Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich begrüße Sie alle herzlich und teile Ihnen mit, dass
es eine interfraktionelle Vereinbarung gibt, den gestern
überwiesenen Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 16/13366 statt an den Rechtsausschuss an den In-
nenausschuss zu überweisen. Sind Sie mit dieser Verein-
barung einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein.
Dann beginnen unsere Beratungen mit einem famosen
einvernehmlichen Beschluss über das gerade vorgetra-
gene Anliegen.
Nun rufen wir die Tagesordnungspunkte 53 a bis 53 c
auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur verbesserten steuerlichen Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen ({0})
- Drucksachen 16/12254, 16/12674 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Frank
Schäffler, Carl-Ludwig Thiele, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Korrektur der Unternehmensteuerreform
- Drucksache 16/12525 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
- Drucksache 16/13429 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Peter Flosbach
Carl-Ludwig Thiele
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/13440 Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider ({3})
Dr. Gesine Lötzsch
b) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Energiesteuergesetzes
- Drucksache 16/12851 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4})
- Drucksache 16/13416 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Schindler
Reinhard Schultz ({5})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/13441 Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider ({7})
Dr. Gesine Lötzsch
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({8}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Edmund Peter
Geisen, Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel
Happach-Kasan, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Agrardieselbesteuerung senken - Wettbewerbsnachteile der deutschen Landwirtschaft
abbauen
- Drucksachen 16/11670, 16/13416 Redetext
Abgeordnete Norbert Schindler
Reinhard Schultz ({0})
Zu verschiedenen Gesetzentwürfen liegen Änderungs- und Entschließungsanträge vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Gabriele Frechen für die SPD-Fraktion.
({1})
Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Beiträge zur Krankenund Pflegeversicherung müssen auf der Basis der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung in voller
Höhe steuerlich abziehbar sein, so ein Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts. Auch wenn die Entscheidung zu den Beiträgen einer privaten Krankenkasse erging, gilt es selbstverständlich auch für gesetzlich Versicherte, auch für die Beiträge von Kindern, Ehegatten und
eingetragenen Lebenspartnern.
Dem Struck’schen Gesetz folgend hat auch dieser Gesetzentwurf im parlamentarischen Verfahren wesentliche
Änderungen erfahren. Im Regierungsentwurf war vorgesehen, dass sonstige Versicherungsbeiträge wie Beiträge zur Unfall- und Haftpflichtversicherung künftig
nicht mehr abziehbar sein sollen. Eine Günstigerprüfung
sollte verhindern, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit mittleren und niederen Einkommen schlechtergestellt werden. Aber sie hätten durch das Gesetz
auch keine zusätzliche Entlastung erfahren. Das haben
wir geändert. Wir behalten die bisherige Höchstbetragsrechnung bei und erhöhen darüber hinaus den gemeinsamen Höchstbetrag für alle Vorsorgeaufwendungen, bis
zu dem die Beiträge steuerlich geltend gemacht werden
können, auf 1 900 Euro bzw. 2 800 Euro - bei Verheirateten das Doppelte. Das heißt, alle Versicherungsbeiträge, die bisher abzugsfähig waren, bleiben es auch in
Zukunft, und dies sogar in höherem Umfang. Übersteigen allein die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge
diesen Höchstbetrag, werden die tatsächlich geleisteten
Beiträge für einen Basisschutz angesetzt.
Der Bund der Steuerzahler krittelt, das entlaste nur
Ledige mit einem Einkommen von bis zu 21 600 Euro
und Verheiratete mit einem Einkommen von bis zu
44 400 Euro pro Jahr. Dazu kann ich nur sagen: Genau
das war der Plan.
({0})
Die Menschen mit höheren Einkommen werden durch
das Gesetz per se entlastet. Wir wollten aber gezielt auch
Menschen mit niedrigen Einkommen von diesem Gesetz
profitieren lassen.
Ja, wir setzen eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts um. Und: Ja, die Idee war nicht eine Idee
der Koalition. Es ist aber sehr wohl ein Verdienst dieser
Koalition, insbesondere der SPD-Bundestagsfraktion,
dass die Entlastungen nicht nur bei Gutverdienenden,
sondern auch bei Menschen mit mittleren und kleinen
Einkommen ankommen.
({1})
Das war im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
keinesfalls vorgesehen.
Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die
Ausweitung des Schulbedarfspakets, also der Zahlung
von 100 Euro zu jedem Schuljahresbeginn für Hefte,
Stifte und Bücher, für alles, was so richtig ins Geld geht,
bis zum 13. Schuljahr. Uns hat die Begrenzung bis zum
10. Schuljahr von Anfang an nicht so richtig eingeleuchtet. Darüber hinaus erweitern wir den Kreis der Anspruchsberechtigten um die sogenannten Aufstocker.
Von dieser kleinen, aber feinen sozialdemokratischen
- so sage ich das einmal - Änderung profitieren insgesamt 200 000 Kinder. Das ist ein weiteres Beispiel für
die Familienfreundlichkeit unserer Politik.
({2})
Wir erhöhen die Einkommensgrenze für die Berücksichtigung von Kindern und beziehen den Freiwilligendienst in das Bundeskindergeldgesetz ein; beides Maßnahmen zur Stärkung der Familien.
Mit diesem Gesetzentwurf stellen wir auch klar: Wer
Riester-Förderung für Genossenschaftsanteile in Anspruch nimmt, muss auch in einer Genossenschaftswohnung wohnen.
Günstigen Wohnraum für Mieter sollen die Genossenschaften zur Verfügung stellen. Doch immer
wieder tauchen dubiose Anbieter auf, die es auf das
Geld von ahnungslosen Kapitalanlegern abgesehen
haben.
Das ist nicht von mir, das stand so in der Welt. Geschäftemacher, die das hohe Vertrauen, das Genossenschaften
berechtigterweise genießen, für dubiose Geschäfte nutzen wollen, wollen nun die Riester-Förderung als Verkaufsargument aufbauen. Ich kann dazu nur sagen: Es
gibt Menschen, die den Gong bis heute nicht gehört haben.
({3})
Deshalb schützen wir mit diesem Gesetz Verbraucher,
Mieter, Riester-Sparer und Wohnungsgenossenschaften
gleichermaßen.
In dieser Krisensituation muss jede Vorschrift und jedes Ansinnen auf die Fähigkeit überprüft werden, ob es
krisenentschärfend wirken kann oder nicht. Reinhard
Schultz wird darauf näher eingehen. Ich möchte nur einen Punkt herausgreifen, der diese Voraussetzung meines Erachtens voll erfüllt und deshalb umgesetzt wird:
Wir verlängern die Möglichkeit der Istbesteuerung in
den neuen Bundesländern und heben für die neuen Bundesländer die Umsatzgrenze ebenfalls auf 500 000 Euro
an. Die Umsatzsteuer muss also erst gezahlt werden,
wenn auch die Rechnung bezahlt ist. Gerade in wirtschaftlich nicht so guten Zeiten werden Rechnungen oft
nicht so schnell bezahlt, wie sie sollen. Ich will das gar
nicht mangelnde Zahlungsmoral nennen; denn oft mangelt es gar nicht an der Zahlungsmoral, sondern an der
Zahlungsfähigkeit. Daher ist es richtig, den kleinen und
mittleren Unternehmen die Umsatzsteuer so lange zu
stunden, bis das Geld eingegangen ist. Diese Regelung
bringt kleinen und mittleren Unternehmen ebenso wie
Handwerksbetrieben einen Liquiditätsvorteil, der in der
Krise hilft, Arbeitsplätze zu schützen.
({4})
Denen, die immer fordern, die Hinzurechnungen für
Mieten und Pachten zu streichen, sage ich nur: Herr
Middelhoff lässt schön grüßen. Nicht die Gewerbesteuer
ist das Problem bei einer Innenstadtlage, sondern überzogene Mieten und unsinnige, teilweise unmoralische
Verträge, die nur Gewinnverschiebungen in die vermeintlich richtige Tasche bringen sollen.
({5})
Das müsste mittlerweile auch der allerletzte Parlamentarier gemerkt haben.
({6})
„In trüben Fällen muss derjenige wirken und helfen,
der am klarsten sieht“, sagt Goethe, und das sind, liebe
Kolleginnen und Kollegen, eindeutig wir.
({7})
Als Klarseher haben wir natürlich erkannt: Wenn wir
Änderungen in einem von uns beschlossenen und gewünschten Gesetz vornehmen, müssen wir eine Befristung einführen. Wenn wir krisenentschärfend wirken
wollen, müssen wir eine Befristung für die Dauer der
Krise vorsehen und nicht alles über Bord werfen, was
wir bis vor einem halben oder Dreivierteljahr als richtig
erkannt haben.
({8})
Ich möchte mich bei meinem Mitberichterstatter
Klaus-Peter Flosbach bedanken - es war eine sehr gute
Zusammenarbeit -, und ich möchte mich, weil es zum
Abschied ist, auch bei Otto Bernhardt für sieben Jahre
guter Zusammenarbeit im Finanzausschuss des Deutschen Bundestags ausdrücklich bedanken.
Herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Carl-Ludwig Thiele
für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Es ist erstaunlich, dass die
Koalition erklärt, sie entlaste die Bürger, und dass sie
sich dafür loben lassen will. Diese Entlastung erfolgt
durch die Umsetzung eines Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes.
({0})
Die Bürger sind nämlich über Jahre auf verfassungswidrige Weise zu hoch besteuert worden.
({1})
Das Bundesverfassungsgericht musste handeln, weil der
Gesetzgeber von sich aus überhaupt nicht daran dachte,
diese verfassungswidrige Besteuerungspraxis zu ändern.
({2})
Insofern ist diese Entlastung kein Gnadenakt und auch
kein gewollter Beitrag der Großen Koalition zur Konjunkturbelebung,
({3})
sondern eine vom Bundesverfassungsgericht erzwungene Entscheidung. Die FDP hat diese Entlastung in
ihrem Steuerkonzept im Übrigen schon seit langem gefordert, nicht erst nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes.
({4})
Ihre gesamte Argumentation - nicht nur Ihre, Frau
Frechen; wir diskutieren ja schon länger über dieses
Thema, und die Debatte hier im Plenum hat gerade erst
begonnen - ist widersprüchlich. Zum einen erklärt die
SPD, dass für Entlastungen der Bürger kein Geld da
sei, und zum anderen erklärt sie, es sei ihr Verdienst,
dass die Bürger gerade jetzt durch dieses Gesetz entlastet
werden. Finanzminister Steinbrück hat noch vor kurzem
deutlich gemacht, dass kein Spielraum für Entlastungen
vorhanden sei, aber hier möchte sich die SPD für Entlastungen feiern lassen. Was gilt denn nun: das, was Herr
Steinbrück sagt, das, was die SPD sagt, oder das, was die
Große Koalition im vorliegenden Gesetzentwurf formuliert hat?
Die Union ringt seit Monaten um ein Steuerkonzept.
Eine klare Linie ist leider bis zum heutigen Tage nicht zu
erkennen. Man hat nicht den Eindruck, dass hier eine geschlossene Partei agiert. Wenn man sich die Aussagen
Ihrer Ministerpräsidenten zur Steuerpolitik anhört, stellt
man fest: Die Union weiß bis heute nicht, was sie will.
Auch an die Adresse Union sage ich: Diese Entlastung
der Bürger ist weder ein Zeichen für den Steuerentlastungswillen der Union noch für eine neue Bescheidenheit des Staates.
Ursprünglich hatte die Bundesregierung geplant, im
Entwurf eines Gesetzes zur Bürgerentlastung die Absetzbarkeit der Arbeitslosenversicherungsbeiträge
und weiterer Vorsorgeaufwendungen zu streichen. Im
Gesetzestext wurde dieses Vorhaben aber überhaupt
nicht erwähnt. Davon war nur in wenigen Zeilen der Begründung am Ende des Gesetzespaketes die Rede. Die
FDP hat diese geplante Steuererhöhung der Bundesregierung für vorsorgetreibende Menschen aufgedeckt und
öffentlich gemacht. In der Anhörung wurde dieses Vorhaben der Koalition von vielen Sachverständigen kritisiert. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die
Absetzbarkeit von Vorsorgeaufwendungen zwar in gewissem Umfang beibehalten. Die zu berücksichtigenden
Beiträge sind aus unserer Sicht allerdings so niedrig,
dass schon jetzt davon auszugehen ist, dass weitere Verfassungsklagen erhoben werden.
({5})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die
FDP tritt dafür ein, dass die Menschen in unserem Land,
die arbeiten, die für sich und ihre Familie die Existenz
sichern und die mit ihren Steuern und Sozialabgaben die
Grundlage dafür schaffen, dass unser Staat überhaupt
funktioniert, nicht nur als Melkkühe der Nation angesehen werden.
({6})
Diese Menschen vertrauen zuerst auf sich selbst und ihre
Leistungsfähigkeit. Viele von ihnen sorgen vor und zahlen zusätzliche Versicherungsbeiträge: Beiträge zu Erwerbsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitsversicherungen, zu Unfallversicherungen, zu Risikoversicherungen
für den Todesfall, aber natürlich auch zu Haftpflichtversicherungen. Haftpflichtversicherungen sind wichtig;
denn sie gewährleisten, dass ein Schaden, den man jemandem zufügt und der für den Einzelnen unbezahlbar
hoch sein kann, von der Versicherung gedeckt ist.
Auf der einen Seite wird den Bürgern vom Staat gesagt: Sorgt vor! Auf der anderen Seite wird ihnen gesagt:
Wenn ihr vorsorgt, müsst ihr das aus versteuertem Einkommen tun. - Das kann nicht richtig sein. Dagegen
werden wir uns auch in Zukunft wenden und dies auch
im Wahlkampf zu einem unserer Themen machen.
({7})
Der vorgesehene Abzug der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge ist wenig praktikabel und sehr
bürokratisch, da auf die Tarifbezogenheit abgestellt
wird. Einfacher wäre es, im Hinblick auf die Berücksichtigung der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung in Anlehnung an die bestehenden Regelungen des
Sonderausgabenabzugs weitere Höchstbeträge auszuweisen, bis zu denen tatsächlich geleistete Beiträge als
Sonderausgaben von der Besteuerung freigestellt werden. Die maximale Höhe des Abzugsbetrages soll sich
dabei an den Höchstbeträgen orientieren, die in den jeweiligen gesetzlichen Versicherungen vorgesehen sind.
Durch eine konsequente Anwendung der gleichen
Höchstsätze sowohl für privat als auch für gesetzlich
versicherte Steuerzahler wäre die erforderliche Gleichbehandlung gewährleistet.
Bei Verabschiedung der Unternehmensteuerreform
- das ist ein Teil, der zusätzlich in dieses Gesetz gekommen ist - wurden seitens der Großen Koalition sogenannte Gegenfinanzierungsmaßnahmen beschlossen.
Diese Gegenfinanzierungsmaßnahmen müssen schnellstmöglich korrigiert werden. Es ist Irrsinn, Kosten steuerlich wie Gewinne zu behandeln und als Bemessungsgrundlage für die Steuerzahlung zu verwenden. In der
derzeitigen konjunkturellen Situation wirken diese Maßnahmen wie eine Substanzbesteuerung. Sie wirken krisenverschärfend. Das ist das Letzte, was wir in der derzeitigen Situation gebrauchen können.
({8})
Deshalb hat die FDP einen eigenen Gesetzentwurf
eingebracht, der darauf angelegt ist, den steuerlichen
Unfug der Großen Koalition schnellstmöglich zu korrigieren. Der Gesetzentwurf der FDP hat das Ziel, Arbeitsplätze zu sichern und zu erhalten. Das sollte im Vordergrund stehen! Insbesondere in Krisenzeiten wie heute ist
dies dringend geboten.
Insofern begrüßen wir, dass die Große Koalition einzelne Verbesserungen auf den Weg gebracht hat. Die
Verbesserungen gehen allerdings nicht weit genug. Gerade die SPD hat weiter gehende Regelungen verhindert.
Zudem sind die steuerlichen Maßnahmen befristet: Ein
Teil gilt nur bis Ende dieses Jahres, ein anderer Teil nur
bis Ende nächsten Jahres. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, glauben Sie denn wirklich, dass
die Auswirkungen der Krise auf Betriebe mit dem Ende
dieses Jahres aufhören? Glauben Sie wirklich, dass die
von der FDP geforderte Erweiterung der Istbesteuerung, die gerade kleineren Unternehmen Liquidität verschafft, Ende 2011 beendet werden kann? Dadurch
würde den kleineren Unternehmen wieder Liquidität entzogen. Das wäre doch Unfug und ließe sich niemandem
erklären.
({9})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,
diese Große Koalition hat abgewirtschaftet. Sie ist nur
noch zu kleinsten gemeinsamen Kompromissen bereit,
aber nicht mehr in der Lage, die Weichenstellungen für
eine gute Zukunft unseres Landes, die gerade in diesen
schwierigen Zeiten notwendig sind, vorzunehmen. Einige Großkonzerne haben noch das Ohr der Kanzlerin
und des Finanzministers; aber die Belange des Mittelstandes kommen unter die Räder.
Der Unterschied zwischen Ihren Vorstellungen und
den Vorstellungen der FDP besteht darin, dass wir zuerst
auf die Kraft der Gesellschaft, der Arbeitnehmer und Arbeitgeber und insbesondere des deutschen Mittelstandes
zählen und erst dann auf den Staat. Der Staat sollte aus
unserer Sicht, indem er für alle Betriebe geltende steuerliche Verbesserungen vorsieht, die Rahmenbedingungen
für mehr Wachstum und Arbeitsplätze schaffen. Hierfür
werden wir uns insbesondere im Hinblick auf die bevorstehende Bundestagswahl einsetzen - damit Deutschland
wieder eine Regierung bekommt, die sich für eine Verbesserung unserer sozialen Marktwirtschaft einsetzt.
Herzlichen Dank.
({10})
Eduard Oswald ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Kollege Thiele - ich nehme es ihm nicht übel - hat die
Wahlreden für die nächsten Wochen geübt. Das ist verständlich; aber wir haben hier ein Gesetz zu verabschieden.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele reden über
eine Entlastung der Bürgerinnen und Bürger, wir machen sie.
({1})
Die heutigen Beschlussvorschläge sind kein heimliches
drittes Konjunkturpaket, wie eine Zeitung kürzlich vermutet hat. Mit dem Bürgerentlastungsgesetz Krankenversicherung befreien wir die Bürgerinnen und Bürger
auf Dauer von Belastungen. Wir setzen damit - da haben
Sie natürlich recht, Herr Kollege Thiele - die Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichts um, wir schaffen damit
aber auch mehr Gerechtigkeit in unserem Lande.
({2})
Mit diesem Gesetz werden die Bürgerinnen und Bürger um rund 10 Milliarden Euro im Jahr entlastet, ein
großer Schritt für mehr Freiheit und privaten Handlungsspielraum, eine Entlastung, die allen Leistungsträgern
- den Facharbeitern, überhaupt allen Steuerpflichtigen in
unserer Gesellschaft - Motivation gibt, eine Entlastung,
die den Menschen mehr Netto vom Brutto lässt.
({3})
Ein wichtiger Kern unserer Politik ist, Entlastungsspielräume bei Steuern und Abgaben konsequent zu nutzen. Ich nenne nur die Senkung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 Prozent auf 2,8 Prozent;
wir haben den Beitrag damit mehr als halbiert.
Die weltweite Finanzmarktkrise und der durch sie
ausgelöste konjunkturelle Abschwung sind die größten
wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen der
Nachkriegsgeschichte.
({4})
Jetzt sind Maßnahmen gefragt, mit denen die Auswirkungen der Krise abgefedert, aber zugleich auch die
Weichen für die künftige Entwicklung gestellt werden.
Wir haben mit unseren Konjunkturpaketen und den
Schutzschirmen für Wirtschaft und Arbeitsplätze unsere
Handlungsfähigkeit als Große Koalition bewiesen.
Mit dem nun zu behandelnden Entlastungspaket und
den darin enthaltenen Maßnahmen knüpfen wir nahtlos
an die bisherigen Entscheidungen an. 16,6 Millionen
Bürgerinnen und Bürger werden in einem Umfang von
10 Milliarden Euro entlastet. Steuerpflichtige, die ihre
Krankenversicherung selbst bezahlen müssen, können
sonstige Vorsorgeaufwendungen bis zu einer Höhe von
2 800 Euro steuerlich geltend machen, inklusive der Beiträge zu einer Basis-, Renten- und Pflegeversicherung.
Für alle anderen Steuerzahler gilt eine Obergrenze von
1 900 Euro. Liegen die Aufwendungen für die Basiskranken- und Pflegeversicherung höher, sind sie in jedem Fall steuerlich voll absetzbar.
Durch die unmittelbare Übertragung auf das Lohnsteuerverfahren mit Wirkung ab dem 1. Januar kommenden Jahres wird sichergestellt, dass die Entlastung sofort
in den Taschen der Bürger zu spüren ist.
({5})
Neben den bereits verabschiedeten Maßnahmen wird
auch die dadurch freigesetzte Kaufkraft dazu führen,
dass unsere Wirtschaft stimuliert wird.
Wir wollen, dass unser Land nach der Krise stärker ist
als vorher. Deshalb haben wir auch die Unternehmen
weiter entlastet, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich
im Wettbewerb zu behaupten und Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen. Darum geht es uns im Kern.
({6})
Wir haben die Erwartungen der Wirtschaft unmittelbar aufgegriffen. Kleinere und mittlere Betriebe mit einem Umsatz von bis zu 500 000 Euro im Jahr sollen die
Umsatzsteuer erst dann entrichten müssen, wenn ihre
Rechnungen auch tatsächlich bezahlt sind; das ist also
die sogenannte Istbesteuerung. Unternehmen können
die Umsatzsteuer derzeit auf Antrag nach den eingenommenen Beträgen berechnen, wenn der Gesamtumsatz im
Vorjahr nicht mehr als 250 000 Euro betrug. Für ostdeutsche Unternehmer gilt seit 1996 eine Grenze von
500 000 Euro. Diese Sonderregelung sollte bekanntlich
nur bis zu diesem Jahr gelten. Sie gilt nun bis Ende 2011
und wird auf alle Bundesländer übertragen.
({7})
Dadurch wird in dieser schwierigen Phase die Liquidität
geschont und gerade mittleren und kleineren Unternehmen geholfen.
Mit der zeitlich auf die Jahre 2008 und 2009 befristeten Einführung einer Sanierungsklausel bei der Verlustabzugsbeschränkung und der ebenfalls auf diese beiden
Jahre befristeten Anhebung der Freigrenze bei der Zinsschranke von 1 Million Euro auf 3 Millionen Euro wird
den Unternehmen geholfen, mit den Konsequenzen der
Finanz- und Wirtschaftskrise umzugehen.
Die Zinsschranke, die hier und bei uns im Finanzausschuss immer wieder leidenschaftlich diskutiert
wurde, soll in Zukunft für weniger Betriebe belastend
wirken. Bekanntlich trifft diese geltende Regelung nicht
nur viele Konzerne, sondern auch etliche Mittelständler.
Es zeigt sich, dass die Grenze einfach zu eng gefasst war.
Unternehmen, die im Saldo einen höheren Zinsaufwand
haben, laufen Gefahr, diese Kosten nicht komplett steuerlich geltend machen zu können. Mit der Korrektur könnten 600 von möglicherweise 1 600 Unternehmen nicht
mehr unter die Zinsschranke fallen. Das ist eine enorme
Verbesserung und Klarstellung, durch die wir zeigen,
dass den Unternehmen in diesen Zeiten die Luft zum Atmen gelassen wird - eine wichtige Entscheidung der
Koalition.
({8})
Die weltweite Krise trifft auch die landwirtschaftlichen Betriebe, gerade auf den weltweiten Lebensmittelmärkten. Wir werden in diesem Jahr den Landwirten
helfen können. Alle Betriebe profitieren ohne Einschränkung von dem günstigeren Mineralölsteuersatz. Landwirte zahlen pro Liter Agrardiesel eine Steuer von
40 Cent. Davon bekommen sie 21,5 Cent pro Liter erstattet. Allerdings gab es bisher einen Selbstbehalt pro
Betrieb von 350 Euro. Dieser wird auf zwei Jahre befristet entfallen. Auch die Deckelung auf 10 000 Liter vergünstigten Diesel pro Betrieb und Jahr wird für diesen
Zeitraum gestrichen. Mit dieser Regelung helfen wir, die
Existenz der landwirtschaftlichen Betriebe zu sichern,
die Pflege unserer Kulturlandschaft zu gewährleisten
und die Versorgung unseres Landes mit gesunden Lebensmitteln zu ermöglichen und sicherzustellen. Das ist
ein wichtiger und entscheidender Schritt.
({9})
Mit den heutigen Entscheidungen entlasten wir die
Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen um rund
13 Milliarden Euro. Damit werden die Kaufkraft der
Bürgerinnen und Bürger gestärkt und Impulse für wirtschaftliche Dynamik gegeben. Daneben verbessern wir
die Liquiditäts- und Ertragssituation der Unternehmen
und sichern und schaffen damit Arbeitsplätze.
Man kann vieles kritisieren. Manches geht uns auch
nicht weit genug. Dennoch sind die heutigen Entscheidungen sinnvolle und nötige Investitionen in unsere Zukunft.
Ich möchte den beiden Berichterstattern der Koalitionsfraktionen, Frau Kollegin Gabi Frechen und Herrn
Kollegen Klaus-Peter Flosbach, herzlich danken. Beide
haben im Detail eine hervorragende Arbeit geleistet. Wer
sich mit den gesetzlichen Feinheiten befasst, der sieht,
welche Detailarbeit dafür notwendig war. Herzlichen
Dank dafür.
({10})
Sie gestatten mir sicherlich auch, dass ich meiner
Kollegin Gabi Frechen als stellvertretender Vorsitzender
im Finanzausschuss für ihre Arbeit und die Unterstützung danke. Ich glaube, wir haben insgesamt im Finanzausschuss in allen Fraktionen eine sehr gute Arbeit geleistet.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort erhält nun die Kollegin Barbara Höll, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ausgangspunkt des Gesetzentwurfs war eine
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom Februar vergangenen Jahres. Sie bestärkte das Prinzip der
steuerlichen Freistellung des Existenzminimums.
Dazu gehört alles, was die Menschen auch für ihre gesundheitliche Vorsorge brauchen. Das ist eigentlich logisch, aber dem Bundesfinanzminister musste dies erst
vom Bundesverfassungsgericht verdeutlicht werden.
Nun setzen Sie die Vorgaben des Verfassungsgerichts
zwar um, aber an der grundsätzlichen Misere in der Gesundheitspolitik ändert sich rein gar nichts.
({0})
Zudem kostet das Ganze 9 Milliarden Euro. Finanzierungsvorschläge, die Sie von anderen gerne einfordern Fehlanzeige! Der Bundesfinanzminister hatte noch vor
einem Jahr das Versprechen abgegeben, eine gerechte
Finanzierung erreichen zu wollen. Dieses Versprechen
wurde gebrochen. Die Besserverdienenden sind wieder
einmal die großen Gewinner.
({1})
Durch den Abzug der Versicherungsbeiträge vom zu
versteuernden Einkommen werden obere Einkommensgruppen stark, mittlere Einkommensgruppen mittel und
niedrigere Einkommensgruppen nur gering entlastet. Bereits die Beitragsbemessungsgrenze bei den Krankenversicherungsbeiträgen hat zur Folge, dass die Bezieher und
Bezieherinnen hoher Einkommen nur auf einen Teil ihrer Einkünfte Versicherungsbeiträge zahlen. Durch die
jetzige Regelung verschärfen Sie die Ungerechtigkeit
noch. Die solidarische Finanzierung wird schlicht
missachtet. Das lehnen wir ab.
({2})
Die Linke hat Vorschläge vorgelegt, wie man das
Ganze sozial gerechter angehen kann. Lesen Sie das
noch einmal nach! Es wäre durch die Anhebung der
steuerlichen Freistellung des Existenzminimums möglich gewesen. Das wäre sozial gerechter.
Sie können die Bürgerinnen und Bürger nicht länger
täuschen. Sie wissen, dass das dicke Ende erst nach dem
27. September kommen wird. Seit Jahren machen Sie
eine Gesundheitspolitik, durch die die Kosten auf die Patienten verlagert werden, indem Sie die paritätische
Finanzierung de facto schon heute aufgehoben haben,
sodass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer etwa 65 Prozent der Kosten zu tragen haben, während sich die Arbeitgeberseite nur noch mit 35 Prozent beteiligt. Das lehnen wir ab.
({3})
Versicherte müssen heute einen Sonderbeitrag zahlen.
Sie müssen die Praxisgebühr und Zusatzleistungen beDr. Barbara Höll
zahlen und Zuzahlungen bei Medikamenten leisten. Das
alles ist unsozial. Wir verlangen eine gesetzliche Krankenversicherung für alle, die von allen solidarisch entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit getragen wird
({4})
Warum sollte nicht auch ein Herr Ackermann auf sein
gesamtes monatliches Einkommen einen ordentlichen
Beitrag zur Krankenversicherung zahlen?
({5})
Was Sie hier machen, ist vor allem reines Wahlkampffeuer. Zu diesem Schluss kommt man, wenn man sich
daran erinnert, dass Sie zum 1. Januar dieses Jahres die
Beiträge für etwa 80 Prozent der Versicherten massiv angehoben haben. Ihnen nun zum 1. Juli eine Senkung in
Höhe von gerade 0,6 Prozentpunkten im Rahmen des
Konjunkturpaketes II zukommen zu lassen, ist nichts anderes als Wahlkampf, nicht mehr, und gleicht die Mehrbelastungen von Anfang des Jahres überhaupt nicht aus.
Die Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik
wollen ein solches Krankenversicherungssystem nicht.
Sie wollen ein solidarisches Krankenversicherungssystem. Sie lehnen die zur Diskussion stehende Einführung von Altersgrenzen zum Beispiel für Hüftgelenkoperationen ab. Sie lehnen es auch ab, ärztliche
Leistungen und Medikamente vorzufinanzieren. Es gibt
entsprechende Umfragen, die das belegen. Es gibt aber
auch eindeutige Zeichen dafür, dass diese Gedankenspiele bei Verantwortungsträgern sowohl in der Politik
als auch in anderen Bereichen massiv auf dem Vormarsch sind. Wir müssen nur warten, bis sie so dreist
sind, dies umzusetzen. Wir wollen eine andere Medizin,
keine Zweiklassenmedizin. Wir wollen ein solidarisches
Krankenversicherungssystem, in dem Gutverdiener für
Geringverdiener, Junge für Alte, Gesunde für Kranke
eintreten. Das heißt, jeder und jede zahlt, vom Pförtner
bis zum Millionär.
({6})
Als Sofortmaßnahme zur Entlastung der Krankenversicherung haben wir Ihnen nochmals vorgeschlagen, die Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Krankenversicherung wenigstens auf das Niveau
der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung
West anzuheben. Das bedeutet eine Anhebung von derzeit 3 675 auf 5 400 Euro. Warum denn nicht? Warum
zahlen Abgeordnete, die wie ich in der gesetzlichen
Krankenversicherung sind, nicht auf ihre gesamte Entschädigung Beiträge, sondern nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze?
({7})
Wir selber sind aufgrund dieser Gesetzeslage aus der solidarischen Finanzierung raus. Dem ist endlich Einhalt
zu gebieten.
({8})
Ihr Gesetzentwurf enthält allerdings auch Verbesserungen. Deshalb werden wir uns enthalten.
({9})
Es gibt eine Verbesserung, auf die wir stolz sind; denn
die Linke hat wesentlich dazu beigetragen, dass es hier
noch zu einer Veränderung kam. Sie sehen nämlich endlich ein, dass auch Kinder aus Familien, die kein allzu
hohes Einkommen haben, Abitur machen. Es sind leider
nicht so viele, weil das deutsche Bildungssystem in
höchstem Maße sozial selektiv ist. Aber es gibt positive
Beispiele. Deshalb ist es richtig und notwendig, dass wir
die Möglichkeit zur Inanspruchnahme des Schulstarterpakets bis zum Ende der Schulausbildung, bis zum Abitur, ausweiten.
({10})
Wir haben Sie nämlich darauf hingewiesen, dass nicht
nur Familien, die Hartz IV beziehen, unzureichende finanzielle Mittel zur Verfügung haben, sondern dies auch
für Familien gilt, die das Recht haben, für ihre Kinder
Kinderzuschlag zu beantragen. Auch diese werden nun
einbezogen. Erst aufgrund unserer Anfragen sind Sie
sich dieses Problems überhaupt bewusst geworden.
({11})
Ich weiß nicht, ob Sie wissen, worüber ich rede. Für
ein Kind, das heute in Sachsen in die Schule kommt,
müssen allein für die Arbeitsmaterialien - und das bei
Schulbuchfreiheit - 50 Euro aufgebracht werden. Ein
Taschenrechner, den man in der 11. Klasse benötigt, ist
nicht für unter 100 Euro zu bekommen. Oft muss man
130 Euro hinlegen. Das ist die Realität. Deshalb ist die
Ausweitung des Schulstarterpakets notwendig. Damit
machen wir wenigstens einen kleinen Schritt in die richtige Richtung.
Bei der Erhöhung der Einkünfte- und Bezügegrenze
für das Kindergeld haben Sie schlicht und ergreifend
gepfuscht. Darauf hat Sie der Bundesrat hingewiesen;
darauf haben wir Sie hingewiesen. Es ist nämlich nicht
erklärlich, warum die nun vorgesehene Anhebung der
Freigrenze beim Einkommen der Kinder - damit der
Kindergeldbezug aufrechterhalten werden kann - nicht
gleichzeitig zur jetzt vorgesehenen zweistufigen Anhebung des steuerlichen Grundfreibetrages erfolgt. Das ist
überhaupt nicht verständlich.
In dem Gesetzentwurf begehen Sie aber eine weitere
Dreistigkeit. Herr Oswald hat das eben als tolle Entlastung verkauft.
({12})
Sie haben eine Unternehmensteuerreform verabschiedet,
durch die Unternehmen allein aufgrund der Senkung des
Körperschaftsteuersatzes um 8 Milliarden bis 10 Milliarden Euro pro Jahr entlastet werden.
({13})
- Stimmt, das ist eine Riesenentlastung. - Die Zinsschranke sollte einerseits die steuerlichen Umgehungsmöglichkeiten einschränken und andererseits Teil der
Gegenfinanzierung sein. Jetzt wird sie einfach ein Stück
weit aufgehoben. Die Argumente von damals interessieren nicht mehr. Das, was Sie zuvor groß versprochen haben, machen Sie bei der ersten Gelegenheit, bei der es
möglich ist, wieder rückgängig. Das ist eine Politik, die
unsolide ist
({14})
und die eindeutig zeigt, dass Sie nicht wirklich gegen
Steuerhinterziehung vorgehen wollen.
({15})
Sie verabschieden in dem Gesetzespaket eine Änderung der Regelungen zum Agrardiesel. Wir stimmen
dem Passus ausdrücklich zu; denn es freut uns, dass Sie
unserer Argumentation folgen und nun endlich sowohl
den Selbstbehalt in Höhe von 350 Euro als auch die
Kappungsgrenze für die Dieselrückvergütung streichen,
was insbesondere die großen Betriebe im Osten betrifft.
Eine Kappungsgrenze hätte nämlich eine Diskriminierung der großen Genossenschaften, die wir noch in den
neuen Bundesländern haben, gegenüber den kleinen
oder mittleren Familienbetrieben bedeutet.
Aber das prinzipielle Problem der Ungerechtigkeit,
die in der unterschiedlichen Entwicklung zwischen den
Produktionskosten und den Erzeugerpreisen der Bäuerinnen und Bauern liegt, ist damit natürlich nicht gelöst.
Die Befristung für diese zwei Regelungen im Gesetz
muss dazu führen, dass nach Auslaufen dieser Frist das
Problem grundsätzlich angepackt wird. Dazu müssen
Hausaufgaben gemacht werden: Ich nenne als Beispiele
die Umstellung der Landmaschinenflotte auf Biokraftstoffe aus der regionalen Produktion, damit es
nicht zur Zerstörung des Regenwaldes in anderen Erdteilen kommt. Dazu brauchen wir endlich Konzepte, die
Sie mit den Betroffenen diskutieren müssen. Es kann
nicht sein, dass Milchbäuerinnen und Milchbauern erst
in den Hungerstreik treten müssen, damit die Politik
überhaupt reagiert.
Ihr Gesetzespaket führt insgesamt zu einer Entlastung; diese ist aber sozial ungerecht ausgestaltet. Sie haben einerseits eine völlig ungerechtfertigte Entlastung
der Unternehmen vorgenommen. Beim Agrardiesel haben Sie andererseits eine richtige Regelung getroffen.
Deshalb werden wir uns insgesamt enthalten und hoffen,
dass Sie endlich einmal über soziale Gerechtigkeit nachdenken.
Danke.
({16})
Das Wort für die Bundesregierung hat nun der Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück.
({0})
- Entschuldigung, ich war bei dem Bemühen um zügige
Abwicklung der Tagesordnung den Ereignissen schon
voraus. Aber es gibt ja, wie Sie sehen, überhaupt keinen
Streit darüber, dass Sie, Frau Scheel, nun das Wort erhalten. - Bitte sehr.
({1})
- Selbst diese fröhliche Hoffnung der Kollegin ScheweGerigk findet nun ihren Weg ins Protokoll.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Um es klar zu sagen:
Ich werde jetzt nicht für die Bundesregierung sprechen,
sondern für meine Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir politisch Verantwortlichen müssen
der Bevölkerung, den Beschäftigten und der Wirtschaft
Perspektiven aufzeigen, wie es mit unserem Land weitergehen soll. In diesem Zusammenhang muss man klar
sagen, dass die verschiedenen Entscheidungen, die in
diesem Hause in dieser konjunkturell schwierigen Zeit in
den letzten Monaten getroffen worden sind, zusammen
gesehen werden müssen, aufeinander abgestimmt sein
sollten und letztendlich den Menschen eine Orientierung
geben und eine Perspektive aufzeigen müssen.
({1})
Dies ist leider wieder nicht geschehen.
Klimaexperten haben gesagt, die Konjunkturpakete
seien nicht grün genug. Das sagen auch Ökonomen.
China investiert 4,8 Prozent seiner Wirtschaftsleistung
in grüne Konjunkturmaßnahmen, die USA immerhin
noch 0,8 Prozent, Deutschland nur 0,4 Prozent. Das
zeigt uns, dass die Union und auch die SPD finanzielle
Ressourcen verprassen, wie das in den letzten Konjunkturpaketen zum Beispiel mit dieser unsäglichen Abwrackprämie geschehen ist, und die Chancen verpassen.
({2})
Das kritisieren wir auch an dem Paket, dass jetzt vorgelegt wird.
Man muss ganz klar sagen: Es geht hier nicht um ein,
zwei Gesetze, die verabschiedet werden, sondern innerhalb dieser Gesetze sind sehr viele verschiedene Regelungen getroffen worden, sodass man mit Berechtigung
von einem Konjunkturpaket III sprechen kann. Es ist
wieder nur Stückwerk, es gibt wieder keine strukturellen
Verbesserungen, es findet sich wieder das Gießkannenprinzip statt gezielter Zukunftsinvestitionen. Daran sieht
man, dass die Koalition mit viel Steuerzahlergeld die
Probleme zukleistert, anstatt den Unternehmen wirklich
zu helfen, den Wandel, den sie vollziehen müssen, zu bewältigen.
({3})
Dies zeigt sich auch am Beispiel Agrardiesel.
Phase 1: Wegen abstürzender Milchpreise sind viele Inhaber von Milchviehbetrieben auf die Straße gegangen;
die Bäuerinnen waren mehrere Tage und Nächte lang
hier in Berlin. Phase 2: Der Bauernverband holt seine
Uraltforderungen nach Steuererleichterungen beim
Agrardiesel aus der Rumpelkammer. Phase 3: Die Koalition überreicht dem Bauernverband die geforderten
Steuererleichterungen als Wahlgeschenk, ohne dass dies
irgendeinen Sinn hinsichtlich der Zukunft unserer Landwirtschaft macht.
({4})
350 Euro pro Betrieb werden zurückerstattet, sehr verehrte Damen und Herren. Das Problem ist aber doch die
Abhängigkeit der Landwirte von den Milchpreisen und
nicht, wie der Agrardiesel subventioniert werden soll. Es
geht also darum, wie man den Landwirten hilft, zukünftig aus dieser Misere herauszukommen.
({5})
Es sind übrigens 600 Millionen Euro hierfür veranschlagt.
Wenn man dann schaut, wie es weitergeht, dann sieht
man, dass, obwohl der Staat in Schulden versinkt, die
Union noch Steuersenkungen verspricht.
({6})
Die Vorschläge, die die Union jetzt auf den Tisch gelegt
hat,
({7})
sind 51 Milliarden Euro teuer.
({8})
Die Vorschläge, die die FDP auf den Tisch gelegt hat,
sind 75 Milliarden Euro teuer.
({9})
Ich möchte einmal wissen, wie, wenn man auf der einen
Seite den Subventionsbereich ausweitet, anstatt, wie eigentlich notwendig, dort Kürzungen vorzunehmen, und
auf der anderen Seite mehr in die Forschung und Bildung investieren will, was wir für notwendig und richtig
halten, und damit auf eine Neuverschuldung in diesem
Jahr von über 90 Milliarden Euro kommt, Steuersenkungen in einem solchen Ausmaß möglich werden sollen.
Sehr verehrte Damen und Herren, das müssen Sie einmal
erklären; das versteht kein Mensch mehr.
({10})
Wir halten nichts davon, eierlegende Wollmilchsäue
durch die Dörfer und Städte zu treiben, um wahlkampforientiert vom Finanzdesaster abzulenken, sondern wir
erwarten eine solide Politik, die in die Zukunft weist und
die Maßnahmen trifft, die auch eine Relevanz für unsere
Arbeitsplätze haben und es uns erlauben, im Wettbewerb
zu bestehen.
({11})
Es ist grundsätzlich richtig, dass die Kranken- und
Pflegebeiträge nicht mehr in der Größenordnung versteuert werden müssen, wie dies bisher in verfassungswidriger Weise gemacht worden ist. Aber dies ist - einige Kollegen haben es schon vor mir gesagt - eben kein
Verdienst der Großen Koalition, sondern eine Vorgabe
des Bundesverfassungsgerichts. Wenn es eine solche
Vorgabe gibt, muss man sich überlegen, wie man sie umsetzt. Die Koalition hat diese Vorgabe sehr kompliziert
und sozial unausgewogen ausgestaltet. Steuervereinfachung? - Fehlanzeige! Eine deutliche Anhebung des
Grundfreibetrages wäre die Lösung gewesen. Dies
wäre einfacher und gerechter gewesen, und dies wäre
auch verfassungsfest gewesen. Diesen Vorschlag haben
wir von grüner Seite gemacht.
({12})
Positiv sind die Nachbesserungen beim Schulbedarfspaket, die höhere Einkommensgrenze für Volljährige
beim Kindergeld und der ebenfalls auf 8 004 Euro erhöhte Unterhaltshöchstbetrag für die Unterstützung bedürftiger Angehöriger. Aber ich sage Ihnen an dieser
Stelle auch: Die Nachbesserungen, die jetzt im laufenden Verfahren vorgenommen worden sind, waren längst
überfällig. Hier hat sich gezeigt, wie schlampig die Koalition gearbeitet hat, weil einiges durchgerutscht ist.
Damit hatte man eigentlich gar nicht gerechnet, sodass
man nach der Verabschiedung der letzten Gesetze feststellen musste, dass sie lückenhaft ausgestaltet waren.
Diese Lücken sollen jetzt im Sinne der Familien und der
Kinder geschlossen werden. Es ist gut und richtig, dass
Sie hier zur Vernunft gekommen sind.
({13})
Die Koalition sollte ihre Fehlleistungen freiwillig einsehen, bevor das Bundesverfassungsgericht mit seinen
Entscheidungen Zwang ausübt. Wir müssen uns auch
einmal die Frage stellen: Warum warten wir immer darauf, dass das Bundesverfassungsgericht die Politik zum
Handeln auffordert? Angesichts ihres Standings, ihres
Verantwortungsbewusstseins ist es für die Politik doch
wesentlich sinnvoller, Probleme anzupacken, anstatt auf
Gerichtsurteile zu warten.
({14})
- Wir haben Gerichtsentscheidungen umgesetzt, die Beschlüsse der schwarz-gelben Regierungszeit betrafen.
Damals wurden die Familien nämlich verfassungsrechtlich unsauber besteuert, und die rot-grüne Koalition
musste das korrigieren, was Sie über Jahre verbockt hatten.
({15})
Das sage ich insbesondere in Richtung der FDP: In Ihrer
Regierungszeit haben Sie die Steuern immer weiter erhöht und die Familien immer mehr belastet. Von Steuersenkungen reden Sie immer nur, wenn Sie in der Opposition sind.
({16})
Ich finde es gut, dass kleine Unternehmen und Handwerksbetriebe nur noch Umsatzsteuer auf bezahlte
Rechnungen an den Fiskus abführen müssen. Sie leiden
bedauerlicherweise an der schlechten Zahlungsmoral ihrer Kunden. Es ist richtig, dass man dieses Vorhaben
endlich umsetzt; auch wir fordern das seit langem.
Wofür wir aber überhaupt kein Verständnis haben, ist,
dass die Liquiditätshilfe, die hier für die kleinen und
mittleren Betriebe geschaffen wird, nur für zwei Jahre
vorgesehen ist. Dieses Hü und Hott macht wirklich keinen Sinn. Es verunsichert die kleinen Firmen. Ich finde
schon, dass die zeitliche Begrenzung auf zwei Jahre gestrichen werden sollte; es geht schließlich nur um eine
Liquiditätshilfe.
({17})
Zur Zinsschranke: Wir haben immer gesagt, dass sie
nicht krisentauglich ist. Dass sich das herausstellt, haben
wir der Koalition schon damals prophezeit. Im Unterschied zur FDP wollen wir das Rad aber nicht zurückdrehen; vielmehr wollen wir die Unternehmensbesteuerung dahin gehend ausgestalten, dass Forschung und
Entwicklung gefördert werden. Für die Zukunft soll dafür gesorgt werden, dass die innovativen Unternehmen
in Deutschland die gleiche Entlastung wie in anderen
Ländern bekommen.
Man muss sich bei solchen Maßnahmen immer die
Frage stellen: Handelt es sich um irgendwelche breit gestreuten Steuergeschenke an viele oder um von der Politik ergriffene Initiativen in Form einer Rahmengesetzgebung, die dazu führen, dass innovative Unternehmen,
etwa im Forschungsbereich, mehr Unterstützung bekommen? Eine solche Unterstützung haben die Bundeskanzlerin und Frau Schavan immer wieder eingefordert; passiert ist an dieser Stelle aber gar nichts. Das bedauern
wir sehr. Wir hätten uns gewünscht, dass wirksame Maßnahmen getroffen werden, dass für eine Unterstützung
gesorgt wird. Jetzt erleben wir, dass getrickste Sonderkonditionen geschaffen werden. Wir brauchen im Steuerrecht aber keine Lex Opel und keine Lex Arcandor.
Wir erwarten von Ihnen mehr Transparenz, sodass klar
wird, auf welche Unternehmen Ihre Maßnahmen abzielen. Deshalb lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab.
({18})
Nun kommt die Bundesregierung zu Wort. Es spricht
der Bundesfinanzminister Peer Steinbrück.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Gelegentlich stelle ich in öffentlichen Veranstaltungen dem Publikum die Frage: Wann
war nach ihrer Wahrnehmung der bisher größte Wachstumseinbruch in den letzten 60 Jahren? Wann war die
größte Wirtschaftskrise, die wir bisher zu bewältigen
hatten? Das ist eine Quizfrage, für deren richtige Beantwortung man eine Belohnung bekommen kann. Die wenigsten erinnern sich, dass das 1975 gewesen ist. Damals
gab es einen Einbruch von - halten Sie sich fest - minus
0,9 Prozent. Wenn ich dann hinzufüge, dass wir für dieses Jahr wahrscheinlich einen Konjunktureinbruch von
minus 6 Prozent zu verzeichnen haben werden, dann
dämmert auch denjenigen, die an den Veränderungen
und an der Politik nicht so nah sind, dass wir es mit der
tiefsten Wirtschafts- und Finanzkrise in den letzten
60 Jahren zu tun haben und dass diese Krise automatisch
Auswirkungen auf das gesamte haushaltspolitische Gerüst hat.
Deshalb ist nicht verwunderlich, dass wir hohe Schulden und geringe Steuereinnahmen haben. Noch viel weniger verwunderlich ist, dass die Politik dies nicht tatenlos hinnehmen kann, sondern gegensteuern muss. Dies
hat die Große Koalition in den vergangenen Monaten,
wie ich finde, angemessen getan. Wir haben diese Krise
zwar nicht verhindern können, aber wir können sie etwas
abfedern. Ich hoffe, wir können sie verkürzen. Wir haben dafür das Konjunkturpaket I gemacht. Wir haben dafür das Konjunkturpaket II gemacht. Wir haben einen
Rettungsschirm für die Banken aufgespannt.
Wir können schon belegen, dass wir die zur Verfügung gestellten Mittel nicht „verprassen“, wie Sie es genannt haben, Frau Scheel, sondern mit dem Geld Bürger
und Wirtschaft gezielt entlastet haben, dass wir Investitionen, insbesondere kommunale Investitionen in die Infrastruktur, in einem Umfang gefördert haben, wie es ihn
vorher nie gegeben hat. Wir waren dabei behilflich, die
Liquidität, die Eigenkapitalbildung der Firmen zu stützen. Wir haben den Bankensektor stabilisiert, der den
Wirtschaftskreislauf mit Kapital versorgen muss, will sagen, das gesamte Arteriensystem unserer Wirtschaft mit
dem notwendigen Geld versorgen muss.
Das ist über zwei Jahre ein konjunktureller Gesamtimpuls von 4,7 Prozent des BIP einschließlich der
automatischen Stabilisatoren. Noch einmal: Die automatischen Stabilisatoren bringen mit sich, dass wir versuBundesminister Peer Steinbrück
chen, konjunkturbedingte Mindereinnahmen und konjunkturbedingte Mehrausgaben nicht an anderen Stellen
wieder auszugleichen. Mit diesem antizyklischen wirtschaftsfördernden Impuls von 4,7 Prozent des BIP stehen wir im internationalen Bereich sehr gut da.
Ich weiß, dass bei manchen Bürgerinnen und Bürgern
der Eindruck entstanden ist: Nur die Banken - einige sagen: die Banker - haben 500 Milliarden Euro bekommen. Sehr häufig wird gesagt: Ja, an die Banken und
auch an die Unternehmen werden Milliarden und Abermilliarden gezahlt. Dabei gerät aber in Vergessenheit,
dass es eine ganze Reihe von Maßnahmen gibt, mit
denen die Bürger direkt entlastet werden: über das
Konjunkturpaket I, über das Konjunkturpaket II, über
die Gesetze zum Familienleistungsausgleich und auch
über andere Maßnahmen immerhin in jedem Jahr in der
Größenordnung von vollumfänglich 21,4 Milliarden
Euro.
Der größte Batzen, der dazu beitragen wird, ist heute
Gegenstand unserer Debatte, nämlich das Bürgerentlastungsgesetz, das eine Entlastung für 16 Millionen Bürgerinnen und Bürger mit sich bringt. 85 Prozent aller
steuerbelasteten Bürgerinnen und Bürger in dieser Republik werden jährlich um 9,6 Milliarden Euro entlastet.
Das heißt, in der nächsten Legislaturperiode um insgesamt 40 Milliarden Euro. Ich finde, diese Aussage darf
mit einem Ausrufezeichen versehen werden; denn das ist
nicht wenig Geld.
({0})
Dabei stellt niemand in Abrede - das wird gar nicht
dementiert -, Herr Thiele, dass der Ausgangspunkt dieser Entlastungen ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist. Das ändert aber nichts daran, dass es diesen
Entlastungseffekt gibt und dass es diese Große Koalition
gewesen ist, die die Ausgestaltung dieses Urteils des
Bundesverfassungsgerichts so vorgenommen hat, dass
9,6 Milliarden Euro dabei herauskommen.
Das hätte man auch anders machen können, wie Sie
wissen. Ich mache gar keinen Hehl daraus, dass es viele
Experten in meinem Hause gegeben hat - Nicolette
Kressl lächelt dabei wissend -, die natürlich eine Gegenfinanzierung verlangt haben, sodass der Entlastungseffekt keineswegs 9,6 Milliarden Euro betragen hätte,
sondern vielleicht nur 4 oder 5 Milliarden Euro. Sie,
Frau Scheel, haben in Ihrer Rede verschwiegen, dass
sich diese Große Koalition dazu durchgerungen hat, gerade in dieser Konjunktursituation dieses Urteil so auszulegen, dass niemand einen einzigen Nachteil hat, sondern die Bürgerinnen und Bürger vollumfänglich von
einem Maximum an Entlastungen, das einigermaßen
verträglich ist, profitieren können, und zwar in einer
Größenordnung von 9,6 Milliarden Euro.
({1})
Ich will auch aufgrund meiner Redezeit auf Einzelheiten gar nicht eingehen. Das mag auch für diejenigen,
die uns zuhören, langweilig sein. Aber ich will einige
konkrete Beispiele liefern, damit anschaulich wird, was
das für den einzelnen Bürger und die einzelne Bürgerin
heißt.
Eine alleinerziehende Mutter mit einem Kind mit einem Bruttoarbeitslohn von 25 000 Euro wird ungefähr
um 280 Euro entlastet. Ein lediger Arbeitnehmer ohne
Kind mit einem Bruttojahreslohn von 50 000 Euro wird
um etwa 1 150 Euro entlastet.
({2})
- Die Singles in Deutschland sind bei der Besteuerung
im Vergleich zu den Familien die Gekniffenen. Ich weiß
nicht, wer von Ihnen Single ist. Aber dann wissen Sie sicherlich genau, dass der Staubsaugereffekt über Sozialversicherungsabgaben und Steuern eine sehr große progressive Wirkung hat.
Verheiratete ohne Kind mit einem Bruttoeinkommen
von 80 000 Euro werden immerhin um fast 620 Euro
entlastet. Das heißt, es findet dort der Effekt statt, den
wir uns gerade in dieser Konjunktursituation wünschen.
Das ist nicht alleine Gegenstand dieses Gesetzentwurf, wie Sie wissen, sondern daneben treffen wir in der
Tat befristet - da stimme ich Frau Frechen ausdrücklich
zu: befristet wegen dieser konkreten Konjunktursituation eine ganze Reihe von entlastenden Maßnahmen für
die Unternehmen in einer Größenordnung von insgesamt 3 Milliarden Euro. Sie kennen die Maßnahmen:
erstens die Einführung einer Sanierungsklausel - das
muss ich nicht länger ausführen -, zweitens die befristete Erhöhung der Freigrenze bei der Zinsschranke und
drittens die Verdoppelung der Umsatzgrenze bei der Istversteuerung, was einen Liquiditätsschub von immerhin
1,9 Milliarden Euro für die mittelständischen Unternehmen bedeutet.
Mit Blick auf die Zinsschranke und ähnliche Maßnahmen können Sie, Herr Thiele, nicht wiederholt von
einer ach so dramatischen Substanzbesteuerung in
Deutschland sprechen. Sie sind, wie ich glaube, im Kopf
gut aufgeräumt und wissen genau, dass die Substanzbesteuerung in Deutschland im internationalen Vergleich
denkbar gering ist. Wo ist da das Drama, das Sie in Ihren
Reden in diesem Zusammenhang immer beschwören?
({3})
Im Übrigen darf ich diejenigen Kolleginnen und Kollegen unseres Koalitionspartners, die das anders sehen,
darauf hinweisen, dass gemäß mehreren Untersuchungen - unter anderem gibt es eine entsprechende bayerische Statistik ({4})
die Bedeutung und der Stellenwert dieser Zinsschranke
sehr viel geringer sind, als gelegentlich propagandistisch
in den Raum gestellt wird.
