. Professor Weber genießt
Autorität in der deutschen Wirtschaft, und es ist fast besser, dass er auf diese Probleme aufmerksam macht. Es ist
schon bezeichnend, wenn der Präsident erklärt: Sollte
sich das verschärfen, denke ich darüber nach, ob ich direkt auf die Firmen zugehe, indem ich das mache, was in
Großbritannien und den USA getan wird, wo man nämlich direkt Unternehmensanleihen aufkauft. - Dies wäre
ein Weg; aber das hilft unserem Mittelstand - das sage
ich ganz vorsichtig - natürlich nur sehr begrenzt.
Bei allem Verständnis für betriebswirtschaftliche Entscheidungen von Banken und bei allem Verständnis dafür, dass die Risiken in einer Rezession beachtet werden
müssen - in einer allgemeinen Rezession nehmen die
Risiken natürlich zu; ich bin sicher, die einzelnen Bankdirektoren machen es sich nicht einfach -, appelliere ich
von dieser Stelle aus, ähnlich wie der Präsident der
Deutschen Bundesbank, an die Banken: Versucht in
eurem eigenen Interesse, ein bisschen mehr an dieser
Front zu machen; versucht, die Zinssenkungen ein Stück
mehr an die Kunden weiterzugeben! Ihr leistet damit einen Beitrag, der letztlich auch euch zugutekommt.
Herzlichen Dank.
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Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 2. Juli 2009,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.