({5})
Die DIW-Untersuchung macht deutlich, dass in
Deutschland im Wesentlichen 600 deutsche Unternehmen durch diese Zinsschranke konkret belastet sind. Die
bayerische Statistik spricht von insgesamt 1 400 bis
1 500 betroffenen Unternehmen in Deutschland. Ich
wäre daher dankbar, wenn der Impetus, mit dem dieser
Sachverhalt zu einem großen Drama gemacht wird, etwas abgeschwächt werden könnte.
Ich bin bereit gewesen, Nachjustierungen vorzunehmen. Das habe ich damals bei der Verabschiedung der
Unternehmensteuerreform mit Blick auf die schwierigen
Regelungstatbestände beim sogenannten Mantelkauf,
der Zinsschranke und den Funktionsverlagerungen immer deutlich gemacht. Aber was mit mir nicht zu machen ist - das will ich deutlich sagen -, ist, die nach wie
vor richtige und für den Standort Deutschland wie auch
für die Steuerbasis wichtige Grundausrichtung der Unternehmensteuerreform mit dem argumentativen Rückenwind der Konjunkturlage jetzt total aushebeln zu
wollen.
({6})
Dafür besteht weder eine sachliche Notwendigkeit, noch
verkraftet es die Einnahmebasis der öffentlichen Haushalte. Gelegentlich geht nämlich die Einsicht verloren,
dass es nicht nur um den Bundeshaushalt geht. Mit Blick
auf alle diversen Maßnahmen zur steuerlichen Entlastung - das gilt insbesondere für Maßnahmen, die von der
FDP vorgeschlagen werden - sollte man betonen, dass
die Kommunen einen Anteil von 15 Prozent und die
Länder einen Anteil von 42,5 Prozent an der Einkommensteuer haben. Ihre Haushalte wären also von Entlastungsmaßnahmen bei der Einkommensteuer betroffen.
Um es sehr deutlich zu machen: Es geht in dieser
Krise um temporäre, also zeitlich befristete Entlastungen der Unternehmen. Es geht nicht um eine dauerhafte strukturelle Entlastung. Die Zinsschranke führt
keineswegs zu den häufig dargestellten strukturellen
Verwerfungen.
Meine Damen und Herren, das vorliegende Bürgerentlastungsgesetz, das heute verabschiedet werden soll,
macht seinem Namen alle Ehre. Ich habe schon darauf
hingewiesen, dass es angesichts einer Gesamtentlastung
in Höhe von 40 Milliarden Euro in einer Legislaturperiode wahrscheinlich eines der größten Entlastungspakete in der Geschichte unseres Landes ist. Es kommt vor
allen Dingen zur richtigen Zeit.
Allen, die jetzt allerdings vollmundig weitere voluminöse Steuerentlastungen ins politische Schaufenster stellen, prophezeie ich, dass es dazu in absehbarer Zeit nicht
kommen wird.
Ich werde dem Bundeskabinett in der nächsten Woche
den Haushaltsplanentwurf für 2010 vorstellen mit einer
Neuverschuldung in einer Größenordnung von fast
90 Milliarden Euro.
({7})
- Historisch hoch. - Sie ist bedingt durch die derzeitige
ökonomische Entwicklung, die Sie vielleicht in Ihrem
Erklärungsmuster berücksichtigen sollten. Mich stört
jetzt am meisten die Vorstellung - Sie wissen das -, dass
man trotz dieser 90 Milliarden Euro Neuverschuldung
weitere Perspektiven für Steuerentlastungen in Höhe
von 110 bis 120 Milliarden Euro in den nächsten Jahren
eröffnen könnte. Ihre Vorschläge, von denen auch die
kommunalen und die Länderhaushalte betroffen wären,
sind schlicht und einfach illusorisch.
({8})
Anders ausgedrückt: In der konkreten Situation, in der
wir uns derzeit befinden, wird keine Bundesregierung,
egal wie die Farbenlehre nach dem 27. September aussieht, Steuersenkungen auf Pump realisieren können.
Das ist meine Prophezeiung.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Edmund Geisen
für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Soeben haben Sie einen Minister
gehört, der Entlastungen verspricht. Er hat in der Vergangenheit schon sehr viel versprochen. Ich stelle für die
FDP-Fraktion fest: Elf Jahre Finanzminister in Rot haben zu folgendem Ergebnis geführt: ständige Steuererhöhungen und trotz ständiger Steuermehreinnahmen
höchster Schuldenstand der Nation.
({0})
Gleichzeitig wurden wichtige Branchen vernachlässigt. Lassen Sie mich als Bewohner des ländlichen Raumes eine Branche aufgreifen. Eine scheinbar kleine, aber
gesamtgesellschaftlich hochwertige Wirtschaftsbranche
ist die deutsche Landwirtschaft. Fast jeder zehnte Arbeitsplatz hängt direkt oder indirekt von ihr ab. Die
Wettbewerbsbedingungen der deutschen Agrarwirtschaft
haben sich seit den letzten elf Jahren - seit Rot-Grün,
Frau Scheel - durch staatliche Vorgaben deutlich verschlechtert. Frau Künast von den Grünen hat die Landwirtschaft stiefmütterlich behandelt.
({1})
Die Besteuerung der Betriebsmittel ist um ein Vielfaches höher als in den anderen EU-Mitgliedsländern. Der
Agrardiesel wird in Deutschland bislang um das 80-Fache höher besteuert als im Nachbarland Frankreich und
in fast allen anderen EU-Ländern.
Seit drei Jahren kämpft die FDP-Fraktion gegen den
Widerstand aller anderen Fraktionen inklusive der Großen Koalition für eine Harmonisierung der Agrardieselbesteuerung auf europäischer Ebene. Jetzt vor
den Bundestagswahlen - auch schon vor den Europawahlen - beschließt die Bundesregierung, getragen von
Teilen der Koalition, die Agrardieselbesteuerung zeitweilig zu senken. Aber auch durch diese neue Regelung
wird die deutsche Landwirtschaft belastet, weil die BeDr. Edmund Peter Geisen
steuerung trotzdem noch um das 40-Fache höher liegt als
bei den französischen Kollegen.
({2})
Es ist klar, dass eine Beruhigungspille an die Landwirte verteilt werden soll. Das ist ein offensichtlicher
Wahlkampftrick. Wie sich auf mein Nachfragen beim
Bundesfinanzminister herausstellte, gilt die zweijährige
Befristung rückwirkend, das heißt, schon drei Monate
nach der Wahl, am 1. Januar nächsten Jahres, wird diese
Steuersenkung wieder aufgehoben. Dann gilt für die
deutsche Landwirtschaft wieder die 80-fache Besteuerung des Agrardiesels.
({3})
Die jetzige Regelung hat mit Planungssicherheit und
Verlässlichkeit nichts zu tun. Mein Fazit lautet: Mit der
Großen Koalition kann man keine vernünftige Agrarpolitik machen. Die Landwirte kommen vom Regen in
die Traufe und wieder zurück. In der aktuellen Krise stehen die Milchbauern nicht nur mit dem Rücken zur
Wand; sogar Betriebsaufgaben sind die Folge. Wer das
nicht will, muss die Leistungsfähigkeit der Betriebe stärken und darf keine Sozialhilfe leisten. Die FDP will statt
staatlicher Unterstützungsprogramme die Rahmenbedingungen für die heimische Landwirtschaft verbessern.
({4})
So kann die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden.
Eine dauerhafte Kostenentlastung auch bei Agrardiesel
ist notwendig. Die kostentreibende Politik der Regierungen der letzten elf Jahre hat der deutschen Landwirtschaft nachhaltig Schaden zugefügt. Das muss sich nach
dem 27. September unbedingt ändern. Wir sind sehr motiviert. Wir werden bis aufs Letzte kämpfen, um Veränderungen herbeizuführen; denn wir können es besser.
Vielen Dank.
({5})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Klaus-Peter
Flosbach, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir werden in den nächsten Monaten viele
Gelegenheiten haben, um über Steuerkonzepte zu sprechen. Wenn es aber um Steuerentlastung geht, dann sind
wir heute an der richtigen Stelle; denn heute werden die
Bürger um 10 Milliarden Euro und die Unternehmen um
3 Milliarden Euro entlastet. Das sollten wir zunächst einmal festhalten.
({0})
Gerade in dieser Debatte wird viel über Steuererhöhungen gesprochen. Das hat schon einen Hang zum Absurden: Wir sprechen über Steuererhöhungen, während
wir gleichzeitig die Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen entlasten wollen. Frau Kollegin Christine
Scheel, Sie haben bereits darüber gesprochen, dass die
Konjunktur unzureichend angekurbelt wurde. Die
10 Milliarden entsprechen den 0,4 Prozent, die Sie angesprochen haben.
Beim Bürgerentlastungsgesetz - das haben die Vorredner bereits gesagt - geht es um eine Vorgabe des
Bundesverfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, dass neben Nahrung, Kleidung und Wohnung auch die Beiträge zur Krankenversicherung zum steuerlichen Existenzminimum gehören.
Das ist eine neue Situation. Das hatten wir in den letzten
60 Jahren - auch unter anderen Regierungen - nicht. Wir
als Koalition haben darauf exakt reagiert und die richtigen Entscheidungen getroffen. Zukünftig können alle
Beiträge für die Krankenversicherung und die Pflegeversicherung abgesetzt werden. Das heißt, wer hohe Beiträge zahlt, Frau Höll, der kann natürlich auch viel absetzen.
Es gibt auch eine Solidargemeinschaft in der gesetzlichen Krankenkasse, aber es ist deutlich gemacht worden,
dass es um den ersten Punkt geht: Alle Leistungen der
gesetzlichen Krankenkasse können abgesetzt werden.
Bei den Privatversicherten gibt es eine Sonderregelung.
Auch hier wird ermittelt, wie hoch der gesetzliche Anteil, der abgesetzt werden kann, und wie hoch der private
Anteil der Versicherung ist.
({1})
Eine Besonderheit ist, liebe Kolleginnen und Kollegen - das ist wichtig für die Beitragszahler -, dass zukünftig auch alle Beiträge für die Kinder abgesetzt werden können. Das ist meines Erachtens einer der
wichtigsten Punkte.
({2})
Herr Kollege, Herr Kollege Spieth würde gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Ja, das kann er gerne machen.
Herr Kollege Flosbach, ich kann nachvollziehen, dass
Sie mit diesem Bürgerentlastungsgesetz die Vorgaben des
Gerichtes erfüllen wollen. Aber Sie sprechen davon, dass
alle Beitragszahler gleichermaßen durch Ihre Maßnahmen entlastet werden. Das ist nach meiner Auffassung
falsch. Deshalb frage ich Sie: Wollen Sie wirklich behaupten, dass ein Arbeitnehmer - verheiratet, ohne Kinder, mit einem Einkommen in Höhe von 1 500 Euro durch Ihr Gesetz steuerlich entlastet wird? Nach meiner
Berechnung - das kann man im offiziellen Rechner des
Bundesfinanzministeriums nachrechnen - findet in diesem Bereich überhaupt keine Entlastung statt.
({0})
Können Sie bestätigen, dass ein Arbeitnehmer mit einem Einkommen in Höhe von 3 675 Euro durch Ihre
Maßnahmen um rund 85 Euro entlastet wird? Können
Sie weiter bestätigen, dass ein Bundestagsabgeordneter
mit einem Einkommen in Höhe von 7 665 Euro um rund
125 Euro monatlich entlastet wird?
Ich kann nur feststellen: Wenn ich an mein eigenes
Portemonnaie denken würde, dann müsste ich dem Gesetzentwurf eigentlich zustimmen. Aber bei dieser sozialen Schräglage muss man das Bürgerentlastungsgesetz
ablehnen; denn es ist sozial nicht ausgeglichen. Können
Sie das bestätigen, oder würden Sie dem widersprechen?
({1})
Herr Kollege, anscheinend haben Sie das Steuersystem der Bundesrepublik Deutschland immer noch
nicht verstanden.
({0})
Krankenversicherungsbeiträge sind Beiträge, für die
man eine konkrete Gegenleistung erhält. Steuern sind
Abgaben, bei denen Sie keinen Anspruch auf eine Gegenleistung haben. Der Bundesfinanzminister hat deutlich gemacht,
({1})
dass etwa 85 Prozent aller derzeitigen Einkommen- und
Lohnsteuerzahler entlastet werden. Sicherlich können
diejenigen, die keine Steuern zahlen, auch nicht entlastet
werden. Das ist ein relativ einfaches Rechenbeispiel.
({2})
Wir wollen - und das ist ein Kern des Gesetzentwurfs auch die Leistungsträger entlasten, diejenigen, die bisher
hohe Beiträge gezahlt haben.
({3})
Meine Damen und Herren, im Gesetzentwurf ist geregelt worden, dass alle Beiträge abgesetzt werden können. Ich denke, Frau Frechen, die Verhandlungen haben
gezeigt, dass wir einen guten Weg gefunden haben, um
auch das komplizierte Problem bei den privaten Krankenversicherungen zu lösen. Es gab ja Überlegungen,
für jeden Einzelnen exakt zu errechnen, wie hoch sein
gesetzlicher Anteil und wie hoch sein privater Zusatzanteil ist. Wir haben eine Pauschalierung vereinbart, sodass
für jeden Tarif exakt ausgerechnet werden kann, wie
hoch der Abzugsbetrag ist. So wurde dieses Problem gelöst. Das war wichtig für uns; denn wir wollten bei diesem Gesetz zu viel Bürokratie vermeiden. Das ist uns als
Koalition hervorragend gelungen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen das natürlich auch immer im Zusammenhang mit der vorherigen, aktuell noch gültigen Regelung sehen, die seit dem
Jahr 2005 bzw. seit der Verabschiedung des Alterseinkünftegesetzes gilt. Bisher können Arbeitnehmer von
allen Beiträgen, von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen, aber auch Arbeitslosenversicherungsbeiträgen
und Beiträgen zur Risikolebensversicherung, zur Unfallversicherung, zur Haftpflichtversicherung sowie zur Berufsunfähigkeitsversicherung - einen Teil davon zahlt ja
der Arbeitgeber - nur 1 500 Euro absetzen. Bei einem
Selbstständigen sind es bisher 2 400 Euro. Das ist natürlich viel zu wenig. Deshalb haben wir in einem ersten
Schritt diese Grenze auf 1 900 Euro beziehungsweise
2 800 Euro angehoben. Sie hatten recht, Frau Frechen,
damit werden natürlich die kleinen Einkommen bevorzugt.
Jetzt wird uns vorgeworfen, wir hätten kein Gesetz
geschaffen, mit dem auch anderen Möglichkeiten der
Vorsorge gegeben werden. Aber ich bitte Sie, rufen Sie
sich die Zeit dieser Legislaturperiode in Erinnerung; erinnern Sie sich an das Jahr, in dem das Alterseinkünftegesetz verabschiedet wurde: Wir haben neu geregelt,
dass bis zu 20 000 Euro für die Altersvorsorge abgesetzt
werden können. Wer eine Rürup-, also eine Basisrentenversicherung abschließt, der kann 50 Prozent seines Beitrags für eine Berufsunfähigkeitsversicherung ausgeben.
Wer eine Direktversicherung zur betrieblichen Altersversorgung abschließt, kann seine Zahlung vollständig
in die Berufsunfähigkeitsversicherung einfließen lassen.
Bei einer Riester-Rente ist das ebenfalls teilweise möglich. Mit einer betrieblichen Gruppenunfallversicherung
kann sehr kostengünstig und sowohl für den Betrieb absetzbar als auch für den Arbeitnehmer steuerfrei eine
Unfallversicherung aufgebaut werden.
Es war das Konzept der Bundesregierung und auch
der Koalitionsfraktionen, mit Blick auf die Geringverdiener und die Leistungsträger der Gesellschaft eine
Ausgewogenheit herbeizuführen. Das war uns besonders
wichtig.
({5})
Insgesamt werden die Bürger um 10 Milliarden Euro
entlastet. Dabei erhalten die Lohnsteuerzahler durch das
Lohnsteuerabzugsverfahren direkt mit Beginn im Januar
2010 den entsprechenden Vorteil. Der Bundesfinanzminister hat deutlich gemacht, dass es Unterschiede gibt.
Manche werden um wenige 100 Euro jährlich entlastet;
bei Einzelnen kann die Entlastung auch 1 000 Euro im
Jahr betragen.
Viele haben dies als heimliches Konjunkturpaket
bezeichnet. Das ist richtig. Gerade in der jetzigen Phase
können wir damit dafür sorgen, dass die Bürger mehr
Geld in der Tasche haben. Für die Ankurbelung der Konjunktur ist das in der Tat sehr wichtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben diesen
Gesetzentwurf natürlich auch um Positionen erweitert,
die dazu dienen, Unternehmen zu helfen, durch die Krise
zu kommen. Nicht nur bei den Großen, sondern auch bei
vielen Klein- und Mittelbetrieben erleben wir, dass sie in
größten Liquiditätsschwierigkeiten stecken. Deshalb war
es uns auch wichtig, die Umsatzsteuererhebung in den
Betrieben zu verändern. Bisher gilt die sogenannte Sollbesteuerung. Damit muss ein Unternehmer die UmsatzKlaus-Peter Flosbach
steuer schon in dem Moment abführen, in dem er die
Rechnung stellt, obwohl er das Geld noch nicht auf dem
Konto hat. Für Unternehmen mit einem Jahresumsatz
von bis zu 500 000 Euro sowohl in den neuen als auch in
den alten Bundesländern wollen wir das Ganze deshalb
umstellen. Sie müssen die Umsatzsteuer in Zukunft erst
dann abführen, wenn der Rechnungsbetrag auf ihrem
Konto eingegangen ist. Es gilt also die Istbesteuerung.
Für 80 Prozent aller Klein- und Mittelbetriebe ist es die
entscheidende Größe, dass sie in der jetzigen Phase Liquidität in die Tasche bekommen.
({6})
Auch die anderen Maßnahmen in diesem Gesetzentwurf sind genau auf die derzeitige Situation zugeschnitten. Selbstverständlich haben wir mit dem Koalitionspartner nicht in allen Punkten Übereinstimmung erzielt.
In der jetzigen Situation ist allerdings besonders wichtig,
dass wir die Zinsschranke gelockert haben. Bisher mussten viele Betriebe Steuern auf Gewinne zahlen, die sie
gar nicht erwirtschaftet haben; denn sie konnten die Zinsen nicht als Kosten absetzen. Hier haben wir eine Erweiterung von 1 Million auf 3 Millionen Euro je Betrieb
vorgenommen.
Ein weiterer Punkt ist in der aktuellen Phase von großer Bedeutung. Nicht der Staat soll sanieren; vor allem
sollen Betriebe saniert werden, indem andere Betriebe
sie auch übernehmen können. Dazu war uns die Sanierungsklausel sehr wichtig. Insbesondere geht es an dieser Stelle um die Arbeitsplätze. Wenn Betriebsvereinbarungen getroffen werden, haben wir auch eine große
Chance, zahlreiche Arbeitsplätze zu erhalten.
Ich komme zum Schluss. Der von den Koalitionsfraktionen unterstützte Entwurf eines Bürgerentlastungsgesetzes Krankenversicherung der Bundesregierung hilft
den Menschen und den Betrieben in der Krise. Uns ging
es darum, in der jetzigen Phase allen mehr Liquidität zu
geben, die Nachfrage anzukurbeln und uns vor allen
Dingen so aufzustellen, dass wir stabil aus der derzeitigen Krise herauskommen. Die Betriebe und die Bürger
sollen anschließend in der Lage sein, wieder Steuern zu
zahlen, um unser stabiles Sozialsystem auch weiterhin
aufrechtzuerhalten.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Für die SPD-Fraktion gebe ich dem Kollegen
Reinhard Schultz das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Teile der bislang geführten Debatte sind einigermaßen kurios. Die FDP zieht wieder ihre Oper der
milliardenschweren Steuerentlastung ab - mit der festen
Absicht, die öffentlichen Haushalte und die Finanzierung der Sozialsysteme nun endgültig zu ruinieren und
nur eine Klientel zu bedienen, die von diesen Steuerentlastungen dann auch etwas hätte.
({0})
Die CDU/CSU ist dort Gott sei Dank deutlich vorsichtiger. Sie hat gesagt, was heute zu entscheiden sei,
stehe hier zur Debatte. Außerhalb dessen diskutiert sie
dann Steuerprogramme, bei denen sie zum einen versucht, auf die FDP zuzurobben. Zum anderen stellt sie
das Ganze aber gleichzeitig unter den Inkraftsetzungsvorbehalt der besseren Zeiten. Auch das finde ich ganz
interessant. Nach dem Motto „Denn das Himmelreich ist
nah“ wird hier Wahlkampf vorbereitet; ich kann das alles
auch gut verstehen.
({1})
Wer sich ernsthaft mit der steuerlichen Problematik,
mit der Abgabensituation und mit der Lage der Wirtschaft befasst, der muss feststellen, dass wir im Rahmen
unserer Möglichkeiten wirklich Gigantisches leisten, um
Schritt für Schritt da, wo es notwendig ist, Wirtschaft
und Bürger durch Konjunkturprogramme, durch Kreditprogramme, durch steuerliche Maßnahmen und durch
Direktinvestitionen zu entlasten.
({2})
- Das ist doch so, Eduard. - Wegen der Krise muss man
dabei natürlich differenzieren. Das muss man befristen.
Wir können uns nicht bis zum Jüngsten Gericht politisch
völlig handlungsunfähig machen.
Wo wollen wir dauerhafte Entlastung? Wir haben
die Bürger bereits dauerhaft entlastet, auch im Rahmen
von bestimmten Teilen des Konjunkturprogramms. Es
ist ja nicht so, dass wir für die geringen Einkommen
nichts getan hätten. Wir haben den Grundfreibetrag heraufgesetzt. Wir haben den Eingangssteuersatz gesenkt.
Das war in dieser Situation schon eine große Maßnahme.
Auch das Bürgerentlastungsgesetz, das von uns natürlich
nicht unter konjunkturpolitischen Aspekten entworfen
wurde, passt gut in dieses Konzept - das ist überhaupt
nicht zu bestreiten -; denn es wirkt ab 2010 in der Breite
entlastend. Das muss man einmal sehen.
({3})
Herr Thiele, ich wende mich jetzt vor allen Dingen an
Sie, weil Sie von der FDP immer rufen, wir hätten jetzt
die höchste Verschuldung überhaupt.
({4})
Ich muss Sie fragen, wie es in dieser Situation aussähe,
wenn wir nicht zu Beginn dieser Koalition einen strikten
Konsolidierungskurs gefahren wären, was den Bundeshaushalt angeht, wenn wir bei der Unternehmensteuerreform nicht darauf geachtet hätten, dass - bei aller Wettbewerbsfähigkeit der Steuersätze - auch etwas für den
Staat übrig bleibt. Wie sähe die Handlungsfähigkeit in
diesem Jahr aus, wenn wir nicht vorher dafür gesorgt
hätten, dass wir das Konsolidierungsziel, das wir ursprünglich im Auge gehabt haben, nahezu erreicht hätten? Wir wären in der Situation von Ländern wie Grie25448
Reinhard Schultz ({5})
chenland und anderen, die, ökonomisch gesehen, auf den
Brustwarzen robben, überhaupt nicht mehr handlungsfähig sind und jetzt über den Umweg der EU versuchen,
eine Art von Finanzausgleich zu unseren Lasten hinzubekommen. Wenn Steinbrück nicht vorher das Kreuz
durchgedrückt hätte und auf Konsolidierung gesetzt
hätte, wären wir nicht in der Lage, auf die Krise so zu reagieren, wie wir das jetzt getan haben. Das ist die ganze
Wahrheit.
({6})
Natürlich machen wir dafür Schulden. Das wissen wir
auch. Es ist nun einmal das Prinzip einer antizyklischen
Konjunkturpolitik, dass man mitunter Geld in die
Hand nehmen muss, um Wachstum zu generieren. Dann
muss man sich aber strikt verpflichten - das ist im Zusammenhang mit der Schuldenbremse auch beschlossen
worden -, diese Schulden in besseren Zeiten wieder
zurückzuführen. Das ist im Zusammenhang zu sehen.
Diese Änderung der Verfassung im Rahmen der
Föderalismusreform II und die Staatsverschuldung, zu
der wir jetzt gezwungen sind, haben doch etwas miteinander zu tun.
In diesem Gesetzespaket geht es aber nicht nur um die
Entlastung der Bürger, sondern auch um Elemente der
Unternehmensteuerreform, die zur Gegenfinanzierung
dienen. Diese Elemente - wir haben in bestimmten
Punkten Neuland betreten - stehen natürlich unter einem
Evaluierungsvorbehalt; Peer Steinbrück hat darauf hingewiesen, und wir haben das auch gesagt. Man muss genau schauen: Wie weit kann man die Schraube drehen,
ohne sie zu überdrehen? Wo kann man Feinsteuerung
machen? Wir haben dabei festgestellt: In dramatisch
schwierigen Zeiten wie jetzt gibt es Effekte, die man
aufheben muss, zumindest solange die Zeiten so schwierig sind.
Da bin ich über etwas sehr froh. Wir führen ja spätestens seit dem SPD-Bundesparteitag die Diskussion darüber: Wer hat es erfunden? - Das finde ich auch gut.
Bei der Frage der Istversteuerung ist es völlig eindeutig,
das ist von uns.
({7})
- Das wäre überhaupt nicht in der Beschlussvorlage,
liebe Freunde, wenn ich dieses Thema nicht in der Anhörung - zur Überraschung mancher, auch zur Überraschung des Koalitionspartners - auf die Tagesordnung
gebracht hätte. Dann sind Gott sei Dank alle, die entscheiden können, dem gefolgt. Für zweieinhalb Jahre
gilt die Istversteuerung, wie sie bislang nur in Ostdeutschland galt, im gesamten Bundesgebiet; die Umsatzgrenze beträgt 500 000 Euro.
({8})
- Das ist nicht meine letzte Rede, lieber Herr Finanzausschussvorsitzender. Ich glaube, dass ich hier bis zum Anschlag weitermache - das würde ich einmal vermuten -,
wenn nicht etwas dazwischenkommt; aber auch das
glaube ich nicht.
Gerade den kleinen und mittleren Unternehmen haben wir in der Krise einen erheblichen Liquiditätsvorteil
verschafft, weil es in der jetzigen Situation, wie auch
Herr Flosbach dargestellt hat, nicht zumutbar ist, dass sie
die Umsatzsteuer auf Rechnungsbeträge abführen müssen und nicht wissen, ob sie diese Rechnungsbeträge in
den nächsten vier, sechs, acht oder zwölf Wochen überhaupt vereinnahmen können. Das ist der Effekt, um den
es geht. Das passt in unser Gesamtprogramm zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Krise und zur Stabilisierung der kleinen und mittleren Unternehmen.
Das gilt auch für die Sanierungsklausel, für die Mantelkaufregelung, die wir im Rahmen der Unternehmensteuerreform beschlossen haben. Natürlich wollen wir
das willkürliche Umpflanzen von Verlusten, das Übertragen von Verlusten auf eine andere Gesellschaft, nur
um diese dann steuerlich geltend machen zu können,
weiterhin nicht. Wir wollen dies verhindern. Deswegen
können wir uns jetzt nur darauf verständigen, diesen Teil
im Sinne einer vernünftigen Sanierung und unter angemessenen Bedingungen für die Beschäftigten
Herr Kollege Schultz!
- außer Kraft zu setzen. Wenn die Beschäftigten mitmachen oder wenn der Wert des Unternehmens eindeutig erhalten oder sogar verbessert wird, dann besteht die
Möglichkeit, diese Verluste auf einen neuen Eigentümer
zu übertragen.
Herr Kollege Schultz, schauen Sie bitte einmal auf die
Uhr vor sich!
({0})
Eben. - Das gilt nicht nur für Arcandor oder sonst
wen. Das gilt insbesondere auch für viele mittelständische Unternehmen, die wegen der Krise vor Übernahmen und Eigentümerwechseln stehen. Deswegen ist es
irrig, anzunehmen, wir würden dies nur für die Großen
tun. Wir tun es auch für die Kleinen.
Herr Kollege Schultz, ich muss Sie jetzt dringlich
mahnen, dass Sie aufhören.
Ich bin jetzt auch fertig.
Herzlichen Dank.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter
Rzepka, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Mit dem Unternehmensteuerreformgesetz 2008
hat die Große Koalition die nominale Ertragsteuerbelastung für Kapitalgesellschaften von knapp 40 auf etwa
30 Prozent gesenkt. Für Personenunternehmen wurden
vergleichbare Thesaurierungsbedingungen geschaffen.
Deutschland ist damit im internationalen Vergleich der
Tarife von einer Spitzenposition ins Mittelfeld gerückt.
Das Ziel der Reform, deutsche Unternehmen im internationalen Wettbewerb zu stärken, ist gefördert worden.
Bereits in der Koch-Steinbrück-Kommission hatten
die Koalitionsparteien verabredet, die Nettoentlastung
durch Verbreiterung der steuerlichen Bemessungsgrundlage auf etwa 5 Milliarden Euro zu begrenzen. Mit dieser
Gegenfinanzierung sollte gleichzeitig der Verlagerung
von Gewinnen ins Ausland entgegengewirkt und das
deutsche Steuersubstrat gesichert werden.
Schon in den Jahren zuvor waren allerdings die
Regeln zur Gewinnermittlung zulasten der Unternehmen ständig verschlechtert worden. Mindestgewinnbesteuerung, Erschwerungen bei der Gesellschafterfremdfinanzierung und Einschränkungen bei der Bildung
steuerwirksamer Rückstellungen hatten die tatsächliche
Steuerlast für Unternehmen erhöht. Die nach dem KochSteinbrück-Konzept erforderliche Gegenfinanzierung
konnte deshalb nicht mehr allein durch die Streichung
von Ausnahmen und Steuervergünstigungen erbracht
werden.
Deshalb wurde die Ertragsbesteuerung durch Elemente der Substanzbesteuerung erweitert.
({0})
Bereits in der Anhörung zum Unternehmensteuerreformgesetz wurde Folgendes deutlich: Bei guter Konjunktur
und entsprechender Ertragslage der Unternehmen wird
die Senkung der Steuersätze die Gegenfinanzierung
überkompensieren und die Unternehmen entlasten. Bei
schlechter Konjunktur und Ertragsschwäche wirken die
Gegenfinanzierungsmaßnahmen hingegen substanzverzehrend und verschärfen damit die Krise.
({1})
Trotzdem wurde der Regierungsentwurf in der konjunkturellen Schönwetterlage 2007 mit einigen Verbesserungen beschlossen. Zu weiteren Änderungen waren Finanzminister Steinbrück und die SPD-Fraktion nicht
bereit.
({2})
In der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise
mit der schärfsten Rezession der Nachkriegszeit wirken
sich die Gegenfinanzierungsmaßnahmen der Unternehmensteuerreform nun tatsächlich krisenverschärfend aus. Sie entziehen den Unternehmen dringend notwendiges Eigenkapital, erschweren die Sanierung
einschließlich der Zuführung frischen Kapitals, tragen
zur Verteuerung von Krediten bei und gefährden damit
Arbeitsplätze.
Die Arbeitsgruppe Finanzen der Unionsfraktion hatte
bereits in den Beratungen zum Jahressteuergesetz 2009
im Oktober vorigen Jahres Änderungsbedarf bei der Unternehmensteuerreform angemeldet, ist aber am Widerstand der SPD-Fraktion gescheitert. Immerhin hat die
Beharrlichkeit meiner Fraktion dazu geführt, dass wir
uns mit unserem Koalitionspartner im Rahmen dieses
Gesetzentwurfs auf folgende Änderungen bei der Unternehmensbesteuerung verständigt haben: Es ist bereits
angesprochen worden, dass wir das Überschreiten der
Zinsschranke erleichtern, dass die Verlustvorträge im
Sanierungsfall in bestimmten Fällen erhalten bleiben
und die Istbesteuerung ausgeweitet wird, insbesondere
als Liquiditätshilfe für die kleinen Unternehmen. Die
ersten beiden Maßnahmen entlasten die Unternehmen
um circa 1 Milliarde Euro im Jahr. Die zeitlich begrenzte
Ausweitung der Istbesteuerung stärkt die Liquidität der
Unternehmen bis Ende 2011 um knapp 2 Milliarden
Euro.
Die Union hält ebenso wie viele Sachverständige weitere Maßnahmen für erforderlich, um Unternehmen in
der Krise und im internationalen Wettbewerb zu stärken,
zum Beispiel weitere Erleichterungen bei der Zinsschranke. Herr Minister Steinbrück, Sie haben im Gesetzgebungsverfahren vor zwei Jahren davon gesprochen, dass von der Zinsschranke, die dazu führt, dass
Unternehmen auch ohne entsprechende Erträge Steuern
zahlen müssen, nur 200 Unternehmen betroffen sein
würden. Das war Ihr Standpunkt 2007 im Gesetzgebungsverfahren. In Ihrer heutigen Rede haben Sie eingeräumt, dass wesentlich mehr Unternehmen betroffen
sind; Sie sprachen von 400 oder möglicherweise deutlich
mehr Unternehmen.
({3})
Wo liegt da das Problem, Herr Steinbrück? Die Untersuchungen, auf die Sie sich berufen, beziehen sich auf
die Jahre 2006 und früher. Darin konnten die gegenwärtige Krise und deren Auswirkungen überhaupt noch
nicht berücksichtigt werden. Deshalb müssen wir davon
ausgehen, dass nicht nur 1 400, sondern mehrere Tausend Unternehmen betroffen sind.
({4})
- Frau Kollegin Frechen, Sie sind in der Steuerberatung
tätig. Wenn Sie mit Ihren Kollegen in der Steuerberatung
sprechen, wissen Sie, dass bereits jetzt viel mehr Unternehmen betroffen sind, als ursprünglich angenommen
worden ist.
({5})
Viele Steuerberater, die gar nicht glaubten, jemals mit
dem Thema zu tun zu bekommen, weil sie nur kleine
und mittlere Unternehmen betreuen, bestätigen uns: Die
Betroffenheit ist da. Wir wollen deshalb weitere Änderungen bei der Zinsschranke, bessere Verlustverrechnungsmöglichkeiten, eine Reduzierung der ertragsunabhängigen Bestandteile der Gewerbesteuer und das alles
ohne zeitliche Beschränkung.
({6})
Die FDP-Bundestagsfraktion hat sich diesen Forderungen in einem eigenen Gesetzentwurf weitgehend angeschlossen. Die notwendige Reform der Reform muss
vom nächsten Bundestag sehr bald beschlossen werden,
um weitere Insolvenzen und Arbeitsplatzverluste zu vermeiden. Nach meiner persönlichen Meinung hätten wir
die Mittel aus der Abwrackprämie besser für eine
Reform der Unternehmensbesteuerung schon in dieser Wahlperiode eingesetzt und damit für alle Unternehmen Erleichterungen geschaffen.
({7})
Da ich mit dem Ende der Legislaturperiode aus dem
Deutschen Bundestag ausscheiden werde,
({8})
gestatten Sie mir einige persönliche Anmerkungen: Ich
habe in zwei Wahlperioden den Bundestag als ein arbeitsintensives Parlament kennengelernt. Die Ergebnisse
unserer gesetzgeberischen Arbeit könnten aber besser
sein, wenn wir insgesamt weniger Gesetze beschließen
und dabei folglich unter einem geringeren Zeitdruck stehen würden.
Der Sachverständigenrat hat in seinem Herbstgutachten 2008 unter Hinweis auf Regelungen zur Unternehmensteuerreform festgestellt, dass die Große Koalition
mit Fug und Recht für sich in Anspruch nehmen kann,
„einen der größten Komplexitätsschübe in der jüngeren
deutschen Steuergeschichte verursacht zu haben - und
damit auch eines der umfangreichsten Arbeitsbeschaffungsprogramme für Steuerberater.“ Trotz der Komplexität der Gesetze werden diese im Eiltempo beschlossen.
Auch in diesem Gesetzgebungsverfahren lag ein Teil der
endgültigen Gesetzentwürfe erst am Tag vor der abschließenden Beratung im Finanzausschuss vor. Komplizierte und aufgrund des Zeitdrucks oft unverständliche
Gesetzestexte werden von der Finanzverwaltung und der
Finanzrechtsprechung rechtschöpfend auf den Einzelfall
angewandt, zunehmend mit unterschiedlichen Ergebnissen. Die Finanzverwaltung reagiert auf Niederlagen bei
den Gerichten oft mit sogenannten Nichtanwendungserlassen
({9})
und wendet höchstrichterliche Urteile über den entschiedenen Einzelfall nicht an.
({10})
Die Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung ist gefährdet. Rechtssicherheit,
Planungssicherheit und Steuerehrlichkeit nehmen ab.
Ich wünsche dem nächsten Bundestag mehr Sensibilität für diese Gefahren. Des Weiteren wünsche ich mir
größeren Einsatz und mehr Erfolg für systematische,
einfache und eindeutige Steuergesetze, die den Steuerbürgern und Unternehmen bei ihren wirtschaftlichen Aktivitäten Planungssicherheit geben und mehr Akzeptanz
finden.
Ich danke Ihnen.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
verbesserten steuerlichen Berücksichtigung von Vorsor-
geaufwendungen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13429,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den
Drucksachen 16/12254 und 16/12674 in der Ausschuss-
fassung anzunehmen.
Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion
Die Linke vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-
sache 16/13477? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von
SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung des Bündnis-
ses 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf
Drucksache 16/13478? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Der Änderungsantrag ist mit demselben Er-
gebnis abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen des Bündnis-
ses 90/Die Grünen und der FDP und Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in dritter Beratung mit den Stimmen der Koalition
bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen und
der FDP und Enthaltung der Fraktion Die Linke ange-
nommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion der FDP auf Drucksache 16/13479? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist mit den Stimmen der Koalition und des Bündnisses
90/Die Grünen bei Gegenstimmen der FDP und Enthal-
tung der Linken abgelehnt.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/13482? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP bei Ent-
haltung des Bündnisses 90/Die Grünen und Gegenstim-
men der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
der FDP zur Korrektur der Unternehmensteuerreform.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Finanzausschuss, den Gesetzentwurf der Fraktion der
FDP auf Drucksache 16/12525 abzulehnen. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die
Stimmen der FDP mit den Stimmen des restlichen Hau-
ses abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsord-
nung die weitere Beratung.
Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Energiesteuergesetzes. Der Finanzaus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/13416, den Gesetzent-
wurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/12851 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Linken, der SPD und der CDU/CSU bei Gegenstimmen
des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP angenom-
men.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist damit mit den Stimmen der Linken, der SPD
und der CDU/CSU bei Gegenstimmen von Bündnis 90/
Die Grünen und FDP angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge. Abstimmung über den Entschließungsan-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/13483.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs-
antrag ist bei Gegenstimmen der Linken mit den Stim-
men des restlichen Hauses abgelehnt.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/13480.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs-
antrag ist bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grü-
nen mit den Stimmen des restlichen Hauses abgelehnt.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Fi-
nanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP
mit dem Titel „Agrardieselbesteuerung senken - Wettbe-
werbsnachteile der deutschen Landwirtschaft abbauen“.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13416 empfiehlt der Ausschuss, den An-
trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/11670 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/
Die Grünen und CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP
und Enthaltung der Linken angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 54 a bis 54 e auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuregelung des Rechts des
Naturschutzes und der Landschaftspflege
- Drucksachen 16/12785, 16/13298 - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung
des Rechts des Naturschutzes und der
Landschaftspflege
- Drucksache 16/12274 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
- Drucksache 16/13430 Berichterstattung:
Abgeordnete Josef Göppel
Angelika Brunkhorst
Undine Kurth ({1})
b) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuregelung des Wasserrechts
- Drucksachen 16/12786, 16/13306 - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Wasserrechts
- Drucksache 16/12275 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
- Drucksache 16/13426 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrich Petzold
Angelika Brunkhorst
Nicole Maisch
c) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Regelung des Schutzes vor
nichtionisierender Strahlung
- Drucksachen 16/12787, 16/13299 - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD einge25452
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Schutzes vor nichtionisierender
Strahlung
- Drucksache 16/12276 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
- Drucksache 16/13431 Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Koeppen
Detlef Müller ({4})
Lutz Heilmann
Sylvia Kotting-Uhl
d) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Bereinigung des Bundesrechts
im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})
- Drucksachen 16/12788, 16/13301 - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung
des Bundesrechts im Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6})
- Drucksache 16/12277 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7})
- Drucksache 16/13443 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({8})
Michael Kauch
Sylvia Kotting-Uhl
e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur Lage der Natur für die 16. Wahlperiode
- Drucksache 16/12032 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({9})
Sportausschuss
Ausschuss für Tourismus
Zu den Gesetzentwürfen der Bundesregierung liegen
mehrere Änderungs- und Entschließungsanträge vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Kollege Matthias Miersch, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Was lange währt, wird endlich gut“,
({0})
dieses Motto passt zu dem jetzt behandelten Tagesordnungspunkt. Das Vorhaben, um das es geht, bewegt die
Bundesrepublik seit den 70er-Jahren. Sicherlich haben
viele nicht mehr daran geglaubt, dass es doch noch gelingt, ein, wenigstens zu einem großen Teil, einheitliches Umweltrecht in Deutschland zu schaffen. Die
Schaffung eines einheitlichen Umweltrechts in Deutschland ist ein ambitioniertes Ziel.
({1})
Wir kommen diesem Ziel heute einen großen Schritt näher.
Man sollte vielleicht sagen: Was noch länger dauert,
wird noch besser. Ich kann nämlich für die SPD-Fraktion
ausdrücklich erklären, dass wir das Ziel, ein umfassendes Umweltgesetzbuch zu schaffen, weiterverfolgen
werden. Es wird auf der Agenda eines neuen Koalitionsvertrages stehen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach den Diskussionen, die in den letzten Wochen und Monaten geführt
worden sind, muss man sich eigentlich die Frage stellen,
warum wir es nicht geschafft haben, auch den letzten
Schritt zu machen, nämlich das Buch I, in dem es um
eine integrierte Vorhabengenehmigung als Kernstück einer neuen Genehmigungsform geht, zu realisieren. Es ist
- das muss man an dieser Stelle noch einmal sagen - bedauerlich, dass wir uns aufgrund des Widerstandes eines
einzigen Bundeslandes nicht haben durchsetzen können.
Ich glaube dennoch, dass die Schritte, die wir heute tun,
Motivation genug sein müssen und können, auch diesen
letzten Schritt zu vollziehen.
Wir haben in den letzten Wochen erlebt, dass eine
Rechtsvereinheitlichung in Deutschland hohe Hürden
überwinden muss. Es gibt, gerade was das Umweltrecht
anbelangt, innerhalb des Bundestages - das werden auch
die Redebeiträge der Opposition, von FDP und Grünen
beispielsweise, deutlich machen -, aber auch innerhalb
des Bundesrates völlig unterschiedliche Vorstellungen.
Die Berichterstatter werden ihre Ordner noch lange aufheben können. Wir haben von den Verbänden massenhaft Zuschriften bekommen, die in völlig unterschiedliche Richtungen gehen. Insofern war die Quadratur des
Kreises zu leisten. Ich glaube, sie ist uns gelungen.
Daher bedanke ich mich ausdrücklich bei meinen Berichterstatterkollegen der CDU/CSU, Josef Göppel,
Andreas Jung und Ulrich Petzold. Das war eine sehr
konstruktive Zusammenarbeit, die vor allen Dingen vom
gegenseitigen Respekt geprägt gewesen ist. Ich glaube,
das ist eine tragfähige Basis dafür, einen solchen Gesetzentwurf zu schaffen.
Ganz besonders will ich mich aber bei Ihnen, Herr
Minister, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
bedanken. Sie alle sind da, zumindest die Spitzen; mein
Dank gilt aber auch den Leuten, die dahinter stehen. Es
war schon außergewöhnlich, wie viele Wochenenden,
Nächte und Tage Sie aufgewendet haben, um uns immer
wieder neue Formulierungshilfen zu geben.
({3})
Dem gilt unser herzlicher Dank.
({4})
Im Bereich des Naturschutzes und des Wasserrechts
gibt es erstmals eine Vollregelung für den Bund.
({5})
All denjenigen, die Probleme bei der Föderalismusreform I sehen - ich teile diese Sicht im Übrigen -, muss
man sagen, dass der Rechtszustand bzw. der Verfassungszustand davor auch nicht besser war, da der Bund
keine Vollregelungs-, sondern nur die Rahmengesetzgebungskompetenz hatte.
Wir haben in diesen wichtigen Rechtsbereichen jetzt
erstmals Vollregelungen erlassen können, allerdings
mussten wir sie auch erlassen, weil ansonsten eine völlige Rechtszersplitterung in Deutschland gedroht hätte.
Angesichts der Abweichungskompetenz der Bundesländer in bestimmten Bereichen stehen wir vor der Herausforderung, hier bei der Beschlussfassung möglichst zu
einem Konsens zu kommen. Diese Vollregelung ist eine
große Innovation im Umweltrecht, und ich glaube, wir
können mit Fug und Recht behaupten, dass die elementaren Grundsätze gewahrt werden konnten, auch wenn
sie - das will ich nicht verschweigen - zur Disposition
standen.
Wir haben beispielsweise den Vorschlag abgewehrt,
dass es einen Vorrang des Vertragsnaturschutzes geben
soll. Wir haben auch Einschränkungen beim Artenschutz
abgewehrt. Jeder, der die biologische Vielfalt ernst
nimmt, muss für ein hohes Schutzniveau eintreten. Dies
ist gelungen, und ich bin außerordentlich dankbar dafür.
({6})
Wir haben auch an dem Grundsatz der Eingriffsregelung „Vermeidung, Ausgleich und Ersatz“ festgehalten. Lediglich bei den Realkompensationen haben wir
eine Flexibilisierung herbeigeführt. Es ist mir wichtig
- auch in Hinsicht auf die Umweltverbände -, dies erreicht zu haben; denn es wurde hinterfragt und wird sicherlich auch weiter hinterfragt werden, ob man an diesem Dreiklang nicht eine Änderung vornehmen kann.
Ich halte die Tatsache, dass wir den Dreiklang „Vermeidung, Ausgleich und Ersatz“ erhalten haben, für einen
Riesenerfolg, und ich glaube, es ist gut, dass wir Umweltpolitiker in dieser Beziehung standhaft geblieben
sind.
Wir haben uns auch mit dem Verhältnis zwischen Klimaschutz, erneuerbaren Energien und Naturschutz befassen müssen. Bei der Wasserkraft haben wir einen solchen Ausgleich gefunden; denn wir haben zwar die
Querverbauung in dem Gesetzentwurf nicht geregelt,
aber wir haben den Schutz der Fischpopulation als
obersten Grundsatz in die Norm aufgenommen und klare
Bewirtschaftungsziele definiert, was aus meiner Sicht
den Belangen beider Seiten - der Naturschützer und der
Wasserkraftnutzer - Rechnung trägt. Insofern ist das aus
meiner Sicht auch ein Erfolg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Bereich des
Wasserrechts war für die Erdöl- und Erdgasindustrie der
Hinweis auf die Wasserrechtrahmenrichtlinie und die
Aufnahme einer Geringfügigkeitsschwelle wichtig. Dies
haben wir durch eine Formulierung, die wir unter Mithilfe des Bundesumweltministeriums gefunden haben,
erreicht.
Ich will an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Bei einem der zentralen Punkte des Umweltrechts, zu dem es
unterschiedliche Vorstellungen bei CDU/CSU und SPD
gibt, haben wir als SPD-Fraktion unsere Position behaupten können. Es geht um die der Öffentlichkeitsbeteiligung. Wir glauben, dass eine frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung Rechtsstreitigkeiten vermeiden kann.
Deswegen ist es, glaube ich, wichtig, hierin nicht dem
Bundesrat zu folgen, sondern es bei der vorgesehenen
Öffentlichkeitsbeteiligung zu belassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, ich danke Ihnen, dass
Sie das respektiert und akzeptiert haben. Das war für uns
ein sehr wichtiger Punkt.
({7})
Den Gesetzentwurf zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung will ich nur am Rande streifen. Darin ist
ein Solariumverbot für unter 18-Jährige vorgesehen. Das
wurde aus dem Grunde notwendig, weil die Selbstverpflichtung der Industrie nicht eingehalten wurde.
({8})
Insofern ist es auch ein wichtiger Schritt des Gesetzgebers, hier eine deutliche Grenze zu ziehen. Wir begrüßen
das ausdrücklich.
Die Rechtsdogmatik der drei bzw. - wenn man das
Rechtsbereinigungsgesetz mit einbezieht - vier Gesetzentwürfe macht deutlich, dass wir den notwendigen Instrumentenkasten für das Umweltgesetzbuch geschaffen haben. Wir haben Standards festgelegt, aber auch
Öffnungsklauseln vorgesehen, die den Ländern die notwendige Flexibilität geben. Ich glaube, wenn wir das beherzigen, dann können wir auch den letzten Schritt in
Richtung des Umweltgesetzbuches gehen.
Ich will an dieser Stelle nicht verschweigen, dass es
weitere Herausforderungen gibt, die wir im Rahmen dieser Kodifikation nicht klären können. Ich will sie für die
SPD-Fraktion aber ausdrücklich ansprechen. Wir werden uns weiter mit der Frage des Flächenverbrauchs be25454
schäftigen müssen. Deswegen war der Dreiklang bei der
Eingriffsregelung so wichtig.
Wir werden uns ferner mit der Frage gentechnisch
veränderter Organismen und deren Auswirkungen beschäftigen müssen. Wir waren einer Meinung, Josef
Göppel, aber wir konnten uns an dieser Stelle nicht bei
dem Koalitionspartner CDU durchsetzen. Ich biete das
weiter an. Wir werden uns der Frage gentechnisch veränderter Organismen auch im Naturschutzrecht stellen
müssen. Wir als SPD-Fraktion haben dazu klare Vorstellungen zugunsten der Natur. Insofern müssen wir dieses
Arbeitsfeld weiter beackern.
({9})
Letztlich wird auch weiterhin das große Spannungsfeld zwischen Klimaschutz und erneuerbaren Energien
auf der Tagesordnung stehen müssen. Das ist ein Dialogprozess.
Ich freue mich, dass wir heute den ersten wichtigen
Schritt tun, der aber nicht der letzte sein darf. Deswegen
ist meine Bitte an den Bundesrat, der angesichts der vielen Änderungsvorschläge in den letzten Wochen konstruktiv mit uns zusammengearbeitet hat, diese Gesetzentwürfe jetzt zu beschließen, um dann in der nächsten
Wahlperiode zu überlegen, wo man an der einen oder anderen Stelle nachbessern kann. Dem Umweltgesetzbuch
sind wir, glaube ich, heute einen deutlichen Schritt nähergekommen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Ich gebe das Wort der Kollegin Angelika Brunkhorst,
FDP.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Miersch, ich kann Ihnen nicht beipflichten.
({0})
Ich denke, die ach so große Koalition hat nicht den großen Wurf gelandet. Ich finde es äußerst bedauerlich, dass
nach den intensiven Vorarbeiten seit Anfang der 90erJahre und trotz der Zustimmung von 15 der 16 Bundesländer kein UGB zustande gekommen ist.
({1})
Es grenzt schon fast an Realitätsverlust, wenn die
Union Anfang März in einer Pressemitteilung schreibt:
„Die erfolgte umfangreiche Kodifizierung ist ein Quantensprung in der Umweltgesetzgebung“. - Das ist mitnichten der Fall.
({2})
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal deutlich machen, dass wir als FDP nach wie vor für die Erstellung
eines UGB und die damit verbundenen Ziele stehen. Wir
sind für die Vereinfachung und Vereinheitlichung der
Vollzugspraxis unter Gewährleistung der materiellen
Umweltstandards. Daran wollen wir nicht rütteln.
Die FDP steht weiterhin für Bürokratieabbau auch im
Umweltrecht.
({3})
Insbesondere wollen wir die Europatauglichkeit des
deutschen Umweltrechts verbessern.
({4})
Das Projekt UGB wird eine wichtige Aufgabe für die
nächste Bundesregierung sein. So weit sind wir d’accord.
Leider hat die Koalition ihre Gesetzentwürfe ziemlich
spät eingebracht. Die Beratungen mussten unter extremem Druck stattfinden. Das fanden wir nicht besonders
kollegial.
({5})
Wir brauchten allerdings bundeseinheitliche Vorschriften - das ist uns auch klar -, weil es sonst ab dem nächsten Jahr eine Rechtszersplitterung in 16 verschiedene
Landesgesetze gäbe. Das wäre ein Desaster für die Umwelt, die Wirtschaft und auch für die Menschen.
Im Naturschutz sind infolge der Föderalismusreform
bundesrechtliche Vollregelungen möglich. Das bedeutet
aus liberaler Sicht aber nicht, dass dort kein Raum für
die Länder mehr bleiben darf, um flexible Regelungen
umzusetzen. Wir haben dazu mehrere Änderungs- und
Entschließungsanträge eingebracht. Uns kommt es insbesondere auf das umweltpolitische Kooperationsprinzip
an; denn wir denken, dass nur eine Umweltpolitik, die
Akzeptanz bei den verschiedenen Akteuren findet, dass
nur eine Umweltpolitik mit den Menschen letztlich eine
erfolgreiche Umweltpolitik ist. Wir sind im Gegensatz
zur Koalition dafür, die Eingriffsregelungen zu flexibilisieren.
({6})
Wir wollen die Option - nicht den Zwang - eröffnen,
Ausgleich und Ersatz gleichzustellen. Wir wollen, dass
die Ersatzgeldzahlung als Ersatzmaßnahme gilt. Wir sehen damit keine Verschlechterung der Standards einhergehen. Wir wollen, dass Einnahmen aus Ersatzgeldzahlungen zum Ausgleich von unvermeidbaren Eingriffen
für qualitativ hochwertige Umweltschutzmaßnahmen
ausgegeben werden.
({7})
Damit kann insbesondere der Planungsaufwand minimiert werden. Statt eines Flickenteppichs aus Einzelfallmaßnahmen bekommen wir dann die Chance, ökoloAngelika Brunkhorst
gisch sinnvolle und nachhaltige Gesamtkonzepte zu
entwickeln. Nicht weniger, sondern mehr Qualität sehen
wir damit verbunden.
({8})
Es wurde schon gesagt: Natürlich leisten aufgrund ihres steigenden Anteils die erneuerbaren Energien im Bereich der Klimapolitik einen großen Beitrag, die Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushaltes zu
gewährleisten. Deswegen gehört das in das Bundesnaturschutzgesetz.
Ich komme zu einem weiteren Punkt. Uns war der
Vertragsnaturschutz immer sehr wichtig. Das sieht die
Koalition erfreulicherweise genauso. Wir möchten den
durch den Vertragsnaturschutz verbesserten Zustand von
Natur und Landschaft absichern, indem wir die Frist verlängern, binnen derer die Wiederaufnahme einer land-,
forst- und fischereiwirtschaftlichen Bodennutzung nach
Bewirtschaftungsbeschränkungen aufgrund des Vertragsnaturschutzes nicht als Eingriff gilt. Die fischereiwirtschaftlichen Flächen, also die gewerblich genutzten
Fischteiche, sehen wir eher als Produktionsanlagen und
nicht so sehr als Natur. Deswegen meinen wir - hier sind
wir mit der Koalition leider nicht d’accord -, dass das
vollständige Mähen von Röhrichtbeständen in Einzelfällen zuzulassen ist. Dann sind die fischereiwirtschaftlichen Interessen und die Interessen des Naturschutzes
gleichermaßen berücksichtigt.
Ein weiteres berechtigtes Anliegen des Naturschutzes
ist, Pflanzen- und Tierarten in ihrer genetischen Vielfalt
unter regionaltypischen Aspekten zu schützen. Wir wollen in Zeiten der Globalisierung und der kontinentübergreifenden Handelsströme präventive Kontrolle betreiben und Möglichkeiten haben, invasive Pflanzen- und
Tierarten sinnvoll zu bekämpfen. Es darf allerdings nicht
sein, dass unter dem Deckmantel des Naturschutzes
Marktabschottungspolitik betrieben wird. Wir fordern
daher die nächste Bundesregierung - wer auch immer
das sein möge - auf,
({9})
sich dafür einzusetzen, dass die Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft für Naturschutz Regelungen entsprechend
den im Einzelfall bestehenden Problemen und Gefahren
einheitlich umsetzt.
Zum Wasserrecht. Besser dieses Gesetz als gar keines. Auch hier müssen wir eine Rechtszersplitterung
verhindern. Gewässer machen nicht an Grenzen halt.
Das gilt für Europa, wo man versucht, die Wasserrahmenrichtlinie umzusetzen, und natürlich für die Bundesrepublik. Wir sind mit dem Wasserhaushaltsrecht nicht
bis auf Punkt und Komma einverstanden; das machen
wir in unserem Entschließungsantrag deutlich. Es war
eine Zumutung, dass wir uns noch am Mittwoch mit
33 Änderungsanträgen befassen mussten. Einigkeit in
der Großen Koalition kann ich hier nicht erkennen. Wir
sind letztendlich froh, dass Sie sich bei den Geringfügigkeitsschwellen noch einmal besonnen und nachgebessert
haben. Alles andere wäre für die Beurteilung der Grundwasserqualität nicht sachgerecht gewesen.
Gewisse Änderungen betreffend die Regelungen zur
Wasserkraft hätten Sie sich unserer Meinung nach sparen können. Hier haben Sie auf Kosten des Gewässerschutzes nicht standgehalten. Das ist bedauerlich.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich
auf die Zeit, in der wir uns ernsthaft um ein UGB kümmern werden.
({10})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Josef Göppel, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir können heute vier Umweltgesetze verabschieden, mit denen Deutschland international glaubwürdig bleibt, auch wenn sie nicht formal von dem
Mantel eines Umweltgesetzbuches umgeben sind. Wer
von tropischen Ländern den Schutz der Regenwälder
verlangt, der muss energisch für den Schutz der Natur im
eigenen Land eintreten.
({0})
Aus christlicher Sicht bedeutet der Auftrag, die Erde zu
bebauen, sie so zu bebauen, dass sie auch bewahrt wird.
Der Artenbestand der Schöpfung ist nicht in unser Belieben gestellt. Deshalb haben die Mitgeschöpfe des
Menschen, die wild lebenden Pflanzen und Tiere, eine
Lebensberechtigung inmitten der menschlichen Zivilisation. Dahinter stehen keine Zweckmäßigkeitsgründe,
sondern eine ethische Grundhaltung, die sich aus der
christlichen Sicht ergibt und somit den Auftrag an die
Christen umreißt.
({1})
Das gilt in gleicher Weise für die natürlichen Lebensgrundlagen Luft, Wasser und Boden. Sie sind trotz der
Nutzung rein zu erhalten.
Dafür schafft nun insbesondere das neue Naturschutz- und Wasserrecht einen Rahmen. Ich erwähne
Beispiele.
Erstens. Erstmals bekommen wir bundesweit Grundsätze des Naturschutzes, von denen kein Land nach unten abweichen kann.
Zweitens. Es bleibt dabei: Alle Eingriffe in die Natur
müssen ausgeglichen werden. Dabei besteht eine strenge
Rangfolge. Zunächst ist immer zu prüfen, ob der Eingriff
nicht doch vermieden werden kann. Vermeidbar sind
Eingriffe, wenn zumutbare Alternativen bestehen. Zulässige Eingriffe sind zunächst am Ort des Eingriffes oder
im selben Naturraum auszugleichen, und zwar hinsicht25456
lich der Fläche und hinsichtlich der ökologischen Funktionen. Erst wenn all dies nicht möglich ist, kann ein
Eingriff mit Geld ausgeglichen werden.
Drittens. Wir verankern im neuen Naturschutzgesetz
einen Vorrang der Innenentwicklung beim Bauwesen.
Viertens. Wir wollen und werden in Zukunft das freiwillige Miteinander bei der Durchführung des Naturschutzes und der Landschaftspflege fördern. Die Behörden sollen möglichst Organisationen damit beauftragen,
in denen Landwirte, Naturschützer und Kommunalpolitiker freiwillig und gleichberechtigt zusammenwirken.
Dazu gehören zum Beispiel die deutschen Landschaftspflegeverbände und vergleichbare Organisationen, die
eine hohe Akzeptanz gefunden haben und täglich ein hohes naturschutzfachliches Können unter Beweis stellen.
Fünftens. Wir haben in den Zielkatalog des Gesetzes
die erneuerbaren Energien mit aufgenommen, wenngleich in jedem Einzelfall eine Abwägung nötig ist.
Gut abgewogen und ausbalanciert ist das neue Gesetz
auch hinsichtlich der Interessen der Grundeigentümer.
Ich nenne auch dafür zwei Beispiele: Die Frist für die
Rückholung zeitlich geförderter Biotope erweitern wir
von fünf auf zehn Jahre. Das stärkt die Position der
Landwirte, weckt ihre Bereitschaft zu einem freiwilligen
Miteinander auch in dieser Hinsicht und erhält mehr naturnahe Flächen in der Feldflur.
Für besonders wichtig halte ich auch die Klarstellung,
dass die Erholungsnutzung von Grundstücken keine zusätzlichen Sorgfalts- und Verkehrssicherungspflichten
für den Grundeigentümer begründet. Wir brauchen die
Grundeigentümer für einen guten Naturschutz.
({2})
Ein Wermutstropfen aus Sicht der CSU ist allerdings
die Ablehnung eines bayerischen Antrags hinsichtlich
der Auswirkungen Grüner Gentechnik. Der Gesetzestext
sieht eine Prüfung der Verträglichkeit vor dem Anbau
gentechnisch veränderter Pflanzen nur innerhalb der Natura-2000-Gebiete vor, obwohl die europäische Richtlinie auch die von außen einwirkenden Beeinträchtigungen erfasst.
({3})
Insgesamt wird die Frage, ob das neue Gesetz zu einem nachhaltigeren Umgang mit unseren natürlichen
Lebensgrundlagen führt, in den nächsten Jahren in der
Praxis beantwortet werden müssen. Der Gradmesser dafür ist die Eindämmung des Landverbrauches. Der offene, atmende Boden ist ein wertvolles Zukunftskapital
in einem dicht besiedelten Land. 96 Hektar Flächenversiegelung pro Tag sind für ein Land mit sinkender Einwohnerzahl einfach zu viel.
({4})
Meine Damen und Herren, vor wenigen Tagen ist der
neue Bericht zur Lage der Natur in Deutschland erschienen. Er zeigt auf, dass es uns gelungen ist, den
Rückgang der Artenvielfalt zu stoppen, allerdings auf einem deutlich, nämlich um ein Viertel niedrigeren Niveau
als 1970. Dies zeigt einerseits, dass wir in unseren Anstrengungen nicht nachlassen dürfen, und andererseits,
dass Naturschutz wirkt. Naturschutz lohnt sich auch für
uns Menschen: In der freien Natur atmen wir durch; Lasten fallen beim Gang über Wiesen oder durch den Wald
von uns ab. Ganz besonders für die Kinder brauchen wir
neben der technischen Welt und der virtuellen Welt den
offenen Blick in die natürliche Lebenswelt, damit sie ihren Blick an den Maßstäben des Natürlichen schulen
können. Nicht zuletzt für sie verabschieden wir die heutigen Gesetze. Ich bitte Sie alle um Ihre Zustimmung.
({5})
Für die Linke gebe ich das Wort dem Kollegen Lutz
Heilmann.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Gäste! Frau Brunkhorst, Sie müssen mir eine Bemerkung erlauben. Als wir die vorliegenden Gesetzentwürfe in den Ausschuss bekommen haben, haben wir
uns als Linke - auch die Grünen, soweit ich weiß - darum bemüht, dass wir hier eine Anhörung durchführen
können. Wir hätten Ihre Stimme gebraucht; mit der
Stimme der FDP hätten wir als Opposition gemeinsam
diese Anhörung erzwingen können.
({0})
Sie wollten das nicht, weil Sie wahrscheinlich schon zu
Ihrem Nachbarn schielen und der CDU/CSU im Hinblick auf künftige Koalitionen im Bundestag oder sonst
wo nicht wehtun wollen. Ich wollte noch einmal ganz
klar und deutlich herausstellen, welche Rolle Sie hier in
dem Gesetzgebungsverfahren gespielt haben.
Herr Gabriel, somit komme ich gleich zu Ihnen. Ihre
Bilanz als Umweltminister ist, mit einem Wort ausgedrückt, katastrophal:
({1})
katastrophal, weil Sie für die Abschwächung der CO2Grenzwerte bei Pkws verantwortlich sind, katastrophal,
weil Sie mit dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz von 2007
gegen den Geist der Århus-Konvention verstoßen haben,
und katastrophal, weil Sie mit dem Scheitern des UGB
dem Ganzen noch die Krone aufsetzen. Herr Gabriel, Sie
sind da nicht an der CSU aus Bayern gescheitert; das ist
vielmehr Ihr ganz persönliches Unvermögen.
({2})
Sie konnten sich nicht bei Ihrer Kanzlerin durchsetzen,
die übrigens einmal Umweltministerin war und der der
Naturschutz und der Klimaschutz offenbar für Sonntagsreden auf großen Konferenzen gut sind; wenn es aber
ans Eingemachte geht, ist nichts.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heute
abschließend die Überbleibsel - ich sage: die ÜberbleibLutz Heilmann
sel, Kollege Miersch - des Umweltgesetzbuches, sozusagen den Rest, darunter die Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes. Sie sagen: Es ist ein gutes Gesetz. Na ja,
man muss seine Niederlagen immer irgendwie ein bisschen schönreden, nicht wahr?! Ich entgegne Ihnen: Es ist
ein schlechtes Gesetz. Ich würde es nicht Naturschutzgesetz nennen, sondern Naturzerstörungsgesetz.
({3})
Ihrer Meinung nach muss dieses Gesetz jetzt ganz
schnell verabschiedet werden, weil die Länder ab dem
1. Januar 2010 abweichende Regelungen erlassen könnten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU
und von der SPD, Sie waren doch diejenigen, die in der
Verfassung die Möglichkeit abweichender Regelungen
in den Ländern verankert haben. Dafür sind nicht wir,
sondern Sie verantwortlich; schließlich ist das ein Ergebnis der Föderalismusreform.
({4})
Ich möchte jetzt darauf verzichten, eine juristische
Auseinandersetzung darüber zu führen, ob es am 1. Januar 2010 wirklich dazu kommt, dass die Länder flächendeckend abweichende Regelungen erlassen. Wir haben ein Bundesnaturschutzgesetz mit Mängeln, das über
den 1. Januar 2010 hinaus Gültigkeit hat. Eine Debatte
darüber will ich jetzt aber nicht beginnen.
Mit dem Bundesnaturschutzgesetz, das Sie hier heute
verabschieden wollen, ist das Ziel verbunden, vernünftige, abweichungsfeste, allgemeine Grundsätze festzuschreiben. Von allen anderen Regelungen können die
Länder ganz einfach abweichen. Das ist doch richtig so,
Herr Kollege Miersch, oder?
({5})
Es ist doch Fakt - so steht es in der Verfassung -: Von
dem, was nicht abweichungsfest geregelt ist, können die
Bundesländer ganz einfach abweichen.
({6})
Der vorliegende Gesetzentwurf enthält 8 allgemeine
Grundsätze des Naturschutzes. Im noch geltenden Bundesnaturschutzgesetz sind 15 Grundsätze formuliert. Ich
stelle gegenüber: 8 Grundsätze im Gesetzentwurf,
15 Grundsätze im geltenden Gesetz.
({7})
- Ich höre das Wort „Qualität“.
Schauen wir uns das Ganze einmal anhand eines Beispiels an. Die Eingriffsregelung ist das Kernstück des
Naturschutzrechts. Es geht dabei um den Umgang mit
Beeinträchtigungen der Natur. § 13 dieses Gesetzentwurfs enthält in einem Satz den allgemeinen Grundsatz;
ich verzichte darauf, ihn hier vorzulesen. Ist das von der
Qualität her ausreichend? Ich sage: Nein! Es ist notwendig, die Legaldefinitionen, die Abwägungssituation als
allgemeinen Grundsatz zu verankern. All das hätte viel
umfassender geregelt werden müssen. Wie gesagt, enthält § 13 Ihres Gesetzentwurfes in einem Satz den allgemeinen Grundsatz. Der Rest, also das, was in § 14 ff.
Ihres Gesetzentwurfes geregelt ist, ist nicht abweichungsfest. Mit anderen Worten: Die Länder können
diesbezüglich abweichende Regelungen treffen. Das
wollen Sie hier beschließen. Das ist nicht hinnehmbar.
Die von Ihnen geplante Eingriffsregelung beweist,
wie ich aufgezeigt habe, dass dieser Gesetzentwurf
nichts taugt. Es ist nicht ausreichend definiert, welche
Grundsätze abweichungsfest sind. Deshalb fordert die
Linke - Ihnen liegt ein Entschließungsantrag von uns
vor -, qualitativ hochwertige abweichungsfeste Grundsätze.
({8})
- Kollege Miersch, Sie sprechen von Öffentlichkeitsbeteiligung. Wie haben Sie denn die Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie umgesetzt? Stichwort „UmweltRechtsbehelfsgesetz“! Ich verweise auf sämtliche Beschleunigungsgesetze. Damit haben Sie die Öffentlichkeitsbeteiligung der Bürgerinnen und Bürger ad absurdum geführt.
Herr Kollege Heilmann, denken Sie bitte an Ihre Zeit.
Die Linke fordert eine präzise und vollständig abweichungsfeste Eingriffsregelung.
Ich möchte zum Schluss kommen. Wenn Sie diesen
Gesetzentwurf heute verabschieden, tun Sie dem Naturschutz in Deutschland keinen Gefallen. Ich bitte Sie, darauf zu verzichten, unseren Entschließungsantrag anzunehmen und dementsprechend Ihren Gesetzentwurf zu
überarbeiten.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Undine Kurth, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf
den Tribünen! Es wird Sie sicherlich nicht wundern, dass
nach den Debatten der letzten Woche wir, die Bündnisgrünen, den heutigen Tag mit der Beschlussfassung über
das jetzt vorliegende Gesetz als einen mehr als ernüchternden Schlusspunkt unter der umweltpolitischen Bilanz sowohl der Großen Koalition als auch des Ministers
ansehen. Wir erleben das Ende eines politischen Tau25458
Undine Kurth ({0})
ziehens, an dessen Anfang einmal das erklärte Ziel
stand, ein modernes Umweltgesetzbuch zu schaffen. Das
war ein sehr wichtiges, sehr begrüßenswertes Vorhaben,
dessen Verwirklichung wir alle uns wünschen. Ich finde
es mehr als erschreckend, dass ein so wichtiges Politikfeld wie die Naturschutzpolitik zum Spielball im Machtpoker wird, um sich gegenseitig Fesseln anzulegen, und
dass ein Land tief im Süden unserer Republik, in dem,
wie wir jüngst gelernt haben, die Stammeszugehörigkeit
noch eine große Rolle spielt, das Naturschutzrecht als
machtpolitisches Instrument missbraucht.
({1})
Es ist sicher anerkennenswert, dass der Umweltminister dafür gekämpft hat, dass wenigstens einige Teile des
Umweltgesetzbuches abgeschlossen werden können.
Wenn man sich aber das vorliegende Ergebnis ansieht,
dann fragt man sich, ob sich die Mühe gelohnt hat. Lieber Matthias Miersch, nicht alles, was lange währt, wird
automatisch gut. Da bin ich anderer Meinung als Sie.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen
Koalition, Sie haben nicht einmal die selbstgesteckten
Ziele in der nationalen Biodiversitätsstrategie berücksichtigt. Sie haben es auch nicht für ausreichend wichtig
gehalten, Klimaschutzziele im Programm zu verankern,
obwohl wir in dieser Debatte ständig und mit Recht darüber reden, dass ein intakter Naturhaushalt wichtigste
Voraussetzung ist, um den klimapolitischen Herausforderungen zu begegnen.
({2})
Um Ihnen zu zeigen, dass wir nicht aus Prinzip meckern, weil wir Opposition sind, möchte ich an vier Beispielen klarmachen, warum wir diesem Gesetzentwurf
nicht zustimmen können und was unsere Kritikpunkte
sind.
Erster Punkt: Eingriffsregelung. Lieber Josef Göppel,
auch wenn es viel schlimmer hätte kommen können
- das stimmt -, ist das, was jetzt vorliegt, trotzdem kein
Erfolg. Bislang galt in Deutschland, dass derjenige den
Schaden, den er in der Natur anrichtet, bitte schön auszugleichen hat. In diesem Gesetzentwurf sind hierzu gravierende Änderungen vorgesehen. Bisher war es so, dass
ein Eingriff zunächst daraufhin geprüft werden musste,
ob er nicht an einem anderen, weniger sensiblen Standort möglich ist.
({3})
Genau diese Prüfung eines alternativen Standortes soll
es nun nicht mehr geben.
({4})
Bisher galt die Regelung, dass Ausgleich und Ersatz
nacheinander erfolgten. Jetzt sollen Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen gleichgesetzt und zugleich geprüft werden. Sie nennen das Flexibilisierung. Wir sagen: Das ist
eine Schwächung des Naturschutzes.
({5})
Am Schluss der Prüfkaskade soll als letztes Mittel der
finanzielle Ausgleich stehen. Da wundert es natürlich
niemanden, dass die Kollegen von der FDP diesen
Schlusspunkt lieber an den Anfang genommen hätten
und eigentlich sowieso dafür gewesen wären, sich von
Anfang an freikaufen zu können. Dem sind Sie Gott sei
Dank nicht gefolgt; das begrüßen wir.
Der zweite Punkt: die Privilegierung der Landwirtschaft. Alle, die sich damit befassen, wissen, dass die
Landwirtschaft einer der größten Verursacher des Artenrückganges ist. Wie kann man da die Privilegierung der
Landwirtschaft aufrechterhalten wollen, ohne dafür zu
sorgen, dass die „gute fachliche Praxis“ der Landwirtschaft besser definiert wird? Es wäre ganz einfach gewesen, etwa den Umbruch von Grünland zu unterlassen.
Auch das fehlt.
({6})
Dritter Punkt - daran sieht man, was ein Detail ausmacht, auch wenn das andere als einen marginalen Punkt
ansehen -: Ich finde es bemerkenswert, dass sich die
Große Koalition nicht zu schade dafür war, einen vom
Bundesministerium wenigstens vorgeschlagenen Neststandortschutz aufzuweichen. Allein das Ersetzen des
Wortes „Neststandort“ durch „Horststandort“ bedeutet
nämlich, dass der Schutzgedanke eben nur noch auf
Greif- und Stelzvögel angewandt wird.
({7})
Das ist sicherlich gut für Störche, Habichte und Falken.
Für Spechte, Gänse, Amseln und andere schutzbedürftige Vögel ist es aber nicht gut. Das sind zwar Details,
aber sie zeigen, was hier passiert.
Vierter Punkt: Sie haben weiterhin versäumt, die Regelungen zum Klagerecht und zur Öffentlichkeitsbeteiligung den EU-Standards anzupassen. Sie wissen, dass
hier eine Regelung vorliegt, die gegen geltendes EURecht verstößt. Trotzdem unternehmen Sie nichts.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU
und von der SPD, Sie hatten die Chance, ein Regelwerk
vorzulegen, das einen modernen Naturschutz verankert,
das die Natur effektiv schützt, einen besseren Vollzug ermöglicht, die biologische Vielfalt erhalten hilft und zum
Klimaschutz beiträgt. Sie sind leider vor den Begehrlichkeiten großer Lobbygruppen eingeknickt.
({8})
Wenn Sie sagen, es hätte alles noch viel schlimmer kommen können, dann mag das für Sie ein Trostpflaster sein.
Es ist aber kein Grund, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. Deshalb werden wir das auch nicht tun.
({9})
Ich gebe das Wort dem Bundesminister für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was wir
heute beschließen, ist weder das Paradies noch ist es zu
verdammen nach dem Motto: Nichts hat sich bewegt.
Ich finde, es ist ein sehr großer Schritt nach vorne, was
ich im Folgenden an praktischen Beispielen belegen
werde. Besser, als es der Kollege Göppel am Ende seiner
Rede ausgedrückt hat, kann man die Notwendigkeit der
neuen Regelungen nicht schildern. Das will ich ausdrücklich sagen.
({0})
Wir führen oftmals Debatten über die Frage, wie ein
Gesetz gestaltet werden soll. Aber hier geht es doch um
Folgendes: Wenn wir die Augen schließen und uns fragen würden, wo wir uns in diesem Moment am wohlsten
fühlen, dann würden die meisten von uns - da bin ich
ganz sicher - eine Naturlandschaft vor ihrem geistigen
Auge sehen. Es geht also darum, dass wir die Natur erhalten und nicht zerstören. Was wir verabschieden, ist
das dafür notwendige Gesetzeswerk. Aber das eigentliche Ziel ist, Naturlandschaften zu erhalten und unseren
Kindern und Enkelkindern zu vererben.
Die vorliegenden Gesetze sind ein Riesenschritt nach
vorne, obwohl nicht das geschafft worden ist, was wir
uns vorgenommen hatten und was seit 20 Jahren überfällig ist, nämlich ein einheitliches Umweltgesetzbuch,
wozu insbesondere die integrierte Vorhabengenehmigung gehört. Ich will ganz klar sagen: Ich verstehe die
Widerstände bei der integrierten Vorhabengenehmigung
deshalb nicht, weil es darum ging, vor allen Dingen für
mittelständische Unternehmen die komplizierten Antragsverfahren zu erleichtern. Das Umweltrecht ist eher
anarchisch entstanden. Es ist nicht strukturiert in der
Verfassung und in den Gesetzen angelegt. Das führt
dazu, dass mittelständische Unternehmen einen Aktenberg
zu bewältigen haben, um am Ende eine Genehmigung zu
erhalten. Parallelverfahren und Parallelgenehmigungen,
das alles sollte die integrierte Vorhabengenehmigung beseitigen. Der Normenkontrollrat, der für die Abschaffung überflüssiger Bürokratie in Deutschland zuständig
ist, sagt, das UGB sei eine sehr gute Idee gewesen und
wir hätten damit einen Impuls für Wirtschaft und Beschäftigung gegeben.
Das Vorhaben ist nicht nur an einem Bundesland,
nämlich Bayern, gescheitert. Frau Kollegin Brunkhorst,
in diesem Zusammenhang habe ich eine Frage an Sie.
Sind Sie nur Teil der Staatsregierung in Bayern oder regieren Sie auch wirklich mit? Wenn Sie mitregierten,
dann hätten Sie die Möglichkeit gehabt, dafür zu sorgen,
dass die Bayern das Vorhaben nicht scheitern lassen, wo
Sie doch eine solch glühende Befürworterin der integrierten Vorhabengenehmigung im UGB sind.
({1})
Mein Eindruck ist, dass Sie nur ein Teil der Staatsregierung sind.
Das Umweltgesetzbuch ist aber auch an dem massiven Widersand des BDI gescheitert, der seine Vorstellungen in der CDU/CSU-Fraktion erfolgreich durchsetzen konnte. Die großen Konzerne, die Stabsabteilungen
voller Juristen haben, haben sich durchgesetzt. Ihnen bereitet es keine Probleme, komplizierte Verfahren zu bewältigen. Ich sage es ganz deutlich: Die Damen und Herren waren zu faul, sich auf ein neues Recht umzustellen.
Um nichts anderes ging es doch.
({2})
Die Mittelständler leiden darunter. Sie müssen nämlich
mit einem komplizierten Recht weiterleben. Der BDI
mit seinem Jurassic Park an Funktionären hat sich durchgesetzt. Das - und nichts anderes - ist passiert.
({3})
Trotzdem versuchen wir jetzt, einen großen Schritt
nach vorne zu gehen, indem wir die Zersplitterung des
Umweltrechtes in Deutschland verhindern. Wenn wir
nicht handeln würden, wäre das nämlich der Fall. Denn
das Moratorium läuft nach Art. 125 b des Grundgesetzes
Ende dieses Jahres aus. Dann hätten wir 16 verschiedene
Naturschutzrechte und 16 verschiedene Wasserschutzrechte in den Ländern gehabt, was die Bürokratie noch
potenziert hätte. Das verhindern wir nun. Wir haben
auch in verschiedenen Bereichen ganz entscheidende
Fortschritte erzielt. Ich glaube, darauf sollte man hinweisen.
Nachdem wir nun Jahre miteinander verhandelt hatten und die Länder an Bord waren, war es ein bisschen
überraschend, dass die Länder im Bundesratsverfahren
mehr als 150 Änderungsanträge gestellt haben. Es ist ein
Hinweis darauf, was solche Verabredungen am Ende
wert sind. Aber ich sage auch ganz deutlich: Es ist dem
Engagement von Länderumweltministern zu verdanken, dass wir es am Ende geschafft haben. Ich sage das
deshalb, weil immer der Eindruck entsteht, dass die Natur in Gefahr ist, wenn ein Land vom Bundesgesetz abweicht. Herr Heilmann erzählt solche Geschichten gern.
Die Nationalparks müssen von den Ländern eingerichtet
werden; dies macht nicht der Bund. Sie gibt es nur, weil
die Länder entsprechend gehandelt haben.
Es waren also, wie gesagt, Länderumweltminister, die
am Ende ganz wesentlich dazu beigetragen haben, dass
wir hier zu einem Ergebnis gekommen sind. Ich nenne
nur die Kolleginnen Margit Conrad aus Rheinland-Pfalz
und Tanja Gönner aus Baden-Württemberg. Sie haben
sich tapfer für einen wirklichen Fortschritt im Umweltrecht engagiert.
({4})
- Auch Christian von Boetticher. Ich will zwar niemanden vergessen. Aber mir geht es schon um die beiden
eben zuerst Genannten, die sehr engagiert an diesen Themen mitgearbeitet haben.
Es gab einige Vorschläge der Länder, die wir nicht
umsetzen. Man darf nicht alles machen, was die Länder
wollen. Zum Beispiel hat der Kollege Sander aus Niedersachsen erklärt, er wolle gerne die Gleichstellung von
Geldzahlungen und Ersatz- oder Ausgleichsmaßnah25460
men im Naturschutz, wenn es um Eingriffe in die Natur
und Landschaft geht. Für Nichtexperten - ich möchte bei
dieser Gelegenheit Frau Kollegin Kurth korrigieren, die
den Gesetzentwurf etwas frei interpretiert hat -: Erstens.
Es bleibt dabei, dass erst einmal geprüft werden muss,
ob ein Eingriff in Natur und Landschaft vermieden werden kann. Erst dann kommt es zu einer Gleichstellung
von Ausgleich oder Ersatz. Früher hatte der Ausgleich
Vorrang vor dem Ersatz, und wir wissen alle, wozu das
geführt hat.
Es hat dazu geführt, dass unmittelbar in der Nähe von
Eingriffen Ausgleichsmaßnahmen stattgefunden haben,
auch wenn sie hochgradig fragwürdig gewesen sind. Es
geht um die Frage, ob man die besten Böden zum Naturschutzgebiet macht oder Bäume pflanzt, nur weil nebenan gebaut wurde, anstatt zu überlegen, ob es im weiteren Umkreis ein Gebiet gibt, das sich besser eignet,
damit wir die Böden, die wir entweder für Nahrungsmittel oder für Energiepflanzen brauchen, nicht zerstören.
Frau Kurth, das ist doch eine vernünftige Sache.
({5})
Sie tun so, als ob man machen könnte, was man
wollte. Als ortsnah gilt eine Fläche in der Größenordnung von drei Landkreisen. Ich kann Ihnen nach der
neuen Regelung Landkreise aus Niedersachsen nennen,
in denen so viele Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen
durchgeführt wurden, dass sie gar nicht wissen, wo sie
mit weiteren hingehen sollen. Darum geht es doch und
nicht darum, Geld zu zahlen. Das wollte der Kollege
Sander. Die FDP wollte, dass wir uns vom Naturschutz
freikaufen können.
({6})
Das war der Vorschlag des Kollegen von der FDP, den
wir abgewehrt haben; das ist auch gut so. Dazu kommt
es also nicht.
Zweitens. Bei der Öffentlichkeitsbeteiligung bei
komplexen Großvorhaben, bei denen aufgrund ihrer
Umweltrelevanz eine UVP, eine Umweltverträglichkeitsprüfung, durchzuführen ist, muss es beim obligatorischen Erörterungstermin bleiben. Er sollte zwar gestrichen werden, aber das haben wir abwehren können.
Lassen Sie mich ein paar Bemerkungen zu dem machen, was hier gesagt wurde. Zu Ihnen, Herr Heilmann:
Wissen Sie, wie ich die Linke kennenlerne? Im Bundestag fordert die Linke die Reduzierung von CO2 in der
Autoindustrie; bei diesem Thema sind Sie immer vorne
mit dabei. Bei Ford, wo Sie zu meinem großen Bedauern
gelegentlich Betriebsräte stellen, machen Sie das genaue
Gegenteil.
Oder: Im Bundesrat sprechen Sie sich gegen jegliche
Ausnahmen für die energieintensive Industrie aus, aber
dort, wo Mitglieder Ihrer Partei Arbeitnehmervertreter
oder Mitglieder bei der IG Metall sind, verlangen Sie
von uns, dass wir der Stahlindustrie möglichst gar keine
Auflagen machen. Und: Im Bundestag sprechen Sie sich
für einen Ausstieg aus der Braunkohle aus. Vor Ort kommen Ihre Abgeordneten jedoch zu mir und bitten mich
um eine Genehmigung für ein Braunkohlekraftwerk.
Das ist die Politik der Linken. Sie blinken links und biegen rechts ab. So machen Sie das!
({7})
Mich wundert, dass Sie den alten Spruch „Atomkraft
und Erfolgskontrolle strahlen noch lange nicht so dolle“
noch nicht gebracht haben. Das war doch Ihr früheres
Motto. In Morsleben müssen wir uns doch um Ihre Altlasten kümmern. Ich finde, Sie sollten etwas weniger
heldenhaft auftreten.
({8})
Auf das Thema Eingriffsregelung bin ich bereits eingegangen. Jetzt komme ich zum Thema Privilegierung
der Landwirtschaft, Frau Kollegin Kurth. Es geht um
den Fall, dass ein landwirtschaftlicher Betrieb kurzfristig
nicht fortgeführt wurde und es dann aber zur Wiederaufnahme des landwirtschaftlichen Betriebes kommt. Sie
haben so getan, als würden wir die Landwirtschaft prinzipiell privilegieren. Jemand, der sich mit dem Thema
nicht auskennt, hätte Ihre Rede so verstehen können,
auch wenn sie nicht so gemeint war. Ich will darauf hinweisen, dass es um jenen Fall geht, bei dem ein Landwirt
seine landwirtschaftliche Produktion kurzfristig nicht
fortgeführt hat.
Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zum Bericht zur Lage der Natur machen, weil das in der letzten Debatte untergegangen ist. Ich finde, dass sich das,
was die Große Koalition erreicht hat, sehen lassen kann.
({9})
Erstens. Seit Jahren wird in Deutschland über die Unterschutzstellung des nationalen Naturerbes diskutiert.
125 000 Hektar nationales Naturerbe - darunter auch das
Grüne Band - haben wir vor Veräußerung und Zerstörung bewahrt. 80 000 Hektar davon sind bereits gesichert.
({10})
Der Rest kommt sicherlich noch hinzu.
Zweitens. Die Bundesrepublik Deutschland hat ein
Drittel der Außenwirtschaftszone an den deutschen Küsten als Schutzgebiete zum Meeresnaturschutz an Brüssel
gemeldet. Inzwischen wurde es unter Schutz gestellt.
Kein Land Europas hat für den Meeresnaturschutz so
viel getan wie Deutschland.
({11})
Drittens. Letztes Jahr haben wir von der Naturschutzorganisation WWF den Baltic Sea Award für unsere gute
Politik für die Ostsee erhalten. Ich will dazu kurz etwas
anmerken - das geht manchmal in den Bundestagsdebatten verloren; es sieht dann so aus, als sei in diesem Bereich nichts passiert -: Das naturschutzrechtliche Instrumentarium wird mit der Verabschiedung des heutigen
Gesetzes auf die AWZ und auf den Meeresnaturschutz
übertragen. Ich kenne einige, die sich in der Vergangenheit noch nicht einmal getraut haben, das zu fordern, geschweige denn, ihre Gesetzesnovellen entsprechend zu
formulieren. Wir machen das heute.
({12})
Viertens. Wir haben die Natura-2000-Gebietskulisse
abgeschlossen. Es gibt keine streitigen Rechtsverfahren
mehr. Wir sind das Land, das 500 Millionen Euro zusätzlich in den Regenwaldschutz steckt - ab 2013 sind es
500 Millionen Euro jährlich. Suchen Sie bitte ein Land
auf der Welt, das zu so viel Engagement für Naturschutz
und Regenwaldschutz in anderen Ländern der Welt bereit ist. Sie werden kaum eines finden.
({13})
Meine Damen und Herren, auf eines will ich noch
hinweisen: Wir mussten eine kleine Novelle vorziehen.
Das lag daran, dass das alte Bundesnaturschutzgesetz
vom EuGH für europarechtswidrig erklärt wurde. Das ist
der Grund, warum wir damals die kleine Novelle eingebracht haben.
({14})
- Frau Höhn, ich würde antworten, aber vielleicht wurde
Ihre Meldung noch nicht gesehen.
Ich glaube, dass der Naturschutz der Gewinner dieser
Gesetzesdebatte ist. Wir haben die Gleichstellung von
national bedrohten Arten mit EU-weit bedrohten Arten ermöglicht. Und - anders, als das eben behauptet wurde wir haben die Öffnung zum Ersatzgeld abgewehrt und
eine vernünftige Regelung gefunden.
Herr Minister, ich möchte Sie jetzt fragen, ob die Kollegin Höhn eine Zwischenfrage stellen darf.
Selbstverständlich, Frau Präsidentin.
Herzlichen Dank, Herr Minister, für die Möglichkeit,
eine Frage zu stellen.
Sie haben eben noch einmal deutlich gemacht, dass
Sie viel für den Schutz des Regenwaldes tun, und haben
auf das Versprechen der Kanzlerin und von Ihnen im
Rahmen der COP 9 letztes Jahr in Bonn hingewiesen,
dass Sie 500 Millionen Euro für den Regenwald in den
Haushalt einstellen wollen. Können Sie uns sagen, was
Sie in diesem einen vergangenen Jahr getan haben, um
dieses Versprechen konkret einzulösen, und wie viele
Mittel von diesen 500 Millionen Euro schon ausgegeben
worden sind?
Das kann ich machen. Seit der letzten Biodiversitätskonferenz sind im Rahmen der Life-Web-Initiative
41 Millionen Euro zum Schutz tropischer Regenwälder
abgeflossen. Diese Mittel sind bis jetzt im Rahmen der
Initiative zwischen Deutschland und anderen Ländern
abgeflossen.
({0})
- Frau Kollegin Höhn, Sie müssen bedenken, dass das
on top zu dem kommt, was wir ohnehin tun. Das sind
500 Millionen Euro zusätzlich für den Zeitraum von
2009 bis 2012.
({1})
Ab 2013 fließen jährlich zusätzlich 500 Millionen Euro.
41 Millionen Euro fließen in konkrete Projekte, und
zwar sind diese Mittelabflüsse so gestaltet, Frau Kollegin Höhn, dass wir sicher sind, dass die Mittel nicht in
den Staatshaushalten dieser Länder verschwinden, sondern wirklich dem Schutz des tropischen Regenwaldes
zugutekommen. Dafür sind 41 Millionen Euro eine
Menge.
({2})
Es nützt doch nichts, nur Geld zu überweisen, sondern man muss sicher sein - zum Beispiel in bestimmten
Gebieten in Afrika -, dass das Geld beim Naturschutz
bzw. beim Regenwaldschutz ankommt. Deswegen arbeiten wir zum Beispiel mit Kooperationspartnern aus dort
beheimateten Umweltverbänden oder internationalen
Umweltorganisationen zusammen. Man darf es nicht nur
beim Geldüberweisen belassen, sondern man muss auch
sicherstellen, dass die Qualität stimmt.
({3})
- Ich kann mir vorstellen, dass Sie das einem deutschen
Sozialdemokraten nicht zutrauen. Aber wie so häufig:
Sie irren sich.
({4})
Aber es hindert Sie ja niemand daran, dazuzulernen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir haben in
dieser Legislaturperiode insgesamt und auch mit den
jetzt vorliegenden Gesetzentwürfen große Fortschritte
gemacht. Das Haushaltsvolumen des Bundesumweltministeriums belief sich früher übrigens auf 750 Millionen
Euro. Jetzt sind es mehr als 1,5 Milliarden Euro. Wenn
man der Auffassung ist, dass Haushalte in Zahlen gegossene Politik sind, dann kann man am Haushalt des
Bundesumweltministeriums, wie ich finde, feststellen,
welche Bedeutung die Umweltpolitik in dieser Legislaturperiode hatte.
Weil Sie so gerne über Klimaschutz reden - abgesehen davon, dass die Ziele und Grundsätze des Klima25462
schutzes und der erneuerbaren Energien natürlich in den
Gesetzen erwähnt werden; der Hinweis darauf, das sei
nicht der Fall, ist schlicht falsch -: In früheren Bundeshaushalten - in 2005 - waren 875 Millionen Euro für
den Klimaschutz eingestellt. Im heutigen Bundeshaushalt sind es über 3,4 Milliarden Euro. Auch daran sehen
Sie, was sich in den letzten Jahren getan hat. Ich glaube,
das ist den Schweiß der Edlen wert gewesen.
Ich danke ausdrücklich denen, die sich nicht haben
entmutigen lassen. Dafür gab es zwischendurch gelegentlich Anlass. Diesen Dank richte ich an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meines Hauses, die die Nachtschichten gemacht haben, sowie an Matthias Miersch,
Josef Göppel und Andreas Jung, die mitgeholfen haben,
das Ganze durchzusetzen. Die Länder habe ich schon erwähnt. Das war ein gutes Stück Arbeit.
Egal, wer die kommende Bundestagswahl gewinnt,
das Umweltgesetzbuch I mit der integrierten Vorhabensgenehmigung dürfte eines der ersten Gesetzgebungsverfahren sein, das den nächsten Deutschen Bundestag mit Erfolg durchläuft.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Für die FDP-Fraktion gebe ich dem Kollegen Michael
Kauch das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es
bleibt festzustellen: Das Umweltgesetzbuch hat diese
Koalition aus CDU/CSU und SPD nicht auf die Reihe
bekommen. An dieser Stelle sind alle Beschönigungsversuche der Koalition völlig vergeblich.
({0})
Sie können auch nicht behaupten, das Land Bayern
sei schuld gewesen. Wie man der Verfassung entnehmen
kann, hat das Land Bayern nicht so viele Stimmen, dass
es dieses Gesetz hätte verhindern können. Sagen wir
doch einmal, wer es war! Es war die CSU in der Bundestagsfraktion der Union, die dieses Gesetzgebungsvorhaben blockiert hat. Es waren die Abgeordneten der CSU
hier im Deutschen Bundestag und nicht irgendjemand in
München.
Deshalb bleibt für die nächste Wahlperiode die Aufgabe bestehen, ein Umweltgesetzbuch zu schaffen. Für
die FDP ist dabei klar: Es darf keine Standardveränderungen geben, nicht nach oben, aber ausdrücklich auch
nicht nach unten. Ansonsten ist ein solches Gesetzgebungsvorhaben von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
({1})
Deshalb finde ich die Verbesserungsgenehmigung
beim Rechtsbereinigungsgesetz Umwelt ausgesprochen
fragwürdig. Das zeigt, dass die FDP anders als Sie nicht
jedem Vorschlag des BDI hinterherläuft. Diese Verbesserungsgenehmigung ist ein Beispiel für eine Standardabsenkung. Hier werden Genehmigungen für Projekte
erteilt, die nicht dem Stand der Technik entsprechen. So
etwas ist aus meiner Sicht kein ambitionierter Umweltschutz.
({2})
Vor allen Dingen hat es auch nichts mit Rechtsbereinigung zu tun. Das ist ein Etikettenschwindel.
Im Rechtsbereinigungsgesetz Umwelt gibt es aber
durchaus noch Rechtsbereinigungsmöglichkeiten. Mir
leuchtet beispielsweise nicht ein, warum ein Unternehmen, das nach dem europäischen Umweltmanagementsystem zertifiziert ist, bestimmte Unterlagen nicht mehr
einreichen muss, während das gleiche Unternehmen das
tun muss, wenn es nach dem internationalen ISO-System
zertifiziert ist. Hier hätte man eine Gleichstellung schaffen können und dadurch Bürokratie abbauen können.
({3})
Schauen wir uns jetzt einmal den ebenfalls auf der
heutigen Tagesordnung stehenden Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Schutzes vor nichtionisierender
Strahlung an. Die FDP-Bundestagsfraktion trägt das
Mindestalter von 18 Jahren für den Besuch von Sonnenbänken ausdrücklich mit. Wir hätten uns gewünscht,
dass die Dienstleister ihre freiwillige Selbstverpflichtung
umgesetzt hätten. Klar muss aber sein: Wenn wir auf
eine freiwillige Selbstverpflichtung setzen - und das tun
wir als FDP nachdrücklich -, muss sie auch geliefert
werden. Wenn das nicht geschieht, muss der Gesetzgeber handeln.
({4})
Handeln muss der Gesetzgeber aber nicht bei den
Medizinprodukten. Ich habe das Glück, dass ich als
Mitglied des Gesundheitsausschusses weiß, dass es ein
Medizinproduktegesetz gibt, das gerade novelliert
wurde. Man fragt sich schon, warum beispielsweise
zahnmedizinische Härtungsinstrumente in beiden Gesetzen reguliert werden müssen, sowohl im Medizinproduktegesetz als auch im Gesetz zur Regelung des Schutzes vor nichtionisierender Strahlung. Auf diese
Doppelregulierung hätte man verzichten können. Deshalb werden wir den vorliegenden Entwurf ablehnen.
({5})
Gestatten Sie mir noch einige Worte zum Thema Ersatzgeld, das Sie hier sehr schön als „Freikaufen“ bezeichnet haben, Herr Minister. Zwei Sätze vorher haben
Sie allerdings gesagt, viele Landkreise in Niedersachsen
wüssten gar nicht mehr, wohin mit den Ersatzflächen.
Das ist doch ein Widerspruch. Wenn Sie sich gegen einen Flickenteppich aussprechen, müssen Sie auch sagen:
Wir brauchen große ökologische Projekte, in denen Naturschutz ambitioniert durchgeführt und finanziert wird. Wenn das Ersatzgeld dazu beitragen kann, dann wird damit genauso viel Umweltschutz erreicht, als wenn ortsnah solche Flickenteppiche entstehen.
({6})
Wir haben nicht beantragt, dass immer Ersatzgeld gezahlt werden soll. Wir haben nicht einmal Gleichstellung
im Bundesgesetz beantragt. Wir haben lediglich beantragt, festzulegen, dass die Länder das nach ihren örtlichen Gegebenheiten entscheiden können.
Sie von der Großen Koalition haben im Rahmen der
Föderalismusreform weite Teile des Naturschutzrechts
in das Belieben der Länder gestellt. Jetzt rudern Sie zurück. Es ist nicht redlich, wie Sie an dieser Stelle argumentieren.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Petzold,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich kann mit Kritik leben, aber was Sie, Herr
Heilmann, als ehemaliger Mitarbeiter eines Staatsapparats, der für die Industriewüste Bitterfeld zuständig war,
geboten haben, ging etwas unter die Gürtellinie.
({0})
Wir werden von Ihnen nachher sicherlich noch etwas
zum Wasserrecht hören. Ich kann Ihnen nur sagen: Das
Gras, das an der Muldeaue wächst, müssen wir noch
heute als Sondermüll entsorgen. Angesichts dessen sollten Sie uns nicht erzählen, was Sie alles besser machen
würden.
({1})
Ein bisschen mehr Realitätsbezug sollte man haben.
Es wird immer wieder behauptet, wir hätten für die
Erarbeitung dieses Gesetzespakets zu wenig Zeit gehabt.
Herr Miersch, wir haben schon vor Jahren in Veranstaltungen zusammengesessen und über den Entwurf eines
UGB II debattiert. Wenn Sie sich das jetzt genau anschauen, werden Sie feststellen, dass das UGB II fast
wörtlich in das Wasserhaushaltsgesetz des Bundes übernommen wird. Die Diskussionen damals waren also
nicht vergebens.
Ich möchte mich bei allen, insbesondere natürlich bei
unseren beiden Hauptberichterstattern Andreas Jung und
Dr. Miersch sowie den Mitarbeitern der Abteilung WA
des Umweltministeriums, ganz herzlich für die Zusammenarbeit bedanken, die wir gerade in den letzten Jahren
erfahren haben. Herzlichen Dank!
({2})
Nachdem gerade die Bundesländer intensiv in die Erarbeitung des UGB eingebunden waren, waren wir
selbstverständlich nicht davon erbaut, dass zur Vorlage
der Bundesregierung zum Wasserrecht vom Bundesrat
89 Anträge gestellt wurden. Es hat sich aber gelohnt,
noch einmal eine eingehende Diskussion über den vorliegenden Gesetzestext zu führen.
Von den Bundesratsanträgen wurden 23 unmittelbar
übernommen und weitere 13 einer Prüfung unterzogen.
In unserem weiteren Verfahren haben wir im WHG-Entwurf mit Änderung des § 38 zu den Gewässerrandstreifen,
des § 41 zur Gewässerunterhaltung, des § 49 zu Erdaufschlüssen und des § 60 zur Errichtung von Abwasseranlagen Landesrecht gestärkt.
Wie am Beispiel des § 38 - Gewässerrandstreifen zu erkennen ist - Dr. Miersch hat es schon erwähnt -,
haben wir als Bundesgesetzgeber nicht einfach das Feld
geräumt, sondern sind klar bei unseren Festlegungen zu
den Gewässerrandstreifen geblieben. Um jedoch landesspezifischen Festlegungen Raum zu geben, verschaffen wir mit den von uns beschlossenen Änderungen den
Ländern die Möglichkeit, die Anforderungen in Bezug
auf Gewässerrandstreifen auszuweiten. Das wäre eine
positive Abweichung. Die Bundeseinheitlichkeit bei den
Gewässerrandstreifen - aber nicht nur dort - bleibt damit
gewahrt.
Wir sind den Ländern so entgegengekommen, dass
unsere Gesprächspartner in den Ländern in den letzten
Verhandlungen Zustimmung im Bundesratsverfahren signalisiert haben. Ich hoffe, dass das dann auch so eintritt.
({3})
An weiteren Stellen haben wir Klarstellungen und
kleine Veränderungen vorgenommen. So wurde zu § 32
WHG-Entwurf im Ausschuss festgehalten, dass der verwendete Begriff „Sediment“ in der Gesetzesbegründung
dahin gehend erläutert wird, dass sowohl die schlammigen als auch die festen Bestandteile und damit die organischen und die anorganischen Bestandteile umfasst
sind.
Ebenfalls wurden im Wasserhaushaltsgesetz in § 54
bei der Regelung der Verwendung des Schlamms aus
Kleinkläranlagen, in den §§ 76 und 78 bei den Festlegungen zu Überschwemmungsgebieten, in § 82 bei der
Sonderbestimmung für Einleitungen im Bergbau oder
auch in den §§ 101 und 103 bei den Bußgeldbestimmungen Korrekturen vorgenommen, wodurch in Zukunft auf
der einen Seite die Handhabbarkeit des Gesetzes verbessert wird und auf der anderen Seite die europäischen
Regelungen sicher umgesetzt werden können.
Hauptdiskussionspunkt der letzten Wochen waren jedoch die §§ 33 bis 35 - Mindestwasserführung, Durchgängigkeit und Wasserkraftnutzung -, aber auch § 48,
Grundwasserreinhaltung. Bei der Frage der Nutzung der
Wasserkraft geht durch die Umweltpolitiker ein großer
Riss. Auf der einen Seite sind wir dem Naturschutz verpflichtet und wissen, was jede Turbine und jeder Querverbau in Gewässern anrichten können. Auf der anderen
Seite ist uns die nachhaltige Energieerzeugung durch
Wasserkraft ein Anliegen. Hier musste ein Kompromiss
gefunden werden, der nach unserer Auffassung jetzt gelungen ist. Wasserkraft ist möglich, ja wird sogar gefordert; aber der Schutz der gefährdeten Fischpopulation
und die Durchgängigkeit bleiben gewährleistet, sodass
ich der Meinung bin: Wir können damit leben.
({4})
Wenn ich in meinen Ausführungen mit § 48 das
Thema der Reinhaltung des Grundwassers ausdrücklich
anspreche, ist das dem Umstand geschuldet, dass die
Brisanz dieses Themas erst in den letzten Monaten von
uns allen erkannt wurde. In Verbindung mit § 9 - Einbringen in das Grundwasser - bekam § 48 - Reinhaltung
des Grundwassers - durch die Einführung des Geringfügigkeitsschwellenwertkonzeptes eine besondere Bedeutung. Die ursprüngliche Formulierung, dass „die
Schwellen der Geringfügigkeit vor Eintritt in das Grundwasser nicht überschritten“ werden dürfen, brachte drei
bedenkliche Festlegungen mit sich:
Erstens. Das international noch immer umstrittene
Geringfügigkeitsschwellenwertkonzept würde so in das
deutsche Recht eingeführt.
Zweitens. Es gab die Geringfügigkeitsschwellenwerte
als Schutzziel vor, ohne auf Bewirtschaftungsziele einzugehen.
Drittens legte es den Ort der Beurteilung entgegen der
europäischen Rechtsauffassung auf einen Punkt außerhalb des Grundwasserkörpers fest.
Schon am letzten Punkt ist ersichtlich, wie problematisch diese Formulierung des BMU damals war. Der
Grundwasserkörper ist kein statisches Gebilde. Er ist in
ständiger Bewegung, und das Wasser kann fast jeden
Punkt im Boden erreichen. Deswegen wäre der Beurteilungspunkt immer streitbefangen gewesen.
Zu Recht titelte ein großes deutsches Nachrichtenmagazin „Sondermüll Waldboden“ und wies darauf hin,
dass der reinste Waldboden die Geringfügigkeitsschwellenwerte nicht einhält und damit, sollte er einmal aufgenommen werden, nach der Gesetzesfassung, die wir damals hatten, nicht wieder hätte eingebracht werden
dürfen. Ersatzbaustoffe und Fundamente hätten immer
einer wasserrechtlichen Genehmigung bedurft.
In sachlichen und fairen Gesprächen, für die ich mich
wirklich bedanke, konnten diese Probleme ausgeräumt
werden. Überzogene Wünsche und Vorstellungen wurden korrigiert, sodass jetzt die begründete Hoffnung besteht, dass der Gesetzentwurf die legislativen Hürden im
Bundesrat ohne Vermittlungsverfahren übersteht. Uns
ist sehr wohl bewusst, dass die Ziele mit der Anforderung, ein Gesetz ohne Standardverschärfungen, aber
auch ohne Standardabsenkungen zu schaffen, durchaus
erreicht worden sind. 16 verschiedene Landeswassergesetzgebungen mit 16 verschiedenen Eigenheiten unter
einen bundeseinheitlichen Hut zu bringen, war nicht einfach. Wir haben es, glaube ich, geschafft.
Herzlichen Dank noch einmal an alle.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter,
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister, ich habe
genau gehört, was Sie hier gesagt haben: Der BDI habe
Druck ausgeübt. Sie haben vergessen, zu sagen, dass der
BDI-Chef, der frühere Umweltminister Schnappauf aus
Bayern, Mitglied der CSU ist; das ist doch auch einmal
interessant.
Ich sage: Druck erzeugt Gegendruck. Diesen Gegendruck vermisse ich bei Ihnen.
({0})
Ich habe Ihre Aussagen zur Linken gehört. Das ist ja
nicht das erste Mal, dass wir hier denunziert werden.
Dazu möchte ich erstens sagen - Stichwort „Klimawandel“ -: In Berlin wurde unter Rot-Rot ein Kohlekraftwerk verhindert.
({1})
Ich denke, die anderen Länder sollten sich das einmal
anschauen.
Der zweite Punkt - Autoindustrie und Klimawandel -:
Ich halte es für legitim, dass die Kolleginnen und Kollegen um ihre Arbeitsplätze kämpfen. Das tun wir alle
gemeinsam. Ich möchte aber eine Ökologisierung der
Autoindustrie, und da muss noch vieles getan werden.
Im Übrigen denke ich, dass die Mehrheit der Betriebsräte nicht meiner Partei, sondern Ihrer Partei angehört.
Deswegen sollten Sie mit denen einmal reden.
({2})
Zum Thema AKWs: Wir sind ganz klar für den
Atomausstieg. Natürlich sollten wir einmal über Bitterfeld reden - dazu gab es schon eine Enquete-Kommission, als Sie noch gar nicht im Bundestag waren; ich
kann mich gut erinnern, was dort alles dazu gesagt
wurde -, wir sollten aber auch über die anderen Standorte und die Zwischenlager reden, und die sind im Westen. Ich würde nicht immer nur auf die neuen Bundesländer schauen. Schauen Sie einmal zu uns, schauen Sie auf
Bayern, auf das Land, aus dem ich komme, und sehen
Sie, was dort alles passiert ist.
({3})
Jetzt reden wir über das Wasserrecht. Der vorliegende
Entwurf bringt leider nur wenige Fortschritte im Bereich
des Gewässerschutzes. Darüber bin ich ein bisschen
traurig. Der Entwurf des Umweltgesetzbuchs war - das
haben Sie im Umweltausschuss selbst zugegeben - besser. Einige Dinge sind jetzt schlechter geregelt. Leider ist
der Gesetzentwurf bei den Beratungen im Ausschuss
nicht besser geworden. Schade.
Ich spreche die Gewässerrandstreifen noch einmal
an. Die im Gesetzentwurf vorgesehene Größe wurde von
den ursprünglich angedachten zehn Metern auf fünf Meter verringert. Im Entwurf des Umweltgesetzbuchs war
der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und Pestiziden in
Schutzstreifen noch verboten. Im neuen Wassergesetz
soll er wieder erlaubt sein. Schade.
Nehmen wir die für Wanderfische wichtige Durchlässigkeit der Gewässer. Nach dem neuen Wasserrecht
sollen Stauanlagen durchgängig sein. Das ist richtig.
Nach dem Entwurf des Umweltgesetzbuchs war diese
Durchgängigkeit erst dann gegeben, wenn erstens Gewässerorganismen schadlos stromauf oder stromab passieren können und zweitens der Transport von Geschiebe im Gewässer gewährleistet ist. Das Ganze fehlt
im vorliegenden Gesetzentwurf.
Wir glauben weiterhin allein an Fischtreppen. Doch
diese nutzen den Schuppentieren nur beim Aufstieg.
Beim Abstieg haben Lachs oder Aal große Probleme. Da
muss wesentlich mehr passieren.
Im Ausschuss wurde zudem der fortschrittliche Passus gestrichen, nach dem neue Wasserkraftanlagen lediglich an bestehenden Querverbauungen errichtet werden dürfen. Es wird also wahrscheinlich neue geben, was
ein weiterer Schlag gegen die Durchlässigkeit unserer
Flüsse und Bäche ist.
Ein Fortschritt könnte vielleicht sein, dass es nunmehr
eine Mindestwasserführung geben soll. Wir halten es
für positiv, dass auf diesem Gebiet etwas passiert ist. Allerdings ist der ursprünglich vorgesehene Verweis auf
den Stand der Technik für die Nutzung von Wasserkraftanlagen gestrichen worden. Wie viel Fischschutz installiert wird, bleibt also dem Gusto des Investors überlassen.
Auch beim Grundwasser gibt es Alarmierendes. Bis
heute haben wir hier den Besorgnisgrundsatz. Das heißt,
nach menschlichem Ermessen darf überhaupt nichts ins
Grundwasser eindringen. Dieser in Recht gegossene
Vorsorgegedanke soll nun über den Verordnungsweg
durch das sogenannte Geringfügigkeitsschwellenwertkonzept fallen. Ich bin gespannt, was die Verordnung
bringt.
Wir werden diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({4})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Andreas Jung, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte zunächst voranstellen, dass ich meine, dass
die Gesetze, die wir heute beraten und nachher beschließen werden, in der Tat wichtige Schritte im Bereich der
Umweltgesetzgebung in Deutschland und in der Tat
wichtige Fortschritte auf dem Weg zu einem einheitlichen Umweltgesetzbuch sind.
({0})
Auch ich will mich herzlich bedanken. Ich will mich
beim Kollegen Matthias Miersch, dem Berichterstatter
der SPD, bedanken, mit dem uns drei, die wir dieses
Vorhaben aufseiten der Union begleitet haben - Josef
Göppel, Uli Petzold und ich -, eine sehr gute, konstruktive und, wie sich heute zeigt, auch fruchtbare Zusammenarbeit verbunden hat.
({1})
Ich möchte mich außerdem bei den Mitarbeitern der
Bundesministerien, aber auch bei den Mitarbeitern der
Länderministerien bedanken. In den letzten Tagen, Wochen und sogar Monaten haben wir nicht nur versucht,
zwischen den Koalitionsfraktionen hier in Berlin Einvernehmen über die vorliegenden Gesetzentwürfe zu erzielen, sondern wir haben auch versucht, möglichst viele
der Vorschläge, die von Länderseite, namentlich vom
Bundesrat, vorgetragen wurden, frühzeitig aufzugreifen,
damit wir heute ein Ergebnis vorlegen können, das kein
Vermittlungsverfahren mehr durchlaufen muss. Sonst
hätte es möglicherweise zur Folge, dass der gefundene
Kompromiss dann aufgrund des Zeitablaufes insgesamt
infrage gestellt wird.
({2})
Wir glauben, dass wir heute ein Ergebnis vorlegen,
mit dem die Länder leben können müssten. An dieser
Stelle will ich unserer Hoffnung Ausdruck verleihen,
dass es bei dieser gemeinsam mit allen Beteiligten gefundenen Lösung bleibt und kein Vermittlungsverfahren
mehr notwendig ist.
({3})
Jetzt komme ich zu den Inhalten. Ich finde, dass die
Gesetzentwürfe, die wir auf Grundlage dessen, was im
Rahmen der Föderalismusreform im Umweltbereich
vereinbart wurde, heute verabschieden, deutlich machen,
dass die Föderalismusreform besser ist als ihr Ruf. Was
den Umweltbereich betrifft, waren wir in der Föderalismuskommission einer Meinung. Wir hätten uns gewünscht, dass der Bund im Bereich von Umwelt, Naturschutz und Wasserrecht mehr Regelungskompetenzen
erhält. Das war damals beim Kompromiss mit den Ländern nicht erreichbar.
Heute stellen wir fest, dass dieser Wunsch teilweise
doch Realität wurde, und zwar aufgrund des Wegfalls
der Rahmengesetzgebung bzw. dadurch, dass Naturschutz und Wasserrecht zum ersten Mal in die konkurrierende Gesetzgebung überführt wurden. Nun können auf
Bundesebene Grundsätze für den Naturschutz formuliert
und Vereinheitlichungen im Wasserrecht vorgenommen
werden. Das ist ein Fortschritt im Interesse eines einheitlichen Naturschutz- und Wassergesetzes.
Ich bin sicher, dass dadurch auch die zweite Forderung, die wir immer erhoben haben, nämlich die Verbesserung der Europafähigkeit, vorankommt. Denn in Zukunft können die zahlreichen europäischen Vorhaben
Andreas Jung ({4})
und Vorgaben, mit denen wir es in diesen Bereichen zu
tun haben, effizienter und, wie ich denke, auch zeitnäher
umgesetzt werden.
({5})
Wir haben es mit einem neuen Instrument zu tun: mit
der Abweichungsgesetzgebung. Dieses neue Instrument wurde von vielen, auch in unseren Reihen, zunächst kritisch beäugt und wird dies teilweise noch immer. Uns hat das gemeinsame Ziel verbunden, solche
Regelungen zu treffen, die nach Möglichkeit einvernehmlich und mit Zustimmung aller Länder postuliert
werden können, damit es nicht zu der von manchen befürchteten Zersplitterung des Umweltrechts kommt.
Ich will nur ein Beispiel nennen, das schon angesprochen wurde und an dem man erkennen kann, dass uns
dies gut gelungen ist: die Frage der Notwendigkeit einer
standortbezogenen Vorprüfung bei der Grundwasserentnahme. Sieht man sich die Länderregelungen an, so
stellt man fest: In dem einen Land gibt es überhaupt keinen Schwellenwert, sodass bei jeder Grundwasserentnahme eine solche Prüfung durchgeführt werden muss.
In einer Vielzahl von Ländern gelten Schwellenwerte
von 2 000, 3 000 oder 5 000 Kubikmetern. Es gibt aber
auch den einen oder anderen Ausreißer, Schwellenwerte
von 20 000 oder sogar 27 000 Kubikmetern. Man stellt
insgesamt eine große Zersplitterung fest. Schon heute ist
die gesamte Republik in dieser Hinsicht ein Flickenteppich.
Wir haben uns auf einen Schwellenwert von 5 000 Kubikmetern geeinigt. Das ist ein Kompromiss, den die
Mehrheit der Länder auch im Bundesrat mitgetragen hat.
Mit dieser Einigung verbinden wir die Hoffnung, dass es
zu einer Befriedung und damit zu einer Vereinheitlichung kommt.
({6})
Ich finde, dass es uns in den Diskussionen der letzten
Wochen gelungen ist, für einen guten Ausgleich zu sorgen: zwischen der Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für Naturschutz und Gewässer - dieser Aspekt
steht für uns alle im Mittelpunkt - und den anderen Interessen, die es in diesem Bereich gibt.
Ich will namentlich die Landwirtschaft nennen.
Mehrere Redner haben die Eingriffsregelung angesprochen. Ich finde, wir haben hier einen guten Kompromiss
gefunden zwischen denen, für die die jetzige Regelung
sakrosankt war und die keinen Deut ändern wollten, und
denen, die alles öffnen wollten und zum Beispiel finanzielle Kompensation mit Ausgleich und Ersatz auf eine
Stufe stellen wollten. Wir haben uns für einen Mittelweg
entschieden: Verzicht muss an erster Stelle stehen, an
zweiter Stelle Ausgleich und Ersatz gleichberechtigt nebeneinander. Damit haben wir eine Regelung, die für die
Landwirtschaft gut ist und bei der die Belange des Naturschutzes angemessen berücksichtigt werden. Das ist
eine Regelung, hinter der sich alle versammeln könnten.
Ich will einen zweiten Bereich ansprechen: den sehr
kontrovers diskutierten Bereich der Wasserkraft. Ich
finde, die Union kann stolz darauf sein, dass wir eine
Regelung gefunden haben, die ein Bekenntnis zur Wasserkraft darstellt. Wir haben hier nämlich einen Konflikt
zwischen Naturschutz und Klimaschutz. Das ist nur ein
einzelnes Beispiel; man könnte leicht mehrere aufführen.
Das zeigt, Herr Minister Gabriel, dass man es sich, wenn
es Kritikpunkte gibt, nicht so einfach machen kann, zu
sagen: Das ist der BDI gewesen. Wir sehen bei der Landwirtschaft und bei der Wasserkraft, dass hier auch ganz
andere Interessen zum Ausgleich gebracht werden müssen. Ich finde, das ist uns gut gelungen.
Ich will eine letzte Bemerkung machen, zum Rechtsbereinigungsgesetz Umwelt, und hier zwei Punkte ansprechen. Die Frage der Beteiligung der Öffentlichkeit
ist angesprochen worden. Selbstverständlich sind auch
wir in der Union für eine frühzeitige Beteiligung der Öffentlichkeit. Selbstverständlich sind auch wir der Meinung, dass in der überwiegenden Anzahl der Fälle Erörterungstermine dazu dienen müssen, alle Beteiligten
an einen Tisch zu bringen, um Streitpunkte frühzeitig
auszuräumen. Wir hätten uns an dieser Stelle allerdings
mehr Flexibilität für die Behörden gewünscht, die diese
Erörterungstermine in aller Regel machen. Es gibt, wenn
auch wenige, so doch einige Fälle, in denen Erörterungstermine überflüssig sind. Wir hätten uns deshalb gewünscht, dass der Erörterungstermin fakultativ ist. Das
war in dem Gesamtpaket aber nicht durchsetzbar.
In etlichen Punkten haben wir unsere Anliegen, gerade unser Anliegen, Verfahrenserleichterungen zu erreichen, durchsetzen können. Unter dem Strich können wir
zufrieden sein. Dazu gehört im Übrigen auch die vom
Kollegen Kauch angesprochene Verbesserungsgenehmigung. Sie bringt für die Umwelt einen Fortschritt und
stellt nicht etwa eine Standardabsenkung dar.
Alles in allem können wir sagen: Das ist ein gutes Ergebnis. Wir wollen und werden in der nächsten Legislaturperiode auf diesem Grundstein mit den Verfahrensregelungen, die im UGB I vorgesehen waren, aufbauen.
Wir wollen ein einheitliches Umweltgesetzbuch.
Herzlichen Dank.
({7})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Nicole Maisch, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben am Anfang der Rede des Kollegen Matthias
Miersch gehört: Was lange währt, wird endlich gut. Wir
vom Bündnis 90/Die Grünen sind der Meinung, dass es
eher heißen muss: Als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet.
({0})
Sie loben sich hier gegenseitig und bedanken sich
wechselseitig dafür, dass Sie in einer Hauruckaktion gewissermaßen fünf Minuten vor Schluss der Legislaturperiode eine weitere Zersplitterung des Umweltrechtes verhindern wollen. Diese Zersplitterung haben Sie
durch die Föderalismusreform I selbst herbeigeführt.
Deshalb ist die Föderalismusreform I von den profiliertesten Naturschutzpolitikern in der Koalitionsfraktion
abgelehnt worden. Sie haben sich den Schlamassel selbst
eingebrockt. Und jetzt hätten Sie gerne Dank und Lob
von der Opposition dafür, dass Sie die schlimmsten Auswirkungen im letzten Moment verhindern wollen.
({1})
Sie scheitern an dem, was Sie im Koalitionsvertrag
festgehalten und damit den Menschen in diesem Land
versprochen haben, nämlich das Umweltrecht in einem
einheitlichen Umweltgesetzbuch zusammenzufassen.
Dazu ist es nicht gekommen.
Sie haben versprochen, es gibt keine Standardabsenkung. Die Kollegin Undine Kurth hat Ihnen bei der Eingriffsregelung - bei den Regelungen zu wassergefährdenden Stoffen ist es ähnlich - nachgewiesen, dass es
durchaus so ist, dass materielle Standards abgesenkt
werden.
({2})
Wir finden, dass der, der verspricht, dass an den materiellen Standards nichts gedreht wird, das auch halten
muss.
({3})
Sie haben versprochen, dass Bürokratie abgebaut
wird. Durch die integrierte Vorhabengenehmigung
hätte die Wirtschaft Bürokratiekosten in Millionenhöhe
sparen können. Wir finden es sehr verwunderlich, dass
jemand, der heute in der Bundesregierung Verantwortung für die Wirtschaftspolitik trägt, als bayerischer
CSU-Generalsekretär diese integrierte Vorhabengenehmigung bekämpft hat. Ich finde, das ist für die
Wirtschaftskompetenz der CSU kein gutes Zeugnis.
({4})
Ich möchte noch einige kurze Sätze zum Verfahren
sagen, weil meine Redezeit begrenzt ist. Wir als Opposition haben in den letzten Tagen unglaublich viele Änderungsanträge noch sehr spät in der Nacht bearbeiten
müssen. Wir wissen, dass Sie sich untereinander seit
vielen Monaten mit diesem Thema beschäftigen - wir
auch -, aber Podiumsdiskussionen bei Verbänden, beim
BDI und beim BUND - wie immer sie auch heißen -, ersetzen kein geordnetes parlamentarisches Verfahren.
({5})
Die Hauruckaktion, mit der Sie diesen Gesetzentwurf
jetzt durchpeitschen wollen, zeigt, dass die Umweltpolitik in Ihrer Koalition einen geringen Stellenwert genießt.
({6})
Lassen Sie mich noch einige Sätze zur Neuregelung
des Wasserrechts sagen. Wir kritisieren sehr scharf, dass
Sie den Schutz der Gewässerrandstreifen nicht in der
Form, wie wir es vorgeschlagen haben, verbessern wollen. Der Umgang mit Düngemitteln und Pestiziden ist
nicht so geregelt, wie es nach den Anforderungen an einen modernen Biodiversitätsschutz erforderlich ist. Wir
sind davon überzeugt, dass Sie nicht europakonform gehandelt haben. Durch die Wasserrahmenrichtlinie wird
von uns mehr Schutz der Gewässer gefordert, als Sie
hier vorschlagen.
({7})
Was der Kollege Göppel zur Bewahrung der Schöpfung gesagt hat, hat mir sehr gut gefallen.
({8})
Das meiste davon kann man inhaltlich unterschreiben.
({9})
Wenn man in den Gesetzentwurf schaut, sieht man aber,
dass bei den Regelungen zur Wasserkraft leider gerade
das Gegenteil getan wird. Wir haben die Verantwortung,
die Natur für unsere Kinder zu erhalten. Das gilt natürlich auch für die Gewässer, die Flüsse und die Bäche in
unserem Land. Dem wird leider nicht Rechnung getragen. Hinsichtlich der Wasserkraft kann man wirklich sagen: Der Naturschutz ist den wirtschaftlichen Interessen
geopfert worden. - Das finde ich ziemlich traurig.
({10})
Wir lehnen die Gesetzentwürfe zum Wasser- und Naturschutzrecht ab. Wir hoffen, dass in der nächsten Legislaturperiode jemand Umweltministerin oder Umweltminister sein wird, die oder der härter dafür kämpft, dass
es mehr und nicht weniger Naturschutz in diesem Land
gibt.
Danke.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 54 a. Wir kommen zur Abstim-
mung über die von der Bundesregierung und von den
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwürfe eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts
des Naturschutzes und der Landschaftspflege.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Hierzu liegen einige Erklärungen von Kolleginnen
und Kollegen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.1)
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13430, die genannten Gesetzentwürfe
auf den Drucksachen 16/12785, 16/13298 und 16/12274
zusammenzuführen und in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst ab-
stimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-
sache 16/13489? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt. Dafür haben
gestimmt die einbringende Fraktion, Bündnis 90/Die
Grünen, und die Linke; alle anderen Fraktionen waren
dagegen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-
sache 16/13490? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Änderungsantrag ist ebenfalls abgelehnt mit
demselben Stimmenverhältnis wie bei der vorherigen
Abstimmung.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt da-
gegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung bei Zustimmung der CDU/CSU und
der SPD angenommen. Dagegen haben gestimmt Bünd-
nis 90/Die Grünen und die Linke; die Fraktion der FDP
hat sich enthalten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetz-
entwurf in dritter Beratung mit demselben Stimmenver-
hältnis wie vorher angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/13485? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs-
antrag ist abgelehnt. Zugestimmt hat die FDP-Fraktion,
alle übrigen Fraktionen waren dagegen.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/13484? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist ebenfalls abgelehnt. Zugestimmt haben Bündnis 90/
Die Grünen und die einbringende Fraktion Die Linke.
CDU/CSU, SPD und FDP waren dagegen.
Tagesordnungspunkt 54 b. Abstimmung über die von
der Bundesregierung sowie von den Fraktionen der
CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwürfe eines Ge-
setzes zur Neuregelung des Wasserrechts. Der Aus-
schuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/13426, die genannten Gesetzentwürfe auf den
Drucksachen 16/12786, 16/13306 und 16/12275 zusam-
menzuführen und in der Ausschussfassung anzunehmen.
1) Anlagen 2 bis 4
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf
Drucksache 16/13491? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Dafür haben
gestimmt Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Die übrigen Fraktionen waren dagegen.
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen. Dagegen gestimmt
haben die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Die FDP
hat sich enthalten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, möge sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter
Beratung mit demselben Stimmverhältnis wie vorher angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/13486.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
abgelehnt. Bei Zustimmung durch die FDP-Fraktion haben sich die übrigen Fraktionen dagegen verhalten.
Tagesordnungspunkt 54 c. Abstimmung über die von
der Bundesregierung sowie von den Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwürfe eines
Gesetzes zur Regelung des Schutzes vor nichtionisierender Strahlung. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13431, die genannten Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/12787, 16/13299
und 16/12276 zusammenzuführen und in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für den Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung durch CDU/CSU,
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die
Linke. Die FDP hat dagegen gestimmt.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dafür stimmt, möge sich
bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in dritter Beratung angenommen mit
demselben Stimmverhältnis wie vorher.
Tagesordnungspunkt 54 d. Wir kommen zur Abstimmung über die von der Bundesregierung sowie von den
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwürfe eines Gesetzes zur Bereinigung des Bundesrechts im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13443, die genannten Gesetzentwürfe auf den
Drucksachen 16/12788, 16/13301 und 16/12277 zusammenzuführen und in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der AusVizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen. Die Fraktion Die Linke
hat dagegen gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen und FDP
haben sich enthalten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Bitte stehen Sie auf, wenn Sie
zustimmen mögen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung angenommen mit demselben Stimmenverhältnis wie vorher.
Jetzt wird noch interfraktionell die Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 16/12032 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 55 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hans-Joachim Otto ({0}), Christoph
Waitz, Dr. Claudia Winterstein, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes ({1})
- Drucksache 16/387 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 16/12843 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, eine
Stunde über dieses Thema zu debattieren. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem das
Wort dem Kollegen Siegmund Ehrmann für die SPDFraktion.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
heutige Debatte stellt einen Schlusspunkt eines recht
mühsamen Klärungsprozesses in den letzten zwei Legislaturperioden dar, mit einem mutmaßlichen Ergebnis,
das mich persönlich nicht zufriedenstellt.
({0})
Aber der Prozess entspricht den parlamentarischen Beratungsregeln.
Ich möchte zuerst einen kurzen Blick auf die Historie
dessen werfen, womit wir uns befasst haben, nämlich die
Kultur als Staatsziel in unserer Verfassung zu verankern
und damit ausdrücklich hervorzuheben, dass der Staat
eine besondere Verantwortung hat, die Kultur zu schützen und zu fördern. Bereits in den frühen 90er-Jahren,
nach der deutschen Einheit, gab es in der Verfassungskommission eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Thema. Meine Fraktion, damals in der Opposition,
konnte sich nicht mit dem Begehren durchsetzen, die
Kultur als Staatsziel in der Verfassung zu etablieren.
Gleichwohl haben wir das damals massiv vorangebracht.
Wir haben die damaligen Impulse in den Beratungen der
Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ in der
letzten Legislaturperiode aufgegriffen. Ich möchte ausdrücklich hervorheben, dass es unter den Kulturpolitikern, die seinerzeit die Arbeit der Enquete-Kommission
geprägt haben, unstreitig war, sich für dieses Ziel massiv
einzusetzen. Mitte 2005, unmittelbar vor der Auflösung
des letzten Bundestages, haben wir in diesem Haus eine
Debatte über dieses Thema geführt und uns als Kulturpolitiker in die Hand versprochen: Wir bleiben dran und
versuchen, dieses Ziel zu erreichen.
Innerhalb meiner Partei ist die Debatte fortgeführt
worden. Wir haben auf unserem Hamburger Parteitag
hervorgehoben: Die Kultur als Staatsziel stellt einen
wichtigen Impuls dar. Wir haben herausgestellt, dass
Kultur nicht ein lästiges Beiwerk oder ein Accessoire,
sondern ein öffentliches Gut und eine politische Pflichtaufgabe ist.
({1})
Das, was aus dieser Debatte innerhalb meiner Partei an
die Fraktion, wiederum gespeist aus der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, weitergereicht wurde,
wurde dann von der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher
Staatszieldebatten über Kultur, Sport, Kinderrechte und
Generationengerechtigkeit überlagert. Ich weise ausdrücklich den Verdacht zurück, dass wir in meiner Fraktion taktische Bündnisse geschlossen hätten. Vielmehr
ist jede dieser Forderungen durchaus gerechtfertigt. So
haben wir uns letztendlich in meiner Fraktion auf drei
Staatszielforderungen verständigt: Kultur, Kinderrechte
und Sport.
Ich bedauere außerordentlich, dass eine differenzierte
Debatte innerhalb der Koalition nicht möglich war, und
zwar im Sinne dessen, was Wolfgang Börnsen in einem
Beitrag für Das Parlament einfordert, nämlich sich auf
Prioritäten zu verständigen. Wenn wir eine differenzierte
Debatte geführt hätten, hätten wir möglicherweise schon
den Beschluss mit großer Mehrheit im Parlament gefasst, die Kultur als Staatsziel in der Verfassung zu verankern. Ein Blumenstrauß an die FDP: Herr Otto, ich
habe einen wichtigen Impuls vermisst, den Sie auf einer
anderen parlamentarischen Ebene hätten setzen können.
Vor nicht allzu langer Zeit gab es eine Initiative der sozialdemokratischen Landesregierungen im Bundesrat.
Sie haben aber Ihre Kollegen in den Ländern nicht aufgefordert, diese Initiative aufzugreifen und zu unterstützen.
({2})
Wie dem auch sei, eine Grundregel in der Koalition
lautet - sie ist manchmal schwer zu ertragen; aber so ist
es nun einmal in der politischen Praxis -: Nur was gemeinsam verabredet wird, geht. - Wir sind bei dem zentralen Thema, die Kultur als Staatsziel in der Verfassung
zu verankern, leider nicht zu gemeinsamen Ergebnissen
gekommen. Gleichwohl hat das Staatsziel Kultur eine
materielle Substanz.
Ich möchte deutlich machen, dass es sich bei der in
der letzten Legislaturperiode betriebenen Kulturpolitik
nicht um einen Abgesang gehandelt hat. Im Gegenteil:
Wir haben innerhalb der Koalition - das nehme ich insbesondere für meine Fraktion in Anspruch - wichtige
Bausteine geschaffen und wichtige Impulse gesetzt, und
zwar auch im Interesse der Künstlerinnen und Künstler.
Ich erinnere an die Debatte über das Urheberrecht, den
zweiten Korb, den wir verabschiedet haben. Dieser enthielt gute Elemente. Ich ermahne uns alle, dass noch sehr
viel zu tun bleibt, wenn ich alleine an den Schutz des
geistigen Eigentums in der digitalisierten Welt denke.
Wir haben im Rahmen unseres Regierungsprogramms
ein Angebot für die Zukunft formuliert und gesagt, dass
ein Lösungsmodell die Kulturflatrate sein könnte. Das
ist eine Einladung, die Debatte unter dem Stichwort
Kreativpakt zu führen. Wir sollten gemeinsam überlegen, wie wir den Schutz des geistigen Eigentums im Interesse der Künstlerinnen und Künstler weiterentwickeln
und kodifizieren.
Der zweite Bereich, in dem wir wichtige Grundlagen
geschaffen haben, betrifft die Stärkung des ehrenamtlichen Engagements. Wir wissen, dass ohne die Zivilgesellschaft im Bereich der Kultur wenig läuft. Ich will
nicht sagen, dass nichts läuft, aber es ist wenig. Das ehrenamtliche Engagement ist eine starke Stütze der Kultur
und trägt zur kulturellen Vielfalt unseres Gemeinwesens
bei. Wir haben mit der Weiterentwicklung des Gemeinnützigkeitsrechts und des Stiftungsrechts gute Impulse
gesetzt, um Bürger zu zivilgesellschaftlichem und ehrenamtlichem Engagement zu motivieren und damit die
Kulturarbeit in unserem Land weiter zu stärken.
Der dritte Bereich betrifft die staatliche Kulturförderung. Der Bund hat in dieser Hinsicht mit Sicherheit
seine Hausaufgaben gemacht. Schaut man sich die Entwicklung der staatlichen Kulturförderung an, dann sieht
man, dass wir Zuwächse zu verzeichnen haben.
({3})
Bei den Ländern und Kommunen sieht dies anders aus.
Ich nenne Ihnen dazu zwei Zahlen: Die öffentliche Kulturförderung beträgt 8 Milliarden Euro. Im Kontext der
Wirtschaftskrise, mit der wir uns im Moment auseinandersetzen, und der sicherlich nicht geringen Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Krise irgendwann auf die öffentlichen Haushalte auswirken wird, stelle ich fest, dass das
private Engagement wichtig, richtig und notwendig ist,
es aber mit einem Volumen von etwa 500 Millionen bis
600 Millionen Euro weniger als 10 Prozent der öffentlichen Kulturförderung ausmacht. Das heißt, der Staat ist
nach unserem Verfassungsverständnis und nach unserem
kulturpolitischen Verständnis der wichtigste Stabilisator
der Kulturarbeit.
Herr Ehrmann!
Um dies in der Verfassung zu unterstreichen, wäre es
gut, Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Hans-Joachim Otto hat jetzt für die FDP-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Kollege Ehrmann hat in gewohnt seriöser und korrekter Weise die Argumente und die Geschichte zusammengefasst. Nur ist mir nach Ihrer Rede, Herr Ehrmann,
noch unklarer als vorher, warum Sie und Ihre Fraktion
unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({0})
Ziemlich genau vor vier Jahren hat die Enquete-Kommission die Aufnahme der Kultur als Staatsziel in die
Verfassung vorgeschlagen. Das geschah nach sorgfältiger Beratung und nach Anhörung der bedeutendsten Verfassungsrechtler Deutschlands einstimmig. Welche Argumente gab es damals? Gelten sie noch heute? Alle
Fraktionen haben hier gemeinsam die Ergänzung des
Grundgesetzes um das Staatsziel „Schutz der natürlichen
Lebensgrundlagen“ beschlossen. Das war auch richtig
so. Aber wenn wir in unserer Verfassung den Schutz der
natürlichen Lebensgrundlagen, der Umwelt, als Staatsziel haben, dann müssen wir konsequenterweise auch
den Schutz der geistigen Lebensgrundlagen, der Kultur,
als Staatsziel haben.
({1})
Wenn wir nur die eine Seite, die natürlichen Lebensgrundlagen, schützen, dann gibt es Wertungswidersprüche. Darauf weisen uns Verfassungsrechtler immer wieder hin. Dann gibt es eine Schieflage in der Verfassung,
und diese Schieflage muss dringend beseitigt werden.
Halten wir uns vor Augen: Die Kulturförderung ist
eine freiwillige kommunale Aufgabe, sie ist keine
Pflichtaufgabe. Das hat zur Folge, dass die Mittel zur Erfüllung dieser freiwilligen Aufgabe immer dann, wenn
Kürzungen anstehen, zuerst gekürzt werden. Wir haben
in den letzten Jahren, wenn wir Bund, Länder und Gemeinden zusammennehmen, dramatische Kürzungen gehabt. Die Kulturförderung in Deutschland insgesamt ist
Hans-Joachim Otto ({2})
in den Jahren 2002 bis 2007 von 8,5 Milliarden Euro auf
rund 8 Milliarden Euro zurückgegangen. Das sind nominal nur 6 Prozent Rückgang. Nehmen Sie aber die Geldentwertung hinzu, beträgt der Rückgang nahezu 20 Prozent. Wenn Sie sich dann noch vor Augen halten, dass
der Anteil der Kulturförderung am Bruttosozialprodukt
in Deutschland im gleichen Zeitraum von 0,41 Prozent
auf 0,34 Prozent zurückgegangen ist, wird deutlich, dass
es hier um eine Verschiebung von Prioritäten geht. Hier
geht es nicht um eine Einsparung, die wir natürlich überall zu erbringen haben, sondern hier geht es um einen
überproportionalen Rückgang, der mit großer Skepsis zu
sehen ist.
Vor diesem Hintergrund halte ich es wirklich nicht für
gut, lieber Herr Staatsminister, dass wir heute in der
Presse lesen müssen, dass der Kulturfinanzbericht von
Bund und Ländern ab dem Jahre 2010 eingestellt werden
wird. Man hat ja geradezu den Eindruck, dass hier diese
schlechte Situation verschleiert werden soll.
({3})
Die Finanzkrise, die hoffentlich keine dauerhafte Erscheinung ist, verstärkt das Dilemma natürlich und vergrößert noch das Problem für die Kultur. Deswegen ist
es in diesem Umfeld wichtiger denn je, ein Zeichen, ein
Signal für Kultur zu setzen. Ich weise daher - für die
Kulturpolitiker ist das nichts Neues - auch diejenigen,
die heute ihre Zustimmung versagen, darauf hin, dass es
bei der Kultur nicht um Luxus, um ein Sahnehäubchen
oder ein schönes Freizeitvergnügen einer kleinen gebildeten Schicht geht, sondern um den Kern der Gesellschaft.
({4})
Ohne Kunst und Kultur wäre die Gesellschaft nicht kreativ, wäre die Wirtschaft nicht innovativ, wäre Bildung
technokratisch. Dies müssen wir uns vor Augen halten,
wenn wir heute über das Staatsziel Kultur reden.
Ich möchte nun aber auf die Gründe - Kollege Gehb
wird sie sicherlich gleich mit der ihm eigenen Wortgewalt anführen - oder die Gegenargumente eingehen, die
genannt werden. Da gibt es zum einen das Gegenargument - Herr Kollege Ehrmann hat eben schon darüber
gesprochen - „Inflation der Staatsziele“. Dieses Argument überzeugt mich gar nicht.
({5})
- Das wird jetzt vom Kollegen Gehb kommen; ich kenne
ihn doch.
({6})
Wer den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen
zum Staatsziel erklärt hat und später auch noch den Tierschutz draufgesetzt hat, der möge mir bitte nicht sagen,
dass der Schutz der geistigen Lebensgrundlagen weniger
schützenswert sei.
({7})
Wer mir dann sagt, hier gehe es auch um Sport, Generationengerechtigkeit usw., den beruhige ich: Heute geht
es nur um den Schutz der Kultur. Sie können heute Ihre
Zustimmung erteilen und alle anderen Staatsziele ablehnen; das ist gar kein Problem.
({8})
Meine Damen und Herren, es wird eingewandt, in den
meisten Landesverfassungen sei die Kultur schon verankert.
({9})
- Moment, Herr Grosse-Brömer, Sie sind nachher dran.
Sie können sich aber auch zu einer Zwischenfrage melden; dann habe ich mehr Redezeit.
Ich will Ihnen eines sagen: Sogar in der europäischen
Verfassung, in Art. 151 des EG-Vertrages, ist der Schutz
der Kultur verankert. Jetzt möge mir einer erklären, warum uns auf der einen Seite niemand davon abgehalten
hat, den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, der
auch in den Landesverfassungen steht, in die Verfassung
des Bundes aufzunehmen, und warum Sie auf der anderen Seite damit kommen, dass das Staatsziel Kultur
schon in den Landesverfassungen stehe, weshalb es im
Grundgesetz überflüssig sei.
Lieber Herr Grosse-Brömer, mir fällt auf, dass in Ihrer Fraktion die tüchtigen und sympathischen Kulturpolitiker heute nicht das Wort bekommen.
({10})
Die mögen Ihnen sagen, wie wichtig es ist, dass wir hier
auch ein politisches Signal setzen. Es geht nicht nur um
Geld, es geht auch um eine politische Wertschätzung für
die Kultur und die Kulturförderung. Dies kommt mir bei
diesen Argumenten zu kurz.
({11})
Der sehr geschätzte Kollege Börnsen, der heute hier
leider nicht reden darf,
({12})
hat sich vorher dazu geäußert und erklärt, wir brauchten
dieses Staatsziel wegen Art. 35 des Einigungsvertrages
nicht.
({13})
Lieber Kollege Börnsen, der Einigungsvertrag - ein
wichtiges Dokument - soll die Folgen der deutschen Teilung beseitigen und die Einigung herbeiführen. Wir reden aber nicht nur über teilungsbedingte Folgen,
Hans-Joachim Otto ({14})
({15})
sondern wir gehen viel weiter: Wir wollen für das gesamte deutsche Land, egal ob Ost oder West - ({16})
- Es ist nicht die Funktion des Einigungsvertrages, hier
Staatsziele aufzustellen. Das Bundesverfassungsgericht
ist auch nicht in der Lage, bei der Abwägung zwischen
den Staatszielen Kultur und „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen“ den Einigungsvertrag heranzuziehen.
({17})
Der Deutsche Kulturrat hat gestern in einer Presseerklärung an uns appelliert und gesagt: Die Hoffnung
stirbt zuletzt. Ich möchte den Appell des Deutschen Kulturrates, übrigens auch den Appell der Enquete-Kommission an Sie weitertragen, indem ich Sie bitte, diesem
Gesetz die Zustimmung zu erteilen.
Ich kann den Deutschen Kulturrat und Millionen von
Kulturbeflissene und Künstler allerdings beruhigen: Lassen Sie die Hoffnung nicht fahren! Egal wie die heutige
Abstimmung ausgeht, kann ich Ihnen als FDP-Politiker
versprechen: Wir werden nicht lockerlassen. Wir werden
diesen Antrag auch in der nächsten Legislaturperiode
einbringen. Mein Fraktions- und Parteivorsitzender, der
an der heutigen Debatte teilnimmt, wird sich dafür einsetzen. Er gibt sein Wort: Die FDP steht zu dem Staatsziel Kultur. Richten Sie sich darauf ein: Wir werden in
der nächsten Legislaturperiode wieder angreifen - versprochen!
({18})
Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Gehb für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Otto, auch wenn Sie schon den Inhalt meiner Rede kennen, möchte ich von meiner Redezeit Gebrauch machen.
({0})
Als Sie von meiner „Redegewalt“ sprachen, haben Sie
das hoffentlich mehr auf Rede und weniger auf Gewalt
bezogen. Ich werde ganz moderat sagen, worum es uns
geht.
Gerade in den letzten Tagen haben wir auf vielfältige
Art und Weise und allüberall „60 Jahre Grundgesetz“ gefeiert. Ich kenne keine Veranstaltung, auf der nicht immer wieder gesagt worden ist: Wir sind stolz auf unser
Grundgesetz; wir sind stolz auf unsere Verfassung. Das
will ich an dieser Stelle noch einmal betonen.
({1})
Wir sind aber auch stolz auf die kulturellen Leistungen, die in unserem Lande erbracht werden.
({2})
Kultur ist mehr als ein Werbeaufkleber, der auf irgendeiner Deutschlandbroschüre prangt. Kultur wird täglich
in der Realität gelebt, und zwar nicht nur in Großstädten
wie in Berlin, wo es schon fast unübersichtlich wird,
sondern überall in Deutschland.
({3})
- „Auch in Kassel“ höre ich gerade vom Staatssekretär
Alfred Hartenbach. Kassel ist die Kunst- und Kulturstadt, nicht nur, aber ganz besonders wegen der Documenta. Wer von Kassel mehr als den ICE-Bahnhof erleben möchte, der kann das Sepulkralkultur-Museum
besuchen.
Ich möchte an dieser Stelle all denjenigen, die tagtäglich Musik machen, Theater spielen und all das machen,
was unter dem Begriff Kultur zu subsumieren ist, meinen herzlichen Dank aussprechen. Das gilt für den berühmten deutschen Tenor Jonas Kaufmann, der unter anderem an der Deutschen Oper Berlin gastiert, genauso
wie für das Funkenmariechen eines Karnevalvereins, das
im Saal in der Dorfgaststätte seinen Spagat aufführt.
({4})
Das alles ist Kunst und Kultur, und das schätzen wir außerordentlich hoch.
Auch hier gilt: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.
({5})
Das Handeln ist also viel besser als das symbolische
Aufnehmen von bestimmten Formulierungen. Wenn ich
meinen Blick auf die Regierungsbank richte, dann sehe
ich unter anderem Bernd Neumann.
({6})
Er ist der lebendige Beweis dafür, dass die nachhaltige
Handlung sehr viel mehr wert ist als alles andere. Ihm ist
es gelungen, den Kulturetat des Bundes stetig zu steigern, obwohl die Kultur nicht als Staatsziel im Grundgesetz verankert ist.
({7})
Dagegen wird der Kulturetat der Bundesländer, in deren
Verfassungen man wohlklingende semantische Formulierungen zur Kultur findet, eher kleiner. Quintessenz ist:
Es scheint nicht darauf anzukommen, ob die Kultur als
Staatsziel im Grundgesetz verankert ist. Weil das so ist,
werbe ich dafür, dass wir die Kultur primär fördern.
Schenken Sie mir noch einige Minuten Ihre Aufmerksamkeit. Damit meine ich namentlich die Rechtspolitiker,
Herr Otto; denn wir führen heute eine rechtspolitische
Debatte. Es geht um die Änderung des Grundgesetzes.
({8})
- Ja, es ist auch eine kulturpolitische. Aber Sie waren
gerade etwas herablassend und haben von den gutaussehenden Kulturpolitikern gesprochen.
({9})
Ich kann nichts dafür, dass ich nicht so gut aussehe wie
Wolfgang Börnsen oder Gitta Connemann. Der Einzige,
der mir in diesem Zusammenhang leidtut, ist Michael
Grosse-Brömer. Das ist eigentlich ein hübscher Kerl. Er
wird heute auch noch reden.
({10})
Deswegen will ich Ihnen sagen, dass ich großes Verständnis dafür habe, dass der Kulturausschuss des Bundesrates seinerzeit die Aufnahme des Staatsziels Kultur
ins Grundgesetz bejaht hat. Genauso habe ich auch Verständnis dafür - da sehen Sie ein bisschen die Antipoden -,
dass der Rechtsausschuss des Bundesrates die Aufnahme
verneint hat. Schließlich hat dieser Vorschlag im Plenum
des Bundesrates keine Mehrheit gefunden.
Was mich ein bisschen betrübt, wenn wir über die
Aufnahme von Staatszielen im Allgemeinen, aber auch
im Besonderen hinsichtlich der Kultur reden, ist, dass
ich den Eindruck nicht loswerde, dass nicht nur der
Rechtsunkundige - Sie sind ja rechtskundig, Herr Otto -,
({11})
sondern auch der Rechtskundige den Eindruck vermittelt: Alles, was nicht im Grundgesetz steht, sondern
„nur“ in einfachgesetzlichen Regeln, ist nichts mehr
wert. Das heißt also, einfache Gesetze, die wir hier verabschieden, taugen nichts. Alles muss ins Grundgesetz;
denn nur dort ist es an der richtigen Stelle. Davor kann
ich nur warnen.
({12})
Ich erinnere an den unsäglichen Spruch des Präsidenten des Kinderschutzbundes, er wolle nicht mehr in einem Land leben, in dem zwar der Tierschutz als Staatsziel im Grundgesetz verankert sei, nicht aber der Schutz
der Kinder. Das zeigt mir, wie gefährlich diese Diskussion ist.
Ich will etwas zum Tierschutz sagen. Die eigentliche
Intention, die Beweggründe und die Erwartung, warum
man den Tierschutz als Staatsziel ins Grundgesetz aufgenommen hat, war die Verpönung des Schächtens von
Tieren. Das war der eigentliche Grund. Man hat gesehen,
dass diese Maßnahme gar nichts genutzt hat - das war
mir schon klar -, weil es jetzt zwei widerstreitende Verfassungsbestimmungen gibt: einmal Art. 4 des Grundgesetzes, in dem es um die Glaubensfreiheit geht, und das
Staatsziel Tierschutz, das, wie es das Bundesverfassungsgericht immer sagt, im Wege der praktischen Konkordanz auszulegen ist. Die Gerichte haben als Reaktion
auf Klagen entschieden, dass sehr wohl weiterhin geschächtet werden kann.
Damit bin ich beim nächsten kritischen Punkt. Wenn
wir also glauben, durch Aufnahme von wohlklingenden
Formulierungen mehr zu erreichen, wecken wir Begehrlichkeiten, die wir am Ende möglicherweise gar nicht erfüllen können. Das führt zu einer erneuten Enttäuschung
und einem Ansehensverlust unserer Verfassung. Es wird
- unausgesprochen oder ausgesprochen - darüber hinaus
erwartet, dass mit der Aufnahme von Staatszielen im
Grundgesetz das Bundesverfassungsgericht diesen Regelungen Odem einhaucht und ihnen somit Leben einflößt. Das ist doch ganz klar. Einer der Sachverständigen
- das habe ich noch gut im Ohr -, der seinerzeit angehört
worden ist, hat gesagt: Wer neues Verfassungsrecht sät,
wird neue Verfassungsrechtsprechung ernten.
Wir sind doch sowieso oft genug nur noch die Gehilfen zur Vollstreckung von europäischen Vorgaben. Wir
sitzen hier in einer Ratifizierungsfalle und sagen, wir
können nicht anders, das ist eben eine Richtlinie. Wollen
wir jetzt noch mehr Kompetenzen nicht nur nach Brüssel
abgeben, sondern auch nach Karlsruhe? Diese Zuständigkeitsverschiebung wird hier doch allenthalben bedauert.
Ich habe das Grundgesetz schon immer wegen seiner
puristischen, schlichten und geradezu einfachen Ausformung besonders geschätzt.
({13})
- Ja, jetzt komme ich dazu, Herr Otto. - Es gibt hier einen Ausreißer. Aber dieser ist nicht erst im Grundgesetz
aufgetreten, sondern er fand sich schon in der Weimarer
Reichsverfassung und auch in allen anderen Verfassungen vorher. Die Finanzverfassung hat mit Schlichtheit
nichts mehr zu tun. Offensichtlich - das sieht man an
den einfachen Regelungen bei Steuergesetzen - wird
eine Finanzverfassungsregelung erst dann interessant,
wenn sie länger als sechs Seiten ist. Das kann man jetzt
mit dem Staatsziel nicht vergleichen; denn die Formulierung, die Sie vorschlagen, ist eher schlicht.
({14})
Sie ist keineswegs sprachlich aufgebläht.
({15})
Dennoch kann ich nur warnen - Sie haben es eben
selber gesagt -: Die Begehrlichkeiten nehmen immer
weiter zu. Sie haben zwar gesagt, wir reden heute nur
über Kultur. Aber nicht nur die Aufnahme der Kultur,
des Sports, der Kinderrechte und der Generationengerechtigkeit als Staatsziel ins Grundgesetz wird gefordert.
Inzwischen gibt es ein gutes Dutzend von Forderungen.
Jede für sich betrachtet hat sicherlich hehre Beweggründe; das will ich gar nicht in Abrede stellen. Aber ich
habe ein einfaches Prinzip: Finger weg vom Grundgesetz, jedenfalls dann, wenn es nicht zwingend erforderlich ist.
Ich will jetzt nicht allzu sehr in die Tiefe gehen.
Montesquieu hat einmal gesagt: „Wenn es nicht nötig ist,
ein Gesetz zu machen, dann ist es nötig, kein Gesetz zu
machen.“ Das gilt erst recht - argumentum a maiore ad
minus -, wenn es nicht nötig ist, das Grundgesetz zu ändern. Dann ist es geradezu verboten, es zu ändern. Das
ist meine feste Überzeugung. Genauso wie Sie immer
dafür kämpfen, dass Schutzgüter ins Grundgesetz aufgenommen werden, werde ich immer dafür kämpfen, dass
dies nicht passiert. Das ist ein fruchtbarer Prozess der
demokratischen Auseinandersetzung. Nur in der Auseinandersetzung kann man die besten Lösungen finden.
An dieser Stelle möchte ich an diejenigen appellieren,
die meinen, mit der Aufnahme von Schutzgütern in das
Grundgesetz mehr Schutz zu gewährleisten. Ich habe das
bei den Kinderrechten mit einem vielleicht populistischen und naiv anmutenden Spruch illustriert: Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, gaukelt so viel
Schutz vor wie ein Zebrastreifen auf einer Formel-1Piste. Die Aufnahme des Staatsziels Kultur ins Grundgesetz würde auch nicht viel mehr bewirken.
Deswegen kann ich sagen: Viel wichtiger als die Aufnahme blumiger Formulierungen ins Grundgesetz
({16})
wäre eine bessere Förderung von Kindern, Sport und
Kultur. Es ist wie so häufig ein exekutives Defizit im
Handeln und kein materiell-rechtliches Defizit bei der
Aufstellung von Normen. Das gilt für die einfachen Gesetze und erst recht für das Grundgesetz.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Guido Westerwelle.
Herr Kollege Gehb, unser Gesetzentwurf hat eine verfassungsrechtliche und eine materielle Komponente. Ich
will mich kurz zu der verfassungsrechtlichen Komponente, die auch Sie angesprochen haben, äußern und
dann eine Anmerkung zur Kultur selbst machen.
Verfassungsrechtlich machen Sie es sich zu einfach,
wenn Sie sagen, dass die Aufnahme von Schutzgütern
und Staatszielen ins Grundgesetz nicht nötig sei, da sie
teilweise schon in Länderverfassungen Berücksichtigung fänden, und dass es bis jetzt noch nicht geschadet
habe, dass das Grundgesetz entsprechende Bestimmungen nicht enthalte.
Gleich zu Beginn unseres Grundgesetzes heißt es in
Art. 1:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Das ist ein einfaches Postulat. Es hat aber die gesamte
Rechtsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland
geprägt wie vermutlich nichts anderes, was in unserer
Verfassung steht.
({0})
Es ist vernünftig, dass es dort steht.
Wir sollten allerdings nicht den Eindruck erwecken,
als sei ein Problem gelöst, nur weil es in der Verfassung
behandelt wird. In der Verfassung ist auch enthalten,
dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Wir alle
wissen, dass dies ein wichtiges Ziel ist. Gleichzeitig fällt
uns aber jeden Tag ein Missstand ein - insbesondere in
der freien Wirtschaft -, der zeigt, dass Frauen unverändert diskriminiert werden. Wir müssen immer und immer wieder daran arbeiten, diesen Missstand zu beheben.
Genauso verhält es sich mit dem Staatsziel Kultur.
Wenn ich das, was heute von den Freien Demokraten beantragt wird, nämlich den einfachen und schlichten Satz
„Der Staat schützt und fördert die Kultur“ ins Grundgesetz aufzunehmen, mit dem vergleiche, was Sie im
Rahmen der Föderalismusreform II an verkorksten, seitenlangen Formulierungen in die Verfassung hineingeschrieben haben, dann ist es in meinen Augen einfach
unangemessen, eine einfache Aussage, mit der ein klares
inhaltliches Postulat vertreten wird, so in Zweifel zu ziehen.
({1})
Gerade weil es eine knappe und klare Ansage ist, ist sie
geeignet, in die Verfassung aufgenommen zu werden.
Wäre es seitenlange Lyrik, dann müsste man sich in der
Tat um die Verfassung Sorgen machen.
Schließlich möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass es um die Abwägung von Rechtsgütern geht.
Das ist doch unser eigentliches Anliegen. Auch wir wissen, dass nach einer Verfassungsänderung plötzlich nicht
alles perfekt in der Kulturpolitik ist. Aber da die Kultur
in Deutschland in Konkurrenz steht zu anderen wichtigen Rechtsgütern, müssen wir dafür sorgen, dass die
Kultur nicht den Kürzeren zieht, nur weil sie keinen Verfassungsrang hat. Das ist der entscheidende verfassungsrechtliche Unterschied zu Ihrer Argumentation.
({2})
Das war die mehrheitliche Forderung dieses Hauses
in der Enquete-Kommission. Auch die Sozialdemokraten haben dieses Ziel, so habe ich gelesen, in ihr Wahlprogramm aufgenommen. - Die Kolleginnen und Kollegen von der SPD nicken. Daher muss ich fragen: Warum
stimmen Sie heute nicht zu?
({3})
Tun Sie mal nicht so, als wäre es auf den letzten Metern
dieser Koalition die alles entscheidende Frage!
({4})
Sie könnten, wenn Sie wollten. Aber Sie wollen nicht.
Das zeigt, dass es Ihnen nach meiner Einschätzung nicht
ernst genug ist.
Herr Westerwelle, die Zeit für eine Kurzintervention
ist jetzt überschritten.
Ich danke Ihnen für den Hinweis und will mit folgender Bemerkung schließen: In Wahrheit geht es darum,
dass Deutschland eine Kulturnation ist. Wir sind stolz
auf unsere kulturelle Vielfalt. Eine Kulturnation sollte
sich in ihrer eigenen Verfassung dazu bekennen, dass sie
es ist.
({0})
Herr Gehb, möchten Sie antworten? - Bitte schön.
Da ich Herrn Westerwelle nicht angesprochen habe,
möchte ich ihm auch nicht antworten.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Lukrezia Jochimsen
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Man fragt sich wirklich, warum wir uns in unserem Land so schwer damit
tun, neben den natürlichen auch die kulturellen Grundlagen in die Verfassung aufzunehmen. Es geht nicht, wie
Sie gesagt haben, um ein paar mutige Formulierungen
oder um Lyrik.
Andere europäische Länder mit ihren Verfassungen
könnten uns ein gutes Vorbild sein. Das wurde im
Schlussbericht der Enquete-Kommission auch sehr aufschlussreich herausgearbeitet und müsste meiner Meinung nach die Mehrheit im Parlament überzeugen. Zumindest die Mehrheit der Enquete-Kommission ist
überzeugt. Wie mein Vorredner Westerwelle ausgeführt
hat, wäre es ein Einfaches, mehrheitlich für den Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes zu stimmen,
({0})
wenn die Sozialdemokraten nicht so janusköpfig wären,
diesen Punkt einerseits ins Wahlprogramm aufzunehmen
und sich andererseits heute zu verweigern.
({1})
Schauen wir uns die Verfassungen anderer europäischer Länder an. Spanien, Polen und die Schweiz haben
sich in den letzten drei Jahrzehnten aus ganz unterschiedlichen Gründen neue Verfassungen gegeben und
in diese Verfassungen das Staatsziel Kultur in weitreichender Weise aufgenommen.
Erstes Beispiel: das Königreich Spanien 1978 nach
dem Ende der Franco-Diktatur. In der Präambel wird
dem Staat die Pflicht auferlegt, die Teilnahme aller Bürger am kulturellen Leben zu fördern. Was das im Einzelnen heißt, legen sechs Verfassungsartikel fest. In Art. 44
werden der Schutz und der Zugang zur Kultur für jedermann gefordert. Das ist das, was heute zur Diskussion
steht. Nach Art. 46 gewährleistet die öffentliche Gewalt
die Erhaltung des kulturellen Erbes und fördert seine Bereicherung. Jeder Verstoß gegen das Kulturerbe wird
durch das Strafgesetzbuch geahndet. Auch hat die öffentliche Gewalt die Voraussetzungen für eine freie und
wirksame Beteiligung der Jugend unter anderem an der
kulturellen Entwicklung zu fördern. Darüber hinaus
- das finde ich sehr interessant - ist der Staat verpflichtet, ein System sozialer Leistungen zu fördern, durch das
die kulturellen Belange des Bürgers im Ruhestand berücksichtigt werden.
Also: Kultur für jedermann, für Kinder und Jugendliche, aber explizit auch für die Bürger im Ruhestand. In
diesem Zusammenhang fällt mir der Begriff der kulturellen Gerechtigkeit als Gesamtaufgabe der Gesellschaft
ein, die so wie die soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten wäre, unter anderem auch deswegen, weil das eine
die Voraussetzung für das andere ist.
({2})
Zweites Beispiel: die Republik Polen 1997 nach dem
Zusammenbruch der staatssozialistischen Diktatur.
({3})
In der Präambel beschließt das polnische Volk, sich auch
„für die Kultur, die im christlichen Erbe und in allgemeinen menschlichen Werten verwurzelt ist“, diese Verfassung zu geben. Wie in der spanischen Verfassung nimmt
in der polnischen Verfassung die Kultur einen herausragenden Platz in der Präambel ein. Der Staat bekennt sich
ausdrücklich zu seiner kulturellen Verantwortung. In
Art. 6 werden die Voraussetzungen für die Verbreitung
und den gleichen Zugang zur Kultur definiert. In Art. 35
gewährleistet der Staat den polnischen Staatsangehörigen, die nationalen oder ethnischen Minderheiten angehören, die Freiheit der Erhaltung und Entwicklung der
eigenen Kultur.
Drittes Beispiel: die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft 1999.
({4})
Unmittelbar nach der Präambel wird unter den Grundrechten festgehalten, dass die Eidgenossenschaft „die
kulturelle Vielfalt des Landes zu fördern hat“. Interessanterweise wird im Kapitel Sozialziele dem Bund und
den Kantonen gleichermaßen der Auftrag erteilt, die kul25476
turelle Integration von Kindern und Jugendlichen zu unterstützen, indem sich der Staat in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative dafür
einzusetzen hat; Stichwort Föderalismus.
Natürlich sind in der Schweiz die Kantone für den
Bereich Kultur zuständig. Aber der Bund kann, ja, er ist
verpflichtet, kulturelle Bestrebungen gesamtschweizerischen Interesses zu unterstützen sowie die Kunst und die
Musik insbesondere im Bereich der Ausbildung zu fördern.
Das waren drei Beispiele aus Europa dafür, wie im
Fall von Neufassungen von Verfassungen mit dem
Staatsziel Kultur umgegangen wurde.
Nun folgt ein Beispiel für die Einfügung des Staatsziels Kultur in eine bestehende Verfassung. Verfassung
des Königreichs Schweden, 1974: In Kapitel 1 - Grundlagen der Staatsform - wurde durch Verfassungsänderung § 2 Abs. 2 eingefügt:
Die persönliche, finanzielle und kulturelle Wohlfahrt des einzelnen hat das primäre Ziel der öffentlichen Tätigkeit zu sein.
Hier wird klar definiert, wo eine zentrale Aufgabe des
Staates liegt, nämlich im Dreiklang der persönlichen, finanziellen und kulturellen Wohlfahrt. Welch eine bemerkenswerte Verpflichtung! Herr Kollege, so kann man das
über die Verfassung regeln, wenn man will.
({5})
Das hat nichts mit Verweisen darauf zu tun, dass wir
den Tierschutz wegen des Schächtens in die Verfassung
aufgenommen haben.
({6})
Ich höre immer nur „Wir haben es nicht gemacht“ oder
„Wir brauchen es nicht“. Man kann es aber machen,
wenn man es will.
({7})
In der Demokratie braucht man dafür Mehrheiten. Heute
könnten wir eigentlich eine Mehrheit finden.
Die Linke spricht sich ohne Wenn und Aber für eine
Verankerung des Staatsziels Kultur im Grundgesetz aus.
Wir haben übrigens in den Landesparlamenten von
Mecklenburg-Vorpommern und Berlin mit rot-roter
Mehrheit diese Position erreicht.
({8})
So viel zur kulturpolitischen Arbeit in rot-rot-regierten
Ländern.
({9})
Ich finde, wir könnten in Krisenzeiten etwas Besonderes lernen: Es kommt auf Wertewandel an, auf ein
wertebezogenes Bewusstsein der ganzen Gesellschaft.
Mit dem Staatsziel Kultur würde ein solcher existenzieller Wertewandel manifest. Da geht es nicht um das Aufnehmen von mutigen Formulierungen. Es geht auch
nicht um das Festhalten an einer janusköpfigen Politik:
Einerseits sagen wir Ja dazu, aber andererseits verweigern wir im Parlament die Zustimmung.
({10})
Vielmehr geht es darum, Farbe zu bekennen und mutig
zu sein, nicht nur in den Formulierungen, sondern auch
bei der Durchsetzung dessen, von dem man sagt, man sei
davon überzeugt.
Wenn es heute nicht klappt - das wäre traurig und eigentlich schmählich -, verschwindet das Thema trotzdem nicht von der Tagesordnung.
({11})
Wir werden es weiterverfolgen. Ich kann nur hoffen,
dass eines Tages die Mehrheit, die eigentlich vorhanden
ist, so mutig ist, sich zum Staatsziel Kultur zu bekennen.
Vielen Dank.
({12})
Undine Kurth spricht jetzt für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Zuvörderst
möchte ich die Mitglieder meiner Fraktion entschuldigen. Wir veranstalten heute eine seit langem geplante
Kulturkonferenz, die alle Kulturpolitiker der Fraktion
bindet, sodass wir hier heute in stark reduzierter Zahl anwesend sind. Das soll der Erklärung dienen.
({0})
Zum Zweiten möchte ich sagen, dass ich mich sehr
konzentriert an mein Redemanuskript halten werde, weil
ich mit meiner Rede in dieser kultur- und rechtspolitischen Debatte eine durchaus zweischichtige Darstellung
des Problems vornehmen möchte.
Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“
hat sich, wie wir wissen, umfassend mit dem Zustand,
der Zukunftsfähigkeit und der Wehrhaftigkeit von Kunst
und Kultur in unserem Land befasst. Wir haben in einem
umfangreichen Bericht die hohe Bedeutung von Kunst,
Kultur und Kreativität für unsere Gesellschaft hervorgehoben und mit vielen Empfehlungen aufgezeigt, wo
politischer Handlungsbedarf besteht. Einige dieser
Handlungsempfehlungen wurden bereits aufgegriffen,
über andere wird diskutiert. Insgesamt können wir saUndine Kurth ({1})
gen, dass wir die kulturpolitische Debatte deutlich befruchtet haben.
Herr Gehb, wenn man auch nicht dazu kommt, den
gesamten Bericht zu lesen - das verstehe ich -, sollte
man sich doch zwei der Handlungsempfehlungen deutlich vor Augen führen: Erstens. Kultur muss eine verpflichtende Aufgabe des Staates auf allen seinen Ebenen
sein. Der Staat kann aus dieser Verantwortung nicht entlassen werden.
Zweitens. Kulturpolitik muss als allen anderen Politikfeldern gleichgestellter Bereich behandelt werden.
Das heißt, die Vertreter von Kultur und Kulturpolitik
müssen selbstbewusst auftreten und nicht als Bittsteller.
Kulturpolitik heißt eben nicht, dass man nur dann handeln kann, wenn alle anderen Aufgaben ordentlich ausfinanziert sind.
({2})
Der Kulturauftrag des Staates umfasst die Verantwortung dafür, das kulturelle Erbe zu bewahren, zu schützen, zu pflegen und weiterzuentwickeln sowie Kulturschaffen in der Gegenwart zu ermöglichen. Die Empfehlung
der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, die
Kultur als Staatszielbestimmung in das Grundgesetz aufzunehmen, unterstreicht diese Verantwortung. Die Debatte um dieses Staatsziel ist allerdings vielschichtig,
wie wir eben auch wieder erlebt haben. Kulturschaffende, Kulturpolitiker und zum Teil auch Verfassungsrechtler begrüßen sie. Andere dagegen lehnen ein Staatsziel Kultur mit dem Verweis auf den Charakter unserer
Verfassung ab.
Die Kulturpolitikerinnen meiner Fraktion haben einem Staatsziel Kultur sowohl in der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ als auch im Ausschuss für
Kultur und Medien des Deutschen Bundestages zugestimmt.
({3})
Gleichwohl wird sich meine Fraktion bei der heutigen
Schlussabstimmung im Plenum des Bundestages der
Stimme enthalten.
({4})
- Lassen Sie mich erst einmal weiterreden. - Ich bedauere dieses Abstimmungsverhalten. Es hat sich aber gezeigt, dass die Debatte zu einem Staatsziel Kultur in unserer Fraktion nicht abgeschlossen ist - auch wenn für
mich kein Zweifel daran besteht, dass wir ein Staatsziel
Kultur im Grundgesetz brauchen, Herr Otto.
Die vielen juristischen Argumentationsfiguren - gerade sind uns wieder einige genannt worden - unserer
Rechtspolitikerinnen gegen ein Staatsziel Kultur haben
wir mit Interesse und Respekt gelesen - das betone ich und uns an den ebenso scharfsinnigen wie brillant formulierten Begründungen mehr oder manchmal auch
minder erfreut. Überzeugt haben sie uns nicht. Sie überzeugen - davon bin ich wiederum überzeugt - auch die
Kunst- und Kulturschaffenden in diesem Lande nicht;
denn es geht nicht um das bessere Argument für oder gegen ein Staatsziel, sondern um ein klares Bekenntnis zur
Kultur.
Wer heute erlebt, wie Theater um ihre Existenz kämpfen, Bibliotheken geschlossen werden und soziokulturelle Zentren am Rande der Selbstausbeutung arbeiten,
wer weiß, dass das Durchschnittseinkommen von Künstlerinnen und Künstlern in diesem Land bei 12 500 Euro
im Jahr liegt, der sieht, dass dringender politischer
Handlungsbedarf besteht.
Ich bedauere sehr, dass die Initiative der EnqueteKommission heute keine Mehrheit in diesem Hause finden wird; das ist ja absehbar. Damit wird meiner Ansicht
nach eine Chance vertan.
({5})
Aus meiner Sicht sprechen nämlich Gründe für ein
Staatsziel Kultur. Gegenargumente sind bereits viele genannt worden. Ich möchte noch einmal die positiven Aspekte aufzeigen.
Erstens. Mit dem Staatsziel Kultur wird der Verfassungsrang der Kultur ausdrücklich anerkannt. Damit
würde Kultur gleichgewichtig neben die Staatszielbestimmungen für den Sozialstaat und den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen gestellt.
Zweitens. Die Kulturförderung des Bundes würde auf
diese Weise gestärkt.
Drittens. Die Stellung der Kultur in juristischen und
haushaltspolitischen Entscheidungsprozessen würde dadurch verbessert. Das ist ein erheblicher Punkt.
Viertens. Ein Staatsziel Kultur wäre eine verfassungsrechtliche Werteentscheidung.
({6})
Gerade Werteentscheidungen sind in dieser Zeit vermutlich doch gefragt.
({7})
Die Rechtspolitiker meiner Fraktion betonen demgegenüber - das muss ebenso erwähnt werden -, dass sie
sich vorsichtig und zurückhaltend gegenüber der Benennung neuer Staatsziele verhalten wollen. Die Bundesrepublik sei auch ohne ausdrückliche Erwähnung im
Grundgesetz als Kulturstaat zu bezeichnen. Auch diese
Argumentation, die die Mehrheit meiner Fraktion gefunden hat, muss man akzeptieren.
Folgendes ist ja richtig: Aus einem Staatsziel Kultur
lassen sich keine Aussagen ableiten, wie Kulturpolitik
im Einzelnen zu gestalten ist. Ein Staatsziel Kultur ändert nichts am bestehenden Kompetenzgefüge von
Bund, Ländern und Kommunen. Durch ein Staatsziel
Kultur wird das Verhältnis von freiwilligen und Pflichtaufgaben nicht verändert. Es lässt sich auch kein individueller Anspruch auf „kulturelle Grundversorgung“ ableiten.
Undine Kurth ({8})
({9})
Trotzdem spricht etwas ganz entscheidend für ein Staatsziel Kultur: Es würde als wichtige Werteorientierung für
die politische Arbeit auf allen staatlichen Ebenen dienen.
({10})
Herr Kollege Westerwelle hat ja vorhin im Zusammenhang mit dem ersten Artikel des Grundgesetzes deutlich
betont, was eine solche grundsätzliche Werteorientierung bedeutet. Es geht nicht darum, Herr Börnsen - Sie
haben das ja heute der Welt mitgeteilt -, dass die Welt
ohne ein Staatsziel Kultur untergehen würde und dass
der Verzicht auf dessen Aufnahme in das Grundgesetz
kein Beinbruch wäre. Davon redet überhaupt niemand.
Vielmehr geht es darum, dass wir ein deutliches Bekenntnis für die Kultur abgeben.
({11})
Ich bin mir sicher: Die Debatte über das Staatsziel
Kultur ist wichtig. Sie wird weitergehen. Ich hoffe, dass
die Kulturpolitik aus dieser Debatte gestärkt hervorgehen wird.
Zum Schluss möchte ich noch sagen: Meine Fraktion
wird sich enthalten. Ich habe eine persönliche Erklärung
nach § 31 der Geschäftsordnung abgegeben. Ich werde
zustimmen, weil ich es für richtig halte, dieses Staatsziel
ins Grundgesetz aufzunehmen,
({12})
betone aber noch einmal, dass es sicher für beide Argumentationen Gründe gibt.
Vielen Dank.
({13})
Monika Griefahn hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich arbeite seit Jahren dafür, dass wir das Staatsziel Kultur ins Grundgesetz aufnehmen. Leider können
wir als SPD-Fraktion dem inhaltlich richtigen Gesetzentwurf der FDP heute nicht zustimmen.
Herr Westerwelle und Herr Otto, ein bisschen bigott
finde ich Ihre Argumentation schon. Das Land Berlin
mit einer SPD-geführten Regierung hat einen Antrag im
Bundesrat eingebracht, dem ausschließlich die SPD-geführten Länder zugestimmt haben.
({0})
Alle Länder, in denen Sie an der Regierung beteiligt
sind, haben nicht zugestimmt.
({1})
Wenn Sie hier wortgewaltig darüber sprechen, dass wir
zustimmen könnten, dann könnten Sie in den Ländern
entsprechend handeln. Der Öffentlichkeit muss man einmal deutlich sagen, wie widersprüchlich Sie auftreten.
({2})
- Sie sind doch so stolz darauf, dass Sie jetzt in vielen
Ländern mitregieren. Für den Fall, dass wir nicht an die
Regierung kommen, würde ich mir wünschen, dass Sie,
wenn Sie mit der CDU/CSU einen Koalitionsvertrag
aushandeln, dieses Ziel aufnehmen.
({3})
Wir würden Sie dann unterstützen. Ich hoffe, dass Sie
gegebenenfalls auch uns unterstützen würden.
Mein Kollege Grosse-Brömer und ich sind jetzt im
Wahlkreis unterwegs; es gibt viele Diskussionen. Dabei
geht es auch um das Thema Staatsziel Kultur. Er vertritt
die Position der CDU/CSU-Fraktion, dass das Grundgesetz nicht überfrachtet werden soll.
({4})
- Sie vertreten Ihre und die der Fraktion. - Ich finde dieses Argument jedenfalls fadenscheinig. Man muss sich
vor Augen führen, wie viele Grundgesetzänderungen wir
allein in dieser Legislaturperiode beschlossen haben.
Mir ist jedes Mal schlecht geworden, als ich erlebt habe,
wie schnell man das Grundgesetz ändert. Sie haben dafür gestimmt, auch den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Tiere im Grundgesetz zu verankern.
Das ist doch gleichwertig. Die biologische Vielfalt ist
ebenso wichtig wie die geistige, die kulturelle Vielfalt.
Da erledigt sich eben nicht alles von selbst.
Sehr geehrter Herr Grosse-Brömer, Sie haben auf Ihrem letzten Parteitag beschlossen, Deutsch in die Verfassung aufzunehmen. Auch das wäre eine Ergänzung des
Grundgesetzes. Nach Ihrer Theorie der Überfrachtung
dürften Sie nicht fordern, das ins Grundgesetz aufzunehmen.
({5})
Vor diesem Hintergrund haben wir Ihnen den Vorschlag gemacht: Lassen Sie uns doch für Kultur und für
Deutsch stimmen! Dann hätten wir das heute gemeinsam
beschließen können.
({6})
Das hätte ich sehr begrüßt. Das ist uns leider nicht vergönnt gewesen. Da muss man aber fragen: Was sind Ihre
Parteitagsbeschlüsse wert, wenn Sie eine solche Möglichkeit nicht ergreifen? Das wäre doch konsequent gewesen.
Es gibt also klare Unterschiede zwischen den Fraktionen und den Parteien in dieser Frage. Es ist sinnvoll,
dass wir die Debatte heute noch einmal führen, sodass
sich die Bürgerinnen und Bürger bei der Wahl - die Bundestagswahl steht ja an - für eine Partei entscheiden können.
Unsere Position ist klar. Wir haben die Forderung in
unserem Hamburger Programm - Herr Ehrmann hat es
gesagt -; wir haben sie auch in unserem Regierungsprogramm. Das heißt, mit wem auch immer wir Koalitionsverhandlungen führen, wir werden das auf die Tagesordnung bringen.
({7})
- Dazu habe ich doch schon etwas gesagt. Wir haben
eine Koalitionsvereinbarung - darauf berufen Sie sich
doch auch -, und die halten wir durch. Wenn es keine
Gemeinsamkeit gibt, dann - so ist das festgelegt - können wir nicht zustimmen. Wir haben uns darauf verständigt, bis zum Ende der Legislaturperiode zusammen zu
regieren. Das machen wir. Deswegen können wir hier
nicht zustimmen, so traurig ich persönlich darüber bin.
Ich hätte es gern anders gemacht.
Ich möchte noch einige Punkte erwähnen, die bei der
Staatszielbestimmung Kultur von Bedeutung sind. Wir
müssen uns noch einmal die Ziele klarmachen und uns
auch daran messen lassen. Schauen wir uns an, was wir
in dieser Legislaturperiode erreicht haben!
Erstens. Wir haben dafür gekämpft, dass Investitionen
für Kultureinrichtungen im Konjunkturpaket II berücksichtigt werden können. Museen, Theater, Stadtteilbibliotheken können jetzt im Rahmen von Investitionen in die
kommunale Infrastruktur Gelder bekommen.
Zweitens. Ganz intensiv diskutiert haben wir über die
soziale Lage von kurz befristet Beschäftigten. Wegen der
verkürzten Rahmenfrist waren gerade viele Beschäftigte
im Kultur- und Medienbereich, vor allen Dingen beim
Film, vom Bezug des Arbeitslosengeldes I ausgeschlossen. Wir haben jetzt eine Lösung; wir werden sie nachher verabschieden. Besonders unser Arbeitsminister, unser Außenminister und die Kolleginnen und Kollegen im
Bundestag insgesamt haben mit großem Engagement
versucht, die Situation zu klären und eine Gesetzesnovelle zu beschließen.
Jetzt werden Sie fragen: Was haben die Kultur im
Konjunkturprogramm und die soziale Lage mit dem
Staatsziel Kultur zu tun? Dazu kann man nur sagen:
Durch die Festlegung von Kultur als Staatsziel würde in
jeden Abwägungsprozess der kulturelle Aspekt mit einbezogen, so wie wir den Aspekt der Umwelt immer mit
einbeziehen, Beispiele sind die Umweltverträglichkeitsprüfung und die Emissionsschutzgesetze. So wie es geholfen hat, den Aspekt der Umwelt ins Grundgesetz aufzunehmen, so würde es bei den Abwägungen helfen,
auch den Aspekt der Kultur mit aufzunehmen. Dann
wäre dieser Aspekt automatisch Bestandteil eines jeden
Abwägungsprozesses, Herr Kollege Gehb.
In Bezug auf die Umwelt haben wir gekämpft; da hat
es geklappt. Eine Aufnahme des Staatsziels Kultur
würde dazu führen, dass es auf jeder Ebene beachtet
würde. Wenn dieses Staatsziel im Grundgesetz verankert
würde, würden wir wirklich von der Kulturnation
Deutschland reden können. Denn Kultur ist ein Lebensmittel; da stimme ich dem Kollegen Otto ausdrücklich
zu. Wir haben immer betont: Kultur ist eine wichtige
Grundlage. Wir wollen keine McDonaldisierung, die zur
Folge hätte, dass sich nur kommerziell erfolgreiche
Dinge durchsetzen könnten, sondern wir meinen, Kultur
muss auf jeder Ebene durchgesetzt werden.
Das sieht man zum Beispiel bei der Diskussion: Kann
man eine Musikschule, eine Bibliothek erhalten, oder
muss man stattdessen die Straße verbessern? Diese Diskussion gibt es immer wieder vor Ort. In den Abwägungsprozess sollte der Aspekt der Kultur mit einbezogen werden. Ich finde, das ist eine ganz wichtige Sache.
Noch einmal sehr deutlich: Der Abwägungsprozess
ist wichtig. Die Gleichrangigkeit ist wichtig. Wir würden
gerne zustimmen. Wir sind allerdings ein verlässlicher
Partner in der Koalition.
({8})
Deswegen machen wir dies, so richtig wir den Gesetzwurf auch finden, nicht, so wie auch Sie das in den Ländern getan haben, Herr Otto. Insofern bitte ich Herrn
Westerwelle, dass er seine Leute in den Ländern dazu
anregt, im Bundesrat entsprechend vorzugehen. Dann erreichen wir vielleicht auch hier die Mehrheit.
({9})
Michael Grosse-Brömer hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Man hat es als Rechtspolitiker
nicht leicht. Es beginnt damit, dass über unser Aussehen
diskutiert wird, dass manche sympathischer sind; das
verstehe ich auch. In der Tat hätten wir genügend Beispiele für Kulturpolitikerinnen, die besser ausgesehen
hätten als ich.
({0})
Wie wir an der Wortmeldung des Kollegen Westerwelle
gesehen haben, muss zwischendurch aber auch einmal
ein Rechtspolitiker reden.
Es muss ja noch erlaubt sein, darauf hinzuweisen
- ich fürchte sogar, als Volljurist wissen Sie das; ich
glaube, das wissen Sie noch vom Studium -, dass man
die Wirkung von Grundrechten nicht mit der von Staatszielen gleichsetzen kann und dass man Verfahrensordnungen - sie stehen nicht unter den ersten 20 Artikeln
des Grundgesetzes, sondern sind erst ab den 70er-Artikeln enthalten; sie müssen ganz andere Inhalte regeln
- etwas weiter fassen muss als ein knapp formuliertes
Staatsziel. Sie haben nach meiner Auffassung - wie gesagt, ich glaube, das war vielleicht sogar gewollt - Äpfel
mit Birnen verglichen, um Ihrem Gesetzentwurf ein bisschen mehr Leben einzuhauchen.
({1})
Theodor Heuss hat gesagt - ich habe es mir extra heraussuchen lassen, weil es um einen FDP-Gesetzentwurf
geht -:
Politik kann nie Kultur, Kultur wohl aber Politik
bestimmen.
Vielleicht sollte so ein Schuh daraus werden.
Ich halte Ihre Argumentation für nicht schlüssig,
ebenso wenig wie die von Frau Kollegin Jochimsen. Sie
haben schön dargelegt, in welchen anderen Verfassungen
Kultur welchen Stellenwert hat. Aber Sie haben bei Ihrem letzten Beispiel, bei Mecklenburg-Vorpommern, exemplarisch dargelegt, warum die Regelung in einer Verfassung nicht das Maßgebende ist. Denn da, wo dies gut
wäre, nämlich auf Bundesebene, haben wir keine Staatszielbestimmung. Sie sollten einmal den Kulturetat von
Mecklenburg-Vorpommern mit anderen vergleichen.
Dann müssten Sie sich zwangsläufig die Frage stellen:
Was hat es denn gebracht, dass der Aspekt der Kultur in
der Landesverfassung verankert wurde? Das jetzige Ergebnis ist aus unserer Sicht zu wenig. Ganz im Gegenteil: Man läuft Gefahr, dass man etwas in die Verfassung
schreibt, weil einem das besonders am Herzen liegt und
man das vielleicht schon immer wollte, aber nicht deshalb, weil es eine effiziente Kulturpolitik bewirkt. Vielmehr läuft man damit eher Gefahr, einen Placeboeffekt
zu erzeugen. Dem wollen wir vorbeugen. Es macht keinen Sinn, irgendetwas in die Verfassung zu schreiben,
was keine konkreten Auswirkungen hat. Das weiß sogar
Herr Otto, mit dem ich schon häufiger diskutiert habe.
Herr Grosse-Brömer, möchten Sie eine Zwischenfrage von Frau Jochimsen zulassen?
Von Frau Jochimsen gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege, ich glaube, es handelt sich um ein
Missverständnis. Solange es eine rot-rote Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern gab, war das Landesparlament mehrheitlich dafür, dass das Staatsziel Kultur
im Grundgesetz verankert wird. Was die Verfassung
Mecklenburg-Vorpommerns angeht, ist das eine andere
Sache. Dort ist die Kultur ebenso wie in allen anderen
Landesverfassungen mit Ausnahme der Verfassung der
Freien und Hansestadt Hamburg verankert.
In der Debatte heißt es ja immer wieder - auch die
Kollegin Griefahn hat das sehr vehement vertreten -:
Kümmert euch um die Bundesländer, kümmert euch um
den Bundesrat, kümmert euch darum, dass es in den
Bundesländern eine Mehrheit dafür gibt, das Staatsziel
Kultur in die Verfassung aufzunehmen. Die Bundesländer Berlin und Mecklenburg-Vorpommern sind bisher
aber die beiden einzigen, die - unter einer rot-roten Regierung - eine Mehrheit dafür gefunden haben, das
Staatsziel Kultur in die Bundesverfassung aufzunehmen.
({0})
Okay. Das ändert aber nichts an dem Umstand, dass
die Aufnahme der Kultur als Staatsziel in die Landesverfassung nicht dazu geführt hat, dass die Kulturpolitik
besser wurde. Das war mein Vorhalt, und der bleibt richtig.
({0})
Wir haben schon gesagt, dass die Effizienz fehlt. Ich
will aber auf einen noch viel wichtigeren Aspekt hinweisen, den auch Herr Otto nicht erwähnt hat: Hier wird immer suggeriert, die Verfassung würde überhaupt keinen
Schutz der Kultur vorsehen. In diesem Zusammenhang
muss ich darauf hinweisen dürfen, dass in Art. 5 Abs. 3
des Grundgesetzes der zugegebenermaßen relativ kurze
Satz steht:
Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind
frei.
Man kann sagen, dass einem das nicht weit genug geht.
Es wird aber keiner behaupten wollen, die Bundesrepublik Deutschland sei kein Kulturstaat, weil es in Art. 5
Abs. 3 des Grundgesetzes nur diesen einfachen Satz
gibt.
Ich kann es auch umgekehrt sagen. Ich habe einmal
nachgeschaut, was das höchste deutsche Gericht 1989 zu
Art. 5 des Grundgesetzes ausgeführt hat - ich zitiere -:
Diese Grundrechtsnorm enthält ein Freiheitsrecht
für alle in den Bereichen der Kunst und der Wissenschaft schöpferisch tätigen Personen, das sie vor
Eingriffen der öffentlichen Gewalt schützt.
Achtung:
Als objektive Grundsatzentscheidung für die Freiheit von Kunst und Wissenschaft stellt sie aber zugleich dem Staat, der sich - im Sinne einer Staatszielbestimmung - auch als Kulturstaat versteht, die
Aufgabe, ein freiheitliches Kunst- und Wissenschaftsleben zu erhalten und zu fördern.
All das ist schon jetzt verfassungsrechtlich geschützt.
Daran würde eine Aufnahme des Staatsziels Kultur in
die Verfassung nichts ändern. Das würde aus meiner
Sicht übrigens auch nichts verbessern. Das ist ausreichend. Das ist gut. Das reicht.
({1})
- Ja, ich weiß. Es wird nicht einfacher, wenn man die anerkannte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zitiert.
Wichtig ist, dass solche objektiven Wertentscheidungen vom höchsten deutschen Gericht mittlerweile in die
Verfassung hineininterpretiert werden, ohne dass wir das
als Staatsziel formuliert haben.
Kollege Grosse-Brömer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?
Jederzeit.
Geschätzter Kollege Grosse-Brömer, Sie haben versucht, mir klarzumachen, dass ein Staatsziel entbehrlich
ist, weil die Grundentscheidungen des Verfassungsgerichts ganz offensichtlich auch ohne Staatsziel funktionieren. Mir ist angesichts dessen aber unerklärlich - vielleicht können Sie mir da helfen -, warum Ihre Fraktion
ebenso wie meine Fraktion seinerzeit der Aufnahme des
Staatsziels „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen“
in die Verfassung zugestimmt hat. Die Argumentation,
die Sie eben vorgebracht haben, lässt sich in gleicher
Weise hinsichtlich des Staatsziels „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen“ führen. Ich verstehe es überhaupt nicht, dass man dem einen zustimmt, aber beim anderen sagt: Das wollen wir nicht haben.
({0})
Ich will Ihnen gerne meine persönliche Auffassung
dazu nennen. Ich war damals noch nicht Teil der Fraktion und habe dementsprechend gar nicht mitgestimmt.
Ich bin in der Tat der Auffassung, dass das entbehrlich
gewesen wäre; ganz einfach.
({0})
Ich finde es auch heute entbehrlich, ein weiteres Staatsziel hinzuzufügen, weil das genauso ineffektiv ist und
genauso wenig Regelungsgehalt beinhaltet. Wir haben
mehrfach gesagt: Dadurch, dass der Tierschutz als
Staatsziel bestimmt wurde, ist nicht ein Tier weniger gestorben oder geschächtet worden als zuvor
({1})
- dazu gibt es eine höchstrichterliche Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts; ich hoffe, sie ist Ihnen
bekannt -,
({2})
und dadurch, dass der Umweltschutz zum Staatsziel erhoben wurde, wurde die Umwelt nicht besser geschützt
als zuvor. Es gibt sicherlich viele einfachgesetzliche Regelungen, die diesen Zweck erfüllen. Nach meiner festen
Überzeugung hat die Staatszielbestimmung in diesen
Fällen aber nicht geholfen.
({3})
Wir müssen immer wieder darauf hinweisen, dass jedem Vorschlag, ein bestimmtes Staatsziel zu bestimmen,
ehrenwerte Motive zugrunde liegen; darüber besteht gar
kein Zweifel. Denn wer ist schon gegen Kultur, gegen
den Schutz der Tiere oder gegen den Schutz der Kinder?
Die verfassungsrechtliche Frage, die sich stellt, lautet
aber: Brauchen wir ineffektive Staatszielbestimmungen?
Wir sagen aus großer Überzeugung, auch wenn das nicht
populär ist: In verfassungsrechtlicher Hinsicht brauchen
wir sie nicht.
({4})
Staatsziele schaffen keine Denkmäler, Staatsziele schaffen keine Filmförderung, und Staatsziele fördern weder
Malerei noch Literatur. All das tut Bernd Neumann.
({5})
Deswegen sind wir der Auffassung: Wir brauchen einen
effizienten Staatsminister.
({6})
- Ja, genau. Das ist die richtige Überzeugung. - Richtig
ist: Wir brauchen einen effizient arbeitenden Kulturstaatsminister und keine ineffizienten Kulturstaatsziele;
das ist der Punkt.
({7})
Es muss erlaubt sein, darauf hinzuweisen, dass dieser
Kulturstaatsminister, der in der gesamten Kulturszene
ein extrem hohes Ansehen genießt,
({8})
der lebende Beweis dafür ist, dass Kulturpolitik, auch
wenn sie nicht als Staatsziel bestimmt ist, funktioniert,
und zwar exzellent funktioniert.
({9})
Stellen Sie sich einmal vor, wie schlimm es wäre,
wenn es irgendwann einmal eine Regierung in Deutschland gäbe - dass dies bei der nächsten Regierung der
Fall ist, kann ich mir allerdings nicht vorstellen -, die einen schlechteren Kulturstaatsminister hätte, die aber das
Staatsziel Kultur ins Grundgesetz aufnehmen würde.
Diese Regierung müsste feststellen: Die Kulturpolitik ist
schlechter geworden. Wir haben nur die Verfassung ein
wenig erweitert.
({10})
Das kann aber nicht unser Ziel und, wie ich denke, auch
nicht Ihre Intention sein.
Ich glaube, wir haben gute Aussichten, weiterhin mit
Bernd Neumann eine vernünftige Kulturpolitik machen
zu können. Dass wir auf dem richtigen Weg sind, beweist im Übrigen auch der jährlich steigende Kulturetat
in Deutschland.
({11})
Wir sollten uns darauf konzentrieren, eine sinnvolle
und effiziente Kulturpolitik zu betreiben, statt Diskussionen über Staatszielbestimmungen zu führen, die eher
deklaratorischen Charakter haben, aber keine konkreten
Leistungsansprüche begründen und die Verfassung insofern eher belasten, als sie auf irgendeine Art und Weise
zu stärken.
In diesem Sinne sage ich: Unterstützen Sie auch weiterhin die Kulturpolitik von Bernd Neumann, anstatt zu
versuchen, im Rahmen der Verfassungspolitik kulturpolitische Akzente zu setzen. Das ist der falsche Weg.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege Carl-Christian Dressel für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst darf ich den Kollegen Otto von der FDP beruhigen. Anders als es bei der von ihm kritisierten Union der
Fall war, durfte er aufseiten der SPD-Fraktion, bevor
jetzt der böse Rechtspolitiker kommt, zunächst einmal
zwei sympathische und attraktive Kulturpolitiker sehen
und hören.
({0})
Ich hoffe, wir haben Sie damit glücklich gemacht.
({1})
Wir beschäftigen uns im Deutschen Bundestag zu
Recht seit Jahrzehnten mit der Frage, ob das Staatsziel
Kultur im Grundgesetz verankert werden sollte. Ich
sage: Kultur ist mehr als Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre im Sinne des Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes.
({2})
Kultur schafft Zugehörigkeit und Beheimatung, repräsentiert Normen und Werte und gehört zu den grundlegenden Elementen, die für Bindekraft in der Gesellschaft
und für Verständigung untereinander sorgen.
Wenn man darüber diskutiert, kann man das auf verschiedene Art und Weise tun: auf fachliche oder auf
polemische. Die PDS-Fraktion wirft meiner Fraktion
Janusköpfigkeit vor. Wenn man anhand des Berichts des
Rechtsausschusses, Drucksache 16/12843, Beratungsverlauf und Beratungsergebnisse nachvollzieht, fällt einem auf, dass Argumente von Rechtspolitikern Ihrer
Fraktion nicht aufgeführt sind. Das liegt daran, dass sich
Ihre Fraktion an den Beratungen im Rechtsausschuss argumentativ nicht beteiligt hat. Ich frage Sie: Wenn Sie
uns Janusköpfigkeit vorwerfen, wie muss man dann Ihr
Verhalten nennen? Doppelzüngigkeit? Sie befassen sich
mit der Sache überhaupt nicht und halten hier nur Schaufensterreden.
({3})
Die Chance, unter anderem Kultur als Staatsziel in
das Grundgesetz aufzunehmen, war in dieser Legislaturperiode vorhanden. Wir hätten diese Chance gerne genutzt. Diese Chance wurde in der Welt vom 24. April
2009 mit den folgenden Worten beschrieben:
Die Union ist sich nicht ganz einig, doch der von
ihr gestellte Kulturstaatsminister ist entschieden dafür.
Herr Staatsminister, ich kann nur sagen: Mit dieser Einstellung haben Sie voll und ganz recht.
({4})
Eine weitere Ergänzung des Grundgesetzes - nach
den 55 Änderungen, die seit 1949 vorgenommen worden
sind - ist mit den Kollegen der CDU/CSU-Fraktion leider nicht zu machen. Wir halten das für widersprüchlich.
Ich selbst halte es für in höchstem Maße bedauerlich.
Herr Westerwelle - er hat den Plenarsaal mittlerweile
leider verlassen ({5})
hat vorhin aufgenommen, dass in unserem Wahlprogramm steht, dass wir nach wie vor Kultur als Staatsziel
in der Verfassung verankern wollen, zusammen mit einer
Aufnahme des Sports und zusammen mit einer Aufnahme von Kinderrechten. Wir wollen diese Ziele nicht
nur deswegen als Staatsziele verankern, weil der Gesetzgeber dann auch diese Interessen berücksichtigen
müsste, und auch nicht deswegen, weil es, wie Herr Otto
vorhin behauptet hat, unmittelbare Auswirkungen auf
Haushalt und Finanzen hätte. Das hat es nämlich nicht;
diese Annahme ist schlichtweg falsch.
Wir wollen diese Ziele aus dem im Folgenden dargestellten Grund als Staatsziele verankern. Wenn man mit
Vertretern der Kinderschützer, mit Vertretern der Sportverbände, mit Vertretern der Kulturverbände redet,
merkt man, dass das Problem nicht die Entscheidungen
des Gesetzgebers sind. Das Problem sind die Entscheidungen, die vor Ort in Verwaltung und Gerichtsbarkeit
getroffen werden. Wenn in Konkurrenz zu einer Sportveranstaltung ein Gut mit Verfassungsrang steht, wenn
in Konkurrenz zu einer Kulturveranstaltung ein Gut mit
Verfassungsrang steht, wenn in Konkurrenz zum Kinderschutz ein Recht mit Verfassungsrang steht, dann haben Kultur, Sport und Kinder, weil sie keinen Verfassungsrang haben, verloren. Dem möchten wir Sozialdemokraten durch eine Verfassungsreform aus einem Guss,
mit der Kultur, Sport und Kinderrechte als Staatsziele in
die Verfassung aufgenommen werden, abhelfen.
({6})
Kultur ist eine geistige Lebensgrundlage und ein öffentliches Gut, das sich in der Verfassung ausdrücken
muss. Die Kinder brauchen eine stärkere Stimme in der
Gesellschaft. Es muss verhindert werden, dass gerichtliche Entscheidungen zwar das verfassungsrechtlich gesicherte Elternrecht berücksichtigen, das Recht der Kinder
aber nicht. Das Gleiche gilt für den Sport: Lärmschutz,
Umweltschutz und andere Belange werden dem Sport,
solange er nicht mit Verfassungsrang ausgestattet ist, immer überlegen sein. Das ist die Position meiner Fraktion.
Würde jetzt nur Kultur als Staatsziel in die Verfassung aufgenommen, würde - darin sind wir Rechtspolitiker uns einig - das eine Aufnahme der beiden anderen
Ziele - Sportförderung und Kindergrundrechte -, deren
Aufnahme als Staatsziel ebenfalls wünschenswert ist,
verhindern. Wir können einen solchen Schritt nicht gehen; denn er wäre ein Schritt in die falsche Richtung,
würde Schritt zwei und Schritt drei verhindern. Daher
werden wir Sozialdemokraten den Antrag der FDP ablehnen.
({7})
In der Sache hoffen wir, dass wir spätestens im nächsten Deutschen Bundestag mit der dafür nötigen Zweidrittelmehrheit diese drei Änderungen als die 56. Änderung des Grundgesetzes durchführen können.
({8})
Wir hoffen dann auf Unterstützung quer durch alle Fraktionen.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Es liegen mir Erklärungen gemäß § 31 unserer Ge-
schäftsordnung der Kollegin Undine Kurth, Bündnis 90/
Die Grünen, und der Kolleginnen Professor Monika
Grütters und Gitta Connemann aus der Unionsfraktion
vor. Entsprechend unserer Geschäftsordnung nehmen
wir sie ins Amtliche Protokoll auf.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP zur Änderung des Grundgesetzes.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12843, den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/387 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung gegen die Stimmen der FDP-Fraktion,
der Fraktion Die Linke und einer Kollegin der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der übrigen Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum
Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr
2009 ({0})
- Drucksachen 16/13000, 16/13386 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die sich an dieser sicherlich auch spannenden Beratung nicht beteiligen
können, ihre Gespräche draußen fortzusetzen, sodass wir
der Debatte folgen können.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich hätte es mir nie träumen lassen, dass ich
1) Anlage 5
mich in meiner letzten haushaltspolitischen Rede im
Deutschen Bundestag mit der Einbringung eines zweiten
Nachtragshaushaltes befassen werde.
Durch die von den USA ausgegangene Finanzkrise
und der daraus folgenden weltweiten Wirtschaftskrise
wurden der Aufschwung unserer Wirtschaft nachhaltig
beschädigt und auch der Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt abgebrochen. Das Ziel, am Ende der von uns erfolgreich betriebenen Rückführung der Nettokreditaufnahme eine Nettokreditaufnahme von Null zu erreichen,
ist dadurch in weite Ferne gerückt. Wäre es nicht zu dieser Krise gekommen, dann könnten wir Ihnen heute die
Perspektive vorstellen, dass wir in 2011, nachdem wir in
2005 mit einer Nettokreditaufnahme von 31,2 Milliarden
Euro gestartet sind, eine Nullverschuldung erreichen.
({0})
Das Ziel, einen Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung
aufzustellen, werden wir aber weiter verfolgen. Es ist
nur in weite Ferne gerückt.
Die deutsche Wirtschaft - der Exportweltmeister steckt durch den Einbruch auf den Weltmärkten in der
schärfsten Rezession der Nachkriegszeit. Damit steht die
Finanzpolitik vor nicht gekannten Herausforderungen.
Wir müssen davon ausgehen, dass das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 6 Prozent schrumpfen wird. Für
2010 rechnen wir zwar wieder mit einem Wachstum, das
aber voraussichtlich mit einem halben Prozentpunkt sehr
gering ausfallen wird.
Der Rückgang der Wirtschaftsleistung erfasst inzwischen auch den Arbeitsmarkt. Wir müssen für dieses
Jahr trotz unserer massiven Anstrengungen zur Förderung der Kurzarbeit mit dem Anstieg der Zahl der Arbeitslosen von knapp 3,3 Millionen auf 3,7 Millionen
rechnen.
({1})
Schon im letzten Herbst mehrten sich die Zeichen,
dass infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise der Ausstieg aus der Neuverschuldung in weite Ferne rückt. Der
Zusammenbruch von Lehman Brothers stellte den Wendepunkt dar.
Der Regierungsentwurf vom Juli sah noch 10,5 Milliarden Euro Neuverschuldung vor. Wegen geringerer
Steuereinnahmen und geringerer Privatisierungserlöse
und des von uns bewusst angeschobenen ersten Konjunkturpaketes musste man im Rahmen der parlamentarischen Beratungen die Neuverschuldung auf 18,5 Milliarden Euro erhöhen.
Um die Jahreswende zeigte sich dann, dass die Rezession Deutschland schwerer trifft als noch im Herbst erwartet.
({2})
Eine zwangsläufige, konjunkturell bedingte Mehrbelastung bei den Steuereinnahmen und am Arbeitsmarkt sowie unser bewusst in Angriff genommenes zweites Konjunkturpaket für mehr Beschäftigung und Stabilität in
Deutschland machten eine nochmalige Erhöhung der geplanten Neuverschuldung unumgänglich. Das Ende Februar in Kraft getretene erste Nachtragshaushaltsgesetz
weist deshalb für dieses Jahr eine Nettoneuverschuldung
von 36,9 Milliarden Euro aus.
Im ersten Quartal dieses Jahres beschleunigte sich
aber der Konjunkturabschwung nochmals. Das Ergebnis
der Mai-Steuerschätzung und die konjunkturbedingten
zusätzlichen Ausgaben für den Bereich der sozialen Sicherung machen jetzt einen zweiten Nachtragshaushalt
mit einer Neuverschuldung von 47,6 Milliarden Euro
notwendig. Dazu kommen noch die in den letzten Tagen
beschlossenen Vergünstigungen im Rahmen des Bürgerentlastungsgesetzes und des Agrardiesels, die noch zusätzlich eingearbeitet werden müssen und eine weitere
Neuverschuldung bedeuten.
({3})
Ich weise ausdrücklich darauf hin, dass zu der Nettokreditaufnahme noch die Neuverschuldung im Rahmen
der beiden Sonderfonds - der Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung und der Investitions- und Tilgungsfonds hinzukommt. Für die beiden Fonds besteht eine überjährige Ermächtigung für die Kreditaufnahme, weshalb sich
nicht beziffern lässt, in welcher Höhe sie im laufenden
und im nächsten Jahr tatsächlich zum Tragen kommen.
Eines ist aber sicher: Die gesamte Neuverschuldung des
Bundes wird sich in diesem Jahr in jedem Fall auf weit
über 50 Milliarden Euro belaufen.
({4})
Das Bundeskabinett wird nächste Woche den Regierungsentwurf für 2010 und den Finanzplan bis 2013 beschließen. Ich möchte und kann dem Kabinettsbeschluss
nicht vorgreifen. Aber schon aufgrund der prognostizierten Steuermindereinnahmen aus der Mai-Steuerschätzung für die nächsten Jahre, der hohen zusätzlichen Ausgaben für den Arbeitsmarkt sowie der von uns bewusst
beschlossenen Maßnahmen zur Stabilisierung der Konjunktur wird die Neuverschuldung im nächsten Jahr das
diesjährige Niveau noch einmal sehr deutlich übertreffen.
Die schärfste Rezession der Nachkriegszeit wird die
öffentlichen Finanzen auch in den folgenden Jahren
nachhaltig prägen. Die Defizite werden die bisherigen
Höchststände bei weitem übertreffen. Ein Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung rückt, wie gesagt, leider in
weite Ferne. Denn in dieser historisch einzigartigen
Krise kann nur der Staat durch eine antizyklische Finanz- und Wirtschaftspolitik helfen. Der Bund darf in
dieser Situation nicht der wirtschaftlichen Entwicklung
hinterhersparen, weil er die Krise dann nur verschärfen
würde.
In der gegenwärtigen Situation ist es ökonomisch notwendig und richtig, die automatischen Stabilisatoren
wirken zu lassen und zusätzlich eine ganz bewusste expansive Fiskalpolitik zu betreiben. Ausgabenkürzungen
und Steuererhöhungen würden die extreme Rezession
nur verstärken und die Inlandsnachfrage und die Investitionstätigkeit nachhaltig schwächen. Deshalb ist es folgerichtig, dass wir mit den Konjunkturpaketen I und II
erheblich zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage
beitragen und damit weit höhere gesamtgesellschaftliche
Folgekosten der Krise vermeiden.
Defizite in schlechten Zeiten müssen und können aber
in guten Zeiten wieder ausgeglichen werden.
({5})
Nach der Überwindung der Krise muss der Staat wieder
auf einen nachhaltigen finanziellen Kurs zurückkehren.
({6})
Ein wesentlicher Baustein hierzu ist die von uns präsentierte und vom Bundestag und dann am 12. Juni vom
Bundesrat mit großer Mehrheit beschlossene neue
Schuldenregel. Im Rahmen einer Übergangsregelung
wird damit der Bund verpflichtet, seine strukturelle Neuverschuldung ab dem Jahre 2011 - somit, wie wir alle
gemeinsam hoffen, nach der Krise - stufenweise zurückzuführen. Gleichzeitig trägt die sogenannte Schuldenbremse konjunkturellen Effekten besser Rechung. Eine
konjunkturbedingte Erhöhung der Kreditaufnahme in
Phasen des Abschwungs muss in Aufschwungphasen
wieder ausgeglichen werden.
Auch wenn die neue Schuldenregel für den Bund erstmalig im Jahre 2011 greifen wird, ist eines schon klar:
Wir werden unsere Konsolidierungsanstrengungen nach
der Überwindung der konjunkturellen Talsohle nachhaltig verstärken müssen. Spielräume für zusätzliche Steuersenkungen wird es im Bundeshaushalt nicht geben;
({7})
denn die jetzt beschlossenen Steuersenkungen werden
schon im Jahr 2010 zu einem sehr beachtlichen Volumen
steuerlicher Entlastung führen. Ich erinnere an die Anhebung des Kinderfreibetrags, die Erhöhung des Kindergeldes, die Schaffung neuer Beschäftigungsmöglichkeiten in privaten Haushalten, die höhere Absetzbarkeit von
Handwerkerleistungen, die Anhebung des Grundfreibetrags, die Absenkung des Eingangssteuersatzes, die Wiedereinführung der Pendlerpauschale und - ganz massiv
entlastend wirkend - die verbesserte steuerliche Absetzbarkeit der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung. All diese in jüngster Zeit beschlossenen Maßnahmen werden zu einer sehr beachtlichen finanziellen
Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in Höhe von
21,4 Milliarden Euro jährlich ab 2010 führen, eine Leistung, auf die wir stolz sein können.
({8})
Bei einer Familie mit zwei Kindern und einem Durchschnittseinkommen wird diese Entlastung ab 2010 dazu
führen, dass sie im Jahr 500 bis 1 000 Euro mehr im
Portemonnaie haben wird.
({9})
Ein Haushalt ohne neue Schulden bleibt aber unser
hervorgehobenes haushaltspolitisches Ziel.
({10})
Allerdings werden die haushaltspolitischen Spielräume,
die im Bundeshaushalt selbst unter der neuen Schuldenregelung bestehen, auch in Zukunft dazu genutzt werden, um wichtige Politikbereiche strukturell voranzubringen. Genau dies entspricht dem Geist der neuen
Schuldenregelung.
Ich möchte zum Schluss allen Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich in den mehr als 22 Jahren, die ich
dem Deutschen Bundestag angehöre - davon elf Jahre
als Mitglied des Haushaltsausschusses,
({11})
eine ganze Wahlperiode als haushaltspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion und zehneinhalb Jahre in der
Funktion als Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen -,
({12})
vertrauensvoll und kollegial zusammengearbeitet habe,
herzlich danken, insbesondere den Kollegen und Kolleginnen aus dem Haushaltsausschuss, namentlich dem
Kollegen Vorsitzenden, Herrn Otto Fricke, den beiden
Obleuten der Koalitionsfraktionen, Steffen Kampeter
und Carsten Schneider, sowie den Obleuten der übrigen
Fraktionen, Herrn Koppelin, Herrn Bonde und Frau
Dr. Lötzsch. Herzlichen Dank für die Zusammenarbeit!
Es waren politisch spannende Jahre in außerordentlich ereignisreicher Zeit. Wir durften das Glück der deutschen Wiedervereinigung erleben und waren vor die Herausforderung gestellt, die deutsche Wiedervereinigung
politisch zu gestalten, damit zusammenwachsen kann,
was zusammengehört. Das ist uns, glaube ich, schon zu
wesentlichen Teilen gelungen. Wir müssen weiter daran
arbeiten. Ein besonders schöner Moment für mich war,
wieder im Herzen der Hauptstadt arbeiten zu dürfen. Die
Wüste in der Mitte Berlins konnten wir ja in den letzten
beiden Jahrzehnten gestalten. Daran mitzuwirken, war
eine gute Sache.
Dem neuen Deutschen Bundestag und den Kolleginnen und Kollegen, die ihm angehören, wünsche ich angesichts der von mir geschilderten Perspektivezahlen die
Kraft, die bevorstehenden Herausforderungen anzunehmen und sie im Sinne sozialer Gerechtigkeit und der Sicherung der Zukunftsfähigkeit unseres Landes zu gestalten. Glück auf in diesem Sinne!
Herzlichen Dank.
({13})
Kollege Diller, der Beifall des ganzen Hauses unterstreicht es: Wir wünschen Ihnen für Ihre Zukunft alles
erdenklich Gute, Gesundheit und die Erfüllung des einen
oder anderen Wunsches, den Sie sich vielleicht während
Ihrer politischen Tätigkeit im Deutschen Bundestag
nicht erfüllen konnten.
Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dem Bundestagsabgeordneten Karl Diller wünsche ich
auch im Namen unserer Fraktion alles Gute für die Zukunft, vor allem immer Gesundheit, und ich sage auch
von unserer Seite aus: Glück auf! Das sage ich allerdings
in Richtung des Bundestagsabgeordneten Karl Diller,
dem Staatssekretär Karl Diller weine ich natürlich keine
Träne nach. Dafür bitte ich um Verständnis.
({0})
Wir als Opposition fragen uns schon, warum bei einem so wichtigen Nachtragshaushalt, mit dem neue
Schulden in Milliardenhöhe aufgenommen werden, die
Regierungsbank mit so wenigen Vertretern des Kabinetts
besetzt ist. Das ist eine einzige Katastrophe, das ist eine
Zumutung.
({1})
- Das ist peinlich. - Wir hätten in anderen Zeiten bestimmt Sondersitzungen in der Sommerpause zu diesem
Thema gehabt, aber jetzt haben wir die dürftigste Besetzung. Nicht einmal ein Bundesminister ist hier.
({2})
Nicht einmal der Bundesminister selber trägt den Nachtragshaushalt vor. Dazu kann ich nur sagen: Es ist ein
starkes Stück, wie Sie mit dem Parlament umgehen, aber
das machen Sie schon seit längerem.
({3})
Vielleicht haben wir nicht das Niveau des Bundesfinanzministers, der sowieso immer der Auffassung ist, dass
wir alle gar keine Ahnung haben, sondern nur er.
({4})
Darauf will ich gleich zurückkommen.
Als wir den Bundeshaushalt für 2009 verabschiedet
haben, hat uns der Bundesfinanzminister, als wir uns
vorsichtig kritisch geäußert und gefragt haben, was mit
der Wirtschaft los sei, vorgeworfen, Kassandrarufe zu
verbreiten und Sadomasogebaren an den Tag zu legen
usw. Dabei waren die Prognosen doch schon eindeutig.
Sie wussten da doch schon, dass der Bundeshaushalt 2009 Makulatur ist. Anfang des Jahres mussten Sie
den ersten Nachtragshaushalt einbringen, und jetzt müssen Sie noch einmal nachbessern. Es ist nun nicht so
- das würden wir Ihnen zubilligen -, dass Sie wegen der
Finanz- und Wirtschaftskrise nachbessern müssten. Das
ist ein Teil der Geschichte.
Der andere Teil der Geschichte ist, dass die Einnahmen eingebrochen sind und Sie sich nie die Ausgabenseite angeschaut haben. Ihr größtes Problem ist doch gewesen, dass Sie nie bereit waren, sich die Ausgabenseite
anzuschauen und zu fragen, wo man Einsparungen vornehmen kann. Wir als FDP-Fraktion haben Vorschläge
für Einsparungen im Haushalt 2009 gemacht.
({5})
Man mag sich über den einen oder anderen Titel streiten,
aber wir hatten Sparvorschläge in Höhe von 12 Milliarden Euro unterbreitet. Die Vorschläge wurden vom Tisch
gewischt. Die Ausgabenseite hat Sie überhaupt nicht interessiert. Jetzt müssen Sie einen Nachtragshaushalt mit
einer ganz hohen Neuverschuldung - noch einmal
30 Milliarden Euro zusätzlich - vorlegen. Wir haben Ihnen gesagt - das wiederhole ich -: Als die Große Koalition den Haushalt 2009 vorlegte, war er bereits Makulatur.
Es ist nicht nur das. Sie, Herr Staatssekretär, haben
verschwiegen, was Sie uns und dem deutschen Steuerzahler noch eingebrockt haben, nämlich mindestens
zwei Schattenhaushalte. Das wollten Sie doch nicht. Wir
wollten doch keine Schattenhaushalte mehr. Wir haben
den Finanzmarktstabilisierungsfonds, für den 100 Milliarden Euro vorgesehen sind. Etwa 20 Milliarden Euro
sind bisher verbraucht. Ein anderer Schattenhaushalt
- der ist sehr interessant - nennt sich Sondervermögen
„Investitions- und Tilgungsfonds“. Der umfasst 25 Milliarden Euro Schulden. Ich habe nie gewusst, dass Schulden ein Sondervermögen sind, aber so verkauft es diese
Bundesregierung.
({6})
Es geht noch weiter. Im Kölner Stadtanzeiger war zu
lesen, dass der Unionsfraktionsvorsitzende Kauder gesagt hat: Wir haben den Haushalt konsolidiert.
({7})
Wie denn? Dann sagt er weiter, der Einsatz öffentlicher
Mittel gegen die Krise müsse vorsichtig und sparsam
sein. Ich kann das alles unterschreiben. Aber warum reden Sie draußen so und machen hier etwas ganz anderes?
Und warum sind die Herrschaften, die dieses sagen, hier
nicht anwesend?
({8})
Nein, meine Damen und Herren, die Wahrheit ist - das
war im Handelsblatt am 17. Juni als Überschrift zu lesen -:
„Der Staat versinkt in Schulden“. Der dafür verantwortliche Minister Steinbrück kneift aber heute bei unserer
Debatte.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen festhalten, wie man mit den Bürgern unseres Landes umgegangen ist. Man hat gesagt, man wolle den Haushalt ausgleichen - ein erstrebenswertes Ziel. Dann aber haben Sie
die Mehrwertsteuer kräftig angehoben - das war die
größte Steuererhöhung, die wir je in dieser Republik hatten -, Sie haben weitere Steuererhöhungen vorgenommen und Steuervergünstigungen gestrichen.
({10})
Der Bürger hat zahlen und noch einmal zahlen müssen
für Ihren „ausgeglichenen“ Haushalt, den der Bürger
doch nicht bekommt. Stattdessen haben Sie Milliarden
über Milliarden mehr an Schulden gemacht.
Außerdem wussten Sie ganz genau, dass Sie noch
große Haushaltslöcher aufreißen würden. Wie wollten
Sie denn diese verkorkste Gesundheitsreform finanzieren? Sie haben doch nichts dafür getan, Sie haben alles
offengelassen. Man hat bei Ihnen den Eindruck, Herr
Staatssekretär Diller, dass Sie im Zahlenrausch der Milliardensummen sind. Da die Sozialdemokraten nach der
Bundestagswahl sowieso nicht mehr drankommen werden, gehen Sie nun nach dem Motto vor: nach uns die
Sintflut, immer noch mehr und noch mehr mit der Gießkanne drauf. Dies haben wir auch in der letzten Sitzung
des Haushaltsausschusses erlebt.
Wir als FDP haben immer wieder Sparvorschläge gemacht. Ich nenne Ihnen wenige Punkte, damit man auch
einmal sieht, wie man auf der Ausgabenseite sparen
kann. Da ging es um den Digitalfunk beim Innenminister. Es wäre möglich gewesen, die Ausrüstung für 1,6 bis
1,7 Milliarden Euro zu beschaffen. Es ist alles vorrätig;
man kann es erwerben. Aber was machen Sie? Sie wollen etwas Neues produzieren. Im Augenblick sind wir
bei 3,7 Milliarden Euro, ohne dass es schon Ausrüstungsgegenstände gibt, und werden wahrscheinlich noch
einmal mindestens 2 Milliarden Euro drauflegen, damit
das funktionieren kann. So gehen Sie mit den Haushaltsgeldern um.
Die Sozialdemokraten erinnere ich an etwas anderes,
was wir im Haushaltsausschuss erlebt haben: Wir durften nur noch zur Kenntnis nehmen, dass Sie mal wieder
für 2,7 Milliarden Euro neue Eurofighter bestellen. Aber
das wollten Sie eigentlich doch nicht. Wir jedenfalls
wollen es nicht; das ist nämlich eine zu hohe Stückzahl.
Aber nein, das ist Ihnen völlig egal. Das Geld ging bei
Ihnen nur so raus.
({11})
- Nein, Mensch noch mal. Kollege Poß, ich habe Sie für
intelligenter gehalten und nicht geglaubt, dass Sie einen
solchen Zuruf machen. Sie wissen ganz genau, dass wir
dies nicht beschließen mussten. Wir hätten auch Nein sagen und mit EADS verhandeln können. Das wäre machbar gewesen. Das kennen Sie ganz genau. Wie Sie mit
dem Haushaltsausschuss in dieser Frage umgegangen
sind, war schon sträflich.
({12})
Das war unmöglich: Am Parlament vorbei haben Sie der
Regierung eine Pauschalvollmacht gegeben, so zu handeln.
Ferner erinnere ich an den Selbstbedienungsladen für
sozialdemokratische Abgeordnete, aus dem über zwölf
Abgeordnete der SPD ganz speziell für ihre Wahlkreise
Vergünstigungen erhalten haben.
({13})
Nein, meine Damen und Herren, Sie sind in der
Schuldenfalle und kommen aus dieser Schuldenfalle
nicht heraus. Sie haben etwas gemacht, was unverantwortlich ist. Sie haben kommende Generationen mit
Milliardenschulden belastet, die diese werden abtragen
müssen. Leider werden Sie nichts mehr abtragen können. Wir hoffen aber auf eine Beratung, in der Sie doch
noch die Kraft aufbringen werden, auf der Ausgabenseite des Bundeshaushaltes Einsparungen vorzunehmen.
Herzlichen Dank für Ihre Geduld.
({14})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Norbert
Barthle das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir lesen heute den zweiten Nachtragshaushalt zum Haushalt 2009, eine Übung, die wir ganz bestimmt nicht mit großer Freude bestreiten. Das ist gar
keine Frage. Dennoch danke ich dem scheidenden
Staatssekretär, dem Kollegen Karl Diller, für seine wohltuend sachliche Rede. Ihre Rede, Herr Koppelin, war
vermutlich nicht die letzte; dies kann man allerdings
auch mit Bedauern zur Kenntnis nehmen.
({0})
Eines ist doch unbestritten: Nachtragshaushalte sind
immer dann notwendig, wenn die Entwicklung der Einnahmen und der Ausgaben im Bundeshaushalt die in den
regulären Haushalten vorgesehenen Flexibilitäten überschreitet und sich nicht mehr abbilden lässt. Das heißt,
ein Nachtragshaushalt ist in aller Regel Ausweis einer
besonderen Situation.
({1})
In solch einer besonderen Situation stecken wir tatsächlich. Die gemeinsame Diagnose der Wirtschaftsfor25488
schungsinstitute hat uns, wie zu Recht angemerkt wurde,
vor Augen geführt, dass wir in der tiefsten Rezession
stecken, die dieses Land jemals erlebt hat. Minus
6 Prozent beim Bruttoinlandsprodukt ist eine Zahl, die
wir noch nie hatten. Das geht seit dem letzten Quartal
2008 so und verschärfte sich schrittweise immer noch
weiter. Kein Mensch weiß, wie die Entwicklung weiter
verlaufen wird; denn wir haben für diese Situation keine
Blaupause. Auch die Experten können es uns nicht sagen; sie sprechen von „U“ oder „W“ oder „V“ oder Talsohle; aber niemand weiß, wann sich die Entwicklung
umkehren wird. Es gibt zwar erste positive, optimistische Anzeichen; aber belastbare Aussagen bekommen
wir auch von den Experten nicht.
Kollege Barthle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fricke?
Aber gerne.
Kollege Barthle, Sie sagten gerade, das alles sei ein
Ergebnis dessen, dass man auf neue Dinge reagieren
musste. Gleichzeitig haben Sie gesagt - wir werden das
im Protokoll nachlesen können -: Das geht seit dem letzten Quartal 2008 so. Können Sie mir erklären, warum
die Bundesregierung den ursprünglichen Haushalt Ende
November 2008 - das war im letzten Quartal des vergangenen Jahres - auf Basis eines Wirtschaftswachstums von 0,2 Prozent beschlossen hat? Können Sie mir
außerdem erklären, warum die Bundesregierung, getragen von den Koalitionsfraktionen, beim ersten Nachtragshaushalt gesagt hat, man gehe von ungefähr minus
2,25 Prozent aus? Können Sie mir weiterhin erklären, an
welcher Stelle die Bundesregierung zu der Einsicht gekommen ist, dass es auch schlechter kommen könnte?
Kann ich schließlich, nachdem Sie gerade gesagt haben,
man mache nun alles richtig, davon ausgehen, dass ein
weiterer Nachtragshaushalt in diesem Jahr nicht mehr
notwendig sein wird?
({0})
Herr Kollege Fricke, als Vorsitzender des Haushaltsausschusses wissen Sie sehr genau, wie kompliziert und
umfangreich ein Verfahren zur Aufstellung eines regulären Haushaltes ist. Der Haushalt muss in verschiedenen
Instanzen vorbereitet werden. Dann muss er innerhalb
der Ministerien abgestimmt werden. Dann wird er dem
Kabinett zugeleitet. Erst danach wird er uns zugeleitet.
Wir debattieren ihn dann ausführlich, bevor wir ihn beschließen. Das ist also ein monatelanger Prozess, und in
diesem monatelangen Prozess kann man nicht, je nach
der aktuellen Entwicklung, alle naselang die Annahmen
verändern;
({0})
vielmehr muss man sich auf solche Dinge berufen, die
nachprüfbar sind. So ist unser Verfahren gestaltet.
Wenn sich, wie bei dieser Krise, unvorhergesehen und
unvorhersehbar die Voraussetzungen ändern, dann ist die
Bundesregierung immer noch gut beraten, ihre Prognosen sehr vorsichtig zu formulieren;
({1})
denn jede Prognose der Bundesregierung hat auch psychologische Wirkungen.
({2})
Man muss sich das immer vor Augen führen, wenn man
sich auf Prognosen der Bundesregierung beruft. Deshalb
war es richtig, den Haushalt so zu beschließen, wie wir
es getan haben, und mit dem ersten und dem zweiten
Nachtragshaushalt schnell, aber sukzessive zu reagieren;
damit werden wir der Entwicklung am ehesten gerecht.
Ich sage an dieser Stelle ganz bewusst: Das Fahren
auf Sicht ist genau richtig, um einer solchen krisenhaften
Entwicklung gerecht zu werden. Das ist das, was wir
jetzt tun müssen und richtigerweise auch tun. Staatssekretär Diller hat von daher zu Recht gesagt: Es könnte
durchaus sein, dass die im zweiten Nachtragshaushalt
vorgesehene Nettokreditaufnahme nicht ausreicht und
dass wir nochmals entsprechend reagieren müssen. Ich
kann nicht erkennen, woran Sie Ihre Kritik festmachen
wollen.
({3})
Das, was wir machen, ist nämlich sachgerecht.
({4})
Stichwort „Fahren auf Sicht“: Erlauben Sie mir einen
kleinen Seitenhieb auf den Kanzlerkandidaten der SPD.
Er hat das Fahren auf Sicht mit Blick auf die Bundeskanzlerin als Ausdruck von Orientierungslosigkeit kritisiert. Ich frage mich manchmal, woher der geschätzte
Herr Außenminister seine höhere Erkenntnis bezieht.
Vielleicht war er bei einer jener älteren Damen mit einer
Glaskugel. Das kann er uns bei Gelegenheit einmal erzählen.
({5})
Dass wir dieser Entwicklung innerhalb unserer Haushalte gerecht werden müssen, ist unbestritten. Wir lassen
die automatischen Stabilisatoren wirken. Das ist richtig
und gut. Aber es genügt eben nicht: Die Maisteuerschätzung hat uns ja vorausgesagt, dass wir mit Steuermindereinnahmen von über 20 Milliarden Euro zu rechnen
haben. Deshalb kamen, wie gesagt, diese beiden Nachtragshaushalte mit der entsprechenden Erhöhung der
Nettokreditaufnahme zustande.
Eine Nettokreditaufnahme in Höhe von annähernd
50 Milliarden Euro, das ist ein Rekordwert, mit dem sich
der Finanzminister sicherlich ungern schmückt. Aber
- auch das wollen wir ihm attestieren - es führt kein
Weg daran vorbei. Richtigerweise wurde ja schon gesagt: Jede andere Maßnahme - Steuererhöhungen oder
Ausgabekürzungen - würde die Krise noch verschärfen,
wäre in dieser Situation also kontraproduktiv. Deshalb
gibt es keine Alternative zu dieser uns alle schmerzenden hohen Nettokreditaufnahme.
Wichtig ist mir aber, an dieser Stelle zu betonen: Wir
haben die Schuldenbremse im Grundgesetz verankert.
Das ist ein klares Signal dieser Großen Koalition an die
Menschen draußen im Lande: Wir wollen auf den Pfad
der Tugend zurückkehren. Wir wollen wieder zu konsolidierten Haushalten zurückkehren. Wir begeben uns
zwar jetzt auf einen Umweg, aber wir werden dieses Ziel
nicht aus den Augen verlieren und nicht aufgeben, auch
wenn wir es um einige wenige Jahre nach hinten schieben müssen.
Lassen Sie mich daran erinnern, wie die Situation vor
einem Jahr aussah. Da gab es einen Disput zwischen dem
damaligen Wirtschaftsminister Glos und dem Finanzminister Steinbrück um die Frage, wie denn die zu erwartenden Steuermehreinnahmen - damals standen über
80 Milliarden Euro im Raum - verwendet werden sollen,
ob damit Steuersenkungen vorgenommen werden sollten
oder ob man sparen sollte. Wir wären heute froh, uns darüber noch streiten zu dürfen.
({6})
Heute erleben wir in der aktuellen Situation ebenfalls
wieder eine Diskussion um Steuersenkungen. Gerade
heute früh hat der Finanzminister Steinbrück von diesem
Pult aus nochmals betont, dass Steuersenkungen „auf
Pump“ nicht möglich seien.
({7})
Ich möchte an den Herrn Finanzminister appellieren, mit
dieser diffamierenden Formulierung „auf Pump“ nicht
nur die Steuersenkungen, sondern, wenn schon, alle Ausgabenerhöhungen oder Einnahmeverzichte zu bezeichnen.
({8})
Ich darf daran erinnern, dass die SPD vorschlägt, das
BAföG zu erhöhen und die Studiengebühren abzuschaffen. Von Wohngelderhöhungen und Ähnlichem will ich
gar nicht reden. Fairerweise müsste man schließlich
auch bei den Sozialausgaben „auf Pump“ hinzufügen.
Das wünsche ich mir.
({9})
Im Übrigen erleben wir jetzt einen eher anderen Disput zwischen dem Bundesaußenminister, Herrn Steinmeier,
der sich als Inlandshilfswirtschaftsminister betätigt, und
dem sehr guten und tatkräftigen Wirtschaftsminister,
Herrn zu Guttenberg, den wir Gott sei Dank haben.
({10})
Bei all diesen Auseinandersetzungen - das lassen Sie
mich betonen - geht es aber immer um eines: Es geht um
den verantwortlichen und sorgsamen Umgang mit Steuergeldern. Eines scheint nämlich häufig vergessen zu
werden: Steuergelder sind nicht das Eigentum der Regierung, nicht unser Eigentum. Sie sind uns nur übergeben,
damit wir sie sorgsam verwalten.
({11})
Wir können sie nicht nach Gutdünken ausgeben, sondern
wir können sie nur für die Aufgaben ausgeben, für die
sie vorgesehen sind und die notwendig sind.
({12})
Deshalb ist die Union ein Garant für den sorgsamen und
verantwortungsvollen Umgang mit Steuergeldern. Das
wird auch in Zukunft so bleiben.
({13})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Koppelin?
Bitte.
Vielen Dank. - Da Sie sich jetzt zweimal auf den
Bundesaußenminister bezogen und kritische Anmerkungen gemacht haben, frage ich Sie: Können Sie der deutschen Öffentlichkeit erklären, warum die CDU/CSUFraktion im Haushaltsausschuss dem Bundesaußenminister einen dritten beamteten Staatssekretär zugebilligt
hat, was es bis dato im Auswärtigen Amt nicht gab?
({0})
Finden Sie, dass Ihre Entscheidung im Nachhinein richtig war?
Herr Kollege Koppelin, als Koalitionspartner muss
man Entscheidungen dieser Koalition mittragen, die man
nicht immer für ausgesprochen glücklich hält, die aber
der Koalitionsdisziplin geschuldet sind.
({0})
Deshalb gebe ich Ihnen an dieser Stelle zur Antwort: Ich
hätte mir auch andere Lösungen vorstellen können. Aber
als Koalitionspartner ist man in die Disziplin eingebunden und trägt auch solche Entscheidungen mit.
({1})
Lassen Sie mich auf die Situation des Bundeshaushalts zurückkommen. Eines muss man noch einmal betonen: Seit Bundeskanzlerin Angela Merkel von der Union
diese Regierung führt, haben wir einen konsequenten
Konsolidierungskurs eingeschlagen.
({2})
In den Jahren 2005 bis 2008 haben wir die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir jetzt so agieren können,
wie wir jetzt agieren. Hätte es diese anstrengende, aber
konsequente Politik nicht gegeben, würden wir derzeit
wesentlich schlechter dastehen.
({3})
Dass wir momentan auf diese so tiefgreifende Krise reagieren können, hat etwas mit dieser Linie zu tun.
Diese Krise hat dazu geführt, dass wir sehr schnell
handeln mussten. Nun sagt der Volksmund: Wer schnell
handelt, handelt doppelt gut. - Deshalb war es gut und
richtig, dass wir das Finanzmarktstabilisierungsgesetz
sehr schnell verabschiedet haben.
({4})
Wir alle im Haushaltsausschuss haben wahrscheinlich
noch nie ein Gesetz so schnell durchgezogen wie dieses.
Aber das war notwendig, um die Finanzmärkte zu stabilisieren und um auf den Kapitalmärkten wieder Vertrauen entstehen zu lassen.
Wir haben dann die Konjunkturpakete I und II verabschiedet, die ebenfalls zur Stabilisierung der Wirtschaft
und zur Entlastung der Bürger beitragen, die aber vor allem auch dem Erhalt von Arbeitsplätzen dienen. Es ist
nach wie vor unser großes Ziel, in dieser Situation Arbeitsplätze zu erhalten.
({5})
Im Unterschied zur SPD, Herr Kollege Poß, fragen
wir danach, ob es nicht zunächst andere Möglichkeiten
gibt, beispielsweise die Möglichkeit, Banken, Eigentümer, Gläubiger und private Investoren in die Pflicht zu
nehmen.
({6})
Erst wenn das nicht hilft, kann man über staatliche
Hilfen nachdenken. Aber auch dann müssen die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sein, um staatliche
Gelder in einem Bereich einzusetzen, in dem eigentlich
die Wirtschaft gefragt ist.
Nach dieser Devise handeln wir und unser Kollege zu
Guttenberg; das ist der richtige Weg. Ich bin froh, dass er
als Wirtschaftsminister im Kabinett sitzt, wo er eine
deutliche ordnungspolitische Orientierung in dieser
schwierigen Zeit gibt.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Karl Diller hat es vorhin beschrieben: Im September 2008 war die Welt für Minister
Steinbrück noch in Ordnung. Eine Krise gab es irgendwo
im bösen Amerika. Die Linke wurde für ihre guten Vorschläge als populistisch beschimpft.
Und nun? Herr Diller, auch wenn es heute Ihre letzte
Rede ist und auch ich Ihnen für die Zukunft selbstverständlich alles Gute wünsche, so wären ein paar Überlegungen zu dem Beitrag, den die Bundesrepublik
Deutschland und die Europäische Union zu dieser Krise
geleistet haben, angemessen gewesen.
({0})
Es wäre heute an der Zeit gewesen, in ein paar Worten die
Zulassung von zerstörerischen Finanzmarktprodukten,
die Zulassung von Hedgefonds und die mangelnde Bankenaufsicht selbstkritisch anzusprechen. Mit der Auffassung, dass alles aus dem bösen Amerika kommt, macht
man es sich zu einfach.
({1})
- Gleich komme ich zu Ihnen, Herr Koppelin.
CDU und FDP liefern sich trotz dieser beispiellosen
Finanzkrise einen verantwortungslosen Wettbewerb um
die größten Steuergeschenke an Banken, Unternehmen
und Besserverdienende. Die FDP fordert eine Steuerentlastung von über 30 Milliarden Euro und die CDU von
etwa 15 Milliarden Euro. Damit haben sich diese beiden
Parteien endgültig von einer seriösen Haushaltspolitik
verabschiedet.
({2})
Das Schlimme ist, dass Sie, Herr Kollege Kampeter, es
als haushaltspolitischer Sprecher der CDU/CSU besser
wissen. Sie wissen nämlich, dass es so nicht geht.
Ihre Finanzpolitik wird auch nicht dadurch seriöser,
dass Sie jetzt den fatalen Beschluss für eine Schuldenbremse gefasst haben. Man würde bei jeder Fahrschulprüfung durchfallen, wenn man die Bremse ziehen und
gleichzeitig Gas geben würde. Aber der Finanzminister
muss Gas geben, ob er will oder nicht. In diesem Jahr
muss er insgesamt rund 50 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen. Hinzu kommen die Schattenhaushalte
wie Bankenrettungsfonds und kommunales Investitionsprogramm. Insgesamt sind es ungefähr 80 Milliarden
Euro neue Schulden. Im nächsten Jahr, im Jahr 2010,
werden es 90 Milliarden Euro Schulden sein, die dann
die neue Regierung aufnehmen muss.
In Anbetracht dieser unglaublichen Schuldenberge
hätte ich gern von CDU/CSU und FDP gewusst, wie sie
eigentlich die weiteren Steuersenkungen finanzieren
wollen.
({3})
Weder Frau Merkel noch Herr Westerwelle haben auf
diese entscheidende Frage öffentlich eine Antwort gegeben. Aber darauf haben die Bürger einen Anspruch.
({4})
Ich kann nur an das Jahr 2005 erinnern. Ich befürchte
- das sollten sich alle Bürger vor Augen führen -, dass
hier wieder mit gezinkten Karten gespielt wird. Im Jahr
2005 hat die SPD im Wahlkampf gegen die sogenannte
Merkelsteuer gewettert. Die CDU forderte nämlich
2 Prozent mehr Mehrwertsteuer. Die SPD wollte aber
gar keine Mehrwertsteuererhöhung. Herausgekommen,
Sie erinnern sich, sind 3 Prozent Mehrwertsteuererhöhung. Das war ein klarer Wahlbetrug.
({5})
Herr Zimmermann vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung forderte bereits einen Mehrwertsteuersatz von 25 Prozent. Ich sage Ihnen voraus: Wenn es
dazu kommen sollte, was wir alle nicht hoffen, dass
CDU/CSU und FDP in diesem Haus die Mehrheit bilden, dann wird es weitere Steuersenkungen für Unternehmen und Besserverdienende geben und die Mehrwertsteuer wird auf unsoziale 25 Prozent erhöht. Darauf
muss sich jeder einstellen, der meint, bei der Bundestagswahl seine Stimme Schwarz oder Gelb zu geben.
Das wäre die falsche Wahl.
({6})
Auch die Linke fordert Steuersenkungen,
({7})
aber für kleine und mittlere Einkommen. Wir sagen aber
auch, an welcher Stelle wir die Steuern anheben wollen.
Diejenigen, die sich in den letzten 20 Jahren eine goldene Nase verdient haben, müssen mit höheren Steuern
rechnen. Das ist nicht nur eine Forderung der Linken,
sondern auch eine Forderung des Bundesverfassungsgerichts. Das hat nämlich den Gesetzgeber verpflichtet, die
Vermögensteuer spätestens bis zum 31. Dezember 1996
neu zu regeln. Jetzt haben wir das Jahr 2009. Dieser Termin ist also fast 13 Jahre verstrichen. Das ist nicht hinnehmbar.
({8})
Wir Linke fordern eine gerechte Vermögensbesteuerung in unserem Land. Hätten wir eine Vermögensteuer
wie in Großbritannien, dann hätten wir im Jahr
90 Milliarden Euro mehr im Staatssäckel.
({9})
Hätten wir eine Börsenumsatzsteuer wie in Großbritannien, hätten wir zusätzlich 70 Milliarden Euro mehr im
Staatssäckel.
({10})
Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten, dass Großbritannien, unser Verbündeter, herumspinnt und eine Macke hat. So kann man nicht argumentieren, und so kann
man mit Verbündeten nicht umgehen.
({11})
Ich kann nur eines sagen: Wer bei der Wahl SchwarzGelb eine Mehrheit verschafft, wird einige Tage später
dafür zahlen müssen. Wir als Linke werden diesen Nachtragshaushalt ablehnen,
({12})
weil wir deutlich machen möchten, wer die gigantischen
Schulden zu bezahlen hat. Wir wollen verantwortungslose Bankmanager und Politiker, die uns diese Krise eingebrockt haben, zur Kasse bitten und nicht die Bürgerinnen und Bürger. Das ist der falsche Weg. Wir stehen für
eine soziale Politik.
Vielen Dank.
({13})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Alexander Bonde das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Uhrzeit, zu der dieser Tagesordnungspunkt diskutiert wird, legt es zwar nicht nahe, dennoch erleben wir
einen historischen Moment, an den sich zukünftige Generationen noch lange erinnern werden.
Die Bundesregierung offenbart uns mit diesem Nachtragshaushalt, dass 2009 eine Neuverschuldung in Höhe
von 47,6 Milliarden Euro entstehen wird. Das ist eine
historische Rekordzahl, wie sie diese Republik noch nie
erlebt hat. Selbst den Schuldenrekord von Herrn Waigel
- ich weiß nicht, Herr Kollege Diller, ob die Formulierung „der Herr aller Löcher“ aus Ihrer Zeit als haushaltspolitischer Sprecher der SPD stammt; ich vermute, sie
ist Ihnen zuzuschreiben - haben Sie gemeinsam mit dem
Finanzminister übertroffen.
Das Einzige, was ähnlich leer ist wie die Kasse des
Bundes, ist der Stuhl des Finanzministers. Es ist an Brüskierung des Parlamentes nicht zu überbieten, dass der
Finanzminister nicht den Schneid hat, vor das Parlament
zu treten und sich zu verantworten.
({0})
Sie bringen zum zweiten Mal einen Nachtragshaushalt ein und haben 10 Milliarden Euro neue Schulden im
Gepäck. Das, was Sie eben beschrieben haben, stimmt
nicht. Wir haben keine wahre und transparente Entwicklung bei der Offenlegung des Haushaltes erlebt. Schon
im Kabinettsentwurf für 2009 - also im Juli letzten Jahres - wussten alle, dass Sie Schönrechnerei betreiben.
Wir haben Sie davor gewarnt. Es war schon damals
klar, dass Sie mit den von Ihnen vorgesehenen milliardenschweren Einsparungen - beispielsweise bei den
Hartz-IV-Ausgaben - Luftbuchungen betreiben. Auch
im Zusammenhang mit der Entwicklung der Konjunktur
war bereits im Herbst im Haushaltsausschuss klar, dass
die Träumerzahlen, mit denen Sie gebucht haben, nicht
stimmen können.
Wirtschaftsminister Glos, den man für vieles schelten
kann, hat bereits damals, als Sie uns im Plenum und
auch im Haushaltsausschuss etwas von der Weiterführung von Wachstum erzählt haben, im Haushaltsausschuss mit erstaunlicher Ehrlichkeit von einem Minuswachstum gesprochen. Das ist die Wahrheit zum
heutigen Nachtragshaushalt. Jeder wusste, dass es so
kommt. Nur Sie wollten es nicht wahrhaben.
({1})
Die Rekordverschuldung von 47,6 Milliarden Euro ist
nur die offizielle Zahl. Die gleiche Summe verstecken
Sie in Schattenhaushalten. Für den Finanzmarktstabilisierungsfonds, also für die Bankenrettung, ist in diesem
Nachtragshaushalt kein Cent vorgesehen. Jeder weiß,
dass Sie für dieses Jahr zweistellige Milliardenbeträge
an Neuverschuldung eingeplant haben.
Auch der Investitions- und Tilgungsfonds, die Konjunkturpakete, steht außerhalb des Haushalts. Eigentlich
müssten Sie alles zusammenrechnen, sich hier hinstellen
und zugeben: Die Abschlussbilanz der Großen Koalition
ist ein Minus von 93 Milliarden Euro. Da kann man nur
sagen: Für die Finanzen dieses Landes gab es noch
nichts Schlimmeres als diese Koalition.
({2})
In der Wirtschaft nennt man so etwas Insolvenzverschleppung. Spätestens dann ist der Rücktritt der Vorstandsvorsitzenden und des Finanzvorstandes angebracht. Hier sind die beiden heute wieder abwesend.
Wenn man weiterschaut, dann erkennt man, wo sich
überall noch Verschuldung und Vermögensaufzehr verstecken. Schauen wir uns die Bundesagentur für Arbeit
an: 17 Milliarden Euro Reserve wurden innerhalb dieses
Jahres aufgebraucht. Man muss davon ausgehen, dass alleine dort im nächsten Jahr ein Minus von 20 Milliarden
Euro entstehen wird. Das liegt auch daran, dass Sie eine
Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung vorgenommen haben, um Ihr Versagen beim Gesundheitsfonds zu kaschieren: Die Leute sollten nicht merken,
was für einen teuren Murks Sie produziert haben.
In der nächsten Woche werden Sie für das nächste
Jahr ein Rekordminus von 90 Milliarden Euro ankündigen. Nach den Erfahrungen mit den bisherigen Abläufen
muss man leider damit rechnen, dass man auch diese
Zahl verdoppeln muss, um auf einen ehrlichen Wert zu
kommen. Um es in der Terminologie der Ratingagenturen zu sagen: Wenn man diese Bundesregierung als
Benchmark nimmt, muss man bei Baron Münchhausen
wahrscheinlich von Triple A reden.
({3})
Die Kanzlerin steht dem Finanzminister in nichts
nach. Wenn man sich diese Zahlen anschaut, muss man
sich wirklich fragen, wie man da noch etwas von Steuersenkungen erzählen kann. Wenn man sonst nichts zu bieten hat, muss man wahrscheinlich Steuersenkungen ins
Programm schreiben. Ich glaube aber, das wird der Dramatik der Situation nicht gerecht: 93 Milliarden Euro
neue Schulden im Bund. Laut Finanzplanung für den
Zeitraum bis 2013 werden die Schulden auf rund
2 Billionen Euro, also 2 000 Milliarden Euro steigen;
das sind 80 Prozent des Bruttoinlandsproduktes eines
Jahres. All das sind Rekordzahlen, die diese Große Koalition als Abschlussbilanz vorlegt.
Dieser Nachtragshaushalt ist ein Insolvenzantrag dieser Bundesregierung.
({4})
Es wird Zeit, dass endlich wieder eine solide Haushaltspolitik einkehrt. Mit Verlaub, diese Koalition hat auch in
diesem Feld wirklich brachial versagt.
({5})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Steffen
Kampeter das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Karl Diller, zum Schluss dieser Debatte
kann ich persönlich, auch stellvertretend für fast alle
Fraktionen, Respekt vor deiner politischen Lebensleistung zollen, die du vor allem im Deutschen Bundestag
erbracht hast.
({0})
Ehrlicherweise will ich sagen: Ich könnte nicht behaupten, dass ich mich jeden Tag gefreut hätte, dich zu sehen.
({1})
Die Erfahrungen waren oft so intensiv, dass man mir das
nachsehen muss. Ich möchte in aller Form sagen: Du
warst ein herausragender Parlamentarier und ein toller
Haushälter. Dass wir mit dir als Staatssekretär nicht in
allen Fragen einer Meinung sein konnten, liegt in der
Natur der Dinge; das gehört zur Arbeitsteilung zwischen
Regierung und Parlament. Ich wünsche dir, stellvertretend für viele, alles Gute für die Zukunft.
({2})
Alle Fraktionen sind gut vertreten, aber deine eigene
Fraktion hat offensichtlich nicht wahrgenommen, dass
die Debatte von gestern Abend auf heute Vormittag verschoben worden ist. Wahrscheinlich sind sie schon bei
einer Klausurtagung der Arbeitsgruppe Haushalt.
({3})
Der zweite Nachtragshaushalt schraubt die Neuverschuldung auf knapp 50 Milliarden Euro hoch. Das ist
eine zu hohe Zahl. Allerdings versuchen die Vertreterinnen und Vertreter der Opposition, den Eindruck zu erwecken, dies sei das Ergebnis einer verfehlten Finanzpolitik.
({4})
Mir scheint, Ihnen in der Opposition ist entgangen, dass
wir uns im Augenblick in einer globalen Finanzkrise befinden, die alle Haushalte in dieser Welt unter erheblichen Stress stellt.
({5})
In den vergangenen Jahren konnten wir in der Großen
Koalition den Haushalt so gestalten, dass 2008 alle öffentlichen Haushalte zusammen unter dem Strich ausgeglichen waren.
({6})
Das haben andere Staaten nicht erreicht. Deswegen will
ich an dieser Stelle erstens darauf hinweisen, dass beispielsweise die Anregung der Kollegin Lötzsch, man
solle es wie die Engländer machen, ein wenig in die Irre
führt. Frau Kollegin Lötzsch, die Engländer haben nicht
eine so konsequente Haushaltskonsolidierungsstrategie
gefahren wie die Große Koalition.
({7})
Jetzt beträgt die Neuverschuldung in England mehr als
12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Hätten wir in den vergangenen Jahren die Zügel so locker gelassen, stünden wir jetzt nicht am Abgrund, sondern wären schon hineingefallen. Wir wollen aber nicht
hineinfallen. Wir wollen sofort nach dieser Krise eine
konsequente Politik der umfassenden fiskalischen Konsolidierung aufnehmen. Trotz krisenhafter Veränderungen in dieser Situation ist das unser Ziel.
({8})
Zweitens möchte ich auf Folgendes hinweisen: Von
den Rezepten der Opposition bin ich ein bisschen enttäuscht. Wir müssen jetzt eine nationale Kraftanstrengung in Angriff nehmen und eine „Agenda Wachstum“
entwickeln. In diesem Zusammenhang ist es notwendig,
in allen Politikbereichen auch über die Krise hinaus nach
vorne zu schauen.
Was aber bietet uns die Opposition an? Auf der einen
Seite einen Teil intellektuell verbrämte Besserwisserei
und auf der anderen Seite Steuererhöhungen!
({9})
In dieser Situation dürften Steuererhöhungen die ohnehin schon mageren Wachstumsperspektiven nicht positiver erscheinen lassen. Sie sind das falsche Rezept in der
Krise.
Lassen Sie mich Ihren Verweis auf die Steuerpolitik
im Vereinigten Königreich noch einmal aufgreifen. Wegen der verfehlten Steuerpolitik im Vereinigten Königreich in den vergangenen Jahren sind die Wachstumsraten wahrscheinlich auch nicht mehr so hoch gewesen.
Wir in Deutschland waren die Wachstumslokomotive.
({10})
Mit unserer Steuer- und Wachstumspolitik waren wir erfolgreicher als die von der zweimal umbenannten SEDOrganisation hier vorgeschlagene Vorgehensweise. In
der Krise darf man nicht noch das falsche Rezept bringen.
Gestatten Sie mir einen dritten Hinweis. In diesen Tagen liegen uns erste Zahlen für den Haushalt des Jahres
2010 vor. Die Zahlen werden im nächsten Jahr nicht gut
sein. Die Berichte, die wir heute in den Zeitungen lesen,
machen deutlich, wie groß die finanzielle Herausforderung in den nächsten Jahren sein wird.
Ich stimme vollumfänglich mit Karl-Theodor zu
Guttenberg überein, der darauf hingewiesen hat, dass wir
jetzt nicht in eine Spirale der Versprechungen abgleiten
dürfen. Wir alle müssen unsere Wahlprogramme und Zusagen für die nächste Legislaturperiode auch mit dem
abgleichen, was am kommenden Mittwoch im Kabinett
beschlossen werden wird.
Meine Schlussfolgerung lautet allerdings: Wir dürfen
den Kopf nicht in den Sand stecken. Unser Land ist
stark. In den vergangenen Jahren sind wir ziemlich erfolgreich gewesen. Unsere Aufgabe wird es sein, diese
Stärken jetzt zur Krisenbewältigung einzusetzen. Pessimismus ist nicht angesagt. Die Menschen in diesem
Land erwarten von uns politische Führung und nicht nur
Miesmacherei.
Die Aufgabe, die es zu schultern gilt, wird bei diesem
Nachtragshaushalt aber nur in Teilen deutlich. Die Finanzpolitik der nächsten Jahre wird die eigentliche Herausforderung sein. Von ihrer Gestaltung wird abhängen,
ob Politik wieder Handlungsfähigkeit gewinnen kann.
({11})
Wir wollen diese Handlungsfähigkeit gewinnen. Wir
werden einen konsequenten Kurs vertreten. In diesem
Sinne werden wir den Nachtragshaushalt im Haushaltsausschuss des Bundestages rasch und zügig beraten. Die
eigentliche finanzpolitische Aufgabe liegt aber - das will
ich in aller Klarheit sagen - in den nächsten vier Jahren
vor uns.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 16/13000 und 16/13386 an
den Haushaltsausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 57 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze
- Drucksache 16/12596 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
- Drucksache 16/13424 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Grotthaus
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/13442 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel
Waltraud Lehn
Dr. Claudia Winterstein
Alexander Bonde
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Andrea Nahles für die SPD-Fraktion.
({2})
- Diese Änderung ist mir leider nicht mehr zugegangen. - Das Wort hat Herr Bundesminister Olaf Scholz.
({3})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich komme gerade von einer Sitzung mit den am
Ausbildungspakt Beteiligten, die sich mit der Situation
der jungen Leute in Deutschland beschäftigt hat. Das ist,
wie ich finde, eines der wichtigsten Themen für die Zukunft unseres Landes. Bei allem, worüber wir diskutieren, bei allem, was wir sagen, etwa dass wir mehr Akademiker in Deutschland brauchen, muss klar sein: Auch
in Zukunft ist die Lehre, ist die Berufsausbildung die
wichtigste Ausbildung in Deutschland.
({0})
Wir müssen erreichen, dass jeder junge Mensch mit Anfang 20 entweder das Abitur oder eine Lehre abgeschlossen hat. Darauf sollte sich unser ganzer Ehrgeiz richten.
Deshalb darf die Zahl der Ausbildungsverträge in
Deutschland nicht weiter zurückgehen.
({1})
Nachdem die Zahl der Ausbildungsverträge im letzten Jahr ein bisschen zurückgegangen ist, habe ich mich
dafür eingesetzt - Sie wissen das -, dass es in diesem
Jahr jedenfalls nicht weniger als 600 000 Ausbildungsverträge gibt. Nur wenn wir das erreichen, besteht die
Chance, dass auch diejenigen, die schon lange nach einem Ausbildungsplatz suchen und bisher verzweifelt
feststellen mussten, dass sie keinen finden, eine Berufsausbildung erhalten. Dieses Ziel von 600 000 Ausbildungsplätzen ist im Pakt nicht konsentiert gewesen, allerdings will man sich bemühen. Ich bin froh, dass trotz
des Dissenses, auf dem ich auch bestehen muss, weil ich
mich für die jungen Leute und dafür einsetzen will, dass
es genügend Ausbildungsverträge gibt, die Bereitschaft
entwickelt worden ist, jetzt doch noch einmal darüber zu
diskutieren, ob der Pakt nicht neue Ziele bekommen
muss: neue Ziele, die auch diejenigen, die lange außen
vor gestanden haben, einbeziehen, neue Ziele, die sicherstellen, dass wir die Zeit der zurückgehenden Schülerzahlen nutzen, aber nicht um die Zahl der Ausbildungsverträge zu reduzieren, sondern dazu, um auch
denjenigen eine Chance zu geben, die bisher außen vor
geblieben sind.
({2})
Wir leisten mit dem Gesetzentwurf, der heute zur Beratung steht, einen Beitrag dazu. Das war schon beim
Ausbildungsbonus der Fall, den wir im letzten Jahr beschlossen haben und der bereits über 14 000 jungen Leuten einen Ausbildungsvertrag verschafft hat, den sie
sonst nicht bekommen hätten. Wir leisten hier und heute
noch einen Beitrag, indem wir eine Sonderregelung für
diejenigen schaffen, die ihren Ausbildungsplatz wegen
der Insolvenz des ausbildenden Unternehmens verlieren.
Sie dürfen nicht alleingelassen werden. Wir helfen ihnen
jetzt mit dem Bonus als Rechtsanspruch.
({3})
Dieser Gesetzentwurf enthält viele Materien, über die
diskutiert werden muss, große und kleine Sachen. Vieles
hat mit der Zukunft derjenigen zu tun, die sich bemühen,
die sich anstrengen, die arbeiten; aber es geht eben auch
darum, wie das, was man in einem langen Arbeitsleben
durch Beiträge an Ansprüchen gegen die Rentenversicherung erworben hat, garantiert werden kann. Wir alle
wissen: Die Rentenversicherung hat in den letzten Jahren viele Reformen erlebt, Reformen, die richtigerweise
dazu beigetragen haben, dass Einnahmen und Ausgaben
der Rentenversicherung wieder ausbalanciert sind, dass
die finanzielle Stabilität dieser Versicherung für die Zukunft gewährleistet ist. Als eines der wenigen Länder in
Europa begegnen wir der demografischen Herausforderung. Wir haben auch im nächsten und übernächsten
Jahrzehnt eine vernünftig finanzierte Rentenversicherung,
({4})
obwohl es immer weniger jüngere Leute und immer
mehr ältere Leute gibt.
Es besteht natürlich Unsicherheit. Das kann nach den
vielen Reformen der letzten Jahre auch gar nicht anders
sein. Deshalb erhält jeder Gehör, der eine neue Rechnung aufmacht und sagt, danach komme etwas ganz anderes heraus.
({5})
Jeden Tag gibt es eine neue Schlagzeile darüber. Es darf
aber nicht sein, dass jeder die Rentnerinnen und Rentner,
die auf ein langes Arbeitsleben zurückblicken können,
mit immer wieder neuen Zahlen verwirren kann. Deshalb garantieren wir mit dieser Gesetzesänderung, dass
die Rente weiterhin, wie es in der Rentenformel steht,
die wir nicht ändern, der Wirtschaftsentwicklung und der
Lohnentwicklung folgt. Aber wir stellen sicher, dass es
nicht abwärts geht. Das haben die älteren Mitbürger unseres Landes verdient.
({6})
Der Einwand der einen ist: Eigentlich wäre das gar
nicht nötig, weil es eh nicht dazu kommt.
({7})
So sind auch unsere Zahlen. Der Einwand der anderen
ist: Das wird sehr viel kosten. - Manchmal sind es die
Gleichen, die sagen, es wäre nicht nötig, und es würde
sehr viel kosten. Man muss sich schon für eines der beiden falschen Argumente entscheiden, wenn man einigermaßen stringent bleiben will. Aber beide sind falsch.
Das will ich ausdrücklich dazusagen.
({8})
Wir verbessern die Möglichkeiten der Förderung der
Kurzarbeit mit diesem Gesetzentwurf noch einmal. Das
verdient schon noch einmal eine kurze Besinnung. Mit
der schnellen Entscheidung vom Dezember letzten Jahres, die Kurzarbeit nicht nur sechs Monate, sondern
18 Monate zu fördern, mit der weiteren Entscheidung,
sie jetzt 24 Monate zu fördern, und mit der Entscheidung
im Rahmen des Konjunkturpakets „Wir übernehmen für
die ausgefallene Arbeitszeit - nur für die! - die Hälfte
der Sozialversicherungsbeiträge, die die Arbeitgeber zu
tragen haben“ haben wir dazu beigetragen, dass Hunderttausende Arbeitsplätze in Deutschland gesichert geblieben sind. Das kann man allein daran sehen, dass im
März über 1 Million Menschen in Kurzarbeit gewesen
sind.
Wer sich ein bisschen umschaut, wer sich ein bisschen umhört, der stellt fest, dass unsere Regelung schon
sehr zielgerichtet und sehr zielgenau ist; denn sie hat
dazu beigetragen, dass europaweit agierende Konzerne
anderswo entlassen und in Deutschland auf Kurzarbeit
setzen, manchmal obwohl es dort ähnliche Förderinstrumente gibt, sie aber nicht weit genug gehen und nicht
solche geschaffen wurden, auf die auch zugegriffen
wird.
Deshalb können wir schon sagen: Bei diesem Förderinstrument, bei dem wir darauf achten, dass Arbeitsplätze erhalten bleiben und nicht wegen einer Konjunkturkrise in 2009 und 2010 verloren gehen, können wir
gerne einmal einen Zentimeter zu weit gehen. Aber wir
dürfen nicht einen Millimeter zu kurz springen; sonst gefährden wir Arbeitsplätze.
({9})
Das ist auch der Sinn der Regelung, die wir jetzt auf den
Weg gebracht haben. Sie sichert Jobs, und das ist gut.
Wenn wir jetzt sagen: „Ab dem siebten Monat übernehmen wir die Sozialversicherungsbeiträge voll“, dann
geht es übrigens um mittelständische Unternehmen. Jemand, der in einem Ort 80 Leute beschäftigt und in einem anderen 120, der kann jetzt ab dem siebten Monat
davon Gebrauch machen. Im Übrigen empfehle ich dem
einen oder anderen, sich einmal Gedanken darüber zu
machen, was ein Unternehmen, was ein Arbeitgeber,
was ein Konzern ist. Ein Konzern ist hier nicht gemeint.
Das ist nur für die Polemik gut, nicht für die Sachdebatte; denn hier geht es um einen Arbeitgeber, der zwei
solche Betriebsstätten hat, über die ich geredet habe, und
nichts anderes. Alles andere ist Polemik.
({10})
Meine Damen und Herren, noch kurz ein weiterer Aspekt. Ich bin sehr froh darüber, dass wir für eine engagierte Gruppe unserer Bevölkerung, für Leute, die es
schwer haben und die ein sehr unsicheres, wechselhaftes
Leben zu führen haben, ein Stück mehr soziale Sicherheit geschaffen haben, nämlich für die Künstlerinnen
und Künstler, die als Arbeitnehmer beschäftigt sind. Sie
haben immer damit zu kämpfen gehabt, dass sie über
Jahre Beiträge gezahlt haben, sie aber dann, wenn sie die
Leistung gebraucht haben, oft nicht in Anspruch nehmen
konnten, weil ihre Gesamtbeitragszeiten nicht ausgereicht haben. Wir ändern das jetzt. Ich glaube, das ist ein
Beitrag zur sozialen Sicherheit von Menschen, die ein
schweres Leben führen, die manchmal kompliziert um
jeden einzelnen Auftrag kämpfen müssen. Aber es ist
- das soll an dieser Stelle auch gesagt werden - ein Beitrag zur Freiheit; denn die Kunst gehört zur Freiheit
dazu. Sie zu sichern, ist immer eine verdienstvolle Aufgabe.
Schönen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Entwurf eines Dritten SGB-IV-Änderungsgesetzes
ist ein Omnibus, der ursprünglich im Wesentlichen mit
Regelungen zur Änderung der Generalunternehmerhaftung besetzt war. Jetzt ist der Bus voll besetzt mit mehr
oder weniger prominenten Fahrgästen.
({0})
Ich will mich auf drei davon konzentrieren und mit
dem anfangen, womit Sie, Herr Minister, geendet haben,
nämlich mit der Veränderung der Rahmenfrist für Kulturschaffende. Die Anwartschaftszeit soll jetzt von zwölf
auf sechs Monate verkürzt werden, wenn mehr als die
Hälfte der Beschäftigungstage im Rahmen kurzfristiger
Beschäftigungsverhältnisse von bis zu sechs Wochen absolviert wurde. Begünstigt sind nur diejenigen, deren
Jahresentgelt die Bezugsgröße in der Sozialversicherung
nicht überschreitet. Die Regelung ist auf drei Jahre befristet und soll anschließend evaluiert werden.
Ich will Ihnen für die FDP-Fraktion sagen, dass diese
Regelungen nach unserer Auffassung die besonderen
Bedingungen der Kulturschaffenden, insbesondere auch
der Film- und Fernsehschaffenden, gut berücksichtigen.
Der hiermit gefundene Kompromiss zwischen dem Beauftragten für Kultur und Medien, dem Bundeswirtschaftsministerium, dem Bundesfinanzministerium und
dem federführenden Bundesministerium für Arbeit und
Soziales stellt für die Kulturschaffenden auch aus Sicht
der FDP-Bundestagsfraktion eine gute Lösung dar.
({1})
Hätte die Gesetzesvorlage, Herr Minister, nur solche
Regelungen zum Gegenstand,
({2})
dann würden wir uns mit unserem Abstimmungsverhalten weniger schwertun. Aber leider enthält die Vorlage
zwei richtige Klopse, die schwer verdaubar sind. Das
sind zum einen die ewige Rentengarantie und zum anderen die massive Ausweitung der Erstattungsregelungen
für Sozialversicherungsbeiträge bei der Kurzarbeit.
Ich will mit dem zweiten Punkt beginnen. Auch die
FDP hält Kurzarbeit für eine gute Maßnahme, um bei
vorübergehenden Auftragsschwankungen Entlassungen
zu vermeiden. Die FDP ist auch bereit, eine vernünftige
und maßvolle Erstattungsregelung für die Sozialversicherungsbeiträge mitzutragen. Aber die Ausweitung der
Erstattungsregelung bei Kurzarbeit auf alle Arbeitnehmer eines Arbeitgebers - auch wenn nur ein Teil der Beschäftigten zuvor sechs Monate in Kurzarbeit war - geht
eindeutig zu weit, Herr Minister. Das ist für Großunternehmen - ich wiederhole meine Einschätzung, die ich
übrigens mit dem Kollegen Peter Rauen von der CDU
teile - die Lizenz zum Ausplündern der Sozialversicherung, um genauer zu sein: der Arbeitslosenversicherung.
({3})
Ich scheue mich auch nicht, Ross und Reiter zu benennen: Auf höchster Koalitionsebene ist zusammen mit
Herrn Hundt und wohl auch mit Herrn Sommer vom
DGB eine Regelung beschlossen worden, die nur zum
Ziel hat, irgendwie über den 27. September 2009, den
Tag der Bundestagswahl, hinauszukommen, koste es,
was es wolle. Die Fachebene der Koalition wurde offensichtlich gar nicht erst gefragt. Die Tatsache, dass diese
Regelung als Änderungsantrag zum Änderungsantrag
mit Aufruf des Tagesordnungspunktes im Ausschuss als
Sichtvorlage verteilt wurde, kann man nur als ein skandalöses Verfahren und als Missachtung des Parlaments
bezeichnen. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Koalitionsfraktionen, sollten sich sehr gut überlegen, ob Sie dieses abgekartete Spiel wirklich mitmachen
wollen.
({4})
Ich habe mit großer Hochachtung und sehr viel Respekt zur Kenntnis genommen, dass der Kollege Peter
Rauen, der Berichterstatter der CDU/CSU zu diesem
Gesetzentwurf, den Kopf nicht in den Sand gesteckt hat,
sondern den Mut hatte, zu stehen. Er hat seine Berichterstattung niedergelegt, gegen den Gesetzentwurf gestimmt und verzichtet heute darauf, seine Abschiedsrede
im Deutschen Bundestag zu halten. Herr Kollege Rauen,
diese Haltung ehrt Sie. Kollegen wie Sie werden selten
in der Union. Das muss ich hier leider feststellen. Vielleicht ist es das Problem der Union, dass gestandene
Mittelständler wie Sie, Herr Rauen, mit ihren Positionen
in der Union nicht mehr mehrheitsfähig sind und sich
nicht mehr durchsetzen können.
({5})
Im Namen der FDP und auch ganz persönlich will ich
Ihnen, Herr Rauen, Dank sagen für Ihr langjähriges Engagement, für Ihre geradlinige Art und für den großen
Sachverstand, den Sie an vielen Stellen und in vielen Beratungen hier, im Deutschen Bundestag, eingebracht haben. Sie werden fehlen.
({6})
Ich komme noch einmal zurück zur Erstattungsregelung. Dass insbesondere Herr Hundt für seine großen
Mitgliedsunternehmen das großzügige Geschenk der
Beitragserstattung gerne mitnimmt, kann nicht wirklich
verwundern. Ich bin selbst mittelständischer Unternehmer im Maschinenbaubereich und kenne meinen Pappenheimer. Wenn gesagt wird, diese Regelung helfe dem
Mittelstand, dann muss ich Ihnen sagen, dass wir ein anderes Verständnis von Mittelstand haben, Herr Minister.
Mittelstand, das sind für uns Unternehmen mit einem,
zwei, fünf oder zehn Beschäftigten. Mehr als 75 Prozent
der 4,4 Millionen Unternehmen in Deutschland haben
weniger als fünf Beschäftigte. 98 Prozent der Unternehmen haben weniger als 20 Beschäftigte, und gerade einmal 6 000 haben mehr als 500 Beschäftigte. Die kleinen
Unternehmen werden - das ist offenkundig - von dieser
ausgeweiteten Regelung nicht profitieren, weil jemand,
der zehn Beschäftigte hat, nicht jeweils fünf Mitarbeiter
an zwei Standorten hat. Profitieren werden die großen
Unternehmen, aber bezahlen werden das wieder einmal
die kleinen und mittleren Unternehmen mit bis zu 20 Beschäftigten mit ihren Beiträgen, wie sie es schon in der
Vergangenheit bei der beitragsfinanzierten Frühverrentung tun mussten. Wir heben für eine solche Regelung
nicht die Hand.
({7})
Das gilt auch für den zweiten Klops, den ich ansprechen will, für die ewige Rentengarantie. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, sind sich noch
völlig uneins, ob die Gefahr einer Rentenkürzung im
nächsten Jahr überhaupt droht. Nach den Zahlen der
Bundesregierung ist eine solche Kürzung nicht zu erwarten. Trotzdem wollen Sie heute ohne Not, allein aus
wahltaktischen Überlegungen, eine ewige Rentengarantie in das SGB VI aufnehmen und damit den Grundgedanken der dynamischen Rente, die Lohnbezogenheit,
aufgeben.
({8})
Zugegeben, die Rente ist in den letzten 52 Jahren niemals negativ angepasst worden. Das machen Sie, Herr
Scholz, viel raffinierter. Gerade in den letzten zehn Jahren Ihrer Regierungszeit, meine Damen und Herren von
der SPD, ist die Kaufkraft der Rentner massiv beschnitten worden: durch die Belegung der Betriebsrente mit
der vollen Kranken- und Pflegeversicherungspflicht,
durch den vollen Beitrag zur Pflegeversicherung, den die
Rentner seit 2004 zu tragen haben, durch eine Reihe von
nominalen Nullrunden bei deutlichen Preissteigerungen,
durch den Zuschlag zur Pflegeversicherung für kinderlose Rentner, durch den Sonderbeitrag für Arbeitnehmer
und Rentner zur GKV, der am Ende zu einer Mehrbelastung der Rentner von 0,45 Prozent führt, durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer zum 1. Januar 2007 um 3 Prozentpunkte usw.
Es ist doch fadenscheinig, wenn Sie vorgeben, die
Renten nominal sichern zu wollen, da Sie den Rentnern
andererseits fortgesetzt in die Tasche greifen. Herr
Scholz, wer soll Ihnen denn glauben, dass es Ihnen um
die Kaufkraft der Rentner geht? Ihr Staatssekretär hat im
Ausschuss gesagt, all diese Belastungen seien keine
Rentenkürzungen, sondern nur Einkommenskürzungen.
Man beachte den feinen Unterschied. Aber, Herr Scholz,
den Rentnern ist es vollkommen egal, wie das Kind
heißt. Am Ende ist entscheidend, was im Portemonnaie
ankommt. Und da haben sich zehn Jahre Regierungszeit
der SPD als ein wahres Fiasko für die Renterinnen und
Rentner in Deutschland erwiesen.
({9})
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Niemand will
Rentenkürzungen. Das gilt ausdrücklich auch für die
FDP. Wir wollen, dass die Menschen im Alter ein ausreichendes Einkommen haben. Wer das will, muss aber
eine entsprechende Politik machen und darf nicht ständig Steuern und Beitragssätze erhöhen. Eine Rentengarantie auf ein Blatt Papier zu schreiben, genügt nicht.
({10})
Im Übrigen, Herr Minister: Eine Garantie, die nichts
kostet, ist auch nichts wert. Eine solche Garantie muss
gelebt und in allen Bereichen der Politik beherzigt werden. Aber genau das tun Sie nicht.
Das eigentlich Problematische ist das Signal, das von
der Rentengarantie ausgeht. Ihr Vorgänger Walter Riester
hat noch versucht, die Lasten der demografischen Entwicklung zwischen Jungen und Alten, zwischen Beitragszahlern und Rentnern gleichmäßig zu verteilen. Das
geben Sie heute auf. Damit verabschiedet sich die SPD
auch in der Rentenpolitik von der Agenda 2010. Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit, das war gestern. Ihr Motto von heute lautet: Es lebe der Wahlkampf!
({11})
Die Folgen dieser Politik werden sich schon sehr bald
zeigen. Die finanziellen Folgen der Rentengarantie sollen durch künftige Dämpfungen wieder ausgeglichen
werden. Aber die Bugwelle unterlassener Dämpfungen
aus den letzten Jahren ist mittlerweile so hoch, dass dies
nur noch bei einer außergewöhnlich guten Lohnentwicklung - davon ist in den nächsten Jahren aufgrund der gegenwärtigen Krise aber wohl eher nicht auszugehen möglich wäre. Die Rentenfinanzen unter Kontrolle zu
halten, wird zunehmend schwieriger.
Angesichts dessen sollten Sie sich die Ergebnisse des
Gutachtens, das Professor Raffelhüschen für die Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“ verfasst hat, einmal
sehr genau ansehen. Sie, Herr Minister Scholz - das
richtet sich ausdrücklich auch an die Adresse der SPD -,
stehen auch in der Rentenpolitik vor einem Scherbenhaufen. Der Beitragssatz zur Rentenversicherung wird
wohl schon kurzfristig und dann absehbar prozyklisch
erhöht werden müssen. An die eigentlich vorgesehene
Senkung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung von
heute 19,9 Prozent auf 19,1 Prozent ist ohnehin nicht
mehr zu denken.
Ich hätte gerne noch mehr gesagt. Meine Redezeit ist
aber leider zu Ende.
({12})
Ich will zusammenfassend sagen: Der vorliegende Gesetzentwurf ist in weiten Teilen ein Beleg dafür, dass die
sozialpolitische Vernunft dem Wahlkampf geopfert wird.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, tragen wir nicht
mit.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Ralf
Brauksiepe das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Mittelpunkt des Gesetzentwurfes zur Änderung des
SGB IV stand ursprünglich die Neuregelung der Generalunternehmerhaftung in der Bauwirtschaft. Die Generalunternehmerhaftung ist und bleibt ein zur Bekämpfung von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung
richtiges und wichtiges Instrument. Deshalb sind wir
dankbar, dass die Sozialpartner in der Bauwirtschaft einen einvernehmlichen Vorschlag für eine gesetzliche
Neuregelung, die wir jetzt parlamentarisch umsetzen,
vorgelegt haben.
Ich bin Peter Rauen dankbar, dass er daran mitgewirkt
hat. Herr Kollege Kolb, Sie können ganz sicher sein,
dass Peter Rauen in der nächsten Sitzungswoche seine
Abschiedsrede zu Ihrem Antrag zur Alterssicherung der
Selbstständigen halten wird.
({0})
Hoffentlich haben Sie auch dann, wenn er Ihnen begründet, warum wir Ihrem Antrag nicht zustimmen - weil er
nämlich inhaltlich falsch und schlecht ist -, noch so viel
Respekt. Ich hoffe, dann greifen Sie Ihr Lob von heute
auf.
({1})
Von verschiedenen Seiten ist bereits angesprochen
worden, dass wir in diesem Gesetzentwurf in der Tat
viele Maßnahmen, die richtig und notwendig sind, vorgesehen haben. Ich erinnere nur an die Regelung zu den sogenannten Insolvenzlehrlingen. Es wird ein Ausbildungsbonus für Auszubildende, deren Betrieb in die
Insolvenz geht, gezahlt, wenn ein anderer Betrieb sie
übernimmt. Das ist ein wichtiges Anliegen, das Bildungsministerin Schavan seit langem verfolgt. Da sie uns
überzeugt hat, setzen wir diese Maßnahmen gerne um.
Ich will meine Erleichterung darüber zum Ausdruck
bringen, dass wir für Verbesserungen für Kulturschaffende sorgen, was ihre Ansprüche auf Arbeitslosengeld
angeht. Die Briefe des Bundesarbeitsministeriums, in
denen mitgeteilt wurde, man sehe bei diesem Thema
überhaupt keinen Handlungsbedarf, sind noch gar nicht
so alt. Hier hätten wir uns mehr Bewegung gewünscht.
Aber ich bin froh, dass zumindest die grundsätzlich ablehnende Haltung des Bundesarbeitsministeriums an dieser Stelle, wenn auch mit viel Mühe, aufgebrochen werden konnte.
({2})
Ich habe gehört, dass in einer anderen Debatte des
heutigen Tages die Rede davon war, diese Neuregelung
sei auch Herrn Steinmeier zu verdanken. Dazu möchte
ich nur sagen: Er hat in den entsprechenden Debatten zumindest nicht nachhaltig gestört. Er hatte damit nämlich
gar nichts zu tun und war abwesend. Vielleicht hat auch
das ein bisschen geholfen. Daher möchte ich ihm keinen
Tadel aussprechen. Ich will aber deutlich machen: Derjenige, der der Motor dieses Vorhabens war und es viele
Jahre lang in der Bundesregierung und innerhalb der
CDU/CSU-Fraktion befördert hat, ist unser Kulturstaatsminister Bernd Neumann. Dir, lieber Bernd Neumann,
möchte ich ganz herzlich für deinen Einsatz danken. Die
Künstler wissen ohnehin, dass du der Vater dieser Regelungen bist, und sind dafür dankbar.
({3})
Auch wir sind dankbar dafür, dass diese Regelung durch
deine Anstrengungen möglich geworden ist.
({4})
Wir haben uns in der Tat darauf verständigt - der Minister hat zu Recht darauf hingewiesen -, durch die Rentenschutzklausel der zum Teil gezielt geschürten Verunsicherung der Rentner ein Ende zu setzen. Wir tun dies
nicht deswegen, weil wir wirklich glaubten, dass es nach
der Rentenformel zu Rentenkürzungen kommen müsste.
Die Wahrheit ist doch: All diejenigen, die uns jetzt vorwerfen: „Wieso macht ihr ein Gesetz, von dem ihr selbst
sagt, das sei nicht nötig?“, würden uns sonst vor sich
hertreiben mit dem Argument: Sind Sie etwa für Rentenkürzungen? Wenn nicht, warum unternehmen Sie dann
als Gesetzgeber nichts dagegen?
({5})
Wir führen diese Schutzklausel ein, um den Rentnern in
dieser Situation zu sagen: Es gibt keinen Grund für Konsumzurückhaltung. Einkommenskürzungen wird es nicht
geben; dafür sorgen wir als Große Koalition. - Wegen all
denen, die durchs Land laufen und den Menschen Angst
machen, ist die Einführung dieser Schutzklausel richtig.
({6})
Es ist schon erstaunlich, dass die Linkspartei heute einen Entschließungsantrag vorlegt, in dem sie fordert,
dass, sollten die Löhne einmal sinken, auch die Renten
sinken müssen. Wir glauben nicht, dass es zu Lohnsenkungen kommen wird. Wir tun alles, um das zu verhindern. Das ist der Unterschied zwischen uns: Sie sind für
Rentenkürzungen,
({7})
wir sind dafür, Rentenkürzungen auszuschließen. Das
machen wir mit diesem Gesetz.
({8})
Wir werden heute auch die Regelungen für das Kurzarbeitergeld noch einmal deutlich verbessern,
({9})
weil wir wissen, dass wir in dieser schwierigen wirtschaftlichen Situation Gelder, die vorhanden sind
({10})
und die wir der erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik der
letzten Jahre verdanken, in die Hand nehmen müssen, um
all die Arbeitgeber und ihre Beschäftigten, die sich vorgenommen haben, diese wirtschaftliche Krise gemeinsam durchzustehen, zu unterstützen. Deswegen machen
wir zusätzliche Angebote wie das Angebot, dass wir die
Sozialversicherungsbeiträge vollständig übernehmen.
Wir wissen, dass die Kurzarbeit ein Instrument ist,
das wir in dieser Phase brauchen. Wir haben heute rund
1 Million Kurzarbeiter mehr als vor einem Jahr. Es wäre
wünschenswert, wenn alle möglichst schnell wieder voll
beschäftigt würden. Aber es ist gut, dass in diesen
1 Million Fällen Arbeitslosigkeit vermieden worden ist.
Deswegen muss man sagen: Die Kurzarbeit ist ein erfolgreiches Instrument. Wir bauen dieses Instrument aus,
damit Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam durch
diese wirtschaftliche Krise gehen können. Das ist richtig
und auch im internationalen Vergleich vorbildlich.
({11})
Die Entscheidung, hier weitere Erleichterungen einzuführen, ändert nichts daran, dass Weiterbildung aller
Beschäftigten notwendig ist. Insbesondere in Phasen der
Kurzarbeit ist Weiterbildung sinnvoll. Deswegen bleibt
es dabei, dass, wenn keine Weiterbildung stattfindet, die
Sozialversicherungsbeiträge erst nach einer Karenzzeit
von sechs Monaten vollständig übernommen werden.
({12})
Wer als Arbeitgeber von den Sozialabgaben befreit werden will, muss Weiterbildung organisieren. Weiterbildung liegt im Interesse der Beschäftigten wie der Arbeitgeber; auch dieses klare Signal geht von diesen
gesetzgeberischen Maßnahmen aus.
Ich bin fest davon überzeugt, dass es uns mit diesen
weiter gehenden Maßnahmen gelingen wird, einen Beitrag dazu zu leisten, dass die wirtschaftliche Krise nicht
zu stark auf den Arbeitsmarkt durchschlägt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist das letzte
gesetzgeberische Vorhaben der Großen Koalition im Bereich Arbeit und Soziales.
({13})
Ich denke, man darf an dieser Stelle einmal darauf hinweisen, dass in der Zeit der Großen Koalition auf dem
Arbeitsmarkt trotz der Krise, in der wir uns jetzt befinden, beachtliche Erfolge erzielt worden sind. Heute sind
zwar mehr Menschen arbeitslos als vor einem Jahr, aber
immer noch 350 000 weniger als im wirtschaftlichen
Boomjahr 2007.
({14})
Die Zahl der Langzeitarbeitslosen geht nach wie vor zurück. Wir haben heute weniger Langzeitarbeitslose als
noch vor einem Jahr, vor der Krise.
({15})
Wir haben heute mehr Erwerbstätige als vor einem Jahr.
Wir haben heute mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte als vor einem Jahr. Wir haben heute mehr als
1 Million Arbeitslose weniger und eine Dreiviertelmillion sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse mehr als an dem Tag, an dem Angela Merkel
Bundeskanzlerin geworden ist.
({16})
Auch das muss man bei diesem Gesetzgebungsvorhaben
noch einmal sagen dürfen. Wir knüpfen an eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik an, die sich nicht nur in Zahlen, sondern in einer konkreten Verbesserung der Lebenssituation vieler ehemals arbeitsloser Menschen und
ihrer Familien niederschlägt. Darauf können wir am
Ende der Großen Koalition gemeinsam stolz sein.
Herzlichen Dank.
({17})
Das Wort hat der Kollege Volker Schneider für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben es
gehört: Wir beraten heute ein Omnibusgesetz. Auf der
Fahrt befindet sich das SGB. Die Fahrgäste, die sich
zwischenzeitlich in diesem Omnibus eingefunden haben,
haben zum Teil sehr wenig miteinander zu tun.
Es ist wie in jedem echten Omnibus im wahren Leben: Es gibt Fahrgäste, die uns vielleicht sympathisch
sind, andere Fahrgäste schauen wir mit einem etwas anderen Auge an.
({0})
Manchmal kommt es auch vor - vielleicht ist Ihnen das
ja auch schon so ergangen -, dass ein Fahrgast zusteigt
und einem fast die Lust vergeht, weiterzufahren. So ist
es auch den Kolleginnen und Kollegen ergangen, als am
Mittwoch noch ein Änderungsantrag im Ausschuss präsentiert worden ist, mit dem den Grünen und der FDP
die Lust am gemeinsamen Mitfahren gänzlich vergällt
wurde.
Um das schon jetzt anzukündigen: Wir werden uns
bei diesem Antrag enthalten. Ich will aber noch einmal
davor warnen, dies bereits als einen Erfolg der Politik
der Großen Koalition zu werten, wie die Sozialdemokraten das im Ausschuss ja getan haben; denn dass die
Linke nicht gegen einen Gesetzentwurf stimmen wird, in
dem wichtige Forderungen aus früheren Anträgen der eigenen Fraktion aufgegriffen werden, sollten Sie nicht als
Ihren Erfolg werten. Nein, es ist zunächst einmal und vor
allen Dingen ein Erfolg meiner Fraktion, dass Sie unsere
Anträge zwar reflexartig ablehnen, aber an unseren Forderungen letztlich nicht vorbeikommen und sie schließlich als eigene Anträge einbringen.
({1})
Die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes, die von uns
im Rahmen unseres Konjunkturprogramms gefordert
und von Ihnen abgelehnt wurde, ist heute Inhalt Ihres
Gesetzesantrages. Gestern haben Sie unsere Forderung,
dass eine Garantie dafür abgegeben wird, dass Leistungen der Sozialversicherung nicht gekürzt werden, noch
in Bausch und Bogen abgelehnt. Heute beschließen Sie
genau dieses für einen Zweig der Sozialversicherung,
nämlich für die Rentenversicherung. Ihre gestern so heftig erhobenen Populismusvorwürfe fallen heute auf Sie
selbst zurück.
({2})
Die Verbesserung für die Film- und Fernsehschaffenden haben wir bereits 2007 in einem ganz ähnlichen Antrag gefordert. Heute legen Sie einen ähnlichen vor, wobei ich allerdings sagen muss: Die Änderungen, die Sie
dort vorgenommen haben, sind schon eine Verschlimmbesserung. Ein kleiner Fortschritt ist aber besser als gar
keiner.
Kurz zu einigen konkreten Inhalten des Gesetzes und
vor allen Dingen zu dem, was der Kollege Brauksiepe in
unsere Richtung angesprochen hat. Herr Brauksiepe,
Ende April hat das Handelsblatt in einem eindeutig von
der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände lancierten Bericht behauptet, dass die Löhne im
Jahre 2010 um 2,3 Prozent sinken könnten, womit nach
der aktuellen Gesetzeslage zwangsläufig auch die Renten sinken würden. In aller Deutlichkeit - ich habe das
für meine Fraktion schon mehrfach gesagt -: Dadurch,
dass ohne eine ausreichende Datenbasis eine derartige
Spekulation in die Welt hinausposaunt wird, spielt man
in völlig unverantwortlicher Art und Weise mit den
Ängsten von Millionen Rentnerinnen und Rentnern. Das
ist mit meiner Fraktion nicht zu machen.
({3})
Außerdem kann eine solche Panikmache zu dem führen, was man gemeinhin als Angstsparen bezeichnet;
denn wenn Millionen Rentnerinnen und Rentner Angst
haben, in der Zukunft noch ausreichend Geld zur Verfügung zu haben, dann werden sie das Vorhandene auf die
hohe Kante legen und nicht mehr für den Konsum zur
Verfügung stellen. Das führt zu einer Drosselung der
Binnenkonjunktur, wodurch die Krise wiederum verschärft wird.
Deshalb ist es richtig und wichtig, dass diese Rentenschutzklausel heute hier beschlossen wird, um den Rentnerinnen und Rentnern in der Krise eine ausreichende
Sicherheit zu geben. Ich sage allerdings auch ganz deutlich dazu: Diese Maßnahme ist hinreichend, aber auf gar
keinen Fall ausreichend. Es wäre auch auf gar keinen
Fall notwendig gewesen, diese Klausel sozusagen für die
Ewigkeit zu beschließen, zumal ich gespannt darauf bin,
lieber Herr Kollege Brauksiepe, wie viel diese Rentenschutzklausel nach dem 27. September 2009 noch wert
sein wird. Das werden wir dann ja sehen.
({4})
Es hilft nicht weiter, nur eine Schutzklausel einzuführen, zumal - das ist ja ein interessanter Punkt - die Rentnerinnen und Rentner durch die Klausel nicht wirklich
vor einer Kürzung geschützt werden; denn aufgeschoben
ist nicht aufgehoben. Der Betrag, der jetzt nicht gekürzt
wird, kommt auf ein - ich nenne es einmal so - Schuldkonto, das der Rentner oder die Rentnerin in Zukunft mit
den Rentenerhöhungen in der Form abtragen muss, dass
die Hälfte der Erhöhung mit diesen Schulden der Vergangenheit verrechnet wird.
Im Westen haben wir auf diesem Schuldkonto bereits
einen Kürzungsbedarf von 3 Prozent zu verzeichnen.
Wenn Sie, Herr Scholz, und Ihr Vorgänger, Herr
Müntefering, völlig zu Recht einräumen, dass in der
nächsten Zeit mit Nullrunden zu rechnen ist, dann frage
ich Sie, wann und wie Sie irgendwas wieder mit Erhöhungen verrechnen wollen, oder anders gefragt: Wie
lange sollen die Rentnerinnen und Rentner in DeutschVolker Schneider ({5})
land diese Schulden vor sich herschieben, ohne die
Chance zu haben, dass sie abgetragen werden? Was meinen Sie, wann es dazu kommt? 2015, 2018, am SanktNimmerleins-Tag oder wann auch immer?
Insoweit ist eine Rentenschutzklausel, wie Sie sie
praktizieren, in erster Linie ganz viel weiße Salbe zur
Beruhigung der Rentnerinnen und Rentner und löst darüber hinaus kein einziges der damit verbundenen Probleme. Wenigstens die verzerrenden Wirkungen der
Kurzarbeit auf die Berechnung der Löhne hätten Sie beseitigen können. In der Anhörung ist uns bestätigt worden, dass dies ein gangbarer Weg ist. Überraschenderweise hat die Deutsche Rentenversicherung Bund sogar
festgestellt, dass darüber hinausgehende Schritte notwendig wären und das System zur Berechnung der
Löhne an der Stelle vereinfacht werden müsste.
Mit unserem Vorschlag hätte schon die Gefahr, dass
die Löhne ins Minus sinken könnten, deutlich gesenkt
werden können. Aber Sie lehnen den Antrag ab, und
zwar trotz ausdrücklicher Nachfrage ohne ein einziges
Wort der Begründung. Ich prophezeie Ihnen, dass Sie
ähnlich wie damals, als Sie die von uns geforderte Herausnahme der 1-Euro-Jobs aus der Berechnung abgelehnt haben, um das drei Monate später als eigenen Antrag in den Deutschen Bundestag einzubringen, auch
wieder auf die Frage der Berechnung der Löhne für die
Rentenversicherung zurückkommen werden. Sie werden
sich damit befassen müssen, wie man den Berechnungsmodus ändert.
({6})
Weiter haben wir in unserem Antrag gefordert, die
beiden ausgesetzten Stufen drei und vier des RiesterFaktors endgültig aus der Berechnung herauszunehmen.
Das hätte das Schuldkonto der Rentnerinnen und Rentner wenigstens um 1,27 Prozent entlastet. Damit hätte
sich wenigstens ansatzweise eine realistische Perspektive eröffnet, auch wieder zu ungekürzten Rentenerhöhungen zu kommen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund,
der Sachverständige Professor Dr. Horn und selbst die
Deutsche Rentenversicherung haben diesen Vorschlag
als einen gangbaren Weg angesehen. Ihre Reaktion: Sie
haben das abgelehnt. Begründung: null.
Glauben Sie nicht, dass wir unter diesen Voraussetzungen Ihrem Antrag zustimmen können. Wirkungslose
Placebos dürfen Sie gerne allein verteilen.
Zu der Frage der Kürzung der Anrechnung des Kurzarbeitergeldes hat Herr Kolb das Notwendige gesagt.
({7})
Ich kann mich dem uneingeschränkt anschließen. Es ist
eine Dreistigkeit und Unverschämtheit sondergleichen,
wie Sie das durchgezogen haben. Sie haben sich an dieser Stelle dem Druck von Herrn Hundt unterworfen,
Herr Scholz, und Ihre Fraktion hat die Faust in der Tasche geballt.
Kollege Schneider, achten Sie bitte auf das Signal.
Ja, sofort. - Sie wissen alle genau, was Sie an dieser
Stelle beschließen, aber Sie wollen Ihren Minister nicht
im Regen stehen lassen. Die CDU/CSU ist in die Fraktionsdisziplin eingebunden. Nur der Kollege Rauen, dem
ich ebenfalls meinen Respekt bekunde, hat sich getraut,
das offen anzusprechen. Vor diesem Hintergrund können
Sie froh sein, dass wir uns bei der Abstimmung nur enthalten werden. Selbst das machen wir noch zähneknirschend.
Danke schön.
({0})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute diskutieren wir über einen Gesetzentwurf, von
dem die Bundesregierung selbst sagt, das Gesetz werde
eigentlich nicht gebraucht. Herr Scholz hat es mir
schriftlich gegeben. Auslöser war eine Schlagzeile, dass
es durch die Wirtschaftskrise zu Lohneinbußen und damit in den kommenden Jahren auch zu Rentenkürzungen
kommen könnte. Die Reaktion des Arbeitsministers darauf erinnert mich ehrlich gesagt ein bisschen an Norbert
Blüm: Die Rente ist sicher.
({0})
Denn kaum war diese schlechte Nachricht im Handelsblatt veröffentlicht, setzte Minister Olaf Scholz die Aussage Blüms in praktische Politik um. Noch am gleichen
Tag verkündete er, er werde Rentenkürzungen per Gesetz ausschließen, auch wenn die Löhne sinken, und das
für alle Ewigkeit.
Die CDU/CSU wollte mit Blick auf ihre Wählerschaft
nicht nachstehen, und so wurde in seltener Einmütigkeit
eine Woche später im Kabinett ein Eilgesetz zur Rentengarantie beschlossen.
({1})
Einer der tragenden Grundsätze im deutschen Rentenrecht wurde außer Kraft gesetzt. Das inzwischen fast
jährliche Herumdoktern an der Rentenformel ist nun das
Ergebnis.
Was darauf folgte, war eine kabarettreife Glanznummer der Großen Koalition. Minister Scholz beeilte sich,
zu betonen, Beitragssteigerungen infolge der generellen
Rentengarantie könnten ausgeschlossen werden. Dass
zuvor Senkungen beantragt oder festgelegt waren, verschweigt er natürlich. Die Vertreter der Koalition beteuerten mehrfach, dieses Gesetz diene ausschließlich der
Beruhigung der älteren Wählerschaft. Eigentlich sei eine
solche Maßnahme nicht erforderlich, weil die Bundesregierung bei der Lohnentwicklung mit einem Plus von
1 Prozent rechne. Wenn die Löhne nun doch sinken wür25502
den, würden die nicht erfolgten Kürzungen ab 2011
nachgeholt.
Glauben die Rentnerinnen und Rentner das, was ihnen die Regierung hier verkaufen will?
({2})
Wie bewerten die jüngeren Beschäftigten, die noch mehr
als 20 Jahre einzahlen müssen, das Wahlgeschenk an die
Rentnerinnen und Rentner?
({3})
Ist es nicht erstaunlich, dass ausgerechnet im Jahr der
größten Wirtschaftskrise die Renten zunächst überdimensional steigen und das Grundprinzip der Rentenpolitik „Die Rente folgt den Löhnen“ plötzlich für immer außer Kraft gesetzt werden kann? Die Bevölkerung würde
sich wirklich nicht wundern, wenn dieses Gesetz ganz
offiziell den Titel „Rentnerberuhigungsgesetz“ tragen
würde.
({4})
Aber was die meisten Rentner und Rentnerinnen nicht
wissen, ist: Sie müssen für die Rentengarantie selbst
zahlen. Sie erhalten nämlich eine Garantie auf Pump.
Zusammen mit den bereits unterbliebenen Kürzungen
müssen ab 2011 Rentenkürzungen in Höhe von unglaublichen 7 Prozent als Altlasten nachgeholt werden. So
lautet die Auskunft der Deutschen Rentenversicherung
in der Anhörung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf.
Ich halte es für wahrscheinlicher, dass Sie den anderen Weg beschreiten werden und die höheren Ausgaben
über Beitragssteigerungen kompensieren werden. Die
Rentenversicherung hat einen Beitragsbedarf von 20,3 Prozent im kommenden Jahr errechnet, wenn die Lohnbezogenheit der Rente aufgegeben wird und die Bruttolöhne
tatsächlich um 2,3 Prozent sinken. Das bedeutet eine
Umverteilung von Jung auf Alt. Die Nachhaltigkeitslücke wird wieder vergrößert. Ich finde, Herr Minister
Scholz, gerade in Zeiten der Krise ist Ehrlichkeit angesagt.
({5})
Die ehrliche Botschaft lautet doch: Den Rentnern kann
in den nächsten Jahren keine Rentensteigerung garantiert
werden, und auf die Beitragszahlenden wird eine steigende finanzielle Belastung zukommen. Alles andere ist
nichts anderes als Wahlkampfmanöver. Ich finde, vertrauensbildend ist eine solche Politik nicht.
Sie, meine Damen und Herren von der Großen Koalition, setzen die mühsamen Rentenreformen der letzten
Jahre, die zum Teil schmerzhaft waren, aufs Spiel. Diese
werden durch die Hintertür ad absurdum geführt. Aus
Sorge - das ist Ihre Argumentation -, dass Ihnen die Opposition ein Wahlkampfthema aufzwingt, machen Sie
ein Gesetz mit weitreichenden Konsequenzen für die
Rentnerinnen und Rentner sowie die Beitragszahlenden.
Sie zeigen sich spendabel, geben aber fremdes Geld aus.
Wir Bündnisgrüne bleiben dabei: Niemand kann
heute seriös einschätzen, wie stark die Wirtschaftskrise
auf die Bruttolöhne durchschlägt. Deshalb wäre es viel
klüger gewesen, im kommenden Frühjahr korrigierend
einzugreifen, wenn die Entwicklung der Bruttolöhne tatsächlich schwarz auf weiß vorliegt. Besondere Zeiten
verlangen nach besonderen Maßnahmen; das ist klar.
Natürlich darf man nicht Schutzschirme über Banken
aufspannen und die Rentner im Regen stehen lassen.
Aber das kann man befristet für die Krise tun. Auch das
hat der Chef der Deutschen Rentenversicherung in der
Anhörung gesagt.
({6})
Dann hätte man nämlich in Kenntnis der genauen Zahlen
im Frühjahr, falls überhaupt erforderlich, eine Korrektur
vornehmen können. Dabei könnte man - ähnlich wie bei
den 1-Euro-Jobs - die Wirkung der Kurzarbeit herausrechnen. Aber Ihre Vorgehensweise, ein vorbeugendes
Versprechen für alle Zeiten abzugeben, ist unseriös.
({7})
Ich finde, mit diesem Versprechen streuen Sie Sand in
die Augen der Beitragszahlenden sowie der Rentner und
Rentnerinnen.
({8})
Ich komme zu einem anderen Thema, zur Verbesserung der Anwartschaften beim Arbeitslosengeld für Kulturschaffende, die bekannterweise oft nur für eine kurze
Zeit geltende Arbeitsverträge haben. Es ist gut, dass Sie
endlich das Problem erkannt haben, auf das wir Sie
schon mit unserem Antrag im Jahre 2007 gestoßen haben. Die Umsetzung ist aber mehr als mangelhaft. 80 bis
90 Prozent der Betroffenen werden durch Ihre Lösung
nicht erreicht, so der Sachverständige in der Anhörung.
Wir Grüne wollen alle Beitragszeiten berücksichtigen,
und zwar für alle Formen befristeter Beschäftigung und
nicht nur auf Künstler beschränkt; denn in steigendem
Maße sehen wir, dass viele Arbeitsverhältnisse ähnlich
sind. Diese muss man gleich behandeln.
({9})
Ich komme nun zu den Änderungen beim Kurzarbeitergeld. Die Ausweitung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes in der jetzigen Krise begrüßen wir Grüne
ausdrücklich. Doch auch hier werfen Sie ohne Not sinnvolle Ziele über Bord. Die vollständige Befreiung der
Betriebe von den Sozialversicherungsbeiträgen war bisher an die richtige Bedingung der Weiterqualifizierung
geknüpft.
({10})
Dass diese Bedingung künftig ab dem siebten Monat des
Bezugs von Kurzarbeitergeld entfällt, ist ein falsches
Signal.
({11})
- Der weiß, dass ich so wenig Redezeit habe. Deshalb
spreche ich auch etwas schneller.
({12})
Es ist zu erwarten, dass viele Betriebe ihre Planung zur
Qualifizierung der Beschäftigten einstellen werden. Das
wird sich nach der Krise bitter rächen; denn dann fehlen
die Fachkräfte.
({13})
- Ruhe!
({14})
Aber es gibt einen noch viel größeren Skandal.
({15})
Über Nacht hat die Große Koalition einen Änderungsantrag in den Ausschuss eingebracht, der vorsieht, dass ein
Arbeitgeber, der in einem Teilbetrieb Kurzarbeit angemeldet hat, für seine gesamte Belegschaft eine hundertprozentige Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge
erhält - und das sogar rückwirkend. Hier kann ich mich
ausdrücklich der Bewertung unseres geschätzten Kollegen Rauen anschließen, der gesagt hat: Das ist eine Ausplünderung der Sozialkassen zugunsten der Konzerne
und zulasten der meisten mittelständischen Betriebe. Eine solche Politik ist mit uns Grünen nicht zu machen.
Daher lehnen wir Ihren Antrag mit aller Entschiedenheit
ab.
Ich danke Ihnen.
({16})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Grotthaus für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich will gleich am Anfang sagen: Es ist ein gutes Gesetz, aber über gute Dinge wird hier nicht gesprochen, zumindest nicht von der Opposition.
({0})
Vielmehr werden zwei Punkte herausgegriffen, die permanent als sehr problematisch dargestellt werden. Da
Sie als Opposition uns aber zwingen, Stellung zu beziehen, will ich dazu etwas sagen. Dieses Gesetz beinhaltet
mehrere Punkte, die sich auf die Arbeitsplätze, auf die
Ausbildung und auf die Situation junger Menschen, die
Lernschwächen haben, positiv auswirken. Wir haben die
Vereinfachung und Vereinheitlichung der Generalunternehmerhaftung für die Bauwirtschaft - eine positive Sache. Wir haben den gesetzlichen Unfallversicherungsschutz für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des
freiwilligen Dienstes „weltwärts“, also für engagierte
junge Leute, die ehrenamtlich tätig sind, eingeführt eine positive Sache. Wir haben die Nachzahlung bei anzurechnenden Kindererziehungszeiten - eine positive
Sache. Wir haben Übergangsregelungen für Personalräte
von fusionierenden Berufsgenossenschaften in der Unfallversicherung. Da kann keiner widersprechen.
({1})
Wir haben die Erhöhung der Flexibilität bei der Festlegung der Maßstäbe für die Verteilung der Mittel für Leistungen zur Beschäftigungsförderung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende. All das wird hier nicht
angesprochen. 34 Punkte haben wir, aber Sie als Opposition sprechen nur 2 Punkte an.
({2})
Das ist natürlich Ihr gutes Recht.
({3})
Wenn Sie aber kritisieren, dass wir mit diesem Gesetz
Wahlkampf machen, dann stelle ich fest: Wenn dem so
wäre, hätten wir Ihnen eine gute Vorlage gegeben. Denn
das, was ich hier von Ihnen höre, ist ausschließlich
Wahlkampf.
({4})
Wir haben den älteren Menschen gesagt, sie brauchten
sich nicht verunsichern zu lassen und ihre Renten seien
durch den Passus gesichert, den wir in dieses Gesetz hineingenommen haben.
({5})
Jetzt kommt die Umkehrung. Heute Morgen habe ich so
einen Experten im Fernsehen gehört. Er sagte, wenn es
so bleibt, dann werden die Beiträge steigen. - Jetzt werden die jüngeren Leute verunsichert. Das nenne ich ein
Schüren des Generationenkonflikts. Das machen wir
nicht mit. Das sei in aller Deutlichkeit gesagt.
({6})
Wir sehen das nicht als Ewigkeitsklausel an, wenn wir
das so formulieren.
({7})
Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie und auch die Linke mehrere Male von der Ewigkeitsklausel gesprochen haben.
Das zeugt davon, dass Sie uns zubilligen, bis in alle
Ewigkeit in der Regierung zu sein.
({8})
Aber nach den demokratischen Gepflogenheiten hat jedes Parlament das Recht, Gesetze zu ändern oder sie zu
belassen, wie sie sind.
({9})
Das müssen Sie wissen.
Deswegen sage ich wiederum: Ihr Petitum läuft darauf hinaus, die Menschen zu verunsichern, Unruhe in
der Bevölkerung zu schaffen; die Menschen sollen über
etwas diskutieren, was angeblich Unsicherheit schafft
und auf diese Weise tatsächlich zu Unsicherheit führt.
Als zweiten Punkt haben Sie die Kurzarbeit angesprochen; auch sie ist hier strittig behandelt worden. Was Sie
da machen, ist eigentlich, den Sozialpartnern in dieser
Republik, die mit den Beiträgen von Arbeitgebern und
Arbeitnehmern die Kasse der Arbeitslosenversicherung
befüllen, zu unterstellen, sie plünderten selber diese
Kasse.
({10})
Sagen Sie bitte Herrn Hundt, dass Sie unterstellen, dass
es in dieser Republik verantwortungslose Unternehmer
gibt,
({11})
die praktisch bereit sind, das eigene Geld, das sie eingezahlt haben, in unverantwortlicher Weise wieder herauszuholen. Ich kann Ihnen versichern: Die Gewerkschafter
sind nicht so. Beide Sozialpartner haben in den letzten
Monaten bewiesen, dass sie mit dem Kurzarbeitergeld
sehr vorsichtig umgehen.
({12})
Wir gehen davon aus, dass dies so bleiben wird.
({13})
Ich bin dem Minister dankbar, dass er noch einmal
auf die Probleme hingewiesen hat, die sich einstellen
können, wenn junge Menschen in einem Betrieb arbeiten, der in die Insolvenz geht. Ich bin auch den IHKs und
den Arbeitgebern dankbar, dass sie sich darum kümmern, dass junge Menschen dann nicht in die Arbeitslosigkeit gehen müssen, sondern einen Ausbildungsplatz
haben. Dies zeigt - vielleicht passt Ihnen das nicht -,
dass wir Sozialdemokraten sehr gute Kontakte zu den
Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern haben und zumindest ab und zu auf ihren Rat hören.
Ein letzter Hinweis, Kollege Brauksiepe - ich komme
gleich dazu, weshalb ich jetzt einen Rundumschlag mache -:
({14})
Sie haben gerade gesagt, Außenminister Steinmeier habe
Gesetze Gott sei Dank deswegen nicht behindert, weil er
nicht dabei gewesen sei. Ich sage Ihnen: Die Kanzlerin
hat Gesetze verhindert. Die Arbeit der Jobcenter hätte
nach Auffassung vieler Arbeitsmarktexperten vor dem
27. September geregelt werden müssen und geregelt
werden können.
({15})
Dies ist auf Initiative der Kanzlerin nicht passiert.
({16})
Auch der Mindestlohn für Leiharbeitnehmer hätte umgesetzt werden können. Von wem, meine Damen und Herren, ist der flächendeckende Mindestlohn verhindert
worden? Wir waren koalitionstreu. Aber ich sage Ihnen
sehr deutlich, da wir schon ein bisschen Wahlkampf machen: Wir werden dies in den nächsten drei Monaten ansprechen und den Menschen in dieser Republik sagen,
wie es aussehen wird, wenn es andere Mehrheiten geben
sollte.
({17})
- Das glaube ich Ihnen; deswegen sitzen Sie da auch und
trauen sich nicht, aufzustehen.
Lassen Sie mich jetzt zum Abschluss kommen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, Sie hören schon, der Ton
wird versöhnlicher.
({18})
Dies war meine letzte Rede in diesem Hohen Haus. Ich
werde für die neue Wahlperiode nicht mehr kandidieren.
({19})
Ich bin nicht traurig - ich sage das ganz offen -, ich bin
auch nicht wehmütig; denn ich habe gehört - nur gehört -,
dass es auch ein Leben nach der Politik geben soll. Ich
bin gespannt, wie dieses Leben aussehen wird; denn ich
habe 35 Jahre lang Politik in der Kommune und während
drei Wahlperioden hier im Bundestag gemacht.
Ich möchte allen Dank sagen für die tolle kollegiale
Zusammenarbeit. An erster Stelle möchte ich natürlich
meiner Fraktion und meiner Arbeitsgruppe danken, aber
auch allen anderen Fraktionen, Kollege Schneider, quer
herüber jetzt; im Wesentlichen war diese Zusammenarbeit sehr sachlich. Ferner möchte ich - ich bitte den Minister Scholz, das auszurichten - den Kolleginnen und
Kollegen im Ministerium ein Dankeschön sagen. Ohne
deren Hilfe wären wir an vielen Stellen - ich glaube, das
gilt für alle hier im Haus - nicht ausgekommen. Weil
hier nicht nur Juristen sitzen, hätten wir bei dem einen
und anderen Punkt nicht verstanden, was tatsächlich dahintersteckt. Sie haben sehr oft darauf aufmerksam gemacht, um welche Punkte wir uns sehr intensiv kümmern sollten, und das war positiv.
({20})
Sollte sich in den drei Wahlperioden eine oder einer
von Ihnen durch mich persönlich verletzt gefühlt haben,
sage ich: Das war nicht gewollt; das würde mir auch
leidtun.
({21})
Dank sagen möchte ich den Menschen, die mir in
meinem Wahlkreis drei Wahlperioden lang ihr Vertrauen
gegeben haben. Ein Kollege hat in seiner letzten Rede
hier gesagt: Ich werde euch vermissen. Er meinte euch
alle. Glaubt mir, dass das bei mir nicht der Fall ist; ich
werde euch nicht vermissen. Aber ich werde demnächst
gerne an die Zeit zurückdenken, in der ich mit euch gemeinsam hier sitzen durfte, um einen kleinen Beitrag zur
Ausgestaltung von Gesetzen zu leisten, die im Interesse
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in dieser Republik nötig waren.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Ein herzliches Glückauf!
({22})
Kollege Grotthaus, nicht nur der Beifall des gesamten
Hauses, sondern auch die guten Wünsche aller Kolleginnen und Kollegen sollen Sie in dieses Leben nach der
Politik begleiten. Vielleicht bekommen wir an der einen
oder anderen Stelle Nachricht, wie sich das anfühlt.
Das Wort hat nun der Kollege Gerald Weiß für die
Unionsfraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf aus der Debatte um dieses Gesetzesbündel
einige Aspekte aufnehmen:
Es ist gut, dass wir Künstlerinnen und Künstlern - typischerweise eher projektgebunden und zeitlich kurzfristig beschäftigt - mehr soziale Sicherheit geben können.
Wer in diesem Zusammenhang - endlich haben wir eine
Lösung gefunden - mit Recht Bernd Neumann nennt,
der sollte den Namen Gitta Connemann hinzufügen; sie
hat sich hier sehr eingesetzt.
({0})
Wir geben den Kulturschaffenden ein Stück mehr Gerechtigkeit beim Bezug des Arbeitslosengeldes während
temporärer Arbeitslosigkeit. Das ist allseits gelobt worden. So viel zum konsensualen Teil dieser Debatte.
Es ist gut, dass wir die Beschäftigungsbrücke Kurzarbeit weiterbauen und dass wir sie noch tragfähiger machen. Die Losung heißt: Kurzarbeit ist besser als Arbeitslosigkeit.
({1})
Wir haben Zug um Zug - mit dem Konjunkturpaket I,
dem Konjunkturpaket II und dem Gesetzesbündel, das
wir heute verabschieden - die Rahmenbedingungen für
Kurzarbeit verbessert.
Das, was Minister Scholz eingangs sagte, lässt sich
mit Zahlen belegen: Die Kurzarbeit ist von 71 000 im
Oktober 2008 auf 1,2 Millionen im März 2009 angestiegen. Man kann sagen: Das ist eigentlich keine gute
Nachricht; das ist nicht schön. Kurzarbeit ist aber schöner und besser als Kündigung. Dass unsere Strategie aufgegangen ist, beweisen die Zahlen: Die gesamte volkswirtschaftliche Produktion ist um 6 Prozent gesunken;
die Zahl der Erwerbstätigen ist hingegen um nur 0,5 Prozent gesunken. Allen Schlaumeiern, die in diese Diskussion eingreifen, muss man sagen: Wenn wir die Brücke
der Kurzarbeit zur Überwindung der Krise nicht ausgebaut hätten, hätten wir heute 400 000 oder 500 000 Arbeitslose mehr. Das wäre schlechter und teurer als die
Kurzarbeit.
({2})
Deshalb ist diese strategische Entscheidung richtig gewesen.
Insgesamt trägt die Antikrisenpolitik dieser Koalition
und dieser Bundesregierung Früchte; sie ist erfolgreich.
Ich verweise auf die Einlagengarantie, auf die Finanzmarktstabilisierung, auf das Konjunkturpaket I und auf
das Konjunkturpaket II. Allein aus den beiden Konjunkturpaketen resultierten Impulse für die Nachfrageseite
und die Angebotsseite unserer Volkswirtschaft in einem
Umfang von 80 Milliarden Euro. Das macht sich in der
Wirtschaftsszenerie - das alles ist auch international abgestimmt - bemerkbar.
Wir können heute sagen, dass diese scharfe Rezession
- noch nie hat es einen Konjunkturrückgang in einem
solchen Umfang gegeben; das Sozialprodukt geht um
6 Prozent zurück - umschlagen wird. Nach aller Zuversicht, die wir jetzt gewinnen können, können wir feststellen: Infolge dieser Politik wird es keine langjährige
Depression in Deutschland geben. Darüber sind wir froh,
und darauf sind wir auch stolz.
({3})
Ich will die Rentengarantie ansprechen. Es ist gut,
dass wir diese Garantie geben. Es ist nicht klar, ob es zu
einem Minus bei den Löhnen kommen wird. Die Regierung erwartet, dass es ein kleines Plus geben wird, sodass nach geltendem Recht an sich keine negative Rentenentwicklung zu besorgen wäre. Es kann aber auch ein
kleines Minus geben, aber dann ausschließlich deshalb,
weil wir die Kurzarbeit ausgeweitet haben. Es wäre doch
grotesk, dass wegen der ganz bewusst getroffenen Entscheidung, die Kurzarbeit als eine Brücke in Krisenzeiten auszubauen, die Renten im Ergebnis gekürzt würden.
Das wäre systemwidrig. Nicht diese Rentengarantie ist
systemwidrig. Sie ist systemkonform. Es ist wichtig, den
Menschen Sicherheit zu geben und diese Sicherheit zu
gewährleisten.
({4})
Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Spieth?
Ja.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Weiß,
ich nehme Ihre Aussage sehr ernst, dass Ihnen diese
Rentenschutzklausel wichtig ist. Erlauben Sie, dass man
an dieser Aussage erhebliche Zweifel haben kann und
man den Eindruck haben muss, dass dies möglicherweise am Ende doch wieder nur ein Wahlkampfmanöver
ist.
Frau Präsidentin, Sie gestatten, dass ich einen Abgeordneten der CDU, den „jugendpolitischen Rentensprecher“, Herrn Spahn, anführe, der heute Morgen im
Morgenmagazin auf die Frage, warum seine Parteichefin, die Kanzlerin, bei der Einführung der Rentenschutzklausel mitmachen wolle, Folgendes geantwortet
hat - ich zitiere wörtlich -:
Gut. Es gibt offensichtlich verschiedene Erwägungen, die in solche Prozesse einführen. Sicherlich ist
eine Sorge, dass insbesondere auch die Linkspartei,
Lafontaine und Co., schon angekündigt haben,
Rentner verunsichern zu wollen, im nächsten Jahr
eine Kampagne fahren zu wollen mit dem Hinweis,
dass Rentenkürzungen drohen könnten, was übrigens falsch wäre. Man will ebendiese Kampagnenfähigkeit der Linken sozusagen nicht möglich machen.
Herr Spahn äußerte sich in den letzten Wochen ständig
zu diesem Thema.
Deshalb die Frage an Sie: Gilt für die Union die Rentengarantie bis zum 27. September, oder gilt diese Rentenschutzklausel auch nach dem 27. September?
({0})
Ob wir so großsprecherisch sein können und von einer ewigen Rentengarantie im Kolb’schen Sinne sprechen dürfen, weiß ich nicht. Aber wir nehmen diese
Gesetzesänderung vor, um den Menschen dauerhaft Sicherheit zu geben,
({0})
Sicherheit auch gegen all die Gerüchte von Panikmachern und denjenigen, die den Menschen mit schnell
produzierten Nachrichten Angst machen wollen. Das hat
selbstverständlich einen politischen Bezug. Wir sind
schließlich nicht im politikfreien Raum. Deshalb hat der
Herr Kollege Spahn recht.
({1})
Wer so etwas in die Welt setzt, ist zweitrangig. Jedenfalls war es nicht nur in allen Zeitungen, sondern in allen
Medien. Man hat begonnen, den Menschen zu suggerieren, ihre Renten seien nicht sicher und es sei eine negative Rentenentwicklung zu befürchten, und ihnen damit
Angst gemacht. Das ist in der Sache nicht begründet und
auch im Ergebnis nicht zu erwarten. Dass wir uns in dieser Situation entschlossen haben, zu handeln und Sicherheit zu geben, und zwar Sicherheit auf Dauer, halte ich
für die richtige Konsequenz.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist
meine letzte Rede im Deutschen Bundestag.
({2})
Ein bisschen wehmütig, Kollege Grotthaus, bin ich
schon. Aber auf der anderen Seite bin ich auch voller
Vorfreude auf mehr Freiheit und mehr Familie und auch
auf die neue schöne Aufgabe als Beauftragter des Bundes für die Sozialversicherungswahlen.
({3})
Da ich eben von der Rente gesprochen habe, will ich
Ihnen eine Sache ans Herz legen: Sichern Sie dieses
Rentensystem! Es ist das Herzstück des Sozialstaates.
Ich bin davon überzeugt, dass es die umlagefinanzierte
Rente auch morgen und übermorgen noch geben wird. In
ihrer Anlage als beitragsbezogene Rente - das ist die Lebensleistung - und als lohngekoppelte Rente - das ist die
Teilhabe - muss sie auch in der Zukunft gesichert und
erhalten werden.
Hinzu kommt: Die Rente muss auch in Zukunft armutsfest sein, so wie sie es in der Vergangenheit war;
das ist eine ganz große Erfolgsstory. Sie muss aber auch
demografiefest sein. Sie können mit Selbstbewusstsein
den Panikern entgegentreten; denn das umlagefinanzierte Rentensystem hat Zukunft und wird auch zukünftig stabil sein. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich in
diesem Sinne weiter für die Rente einsetzen würden.
({4})
Wie mein Kollege und - das sage ich trotz dieser kleinen Entgleisung - Freund Wolfgang Grotthaus möchte
ich allen Bundestagskolleginnen und -kollegen herzlich
danken, mit denen ich in diesen elf Jahren zusammenarbeiten und im Streit und im Konsens um Lösungen ringen durfte. Das hat es mir ermöglicht, zur Politik und zur
Gesetzgebung dieses Landes einen kleinen Beitrag zu
leisten.
In diesen Dank schließe ich natürlich meine Freunde
von der CDU/CSU-Fraktion und insbesondere die Mitglieder der Arbeitnehmergruppe meiner Fraktion ein, deren Vorsitzender ich seit mehr als neun Jahren sein
durfte. Ich will besonders die Kolleginnen und Kollegen
der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales nennen.
Ich sage der Bundesregierung und der Bundeskanzlerin Dank, die sich trotz aller schwierigen Entscheidungen als eine Kanzlerin auch und gerade der kleinen
Leute und der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erwiesen hat. Ich bedanke mich beim Bundesarbeitsminister und bei all seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
für die Zusammenarbeit in diesen Jahren.
Gerald Weiß ({5})
Ich danke auch den Kolleginnen und Kollegen des
Ausschusses für Arbeit und Soziales. Ich hatte eine gute
Zeit als Vorsitzender dieses Ausschusses. Ich bedanke
mich bei meiner Stellvertreterin, Frau Krüger-Leißner,
für die ganz hervorragende Zusammenarbeit.
Meinen Dank erstrecke ich auch auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in meinem Abgeordnetenbüro, in
der Arbeitnehmergruppe und im Ausschusssekretariat.
Ich beziehe in diesen Dank auch die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter des Deutschen Bundestages, unserer
Fraktion und aller anderen Fraktionen mit ein.
Der Dienst am Ganzen ist ein wunderbarer Auftrag.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie auch in Zukunft diesen
Dienst am Ganzen mit Leidenschaft und Sachkompetenz
- beides findet man reichlich bei den Sozialpolitikern weiter ausüben. Ich wünsche Ihnen dafür alles Gute und
Gottes Segen.
Herzlichen Dank.
({6})
Kollege Weiß, Sie hören es: Auch Sie begleiten die
guten Wünsche des gesamten Hauses in diesem neuen
und sicherlich sehr spannenden Lebensabschnitt.
Das Wort hat die Kollegin Andrea Nahles für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Die Hoffnung kann ich Ihnen nicht machen, Herr Kollege. Ich stehe auf dem Listenplatz eins. Wir werden uns
also auch weiterhin gemeinsam um den Sozialstaat kümmern.
An die Adresse von Herrn Weiß und von meinem lieben Kollegen Wolfgang Grotthaus möchte ich sagen: Solange es solch engagierte und leidenschaftliche Streiter
für diesen Sozialstaat, für die Arbeitsmarktpolitik und
auch für die Rente gibt, wie Sie es über viele Jahrzehnte
waren, mache ich mir keine Sorgen, dass die Sozialpolitik auf einem guten Weg ist. Auch von meiner Fraktion
herzlichen Dank!
({1})
Wir werden heute das letzte Mal in dieser Legislaturperiode ausführlich über das breite Spektrum der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik reden. Es ist also gut, dass
wir Bilanz ziehen. Die wesentliche Botschaft, die von
dieser Debatte ausgehen sollte, ist, dass unser Sozialstaat
leistungsfähig ist. Er ist es!
Mit Blick auf die Krise stellen wir fest, dass besonders Deutschland als Exportnation von einem Minus des
BIP von 6 Prozent betroffen ist. Die Arbeitslosenzahlen
zeigen jedoch eine gegenteilige Entwicklung. Im Unterschied zum Vorjahr können wir sogar einen leichten Anstieg der Erwerbstätigenquote verzeichnen. Das bedeutet,
dass wir es - allen voran Arbeitsminister Olaf Scholz durch die Arbeitsmarktpolitik, insbesondere durch das
rechtzeitige Aufsetzen der Kurzarbeit, geschafft haben,
trotz dieser Krise die Arbeitsplätze der Menschen in den
Betrieben zu stabilisieren und den Unternehmen die
Möglichkeit an die Hand zu geben, Menschen weiterzubeschäftigen. Wir haben bewiesen, dass dieses Land mit
seiner Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik leistungsfähig ist,
sogar leistungsfähiger als andere vergleichbare Staaten
auf europäischer bzw. internationaler Ebene. Das ist zum
Ende der Legislaturperiode eine gute Nachricht.
Das heißt nicht, dass wir uns zur Ruhe setzen. Im Gegenteil: Heute beschließen wir weitere Verbesserungen
bei der Kurzarbeit. Die Anzahl der Bezugsmonate wird
erhöht, die volle Übernahme der Sozialversicherungsbeiträge ab dem siebten Monat wird gewährleistet. Wir
arbeiten also weiter, und wir wollen weiterhin dafür sorgen, dass Betriebe in der Lage sind, die Menschen zu beschäftigen.
Die gute Nachricht des Tages: Wir wollen, dass unser
Sozialstaat Sicherheit in unsicheren Zeiten bietet. Es gibt
einen schönen Satz von Kluge, der da lautet: Die Katastrophe ist nah, aber die Apokalypse ist von langer
Dauer. Stellen Sie sich vor, wenn tatsächlich das eintreten würde, was manche von Ihnen von sich geben, dann
hätten wir morgen kein Brot mehr. Wir müssten einpacken. Herr Raffelhüschen ist für mich ein gutes Beispiel.
Wir bleiben dabei: Es ist wichtig, in unsicheren Zeiten
für Sicherheit zu sorgen. Deswegen haben wir eine Rentenkürzung ausgeschlossen.
({2})
Wir schaffen mit unserem Arbeitsmarkt- und Sozialsystem auch Perspektiven. Ich möchte nicht, dass junge
Menschen die ersten Opfer der Krise werden. Diese Gefahr besteht leider. Die Übernahme junger Auszubildender funktioniert leider nicht mehr automatisch, weil
junge Leute bei der Sozialauswahl die schlechteren Karten haben, da sie keine Familie zu ernähren haben.
Deswegen bedanke ich mich bei Olaf Scholz dafür,
dass er klar definiert hat, dass wir gerade den jungen
Menschen eine Chance geben müssen. Es kann nicht
sein, dass wir im Jahr der Krise die Ausbildungszahlen
herunterschrauben. 600 000 Auszubildende müssten es
sein, weil wir die jungen Menschen im nächsten Aufschwung dringend brauchen werden. Das ist gewiss.
Deshalb mein Dank an Olaf Scholz und seine Bemühungen!
({3})
Ich weise darauf hin, dass im Vergleich zu den 90erJahren, als wir eine Ausbildungs- und Arbeitsmarktkrise
hatten, viele Unternehmen diesen Umstand erkannt haben. Es hat ein Umdenken stattgefunden. Die Unternehmen sind nicht mehr so schnell dabei, Leute freizusetzen, wie es oft euphemistisch heißt. Auch dafür möchte
ich mich an dieser Stelle bedanken.
Man kann zu Recht behaupten, dass die Sozialpartnerschaft in unserem Land funktioniert. Sie ist ein hohes
Gut. Bisher war es so, dass die Deutschen für ihren
„Mitbestimmungsspleen“ belächelt wurden. Nun zeigt
sich, dass wir in Deutschland mit der Sozialpartnerschaft, die seit Jahrzehnten aufrechterhalten wird, in der
Lage sind, Konflikte besser zu regeln als andere Länder,
die viel Kraft darauf verwenden, überhaupt zusammenzufinden. Bei uns ist das eine gut geölte, funktionierende
Partnerschaft, auf die wir in dieser Krise setzen können.
Das ist auch eine gute Nachricht.
({4})
Wir wollen den Wandel gestalten. Deswegen bin ich
froh, dass es gelungen ist, für Künstler und alle, die typischerweise nur kurz beschäftigt sind, eine neue Wegstrecke aufzuzeigen. Ich sage ausdrücklich: Ich halte das für
einen ersten richtigen Schritt. Es ist zwar keine Weichenstellung, die schon ausreicht; aber wir haben es geschafft, dass auch denen, die meist nur kurz beschäftigt
sind, Arbeitslosengeld-I-Ansprüche gewährleistet werden können; was besonders bei Künstlerinnen und
Künstlern der Fall ist. Darüber bin ich sehr froh. Auch
das ist eine gute Nachricht.
({5})
Kollegin Nahles, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Liebe Kollegin Nahles, ich möchte Ihnen gerne zwei
Fragen stellen. Ich habe mich darüber gefreut, dass unser
Arbeitsminister heute diese Gesetzesinitiative für den
Bereich der Künstler und Filmschaffenden eingebracht
und vertreten hat, dass das ein richtiger Schritt ist. Herr
Brauksiepe, Herr Weiß, Sie alle haben das begrüßt, darüber freue ich mich auch. Wir haben es geschafft, die
strukturelle Benachteiligung dieses Personenkreises endlich zu beenden. Das ist ein Anfang.
({0})
Aber bis dahin war es ein sehr langer Weg.
Ich möchte zwei Fragen stellen. Meine erste Frage ist:
Warum hat das eigentlich so lange gedauert? Eine Enquete-Kommission hat darüber beraten, wir haben schon
im letzten Jahr einen Vorschlag dazu eingebracht, und
jetzt liegt ein Kompromissvorschlag vor.
({1})
Wir haben mit vielen Verbänden und Betroffenen gesprochen und versucht, ihre Forderungen aufzunehmen.
Aber wir wissen auch: Es sind noch ein paar Wünsche
und Forderungen - auch der kurzfristig Beschäftigten in
unserem Land - offen.
({2})
Meine zweite Frage ist: Warum sprechen wir von einem ersten Schritt? Was bedeutet das? Können die Arbeitnehmer Vertrauen in diesen Bereich haben, wenn wir
von einem ersten Schritt sprechen? Was haben wir vor?
Vielen Dank. Ich kann das ganz knapp beantworten.
Erstens hat es so lange gedauert, weil einige - unter
anderem die Enquete-Kommission - einen Vorschlag erarbeitet haben - das sogenannte Schweizer Modell -, der
in Deutschland bedauerlicherweise verfassungsrechtlich
so nicht umsetzbar ist. Trotzdem wurden die Hoffnungen, dass man dieses Modell umsetzen kann, immer wieder genährt. Wir haben viel Zeit in den Dialog mit den
Künstlerinnen und Künstlern investiert, um deutlich herauszuarbeiten, dass das nicht möglich ist, es aber eine
Alternative gibt, nämlich - das hatten wir vorgeschlagen - die Verlängerung der Rahmenfrist für alle auf drei
Jahre. Das konnte aber wiederum mit unserem Koalitionspartner nicht umgesetzt werden. Ich bin trotzdem
froh, dass wir heute einen ersten Schritt gehen können.
Sie fragen als Zweites, warum das nur ein erster
Schritt ist. Das kann ich auch ganz klar beantworten:
weil wir der Auffassung sind, dass die Beschäftigungsform der typischerweise kurzfristig Beschäftigten wahrscheinlich in Zukunft noch zunehmen wird und wir darauf
noch keine adäquaten Antworten in der Sozialversicherung haben, da sie auf langfristige Beschäftigungsverhältnisse angelegt ist. Deswegen freue ich mich, dass der
Haushaltsausschuss ein Monitoring verabredet und uns
auferlegt hat, die weiteren Schritte zu begleiten. Ich
denke, Frau Kollegin, dass wir in der nächsten Legislaturperiode an dieser Stelle ganz gewiss weiterarbeiten
werden.
In diesem Sinne will ich zum Abschluss meiner Rede
kommen: Es ist viel geschafft, aber wir haben noch nicht
alles erreicht, was wir für notwendig halten, insbesondere einen flächendeckenden Mindestlohn, eine gute Lösung für die Jobcenter, so wie sie zwischen Bund und
Ländern entwickelt worden ist, und nicht zuletzt mehr
Initiativen für junge Menschen. Wir jedenfalls freuen
uns schon auf die nächste Regierungszeit. Das ewige
Licht leuchte uns dabei.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Max Straubinger für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Heute werden wir zum Ende dieser Legislaturperiode
hin noch ein entscheidendes Gesetz für die soziale SiMax Straubinger
cherung der Menschen in unserem Land verabschieden.
Ich glaube, man sollte dabei richtigerweise daran erinnern, dass wir in diesen vier Jahren in gemeinsamer Arbeit eine gute Grundlage geschaffen haben, um unseren
Sozialstaat zu sichern. Vor allen Dingen haben wir eine
finanzielle Grundlage erarbeitet, mit der wir in dem aktuell wirtschaftlich sicherlich schwierigen Umfeld den
Menschen weiterhin soziale Sicherheit gewährleisten
und neuen Herausforderungen begegnen können.
Ich möchte daran erinnern, dass diese Regierung unter Angela Merkel in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik hervorragende Ergebnisse vorzuweisen hat.
Wir können trotz der aktuellen wirtschaftlichen Herausforderungen weit mehr Beschäftigungen aufweisen. Damit ist die Grundlage für die soziale Sicherung der Menschen geschaffen. Wir haben aber auch mit sehr vielen
Reformen, zum Beispiel der Organisationsreform der gesetzlichen Unfallversicherung, für die Zukunft ein besseres Gerüst geschaffen.
Wir haben in gemeinsamer Arbeit unter tariflichen
Gesichtspunkten für Branchen Mindestlöhne vereinbart,
die aufgrund freier Vereinbarungen der Tarifpartner entstanden sind. Damit setzen wir die Politik fort, die unter
Minister Blüm und dem seinerzeitigen Staatssekretär
Heinrich Kolb begründet worden ist.
Natürlich haben wir auch die finanziellen Grundlagen
unserer sozialen Sicherungssysteme verbessert.
Das Gesetz, das wir heute verabschieden werden, ist
sicherlich auch ein Ausdruck der Stärke unseres Sozialstaates unter wirtschaftlich schwierigen Bedingungen.
Es muss dann allerdings auch neuen Herausforderungen
standhalten.
Heute ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, dass man sich in der Politik natürlich mit den Duftmarken auseinanderzusetzen hat, die tagtäglich gesetzt
werden, ob sie nun richtig oder falsch sind. In der Regel
belegt jeder seine Annahmen letztendlich mit Rechnungen. Professoren wollen damit natürlich auch in die
Schlagzeilen kommen. Dies muss die Politik in der Diskussion mit aufnehmen.
Den dadurch entstehenden Verunsicherungen der
Menschen muss man natürlich entgegenwirken. Unter
diesem Gesichtspunkt ist die Rentensicherungsklausel,
die wir heute verabschieden, ein richtiges Instrument;
({0})
denn damit stärken wir die Sicherheit in unserer Gesellschaft und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in
unseren Sozialstaat.
Damit komme ich zu dem zweiten Beispiel dafür,
dass wir auf die Herausforderungen reagiert haben, die
Finanzkrise und die mit ihr einhergehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten abzufedern. Wir können sie zwar
nicht verhindern. Als Bundesregierung und als Parlamentarier sind wir aber natürlich gehalten, Antworten
darauf zu geben. Dies haben wir mit der Ausweitung des
Kurzarbeitergeldbezuges getan. Das war richtig und
wird auch von allen anwesenden Fraktionen unterstützt.
Heute streiten wir uns darüber, welche Folgen diese
Ausweitung haben wird. Manche befürchten, dass der
erleichterte Bezug von Kurzarbeitergeld, und zwar in
vollem Umfang - entsprechend der betrieblichen Regelung, wie sie jetzt geschaffen und im Bundesgesetzblatt
veröffentlicht werden wird -, schamlos ausgenutzt wird.
Nicht nur der Kollege Kolb, sondern auch andere haben
darauf hingewiesen. Im Übrigen verstehe ich nicht, dass
auch die frühere Kollegin Buntenbach sich negativ dahin
gehend geäußert hat, dass dies möglich sei.
Natürlich kann man über diese Maßnahme in der Sache durchaus streiten. Die Alternative dazu ist aber, dass
es mehr Arbeitslosigkeit geben könnte.
({1})
Herr Kollege Kolb, diese Arbeitslosigkeit müssten alle
Betriebe, ob Klein-, Mittel- oder Großbetriebe, genauso
mitfinanzieren, wie sie letztendlich diese Ausweitung
des Bezugs von Kurzarbeitergeld zu bezahlen haben.
({2})
Somit ist es meines Erachtens auch gerechtfertigt, wenn
wir dies heute verabschieden.
Ein letzter Punkt zur Rente: Ich bin stolz darauf, dass
wir jetzt eine Gleichstellung von Versicherten in berufsständischen Versorgungswerken erreichen, bei denen in
der Vergangenheit die Kindererziehungszeit nicht angerechnet wurde, obwohl das in der gesetzlichen Rentenversicherung möglicherweise schon der Fall war. Jetzt
werden Kindererziehungszeiten unabhängig von -
Kollege Straubinger, das ist erkennbar nicht Ihre
letzte Rede im Hohen Hause. Ich bitte Sie also, zum
Schluss zu kommen.
Danke schön, Frau Präsidentin. Ich komme auch
gleich zum Schluss. Im Übrigen freue ich mich darauf,
im neuen Deutschen Bundestag wieder hier stehen zu
dürfen.
({0})
Es ist auch wichtig, hier darzulegen, dass damit alle
Frauen - oder auch Männer, denen solche Zeiten zugeordnet werden - die gleiche Kindererziehungszeit angerechnet bekommen wie im gesetzlichen Sicherungssystem. Darauf können wir stolz sein.
Deshalb bitte ich um Zustimmung zu unserer Gesetzesvorlage.
Danke schön.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Mir liegen drei Erklärungen zur Abstimmung nach
§ 31 unserer Geschäftsordnung vor, und zwar von dem
Kollegen Karl Schiewerling, dem Kollegen Wolfgang
Meckelburg und der Kollegin Maria Michalk, alle aus
der Unionsfraktion. Entsprechend unseren Regeln neh-
men wir diese Erklärungen zu Protokoll.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13424, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/12596 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/13487.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 58 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Axel Troost, Hüseyin-Kenan Aydin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Zur Verantwortung des Bundes für die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung
- Drucksache 16/12892 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Innenausschuss
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Antje
1) Anlage 6
Tillmann für die Unionsfraktion, Bernd Scheelen für die
SPD-Fraktion, Frank Schäffler für die FDP-Fraktion,
Katrin Kunert für die Fraktion Die Linke und Britta
Haßelmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12892 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 61 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus
- Drucksache 16/12855 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({1})
- Drucksache 16/13417 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Willi Zylajew
Auch hier wird interfraktionell vorgeschlagen, die
Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu
geben. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und
Kollegen: Willi Zylajew für die Unionsfraktion, Hilde
Mattheis und Marlene Rupprecht für die SPD-Fraktion,
Dr. Erwin Lotter für die FDP-Fraktion, Dr. Ilja Seifert
für die Fraktion Die Linke und Elisabeth Scharfenberg
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.3)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Gesundheit empfiehlt in der Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13417, den Gesetzentwurf der Fraktio-
nen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/12855
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt da-
gegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unions-
fraktion, der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
FDP-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist in dritter Beratung mit den Stimmen der Uni-
onsfraktion, der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
der FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 60 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Jerzy Montag, Kai Gehring, Dr. Uschi Eid, weite-
2) Anlage 7
3) Anlage 8
Vizepräsidentin Petra Pau
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Jugendstrafrecht im 21. Jahrhundert
- Drucksachen 16/8146, 16/13142 -
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Siegfried Kauder für die Unionsfraktion, Jörg van Essen
für die FDP-Fraktion, Jörn Wunderlich für die Fraktion
Die Linke, Jerzy Montag für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und der Bundesministerin der Justiz,
Brigitte Zypries.1)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 64 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Europol-Gesetzes, des Europol-Auslegungsprotokollgesetzes und des
Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. November
2003 zur Änderung des Europol-Übereinkommens und zur Änderung des Europol-Gesetzes
- Drucksachen 16/12924, 16/13114 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2})
- Drucksache 16/13381 Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Frank Hofmann ({3})
Ulla Jelpke
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Clemens
Binninger für die Unionsfraktion, Frank Hofmann für
die SPD-Fraktion, Christian Ahrendt für die FDP-Fraktion, Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke und
Wolfgang Wieland für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Das Europäische Polizeiamt Europol ist seit seiner
Gründung im Jahr 1995 ein Beispiel für die immer engere
europäische Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen. Euro-
pol ist eine der zentralen Säulen der Verbrechensbekämp-
fung im europäischen Rahmen. Europol hat die Aufgabe,
die polizeiliche Zusammenarbeit zwischen den Mitglied-
staaten bei der Bekämpfung schwerwiegender Formen
internationaler Kriminalität zu verbessern. Europol spei-
chert und analysiert Informationen zur grenzüberschrei-
tenden organisierten Kriminalität, stellt Informationen
zur Verfügung und unterstützt mit seiner Analysekompe-
tenz Ermittlungen in den EU-Staaten.
1) Anlage 9
Wenn wir die Terroranschläge und Anschlagsvorbereitungen der letzten Jahre in Europa, OK-Prozesse, Schleuserei und Menschenhandel, betrachten, wird deutlich,
warum europaweiter Polizeiarbeit eine immer größere
Bedeutung zukommt. Kriminalität und Terrorismus sind
in einer globalisierten Welt zunehmend international und
machen keinen Halt an Landesgrenzen und nationalen
Zuständigkeiten. Wegfallende Grenzkontrollen im vereinten Europa führen auch zu größerer Bewegungsfreiheit
terroristischer und krimineller Gruppierungen. Wenn
aber die Vernetzung immer mehr zunimmt, ist der einzelne Staat nicht mehr in dem Maße in der Lage, Sicherheit zu garantieren, wie in früheren Jahrzehnten. Eine
enge Abstimmung und Zusammenarbeit auf europäischer
Ebene ist daher unverzichtbar. Das stellt uns vor neue
Herausforderungen, vor gemeinsame Herausforderungen bei der Kooperation auf europäischer Ebene. Europol ist seit den 90er-Jahren eine Antwort der EU auf diese
Herausforderungen.
Mit dem Gesetzentwurf zu Europol, den wir heute beschließen, bringen wir eine Entscheidung zu Ende, die eigentlich schon 1992 im Vertrag von Maastricht angelegt
war. Europol ist im Vertrag über die Europäische Union
eigentlich als primärrechtliche Institution der EU vorgesehen. Trotzdem wurde 1995 eine sekundärrechtliche Lösung in Form eines völkerrechtlichen Vertrags für die
Gründung von Europol gewählt. Mit dem vorliegenden
Gesetz setzen wir einen Ratsbeschluss aus dem April
2009 um und überführen Europol vollständig in den
Rechtsrahmen der Europäischen Union.
Der Europol-Beschluss orientiert sich dabei eng am
Europol-Übereinkommen von 1998. An den Kernkompetenzen werden keine Änderungen vorgenommen. Weiterhin wird Europol für den Informationsaustausch, für das
Sammeln und Analysieren von Erkenntnissen, die Unterstützung der Mitgliedstaaten, Fortbildungen und technische Unterstützung zuständig sein. Außerdem wird Europol die zentrale Kontaktstelle zur Bekämpfung von EuroFälschungen sein. Neu wird sein, dass Europol zukünftig
nicht mehr unmittelbar durch Mitgliedstaaten, sondern
durch einen eigenen Zuschuss aus dem EU-Haushalt finanziert wird. Mit dem Beschluss wird außerdem für die
Beamten von Europol das Dienstrecht der Europäischen
Gemeinschaften gelten.
Die wichtigste Änderung, die wir vornehmen, ist die
Erweiterung des Mandatsbereichs. Bisher kann das Europäische Polizeiamt nach dem Europol-Übereinkommen
nur dann bei der Bekämpfung schwerwiegender Kriminalität aktiv werden, wenn erstens eine kriminelle Organisationsstruktur und zweitens mindestens zwei Mitgliedstaaten erheblich betroffen sind, sodass ein gemeinsames
Vorgehen notwendig ist. Mit dem Europol-Beschluss, den
wir heute umsetzen, entfällt das Erfordernis des Vorliegens einer kriminellen Organisationsstruktur. Damit
kann Europol in Zukunft bei allen Formen internationaler
Kriminalität tätig werden.
Mit dem Europol-Beschluss setzen wir die Rahmenbedingungen dafür, dass das Europäische Polizeiamt auch
zukünftig erfolgreich arbeiten kann und zu mehr Sicherheit in Europa beiträgt.
Die europäische Polizeibehörde soll ab dem 1. Januar
2010 vollständig in den Rechtsrahmen der Europäischen
Union überführt werden, denn mit dem Europol-Beschluss, der ab dem 1. Januar 2010 gilt, wird das bislang
geltende Europol-Übereinkommen ersetzt. Europol
wurde 1992 im Vertrag von Maastricht festgeschrieben,
war seit 1999 voll arbeitsfähig und als unabhängige Einrichtung der Europäischen Union institutionalisiert, die
zum Bereich der polizeilichen und institutionellen Zusammenarbeit in Strafsachen gehörte. Die Folge: Die Finanzierung von Europol erfolgt nicht mehr unmittelbar durch
die EU-Mitgliedstaaten, sondern durch einen Zuschuss
aus dem Haushaltsplan der EU direkt.
In diesem Zusammenhang wird nun auch der Mandatsbereich dieser europäischen Polizeibehörde erweitert, zu
dessen Umsetzung dieser Gesetzentwurf dient. Hatte bislang Europol seine Aufgaben bei der Bekämpfung
schwerwiegender internationaler Kriminalität nur dann
wahrzunehmen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für eine
kriminelle Organisationsstruktur vorlagen, kann Europol
künftig bei allen schwerwiegenden Folgen der internationalen Kriminalität aktiv werden. Das ist vernünftig.
Denn oftmals ist erst beim Abschluss der Ermittlungen
und nicht bereits im Anfangsstadium der Ermittlungen
überhaupt erkennbar, ob eine kriminelle Organisationsstruktur vorliegt oder nicht.
Weiterhin müssen künftig die Behörden von Bundespolizei, Zollfahndungsdienst und Länderpolizeien nicht
wie bisher über die Landeskriminalämter den Datenaustausch mit den deutschen Verbindungsbeamten betreiben,
sondern können direkt mit den Verbindungsbeamten bei
Europol kommunizieren, soweit ein nationaler Koordinierungsbedarf nicht erkennbar ist und damit der Geschäftsgang beschleunigt wird. Klar ist, dass damit das
Bundeskriminalamt als Zentralstelle für den Verkehr mit
ausländischen Polizeibehörden keine besondere Stellung
einnimmt.
Die Umsetzung dieses Europol-Beschlusses ist kein
großer Schritt. Ich hätte mir vorstellen können, dass man
in diesen Zusammenhängen sich auch hätte dafür entscheiden können, die Euro-Falschgeldkriminalität zentral von Europol bearbeiten zu lassen. Ich hätte mir auch
vorstellen können, dass die EU-Subventionskriminalität
zentral von Europol aus bekämpft wird. Und ich hätte mir
zum Dritten vorstellen können, dass Teile des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung, OLAF, in Europol
integriert werden.
Nichts davon ist in diesem Europol-Beschluss enthalten. Es bleibt im Großen und Ganzen bei den jetzt eingeschliffenen Formen der Zusammenarbeit, ohne dass zur
weiteren Zukunft von Europol grundlegend neue Schritte
gemacht werden. Ob das genügt und in den nächsten Jahren als Grundlage trägt? Ich bin damit nicht zufrieden.
Aber diesem Gesetz kann man trotzdem getrost zustimmen. Es bringt keine wesentlichen Verschlechterungen,
aber auch keine wesentlichen Änderungen. Nur die Finanzierung erfolgt aus einem anderen Topf.
Heute beraten wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Europol-Gesetzes. Durch diesen Entwurf soll der sogenannte Europol-Beschluss in
deutsches Recht umgesetzt werden.
Europol ist ein zentraler Baustein der europaweiten
Kriminalitätsbekämpfung, denn die Kriminalität macht
an nationalen Grenzen nicht halt. In einem gemeinsamen
Raum der Freiheit und der Sicherheit ist daher die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden unerlässlich. Die
Effizienz des europäischen Polizeiamtes zu steigern, ist
damit ein wichtiges und richtiges Anliegen. Es steht außer Frage, dass die Arbeit von Europol von enorm großer
Bedeutung ist. Dennoch lehnt die FDP-Bundestagsfraktion den Entwurf zur Änderung des Europol-Gesetzes ab.
Gerne möchte ich Ihnen die Gründe für unsere Haltung
erläutern.
Durch den Europol-Beschluss entfällt das Erfordernis
des Vorliegens einer kriminellen Organisationsstruktur,
sodass Europol nun bei allen schwerwiegenden Formen
der internationalen Kriminalität tätig werden kann.
Diese Erweiterung des Mandats von Europol mag geringfügig erscheinen, dennoch erschließt sich mir nicht die
Notwendigkeit. Vielmehr drängt sich der Verdacht auf,
dass in kleinen, aber sicheren Schritten eine „echte“
Polizei auf europäischer Ebene eingerichtet werden soll.
Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt schon die Schaffung
einer echten Polizei auf Bundesebene beim BKA ab, das
gilt erst recht für eine derartige Polizei auf europäischer
Ebene. Ich gebe zu, die Erweiterungen finden in einem
kleinem Maße statt, doch hier gilt der Satz: Wehret den
Anfängen. Vorliegend ist es von besonderer Bedeutung,
da hier nicht die gleichen Rechtsstaatsvorschriften wie
auf nationaler Ebene gelten.
Daran knüpft ein weiteres Problem an, das aus den
Folgen der Kompetenzerweiterung resultiert. Dort, wo
Befugnisse ausgedehnt werden, muss adäquat dazu die
rechtsstaatliche Kontrolle verbessert werden. Bereits bei
der Verabschiedung des Vertrages von Lissabon hatte die
FDP-Bundestagsfraktion betont, dass bei Schaffung von
neuen Maßnahmen vor allem darauf zu achten ist, dass
eine ausreichend parlamentarische Kontrolle sichergestellt wird sowie rechtsstaatliche Schutzmechanismen für
Bürgerinnen und Bürger gegeben sein müssen.
Mehr Befugnisse ohne mehr Kontrolle sind mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar. Daher muss zunächst geklärt werden, wie die gerichtlichen und parlamentarischen Kontrollen verbessert werden können,
bevor Europol einen Kompetenzzuwachs erfährt.
Ein anderes Problem, weshalb die FDP-Bundestagsfraktion den Gesetzentwurf ablehnen muss, ergibt sich
aus der Ausdehnung des Datenaustausches. Nunmehr erhalten die Behörden der Bundespolizei und des Zollfahndungsdienstes sowie die Polizeien der Länder anstatt der
bisher allein berechtigten Landeskriminalämter die Möglichkeit, unmittelbar mit den deutschen Verbindungsbeamten bei Europol Daten auszutauschen. Eine Einschränkung gibt es dahin gehend, dass der Datenaustausch zur
Bescheinigung des Geschäftsganges erforderlich und ein
nationaler Koordinierungsbedarf nicht erkennbar ist.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch diesbezüglich ist die Notwendigkeit nicht ersichtlich. Die Begründung beschränkt sich ausschließlich darauf, dass aufgrund der unterschiedlichen Kompetenzen
der Behörden auch Überschneidungen mit Europol vorhanden seien und deshalb ein Datenabgleich auch für die
neu hinzugekommenen Behörden unerlässlich sei. Zudem
würden durch die Unmittelbarkeit des Datenaustausches
Reibungsverluste und zeitliche Verluste vermieden. Zeitliche Beschleunigung kann aber eine erweiterte Datenübermittlungsmöglichkeit nicht rechtfertigen. So hat auch
diesbezüglich die FDP-Bundestagsfraktion in ihrem Entschließungsantrag zum Vertrag von Lissabon gefordert,
im Rahmen der Arbeit von Europol den Datenschutz strikt
zu beachten.
Europol darf nicht zum Ausweichhafen für eine Umgehung des Datenschutzes werden. Ich bezweifle stark, ob
diese Problematik von unserer Regierung überhaupt erkannt wird. Dies basiert auf der Erkenntnis, dass demjenigen, der schon hierzulande ständig versucht, die Datensammlungen verschiedener Behörden auszuweiten, die
erforderliche Sensibilität fehlt. Und auch auf Ebene der
EU-Kommission fehlen leider das Bewusstsein und die
Achtung vor dem angemessenen Umgang mit personenbezogenen Daten. Wer beispielsweise eine verdachtslose
Vorratsdatenspeicherung beschließt, dem darf man nicht
im blinden Vertrauen alles abnehmen.
Die Zukunft von Europol ist ein sehr wichtiges Thema,
mit dem wir mit Bedacht und Sorgfalt umgehen müssen.
Heute liegt uns ein Gesetzentwurf zur Abstimmung vor,
der zunächst einmal formal die geänderte Verfasstheit
von Europol in die deutsche Gesetzeslage überführen
will. Bislang beruhte das Europäische Polizeiamt auf einem Übereinkommen, das per Ratifikationsgesetz für
Deutschland in Kraft trat. Dieses Übereinkommen ist nun
durch einen Beschluss des EU-Rates ersetzt worden, das
deutsche Europolgesetz wird redaktionell angepasst.
Wir lehnen diesen Gesetzentwurf ab. Die ganze Richtung der Konzeption des Europäischen Polizeiamtes
passt uns nicht. Der Ausbau der repressiven Strukturen
der EU geht weiter, ohne dass es einen entsprechenden
Grundrechtsschutz für die Bürgerinnen und Bürger gäbe.
Zentralisierungstendenzen, wie wir sie aus Deutschland
kennen, setzen sich auf EU-Ebene fort - nicht zuletzt auf
Betreiben des deutschen Innenministeriums. Und wir lehnen es ab, dass die Datenübermittlungsbefugnisse für Polizeibehörden im Gesetzentwurf noch über das hinausgehen sollen, was der Ratsbeschluss fordert.
Der Kreis der Behörden, der nun unmittelbar befugt
ist, mit Europol Daten auszutauschen, wird deutlich ausgeweitet. Bisher war dies allein den Landeskriminalämtern vorbehalten. Nun werden alle Polizeibehörden der
Länder, die Bundespolizei, der Zollfahndungsdienst und
das Zollkriminalamt zu Eingabe und Abruf von Daten in
bzw. aus dem Europol-Informationssystem befugt. Dabei
müssen sie nicht mehr den technischen „Umweg“ über
das Bundeskriminalamt gehen, sondern können auch unmittelbar mit den deutschen Verbindungsbeamten bei Europol in Kontakt treten.
Positiv zu vermerken ist lediglich, dass nun die Sonderregelungen für die Europol-Bediensteten, die einer
teilweisen Immunität gleichkamen, damit ebenfalls Geschichte sind und die Europol-Bediensteten nun allen anderen EU-Bediensteten gleichgestellt sind.
Das ändert aber nichts an unseren wesentlichen Kritikpunkten. Ich will hier drei nennen.
Erstens: Europol fungiert wie eine fast unkontrollierbare suprastaatliche Polizeibehörde. Sie wird nicht durch
eine europäische Staatsanwaltschaft kontrolliert und geleitet, alle dort eingesetzten Beamten unterliegen in erster Linie der juristischen Kontrolle durch die Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden der Entsendestaaten.
Die nationalen Einschränkungen von Grundrechtseingriffen können umgangen werden, indem der Eingriff zumindest formal in ein anderes Land verlegt wird. Zum
Beispiel: Wenn in einem Staat die Voraussetzungen für einen Lauschangriff nicht vorliegen, liegen sie vielleicht in
dem anderen vor. Erkenntnisse aus Ermittlungen in einem
anderen EU-Staat können in hiesige Ermittlungsverfahren einfließen, ohne dass für die Staatsanwaltschaft und
Strafverteidigung nachvollziehbar ist, ob der Lauschangriff auch hier rechtsmäßig gewesen wäre. Der Grundrechtsschutz hinkt wie immer hinterher.
Zweitens: Durch den Europol-Beschluss erfährt die
Politik des freien Datenverkehrs in der EU eine weitere
Eskalation. Es ist immer weniger nachvollziehbar, was
mit den Daten von Bürgerinnen und Bürgern geschieht,
die einmal ins Fadenkreuz der Polizeibehörden geraten
sind. Betroffen davon können zum Beispiel Bürgerinnen
und Bürger aus den 2005 beigetretenen Staaten in der EU
sein, denen weiterhin die Arbeitnehmerfreizügigkeit verwehrt wird und die daher auf Schwarzarbeit verwiesen
sind, wenn sie ein Einkommen in den alten Mitgliedstaaten haben wollen. So geraten sie ins Visier des Zollkriminalamtes - und ihre Daten werden im Rahmen der polizeilichen Zusammenarbeit an Europol und andere
Mitgliedstaaten weitergegeben. Wie lange sie dann dort
gespeichert werden, wer sie wie verarbeitet, all das bleibt
für die Betroffenen im Unklaren.
Drittens: Der Ratsbeschluss ist gleichbedeutend mit
einer Ausweitung der Zuständigkeit von Europol. Bislang
bezog sich das Mandat von Europol auf die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. Im Fokus stehen
Schmuggel von Waffen, Drogen und Menschen im erheblichen Umfang. Dieses Mandat wird nun auf die grenzüberschreitende schwere Kriminalität ausgedehnt, in den
Fokus gerät nun beispielsweise auch die Schwarzarbeit.
Und es müssen bei einem Verdachtsfall nicht mehr drei
Staaten betroffen sein, sondern nur noch zwei Staaten.
Dann kann Europol eingeschaltet werden. Es stellt sich
allerdings die Frage, warum zwei Staaten nicht auch unmittelbar miteinander kooperieren können, sondern dafür eine weitere Institution fernab in Brüssel brauchen.
Darauf geht der Gesetzentwurf mit keiner Silbe ein. Man
gewinnt fast den Eindruck, dass eine EU-Institution sich
neue Aufgabengebiete schafft, um sich selbst zu legitimieren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir haben einiges an Kritik an Europol. Wir wissen
aber auch: Einen fahrenden Zug kann man nicht mehr
aufhalten. Man muss sich noch mal ins Gedächtnis rufen,
worum es hier eigentlich geht. Wir verhandeln ein Umsetzungsgesetz. Das wird in Brüssel verhandelt. Und für die
Verhandlungen im Rat der Innen- und Justizminister darf
man die Bundesregierung am Anfang loben. Ja, das darf
auch einmal sein, nämlich dann, wenn sie etwas Vernünftiges getan hat. Dass sie auch schlecht verhandeln kann,
das wird im Anschluss noch beim Vertrag von Prüm zu erörtern sein. Hier bei Europol hat sie zumindest erreicht,
dass die Vorschriften zur Immunität von Europol-Beamten geschleift worden sind. Das zu beseitigen war allerdings auch lange überfällig. Aber besser spät als nie. In
Zeiten, in denen Europol-Beamte im Rahmen von EuroErmittlungsgruppen nicht mehr nur als Datensammler,
sondern als echte Ermittler handeln, ist die Immunität ein
unerträgliches Privileg.
Gegen grenzüberschreitende Ermittlungen und polizeiliche Zusammenarbeit in Europa haben wir im Grunde
nichts einzuwenden. Es kann ja nicht vernünftig geleugnet werden, dass Kriminalität und Kriminelle vor Grenzen nicht haltmachen. Wer das direkt oder indirekt tut, ist
entweder politisch naiv oder handelt fahrlässig. Wenn
aber grenzüberschreitend ermittelt werden darf, dann
dürfen die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger
auch nicht an den grünen Grenzen stoppen. Leider ist das
bisher so und der Ratsbeschluss ändert daran nichts. Die
Sicherheitsbehörden werden vergemeinschaftet, die
rechtsstaatlichen Standards aber bleiben national und
bleiben damit im Zweifel vor der Tür. Das ist die Art von
Politik, die Europa den Menschen nicht näherbringt.
Europol, das ist bislang immerhin kein europäisches
FBI. Aber den Traum von einer allmächtigen europäischen Bundespolizei träumen die europäischen Innenminister schon seit seiner Gründung. Und wir müssen achtgeben, dass es beim Träumen bleibt. Beim BKA-Gesetz
haben wir gesehen, wie schnell aus solchen Albträumen
bittere Wirklichkeit wird. Und im Europol-Beschluss gibt
es Ansätze, die gehen schon vorsichtig in diese Richtung
und die gefallen mir gar nicht. Zum einen dürfen mehr
Polizeidienststellen als früher Daten in Europol einpflegen. Zum anderen kann Europol früher tätig werden, weil
nicht mehr das Vorliegen von tatsächlichen Anhaltspunkten für schwere kriminelle Organisationsstruktur abgefragt wird. Beim Europol-Beschluss geht es also immer
noch zu viel um den Ausbau der Sicherheitsarchitektur
und zu wenig um die Grundrechte der Bürgerinnen und
Bürger.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13381, den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Drucksachen 16/12924 und 16/13114, in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung von der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit den Stimmen der
Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 65 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung des Beschlusses des Rates
2008/615/JI vom 23. Juni 2008 zur Vertiefung
der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit,
insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität
- Drucksache 16/12585 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 16/13380 Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Gisela Piltz
Wolfgang Wieland
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Clemens
Binninger für die Unionsfraktion, Wolfgang Gunkel für
die SPD-Fraktion, Gisela Piltz für die FDP-Fraktion,
Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke und Wolfgang
Wieland für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Mit dem Prüm-Beschluss, den wir mit dem vorliegenden Gesetz umsetzen, fügen wir der grenzüberschreitenden Polizeizusammenarbeit in Europa ein neues Kapitel
hinzu. Deutschland pflegt mit seinen Nachbarländern seit
langem eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei
der Bekämpfung von Kriminalität und illegaler Migration. Seit Jahrzehnten machen wir hier gute Erfahrungen
mit bilateralen Justiz- und Polizeiverträgen. Diese Erfahrungen waren Basis für den Vertrag von Prüm, der 2005
auf deutsch-luxemburgische Initiative geschlossen
wurde.
Ziel des Vertrages war es, die grenzüberschreitende
operative Polizeizusammenarbeit und insbesondere den
Informationsaustausch zwischen den Nachbarstaaten zu
vereinfachen und zu intensivieren. Auf Basis des PrümVertrags, dem mittlerweile 13 Vertragsstaaten angehören, wird seither regelmäßig im operativen Bereich wie
auch beim Datenaustausch zusammengearbeitet. Eine
Reihe von schweren Verbrechen konnte in den vergangenen Jahren durch den Austausch von Fingerabdruck- und
DNA-Daten aufgeklärt werden. Und auch in der operativen Polizeizusammenarbeit gehört die Kooperation der
Prüm-Partner mittlerweile zum Alltagsgeschäft. Zwei
Beispiele hierzu: Im Rahmen des NATO-Gipfels 2009 haben die deutsche und die französische Polizei eng zusammengearbeitet. Unter anderem unterstützte die Bundespolizei die französische Präfektur in Straßburg mit 420
Beamten und technischem Gerät. Ein weiteres Beispiel
sind deutsch-französische Streifen. Seit 29. April 2009
führt die Bundespolizei zusammen mit dem französischen
Bahnpolizeidienst SNPF regelmäßig gemeinsame Kontrollen auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen
Paris und Kaiserslautern durch.
Der Vertrag von Prüm ermöglicht eine erfolgreiche
und effektive Polizeizusammenarbeit - das hat sich in den
letzten Jahren gezeigt. Er hat großen Zuspruch erfahren.
Davon zeugt auch die Tatsache, dass seit 2005 bereits
sechs Staaten dem Vertrag neu beigetreten sind. Während
der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2007 ist es vor
dem Hintergrund dieser positiven Erfahrungen dann auf
Initiative des Bundesinnenministers gelungen, die Polizeizusammenarbeit in der EU auf eine neue Stufe zu heben und wesentliche Inhalte des Prüm-Vertrags in das
Gemeinschaftsrecht zu überführen. Deshalb können wir
heute über diesen Beschluss diskutieren. In Zukunft werden damit alle 27 EU-Staaten von den Prüm-Regelungen
profitieren.
Kernstück des Prüm-Informationsverbunds ist der gegenseitige Austausch von Daten. Relevante Informationen aus einem EU-Land müssen für die Polizeibehörden
in anderen EU-Ländern bei Bedarf schnell und einfach
verfügbar sein. Nur so kann angesichts von Globalisierung, technologischem Fortschritt und zunehmender Mobilität von Straftätern internationales Verbrechen effektiv
bekämpft werden. Mit dem Abgleich von DNA-Datenbanken, dem Austausch von Fingerabdruckdaten, dem Informationsaustausch über Gewalttäter im Bereich Sport und
dem grenzüberschreitenden Zugriff auf Kraftfahrzeugregister stehen damit allen EU-Partnern wichtige Instrumente bei der Kriminalitätsbekämpfung zur Verfügung.
Auch die Übermittlung von Daten zur Verhinderung terroristischer Straftaten und auch im Fall der terroristischen Ausbildung eröffnen neue Handlungsräume für
Polizeibehörden. Nicht zuletzt schafft der Prüm-Beschluss die Basis für die operative Zusammenarbeit von
Polizeibehörden vor Ort - etwa gemeinsame Streifen, polizeiliche Hilfeleistung bei Unglücksfällen oder Unterstützung bei Großereignissen.
Mit dem Beschluss übernehmen wir zudem umfangreiche Bestimmungen zum Datenschutz, die insbesondere
für die sensiblen Fingerabdruck- und DNA-Daten maßgeschneidert sind. Ein Beispiel: Während im Falle der
Kfz-Registerdaten der volle lesende Onlinezugriff ermöglicht wird, erfolgt bei DNA- und Fingerabdruckdaten der
Zugriff auf anonymisierte Indexdatenbanken im sogenannten Hit-/No-Hit-Verfahren. Im Trefferfall wird dann
eine Kennziffer für weitere Anfragen übermittelt, die im
Wege der Rechtshilfe zu stellen sind.
Lassen Sie mich auch noch mit Blick auf die Entwicklung der EU einen Punkt ansprechen, der mir wichtig ist:
Die Entscheidung, den Prümer Vertrag als einen multilateralen Vertrag zu schließen, stieß 2005 und in den Jahren
danach auf einige Skepsis und Kritik. Man befürchtete,
dass diese Initiative einzelner EU-Mitgliedstaaten, die
sozusagen losgelöst von der EU eigenständige Absprachen in der Sicherheitspolitik treffen, zu einer Fragmentierung der EU beitragen könnte. Es wurde kritisiert, dass
damit eine Verwerfung in der gemeinsamen Innen- und
Justizpolitik entstehen könnte. Heute sehen wir genau das
Gegenteil: Wir setzen einen EU-Beschluss um, der in allen 27 Staaten einheitlich gilt und letztlich die gemeinsame Innen- und Justizpolitik als Ganze voranbringt. Der
Beschluss sieht vor, dass bis Oktober 2009 alle EU-Staaten den Prüm-Beschluss in nationales Recht umgesetzt
haben. Bis Ende 2011 soll dann ein automatisierter Datenaustausch auf der Grundlage des Prüm-Beschlusses
realisiert werden.
Der Prüm-Beschluss wird die Klammer schaffen, die
Erkenntnisse und Wissen über Straftäter grenzüberschreitend zusammenfasst. Er schafft ein funktionierendes Gesamtpaket für eine europaweite polizeiliche
Zusammenarbeit. Er sorgt für eine erhebliche Beschleunigung und mehr Effektivität beim grenzüberschreitenden
Datenaustausch. Er ist verbunden mit einem Datenschutzsystem, das für ein ausgewogenes Verhältnis von
Sicherheitsinteressen und Grundrechtsschutz sorgt.
Die Europäische Union wächst auch hier ein Stück
weiter zusammen und zeigt, wie die europäische Zusammenarbeit einen Beitrag zu mehr Sicherheit in unserem
Land und bei unseren Partnern leistet.
Heute beraten wir einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zu europaweiten Zusammenarbeit im Kampf gegen Terrorismus und Kriminalität.
Der Entwurf formuliert die Umsetzung des Ratsbeschlusses Prüm vom Juni vergangenen Jahres in nationales Recht. Bei diesem Ratsbeschluss wiederum handelte
es sich um die Überführung des 2005 geschlossenen Prümer Vertrages in EU-Recht. Insofern ist die politische
Auseinandersetzung um den Inhalt des Abkommens bereits weitgehend erfolgt. Die Umsetzung in nationales
Recht stellt in erster Linie eine Formsache dar. Überwiegend enthält er redaktionelle Anpassungen, die sich aus
der Überführung des Prümer Vertrages in einen europäischen Rechtsakt ergeben. Das Gesetz haben wir in der
ersten Lesung bereits am 23. April debattiert.
Zentraler Kritikpunkt in dem Umsetzungsgesetz war
die Tatsache, dass es den Einsatz von Schusswaffen durch
ausländische Einsatzkräfte auch außerhalb von Notwehrund Nothilfesituationen erlauben sollte. Für diesen Fall
war nicht geklärt, welche Instanz dafür zuständig und
verantwortlich gewesen wäre, diesen Schusswaffengebrauch zu erlauben. Darüber hinaus hätte diese Regelung
dazu führen können, dass in Deutschland nicht polizeitypische Waffen durch ausländische ({0})Polizeikräfte eingesetzt werden können. Für diese Regelung im Umsetzungsgesetz gab das Abkommen selbst keinen
Zu Protokoll gegebene Reden
ersichtlichen Anlass. Im koalitionären Verhältnis bestand
schnell Einigkeit darüber, dass dieser Punkt aus dem Umsetzungsgesetz ersatzlos gestrichen werden sollte.
Nachdem dies geschehen ist, kann dem Gesetz meines
Erachtens zugestimmt werden: Es steht außer Zweifel,
dass die nationalen Strafverfolgungsbehörden mit einer
engeren Koordination und einem intensiveren Informationsaustausch auf die Bedrohung durch global agierende terroristische Netzwerke und weltweit organisierte
Kriminalität reagieren müssen. Der Vertrag ermöglicht
einen einfacheren Datenaustausch der Polizei- und Strafverfolgungsbehörden untereinander. So kann auf Datenbanken mit DNA-Daten und Fingerabdrücken oder elektronische Register mit KFZ-Daten der Behörden anderer
Staaten zugegriffen werden. Darüber hinaus wurden unterschiedliche andere Formen der Zusammenarbeit geregelt, unter anderem bei Großereignissen, Katastrophen,
zur Verhinderung terroristischer Straftaten oder der Bekämpfung der illegalen Migration.
Der Prümer Vertrag beziehungsweise der Ratsbeschluss von Prüm stellen so einen großen Fortschritt für
eine effektive grenzüberschreitende Verbrechensbekämpfung dar: Der Prümer Vertrag wurde am 27. Mai 2005
von Belgien, Deutschland, Spanien, Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden und Österreich beschlossen. Im
Februar 2007 beschlossen die Justiz- und Innenminister
der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die Regelungen des Prümer Vertrags in das EU-Recht zu überführen. Auf der Tagung des Rates am 12./13. Juni 2007 einigten sie sich auf einen Beschluss zur Überführung der
wesentlichen Vertragsregeln des Prümer Vertrages in den
Rechtsrahmen der EU. Vor allem die für die polizeiliche
Zusammenarbeit bedeutsamen Inhalte wurden so in den
Rechtsrahmen der EU überführt und werden nun in nationales Recht umgesetzt.
Das Abkommen von Prüm hat die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Behörden maßgeblich effektiviert und schon zahlreiche Erfolge gezeitigt: Nach Angaben des Bundesinnenministeriums wurden bis Ende
September 2008 bereits rund 4 170 Treffer in DNA-Datenbanken anderer Vertragsstaaten erzielt. Noch größer
ist der Vorteil für kleinere Mitgliedstaaten, die nun auf die
Datensätze ihrer „großen Nachbarn“ zugreifen können.
Das Abkommen garantiert darüber hinaus einen hohen datenschutzrechtlichen Standard, der ihm auch von
Datenschutzexperten bescheinigt wird. Anders als beim
Abkommen vom 1. Oktober 2008 zwischen der Regierung
der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der
Vereinigten Staaten von Amerika über die Vertiefung der
Zusammenarbeit bei der Verhinderung und Bekämpfung
schwerwiegender Kriminalität, das inhaltliche Parallelen zum vorliegenden Gesetz aufweist, gelten für die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit innerhalb der
Europäischen Union die allgemeinen Grundsätze des
Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates vom 27. November 2008. Für die europaweite Zusammenarbeit
besteht also ein gemeinsamer datenschutzrechtlicher
Standard. Eine solche Grundlage gibt es für die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten von Amerika nicht.
14 Jahre, nachdem in Großbritannien die erste nationale DNA-Datenbank eingerichtet wurde, sind mittlerweile die genetischen Fingerabdrücke von mehr als
5,5 Millionen Menschen in der EU erfasst. Diese Zahl ist
ein großes Potenzial in der effektiven Verbrechensbekämpfung. Andererseits erfordern diese Daten aber einen
verantwortungsvollen Umgang. Dieser wird in dem vorliegenden Abkommen meines Erachtens aber gewährleistet! So erfolgt der Datenabgleich beispielsweise der
DNA-Datenbanken nach dem sogenannten Hit/No-HitVerfahren: Die abfragende Polizeidienststelle erhält nur
die Mitteilung, ob zu dem gesuchten Profil ein Eintrag in
einem anderen Vertragsstaat vorliegt oder nicht. In einem
zweiten Schritt müssen die Dienststellen in Kontakt treten
bzw. ein Rechtshilfegesuch einleiten, um Informationen
zur Identität der gesuchten Person zu erhalten.
Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar bescheinigte dem Abkommen einen hohen datenschutzrechtlichen Standard. Allerdings muss darauf geachtet
werden, dass dies auch so bleibt und die Datenschutzgrundsätze der Mitgliedsländer endlich harmonisiert
werden.
Mit der Überführung des Prümer Vertrages in den
Rechtsrahmen der Europäischen Union wird eine erhebliche Beschleunigung und Effektivitätssteigerung beim
europaweiten Datenaustausch einhergehen.
Nach Abwägung von allem Für und Wider komme ich
zu dem Ergebnis, dass die SPD-Fraktion diesem Gesetz
zustimmen soll.
In einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des
Rechts ist die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von
herausragender Bedeutung. Es ist daher notwendig, innerhalb Europas die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden zu verbessern.
Dabei darf aber keiner der drei Aspekte ins Hintertreffen geraten. Eine Zusammenarbeit, die sich nur an der Sicherheit orientiert, dabei aber die Freiheit über Gebühr
einschränkt und dem Recht durch mangelnde rechtsstaatliche Sicherungen nicht ausreichend Rechnung trägt, genügt den Anforderungen an eine vernünftige Politik in der
dritten Säule nicht.
Es ist aus europapolitischer Sicht richtig, dass der Vertrag von Prüm in den EU-Acquis überführt wurde. Damit
wurde dem Gedanken eines einheitlichen EU-weiten
Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gefolgt.
Allerdings fehlt zur Absicherung insbesondere der Aspekte Freiheit und Recht noch immer ein gestärktes Europäisches Parlament, das eine parlamentarische Kontrolle der Sicherheitspolitik gewährleistet. Zudem ist der
Rechtsschutz gegen Handeln der EU nach wie vor verbesserungsbedürftig.
Dieses Manko wird gerade bei dem hier umgesetzten
Beschluss des Rates zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zum Zwecke der Bekämpfung
des Terrorismus und der grenzüberschreitenden KriminaZu Protokoll gegebene Reden
lität augenscheinlich. Denn die rechtsstaatlichen Anforderungen an den Datenaustausch nach dem zugrunde liegenden Vertrag von Prüm, insbesondere im Hinblick auf
DNA-Daten, sind unzureichend.
Notwendig wäre es hier - wie die FDP-Fraktion bereits mehrfach angemahnt hat -, mindestens die gleichen
Anforderungen an die Schwere der Straftat zu stellen wie
bei der Erstellung des Europäischen Haftbefehls. Es darf
nicht sein, dass höchst sensible Daten ohne ausreichende
Hürden übermittelt werden dürfen. Es ist unverhältnismäßig, wenn genetische Daten zur Verfolgung eines einfachen Diebstahls verwendet werden dürfen.
Denn das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger
Rechtsprechung deutlich gemacht, dass in der Übermittlung von Daten ein erneuter Grundrechtseingriff zu sehen
ist, der dem Eingriff bei der Erhebung gleichzustellen ist.
Gerade bei DNA-Daten ist besondere Sensibilität geboten.
Wenngleich mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf
im Wesentlichen nur Anpassungen nationaler Rechtsvorschriften, die sich auf den Vertrag von Prüm beziehen,
vorgenommen werden, können hierbei die zugrunde liegenden Probleme nicht verdrängt werden.
Daher ist für die FDP-Fraktion eine Zustimmung nicht
möglich, obwohl die Liberalen ausdrücklich die Bedeutung der europäischen Zusammenarbeit zur Bekämpfung
von Kriminalität und Terrorismus anerkennen.
Mit dem hier zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf soll ein EU-Ratsbeschluss ins deutsche Recht umgesetzt werden, der den Datenaustausch von Sicherheitsbehörden in Europa zur Bekämpfung von Terrorismus und
grenzüberschreitender Kriminalität regeln soll. Grundlage dafür ist der Vertrag von Prüm, den sieben EU-Staaten 2006 geschlossen haben. Vom EU-Rat ist er 2008 für
die ganze Europäische Union für verbindlich erklärt worden.
Bereits der Prümer Vertrag verletzt elementare Menschenrechte. Das erklärte ich hier im Plenum schon, als
die Große Koalition dieses weitreichende Vertragswerk
im Eiltempo und weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit durchs Parlament jagte.
Der auf dem Prümer Vertrag basierende EU-Ratsbeschluss schafft ein datenschutzrechtliches Monstrum,
durch das das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung glatt zermalmt wird.
Nach dem Grundsatz der Verfügbarkeit wird der automatische Abgleich von DNA-Profilen, Fingerabdrücken
und Fahrzeugregisterdaten geregelt. Schickt also ein EUStaat ein DNA-Identifizierungsmuster an einen anderen,
bekommt er automatisch die dazu möglicherweise gespeicherten Daten. Die Sicherheitsbehörden jedes EU-Staates können so auf die zentralen Datenbanken der anderen
Partner zugreifen und bei einem Treffer die dazugehörigen Daten anfordern. Die Stelle, die diese Daten ursprünglich erhoben hat, prüft dabei nicht, was mit diesen
Daten anschließend passiert. Und die Betroffenen dieses
Datentransfers sind erst recht von jeglicher Kontrollmöglichkeit ausgeschlossen.
Die Problematik ist deutlich: Denn es gibt weder EUeinheitliche Datenschutzstandards noch einheitliche Regeln, wann beispielsweise überhaupt die DNA oder Fingerabdrücke in Dateien gespeichert werden dürfen. Hier
droht eine Nivellierung auf dem niedrigsten datenschutzrechtlichen Niveau der Mitgliedsländer. Nationaler Datenschutz wird schlicht ausgehebelt.
Dazu kommt ein unterschiedlicher Aufbau der Sicherheitsbehörden in den einzelnen Ländern. Geheimdienste
haben in manchen anderen EU-Staaten mehr polizeiliche
Vollmachten als in Deutschland. Das bedeutet, dass
ausländische Geheimdienste unter Umständen aus
Deutschland Daten aus Polizeibeständen erhalten, und
umgekehrt, dass die deutsche Polizei Geheimdienstinformationen erhält. Das Gleiche gilt für die paramilitärischen Gendarmerieverbände, die es in manchen EUStaaten gibt. Das in der Bundesrepublik als Lehre aus
dem Faschismus geltende Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdiensten wird so über die EU kurzerhand
noch weiter ausgehebelt, als es bislang schon durch Antiterrordateien, Antiterrorzentrale und BKA-Gesetz der
Fall ist.
Ich möchte auch auf die Möglichkeit der spontanen
Datenübermittlung bei Großereignissen mit grenzüberschreitender Bedeutung wie NATO-, EU- und G-8-Gipfeln
verweisen. Diese Möglichkeiten, bisher auf Kerneuropa
beschränkt, werden nun auf die gesamte EU übertragen
und dazu führen, dass noch mehr Daten etwa über kritische Journalisten oder Demonstranten ausgetauscht
werden. Auf dieser Grundlage können dann Einreiseverbote oder andere Repressivmaßnahmen verhängt werden.
Gegen diese Personen muss wohlgemerkt nichts vorliegen, sie müssen keine Gewalttaten begangen haben.
Denn in entsprechende Dateien geraten nicht nur in
Deutschland schon politisch missliebige Bürger, die etwa
nach der Teilnahme an einer Demonstration im Verdacht
stehen, sie könnten die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden. Ich halte schon die Speicherung dieser
Daten in Deutschland für grundrechtswidrig. Aber was
passiert erst, wenn solche Daten beispielsweise jetzt zum
G-8-Gipfel in L´Aquila an italienische Behörden weitergegeben werden? An Sicherheitsbehörden eines Landes, wo
unter Regierungschef Silvio Berlusconi gerade faschistische Bürgerwehren aufgestellt werden und Soldaten bereits weitreichende Polizeibefugnisse erhalten haben.
Ein weiterer Aspekt des Prümer Vertrages und damit
des hier zur Abstimmung stehenden Gesetzes wurde bislang in der öffentlichen Diskussion fast völlig ausgeblendet. Beamte von Polizei- und Sicherheitsdiensten eines
Staates können mit Einwilligung eines anderen EU-Staates auch auf dessen Territorium tätig werden. Auch diese
Möglichkeit, bisher auf die sieben ursprünglichen EUStaaten beschränkt, wird nun auf die ganze EU ausgeweitet. Schon bei der gemeinsamen Strafverfolgung durch
Beamte verschiedener Staaten kollidieren oft die unterschiedlichen Polizeirechte und Befugnisse miteinander.
Noch problematischer wird dies bei Großereignissen wie
den schon genannten NATO- und G-8-Gipfeln. So waren
Zu Protokoll gegebene Reden
deutsche Wasserwerfer während des NATO-Gipfels im
April in Frankreich im Einsatz. Wenn deutsche Polizisten
dort Straftaten begehen, beispielsweise angereiste deutsche Demonstranten misshandeln, wird dies in dem Land
verfolgt, das Einsatzort war. Rechtliche Standards, die
beispielsweise in Deutschland gelten, gelten dort nicht
unbedingt. Der Rechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger
wird so schlicht ausgehöhlt und die politische Verantwortung vertuscht.
Die Linke tritt für ein Europa der Freizügigkeit ein, in
dem die Menschen und nicht nur ihre Daten sich frei bewegen können. Den weiteren Aufbau eines grenzüberschreitenden Repressionsapparates, mit dem sich die
Herrschenden in der EU gegen ihre Kritiker absichern,
werden wir nicht mittragen. Viel abzustimmen gibt es ja
leider nicht mehr, weil wir hier ja schon längst vor vollendete Tatsachen gestellt wurden. Heute geht es ja nur
noch um redaktionelle Änderungen im deutschen Recht.
Aber so, wie die Linke gegen den Prümer Vertrag gestimmt hat, stimmt sie heute auch gegen dieses Umsetzungsgesetz.
Eben bei der Abstimmung über Europol habe ich es
schon gesagt und hier kann ich es wiederholen: Wir stimmen lediglich über ein Umsetzungsgesetz ab. Die Würfel
sind also schon in Brüssel gefallen. Aber wie die Bundesregierung dort auf dem Justiz- und Innenministerrat
agiert, das verletzt demokratische Spielregeln, um es
ganz deutlich zu sagen.
Kommen wir zu den Inhalten. Als Überführung des
Vertrags von Prüm haben Sie uns ein Sicherheitsgesetz
vorgelegt, das wir in dieser Form nicht unterstützen. Es
enthält viele datenschutzrechtlich sehr problematische
Regelungen. Dabei war die Konstruktion des Prümer
Vertrages in seiner Anlage besser als anderes, was wir
hier gesehen haben: Keine planlose Herausgabe von Daten, sondern eine Abfrage, ob Daten vorliegen, und auch
dann sollte über das Gesuch einer ausländischen Stelle
einzeln entschieden werden.
Was in der Theorie gut klingt, hat sich in der Praxis leider nicht bewährt. Der Bundesdatenschutzbeauftragte
Peter Schaar musste ebenso wie der Europäische Datenschutzbeauftragte Peter Hustinx feststellen, dass die datenschutzrechtlichen Vorgaben des Vertrages von Prüm in
der täglichen Anwendung bei der Polizei nicht viel wert
sind. Die Sicherheitsbehörden tauschen Daten munter
und ungestört aus. Das Gesetz enthält für dieses Problem
ebenso wenig wie der Ratsbeschluss Mittel zur Abhilfe.
Es darf also mit den Daten der Bürgerinnen und Bürger
weiterhin schlampig umgegangen werden. Das können
wir nicht tolerieren.
Dann zum Verfahren, also zu den Spielregeln. Wir teilen die Kritik, die sagt, staatliche Eingriffe in Grundrechte müssen vom Parlament verabschiedet werden. Was
hier an Datenaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden möglich ist, das greift zweifelsohne tief in Bürgerrechte ein. Und wem kommt die Souveränität zu, über einen solchen Eingriff zu entscheiden? Das kann bei
Fragen von europaweiten Fahndungen nicht in erster Linie der Bundestag sein. Das darf aber auch nicht nur der
Rat der Innen- und Justizminister sein. Souverän, eine
solche Entscheidung zu treffen, ist vor allem das vor
knapp zwei Wochen gewählte Europäische Parlament.
Das Parlament haben Sie aber bewusst außen vor gelassen, indem Sie den Beschluss in der Dritten Säule des EUVertrages verankert haben.
Nun steht der Beschluss nicht zur Abstimmung, sondern ein Gesetz, das an der geltenden Rechtslage auch
nicht mehr viel verschlimmert. Aber wenn Sie keine Verbesserungen an der unbefriedigenden Situation planen,
können wir die Umsetzung selbstverständlich auch nicht
mittragen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13380, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/12585 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 62 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volkmar Uwe Vogel, Dirk
Fischer ({1}), Dr. Klaus W. Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Ernst Kranz, Petra Weis,
Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Programm „Stadtumbau Ost“ - Fortsetzung
eines Erfolgsprogramms
- Drucksachen 16/12284, 16/13408 Berichterstattung:
Abgeordneter Joachim Günther ({2})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Es han-
delt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kol-
legen: Volkmar Vogel für die Unionsfraktion, Ernst
Kranz für die SPD-Fraktion, Joachim Günther für die
FDP-Fraktion, Heidrun Bluhm für die Fraktion Die
Vizepräsidentin Petra Pau
Linke und Peter Hettlich für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13408, den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 16/12284 anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist damit
einstimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 63 a bis 63 c auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Transsexuellengesetzes ({3})
- Drucksache 16/13157 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Volker
Beck ({4}), Kai Gehring, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Änderung der Vornamen
und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit ({5})
- Drucksache 16/13154 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Volker
Beck ({6}), Kai Gehring und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Gesetzes über die Änderung der Vornamen
und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen ({7})
- Drucksache 16/4148 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({8})
- Drucksache 16/13410 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Brandt
Gabriele Fograscher
Ulla Jelpke
Silke Stokar von Neuforn
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({9})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard
Schewe-Gerigk, Volker Beck ({10}), Monika
1) Anlage 10
Lazar, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Selbstbestimmtes Leben in Würde ermögli-
chen - Transsexuellenrecht umfassend re-
formieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara
Höll, Dr. Kirsten Tackmann, Werner Dreibus,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Transsexuellengesetz aufheben - Rechtli-
che Gestaltungsmöglichkeiten für Transse-
xuelle, Transgender und Intersexuelle
schaffen
- Drucksachen 16/947, 16/12893, 16/13410 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Brandt
Gabriele Fograscher
Ulla Jelpke
Silke Stokar von Neuforn
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Dr. Max Stadler, Jörg van Essen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Reform des Transsexuellengesetzes für ein
freies und selbstbestimmtes Leben
- Drucksache 16/9335 -
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Helmut
Brandt für die Unionsfraktion, Gabriele Fograscher für
die SPD-Fraktion, Gisela Piltz für die FDP-Fraktion,
Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke und
Irmingard Schewe-Gerigk für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.2)
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Transsexuellen-
gesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13410, den
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD
auf Drucksache 16/13157 anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion,
der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Ent-
haltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenom-
men.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist in dritter Beratung mit den Stimmen der
2) Anlage 11
Vizepräsidentin Petra Pau
Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion
und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir sind noch immer beim Tagesordnungspunkt 63 a:
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13410 empfiehlt der Innenausschuss die
Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/13154. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion
gegen die Stimmen der antragstellenden Fraktion,
Bündnis 90/Die Grünen, und der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der FDP-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung zu dem Entwurf eines Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen.
Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13410, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/4148 für erledigt zu erklären. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 63 b. Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des
Innenausschusses auf Drucksache 16/13410 fort. Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13410, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/947 mit
dem Titel „Selbstbestimmtes Leben in Würde ermöglichen - Transsexuellenrecht umfassend reformieren“
für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13410 die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/12893 mit dem Titel „Transsexuellengesetz aufheben - Rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten
für Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle schaffen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9335 mit dem Titel
„Reform des Transsexuellengesetzes für ein freies und
selbstbestimmtes Leben“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bedanke mich
recht herzlich für Ihren Beistand auch beim letzten Tagesordnungspunkt. Wir sind damit am Schluss unserer
heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 1. Juli 2009, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.